MAURIZIO BACH EUROPA OHNE GESELLSCHAFT
NEUE BIBLIOTHEK DER SOZIALWISSENSCHAFTEN Die Neue Bibliothek der Sozialwissens...
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MAURIZIO BACH EUROPA OHNE GESELLSCHAFT
NEUE BIBLIOTHEK DER SOZIALWISSENSCHAFTEN Die Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften versammelt Beiträge zur sozialwissenschaftlichen Theoriebildung und zur Gesellschaftsdiagnose sowie paradigmatische empirische Untersuchungen. Die Edition versteht sich als Arbeit an der Nachhaltigkeit sozialwissenschaftlichen Wissens in der Gesellschaft. Ihr Ziel ist es, die sozialwissenschaftlichen Wissensbestände zugleich zu konsolidieren und fortzuentwickeln. Dazu bietet die Neue Bibliothek sowohl etablierten als auch vielversprechenden neuen Perspektiven, Inhalten und Darstellungsformen ein Forum. Jenseits der kurzen Aufmerksamkeitszyklen und Themenmoden präsentiert die Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften Texte von Dauer.
DIE HERAUSGEBER Uwe Schimank ist Professor für Soziologie an der FernUniversität in Hagen. Jörg Rössel ist Professor für Soziologie an der Universität Zürich. Georg Vobruba ist Professor für Soziologie an der Universität Leipzig. Redaktion: Frank Engelhardt
MAURIZIO BACH EUROPA OHNE GESELLSCHAFT POLITISCHE SOZIOLOGIE DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-14728-4
Inhalt
I.
Einleitung: Kritik der „europäischen Gesellschaft“
II.
Marktintegration ohne Sozialintegration 1 Negative Integration 2 Entkopplungseffekte der Währungsunion 3 Krise des europäischen Gesellschaftsmodells
19 25 30 34
III.
Die europäische Einigung in institutionensoziologischer Perspektive 1 Konzeptionelle Grundlagen 2 Institutionenanalyse der europäischen Integration
37 38 44
IV.
V.
Die Zukunft der Demokratie in der Europäischen Union 1 Das demokratietheoretische Legat der Soziologie 2 Prozesse der Entdemokratisierung in der Europäischen Union 3 Entdemokratisierung oder neue Formen der Demokratie?
Die EU als bürokratischer Herrschaftsverband 1 2 3
VI.
Die Kommission als supranationaler Akteur Die Kommission als politische Fusionsbürokratie Bürokratische Politik oder Integration durch Bürokratie?
Restrukturierung der territorialen Räume in Europa 1 Grenzbildung und gesellschaftliche Strukturierung 2 Erweiterung und Sozialintegration 3 Ein neues europäisches Muster sozialer Ungleichheit 4 Abgestufte Inklusion im europäischen Raum der Bürgerrechte
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61 64 68 88 93 95 99 123 129 131 134 137 139
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VII. Bürgerrechte und soziale Exklusion im europäischen Migrationsraum 1 Staatsbürgerschaft und soziale Schließung 2 Unionsbürgerschaft – eine postnationale Staatsbürgerschaft? 3 Unionsbürgerschaft und Migrationskontrolle 4 Externe Grenzziehung und interne Migrationsdynamik 5 Abgestufte Inklusion
143 144 145 147 149 152
VIII. Soziale Ungleichheit in europäischer Perspektive 1 Reichweite und Grenzen des europäischen Gesellschaftsvergleichs 2 Die EU als prekäre Zurechnungsebene von Ungleichheit 3 Europa als Deutungsmusters von Ungleichheit
156 159 166
IX.
Kritik der europäischen Identität
177
X.
Ausblick
187
Literatur
6
155
191
I.
Einleitung: Kritik der „europäischen Gesellschaft“
Mit der Europäischen Union ist ein Herrschaftsverband sui generis entstanden, der nicht nur den politischen Raum Europas neu strukturiert, sondern sich darüber hinaus als multinationales Objekt für kollektive Identitätsbildung versteht. Damit gelangt die gesellschaftliche Dimension der Europäisierung in den Fokus. Der politische Raumbegriff Europa und die Europaforschung, beides bisher Domänen der Rechts- und Politikwissenschaft, sind für die Soziologie anschlussfähig zu machen. Paradoxerweise scheint sich jedoch gerade mit der Europäisierung das vermeintlich zentrale Objekt der Soziologie – die Gesellschaft – zu verflüchtigen. Wie lässt sich die „europäische Gesellschaft“ soziologisch beschreiben? Was konstituiert sie? Gibt es sie überhaupt? Die entsprechenden Vorschläge zu einem soziologischen Europabegriff sind äußerst heterogen, zumeist diffus und vielfach umstritten. Prominent sind die Entwürfe einer „europäischen Gesellschaft“, die in sozialhistorischer Perspektive eine Angleichung der Sozialstrukturen etwa in den Dimensionen Familie, Arbeit, Konsum und Lebensstandard, Wertewandel und Säkularisierung, Wohlfahrtstaat, Bildung und Stadtentwicklung konstatieren (vgl. Kaelble 2007) oder auf die Ausbildung einer europäischen Öffentlichkeit als ‚Selbstbeschreibungshorizont’ einer europäischen Bürger- und Zivilgesellschaft verweisen (vgl. Eder 2000). Andere Autoren fokussieren die Reorganisation der Territorialität, Grenzen und Bevölkerungen als Grundvoraussetzungen eines emergenten europaweiten Gesellschaftsraumes (vgl. Bartolini 2005; Drevet 1997). Wieder andere gehen von einem eigenständigen europäischen System der ökonomischen Arbeitsteilung als Grundlage einer sich entwickelnden „europäischen Gesellschaft“ aus und prognostizieren einen Formenwandel der Solidarität und der Wohlfahrtsregime (vgl. Münch/Büttner 2006). Schon die Vielzahl der als spezifisch europäisch ausgeflaggten Gesellschaftsmodelle deutet darauf hin, dass die Makrosoziologie in ihrer Analyse- und Prognosefähigkeit auf diesem Terrain vor besonderen Herausforderungen steht.
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Die meisten Entwürfe basieren auf der Annahme, die Entstehung einer „europäischen Gesellschaft“ sei prinzipiell möglich. Sie orientieren sich überwiegend an dem Vergesellschaftungsmodell des Nationalstaates, demzufolge „Gesellschaft“ sich innerhalb von Staatsgrenzen als partikulare und territoriale Landes- oder „Container“-Gesellschaften mit einer homogenen (Sprach-)Kultur, einer nationalen Rechtsordnung und souveränen politischen Institutionen konstituiert. Ein einheitlicher Demos, intermediäre Strukturen und deren Einbettung in einen öffentlichen Kommunikationsund Diskurszusammenhang bilden die zivilgesellschaftlichen Grundlagen der demokratischen Legitimation des Staates als dem politischen Überbau dieses Gesellschaftstyps. Gegen die verbreitete Vorstellung, die europäische Integration fördere die Entstehung einer „europäischen Gesellschaft“ nach dem Muster der Nationalgesellschaft ist jedoch einzuwenden, dass sich gerade im Verlauf der Integration die Grundkoordinaten und -konstellationen sowie der Raumrahmen gesellschaftlicher Ordnungsbildung dramatisch verschoben haben (vgl. Vobruba 2008). Beschränkt man sich nur auf die zentralen makrogesellschaftliche Strukturkomponenten moderner Gesellschaft – das politische System, das Recht, die Produktionsverhältnisse bzw. den Markt, die Sozialstruktur sowie das sozio-kulturelle System (vgl. Münch 1992) –, dann wird offensichtlich, wie tiefgreifend der Europäisierungsprozess in die institutionalisierten Spannungsbalancen des nationalstaatlichen Vergesellschaftungstyps eingreift und diese transformiert. So hat sich mit der Europäischen Union nicht nur ein neues und präzedenzloses supranationales Zentrum etabliert. Dessen umfassende politisch-administravie Regelungskompetenzen unterhöhlen die Souveränität der Mitgliedsstaaten. In zahlreichen Bereichen – Binnenmarkt, Landwirtschaft, Beschäftigung, Migration, Justizwesen, Verkehr, Währung, Sozialpolitik, Industrieentwicklung, Regionalförderung, Umwelt, Energie Forschung und Bildung, um nur die wichtigsten zu nennen1 – beanspruchen mittlerweile Leitprinzipien, Normen sowie Rationalitätskriterien Geltung, die in transnationalen Arenen paktiert oder durch die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofes eingeführt wurden. Davor sind selbst die nationale Verfassungen nicht mehr geschützt, wie das EuGH-Urteil zu den Kampfeinsätzen von Frauen in der Bundeswehr exemplarisch zeigt. „Euro1
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Mittlerweile habe die Mitgliedsstaaten selbst ihre Steuerautonomie faktisch weitgehend eingebüßt (vgl. Uhl 2008)
päische“ Leit- und Rationalitätskriterien durchdringen die Mitgliedsstaaten und befestigen so die Definitions- und Regelungshoheit der europäischen Organe. Fundamental ist auch der Strukturwandel des Rechts. Mit dem Europarecht, das sich aus den Verträgen, den Beschlüssen („Richtlinien“ und „Verordnungen“) der rechtsetzenden EU-Organe sowie der Spruchpraxis des Europäischen Gerichtshofes zusammensetzt, hat sich ein supranationales Rechtssystem sui generis, d. h. mit einer eigenen Dogmatik und „Rechtskultur“ (Peter Häberle), ausdifferenziert. Das Europarecht gründet auf genuin europäischen Verfassungsprinzipien, wie „Supranationalität“, „Integrationsfortschritt“, „begrenzte Einzelermächtigung“ und „Subsidiarität“. Nationales Recht und europäisches Recht haben somit „ihre je eigene Quelle und ihre je eigenen Gültigkeitsbedingungen“ (Grimm 1995: 27). Grundlage seiner europaweiten Standardisierungswirkung ist aber vor allem, dass das Europarecht dem nationalen Recht der Mitgliedsstaaten prinzipiell übergeordnet ist und eine unmittelbare europaweite Wirksamkeit entfaltet. Über die Normdurchsetzung und Normanwendung in den Mitgliedsstaaten und in der EU wachen die Kommission und der EuGH als höchste Sanktions- und Auslegungsinstanzen. Außerhalb dieses Rechtsrahmens gibt es kein „Europa“ als verhaltensstrukturierende Herrschafts- und normative Deutungseinheit. Ebenso stellen die Variabilität der Grenzen und die Verschiebungen in den Innen-Außen-Verhältnissen des gesamteuropäischen Raumrahmens im Zusammenhang des Binnenmarktes und der Erweiterungen landläufige Vorstellungen von Gesellschaft in Frage. Der Binnenmarkt, der einen europaweiten Wirtschaftsraum schuf, in dem Wettbewerb das allein gültige, universalisierte und durchschlagende Funktionsprinzip darstellt, begründet eine neue europäische Teilung der Arbeit, der die nationalen Ökonomien untergeordnet sind. Damit wurden nicht nur die Rahmenbedingungen der Faktorallokation und -mobilität in Europa auf eine neue Grundlage gestellt. Die EU gewinnt eine zunehmende Bedeutung auch als Zuschreibungseinheit von sozialer Ungleichheit. Es verschieben sich damit die Bezugseinheiten und Problemlagen von innergesellschaftlichen Konflikten und ihrer politischen, insbesondere sozialpolitischen Regulierung. Durch die EU definierte Standards (benchmarking) und europaweite Vergleichsmöglichkeiten von ökonomischen und sozialen Standortvorteilen bzw. -nachteilen im Hinblick etwa auf Einkommenschancen, soziale Sicherheit, Qualifizierungsmöglich-
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keiten und dergleichen gewinnen zunehmend auch für innergesellschaftliche Auseinandersetzungen an Bedeutung. Davon sind heute schon der Regionalausgleich, die Beschäftigungspolitik, die Arbeitsgesetzgebung, die Bildungspolitik, aber auch Teile der Sozialgesetzgebung betroffen. Es vollzieht sich eine stille Revolution durch Europäisierung, wobei die Durchsetzung spezifisch europäischer Gerechtigkeits- und Gleichheitsvorstellungen, die in erster Linie auf Marktbildung, die Garantie von Wettbewerbsfreiheit und die Stärkung von Individualrechten gegenüber Kollektivrechten und Kollektivzwängen sowie auf Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit zielen, die Mitgliedsstaaten unter massiven Anpassungsdruck stellen. Möglicherweise führt dies zu einem „Formenwandel von Solidarität“ in Europa (Münch/ Büttner 2006: 65f.). In jedem Fall setzt dieser Prozess der schleichenden Europäisierung aber die bestehenden nationalen Wohlfahrtsregime erheblichen unter Stress. Darüber hinaus ist mit der EU als neuem Adressaten von Ansprüchen und Verantwortungszuschreibungen seitens der europäischen Bürger ein weiteres Objekt für kollektive Identifikationen entstanden, „das einen normativen Gehalt besitzt und Verhalten in den Mitgliedsländern unmittelbar strukturiert“ (Lepsius 1999: 202). Auch wenn bisher eine belastbare Identifikation mit dem europäischen Projekt fast nur in Elitenkreisen zu finden ist, die breitere Bevölkerungen dagegen kognitiv in einem national bis nationalistisch codierten Partikularismus und einem diffusen „Euroskeptizismus“ verharrt, ist das Identitätsdefinitionsmonopol des Nationalstaates gebrochen. Noch kann der Nationalstaat mit den notwendigen gesellschaftlichen Ressourcen zur Konstruktion von Gemeinschaftlichkeitsillusionen und der Ausbildung von Zugehörigkeit und Identitäten rechnen. Die rituellen wie affektiven Voraussetzungen, mit denen ein Gemeinschaftsgefühl geschaffen und ein Gemeinsamkeitsglaube in der modernen Massengesellschaft gefestigt werden kann, sind noch immer stark national geprägt. Doch auch der transnationale öffentliche Raum fungiert mittlerweile gleichsam als eine Art Großlaboratorium für kollektive Bewusstseinsbildung, deren Richtung und Ausprägungen derzeit noch nicht absehbar sind (vgl. Kaelble/Kirsch/ Schmidt-Gerning (Hg.) 2002). Die Definition von Zugehörigkeit und die Ausbildung von kollektiver Identität sind nicht mehr ein exklusives Vorrecht der Nationalstaaten. Kollektive Identitätsbildungen werden durch die hinzutretende Bezugsgröße „Europa“ weiter pluralisiert. Namentlich die EU-Eliten erwarten und fördern eine stärkere Identifikation der Bürger mit
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dem europäischen Projekt. Dementsprechend sind sie bestrebt durch institutionelle Vorkehrungen, darunter die mittlerweile gescheiterte europäische Verfassung, die Attraktivität „Europas“ als normative Ordnungsvorstellung und als Identifikationsobjekt zu verbessern. Der vorauseilenden supranationalen Institutionenbildung soll so durch nachholende Bewusstseinsbildung zu mehr Legitimität verholfen werden, ein Vorhaben, dem bislang allerdings nur wenig Erfolg beschieden war. Auf einer anderen Analyseebene kann man diese fundamentale Neustrukturierung der Grundkoordinaten von Gesellschaft in ihrer territorialen und nationalen Ausprägung auch in termini von Entkopplungen und Dissoziationen beschreiben. Dabei geraten vor allem die Prozesse der gesellschaftlichen „Entbettung“, insbesondere von Herrschafts- und Marktfunktionen, in den Blick. Am auffälligsten erscheint die Dissoziation von Gesellschaft und Staat: Waren diese im demokratischen Verfassungsstaat noch symmetrisch aufeinander bezogen, weil durch ein Geflecht intermediärer Strukturen (Parteien, Verbände, Öffentlichkeit) vermittelt, so finden sich die Exekutiven im europäischen Mehrebenensystem von der gesellschaftlichen Realität der Mitgliedsländer weitgehend verselbständigt und in deren Regulierungshandeln im wesentlichen auf die technokratischen Kriterien der EU verwiesen. Aufgrund fehlender intermediärerer Strukturen auf europäischer Ebene sind die dort operierenden Netzwerke von Exekutiven der Beobachtung durch die politische Öffentlichkeit weitgehend entzogen (vgl. Gerhards 2002). Damit kann die EU ihre bürokratische Handlungsautonomie ständig ausweiten und die Machtstellung der Exekutiven nachhaltig stärken. Infolgedessen führt die Zentralisierung und Bürokratisierung von politischen Entscheidungskompetenzen in der EU zu einer Abkopplung der supranationalen Steuerungsfunktionen von den Legitimationsquellen, mithin zu einer Dissoziation von Herrschaft und Legitimation. Demokratische Legitimation vermögen bisher auf einigermaßen befriedigende Weise nur die nationalen Demokratien sicherzustellen. Ähnlich finden sich die nationalgesellschaftlichen Institutionensymmetrien von geographischem Raum und Mitgliedschaftsraum, von nationaler Zugehörigkeit und Bürgerrechten (Unionsbürgerschaft), von territorialer Zugehörigkeitsbestimmung und sozialen Rechten (Portabilität von Sozialleistungen) sowie von sozialen Konflikte und Regelungsinstitutionen gewissermaßen auseinander gezogen. Mit Bezug auf Europa erscheint es demzufolge wenig sinnvoll, noch von Gesellschaft im Sinne eines politisch integrierten, die innergesellschaft-
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liche Konfliktaustragung gewährleistenden und auf gemeinsam geteilten Werten basierenden Gebildes zu sprechen. Im Gegenteil: Die europäische Integration verliert nicht nur zunehmend ihr gesellschaftliches Fundament. Sie hatte im Grunde nie ein solches Fundament, weil die gesellschaftliche Binnenintegration immer von den sie tragenden Mitgliedsstaaten geleistet wurde. Nur zeigt sich jetzt mit größerer Deutlichkeit, dass mit forcierter transnationaler Integration gleichsam „ohne Gesellschaft“ unabsehbare Folgen für die soziale und politische Ordnung der Mitgliedsländern drohen. Die politische Soziologie der europäischen Integration ist heute aufgefordert, ihr theoretisch-analytisches Instrumentarium für eine kritische Beobachtung der neuartigen transnationalen Herrschaftsstrukturen und ihrer nicht-intendierten sozialen Dynamiken weiterzuentwickeln. Dabei geht es wesentlich darum, die supranationale Institutionenbildung als solche, aber auch deren Wirkungen auf politischer wie gesellschaftlicher Ebene zu analysieren. Das beinhaltet auch, die Selbstbeschreibungen des herrschenden europäischen Systems und deren Mythen sowie Illusionen zum Gegenstand soziologischer Forschung zu machen. Zu den beständigsten Mythen des europäischen Verbandes gehört die Vorstellung der Demokratisierbarkeit des supranationalen Regierungssystems, sei es durch eine Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments oder durch eine konstitutionelle Neubegründung der EU. Die EU ist aber ein völlig neues und singuläres Verhandlungs- und Rechtssystem, das durch Regierungen souveräner Mitgliedsstaaten konstituiert und legitimiert wird. Die Beschlüsse des Verbandes und damit das Europarecht gelten zwar direkt und unmittelbar in allen Mitgliedsstaaten. Teile der nationalen Souveränität werden der EU in begrenzten Kompetenzbereichen (u.a. Binnenmarkt, Regionalförderung) übertragen. Die Souveränität der Mitgliedsstaaten bleibt aber in der Substanz unangetastet. Das garantiert schon die Einstimmigkeitsregel bei entscheidenden hoheitlichen Fragen, die etwa die Aufnahme neuer Mitglieder in den Verband, institutionelle Reformen (Vertragsreformen), den Haushalt, die Sozialpolitik, die Bildungspolitik u.a. betreffen. Mehrheitsentscheidungen nehmen in zahlreichen Bereichen der europäischen Beschlussfassung zwar zu, sie bleiben aber ebenfalls auf bestimmte Materien begrenzt. Im übrigen bilden sie aufgrund der Stimmengewichtung nach Maßgabe von Größe und Bevölkerungszahl der einzelnen Länder (Qualifizierte Mehrheit) eine immer noch außerordentlich hohe Entscheidungshürde. Die Möglichkeit von Regierungen der Mitgliedsstaa-
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ten, von ihrem Vetorecht Gebrauch zu machen, wenn essentielle Interessen von Einzelstaaten beeinträchtigt zu werden drohen, bleibt mithin auch nach Ausdehnung der Mehrheitsregel ein zentrales Systemmerkmal der EU. Die EU kann nicht als staatlicher Verband im herkömmlichen Sinn und erst recht nicht als demokratischer Staat beschrieben werden. Die Demokratiefähigkeit der EU ist vor allem aufgrund des Fehlens eines Demos, also eines politisch verfassten europäischen Staatsvolks, zweifelhaft. Worauf es dabei aber ankommt, ist nicht nur der kulturelle Pluralismus Europas, der sich gegen Homogenisierung sperrt. Wichtiger erscheint vielmehr der Umstand, dass die Staatsvölker in Europa bereits politisch, d.h. nationalstaatlich organisiert sind – das Resultat von mehreren Jahrhunderten, selten friedlich und unblutig verlaufender Prozesse der Nationsbildung. Eine Fusion in eine europäische Nation ist weder zu erwarten noch steht sie auf der politischen Agenda. Die Legitimationsgrundlage des europäischen Verbandes ist nicht zufällig eine duale, zugleich eine nationalstaatliche und eine supranationale. Die Regierungen konstituieren gemeinsam das europäische Mehrebenensystem, aber die Unionsbürger sind und bleiben in erster Linie Bürger ihrer Staaten. Das spiegelt sich nicht zuletzt in der verbreiteten, demoskopisch immer wieder ermittelten Indifferenz gegenüber der europäischen Politik und der stärkeren und vor allem weitaus verhaltensbestimmenderen Identifikation mit dem eigenen Nationalstaat wieder. Dessen ungeachtet hält sich aber die Illusion einer europäischen Nationswerdung. Das Europaparlament repräsentiert und nährt diesen Traum dadurch, dass es den Schein aufrecht erhält, eine authentische europäische Volksvertretung im Werden zu sein. Tatsächlich ist ein weiters Systemmerkmal der EU die nur rudimentäre Parlamentarisierung. Das EP ist nicht bedeutungslos, aber es verfügt kaum ansatzweise über klassische parlamentarische Prärogative, wie die Ernennung und Kontrolle einer Regierung oder die Initiativ- und Beschlusskompetenz in der Gesetzgebung. Die vorläufig letzte Sequenz des Traums von einer europäischen Staatswerdung war der kläglich gescheiterte Versuch, der EU so etwas wie eine Staatsverfassung zu geben. Wie so oft in der Europapolitik, eilten die Zuversicht und die Euphorie des Augenblicks, der schon in der Gegenwart als von historischer Tragweite gefeiert wird, der realen Entwicklung weit voraus. Die Referenda in Frankreich, Niederlanden und zuletzt in Irland (vgl. Haller 2008: 1ff.; Blaseck 2007) brachten die Ernüchterung: Mehrheitlich wurde das Verfassungsprojekt von den Bevölkerungen abgelehnt. Spätes-
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tens mit dem ablehnenden Votum der Iren geriet die EU in eine Verfassungskrise, die zu einer allgemeinen Lähmung des Integrationsprozesses führe könnte. Das unter der deutschen Ratspräsidentschaft im Juni 2007 vorbereitete und auf dem Gipfel von Lissabon Ende desselben Jahres erfolgte offizielle Eingeständnis des Scheiterns des europäischen Verfassungsvertrages zeugt von einer verstärkten Rückbesinnung der Regierungen auf die alte und bewährte Strategie der bürgerfernen institutionellen und technokratischen Europäisierung. Zentrale Reforminhalte des Verfassungsvertrages, wie die doppelte Mehrheit bei Ratsbeschlüssen und die Reform der Ratspräsidentschaft wurden im Vertrag von Lissabon gleichsam gerettet. Nun bleibt die Ratifikation den Mitgliedsstaaten, mithin den politischen Institutionen überlassen, die gemäß den üblichen, demokratiefernen Verfahren der Europäischen Regierungskonferenz vorgehen. Von weiteren plebiszitären Experimenten sollte nunmehr abgesehen werden. Damit scheinen die Bemühungen um eine verstärkte demokratische und gesellschaftliche Integration Europas zunächst auf Eis gelegt zu sein. Das negative Votum beim Referendum zum Lissaboner Vertrag in Irland vom Juni 2008 brachte noch einmal die ganze Hilflosigkeit der EU im Umgang mit Volksabstimmungen an die Oberfläche. Bemühungen um gesellschaftliche Rückbindungen supranationaler Vorhaben sind allemal riskant, weil sie die fein austarierten Verhandlungsmechanismen und elitären Kommunikationszusammenhänge der EU unterhöhlen und aus den Angeln heben können. Ein anderer Mythos ist die europäische Identität. So hartnäckig wie ein religiöses Dogma hält sich die Vorstellung, der europäische Einigungsprozess erfordere, um seine Legitimationsschwächen zu überwinden, eine ihn stützende Verankerung im Bewusstsein der Bürger, eine dem Nationalbewusstsein vergleichbare europabezogene Wir-Identität. Es ist freilich kein Zufall, dass gerade die moderne Gesellschaft mit ihren anonymen Institutionen, ausdifferenzierten Sozialsystemen, dezentrierten Weltbildern und Wertsphären sowie ihren fragmentierten Personalidentitäten einen optimalen gesellschaftlichen Nährboden für die Herausbildung von kollektive Identitäten im Sinne von emotionalen Vergemeinschaftungen und Zugehörigkeiten zu „immagines communities“ auf der Grundlage eines sozial konstruierten „Gemeinsamkeitsglaubens“ (Max Weber) bietet. In der Gegenwartsgesellschaft zeigen sich vielfach gerade solche politische Institutionen, die durch versachlichte und rationale Funktionen geprägt sind und für die abstrakte Mitgliedschaften gelten, bemüht, ein Gemeinschaftsgefühl künst-
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lich zu erzeugen und zu pflegen. Für den modernen Nationalstaat ist die Identifikation der Bürger mit ihrem Staat als Voraussetzung von demokratischer Partizipation und wohlfahrtsstaatliche Umverteilung freilich unverzichtbar. Höchst zweifelhaft ist allerdings, ob sich dies auf Europa übertragen lässt. Der Europäischen Union mangelt es zwar keineswegs an Staatlichkeitsattributen und Regulierungswut, auch nicht an den dazu erforderlichen rechtlichen und bürokratischen Mechanismen. Was der EU bis heute aber offenkundig fehlt, ist gerade jenes gesellschaftliche und kulturelle Gemeinschaftsfundament, auf das sich der Nationalstaat als einem vorpolitischen „Substrat“ immer berief und von woher er einen Großteil seiner demokratischen Legitimation empfing. An diesem strukturellen Systemmangel ist letztlich auch der europäische Verfassungsvertrag gescheitert. Institutionen wie Verfassungen können für politische Identitätsbildungen eine wichtige Referenz mit konkreten und verbindlichen Wertbezügen sein. Der Identitätsbildung liegt dann ein Bekenntnis zu Wertvorstellungen zugrunde, die durch diese Ordnung repräsentiert und verwirklicht werden soll. Dafür bieten die Verfassung der USA, auch das deutsche Grundgesetz eindringliche Belege. Davon ist die Europäische Verfassung jedoch weit entfernt. Ihre Kenntnis und Akzeptanz in der Bevölkerung ist äußerst gering. Zudem ist fraglich, ob die Europäische Verfassung einen spezifischen europäischen Eigenwert darstellen würde, auf dem eine europäische Identifikation aufbauen könnte. Ihre politischen Leitideen und Wertbindungen – Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Marktwirtschaft – sind weitgehend Derivate der Mitgliedsstaaten oder globaler Modelle mit universalistischem Anspruch. Die Europäische Union repräsentiert in ihrem Wertekanon insofern eher ein universales „Weltmodell“ als ein spezifisch europäisches Wertemuster. Hinzu kommt schließlich: Die Formierung einer robusten europäischen Identität würde voraussichtlich mehr Probleme schaffen als lösen. Lassen wir die aus dem Nebeneinanderbestehen von nationaler und transnationaler Identitäten erwachsenden Konflikte außer Acht, so würde auf europäischer Ebene doch ein radikaler Systemwechsel in Richtung einer kulturellen Integration Europas eingeleitet werden. Das käme einem Rückfall in vormoderne Verhältnisse gleich. Institutionell und funktional differenzierte Ordnungen lassen sich über ein „Kollektivbewusstsein“ nicht mehr homogenisieren. Ganz abgesehen davon, dass die europäischen Verträge eine kulturelle Vergemeinschaftung Europas gar nicht vorsehen. Sie regeln statt dessen eine
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rationale Vergesellschaftung in Gestalt eines supranationalen Interessenverbandes mit primär wirtschaftspolitischer Zwecksetzung. Man sollte daher die Europäische Union nicht überfrachten mit Funktionen und Anforderungen, denen sie nicht gerecht werden kann, weil sie dafür nicht geschaffen wurde, und die sie auch gar nicht benötigt. Mehr als vier Jahrzehnte war von europäischer Identität so gut wie keine Rede. Das war kein Zufall. Das System erhält sich und expandiert gemäß der Eigenlogik ausdifferenzierter Funktionssysteme und instrumenteller Zielbestimmungen. Seine Legitimation erfährt es im wesentlichen durch die institutionalisierten politisch-administraiven Prozeduren der Interessenvermaklung (u. a. im Komitee-Regime der Kommission und des Rates), der zwischenstaatlichen Kompromissfindung und Beschlussfassung. Allein darauf basiert die Funktionsfähigkeit der EU in der Praxis. Solange sie nennenswerte Umverteilungen nur im Rahmen von Regionalförderprogrammen und mit Bezug auf territoriale Einheiten (Mitgliedsstaaten und Regionen) vornimmt und keine wohlfahrtsstaatliche Politik im engeren Sinne praktizieren kann, solange bedarf es im Grunde auch keiner europäischen Identität. Erst wenn unsere Steuern und Sozialabgaben in nennenswertem Umfang auch zur Unterstützung von Arbeitslosen und sozial schwachen Bevölkerungsgruppen in der Peripherie Europas, etwa in Portugal oder Rumänien, verwendet werden sollen, wird sich die Frage nach der europäischen Identität nicht nur theoretisch, sondern auch auf der Ebene des Alltagsbewusstseins stellen. Der Europadiskurs, in der politischen Öffentlichkeit wie in der sozialwissenschaftlichen Forschung, droht zu einem „politisch korrekten“ Diskurs zu degenerieren. Das wäre ein Zeichen für Ideologisierung und kognitive Schließung. Die politische Soziologie der europäischen Integration muss demgegenüber ihre Analyse- und Kritikfähigkeit bewahren. Eine zentrale Aufgabe ist es, den europapolitischen Common sense mit den inkongruenten Perspektiven der Soziologie zu konfrontieren, um vielleicht besser zu verstehen, was für ein Europa wir im Begriff sind zu bauen. Dieses Buch zielt auf eine makrosoziologische Analyse der gesellschaftlichen Dynamiken und Wirkungen der politischen und ökonomischen Integration Europas.2 Den Ausgangspunkt (Kapitel II) bildet die Diagnose einer 2
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Die nachfolgenden Kapitel basieren zum Teil auf bereits veröffentlichten Arbeiten von mir. Alle Texte wurden für das vorliegende Buch in unterschiedlichem Maße verbessert, überarbeitet und aktualisiert. Obwohl die einzelnen Kapitel auch isoliert gelesen werden
extremen Inkongruenz von Ökonomie und Sozialintegration in der Europäischen Union. Waren Ökonomie und Gesellschaft in den Nationalstaaten noch weitgehend aufeinander bezogen, so wird dieser Konstitutionszusammenhang moderner Gesellschaften im Zuge der europäischen Integration gewissermaßen auseinandergezogen. Der Prozess der Entgrenzung birgt Risiken: So könnte er die Mitgliedsstaaten erheblich destabilisieren. Die EU kann aber keine äquivalenten gesellschaftlichen Integrationsfunktionen erbringen. Damit steht das landläufige Verständnis von Gesellschaft als mit dem Nationalstaat verschmolzener Einheit grundsätzlich zur Disposition. Diese Entwicklung ist mit dem herkömmlichen holistischen und territorialen Gesellschaftsbegriff und mit dem ihm zugrunde liegenden „methodologischen Nationalismus“ nicht mehr angemessen zu analysieren. Als alternatives Erklärungsmodell wird hier deshalb eine analytische Perspektive vorgeschlagen, die Institutionen und institutionelle Ordnungen in das Zentrum stellt. Entgegen einer auch unter Soziologen verbreiteten Ansicht, Institutionen und besonders politische Institutionen gehörten nicht zum Objektbereich soziologischer Forschung wird in Kapitel III ein post-weberianischer Begriff von sozialer Ordnung rekonstruiert, der in Institutionen eminent soziale Prozesse gebündelt sieht. Demnach strukturieren Institutionen Verhalten, manifestieren und kanalisieren Interessen und beziehen beide – Interessen und Verhalten – auf Wertvorstellungen. In der Spannung zwischen Institutionen mit unterschiedlichen Ordnungsideen ist zudem eine wesentliche Triebkraft des sozialen Wandels zu sehen. Meine zentrale These ist, dass die mit der europäischen Integration eingeleitete Entgrenzungs- und Inkongruenzdynamik in Europa nur aus der Perspektive einer soziologischen Institutionenperspektive angemessen begriffen werden kann. Verfolgt wird die institutionelle Dynamik der europäischen Integration sodann mit Bezug auf die absehbaren Folgen für den Bestand und die Weiterentwicklung von Demokratie als zentrale Steuerungs- und Legitimitätsressource moderner Gesellschaften (Kapitel IV) sowie auf die Institutionalisierung eines weitgehend verselbständigten und bürokratisch deformierten Herrschaftsverbankönnen, stehen sie in einem argumentativen Zusammenhang, der sich erst in der Gesamtsicht dieses Buches zur Gänze erschließt. Im einzelnen handelt es sich um folgende Veröffentlichungen: Bach 2006 (Kap. II); 2008 (Kap. III); 2000a (Kap. IV); 2005 (Kap. V); 2006a (Kap. VI); 2007 (Kap. VII); 2008b (Kap. VIII); 2008a (Kap. IX). Der Rest ist bisher unveröffentlicht.
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des (Kapitel V). Auf der Fokussierung der Herrschaftsfunktionen folgt eine Analyse der territorialen Dimension des europäischen Projekts. Das stellt die Erweiterungen und deren Folgedynamiken in das Zentrum der Untersuchung (Kapitel VI). Die Erweiterungs- und Entgrenzungsdynamik impliziert nicht nur eine Restrukturierung des geopolitischen Raumes in Europa, sondern auch, vor allem im Zusammenhang mit den neuen Migrationsbewegungen und anderen Formen der Grenzüberschreitung, eine Neudefinition der Institution der Staatsbürgerschaft (Kapitel VII). Außerdem treten mit der Formierung Europas als transnationaler Raumkategorie neue europaweite cleavages und soziale Ungleichheiten hervor, die die Europasoziologie vor neue konzeptionell-theoretische Probleme stellt (Kapitel VIII). Im IX. Kapitel wird schließlich der Frage nachgegangen, ob die von vielen Beobachtern angestrebte Herausbildung einer europäischen Identität der Bürger Europas tatsächlich so etwas wie ein Universal-Therapeutikum gegen ein weiteres Überhandnehmen des bürokratischen Steuerungsmodus auf europäischer Ebene und gegen die notorischen Legitimationslücken der Europäischen Union sein kann. Meine pointierte These dazu lautet: Die europäische Identität kann unter Modernitätsbedingungen kein Ausweg aus den strukturell angelegten Dilemmas der europäischen Integration sein. Ein abschließender Ausblick (X) nimmt noch einmal Bezug auf das Risikopotenial und die Krisenanfälligkeit der supranationalen Institutionenpolitik. Dabei deutet sich die unvermeidliche Verstrickung des europäischen Projekts als ein Phänomen der Moderne in die Paradoxien und Tautologien ebendieser Moderne an. Es setzt auf aktive und bewusste Erneuerung sowie planmäßige Gestaltung der politischen und sozialen Wirklichkeit als wesentliches Legitimations- und Praxismoment, ohne indes selbst in der Lage zu sein, die eigene Komplexität in einer kontingenten und dynamischen Umwelt bewältigen zu können. Das mag erklären, warum politische Rhetorik vielfach die europapolitischen Auseinandersetzungen beherrscht.
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II. Marktintegration ohne Sozialintegration
Obwohl die Soziologie über eine differenzierte Begrifflichkeit verfügt, um gesellschaftliche Makrogebilde und deren soziale Dynamiken näher zu bestimmen, wie beispielsweise „Vergesellschaftungen“ (Max Weber), „soziale Systeme“ (N. Luhmann), „gesellschaftliche Gemeinschaft“ (T. Parsons) oder auch „Institutionenordnungen“ (M. R. Lepsius), ist in der makrosoziologischen Europaforschung nach wie vor meist ein problematischer, holistischer und geographischer Gesellschaftsbegriff gebräuchlich. Hierbei wird oft unreflektiert Gesellschaft mit Staatsgesellschaft bzw. Nationalgesellschaft gleichgesetzt. So ist es üblich, über eine deutsche, eine italienische oder auch eine japanische Gesellschaft zu sprechen. Die vergleichende Sozialstrukturforschung untersucht deren strukturelle und kulturelle Differenzen sowie Gemeinsamkeiten. Die Gesellschaftstheorie bezieht sich auf diese staatlich verfassten Einzelgesellschaften als integrierte Einheiten und Gesamtgesellschaften mit territorialen Grenzen (vgl. Luhmann 1997: 31ff., 1045; Kreckel 1997: 286ff.). Dieses Vorgehen war so lange sinnvoll, wie die Gesellschaften der Nationalstaaten das dominierende politische Vergesellschaftungsmodell und damit den umfassendsten und wichtigsten systemischen und sozialen Integrationsrahmen (unterhalb der Weltgesellschaftsebene) darstellten (vgl. Offe 2001; Stichweh 2000). Es besaß auch noch empirische Plausibilität, solange die gesellschaftliche Realität dem nationalstaatlichen Modell der weitgehenden Kongruenz von Grenzen des Territoriums, des Staates, der Wirtschaft, der Kultur entsprach und das aus dem Verhältnis dieser Vergesellschaftungskreise hervorgehende Gebilde als „koextensive Wirtschafts-, Werte- und Zwangsgemeinschaft“ (Streeck 1998: 21) angesehen werden konnte. Eine wesentliche Voraussetzung für die Realitätsgeltung dieses Gesellschaftsmodells waren allerdings eindeutige, politisch anerkannte, militärisch gesicherte und vielfach mit mehr oder weniger trennscharfen kulturellen und sozialen Abgrenzungen deckungsgleiche Staatsgrenzen (vgl. Offe 1998, Streeck 1998, Vobruba 1997: 163ff.). Unter diesen Voraussetzungen bildeten die nationalen Gesellschaften die primären und gleichsam
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„natürlichen“ Bezugseinheiten der empirischen Sozialforschung, des sog. europäischen Gesellschaftsvergleichs und eben auch der Sozialtheorie. Aufgrund von zwei universalen Entwicklungstendenzen unserer Gegenwartsgesellschaft können diese Voraussetzungen der sozialen Integration nun aber nicht mehr als selbstverständlich angesehen werden: Globalisierungs- und Europäisierungsprozesse stellen die politische Vergesellschaftungsform des relativ geschlossenen Nationalstaates grundsätzlich in Frage. Denn für diese beiden makrogesellschaftlichen Entwicklungen sind Prozesse der Entgrenzung konstitutiv. Globalisierung und Europäisierung sind Begriffe, mit denen soziale Systembildungen beschrieben werden, die im Kern auf einem Durchlässigwerden oder auf einen Abbau von nationalen Staats-, Markt- und Institutionengrenzen beruhen. Damit intensivieren sich grenzüberschreitende Aktivitäten und Transaktionen, z.B. die Handelsströme, Auslandsinvestitionen, aber auch die Internet-Kommunikation und der Tourismus (vgl. statt vieler Giddens 1995; Stichweh 2000; Willke 2001; Münch 2001). Im Falle der europäischen Einigung ist eine Politik der Entgrenzung geradezu eines der zentralen strategischen Ziele des integrationspolitischen Projektes. Europäische Integrationspolitik war von Anfang an auf die Überwindung von nationalstaatlichen Grenzen im Binnenraum der Europäischen Union und ihrer Vorläuferorganisationen ausgerichtet. Schon in den Römischen Verträgen zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft war die „Beseitigung der Beschränkungen im zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr“ ein Kernanliegen der europäischen Wirtschaftsintegration und der damit anvisierten weitergehenden Vereinigung der Völker Europas im Zeichen eines neuen „Europa ohne Grenzen“. Die Verwirklichung des Binnenmarktes Anfang der 1990er Jahre, die darauf folgende Währungsunion, schließlich die Abschaffung der Personenkontrollen an den Grenzen gemäß dem Schengener Abkommen stehen in dieser strategischen Kontinuität des politischen und wirtschaftlichen Grenzabbaus (vgl. Mau 2006). In diesem Kontext wurde Grenzabbau immer funktional als ein Mittel zum Zweck der Herstellung einer neuen europaweiten politischen Raumordnung mit niedrigen zwischenstaatlichen Hürden verstanden. Insofern hängen in der europäischen Politik Integration und Entgrenzung funktional zusammen; es sind Komplementärbegriffe. Beide zielen auf die Schaffung einer neuen europaweiten Raumordnung durch Intensivierung der zwischenstaatlichen Kooperation und durch Beitritte weiterer europäischer
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Staaten zur EU einerseits sowie durch neue, vor allem äußere Grenzziehungen zu den Anrainerstaaten andererseits (vgl. Vobruba 2005). In der bisherigen Europaforschung blieb diese Dialektik von Entgrenzung und Integration allerdings unterthematisiert. Sie wurde durch das in der Europaliteratur und im offiziellen politischen Sprachgebrauch der EUOrgane gängige Begriffspaar „Erweiterung“ und „Vertiefung“ mehr verschleiert als erhellt. Unter diesem Blickwinkel werden die Interdependenz von territorialer Expansion des überstaatlichen Verbandes durch Beitritte auf der einen Seite und die integrationsfördernde Institutionenanpassung bzw. -reform seiner Organe auf der anderen Seite in erster Linie als ein normativer Funktionszusammenhang verstanden. Die Strukturdynamiken von Grenzöffnungs- und Grenzbildungsprozessen hingegen blieben im Dunkeln. Erst durch das Projekt der EU-Osterweiterung, das mit der Ausdehnung des Herrschaftsraumes der EU auf weitere zehn hauptsächlich mittelosteuropäische Länder einherging, drangen die geopolitischen Dimensionen der Europapolitik und damit auch die Staatsgrenzen Europas wieder stärker in das Bewusstsein der Beobachter (vgl. statt vieler Zielonka (Hg.) 2002; Anderson/Bort 2001). Die Soziologie reagierte auf die historisch neue Erfahrung der Entgrenzung im Zusammenhang der europäischen Integration zunächst ambivalent: Auf der einen Seite bestehen große Hoffnungen auf eine nachholende gesellschaftliche Integrations- und Identitätsfindungskraft der Europäischen Union, etwa vermittelt über die Institution der Unionsbürgerschaft (vgl. Giesen/Eder 2001) oder auch durch eine Konstitutionalisierung des supranationalen Verbandes und eine Neubegründung der Europäischen Union auf der Basis einer postnationalen Verfassung.1 Vertreter dieser Richtung postulieren die prinzipielle Möglichkeit der Selbstkonstitution einer europäischen Gesellschaft als Folge der supranationalen Institutionenbildung, verbleiben dabei aber zumeist im Spekulativen und Normativen. Auf der anderen Seite zeigen sich zahlreiche soziologische Beobachter alarmiert, da sie mit der Auflösung der Staatsgrenzen in Europa die Vergesellschaftungseinheit der Staats- und Nationsgesellschaft gefährdet sehen. Peter Flora 1
Jürgen Habermas gehört zu denjenigen prominenten Intellektuellen, die mit der Erwartung einer Rekonstruktion des territorialen Modells der Sozialintegration und vor allem des Wohlfahrtsstaates auf europäischer Ebene große Hoffnungen verbinden (vgl. Habermas 2001: 104-129; ders. 2004: 68-82; ders. 2007).
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(2000b: 164) etwa prognostiziert eine „schleichende Auflösung der nationalstaatlichen Triade ‚kollektive Identität – politische Beteiligung – soziale Teilhabe’“. Er sieht darin einen Prozess, der „zu einer weniger strukturierten und homogeneren europäischen Gesellschaft mit geringerer Innovationskraft und vielleicht auch zu einer etwas autoritäreren Form der Demokratie“ führen könnte. Claus Offe erwartet sogar eine Rückkehr zum „Naturzustand“ in Europa, weil es nicht mehr gelingen könne, die neuen Gefahrenlagen „in fest umrissene soziale Konflikte zu transformieren, auf die sich verlässliche Regeln der Repräsentation und Verfahren der Kompromissbildung anwenden lassen“ (Offe 2001: 431ff.). Auch Lepsius (2000: 211f.) sieht den sozialen Frieden in Europa bedroht, wenn sich die „moralische Ordnung“ des Nationalstaates unter dem Druck der europäischen Integration weiter auflöst. Zu den historischen Errungenschaften des modernen, demokratischen Nationalstaates gehört die institutionelle Brechung und Zähmung von sozialen Konflikten im Rahmen der Strukturen der Konfliktvermittlung und der demokratischen Partizipation. In der Begrifflichkeit von Stein Rokkan (2000: 134ff.) handelte es sich dabei um einen Prozess der „internen Strukturierung“ von territorialen Sozialsystemen. Dieser Prozess ist verknüpft mit der Bildung und Kontrolle von äußeren und inneren Grenzen. Erst durch die Kongruenz von militärisch-administrativen, kulturellen sowie sprachlichen Grenzen, von Räumen der Mitgliedschaft und von Räumen der territorialen Herrschaft, die der moderne Nationalstaat in einem langen historischen Prozess verwirklichte, konnten sich Bürgerrechte, die Institutionen der Demokratie und ein System garantierter sozialer Rechte etablieren. Gleichzeitig erfolgte im Prozess der „internen Strukturierung“ eine Institutionalisierung von regionalen, konfessionellen, ethnischen und auch sozialen, also klassenbezogenen Spaltungen. Der politisch-administrative Raum der Staatswerdung und der gesellschaftliche Raum der Nationsbildung sowie die Sphäre der kulturellen Identitäten wurden so aufeinander bezogen; sie durchdrangen sich schließlich wechselseitig. In der Formierungsphase der europäischen Nationalstaaten sieht Rokkan die militärischen und staatlichen Institutionen noch in einer Vorrangstellung gegenüber den gesellschaftlichen Sphären. Mit dem kontinuierlichen Abbau der inneren Grenzen, der Hürden etwa für die politische Partizipation im Zuge von Demokratisierung und Institutionalisierung der aus den Spaltungs- und Ungleichheitsstrukturen erwachsenden sozialen Konflikte wuchs jedoch der Gesellschaft ein
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Übergewicht innerhalb der Territorialstaaten zu (vgl. Rokkan 2000; Flora 2000a) Mit Blick auf die Bedeutung der sozialen Bewegungen spricht Touraine (2005: 75ff.) sogar von einem Zeitalter des „Primats der Gesellschaft“. Aus Rokkans Sicht wirft der europäische Einigungsprozess eine Reihe grundsätzlicher Fragen auf.2 Zunächst stellt sich das Problem, ob der Nationalstaat heute noch die adäquate Analyseeinheit sein kann. Setzt die Entwicklung des nationalstaatlichen Vergesellschaftungsmodells die Kontrolle von Grenzüberschreitungen und damit Grenzbefestigung voraus, so weist die europäische Integration, wie schon gesagt, in die entgegengesetzte Richtung einer systematischen Auflösung von Grenzen einerseits sowie der Institutionalisierung von Grenzüberschreitungen und Grenzüberwindungen andererseits. Welche Konsequenzen hat nun aber diese Entgrenzungsdynamik für die Struktur der nationalstaatlichen Sozialsysteme? Nach Rokkan ermöglichte die Dialektik von „externer Grenzziehung“ und „interner Strukturierung“ eine relativ stabile politische und gesellschaftliche Ordnungskonstellation im Rahmen der demokratischen Nationalstaaten. Führt der systematische Abbau von Grenzen im europäischen Integrationsprozess deshalb zwangsläufig zur Entstrukturierung und Auflösung der Sozialsysteme? Mit welcher Art von Staatsbildung haben wir es zu tun? Lässt sich die Entwicklung der supranationalen Institutionen mit den historischen Erfahrungen in Europa vergleichen, die mit der territorialen Konsolidierung zu einer gesellschaftlichen Integration geführt hat? Spaltungsstrukturen gehören für Rokkan zu den unabhängigen Variabeln der Makrosoziologie. Sein historisch-soziologisches Forschungsprogramm nimmt deshalb seinen Ausgang bei der Frage, wie bestehende cleavages durch die jeweiligen territorialen Sozialsysteme in spezifische institutionelle Konstellationen transformiert bzw. „internalisiert“ wurden. Kann auch die Europäische Union als neues nicht-staatliches Territorialsystem bestehende cleavages überwinden helfen und eigenständig soziale Konfliktpotentiale binden? Oder bedeutet Entgrenzung Deinstitutionalisierung von Sozialintegration? Entwickelt sich womöglich sogar ein spezifisches europäisches Muster von Spaltungen, und wie verändert sich dann das relative Gewicht von konfessionellen, ethnischen, regionalen und schichtbezogenen Spaltungen in der gesamteuropäischen 2
Besonders Peter Flora (2000; 2000a) hat auf die heuristische Fruchtbarkeit von Stein Rokkans Theorieansatz für die Analyse des europäischen Integrationsprozesses hingewiesen. Siehe außerdem Bartolini (2005), Ansell/Di Palma (Hg.) 2004.
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Raumeinheit? Schließlich erhebt sich die Frage nach den neuen ZentrumPeripherie-Strukturen in Europa und ihren Grundlagen, für Rokkan eine der wichtigsten Strukturierungsdimensionen territorialer Sozialsysteme. Mit Rokkans Theoriemodell allein lassen sich diese aus seinem Ansatz ergebenden Fragen allerdings nicht ohne weiteres beantworten. Rokkan beschäftigte sich in erster Linie mit der historischen Erklärung der Staatsund Nationsbildung in Europa, und dabei interessierte er sich vor allem für die Herausbildung von durch Grenzbildung geschlossene Raumeinheiten und für Sozialsysteme mit bounded cleaveages (vgl. Ferrera 2003). Allerdings bietet Rokkans Ansatz wichtige Anknüpfungspunkte, um der Frage nach der Restrukturierung der territorialen Ordnung Europas im Prozeß der europäischen Einigung nachzugehen (vgl. Bartolini 2005). Entwickelte sich nach Rokkan der moderne Nationalstaat an der Schnittstelle zweier Differenzierungsprozesse, der territorialen und der funktionalen Differenzierung, so stellen sich nunmehr unter dieser Perspektive zwei grundlegende Fragen: Einerseits, ob die europäische Integration zu einer „europäischen Gesellschaftsbildung“ im Sinne einer Entdifferenzierung oder Fusionierung der Nationalstaaten in einem übergeordneten Territorialsystem neuen Typs führt, etwa der EU als neuer politisch-administrativ strukturierter Raumeinheit mit expansiven Außengrenzen. Oder ob wir es andererseits in Europa mit einer weiteren Entwicklungsstufe der territorialen und institutionellen Differenzierung zu tun haben: Der funktionalen Ausdifferenzierung eines neuen Staatsgebildes ohne geschlossene Gesellschaft als Referenzeinheit, das die Nationalstaaten als politische Einheiten nicht auflöst, aber deren soziale Binnenstruktur und „moral fabric“ desintegriert. Mit anderen Worten: Wie wirkt sich die integrationsinduzierte Veränderung von territorialen Räumen in Europa auf die grundlegenden Konstitutions- und Desintegrationsbedingungen einerseits und die Strukturierungsund Entstrukturierungsprozesse von Gesellschaft – im nationalen wie im europäischen Maßstab – andererseits aus? Diese allgemeine territorial-soziologische Problemstellung, die auf eine Anwendung des Rokkanschen Ansatzes im europäischen Maßstab abzielt, dient der folgenden Analyse als Leitfaden. Der Akzent soll hier auf einen exemplarischen Dissoziations- und Entkopplungszusammenhang gelegt werden: Auf die Voraussetzungen und Folgen der europäischen Marktintegration und der Währungsunion. Diese sollen im Hinblick auf die Transformation des europäischen Gesellschaftsmodells näher betrachtet werden. Für diese Auswahl spricht, dass die euro-
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päische Wirtschaftsintegration das zentrale, am weitesten fortgeschrittene und tiefgreifend die Sozialstrukturen der Mitgliedsländer umstrukturierende Handlungsfeld der Europäischen Union ist. 1
Negative Integration
Während die Prozesse der Entgrenzung auf instititutioneller Ebene zur Formierung eines neuen Raumes staatlicher Herrschaft in der supranationalen Verbandsgestalt der Europäischen Union und auf der Basis einer Dissoziation von Gesellschaft, Territorium und politischer Herrschaft führten, leiteten die Grenzüberschreitungsprozesse im Zusammenhang der europäischen Wirtschaftsintegration, der Schaffung des Binnenmarktes und der Währungsunion zunächst eine strukturelle Desintegration der gesellschaftlichen Grundlagen des keynesianisch-korporatistischen Kapitalismus in Europa ein. Der entscheidende Durchbruch zu dieser Transformation des europäischen Wirtschaftssystems erfolgte mit der sog. rélance européenne seit Mitte der 1980er Jahre und mit dem Binnenmarktprogramm seit Anfang der 1990er Jahre. Während das keynesianisch-korporatistische Gesellschaftsmodell der vorangegangenen Epoche geschlossene Grenzen, eine protektionistische Wirtschaftspolitik sowie einen konsolidierten Wohlfahrtsstaat voraussetzte, gründet das neue Modell des europäischen Kapitalismus auf offenen Grenzen, globalen Markttransaktionen und einer weitgehenden Entkoppelung von ökonomischer Integration und sozialer Sicherheit.3 Die gegenwärtige Transformation des Kapitalismus hat zweifellos eine globale Dimension. Sie ist aber nicht pauschal und schon gar nicht ausschließlich den Wirkungen der sog. „Globalisierung“ zuzuschreiben. Unterschiedliche Länder verfolgen unterschiedliche polit-ökonomische Anpassungsstrategien, so auch die Länder Europas (vgl. Turner 2001). In der Europäischen Union existieren aber zudem spezifische Rahmenbedingungen für die Entwicklung der Ökonomie. Hier sind daher nicht nur die Eigendynamiken der Märkte und die nationale institutionelle Einbettung der ökonomischen Akteure und Aktivitäten zu berücksichtigen. Vielmehr ist auch die Europäische Union als rah3
Der entsprechende ‚technologische Stil’ wird durch die digitale Datenverarbeitung und die Telematik bestimmt. Diese ersetzen den „Taylorismus“ und „Automobilismus“ der vorangegangen Epoche (vgl. Bornschier 2000a).
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mensetzende Strukturierungsebene systematisch in Betracht zu ziehen. Besonders auf dem Feld der Wirtschaftsregulierung legt sie mittlerweile die maßgeblichen strukturellen wie strategischen Parameter für den gesamten europäischen Wirtschaftsraum fest (vgl. Bornschier 2000a; Fligstein/Merand 2002). In den 1970er und 1980er Jahren lancierten mächtige politische Akteure wie die EWG-Kommission in Kooperation mit führenden global agierenden Unternehmen, u. a. Siemens, Phillips, Fiat, Olivetti, Unilever, Renault, die lose in dem European Roundtable of Industrialists zusammengeschlossen waren, ein ambitioniertes Programm zur Optimierung der Skalenerträge der europäischen Wirtschaft und zur Verbesserung der Weltmarktposition Europas. Damit sollten in der sog. Triaden-Konkurrenz mit den seinerzeit führenden Ökonomien Japans und den USA Positionsgewinne erzielt werden (vgl. Bornschier 1998; Ziltener 1999: 135f.). Auf der Basis dieses Zusammenschlusses, der in der Literatur auch als ein transnationaler Elitenpakt bezeichnet wurde (vgl. Sandholtz/Zysman 1989), erfolgte auf dem Gebiet der europäischen Wirtschaftspolitik eine grundlegende strategische Weichenstellung. Dank der weitreichenden Vollmachten der Kommission und der auf die EWG übergegangenen wirtschaftspolitischen Souveränität der Mitgliedsstaaten erfuhr dieses Projekt in wenigen Jahren eine europaweite Umsetzung. Es zielte auf die Schaffung eines großen Europäischen Binnenmarktes durch den systematischen Abbau von rechtlichen, nicht-tarifären und technischen Hindernissen für den grenzüberschreitenden Verkehr ökonomischer Güter. Dieses Großprojekt entfaltete seine Wirksamkeit zunächst auf der Grundlage des von der Kommission, unter der Leitung ihres damaligen Präsidenten Jacques Delors, im Jahre 1985 vorgelegten „Weißbuchs zur Vollendung des Binnenmarktes“ sowie durch die schrittweise Implementierung der sog. „vier Freiheiten“ in den darauf folgenden Jahren (vgl. Weindl 1993, Egan 2001). Die angestrebte Deregulierung zielte auf eine Verwirklichung der freien Warenzirkulation, der ungehinderten Kapitalallokation, der Niederlassungsfreiheit im Dienstleistungsbereich sowie auf die Verwirklichung genereller Freizügigkeit auf dem europäischen Arbeitsmarkt. Die damit verbundene Neudefinition des Projekts der europäischen Integration nach Maßgabe der Rationalitätskriterien der Binnenmarktpolitik, der Wettbewerbsfreiheit und später der Währungsunion, des „Euromonetarismus“, leitete einen in der Geschichte der europäischen Integration präzedenzlosen Wandel ein, der in der Konsequenz die ökonomischen, politi-
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schen und gesellschaftlichen Systeme der Mitgliedsstaaten grundlegend transformieren sollte. Seitdem spricht die sozialwissenschaftliche Europaforschung von ökonomischer „Europäisierung“ im Sinne einer weitreichenden Umgestaltung der institutionellen Grundarchitektur des Marktkapitalismus im ökonomisch integrierten Europa: Dessen maßgebliche „Regulierungsstruktur“ (governance structure), um hier die Begrifflichkeit Fligsteins und Merands (Fligstein/Merand 2002) aufzugreifen, wird seitdem durch die europäische Ebene, namentlich durch die Kommission gebildet. Die fundamentalen „Tauschregeln“ (rules of exchange) erfahren auf dem Binnenmarkt eine europaweite Standardisierung, so der Produktqualitätskriterien, der Industrienormen, des Verbraucherschutzes usw. Entscheidend ist dabei, dass diese von den Einzelstaaten nicht mehr eigenmächtig verändert werden können. Der neue, auf globale Wettbewerbsfähigkeit ausgerichtete „technologische Stil“ wird ebenfalls nicht mehr allein durch nationalstaatliche Maßnahmen, sondern vornehmlich durch benchmarking der supranationalen Instanzen, insbesondere im Bereich der Forschungs- und Technologie- sowie der Industriepolitik und Beschäftigungspolitik gefördert. Schließlich erfahren auch die relevanten „Deutungs- und Kontrollmuster“ (conceptions of control) eine Neudefinition durch das europäische Wirtschaftsrecht, das mit den Grundsätzen der Wettbewerbsfreiheit, der Privatisierung, der neuen Methode der Harmonisierung für Handelsnormen, der gegenseitigen Anerkennung von Eigentumsrechten u. dgl. mehr einen neuen cultural frame bildet (vgl. Hix 1999: 236f.; Garret/Weingast 1993). Während die Europäisierung selbst vor dem Zivilrecht nicht Halt macht, wie neuere Vorstöße auf diesem Gebiet zeigen (vgl. Grundmann 2004) konnte sie bei der national höchst unterschiedlichen Regulierung der Arbeitsmärkte und bei der Institutionalisierung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit noch keine nennenswerten Fortschritte erreichen. Unter diesen Voraussetzungen brachte die wirtschaftliche Europäisierung, um hier weiter der Argumentation von Fligstein und Merand zu folgen, ein „single set of rules for market exchange across Europe“ (Fligstein/ Merand 2002: 11) hervor. Das hat zu einer deutlichen Zunahme des innereuropäischen Warenverkehrs, einem nachhaltigen Anstieg der Zahl von europäischen Unternehmensfusionen und generell zu einer Verstärkung der auf den weiteren europäischen Wirtschaftsraum gerichteten Aktivitäten vieler Unternehmen geführt. Indirekt wirkte sich die Binnenmarktpolitik aber auch auf die öffentliche Wirtschaft aus, insofern die Europäische Uni-
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on die Mitgliedsstaaten dazu zwingt, ihre Wirtschaftsinterventionen zu reduzieren und öffentliche Unternehmen, vor allem im Bereich der Telekommunikation und auf dem Energiesektor, zu privatisieren (vgl. Majone 1996). Unter dieser Perspektive erweist sich, wie Fligstein und Merand (2002) weiter ausführen – und anhand ausgewählter Indikatoren auch empirisch belegen – für den europäischen Wirtschaftsraum nicht so sehr die „Globalisierung“, wie häufig fälschlicherweise angenommen, als entscheidende Ursache von wirtschaftlichen Entgrenzungs- und Wirtschaftsintegrationseffekten. Vielmehr bildet der Europäische Binnenmarkt als der maßgebliche politischinstitutionelle Rahmen für grenzenüberschreitende Marktbildung die deutlich wichtigere Zuschreibungsebene. Der europäische Binnenmarkt ist damit aber auch wesentlich sowohl für die positiven wie für die negativen Wohlfahrtseffekte der Wirtschaftsintegration verantwortlich. Daraus ergibt sich nicht nur die überragende Bedeutung, die der supranationalen Ebene zukommt, sondern auch das immense transformatorische Potential der Strategie der Marktbildung in Europa, der sog. „negativen Integration“. Ausschlaggebend war freilich auch in diesem Falle das Europäische Recht. Erst dessen Umsetzung leitete den tiefgreifenden Wandel des dominierenden europäischen Gesellschaftsmodells ein: Die politische Ökonomie der national geschlossenen „Container“-Ökonomien des keynesianisch-neokorporatistischen Typs wurde durch eine neue politische Ökonomie des „neoliberalen Euromonetarismus“, mit offenen Grenzen und mit grenzüberschreitenden Märkten und Interaktionsräumen ersetzt (vgl. Bornschier (Hg.) 2000; Ziltener 1999). Somit entfaltete das Binnenmarktprogramm zusammen mit der Einführung der qualifizierten Mehrheitsentscheidung nach der Einheitlichen Europäischen Akte von 1987 in der Wirkung eine immense Transformationskraft. Es wandelte sich damit grundlegend die Struktur des europäischen Kapitalismus. Damit gelangte die „leise Revolution“, mithin eine Revolution durch Rechtsnormen und Verwaltungsmaßnahmen, durch ökonomische und politische Expertise sowie durch technokratische Praktiken auf ihren Höhepunkt (vgl. Cavazza Rossi 1988; Bach 1992). Im historischen Rückblick ist offensichtlich: Kein anderes Strategiepapier der EG/EU entfaltete bisher je wieder eine solch einschneidende Wirkung auf die Struktur des europäischen Wirtschaftssystems und in der Folge davon auf die Gesellschaften Europas wie das „Weißbuch zur Vollendung des Binnenmarktes“.
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Propagiert wurde das Projekt der europaweiten Marktbildung mit dem Versprechen allgemeiner und greifbarer Wohlstandssteigerung für die beteiligten Länder und somit letztlich für alle. Das entspricht dem Credo der neoliberalen Wirtschaftstheorie, demzufolge Wettbewerbsintensivierung und Markterweiterungen ausschließlich von positiven Wohlfahrtseffekten begleitet werden. Wissenschaftlich untermauert wurde diese Doktrin der Kommission von einer Forschungsgruppe unter Federführung des Ökonomen Tommaso Padoa-Schioppa. Die Gruppe wurde Mitte der achtziger Jahre von der Kommission damit beauftragt, die regionalen Effekte des geplanten Binnenmarktes zu ermitteln (vgl. Padoa-Schioppa 1987). Breitere Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erfuhr jedoch der Cecchini-Bericht. Letzterer, ebenfalls eine Studie im Auftrag der Kommission, untersuchte die „Costs of Non-Europe“ und stellte ihnen die Vorteile eines Abbaus der Binnengrenzen gegenüber. Diesem Bericht zufolge wurde der potentielle Gesamtnutzen aus der Vollendung des Binnenmarktes auf ca. 200 Mrd. ECU geschätzt. Darüber hinaus wurde ein zusätzliches jährliches Wachstum von ca. 5%, Preissenkungen von durchschnittlich 6% sowie zusätzliche Arbeitsplätze in einer Größenordnung von 2-5 Millionen pro Jahr angenommen (Cecchini 1988). Mit Hilfe dieser wirtschaftswissenschaftlichen Expertisen gelang es der Kommission, die Vorschläge des Weißbuches generell als vorteilhaft für alle Mitgliedsstaaten, mithin als ein pareto-optimales Projekt zu präsentieren. Unter diesen Voraussetzungen und unterstützt durch die außerordentliche Aufmerksamkeit, die das Projekt „1992“ in Wirtschaftskreisen, aber auch in der breiteren Öffentlichkeit auf sich ziehen konnte, ließen sich die noch bestehenden Widerstände im Ministerrat überwinden.4 Ob sich diese optimistischen Prognosen der Ökonomen und der Europäischen Kommission bestätigten, kann aus heutiger Sicht allerdings bezweifelt werden (vgl. Vobruba 1997; Gray 2005). Es ist jedenfalls überraschend festzustellen, daß in der sozialwissenschaftlichen Europaforschung zu den sozialen Effekten der Veränderung von Güter- und Kapitalströmen durch die Vollendung des europäischen Binnenmarktes, zu den Anpassungslasten etwa auf den Arbeitsmärkten, den gesellschaftlichen Verteilungseffekten und generell zum Strukturwandel im Hinblick auf das Gefüge 4
Ende 1992 waren von den 282 Gesetzesmaßnahmen des „Weißbuches“ bereits 260 beschlossen, auch wenn bei einer Reihe davon die Umsetzung in nationales Recht noch ausstand.
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der sozialen Ungleichheit der europäischen Gesellschaften, bisher so gut wie keine fundierten Studien publiziert wurden. Die sozialen Auswirkungen der Wirtschaftsintegration und insbesondere der Währungsunion waren im Grunde zwei Jahrzehnte lang kein Thema.5 Das zeigt, mit welcher Definitionsmacht die europäischen Organe die auf europäischer Ebene institutionalisierten Kriterien der Marktbildung zum maßgeblichen Deutungsstandard selbst des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurses über das neue „Europa ohne Grenzen“ zu erheben vermochten. Hatten noch in den siebziger und achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die binnengesellschaftlichen, vielfach mit dem marxistischen Interpretationsmodell der Klassentheorie belegten industriellen Konflikte und darauf bezogenen cleavages den sozialpolitischen Diskurs beherrscht, so wurde diese klassische gesellschaftliche Konfliktlinie des 19. und 20. Jahrhunderts seit Beginn der 1990er Jahre allmählich durch die auf Deregulation und Internationalisierung setzenden Leitideen, die eine Vorherrschaft der europäischen Marktkriterien postulieren, überlagert und schließlich durch diesen Deutungsrahmen nahezu gänzlich verdrängt. Seither triumphiert die Marktrationalität als politische Praxis und Dogma weitgehend unangefochten über nationale und gesellschaftliche Kriterien sozialen Ausgleichs und institutionalisierter Konfliktregulierung. Sozialpolitische Optionen politischer und sozialer Steuerung, wie sie der moderne souveräne Nationalstaat in der Epoche des „Primats der Gesellschaft“ noch verfügte, verloren deutlich an Boden (vgl. Touraine 2005: 75ff.). 2
Entkopplungseffekte der Währungsunion
Die Entkopplung von Wirtschafts- und Sozialpolitik, die bereits mit der Binnenmarktpolitik eingeleitet und durch das Scheitern von Jacques Delors’ Projekt zur Schaffung eines kompensatorischen espace social européen6 noch5
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Auch in den Verhandlungen zum Vertrag von Maastricht finden sich negative Wohlfahrtseffekte und soziale Verwerfungen als mögliche Folgen der Währungsunion so gut wie nicht berücksichtigt (vgl. Dyson und Featherstone 1999). Delors’ Projekt eines éspace social européen zielte auf eine europäische Arbeitsmarktpolitik, einen europäischen „Dialog“ der Sozialpartner und auf verbesserte europäische Abstimmungen auf dem Gebiet der sozialen Sicherheit (Bornschier 2000 (Hg.): 152ff.; Ziltener 1999: 182).
mals bestätigt wurde, wurde durch die Europäische Währungsunion noch deutlich verschärft. Kein anderes Schlüsselelement des Maastrichter Vertrages, darüber besteht in der Literatur Einmütigkeit, stellt eine größere Herausforderung für die Traditionen und die Souveränität der Nationalstaaten dar als die Entscheidung, die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion zu verwirklichen und eine gemeinsame europäische Währung einzuführen (vgl. statt vieler Moravcsik 1998: 379ff.; Cameron 1998; 1999). Aus Sicht der Kommission und namentlich ihres damaligen Präsidenten Delors wurde die Währungsunion stets als ein funktionales Element zur Vervollständigung des Binnenmarktprogramms verstanden, gleichsam als flankierende Maßnahme und Krönung der europäischen Marktpolitik (Dyson/Featherstone 1999: 691ff.). Der lange Vorbereitungs-, Verhandlungsund Umsetzungsprozess gipfelte 2002 in der Abschaffung der nationalen Währungen und in der Einführung des Euro als gemeinsamer Währung in der mittlerweile von dreizehn Mitgliedsstaaten gebildeten Euro-Währungszone. Nahezu deckungsgleich mit dem Europäischen Marktraum wurde auf diese Weise ein europäischer Währungsraum geschaffen. Die Erwartungen an die symbolische Integrationskraft des Euro waren ausgesprochen hoch, obwohl dieser Aspekt für die „Ingenieure“ der Währungsunion, allesamt Bankiers und Ökonomen, natürlich nicht im Vordergrund der strategischen Überlegungen stand (vgl. Ross 1994). Die Währungsunion verschaffte den Europäern zwar ein gemeinsames Zahlungsmittel und reduzierte die Transaktionskosten bei grenzüberschreitenden Geschäften. Doch trug diese Entwicklung bisher weder demoskopisch erkennbar zur Stärkung des europäischen Bewusstseins bei, noch wurde dadurch die soziale Integration Europas auf der Ebene der Leute nennenswert gefördert. Im Gegenteil: Bei näherer Betrachtung erweist sich die Währungsunion geradezu als der Schlussstein der bereits in der Binnenmarktpolitik durchschlagenden wirtschaftspolitischen Regulierungsstrategie, die in der Folge zum Bruch mit einer langen Tradition der sozialen und politischen Integration von Gesellschaften in Westeuropa führte. Mit der Verwirklichung der Währungsunion wurde somit ein folgenreicher Übergang zu einem neuen sozio-ökonomischen Regime vollzogen, dem vom Euromonetarismus dominierten System. Euromonetarismus bedeutet nicht nur eine europaweite Vereinheitlichung der Zahlungsmittel. Auch erschöpft sich dieses neue Wirtschaftsregime nicht in der Übertragung der Währungssouveränität auf die Europäische Zentralbank. Der Begriff
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Euromonetarismus umschreibt vielmehr eine ökonomische Doktrin und eine wirtschaftspolitische Praxis, die Währungspolitik auf einen isolierten Referenzpunkt reduziert und diesen zum letztlich dominierenden Rationalitätskriterium europäischer Wirtschaftspolitik macht. Dieses entscheidende Kriterium ist die Geldwertstabilität. Der wichtigste Punkt ist, dass dadurch eine Freisetzung des Rationalitätskriteriums Geldwertstabilität aus dem Ensemble anderer relevanter makroökonomischer Ziele erreicht wurde (vgl. Weinert 2000). Zum Vergleich lässt sich Deutschland heranziehen. Hier waren nach dem Stabilitätsgesetz von 1967 für die Währungspolitik noch eine optimale Zielkombination von Preisniveaustabilität, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem Wirtschaftswachstum maßgeblich (vgl. Hartwich 1998: 33ff.). Solcherart kombinierte Zielorientierungen der nationalen Währungspolitik – in der Bundesrepublik wurden sie lange Zeit als ‚magisches Viereck’ idealisiert – besaßen in der einen oder anderen Form in fast allen westeuropäischen Gesellschaften Gültigkeit. Auch Frankreichs politische Eliten zeigen traditionell, sowohl auf der politischen Rechten wie auf der Linken, stets eine große Bereitschaft, inneren sozialen Frieden durch Inflation und Deflation zu erkaufen und die Souveränität des Staates sowie die Einheit der Nation über isolierte währungspolitische Funktionskriterien zu stellen (vgl. Dyson/Featherstone 1999: 67ff., 75ff.). Der Wechsel zum neuen euromonetaristischen Regime, stellt Weinert fest, „hatte massive Auswirkungen auf die europäischen Ökonomien. Preisniveaustabilität rückte in der Zielhierarchie gegenüber Wirtschaftswachstum und Vollbeschäftigung an die erste Stelle, während sich parallel Wachstumsschwäche und Arbeitslosigkeit verschärften“ (Weinert 2000: 73; vgl. Ziltener 1999: 134)7. Anders ausgedrückt: Ähnlich wie das europäische Binnen7
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Über die Auswirkungen von Deregulierung der Arbeitsmärkte und der Europäischen Währungsunion auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit als einem der wichtigsten Faktoren von sozialer Ungleichheit liegen bisher nur widersprüchliche Befunde vor, die keine eindeutige Zuschreibung von negativen Arbeitsmarkteffekten möglich machen (vgl. Samek Lodovici 2000: 53f.; Esping-Anderson/Regini (Hg.) 2000; Cameron 2001; Bermeo (Hg.) 2001.). Ein klareres Bild gewinnt man hingegen bei der Frage nach den Arbeitsmarkteffekten der EU-Osterweiterung. Hebler zufolge haben „die Handels- und Kapitalströme zwischen der EU und den MOEL relativ zu wenig Gewicht (…), um makroökonomisch spürbare Effekte auf den Arbeitsmärkten der EU zu haben“ (Hebler 2002: 96). Demgegenüber sind derselben Studie zufolge „positive Wohlfahrtseffekte aus zuneh-
marktprojekt Deregulierung (einschließlich der Arbeitsmärkte) zum einzig legitimen wirtschaftspolitischen Prinzip erhob, so entwertet das Regime des Euromonetarismus andere wirtschaftspolitische Strategien, besonders solche, die auch alternative policies, wie Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs-, Wachstums- oder Sozialpolitik berücksichtigen.8 Über die Konvergenzkriterien des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, den der damalige deutsche Finanzminister Theo Waigel den Regierungen der Eurozone aufgezwugen hat, konnte darüber hinaus eine rigide Haushaltspolitik auf der Ebene der EU-Mitgliedsländer durchgesetzt werden. Damit wurden die politischen Handlungsspielraume der nationalen Regierungen, insbesondere im sozialpolitischen Bereich und bei der Festlegung von Transfereinkommen, weiter erheblich begrenzt. Dies ohne Rücksicht auf den Verfassungsrang, den Sozialpolitik als Bündel von marktkorrigierenden staatlichen Maßnahmen in vielen Ländern der Eurozone, darunter prominent in Deutschland, genießt. Das entscheidende Problem ist also das Auseinandertreten von Wirtschaftspolitik auf der einen und Sozialpolitik auf der anderen Seite. Der Konflikt zwischen diesen beiden konkurrierenden „focal points“ (Garret/ Weingast 1993) von kollektiven Interessen entzieht sich dadurch weitgehend einer gesellschaftlichen Problemlösung, die traditionell der politischen Logik von Mehrheitsentscheidung oder einer konkordanz-demokratischen Kompromissfindung folgt (vgl. Vobruba 2003). Eine Konsequenz davon ist, dass die nationale Beschäftigungs- und Sozialpolitik nunmehr hauptsächlich nach den institutionalisierten Zielvorgaben und unter den vereinbarten Restriktionen der Währungsunion und des Stabilitäts- und Wachstumspaktes gestaltet werden muß. Die Währungsunion erweist sich damit nicht nur als ein Paradebeispiel für jene Politik der kleinen Schritte, welche die europäische Integration seit jeher charakterisiert (vgl. Lepsius 2003: 40f.). Sie ist auch paradigmatisch für eine institutionelle Weichenstellung nach dem Muster: „kleine Ursachen, große Wirkungen“. Mit dem Maastrichter Vertrag haben
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menden Handelsvolumina und ausländischen Direktinvestitionen … nicht ausreichend, um die drohenden Arbeitsmarkteffekte in den MOEL zu kompensieren. Im Gegenteil, weil der aus zunehmendem Handel und steigenden ausländischen Direktinvestitionen resultierende Wettbewerbsdruck die Umstrukturierung der mittel- und osteuropäischen Volkswirtschaften sogar noch intensivieren wird, ist bei vollständiger Übernahme und strikter Implementierung des Acquis eher ein zusätzlicher negativer Arbeitsmarkteffekt zu erwarten“ (ebd.: 141). Für eine überzeugende Kritik dieser Strategie siehe Turner 2001.
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sich die Mitgliedsstaaten trotz unterschiedlicher, historisch gewachsener Wirtschafts- und Währungstraditionen unwiderruflich dazu verpflichtet, sich in ihrer Wirtschaftspolitik einem einzigen dominierenden Rationalitätskriterium zu unterwerfen. 3
Krise des europäischen Gesellschaftsmodells
In der Wirtschafts- und Währungsunion verketteten sich die Länder Europas gleichsam zu einer „Schicksalsgemeinschaft“: Der Binnenmarkt und die Währungsunion schufen ein neues, umfassenderes, europaweites „Gehäuse der Hörigkeit“ (M. Weber), das die gesamte wirtschaftspolitische Agenda und Rationalität für die absehbare Zukunft irreversibel auf eine neue wirtschafts- und sozialpolitische Grundlage stellte, indem die sozialintegrativen Gesichtspunkte wirtschaftspolitischen Handelns – die „Marktgesellschaft“ – der Marktökonomie prinzipiell nachgeordnet wurde. Die Währungsunion untergräbt tendenziell die Fähigkeit der Mitgliedsländer, den Kurs ihrer eigenen Ökonomien nennenswert zu beeinflussen, vor allem aber noch national definierte sozialpolitische Ziele zu verwirklichen. Die einzigen nationalen Optionen, die unter dem europäischen Recht letztlich noch zur Verfügung stehen, sind angebotsseitige Strategien wie Steuerentlastungen, weitere Deregulierung und Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen, zunehmende Lohndifferenzierungen und Kürzung von Sozialleistungen (vgl. Scharpf, 2003: 112). Eine Folge davon aber ist eine tendenzielle Verschärfung von sozialer Ungleichheit im gesamteuropäischen Maßstab (siehe Begg/Bergham 2002; Mayes 2002; Gray 2005). Bereits bei der Einführung der Währungsunion konnte mithin – entgegen aller politischen Rhetorik, die nahezu ausschließlich positive Wohlfahrtseffekte propagierte und soziale Risiken bagatellisierte – davon ausgegangen werden, dass sich in der markt- und währungsgeeinten Union die soziale Ungleichheit europaweit beträchtlich verschärfen würde. Das Problem besteht dabei nicht in der Marktintegration bzw. der Marktlogik an sich, sondern in der politischen Strategie, die sich ausschließlich auf Marktintegration als ökonomisches und soziales Regulativ verlässt, dezisionistisch Geldwertstabilität zum einzigen und zentralen Maßstab der Rationalität von europäischer Währungs- und Wirtschaftspolitik erhebt und damit Wirtschaftspolitik von Sozialpolitik entkoppelt. So betrachtet, erfolgt bei dieser
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Entwicklung eine institutionelle Differenzierung im Sinne der Institutionalisierung eines spezifisch europäischen Währungssystems bei gleichzeitiger tendenzieller Entinstitutionalisierung sozialpolitischer bzw. sozialintegrativer Leitideen und Rationalitätskriterien. Außer Zweifel steht: Auch die Märkte der Nationalstaaten generierten und generieren natürlich stets soziale Ungleichheit. Aber im Rahmen des national „eingehegten“ oder „zivilisierten“ Kapitalismus konnten sich soziale Bewegungen, vor allem auf Seiten der Industriearbeiter die Gewerkschaften als politische Akteure formieren. Nach heftigen Konflikten, vielen Niederlagen und Rückschlägen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg eine Institutionalisierung von Sozialintegration durch wohlfahrtsstaatliche Arrangements, Sozialpolitik und in Tarifverträgen paktierte Erwerbseinkommen erreicht. Diese Institutionalisierung von sozialen Konflikten gehört zu den bewahrenswerten historischen Errungenschaften des europäischen Gesellschaftsmodells. Im Gegensatz zu dieser Form der Inklusion und Institutionalisierung von sozialen Konflikten entsteht mit der europäischen Marktund Währungsintegration die Gefahr einer unvorhergesehenen sozialen Konfliktdynamik, allerdings ohne dass mit sozialpolitischen Kompetenzen und Ressourcen ausgestattete supranationale Institutionen zur Einbindung und Befriedung konfligierender sozialer Interessenlagen zur Verfügung stehen (vgl. Lepsius 2000). Mit der Wirtschafts- und Währungsunion wurde ein Integrationsgrad erreicht, der eine Europäisierung der Sozialintegration, mithin eine der Wirtschaftsintegration entsprechende Gesellschaftsintegration erforderlich machen würde, um die Bürger Europas nicht ungeschützt der Marktdynamik auszuliefern. Die Europäische Union zeigte sich aber bisher nicht in der Lage, diese naheliegenden Erwartungen zu erfüllen. Lange Zeit blieb diese Weichenstellung des europäischen Projekts, die zu einer Dissoziation von Wirtschafts- und Sozialpolitik führte, und damit generell die europäischen Dimensionen der sozialen Ungleichheit, in der Europaforschung unterthematisiert. Erst mit der EU-Osterweiterung haben Fragen, die sich auf die soziale Dynamik der Integration beziehen, an Aktualität gewonnen (vgl. Vobruba 2005; Bach/Lahusen/Vobruba (Hg.) 2006). Jetzt tritt allerdings eine Paradoxie der europäischen Integration noch deutlicher zutage als zuvor: Je ausgedehnter der territoriale Herrschaftsbereich der Europäischen Union, je größer der grenzenüberschreitende Markt und je heterogener der europäische Sozial- und Kulturraum, desto mehr verschwindet auf europäi-
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scher Ebene „Gesellschaft“ als Bezugsgröße von sozialer Integration und als relevantes Deutungsmuster von sozialen Konflikten. Mit der Europäisierung droht den sozialen Ungleichheitsverhältnissen, um hier auf die Terminologie A. Giddens (1995) zurückzugreifen, eine „Entbettung“ aus den gesellschaftlichen Integrationszusammenhängen, ohne dass die Europäische Union bisher eine angemessene „Rückbettung“ in transnationale Systeme sozialer Sicherheit ermöglichen könnte. In dieser „Entbettung“ ist eine Ursache der gegenwärtigen Erweiterungs- und Verfassungskrise zu sehen. Folgte die europäische Einigung bisher einer Logik der politisch-institutionellen Integration ohne Gesellschaft, so besteht für die nächste Zukunft die zentrale Herausforderung der Europapolitik darin, den europäischen Dimensionen der sozialen Ungleichheit und ihren integrationsbedingten Ursachen verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen. Eine Voraussetzung dafür wäre aber, das europäische Gesellschaftsmodell auch in sozialer und sozialpolitischer Hinsicht neu zu definieren. Ein solches Modell muß sich allerdings von den Kongruenzmustern des nationalstaatlichen Sozialraums lösen. Erst ein institutionensoziologisch geschärfter analytischer Blick auf die Evolution der Europäischen Union vermag nähere Aufschlüsse über die soziale und politisch Differenzierieungsprozesse der systemischen Integration in Europa zu geben. Im folgenden Kapitel werden die konzeptionellen Grundlagen für eine solche institutionensoziologische Betrachtungsweise entwickelt.
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III. Die europäische Einigung in institutionensoziologischer Perspektive
Fragt man aus einem institutionensoziologischen Blickwinkel1, welches der geeignete Gegenstand und die tragfähigsten Problemstellungen für eine entwicklungsfähige politische Soziologie der europäischen Integration sein können, dann sind das weder der europäische Staat noch die europäische Gesellschaft noch die europäische Kollektividentität. Es ist auch nicht der europäische Raum oder die Frage der territorialen Grenzen, mit dem sich die spezifische Integrationsdynamik Europas soziologisch-analytisch am besten fassen ließe. Es sind vielmehr die konkreten Institutionen und institutionellen Konstellationen der Europäischen Union, deren Ausdifferenzierung im supranationalen Handlungsfeld, die damit einhergehenden Institutionenkonflikte sowie Konfliktinstitutionalisierungen, weiterhin die Verfahren der Kompromiss- und Entscheidungsfindung sowie der Legitimierung. Der institutionensoziologische Ansatz, und hier denke ich vor allem an den von Lepsius entwickelten Entwurf, ist ausgezeichnet dazu geeignet, zwei grundlegende Fehlschlüsse bzw. Erkenntnisschranken der gegenwärtigen Europaforschung zu überwinden: Das Denken in nationalstaatlichen Analogien einerseits und die Ausrichtung der Forschungsfragen an der Selbstbeschreibung und den politischen Programmen von EU-Organen andererseits. Die nationale Analogiebildung führt in eine Sackgasse, weil sie der post-nationalen Singularität und Eigendynamik des europäischen Verbandes nicht gerecht wird. Und die Europaforschung als offizielle oder selbst gewählte EU-Auftragsforschung steht in der Gefahr zu einer Legitimationswissenschaft der herrschenden Europaideologie zu entarten und dadurch mit der wissenschaftlichen Unabhängigkeit auch ihre Kritik- und Prognosefähigkeit einzubüßen. 1
Im Folgenden stütze ich mich vor allem auf M. Rainer Lepsius’ Entwurf einer politischen Soziologie der Institutionen und der europäischen Integration. Für eine zusammenfassende Würdigung dieses Ansatzes siehe Cavalli 2006.
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Das hier zugrunde gelegte institutionensoziologische Analysemodell vermag demgegenüber sowohl kritische Distanz gegenüber den Selbstbeschreibungen bestehender Herrschaftsordnungen und gegenüber deren selbstgefälligen Legitimationsformeln – Zuwachs an Freiheit, Wohlstand für alle, Solidarität der Völker Europas und dergleichen mehr – zu wahren, als auch den in der Europaforschung verbreiteten nationalstaatlichen Reduktionismus zu vermeiden. Besonders der von Lepsius entwickelte Institutionenbegriff zeichnet sich zudem durch einen höheren Grad der begrifflichen Generalisierung aus. Dabei ist hervorzuheben, dass die nationalstaatliche Vergesellschaftungsform nur eine spezifische institutionelle Konstellation unter anderen möglichen Ordnungen, wie etwa der des supranationalen Verbandes, darstellt. Mit einer eigenständigen soziologischen Begriffsbildung und den entsprechenden Problemstellungen sind zudem spezifische Beurteilungskriterien verknüpft, die sich weder mit den normativen Verfassungsprinzipien der europäischen Verträge und des Europarechts noch mit den ökonomischen Effektivitätszielen der Europäischen Union decken. Die politische Soziologie der europäischen Integration ist, heute vielleicht mehr denn je, aufgefordert, ihr fachspezifisches theoretisch-analytisches Instrumentarium für eine unabhängige und kritische Beobachtung und Beurteilung der neuartigen transnationalen Herrschaftsstrukturen sowie der ihnen zugrunde liegenden Machtverhältnisse und institutionellen Prozesse nutzbar zu machen. Das beinhaltet auch, die Selbstbeschreibungen des herrschenden europäischen Systems und deren Mythen sowie Illusionen zum Gegenstand soziologischer Forschung zu erheben. Dazu kann die soziologische Institutionenanalyse einen wichtigen Beitrag leisten. Im folgenden Abschnitt stehen zunächst die zentralen Problemstellungen des institutionensoziologischen Analysemodells im Vordergrund. Im Anschluss daran soll versucht werden, mit Bezug auf dieses Modell die gegenwärtige Dynamik der Europäischen Union zu analysieren und Prognosen zu den Entwicklungschancen und -potentialen des europäischen Integrationsprojekts zu formulieren. 1
Konzeptionelle Grundlagen
Soziologische Institutionenanalyse bedeutet immer zugleich Analyse gesamtgesellschaftlicher Ordnungsstrukturen und des sozialen Wandels unter Mo-
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dernisierungsbedingungen, also im Rahmen der fortschreitenden Rationalisierung im Sinne Max Webers. Institutionen und institutionellen Ordnungen kommt eine zentrale ordnungsbildende Funktion zu. In der modernen Gesellschaft bestimmen größtenteils die ständigen institutionellen Neubildungen sowie Institutionenreformen sowie die daraus notwendig erwachsenden inter-institutionellen Konflikte die soziale Dynamik. Institutionenwandel ist ein Grundmuster moderner Gesellschaften. Dieser bricht beständig traditionelle Strukturen und revolutioniert, als Folge davon das gesamtgesellschaftliche Gefüge. Damit zielt die soziologische Institutionenanalyse programmatisch auf gesamtgesellschaftliche, also makrosoziologische Analyse, auch und besonders dann, wenn sie die politischen Verfassungs- und speziell die Verfahrensebenen, also gleichsam die Mikroprozesse und die Binnenorganisation von politischen Institutionen, en detail in den Blick nimmt. Damit schafft sie den vom „methodologischen Individualismus“ postulierten Makro-Mikro-Link insofern sie Institutionen als zugleich verhaltensprägende und handlungsermöglichende Ordnungen auffasst. Institutionen dürfen aber nicht zu überindividuellen Mächten verdinglicht werden. Sondern sie müssen als spezifische Handlungsformen bzw. -räume von kollektiven und individuellen Akteuren desaggregiert werden. Soziologische Institutionenanalyse kann sich daher nicht auf eine reine Beschreibung bestehender politisch-administrativer Verfassungs- oder gesellschaftlicher Organisationsmodelle beschränken. Sie sollte sich auch nicht in der Wiedergabe der jeweiligen Selbstbeschreibungen oder Leitvorstellungen bestehender ‚legitimer Ordnungen’ erschöpfen. So besteht eine der Hauptaufgaben der Soziologie, um es mit Lepsius auszudrücken, vielmehr darin, „einen Beitrag zur Institutionenanalyse (…) und zu langfristigen Wirkungsprognosen über die aggregierten Effekte verschiedener, aber interdependent wirkender Institutionenbildung“ zu leisten (Lepsius 1990: 53). Das von Lepsius in kreativer Fortführung und Aktualisierung von Max Webers Handlungs- und Ordnungstheorie entworfene Forschungsprogramm einer soziologischen Institutionenanalyse unterscheidet sich in mehrerer Hinsicht grundlegend von anderen verfügbaren institutionentheoretischen Ansätzen, insbesondere von dem angelsächsischen Neoinstitutiona-
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lismus.2 Es steht weitgehend für sich. Zunächst ist auf die zentrale Relevanz von Werten und damit auf die analytische Bedeutung kultureller Dimensionen hinzuweisen. Institutionen sind demzufolge in erster Linie als kognitive Modelle und kulturelle Regeln – Leitideen, normative Skripte, rationale Handlungsmodelle und dgl. – zu verstehen. Sie sind somit als kulturelle Regelsysteme zu betrachten, die in der sozialen Praxis – und das ist ein zweites entscheidendes Begriffsmerkmal – Verhaltenswirksamkeit erlangen: „Institutionen sollen Prozesse bezeichnen, die soziales Verhalten strukturieren und auf Wertvorstellungen beziehen“ (Lepsius 1997: 58). In diesem Sinne sind institutionalisierte Wertvorstellungen der Beliebigkeit weitgehend entzogen, insofern die damit korrespondierenden Handlungsmuster sich mit einem relativ hohen Verbindlichkeitsanspruch durchzusetzen vermögen. Dadurch wird in den jeweiligen institutionellen Handlungskontexten (z. B. Staatsverbänden, Kirchen, Sekten, Organisationen, Unternehmen oder Netzwerken) eine weitgehende Homogenisierung bzw. Standardisierung des Akteurshandelns erreicht; abweichendes Verhalten wird entsprechend sanktioniert bzw. stigmatisiert. Institutionalisierungsprozesse differenzieren mithin spezifische, dem jeweiligen Wertbezug entsprechende Handlungskontexte aus bereits bestehenden Lebensbereichen und Ordnungssystemen aus. Der Begriff der institutionellen Differenzierung bezieht sich dabei auf die Entstehung von neuen Handlungsräumen (und entsprechenden sozialen Trägergruppen), in denen (bzw. für die) die jeweiligen Wertideen Geltung beanspruchen. Institutionalisierung überführt somit in dieser Problemfassung allgemeine Wertideen in mehr oder weniger bindende Leitideen für die jeweiligen Ordnungen und deren Träger (vgl. Lepsius 1997: 62). Ein klassisches Beispiel wären die von Max Weber in seiner Studie zur protestantischen Ethik untersuchten Sekten der Reformationszeit. Die innovativen Wertprinzipien insbesondere der calvinistischen Gemeindereligiosität sowie der entsprechenden Familien-, Sexual- und besonders Arbeits- sowie Berufsethik, die Max Weber unter dem Begriff der „innerweltlichen Askese“ zusammenfasst, führten in den sozialen Zusammenhängen der calvinistischen Sekten zu einer rationalisierten Handlungspraxis der Sektenmitglieder, mit den bekannten Hebammeneffek2
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Ein systematischer Vergleich der verschiedenen neo- institutionalistischen Theorieansätze wäre zweifellos lohnend, kann hier aber nicht unternommen werden. Vgl. Hasse/Krücken 1999; Powell/DiMaggio 1991; Nedelmann (Hg.) 1995; Weinert 1996.
ten für die Entwicklung des modernen Kapitalismus (vgl. Seyfarth/Sprondel (Hg.) 1973; Schluchter (Hg.) 1988; Lepsius 2003). Ein anderes Beispiel für die Institutionalisierung von Wertideen ist der Prozess der Nationsbildung in Europa. Aus der Bindung der Legitimität des Nationalstaates an die Leitidee der Volkssouveränität folgt die Notwendigkeit, das nationale Kollektiv sei es ethnisch, kulturell, politisch oder auch mit Bezug auf soziale Klassen (wie im Fall der DDR) zu bestimmen und eine den jeweiligen Bestimmungsund Homogenitätskriterien entsprechende politische Verfassungsordnung zu gestalten (vgl. Lepsius 1990: 232ff.). Außer dem Wertebezug, der Handlungsrelevanz und der Schaffung von abgegrenzten Handlungseinheiten sind noch Rationalisierung und Konflikte essentielle analytische Gesichtspunkte. Institutionalisierungsprozesse entfalten nach Lepsius insofern eine rationalisierende Wirksamkeit, als sie spezifische und segmentäre Kriterien für angemessenes, der normativen Selbstbeschreibung entsprechendes und der Zielverwirklichung dienendes Handeln bereitstellen. Dadurch erfahren die zumeist abstrakten und diffusen Leitideen eine Konkretisierung und Spezifizierung. Die Akteure betrachten dann die Handlungsmaximen als rational, das heißt als im Sinne der Legitimationsprinzipien und der materialen Zielsetzung zweckmäßig, angemessen und dementsprechend geboten. Die Rationalitätsannahmen sind insofern im hohen Maße kontextabhängig, als Handeln, das aus der Binnensicht einer Ordnung den Rationalitätsmaximen nicht folgt ebenso als „irrational“ angesehen werden kann, wie die Logik bestimmter Institutionen aus einer Außenperspektive. Die Rentabilitätsorientierung des wirtschaftlichen Handelns in modernen kapitalistischen Unternehmen, experimentelle Methoden und intersubjektive Kontrollierbarkeit wissenschaftlicher Argumentation, die Definition von Anspruchberechtigungen und die Verfahren ihrer Umsetzung in staatlichen Sozialsystemen, die „vier Freiheiten“ des Europäischen Binnenmarktes, die Beteiligung von Schwerbehinderten- und Frauenbeauftragten an Entscheidungen öffentlicher Einrichtungen sind Beispiele für solche Rationalitätskriterien. Sie veranschaulichen die Konkretisierung sowie Operationalisierung allgemeiner Leitideen wie – um bei unseren Beispielen zu bleiben – Wohlstandsmaximierung, wissenschaftliche Wahrheitsfindung, Solidarität oder Gleichberechtigung der Geschlechter. „Mit jeder Institutionenbildung“, so der Kerngedanke, „wird eine neue Handlungseinheit geschaffen, die ihre eigene Interessenlage ausbildet und auf eine spezifische und segmentäre Rationalisierung ihrer Zielverwirkli-
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chung lenkt. Je nach der Art der Institutionalisierung erfolgt eine andere Handlungsorientierung und eine Veränderung der Rationalisierungsziele wie der Rationalisierungstechniken“ (Lepsius 1990: 57). Damit sind Konflikte zwischen unterschiedlichen Institutionen im gleichen gesellschaftlichen Handlungsfeld unvermeidlich. Dazu bemerkt Lepsius: „Inter-institutionelle Konflikte sind typisch für einen hohen Grad der institutionellen Differenzierung“ (ebd.). Sie beruhen nicht nur auf unterschiedlichen Interessenlagen und Machtaneignungen, sondern insbesondere auf „Unterschieden in der Handlungsorientierung und je eigenen Rationalitätskriterien“ (ebd.). Exemplarisch für einen historischen Institutionenkonflikt ist die langwierige Auseinandersetzung zwischen der römisch-katholischen Kirche und den protestantischen Sekten und Gemeinden, die ihren Höhepunkt in den konfessionellen Konflikten des Dreißigjährigen Krieges erlebte. Für die Gegenwart wären als Beispiele etwa das Spannungsverhältnis zwischen der unternehmerischen Gewinnorientierung und den konkurrierenden Zielen der sozialen Sicherheit und Solidarität oder auch die unterschiedlichen Leitideen und Organisationszwecke – Forschung, Lehre, akademische Selbstverwaltung – der deutschen Universität zu erwähnen. Da es sich bei institutionellen Differenzierungsprozessen immer darum handelt, Geltungsansprüche spezifischer Werte, Handlungsziele und Rationalitätskriterien gegen andere Werte, Handlungsorientierungen und Rationalitätskriterien durchzusetzen und als dominante Rationalitätsstandards zu definieren, prägen Konflikte um Kompetenzen, Ressourcen, Legitimation und Deutungsmacht zwischen Institutionen nachhaltiger und umfassender die gesellschaftliche Dynamik als reine Macht- und Verteilungsfragen. Antagonismen und Gegensätze zwischen Institutionen lassen immer neue soziale Institutionen entstehen. Ausschlaggebend für die Stabilität moderner Ordnungen ist aber eine möglichst dauerhafte Vermittlung und Pazifizierung von sozialen Spannungen und Konflikten. Anders gesagt: Sind inter-institutionelle Konflikte zweifellos wichtige Triebkräfte der sozialen Evolution, so bilden Konfliktinstitutionalisierungen eine unentbehrliche Voraussetzungen für soziale Ordnungsbildung. Zahleiche, oft jahrzehntelang erbittert ausgetragene inter-institutionelle Konflikte konnten durch Institutionalisierung des jeweiligen Konfliktgegenstandes selbst bis zu einem gewissen Grad entschärft und sozial neutralisiert werden. So beispielsweise der Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit in den modernen Tarifsystemen und dem Arbeitsrecht oder die Spannungen zwischen ethnischen Gruppen im Rahmen des
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modernen Nationalstaates oder auch nationaler Feindschaften innerhalb der Europäischen Union. Die Institutionalisierung von Konflikten erfordert vor allem eine Ausdifferenzierung von formalen Verfahrensregeln, die zuverlässig und möglichst unabhängig von individuellen Motivationen sind und Kompromisslösungen sowie einen entsprechenden Interessenausgleich vorbereiten können. Verfahren der Entscheidungsfindung und Beschlussfassung, wie formale Abstimmungsnormen (Einstimmigkeit, einfache Mehrheit, qualifizierte Mehrheit), Beratungen und Kompromissfindung in Fach- oder Expertenausschüssen oder auch die Prozeduren der Verhandlung (bargaining) und Paktierung von Kollektivgütern gewährleisten demzufolge weit eher Berechenbarkeit, Vorhersehbarkeit, intersubjektive Kontrollierbarkeit und kollektive Verbindlichkeit als etwa ein deliberativer, auf materiale Problemlösungen und „herrschaftsfreien“ Konsens ausgerichteter Entscheidungsstil, besser und zuverlässiger auch als charismatisch legitimierte Herrschaftspraktiken. Parlamentarische Demokratien zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie für unterschiedliche, teilweise sogar gegensätzliche formale Verfahren, wie etwa die der Legitimitässtiftung (Wahlen), der Abstimmung (Mehrheitsprinzip), der Kompetenzenallokation (Gewaltenteilung; checks and balances), der Implementation von Gesetzen (bürokratische Hierarchien) und der Kontrolle der Ressourcenverteilung (Finanzkontrolle) einen einheitlichen Rahmen bilden. Sie ermöglichen dadurch die Aufrechterhaltung antagonistischer Handlungsorientierungen, z.B. der Regierung einerseits, der Opposition andererseits. Darüber hinaus gewährleisten sie eine regimespezifische Pluralität von Ordnungen. Oft sind es dabei gerade allgemeine, sachfremde und formale Mechanismen und Kriterien, wie das Mehrheitsprinzip oder das normative Prinzip der zeitversetzten Reziprozität (in Ausschüssen), die Desaggregierung von Konfliktinhalten (z.B. bei Tarifauseinandersetzungen) oder die Teilbarkeit, Fragmentierung von Konfliktgegenständen, die eine prozedurale Reduktion der Komplexität und damit eine größere Kompromissfähigkeit gewährleisten. Den Verfahrensordnungen kommt mithin eine eigenständige legitimationsstiftende Funktion zu (vgl. Luhmann 1975). Schon relativ geringe Änderungen in den Verfahren können, auch „ohne dass sich gleichzeitig die Legitimationsprinzipien ändern müssen“ weitreichende politische, soziale und kulturelle Folgen bewirken (Lepsius 1990: 26). Meist steht die Prozeduralisierung von Konfliktaustragungen im Zusammenhang mit einer Ausdifferenzierung entsprechender Rechtsordnun-
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gen. So finden sich beispielsweise in der EU, um vorzugreifen, nahezu sämtliche Verfahrensfragen, etwa bei welchen Sachfragen welcher spezifische Abstimmungsmodus anzuwenden sei oder welche Organe direkt am Entscheidungsprozeß zu beteiligen seien, explizit in den Verträgen aufgeführt. Aber auch die industriellen Beziehungen haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine folgenreiche Verrechtlichung erfahren, so dass die Interessenpolitik der Tarifparteien heute präzisen rechtlichen Restriktionen und Verfahrensnormen (etwa bei Streiks) unterliegt. Rechts- und besonders Verfahrensfragen ist dabei stets besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Eine „Soziologie der Verfahrensordnungen“, die Entscheidungsmuster in ihren Wirkungen sowohl für die Interessenformierung wie für die Machtausübung analysiert, bildet daher einen der zentralen Aspekte der soziologischen Institutionenanalyse (vgl. Lepsius 1990: 30, 143). Die soziologische Institutionenanalyse bietet somit ein fruchtbares analytisches Paradigma, das sich für die historisch-soziologische Analyse unterschiedlicher institutioneller Prozesse und Ordnungen eignet. Dessen Leistungsfähigkeit wurde in zahlreichen Analysen besonderer institutioneller Konstellationen und Dynamiken – vor allem für die Entstehungsgeschichte des deutschen Nationalstaates, den Nationalsozialismus, die politisch-soziale Entwicklung der Bundesrepublik sowie für Zerfallsgeschichte der DDR (vgl. Lepsius 1990; ders. 1993; Nedelmann (Hg.) 1995; König/Rieger/Schmitt (Hg.) 1997) – zur Anwendung gebracht Auch die europäische Integration, die auf den ersten Blick Parallelen mit den historischen Prozessen der Nationsbildung aufweist eignet sich als Gegenstand einer soziologischen Betrachtung, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll. 2
Institutionenanalyse der europäischen Integration
Der europäische Einigungsprozess ist eines der interessantesten neueren Anwendungsgebiete des institutionensoziologischen Forschungsprogramms. Europa konstituiert sich als neue politische Ordnung in erster Linie durch eine post-nationale Institutionenordnung, der EU und ihren Vorläuferorganisationen. Insofern existiert Europa heute als politische Ordnung auch nur
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in der Form des bestehenden europäischen Verbandes, jedenfalls solange es dazu keine alternativen Integrationsprojekte gibt.3 Die ersten institutionen-soziologischen Arbeiten zum europäischen Einigungsprozess entstanden bereits Mitte der 1980er Jahre, in einer Zeit, als die Kommission unter der führungsstarken Präsidentschaft Jacques Delors’ das Binnenmarktprojekt („Europa 1992“) umzusetzen und damit dem zuvor weitgehend stagnierenden Einigungsprozess neuen Schwung zu verleihen begann. Der Auf- und Ausbau der Europäischen Gemeinschaften, seit 1992 der Europäischen Union, ist ein hervorragendes Beispiel für Prozesse der institutionellen Differenzierung auf der Ebene der Staatsverfassung und organisation. Die supranationale Systembildung ist außerdem Ausdruck eines tief greifenden Wandels der Gesellschaft, insofern die überkommene und dominierende politische Vergesellschaftungsform des Nationalstaates dadurch prinzipiell in Frage gestellt wird. Es ist offensichtlich, dass sich bei der europäischen Institutionenbildung eine neue Stufe der Evolution des Staates abzeichnet. Diese basiert auf der weitgehend verrechtlichten Form einer dauerhaften Kooperation und Vergesellschaftung von souveränen Nationalstaaten, den EU-Mitgliedsstaaten. Im Zuge des Europäisierungsprozesses treten sie in bestimmten Bereichen, wie der Wirtschafts-, der Regional- und der Umweltpolitik, Souveränität an die neu geschaffenen europäischen Agenturen ab und unterwerfen sich (freiwillig) den auf europäischer Ebene kollektiv gefassten Beschlüssen und der supranationalen Rechtsordnung. Supranationale Staatswerdung bedeutet aber nicht zugleich und zwangsläufig auch Nationsbildung. Letztere verkörpert ein anderes institutionelles Ordnungsprinzip als die Ausdifferenzierung eines neuen politischadministrativen Systems auf europäischer Ebene. Das spiegelt sich nicht nur in den grundlegenden Wertbezügen und politischen Ordnungsideen – Volksouveränität und demokratische Selbstregierung versus europäische Einheit und Wohlstandsmehrung – wider. Es wird vor allem auch in der asymmetri3
Imperiale Modelle haben in Europa spätestens mit dem Zerfall der Sowjetunion ihre einstige ordnungsbildende Kraft eingebüßt. Mit abgewandelter Sinngebung finden sie sich in jüngeren Publikationen aber wieder aufgenommen (vgl. Beck/Grande 2004: 81ff.). Ernst B. Haas unterschied dagegen noch klar die Begriffe regionale und imperiale Integration. Letztere gründe auf Gewalt und Unterdrückung, erstere dagegen beruhe auf Freiwilligkeit und Lernprozessen (vgl. Haas 1964: 522).
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schen Lösung des sog. institutionellen „Allokationsproblems“ sichtbar, d.h. in der Zuordnung spezifischer Funktionen, wie Entscheidungsrechte (Kompetenzen), Ressourcenverfügung (Macht, Wissen, Finanzen), Legitimation (Fügsamkeitsstützen) und Kontrollmöglichkeiten (Sanktionsmechanismen) auf unterschiedliche Handlungseinheiten.4 Die institutionelle Konstellation des Nationalstaates gründet idealtypisch auf einer der Gewaltenteilung gemäßen, symmetrischen Verteilung der Herrschaftsfunktionen. Sie basiert darauf, dass die wesentlichen Legitimations- und Gesetzgebungsfunktionen von einem Parlament ausgehen, das als repräsentative Körperschaft einer nationalen Bürgergemeinschaft eine mit politischen Entscheidungskompetenzen ausgestattete Regierung bildet und zugleich die Exekutive kontrolliert. Das setzt nicht nur ein politisch verfasstes Subjekt der Volkssouveränität, also einen nationalen Demos, eine wie auch immer konstruierte und fiktionale Bürgergemeinschaft voraus, sondern darüber hinaus eine kulturell und vor allem sprachlich relativ homogenisierte Gesellschaft.5 Diese Voraussetzungen erfüllen bisher in Europa im Grunde nur die Nationalstaaten. Sie allein stellen die historisch gewachsene Institutionalisierung des Prinzips einer Verknüpfung von nationaler Gemeinschaft(svorstellung) mit entsprechendem Zusammengehörigkeitsbewusstsein einerseits und einer staatlichen Ordnung andererseits dar (vgl. Anderson 1983; Giesen 1999). Die EU verkörpert demgegenüber gänzlich andere Leitideen und eine entsprechend differente politische Organisationsform. Das wirkt sich folgenreich auf die endogenen Entwicklungsmöglichkeiten ihrer Staatlichkeitsform und damit zusammenhängend ihrer Demokratiefähigkeit aus. Stand in der Gründungsphase die politische Idee der Friedenssicherung im Vordergrund des europäischen Projektes, so verlagerten sich die politischen Interessen nach dem Scheitern der Pläne für eine Europäische Verteidigungsgemeinschaft (1953) bald schon in Richtung einer europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Legitimiert wurde das Projekt einer europäischen Marktintegration, das bereits ein integraler Bestandteil der Römischen Verträge war, im wesentlich funktional. Durch die Zollunion sowie später durch 4 5
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Vgl. zur Allokationsproblematik Lepsius 1990: 61f. Die Frage, ob kulturelle Homogenität als ein vorpolitisches gesellschaftliches „Substrat“ oder als Konstrukt staatlicher Institutionenpolitik zu betrachten sei, kann hier offen gelassen werden.
eine europaweite Marktvergrößerung und den Abbau von tarifären und nichttarifären Hindernissen im grenzüberschreitenden Wirtschaftsverkehr sollte zunächst eine europäische Wirtschaftseinheit geschaffen werden. Dabei bestand die Hoffnung, dass auch zunehmend andere, interdependente gesellschaftliche Bereiche, die Berufsausbildung, die technische Standardisierung oder der Gesundheitsschutz und dergleichen mehr, in den Integrationsprozess einbezogen würden („spill over“) und sich damit langfristig das Projekt einer politischen Union verwirklichen ließe.6 Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion), das von den Gründungsvätern, insbesondere von Jean Monnet eigens mit dem Ziel, eine dauerhafte friedliche Zusammenarbeit der ehemaligen Kriegsgegner, Deutschland und Frankreich, zu ermöglichen, ins Leben gerufene Institutionenmodell erfüllte zweifellos seinen Zweck.7 Es bewährte sich zudem auch auf wirtschaftlichem Gebiet in Gestalt der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG). Die den frühen Integrationsbemühungen zugrunde liegende und bahnbrechende institutionelle Neuerung bestand nun darin, einen möglichst selbständigen supranationalen Akteur zu schaffen. Dieser sollte über eigene, von den Mitgliedsstaaten unabhängige politische Kompetenzen und Ressourcen verfügen und dadurch in die Lage versetzt werden, die Mitgliedsstaaten bei der Umsetzung der gemeinsam gefassten Beschlüsse effektiv zu kontrollieren. Diese Aufgaben erfüllt vor allem die Kommission der Europäischen Union, in den Gründungsverträgen zunächst „Hohe Behörde“, später „supranationale Behörde“ genannt. Die Einrichtung dieser übernationalen Agentur mit Kontroll- und Sanktionsgewalt sowie eigener, auf den zwischenstaatlichen Verträgen basierender Legitimität verleiht dem europäischen Verband eine neue politisch-institutionelle Qualität. Dadurch wird ein Verbindlichkeits- und Verpflichtungsgrad gewährleistet, den ein reines zwischenstaatliches Verhandlungsregime nicht oder nur ausnahmsweise erreichen kann, weil es stets mit Veto und ExitDrohungen rechnen muss. Diese institutionelle Neuschöpfung, auf die die bisherige Erfolgsgeschichte der europäischen Einigung, insbesondere ihre
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Für die dieses Projekt begleitende Integrationstheorie siehe: Haas 1958. Sieht man dabei einmal von der freilich weitaus wirksameren militärischen Abschreckungs- und Schutzpolitik der NATO ab.
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Kontinuität und Stabilität zum weitaus größten Teil beruht,8 ist einzigartig. In der Tat existiert keine vergleichbare politisch-institutionelle Ordnung, damit auch kein vergleichbares etatistisches Verfassungsmodell. Supranationalität ist ein Ordnungsprinzip, das es insofern ausschließlich in der politischen Konstellation der EU gibt. Bahnbrechend ist die dem ganzen zugrunde liegende Kombination von zwei Handlungs- und Entscheidungsebenen: Der inter-gouvernementalen, auf der Souveränität der Mitgliedsstaaten basierenden einerseits, der suprantionalen, auf einem autonomen Dritten als Makler und Vermittler beruhenden andererseits. Darauf ist die Singularität der EU als politisches Institutionensystem begründet. Sie ist zugleich die Grundlage der dualen Legitimation (vgl. Lepsius 2000b). Im Prozess der europäischen Gesetzgebung9 drückt sich dieser Sachverhalt darin aus, dass die legislativen Kompetenzen auf zwei verschiedene Organe verteilt sind. Auf der einen Seite verfügt die Kommission über ein Monopol der Gesetzesinitiative. Als Agent des europäischen Gemeinwohls arbeitet sie hauptsächlich nach technokratisch-bürokratischer Logik die meisten Entscheidungsvorlagen inhaltlich aus und treibt den Integrationsprozess gemäß den Vertragszielen beständig aktiv voran. Insofern kann die Kommission nicht auf eine rein administrative oder exekutive Körperschaft reduziert werden. Sie ist zugleich Gesetzgeber und Exekutive, „Motor der Integration“ und „Hüterin der Verträge“. Der Ministerrat auf der anderen Seite, die Vertretung der gleichberechtigten Mitgliedsstaaten, verfügt allein über die Beschlusskompetenz in letzter Instanz. Vor allem auf dieser Ebene kommen die nationalen politischen und wirtschaftlichen Interessen zum Tragen. Wir haben es auf europäischer Ebene insofern mit einer ungewöhnlichen „verschränkten Gesetzgebung“ (Hans Peter Ipsen) zu tun, einer Verschränkung von nationaler und supranationaler Ebene, die das bestehende Spannungsverhältnis zwischen den inkongruenten Ordnungsprinzipien zur Voraussetzung einer neuartigen politischen Systembildung erhebt.
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Institutionensoziologische Analysemodelle messen der langfristig wirkenden Ordnungsund Prägekraft von Institutionen heuristisch eine grössere Erklärungskraft als dem politischen Einigungswillen oder dem Konsens der beteiligten Regierungen bei. Korrekt handelt sich um „Richtlinien“ und „Verordnungen“ und nicht um eine den parlamentarischen Verfahren entsprechende Gesetzgebung.
Das Europäische Parlament ist an diesem Prozess im Rahmen des Mitentscheidungsverfahrens10 zwar beteiligt; es ist aber trotz seiner soliden, aus Direktwahlen in den Mitgliedsländern hervorgehenden demokratischen Legitimität nicht der Hauptakteur, wie dies für demokratische Regierungssysteme üblich und selbstverständlich ist. Ein Parlament war weder in Monnets Institutionendesign vorgesehen, noch ursprünglich von den Gründungsmitgliedern gewollt. Es entstammt einer weit späteren Entwicklungsphase (1970er Jahre) und verdankt seine Einrichtung damit anderweitigen politischen Konstellationen und Kontingenzen (vgl. Bainbridge 2002: 236) Es konnte sich auch nur langsam – stimuliert vor allem durch eine beständige Demokratie- und Partizipationsrhetorik in erster Linie der Europaparlamentarier selbst -, aber bis heute trotzdem nur unvollkommen in das durch ein dominant technokratisches Selbstverständnis gekennzeichnete und damit letztlich gegen Demokratisierungsbemühungen weitgehend immune Entscheidungszentrum der EU, also in das Führungstrio von Kommission, Rat und Europäischem Gerichtshof, integrieren. Gerade das EP repräsentiert und nährt aber beständig die Illusion von einer europäischen Nationswerdung, und zwar dadurch, dass es den im Grunde systemfremden Schein aufrecht erhält, eine echte europäische Volksvertretung zu sein. Die Legitimitätsgrundlage des EP korrespondiert aber keineswegs mit der Kompetenzenallokation. Es wäre zweifelsohne überzeichnet, würde man der europäischen Volksvertretung Bedeutungslosigkeit bescheinigen, doch sollte auch nicht übersehen werden, dass sie – sieht man von der Haushaltskontrolle ab – kaum ansatzweise über klassische parlamentarische Prärogative verfügt, wozu die Ernennung und Kontrolle einer Regierung oder die Initiativ- und Beschlusskompetenz in der Gesetzgebung gehören würden. Damit kann die EU, obwohl sie mit dem Europäischen Parlament eine direkt gewählte repräsentative Körperschaft besitzt, schon aufgrund ihrer Institutionengestalt einen Vergleich mit nationalstaatlichen Verfassungsordnungen nicht standhalten. Mit ihr entwickelte sich erstmalig in der Geschichte ein transnationales Vertrags- und Rechtssystem, dessen Erfolg auf 10
Im Vertrag von Lissabon wurde das Mitentscheidungsverfahren zwar auf weitere 35 Entscheidungsfälle ausgeweitet und in „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ umbenannt; das Initiativmonopol der Kommission und die letztinstanzliche Beschlussfassungskompetenz des Ministerrates u.a. im Bereich der Vertragsrevisionen, blieben aber unangetastet (vgl. Hofmann/Wessels 2008).
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einer eigentümlichen Institutionalisierung des Misstrauens beruht. Die sich wechselseitig vor allem als Vertreter nationaler Interessen wahrnehmenden Regierungen haben eine mit beträchtlicher Macht ausgestattete supranationale Kontroll- und Sanktionsinstanz geschaffen, gerade um die partikularen Interessen im Namen der Europaidee und gemäß den spezifischen Ra tionalitätskriterien der EU effektiv kanalisieren zu können. Die Kommission ist nicht zuletzt deshalb als die zentrale Triebkraft der Europäisierung gleichsam von oben zu betrachten, weil gerade ihr die Vermittlung von nationalen Interessenkonflikten obliegt. Zu diesem Zweck haben sich im Laufe der Zeit eigens entwickelte Verfahren etabliert, die nur darauf abzielen, in Sach- und Verwaltungsfragen möglichst inhaltlichen Konsens unter den zahlreich beteiligten nationalen und supranationalen Akteuren zu erzielen oder eine solche Konsensfindung zumindest zu erleichtern. Die Zustimmung aller Mitgliedsländer zu Entwürfen von Richtlinien, Verordnungen oder sonstigen legislativen Maßnahmen ist schließlich unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgversprechende Aufstufung der jeweiligen Entscheidungsvorgänge auf die Ratsebene, formal die letztinstanzliche Beschlussebene. Im Ministerrat gilt darüber hinaus bei allen politisch entscheidenden Fragen, die etwa die Aufnahme neuer Mitglieder in den Verband, institutionelle Reformen (Vertragsänderungen), den Haushalt oder die Sozial- und Bildungspolitik betreffen, das Einstimmigkeitsprinzip. Mehrheitsentscheidungen nehmen in zahlreichen Bereichen der europäischen Beschlussfassung zwar zu,11 sie bleiben aber auf bestimmte, vertraglich spezifizierte Materien, hauptsächlich auf den Bereich des Binnenmarktes und der Wirtschaftspolitik begrenzt. Im übrigen bilden sie aufgrund der Stimmengewichtung nach Maßgabe von Größe und Bevölkerungszahl der einzelnen Länder (Qualifizierte Mehrheit) eine immer noch außerordentlich hohe Entscheidungshürde. Die Möglichkeit von Regierungen der Mitgliedsstaaten, von ihrem Vetorecht Gebrauch zu machen, wenn essentielle Interessen von Einzelstaaten beeinträchtigt zu werden drohen, bleibt mithin auch nach Ausdehnung der Mehrheitsregel seit Mitte der 1980er Jahre ein zentrales Sys11
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Der Vertrag von Lissabon dehnte die Anwendungsgebiete für eine Beschlussfassung nach den Regeln der qualifizierten Mehrheit im Rat noch einmal gegenüber der Version von Nizza auf 21 neue und 23 bestehende Politikbereiche aus (vgl. Hofmann/Wessels 2008: 13).
temmerkmal der EU.12 Die Vetomöglichkeit schützt vor allem die kleineren Länder vor Überstimmung durch Allianzen größerer Mitgliedsstaaten und spiegelt damit gleichsam die Unantastbarkeit der einzelstaatlichen Souveränität, letztlich die Strukturdominanz der nationalen Ebene in der EU, wider. Anders in der Kommission. Hier haben sich auf der operativen Ebene spezielle nicht-majoritäre Verfahrensmodi etabliert, die eine effektive Einbindung einzelstaatlicher Akteure in die außerordentlich komplexe Kompromiss- und Problemlösungsmaschinerie ermöglichen, ohne dass dabei immer um Mehrheiten gerungen werden muss. Neben den auch in nationalen Zusammenhängen üblichen hierarchisch-administrativen Koordinationsverfahren (Generaldirektionen, Direktionen, Dienste usw.), gehört dabei die Praxis von sog. Verwaltungs- und Sachverständigenausschüssen bzw. der Komitologie zu den ureigensten Verfahrensmodalitäten der Kommission. Ausschüsse finden sich freilich nicht nur in der Kommission; auch im Rat (z.B. der Ausschuss der Ständigen Vertreter), im Europäischen Rat und Europarlament erfolgt der Prozess der Problembewältigung durch Konsensfindung meistens innerhalb jener teils formalen, teils informalen sozialen Kleinstrukturen und Netzwerke, die allgemein als Komitees bezeichnet werden (Bach 1999; Falke 2000; Blom-Hansen 2008; ausführlich Kapitel V unten). In institutionensoziologischer Sicht bilden Ausschuss- und Komiteesysteme, unabhängig von der Regimeform, ubiquitäre und unverzichtbare Entscheidungskontexte in den meisten entwickelten politischen und bürokratischen Systemen. Ihre funktionale Unverzichtbarkeit ergibt sich aus der sozialen Tatsache, dass es sich dabei um spezifische Entscheidungskontexte und Handlungsräume handelt, bei denen sich aufgrund der meist überschaubaren Mitgliederzahl und der dominierenden face-to-face-Kommunikation eine situativ wirksame Gruppendynamik entfalten kann, die eher informelle Konsensfindung ohne Abstimmungen, aber nach Maßgabe des normativen Prinzips der Reziprozität unterstützt (vgl. Luhmann 1975; Sartori 1992). Auch wird dadurch ein Höchstmaß an Partizipation der beteiligten Akteure ermöglicht und eine relativ breite Interessenberücksichtigung gewährleistet. Hinzu kommt, dass in Ausschüssen soziale Prozesse zum Tragen kommen, 12
Dabei ist zu berücksichtigen, dass es in 80 bis 90 Prozent der Rechtsakte des Rats gar nicht zur formellen Abstimmung kommt. Informelle Einstimmigkeit ist somit der Normalfall.
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die unter der Voraussetzung einigermaßen kontinuierlicher Interaktionen und konstanter Gruppenmitgliedschaft einen Diskursstil begünstigen, der zur Herausbildung und Internalisierung eines gemeinsamen Problem- und Verfahrensverständnisses bei den Beteiligten führt oder dessen Herausbildung mindestens erwarten lässt (vgl. Neyer 2000; Huster 2007). Solche expertokratischen Gruppenbildungen definieren oft nach deren normativem und epistemologischem Vorverständnis maßgeblich die inhaltliche Seite der politischen Probleme; sie bestimmen die Agenda und geben meist auch schon die Lösungswege mit vor. Komitees sind insofern ein essentieller Bestandteil der europäischen Governance. Sie liefern Fachwissen und damit die nötige Expertise für die Arbeitsebene des europäischen Politik- und Entscheidungsprozesses. Sie sind zugleich das Bindeglied zwischen den nationalen und den europäischen Entscheidungsebenen. Darüber hinaus unterstützen sie die legislative Tätigkeit des Rates und der Kommission und kontrollieren die Umsetzung des EU-Rechts. In diesen Arbeitskontexten bilden sich genau jene Rationalitätskriterien aus, die eine Konkretisierung und Operationalisierung der abstrakten europäischen Leitideen möglich machen. Das Ausschusswesen reflektiert damit aber auch die charakteristische Ambivalenz des zwischen supranationalen Prärogativen und nationalen Souveränitätsreservaten changierenden Systems der europäischen Politikformulierung. Aus der Sicht der Kommission leisten die Ausschüsse deliberative Vorverhandlungs- und Vorabstimmungsfunktionen, die allerdings einen deutlich instrumentellen Charakter haben, insofern sie als sub-institutionelle und semi-formelle Arenen der Konsensfindung auf der Arbeitsebene und als Träger des relevanten Policy-Wissens die strukturellen Kontroll- und Informationsdefizite der Kommission kompensieren und damit deren Verhandlungsmacht im Gesamtgefüge stärken helfen sollen. Die Mitgliedsstaaten hingegen können die Ausschüsse als nützliche Instrumente zur politischen Kontrolle der Kommission einsetzen, indem sie durch die direkte Beteiligung der von ihnen in der Regel selbst in die Ausschüsse entsandten Beamten und Fachleute auf die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung der Kommissionsstäbe inhaltlich sowie verhandlungstaktisch Einfluss zu nehmen versuchen. Auf diese Weise konstituiert sich das Ausschusssystem der Kommission neben den multiplen Hierarchien der Kommission und der nationalstaatlichen Verwaltungsorganisationen als eine singuläre
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Parallelbürokratie mit relativ flachen Status- und Autoritätsabstufungen (vgl. Trondel 2004). Somit kann festgehalten werden: Sowohl die besondere Art der Allokation der politischen Funktionen im Binnensystem der EU als auch die Ausdifferenzierung von zum Teil neuartigen Verfahren der Konsensfindung und Beschlussfassung13 sind Ausdruck des einzigartigen Großprojekts einer Institutionalisierung der nationalen Differenzen und zwischenstaatlichen Interessendivergenzen, die das europäische Staatensystem in der Vergangenheit bestimmt haben und auch heute noch weitgehend bestimmen. Das aus dem Gegensatz zwischen den Ordnungsprinzipien „Nationalität“ und „Supranationalität“ resultierende Spannungs- und Konfliktverhältnis konstituiert die EU als einzigartige transnationale Institutionen-Konstellation. Dieses Spannungsverhältnis ist aber zugleich auch die zentrale Triebkraft der europäischen Integrationsdynamik. Die Ausdifferenzierung und Interdependenz der verschiedenen Organe der EU mit ihren unterschiedlichen Kompetenzen und Funktionen, die Herausbildung und Verzahnung einer Vielzahl von Handlungsräumen und Entscheidungsebenen mit speziellen Rationalitätskriterien und Kompromiss- sowie Beschlussverfahren, die engen Verflechtungen von nationalen und supranationalen Akteuren sowie privaten Interessenorganisationen in den kapillaren Politik-Netzwerken verleihen dem neuen europäischen Herrschaftssystem eine polykratische und multizentrische Gestalt. Europa präsentiert sich insofern als ein überaus komplexes Arrangement von heterogenen politisch-institutionellen Arenen, das durch die Leitideen der europäischen Einigung und durch das europäische Recht koordiniert wird. Wie jede Vergesellschaftung entwickelt auch das Institutionensystem der EU eine Eigendynamik. So wird die Exit- und Rückfalloptionen in rein nationale Orientierungen und Interessenartikulation, schon aufgrund der
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Der Erfindungsreichtum des europäischen Systems auf dem Feld der politischen und administrativen Verfahren sucht wohl seinesgleichen in der Geschichte der politischen Institutionen. Besonders exotisch wirken unter anderem das „Beichtstuhlverfahren“, wobei der Präsident des Europäischen Rates in vertraulichen Einzelgesprächen mit einzelnen Mitgliederländern versucht, Blockaden zu überwinden, oder das „Contre-Filet“-Verfahren, demzufolge die Kommission bei ausbleibender Ratsentscheidung selbständig Maßnahmen einleiten kann.
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hohen politischen und administrativen Entflechtungs-Kosten14, mithin auf Grund des erreichten Integrationsgrades für die Mitgliedsstaaten eine ExitOption zunehmend versperrt. Aber auch die Kosten der vorausgegangenen Interessenvermittlungen, die unter ständigen Vetodrohungen und in einem äußerst schwerfälligen Prozedere im Ausschusssystems zustande gekommen und die in der Regel äußerst komplizierte und zeitaufwändige Auf- und Abstufungen in den Hierarchien und Netzwerken der EU-Organe und -Instanzen erfordern, wiegen natürlich schwer. Statt dessen wird, um es in der Begrifflichkeit Albert O. Hirschmans (1970) auszudrücken, eine eigengesetzliche Voice-Spirale in Gang gehalten, die die Mitgliedsstaaten gewissermaßen dazu zwingt, an dem europäischen Einscheidungsprozess gerade im nationalen Interesse weiter mitzuwirken, um mögliche politische Einflusschancen nicht zu verspielen. In dem Verhandlungssystem der EU erhöht nur Partizipation und Partizipationsbereitschaft die Chancen einer nationalen Interessenwahrung, während ein Austritt aus dem gemeinsamen Verband einer kontraproduktiven und riskanten, in den politischen Folgen kaum abschätzbaren Selbstisolation gleichkäme. Dadurch ist schon wegen der institutionsbedingten Eigendynamik eine weitere Fortsetzung und Verstärkung des Integrationskurses (aber nicht unbedingt auch der Erweiterungen) zu erwarten. Hinzu kommen die korporativen Interessen der Organe und ihrer Funktionseliten, die in den meisten Fällen auf Besitzstandswahrung und den Ausbau der eigenen Befugnisse, Legitimität und Ressourcen abzielen. Unter dem Dach der EU, das sollten voranstehende Ausführungen deutlich machen, werden die Einzelstaaten weder aufgelöst, noch gehen die nationalen Gesellschaften in einer integrierten europäischen Gesellschaft auf. Weder kann Europa eine ethnische oder primordiale Identität ausbilden, noch ist es in der Lage, sich als eine europäische Bürgergemeinschaft zu konstituieren. „Ethnos“ und „Demos“ sind Kategorien, mit denen das herkömmliche nationale Vergesellschaftungsmodell beschrieben werden kann. Der europäische Verband lässt sich aber selbst mit diesen Kategorien nicht präzise genug fassen. „Ethnos“ als Referenzeinheit des politischen Selbstverständnisses kann die EU schon deshalb nicht für sich in Anspruch nehmen, weil die Völker Europas bereits vollständig nationalstaatlich vergesellschaftet sind und infolgedessen kein einheitliches europäisches Volk vor14
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Man stelle sich nur die Kosten und Risiken bei einer Wiedereinführung der DM in Deutschland vor.
ausgesetzt werden kann. Europas ist daher nur als „Vielvölkerstaat“ denkbar, der auf einem ethnischen Pluralismus beruht (vgl. Lepsius 1990: 254). Der Weg in einen europäischen Nationalstaat ist damit von vornherein verschlossen. Aber auch die Kategorie „Demos“ ist nur bedingt auf die EU anwendbar. Versteht man darunter eine primär politisch-rechtlich begründete Gemeinschaft von Staatsbürgern, dann scheidet bei genauerer Betrachtung auch diese scheinbar naheliegende Bezugsebene für die europäische Einigung aus. Die entscheidende Frage ist, ob die europäische Ebene den nationalstaatlichen Citizenship-Rechten vergleichbare soziale Inklusionsfunktionen übernehmen kann oder sollte. Genau das erscheint zweifelhaft. Die spezifisch transnationale Dimension der Unionsbürgerschaft erschöpft sich in quantitativ und qualitativ äußerst beschränkten Rechtsansprüchen, die für die Unionsbürger zudem auch nur ergänzend zur nationalen Staatsbürgerschaft Wirksamkeit entfalten können: Ein europaweites Mobilitäts- und Aufenthaltsrecht, das aktive und passive Wahlrecht für EU-Ausländer bei Kommunalwahlen sowie bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für EU-Ausländer, das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz für EU-Bürger im Ausland auch durch Botschaften oder Vertretungen von Mitgliedsstaaten, deren Staatsangehörigkeit der Betreffende nicht besitzt; schließlich das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament. An dieser Aufzählung wird schon deutlich, dass die Unionsbürgerschaft zwar mit neuen subjektiven Rechten verknüpft ist, diese aber vor allem grenzüberschreitend tätige EU-Bürger schützen sollen. Mit der Institution der Unionsbürgerschaft verbinden also sich keine universalen politischen und sozialen Rechte, die über den Rechtsstatus des Staatsbürgers eines Mitgliedsstaaten nennenswert hinausgingen, sondern sie verbürgt in erster Linie nur den rechtlichen Status und eine Privilegierung der Markt- bzw. Wirtschaftsbürger. So gesehen ist die Unionsbürgerschaft nur das subjektivrechtliche Korrelat zum systemischen Funktionszusammenhang des europäischen Wirtschaftsraumes ohne Binnengrenzen und mit allgemeiner Freizügigkeit für die EU-Bürger. Damit erweist sie sich in ihrer normativen Reichweite aber als äußerst begrenzt. Es besteht weitgehend Übereinstimmung, dass die Unionsbürgerschaft die nationalen Bürgerrechte nicht ersetzen kann (vgl. Preuß 2001). Zudem gründet die Unionsbürgerschaft nicht nur äußerlich und formal auf dem Besitz der nationalen Bürgerrechte; die Gerichte der Mitgliedsländer sind nach wie vor die entscheidenden Kontroll- und Garan-
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tieinstanzen. Zudem definieren die Staaten immer noch weitgehend autonom die damit verbundenen Pflichten und Auflagen. Somit begründet die Einführung der Unionsbürgerschaft zwar eine neue duale oder „verschachtelte“ Staatsbürgerschaft (T. Faist 2000), aber (noch) keinen selbständigen postnationalen Mitgliedschaftsstatus (vgl. Lepsius 2000b: 303ff.). Die nationale Staatsbürgerschaft bleibt demzufolge nach wie vor die normative Legitimationsfigur für die Bestimmung und vor allem für die juridisch-prozedurale Konkretisierung von politischen und sozialen Rechten. Die Unionsbürgerschaft als solche kodifiziert keine über den mobilen europäischen Marktbürger hinausgehende politische und soziale Gleichheitsnorm, die als kulturell-normative Wertbeziehung zu einem Katalysator für Ungleichheitskritik oder Benachteiligtenproteste fungieren könnte. Ihre Inklusionskraft beschränkt sich – sieht man vom Erasmus- bzw. Sokrates-Studentenaustausch ab – auf die mobilen Arbeitnehmer, die, solange ein europaweiter Arbeitsmarkt aufgrund von sprachlichen und anderen kulturellen Barrieren praktisch unbedeutend ist, typischerweise Angehörige der europäischen Funktionseliten von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft sind. Die europäischen Bürgerrechte besitzen somit keine ausreichend eigenständige soziale Deutungs- und Integrationskraft. Deshalb sind auch die zivilgesellschaftlichen Solidaritätspotentiale in der Europäischen Union nur schwach entwickelt. Die entscheidende Bezugsebene für das politische Bewusstsein der Bürger bildet in aller Regel derjenige Staatsverband, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen. Nicht zufällig ist dessen politisches System, mithin das nationale Parlament, in föderalen Systemen die Länder- oder regionale Ebene, das nationale Parteiensystem, die nationale politische Öffentlichkeit und die nationale Regierung, im politischen Selbstverständnis der Bürger nach wie vor die wichtigste politisch-institutionelle Referenzeinheit. In der öffentlichen Wahrnehmung ist die nationale Verfassungsordnung mit ihren Institutionen die naturalisierte Bezugseinheit der politischen Identifikation und der politischen Kommunikation der nationalen Gesellschaft. Selbst die europäische Tagespolitik wird von der Bevölkerung aller Erfahrung nach primär unter dem Gesichtspunkt vermeintlich nationaler Interessen wahrgenommen.15 Daher ist es nicht verwunderlich, dass sich bisher 15
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Empirisch belegen das mit großer Konstanz einschlägige Umfragen.
keine nennenswerte europäische Identität ausgebildet hat. Das europäische Bewusstsein hinkt der supranationalen Institutionenbildung gerade deshalb weit hinterher, weil die Mitgliedsstaaten die grundlegenden politischen Funktionen moderner Demokratien, sowohl die demokratischen Repräsentations- und Partizipationsmöglichkeiten, die Rechts- und Verwaltungsfunktionen als auch die soziale Konfliktabsorption (etwa die Regulierung von soziale Ungleichheit) sowie die mit alldem verbundene Systemlegitimation weitgehend autonom und selbstbezüglich leisten. Obwohl ein nicht unbeträchtlicher Teil der nationalen Gesetzgebung, besonders im wirtschaftspolitischen Bereich, mittlerweile aus europäischen und andere internationalen Agenturen hervorgeht, bildet letztlich das nationale politische System die ausschlaggebende Zurechnungs- und Verantwortungseinheit. So gesehen, sind weder der in seinen Außengrenzen weitgehend unbestimmte europäische geographische Raum, noch die im hohen Maße durch die nationale Geschichtsschreibung gefilterte europäische Geschichte, noch die mehrfach historisch und regional gespaltenen Kulturen Europas,16 als „substantielle“ Grundlage eines vorpolitischen europäischen Wir-Gefühls anzuführen. Die soziale Konstruktion von politischen Kollektividentitäten ist mithin keine Frage der sozialpsychologischen Alchimie oder der philosophischen Spekulation, sondern weitgehend von institutionellen Bestimmungsfaktoren und Prägekräften abhängig. Auch die Europäische Union kann daher als ein potentielles Identifikationsangebot betrachtet werden. Allerdings wird dies bisher nur in einem äußerst begrenzten Umfang von der Bevölkerung, hauptsächlich von den gesellschaftlichen Eliten, nachgefragt. Bei der Bevölkerung sind bestenfalls Ansätze einer doppelten, national-europäischen Identitätsbildung erkennbar. Doch dominieren im kollektiven Selbstverständnis der europäischen Gesellschaften bei weitem die nationalen (und regionalen) Deutungs- und Identifikationsmuster. Eine Verfassung für die EU hätte alle diese Umstände zu berücksichtigen. Lepsius hat deshalb für eine mögliche Konstitutionalisierung des europäischen Verbandes in Anlehnung an eine Begriffsbildung Emerich K. Francis’ das Konzept des „Nationalitätenstaates“ als Modell für den europäischen Verband vorgeschlagen. Wenn sich die europäische Einigung nicht 16
Man denke nur an die Folgen der Kirchenspaltungen im Zusammenhang des Schismas und der Reformation oder auch an die Nachwirkungen der politischen Teilung Europas während des Kalten Krieges.
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auf eine ‚Nation Europa’ stützen und sie auch nicht selbst vollbringen kann, „ohne die Zerstörung der westeuropäischen Nationen vorzunehmen, das heißt die Legitimationsbasis der westeuropäischen (heute gesamteuropäischen, M.B.) Nationalstaaten, ihr jeweiliges ‚Demos’ aufzulösen“ (Lepsius 1990: 254), dann kann es nur ein Ziel geben: „[U]nter Beibehaltung der Nationalstaaten Westeuropas (heute: Gesamteuropas, M.B.) eine Koordination und Zusammenfügung von Entscheidungsfeldern zu erreichen, eine teilweise Einschränkung der Souveränität der Nationen zu erreichen und aus ihnen Nationalitäten werden zu lassen“ (ebd.). Die Grundvoraussetzungen eines europäischen Nationalstaates wären demnach eine angemessene Mitbeteiligung der Nationalitäten und relative Autonomie innerhalb des supranationalen Verbandes. Daraus ergeben sich als Hauptaufgaben für eine europäische Verfassung vor allem eine eindeutige Abgrenzung der Regelungsbefugnisse zwischen der nationalen und der supranationalen Ebene, die Garantie der nationalen Souveränität sowie der Schutz von nationalen und ethnischen Minderheiten auf dem Gebiet der EU. Der europäische Konvent, der von 2002 bis 2003 tagte und den Entwurf eines Verfassungsvertrages für die EU ausgearbeitet hat, war sich dieser besonderen Herausforderungen teilweise bewusst und hat sich auch um die Lösung einiger daraus resultierender grundlegender institutioneller Fragen bemüht. Doch das Hauptziel dieses jüngsten Unterfangens einer großen Systemreform, wie der Erklärung von Laeken (2001) und bereits der Humboldtrede des ehemaligen Außenministers Joschka Fischer (2000) zu entnehmen ist, die mit dem altbekannten Demokratie- und Identifikationsdefizit verbundenen Legitimationsprobleme der EU zu beheben, wurde letztlich verfehlt. Das zeichnete sich schon frühzeitig im Konvent ab, der letztlich dem weiter oben kritisierten Traum von einer deliberativen Demokratisierung und einer konstitutionellen Neugründung der EU als einer europäischen Föderation verhaftet blieb (vgl. Göler 2006). Die Vorstellung der Demokratisierbarkeit der supranationalen Regierungssystems, sei es durch eine Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments, sei es durch eine europäische Verfassung, gehört mit zu den beständigsten Mythen der neuern Geschichte der europäischen Integration. Unsere bisherige Analyse sollte demgegenüber deutlich gemacht haben, dass die EU nicht als staatlicher Verband im herkömmlichen Sinn, aber auch nicht als demokratisches Gemeinwesen beschrieben werden kann. Die Demokratiefähigkeit ist der EU, wie gezeigt, vor allem aufgrund des Fehlens eines Demos, also eines
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politisch verfassten europäischen Staatsvolks, abzusprechen (vgl. u.a. Grimm 1995). Worauf es dabei aber entscheidend ankommt, ist nicht nur der in Europa vorherrschende kulturelle Pluralismus, der sich naturgemäß gegen Homogenisierung sperrt. Wichtiger noch ist, dass die Staatsvölker in Europa bereits politisch organisiert, mithin als demokratische Nationalstaaten verfasst sind. Eine Fusion in eine europäische demokratische Nation ist weder zu erwarten, noch steht sie auf der politischen Agenda der EU oder auch nur eines ihrer Mitgliedsstaaten. Dessen ungeachtet wirkt der Traum von einer europäischen Nationswerdung als Illusion einer konstitutionalisierten EU weiter fort. Die Europäische Union befindet sich mithin zur Zeit erneut in einer Situation, die zu einem Überdenken ihrer grundlegenden Leitideen und Ordnungsvorstellungen auffordert. Dabei stellt sich das Problem, ob die Europäische Union sich zu einem europäischen Bundesstaat weiterentwickeln soll und kann, ob sie ein primär wirtschaftspolitischer Zweckverband bleiben soll oder ob sie mit innovativen Föderalismusmodellen (etwa dem von Lepsius vorgeschlagenen Nationalitätenstaat) eine neue Stufe der Staatsbildung einschlagen wird. Die künftige Entwicklung wird diese Frage in der Praxis der institutionellen Ordnungskonstellationen beantworten. Dabei werden auch die heute bereits erkennbaren Auswirkungen der Europäisierung der politischen Systeme auf die Demokratie als zentraler Konfliktlösungsmodus und Legitimationsressource eine Rolle spielen. Mit den Zukunftsaussichten der Demokratie beschäftigt sich daher das nachfolgende Kapitel.
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IV. Die Zukunft der Demokratie in der Europäischen Union
Am Anfang des 21. Jahrhunderts kann eine fundierte Antwort auf die Frage nach der Zukunft der Demokratie in Europa nicht mehr gegeben werden, ohne systematisch die Entwicklung der europäischen Integration und ihre Folgen für die politischen Systeme der Mitgliedsstaaten in Betracht zu ziehen (vgl. Wimmel 2008). Aufgrund des hohen Grades der politisch-administrativen Verflechtungen zwischen supranationaler und nationaler Ebene sind die Verfassungsorgane, Rechtssysteme, Bürokratien und im zunehmendem Maße auch andere gesellschaftliche Systeme der Mitgliedsstaaten inzwischen integraler Bestandteil der europäischen Governance. Der durch die supranationale Institutionenbildung ausgelöste Anpassungsdruck auf zahlreiche nationale Politik- und Gesellschaftsbereiche und deren weitgehende Europäisierung induzieren einen umfassenden institutionellen und sozialen Wandel im integrierten Europa (vgl. Schmidt 1997). Damit ist ein „prinzipieller Wandel der Institutionen des europäischen Nationalstaates eingeleitet, dessen Eigendynamik noch ungekannte Folgen haben wird“ (Lepsius 1997: 66).1 Diese epochalen Transformationsprozesse lassen allerdings die institutionellen wie mentalen Grundlagen der Demokratie im integrierten Europa nicht unberührt. Zahlreiche sozialwissenschaftliche Beobachter sehen in den Fortschritten der europäischen Einigung eine der gegenwärtig größten Herausforderungen, manche sogar eine Bedrohung für die europäische Demokratie und den europäischen Wohlfahrtsstaat (vgl. Habermas 1998; Kaufmann 1997: 131; Offe 1998; Streeck 1998). In den Blick geraten dabei folgenreiche Prozesse der substanziellen Entdemokratisierung, die die demokratischen Institutionen der Mitgliedsländer selbst erfassen und überwiegend als nicht-intendierte Wirkungen der europäischen Einigung beschrieben
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Zum systematischen Zusammenhang von Institutionenwandel und sozialem Wandel siehe: Lepsius 1990: 53ff.; Göhler (Hg.) 1996; Pierre/Peter/Stoher (Hg.) 2008.
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werden.2 Paradoxerweise ist die zentrale Bezugseinheit der soziologischen Analyse dieser Prozesse vielfach der Nationalstaat und nicht die Institutionenordnung der EU.3 Besonders in der Erosion der kulturellen und sozialpolitischen Integrationskraft, die die politische Vergesellschaftungsform des Nationalstaates auf der Grundlage einer kognitiven Vergemeinschaftung und einer territorial wie funktional „koextensiven Wirtschaft-, Werte- und Zwangsgemeinschaft“ (W. Streeck) auszeichnet, wird die Hauptursache für die gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie gesehen. Der sozialpolitisch aktive Nationalstaat erfüllt in dieser Sicht nicht nur „wichtige Erfolgsvoraussetzungen für die demokratische Selbststeuerung der Gesellschaft“ (Habermas 1998: 97). Der nationale Verfassungsstaat ist auch das für Groß- und Massengesellschaften bisher alternativlose politische Ordnungsmodell, das eine sanktionsfähige „normative Konstruktion von Verantwortlichkeiten und Haftung“ (Lepsius) zuließ, eine „moralische Ökonomie“ wohlfahrtsstaatlicher Solidarität institutionalisierte (Kaufmann 1997; Offe 1998) und zugleich eine effektive Vermittlung von gesellschaftlichen Wert- und Verteilungskonflikten über ein komplexes System intermediärer Institutionen ermöglichte (vgl. Lepsius 1999: 216f.). Dagegen führt, so lautet ein repräsentativer Befund der neueren Diskussion, „jede Verschiebung von politischen Entscheidungen nach oberhalb des Nationalstaates (..) zu nationaler Entdemokratisierung, ohne zugleich zu internationaler Demokratisierung führen zu können“ (Streeck 1998: 49). Umstrittener sind dagegen die Antworten der Forschung auf die Frage, wie die Chancen für eine effektive Rekonstruktion der Demokratie auf europäischer Ebene einzuschätzen sind, was sowohl eine Demokratisierung 2
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Eine alternative Position vertritt Wolf (1997), der die Entdemokratisierungsprozesse in der EU als Folge des strategischen Strebens nationalstaatlicher Regierungen nach innerer Autonomie interpretiert. Damit im Ansatz kompatibel: Moravcsik 1997. Habermas hat wie folgt auf dieses Paradoxon aufmerksam gemacht: „Die Tendenzen, die eine postnationale Konstellation anbahnen, nehmen wir nur als politische Herausforderung wahr, weil wir sie noch aus der gewohnten nationalstaatlichen Perspektive beschreiben“ (Habermas 1996: 94f.). Ähnlich argumentiert Luhmann (1997: 32), wenn er den überlieferten „regionalistischen (nationalen) Gesellschaftsbegriff“ der traditionellen Soziologie kritisiert: „Sie benutzt Konzepte, die den Anschluss an die Tradition noch nicht aufgegeben haben, aber schon Fragen ermöglichen, die ihren Rahmen sprengen könnten“.
der europäischen Entscheidungsprozesse wie die Übernahme von staatsbürgerlichen Inklusions- und wohlfahrtsstaatlichen Umverteilungsfunktionen durch den europäischen Verband bedeuten würde. Die Positionen dazu divergieren in dem Maße, wie die strukturellen Eigenarten des europäischen Mehrebenensystems systematisch Berücksichtigung finden. Steht das republikanische Modell des Nationalstaats im Fokus der Aufmerksamkeit, wie exemplarisch bei Habermas, dann tendiert die Argumentation eher in Richtung einer positiven Einschätzung der Möglichkeiten, auf europäischer Ebene eine neue Form der staatsbürgerlichen Solidarität zu institutionalisieren, die den Nationalstaat substituieren könnte (vgl. Münch 1993; Münkler 1996: 99ff.; Habermas 1998: 154f.; Viehoff/Segers 1999: 9ff.). Skeptischer gegenüber einer gleichsam nachholenden sozialen Demokratisierung und kulturellen Integration auf europäischer Ebene äußern sich jedoch Autoren, die an die einschlägige Europaforschung anknüpfen und der einzigartigen Institutionengestalt der EU als neues Vergesellschaftungsund Herrschaftssystem Rechnung tragen. In dieser Perspektive zeigt sich, dass der technokratische Verhandlungs- bzw. „Mehrebenencharakter“ des EU-Systems strukturell die Voraussetzungen für eine am traditionellen nationalstaatlichen Modell orientierte politische Gemeinschaftsbildung nicht erfüllt und auf absehbare Zeit wohl auch nicht wird erfüllen können (vgl. Scharpf 1998; Streeck 1998; Offe 1998; Lepsius 1999). Mit den nachfolgenden Überlegungen soll an die letztgenannte institutionen-strukturalistische Richtung angeschlossen werden. Im Zentrum stehen die für das europäische Herrschaftssystem konstitutiven institutionellen Systemeigenschaften, soweit sie für die politische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung von struktureller Relevanz sind. Gefragt wird nach den demokratiepolitischen Imliplikationen des Kooperations- und Entscheidungssystems der EU mit seiner spezifischen Kompetenz- und Legitimationallokation, seinen Verfahrensmodalitäten, Rationalitätskriterien und Entscheidungskontexten. Die zentrale These dieses Kapitels lautet: Die fortschreitende europäische Integration hat nicht nur auf supranationaler Ebene ein weitgehend demokratiefernes und demokratieresistentes Herrschaftsgebilde hervorgebracht („Demokratiedefizit“). Zieht man die konkreten institutionellen Kompetenzräume und Entscheidungspraktiken in Betracht, dann ist offenkundig, dass ihr darüber hinaus eine markante und vermutlich irreversible Tendenz zur endogenen Devolution demokratischer Strukturen und Verfah-
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ren innewohnt. Dadurch wird ein systemübergreifender Institutionenwandel in Gang gesetzt, der tiefgreifende Folgen auch und vor allem für die politischen Systeme der Mitgliedsstaaten hat (vgl. Schmidt 2006). Diese entdemokratisierende Tendenz kommt vor allem in einer Akzentuierung und Verstärkung bekannter struktureller Pathologien, Paradoxien und Defizite demokratischer Regierungssysteme zum Ausdruck. 1
Das demokratietheoretische Legat der Soziologie
Die folgende Herangehensweise setzt weder einen normativ gehaltvollen Begriff von Demokratie voraus noch basiert sie auf einer umfassenden ideengeschichtlichen und systematischen Rekonstruktion des Demokratiebegriffs. Stattdessen beziehe ich mich auf eine Systematisierung generalisierter Kriterien von Demokratie, wie sie Noberto Bobbio, anknüpfend an die Tradition der klassischen Eliten- und Herrschaftssoziologie, vorgenommen hat. Demzufolge ist jede Institutionalisierung der Ideale von Demokratie in der modernen Gesellschaft – und nicht nur die Demokratie als spezifische Staatsform – grundsätzlich mit strukturellen Defiziten und Pathologien konfrontiert. Zum demokratietheoretischen Legat der klassischen politischen Soziologie gehören nach Bobbio die Theoreme a) von der Persistenz der Oligarchien, b) von der fortschreitenden Bürokratisierung der Politik, c) von der Herrschaft „unsichtbarer Mächte“, d) vom steigenden Einfluss der Experten auf die politischen Entscheidungssysteme und schließlich e) von der „Revanche der Interessen“ gegenüber dem Gemeinwohl.4 Die klassische Herrschaftssoziologie, an die Noberto Bobbio hier explizit anknüpft, hat bekanntlich kein umfassendes und kohärentes normatives Demokratiemodell hervorgebracht. Ihre Hauptvertreter, allen voran Max Weber und die italienischen Elitentheoretiker Gaetano Mosca, Vilfredo Pareto und Robert Michels, zeigten sich hingegen übereinstimmend skeptisch gegenüber den Verwirklichungsmöglichkeiten von demokratischer Selbstherrschaft unter den Bedingungen der modernen, zunehmend funktional differenzierten Gesellschaft. Diese Skepsis war in erster Linie das Er4
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Ich beziehe mich vor allem auf folgende Schriften: Bobbio 1984: 3-28; ders. 1985: 141ff. Siehe auch Greco 2000.
gebnis ihrer spezifischen, in den jeweiligen sozialtheoretischen Entwürfen begründeten soziologischen Problemstellungen.5 Ihr Interesse galt primär den Strukturproblemen, mit denen die Institutionalisierung demokratischer Ordnungsideen angesichts gesellschaftlicher Komplexitätsbedingungen und Eigendynamiken zu rechnen hat. Daher sind ihre Analysen mit einem demokratiekritischen „bias“ behaftet: Sie zeigen die strukturellen Ambivalenzen und Grenzen dieser Herrschaftsform auf. Damit richteten sie das Augenmerk mehr auf die „unerfüllten Versprechen“ (N. Bobbio) und auch auf die Paradoxien und Illusionen demokratischer Staatsordnungen. Den heuristischen Wert der herrschaftssoziologischen Problemstellung kann man vor allem darin sehen, dass Demokratie nicht als normatives Ordnungsmodell fixiert und in einer konkreten Verfassungs- und Institutionengestalt gleichsam verdinglicht wird. Vielmehr geraten in dieser Perspektive gesellschaftliche Prozesse der Demokratisierung und Ent-demokratisierung politischer Ordnungen in den Blick. Diese lassen sich analytisch allerdings nur graduell bestimmen. Nimmt man Bobbios Systematisierung der „unerfüllten Versprechen der Demokratie“ als Leitfaden, dann lassen sich fünf generalisierte Hypothesen formulieren, die eine empirisch ausgerichtete Analyse des Herrschaftssystems der EU anleiten können. Erste These: Je höher der Grad der institutionellen Differenzierung eines politischen Systems, desto ausgeprägter ist die Tendenz zur Oligarchisierung seiner politischen Führungsgruppe. Institutionelle Differenzierung bedeutet nicht nur funktionale Unterscheidung und Trennung sozialer Handlungskontexte und die Chance zur Homogenisierung spezifischer Wertorientierungen, Handlungskriterien und auch Interessenlagen der jeweiligen sozialen Trägergruppe, sondern auch ihre „relative Freisetzung von gesamtgesellschaftlichem Sanktionsdruck“ (Lepsius 1990: 55). Dadurch kommen Prozesse der sozialen Schließung der relevanten Beziehungen nach außen zum Tragen, die im Falle von politischen Eliten die Möglichkeiten und die Bereitschaft zur gesellschaftlichen Responsivität im Sinne einer Rückbindung von politischen Herrschaftspositionen und von Entscheidungen an die aggregierten Präferenzen der Bürger erheblich einschränken. 5
Der vermeintliche Einfluss vorwissenschaftlicher Einstellungen und Überzeugungen auf das Demokratieverständnis der Autoren kann in diesem Argumentationszusammenhang vernachlässigt werden (vgl. dazu etwa Sartori 1992: Kapitel 3).
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Zweite These: Je größer die Heterogenität und Fragmentierung der soziokulturellen Grundlagen einer politischen Ordnung und je ausgeprägter die Autonomie der Einheiten, ihre Verhandlungsmacht und die Selbstverpflichtung der politischen Eliten zum Systemerhalt, desto eher bilden sich Elitenkartelle. Merkmale der pluralistischen Elitenkonkurrenz werden dadurch ebenso außer Kraft gesetzt wie das Prinzip der Mehrheitsentscheidung. An dessen Stelle treten Techniken des Konfliktmanagements und der Kompromissfindung (wie z.B. „package deals“ oder Kompensations- und Koppelgeschäfte) im Rahmen von parlamentsfernen Verhandlungsarenen. Dieser „konkordanzdemokratische“ Modus6 der Interessen- und Konfliktvermittlung wirft nicht nur Probleme der demokratischen Verantwortlichkeit und Responsivität des Regierens auf. Vielmehr führt er auch zu typischen Pathologien von Verhandlungssystemen, wie erhöhte Blockaderisiken, Reformunfähigkeit und Privilegierung der Player mit status quo-Interessen. Das imperative Mandat ersetzt immer häufiger das repräsentative und unterhöhlt die Gemeinwohlverpflichtung der öffentlichen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung. Bobbio verweist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Durchsetzung partikularer Interessen in der modernen Demokratie (Bobbio 1984: 10ff.). Dritte These: Je höher der Grad der Verrechtlichung eines politischen Systems und je ausgedehnter die der politischen Steuerung und Regelung unterworfenen gesellschaftlichen Bereiche, desto ausgeprägter wird die Tendenz zur Bürokratisierung der Politik sein.7 Dieser Prozess kommt nicht nur in einer allgemeinen Bedeutungszunahme von Verwaltungsfunktionen zum Ausdruck; er schlägt sich auch in vielfältigen prozeduralen wie materialen Kompetenzappropriationen seitens professionalisierter Verwaltungs- und Expertenstäbe nieder, d.h. in der Monopolisierung von Sachwissen und strategischen Ressourcen wie Organisationsmittel und Personal. Diese verselbständigen sich tendenziell gegenüber den relevanten politischen Arenen und bilden spezifische Handlungsroutinen wie politisch-ökonomische Interessenlagen aus, die ein eigenes Gewicht gegenüber den politisch legitimierten Herrschaftsinstanzen gewinnen können. 6 7
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Zusammenfassend Schmid 1995: 228ff.; Weiler 1999: 280ff. Der klassische Bezugsautor dafür ist Max Weber (1976; 1984; siehe dazu Schluchter 1985: 65ff.)
Vierte These: Je höher der Verselbständigungsgrad der Bürokratie und je geringer die institutionellen Möglichkeiten zur Repräsentation und Vermittlung gesellschaftlicher Interessen- und Wertkonflikte im politischen System und zur wirksamen Kontrolle von Herrschaftspraktiken durch intermediäre Institutionen (Parteien und andere gesellschaftliche Organisationen) oder die politische Öffentlichkeit (Parlamente und Medien) sind, desto größer ist der Wirkungsraum „unsichtbarer Mächte“. In diesem Arkanbereich von Politik werden nach Maßgabe intransparenter (teilweise auch illegaler) Konventionen und Verfahren auf der Grundlage sektoraler und materialer Kriterien und informeller Beziehungs- und Kontaktstrukturen wirtschaftliche und politische Partikularinteressen vermakelt.8 Das bedeutet: Opake Substrukturen politischer Entscheidungsprozesse (sog. „subgovernments“ oder „sottogoverni“), die die Prärogative parlamentarischer Repräsentativkörperschaften ebenso unterlaufen wie die Gewaltenteilung und das Öffentlichkeitsprinzip (vgl. Bobbio 1984: 75-100). Fünfte These: In der modernen Gesellschaft treten nach Bobbio die arcana imperii vor allem in Form der Regierung von sogenannten Experten aus dem Wissenschafts-, dem Verbands- bzw. dem Verwaltungssystem, d.h. in Gestalt der Technokratie in Erscheinung9: Je komplexer die Entscheidungsmaterien in sachlicher und prozeduraler Hinsicht, die ein politisch-administratives System zu verarbeiten hat, desto enger sind die Verflechtungen zwischen wirtschaftlichem und politischem System; und je höher die Erwartungen seitens der Institutionen bzw. Bürger an die materiale Problemlösungsfähigkeit der Politik sind, desto größer wird die Bedeutung wissenschaftlicher Expertisen sein. Damit erhalten Experten und professionalisierte Politikberatung einen bedeutenden und öffentlich schwer kontrollierbaren Einfluss auf die politischen Entscheidungsprozesse. Es bilden sich extrabürokratische, in dem allgemeinen Problemverständnis, den diskursiven Kom8
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Nach Puntscher Riekmann ist das der „Raum des Interstitiums der Macht“. Darunter versteht die Autorin einen „Raum zwischen den offiziellen Räumen, in dem politische Entscheidungen als arcana imperii und nach Spielregeln entschieden werden, die nirgendwo formal fixiert sind“ (Puntscher Riekmann 1999: 160). Abgesehen freilich von geheimen Gesellschaften (Mafia, Freimaurer, klandestine politische Organisationen usw.), und Geheimdiensten und anderen, unter dem Schutz des legalen Staatsgeheimnisses tätigen öffentlichen Einrichtungen und Stäben, die hier allerdings unberücksichtigt bleiben können (vgl. Bobbio 1984: 16ff., 92ff.)
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munikationsstandards, den professionellen Rationalitätskriterien und den effizienzorientierten Wertüberzeugungen weitgehend homogenisierte „Wissensgemeinschaften“ oder „epistemic communities“ (Haas 1992) heraus. Diese prägen durch ihre materialen Problem- und Interessendefinitionen den Prozess des „agenda-setting“ im Hinblick auf die Entscheidungs- und Wohlfahrtskriterien, womit generell eine (relative) Verwissenschaftlichung des politischen Entscheidungshandelns einhergeht (vgl. Braun 1998). Die genannten heuristischen Kriterien von Demokratisierung, so viel lässt sich festhalten, gelten unabhängig von der konkreten institutionellen Form des jeweiligen Herrschaftsverbandes. Sie sind damit weder an die historische Strukturform der Staatlichkeit noch an die politische Vergesellschaftungsform der Nation geknüpft, sondern können generell auf sämtliche Ausprägungen von Herrschaft angewendet werden, soweit diese einen Demokratieanspruch erheben, beispielsweise auch auf internationale Regime, NGO’s, öffentliche Einrichtungen oder substaatliche Einheiten. Staat und Nation sind in dieser Perspektive nur spezifische historische Varianten politischer Herrschaft. Das heißt, man muss Herrschaft nicht alternativlos als Staat und Nation beurteilen. Damit eignet sich die vorgenommene herrschaftssoziologische Kriterienbestimmung auch für eine Betrachtung der EU. Obgleich der europäische Verband nach herkömmlichem verfassungsrechtlichen und politikwissenschaftlichen Verständnis kein Staat ist (vgl. Bogdandy 1993; ders. 1999), gerät er – wie die Diskussion über das „europäische Demokratiedefizit“ zeigt10 – aufgrund der von ihm in den politischen Entscheidungsprozessen und der übernationalen Rechtssetzung ausgeübten Herrschaftsfunktionen unter (demokratischen) Legitimationsdruck. 2
Prozesse der Entdemokratisierung in der Europäischen Union
Wie lässt sich nun der Grad der Demokratisierung des EU-Systems mit Bezug auf die herrschaftssoziologischen Hypothesen empirisch beschreiben? Einleitend wurde schon festgestellt, dass die sozialwissenschaftliche Forschung aus unterschiedlichen Blickwinkeln dem europäischen Mehrebenen10
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Zusammenfassend: Kowalsky 1997: 115ff.; Bertolini 2005, Kap. 5.
system eine prononcierte Tendenz zur Entdemokratisierung bescheinigt und dass sich diese Entwicklung aufgrund der hohen Systemverflechtung von supranationaler und nationaler Ebenen nicht allein auf die europäischen Organe beschränkt, sondern in der Konsequenz auch auf die Mitgliedsstaaten selbst erstreckt. Betrachten wir also die einzelnen Dimensionen mit Bezug auf das System der EU. a) Oligarchisierung und Elitenkartelle Das Institutionensystem der EU weist, wie eine Fülle von Studien belegt, Strukturen und Merkmale auf, die es grundlegend von nationalstaatlichen Demokratien unterscheiden. Obgleich sich die europäische Ebene im Laufe ihrer Entwicklung, vor allem durch die Schaffung eines eigenen, direkt gewählten Parlaments mit zunehmenden Mitentscheidungsbefugnissen, der Quasi-Konstitutionalisierung der Verträge und einer extensiven Verfassungsgerichtsfunktion des EuGH immer mehr der Verfassungsgestalt von demokratischen Staaten anzugleichen scheint, erweist sich diese Annäherung an das nationalstaatliche Herrschaftsmodell bei genauerer Betrachtung als eine Art politisch-institutionelle Mimikry. Vieles spricht hingegen dafür, mit Bezug auf die europäische Regierungsebene von einer Herrschaftsbildung sui generis auszugehen, mithin von der Ausdifferenzierung einer neuartigen, historisch beispiellosen politischen Institutionenordnung. Deren Struktur weist einen ausgesprochen nicht-staatlichen Charakter auf. Darauf deutet schon die eigentümliche Differenzierung der Entscheidungsgewalten im Institutionensystem der Union und die dadurch bedingten Spezifika der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung hin. Die Tatsache, dass sich im europäischen Herrschaftssystem die Entscheidungsbefugnisse de facto auf zwei Regierungsgewalten – den Komplex Ministerrat/Europäischen Rat auf der einen Seite, die Kommission auf der anderen – verteilen und das Europäische Parlament bisher lediglich die Rolle eines dritten Souveränitäts-Prätendenten ohne gleichrangige Befugnisse spielt, stellt ein fundamentales Strukturproblem der Legitimations- und Kompetenzenallokation im europäischen Entscheidungssystem dar. Schon deshalb führen Staatsanalogien unweigerlich in die Irre.
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Der Ministerrat ist (zusammen mit dem Europäischen Rat)11 das zentrale Verhandlungsgremium der Mitgliedsländer. Seine Prärogative basieren auf der ihm vorbehaltenen Letztentscheidungskompetenz, wobei die Einstimmigkeitsregel bei sämtlichen sensiblen Beschlüssen (z.B. Beitritte, Haushaltsfragen, Sozialpolitik und Institutionenreformen) nicht nur die Gleichrangigkeit aller Beteiligten in prozeduraler Hinsicht, sondern ihnen auch prinzipielle Vetomöglichkeiten garantiert. Als höchstes Entscheidungsorgan der „pouvoir constituants“ – der Mitgliedsstaaten – bildet damit ein heterokephaler Souverän das tragende Element der intergouvernementalen Staatenassoziation. In seinen Möglichkeiten, Gesetzesvorschläge zu unterbreiten, ist der Ministerrat jedoch formal beschränkt. Er kann zwar über Beschlussvorlagen verhandeln und entscheiden, diese aber nicht selbständig ausarbeiten und sich selbst zur Entscheidung vorlegen. Damit ist der Kollektivsouverän des EU-Systems in seinen politischen Initiativ- und Gestaltungsmöglichkeiten des europäischen Verbandes erheblich limitiert. Das ist eine weitere grundlegende Anomalie im Vergleich mit üblichen staatlichen Strukturen. Die materiale politische Initiative im gemeinschaftlichen Gesetzgebungsprozess gehört demgegenüber zu den Kernkompetenzen der Kommission.12 Dieses Organ – die supranationale Institution par excellence – verfügt über ein sehr weitgehendes Vorschlagsrecht in zahlreichen Politikfeldern und kann daher als eine Art zweiter Souverän des Gemeinschaftssystems bezeichnet werden. Als Kollegium und Administration ist die Kommission zwar durch die Entscheidungsprärogative des Rates gebunden, das Initiativmonopol sichert ihr aber im Verbund mit bestimmten Kontroll- und Sanktionsbefugnissen einen erheblichen Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung des Politikprozesses der Union zu. Damit steht die Kommission im legislativen Prozess der Gemeinschaft quasi auf derselben Stufe mit dem Rat und kann daher nicht einfach auf ihre Exekutiv- und Verwaltungsfunktionen reduziert werden. Auch handelt es sich bei dem Verhältnis RatKommission nicht um ein einfaches Prinzipal-Agenten-Verhältnis. Denn 11
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Von den Unterschieden zwischen Ministerrat und Europäischem Rat kann hier zunächst abgesehen werden. Zur formalen Institutionenordnung der EU siehe statt vieler: Hix 1999; Nugent 1999; Wallace/Wallace 1999; Wessels 2007. Zur Kommission siehe weiter unten (Kap. V); außerdem Edwards/Spence (Hg.) 1997; Wonka 2008.
hinzukommt, dass die Kommission als korporativer Akteur mit eigenen Kontroll- und Sanktionsbefugnissen innerhalb des Gemeinschaftsverbandes jedem einzelnen Mitglied übergeordnet ist. Diese für staatliche Herrschaftsverbände singuläre Aufspaltung von (materialer) Initiativmacht und (formaler) Beschlusskompetenz ist historisch in dem Umstand begründet, daß die ursprüngliche, dem Schumann-Plan zugrunde liegende und in der Gestalt der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl („Montanunion“) erstmals umgesetzte Organisationsidee der europäischen Einigung durch die überstaatliche Konzentration oder Fusion von Entscheidungsgewalt in einer paritätisch zusammengesetzten, aber unabhängigen, politisch verantwortlichen und handlungsfähigen Organisationsform – der sog. „Hohe Behörde“ – erfolgen sollte. Von dieser bewussten institutionenpolitischen Strategie, die auf der organisatorischen Ausdifferenzierung einer dritten „höheren Instanz“ oder eines „third-party enforcer“ abzielte, versprachen sich die Gründungsväter der EGKS (zunächst nur für den Montanbereich) eine dauerhafte Überwindung nationaler Konflikte und die Ermöglichung einer kontinuierlichen Kooperation unter den Verbandsmitgliedern als Voraussetzung für eine beständige Friedensordnung in Europa. Daher diente die vor allem auf Jean Monnet zurückgehende institutionenpolitische Methode (vgl. Featherstone 1994) als übergeordneter, gleichsam metapolitischer Referenzpunkt der Verhandlungen zum SchumannPlan (vgl. Monnet 1988: 403ff.; Duchêne 1994: 181ff.). Ein zwischenstaatliches Entscheidungsgremium, mit dem die Repräsentation der nationalen Interessen gegenüber dem Verband sichergestellt werden sollte, wie es dann in der Gestalt des Ministerrats als zweites Machtzentrum parallel und in Konkurrenz zur „Hohen Behörde“ geschaffen wurde, war im MonnetEntwurf ursprünglich gar nicht vorgesehen. Auch die Parlamentarische Versammlung bzw. das Europäische Parlament traten erst viel später hinzu. Das hatte unter anderem zur Folge, dass zwischen all diesen Organen in der bisherigen Verbandsgeschichte zu keinem Zeitpunkt eine stabile institutionelle Balance erreicht werden konnte. Das in den Verträgen jeweils paktierte Verhältnis der Organe zueinander reflektiert letztlich stets die relative Verteilung von Verhandlungsmacht zwischen den relevanten Akteuren. Hinsichtlich der institutionellen Legitimationsverteilung ergibt sich für die derzeitige Union folgendes Bild: Während die Regierungsvertreter im Ministerrat auf ihren jeweils nationalen Demos – wenngleich über relativ lange Legitimationsketten vermittelt – bezogen bleiben und sich darin eine
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gewisse demokratische Responsivität manifestiert, verkörpert die Kommission einen „artifiziellen“ Souverän auf abgeleiteter Legitimationsgrundlage. Die Kommission im engeren Sinne, d.h. das Gremium der Kommissare, geht nicht aus demokratischen Wahlen hervor, sondern konstituiert sich auf dem Wege eines dezisionistischen Aktes der Regierungen der Mitgliedsstaaten. Worauf es in diesem Zusammenhang besonders ankommt: Ihre entscheidenden Bezugseinheiten sind somit die nationalen Regierungen, namentlich deren Bürokratien auf der Ebene der Ministerialverwaltungen. Diesen gegenüber muss sich die supranationale Funktionselite primär als responsiv erweisen, um ihren politischen Auftrag erfüllen zu können. Ihre Hauptaktivitäten bewegen sich somit in einem Zwischenbereich von bürokratischen Funktionen und politischem Unternehmertum (vgl. Ross 1994). Das einzige solide, durch Direktwahlen unmittelbar demokratisch legitimierte Organ ist das Europäische Parlament. Das repräsentiert jedoch keinen einheitlichen Demos, sondern mittlerweile siebenundzwanzig nationalstaatlich organisierte und politisch verfasste Demoi. Es ist daher kein Zufall, dass für die Staatsbürger der EU die nationalen Parlamente nach wie vor die wichtigsten demokratischen Repräsentativorgane sind und dies wohl auch in Zukunft bleiben werden. Das Europäische Parlament entbehrt nicht nur essentieller parlamentarischer Prärogative, wie diejenige der Regierungsbildung, der Kontrolle der Exekutive und der Einheit von Gesetzesinitiative und Beschlusskompetenz. Es kann auch keinen Anspruch auf ein parlamentarisches Repräsentationsmonopol geltend machen, da dies praktisch zu einem folgenreichen Verdrängungswettbewerb im Kampf um Legitimation und Gesetzgebungsbefugnisse zu Lasten der nationalen Parlamente führen würde. Diese Tendenz wird bereits durch die materiale Regelungsdichte auf europäischer Ebene und durch die Ausdehnung der Mitentscheidungsbefugnisse des EP nach den Verträgen von Maastricht und Amsterdam gestützt. In zunehmendem Maße wird das legitime Gesetzgebungsmonopol der nationalen Parlamente faktisch unterhöhlt, was zu einer diskreten Entmachtung der nationalen Parlamente führt. Die sich hierin abzeichnende Legitimationskrise des nationalen Parlamentarismus erweist sich als eine der wahrscheinlich am schwersten revidierbaren, nicht beabsichtigten Folgen der Schaffung einer supranationalen parlamentarischen Ebene. Wir haben es hier mit einer der bemerkenswertesten und zugleich in der Öffentlichkeit am wenigsten beachteten Paradoxien der Parlamentarisierung des europäischen Verbandes zu tun.
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Rückt man diesen Sachverhalt in die weiter oben umrissene soziologisch-analytische Perspektive und berücksichtigt man dabei besonders die dritte These über die Bürokratisierungstendenzen moderner politischer Systeme, dann zeigt sich folgende weitere demokratietheoretische Grundproblematik: Mit der drohenden Entparlamentarisierung der Regierungssysteme auf europäischer wie nationaler Ebene wird eines der wirksamsten institutionellen Gegengewichte gegen die Herrschaft der Oligarchien in den politisch-administrativen Systemen nachhaltig geschwächt. Denn es schrumpft der effektive Gestaltungsraum legitimer parlamentarischer Politik durch die Parteien im nationalen Kontext auf jene an Zahl und Bedeutung abnehmenden Bereiche, die in einzelstaatlicher Kompetenz verbleiben, während der Großteil der unter Bedingungen der Europäisierung und Globalisierung an Relevanz gewinnenden politischen Steuerung von der EU (mit potenzieller Allzuständigkeit) bzw. anderen transnationalen Institutionen ohne nennenswerte parlamentarische Kontrolle ausgeübt wird (so etwa im Bereich der Wirtschafts-, Währung-, Außen-, Sicherheits-, Regional-, Umwelt-, Haushaltspolitik usw.). Die Folge ist, dass parlamentarische Politik in den territorialen Volksvertretungen im Wesentlichen zu symbolischer Politik zum Zwecke der formalen Legitimationsbeschaffung für politische Repräsentanten zu degenerieren droht, deren eigentliches Wirkungsfeld sich längst auf die EU und andere internationale Verhandlungssysteme verlagert hat. Ein Korrelat davon ist, dass die internationalen Entscheidungszentren, die durch die Europäisierung an Bedeutung gewinnen, für die politischen Parteien wie für soziale Bewegungen in den jeweiligen Mitgliedsländern viel schwerer zugänglich sind. Ganz abgesehen davon, dass der europäische Prozess in der Regel nicht im Zentrum der politischen Wahrnehmung der Parteien steht (vgl. Gaffney 1996: 6). Darunter leiden in erster Linie die Repräsentation diffuser gesellschaftlicher Interessen und der öffentliche Gemeinwohldiskurs, traditionell zwei der wichtigsten Aufgaben von Volksvertretungen (vgl. Roose 2003). Damit büßen aber die politischen Parteien ihre in pluralistischen Gesellschaften unersetzbare Funktion ein, die grundlegenden gesellschaftlichen Konfliktlinien nicht nur im nationalen System, sondern auch im europäischen politischen Gesamtsystem zu artikulieren und entsprechende Interessen zu artikulieren Dabei geht es nicht nur um die Artikulation nationaler cleavages (Konfession, Klasse, Ethnien, Region und dergleichen) entlang derer sich im Nationalstaat traditionell die politischen Parteien formierten (vgl. Rokkan
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2000). Vielmehr geraten die neuen europäischen Spaltungslinien, die im Bezugshorizont der „gedachten Ordnung“ einer „europäischen Gesellschaft“ sichtbar werden, in den Blick. Deren politische Relevanz wird künftig durch die verstärkte Institutionalisierung der allgemeinen Leitideen des „europäischen Gesellschaftsmodells“ und der „wirtschaftlichen und sozialen Kohäsion“ zunehmen. Diese sehen eine Vereinheitlichung der Lebensverhältnisse im politischen Raum des integrierten Europa ziemlich verbindlich vor und beinhalten grundsätzlich auch eine europäische Solidaritätsverpflichtung (siehe die Leitideen der Strukturfonds, Beschäftigungspolitik sowie der europäischen Sozialpolitik). Die cleavages des europäischen Sozialraumes verlaufen aber quer zu den nationalen Problemlagen und Konfliktlinien, wie sich das in den typischen Verteilungskonflikten zwischen Nord und Süd, Zentrum und Peripherie, Nettoempfänger und Nettozahlerländer, nunmehr auch zwischen Ost und West bereits abzeichnet. Vor diesem Hintergrund reflektiert der alltägliche Parteienkampf in den Mitgliedsländern immer häufiger gesellschaftliche Interessenkonflikte, die im europäischen Kontext anachronistisch erscheinen (wie z.B. nationale und ethnische Konflikte) und/oder zu deren Bearbeitung den nationalen Regierungen durch den erfolgten Souveränitätstransfer längst schon die Handlungsgrundlagen und -instrumente entzogen worden sind (Wirtschaft und Währung, Regionalförderung, Verkehrs- und Umweltpolitik, auch in Teilbereichen der Sozialpolitik). Der nationale Parteienkampf droht somit immer mehr, den Charakter von politischen Scheingefechten bzw. Spiegelfechtereien anzunehmen. Hinzu kommt, dass auch die massenmediale politische Öffentlichkeit in den einzelnen Ländern noch weitgehend den nationalstaatlichen Mustern politischer Kommunikation verhaftet bleibt. Nach Jürgen Gerhards ergibt sich daraus eine bemerkenswerte „Inkongruenz zwischen einer Europäisierung der Ökonomie und den politischen Entscheidungen einerseits und einer nationalen Darstellung und Vermittlung europäischer Politik andererseits; die europäisierte Politik ist der Kontrolle durch eine weiterhin nationalstaatlich verankerte Öffentlichkeit davongelaufen“ (Gerhards 2000: 299). Eine deutliche Unterthematisierung relevanter politischökonomischer Fragen und Problemlagen, die sich aus den transnationalen Verflechtungen ergeben bzw. zu den gesellschaftlichen Wirkungen der europäischen Integration (etwa im Umwelt-, Migrations- oder Sozialbereich) zu zählen sind, ist die Folge. Damit haben sich die Voraussetzungen für eine befriedigende Vermittlung zwischen politischer Elite und Bevölkerung, zwi-
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schen Gesellschaft und Politik, an der heute die Massenmedien maßgeblich teilhaben, im Zuge der Europäisierung der nationalen Gesellschaften erheblich verschlechtert. Als Zwischenergebnis kann somit festgehalten werden: Mit dem Einflussverlust sozialer Akteure in der internationalisierten Politik nimmt die Verselbständigung und Abgeschlossenheit der politisch-administrativen Funktionseliten von Regierungen, internationalen Organisationen und Interessenverbänden zu. Im europäischen Kontext tritt Oligarchisierung in erster Linie in Form von Gouvernementalisierung der politischen Prozesses auf. In der europäischen Arena (wie generell in den internationalen Beziehungen) verfügen die nationalen Regierungen über die weitaus größte Verhandlungsmacht, d.h. sie stellen die relevanten Akteure und bestimmen weitgehend den politischen Prozess. Hinzu kommt das relative Gewicht der wichtigsten EU-Organe, an erster Stelle das der Kommission, dann des EuGHs und mit Abstand des Europäischen Parlaments (auf jenen Regelungsgebieten, wo es über das sog. Mitentscheidungsverfahren eine sektorale Vetoposition vertreten kann). Diese ressourcenmächtigen korporativen Akteure und deren Funktionseliten besetzten in zunehmendem Maße die Rolle, die politische Parteien, Parlamente und soziale Bewegungen in den nationalen politischen Systemen spielen (vgl. Gaffney 1996: 2). b) Konkordanzpolitische Konflikt-Institutionalisierung Als eine direkte Folge der Gouvernementalisierung und Entparlamentarisierung der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung im europäischen Verhandlungssystem wird die systematische Privilegierung nationaler Interessen und ihrer Repräsentation im Ministerrat wie im Europäischen Rat angesehen. Außerdem wäre zu beachten, dass Verhandlungssysteme, wie in der zweiten These oben angesprochen, die Herausbildung und Verfestigung von Elitekartellen sowie eine Praxis konkordanzpolitischer Konfliktinstitutionalisierung strukturell begünstigen. Als „Konkordanzdemokratien“ werden in der Politikwissenschaft politische Systeme bezeichnet, in denen „an Stelle des Mehrheitsprinzips auf dem Weg der Verhandlungen bestimmte Kompromisstechniken zur Herbeiführung eines Konsenses über verbindliche Entscheidungen angewandt werden“ (Schmidt 1995: 231). Dadurch werden Minderheiten und oppositionelle Parteien in den Entscheidungsprozeß eingebunden, was diesen Sys-
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temen im Vergleich mit konkurrenzdemokratischen Ordnungen eine relativ größere Stabilität verleiht. Das ist auf ein im allgemeinen höheres „Potential zur Bündelung und Vermittlung von Interessen in den politischen Entscheidungsprozeß“ zurückzuführen (ebd.: 235). Viele Autoren sehen in der Tatsache, dass der konkordanzdemokratische Prozess von Eliten dominiert wird, die sich zu überparteilichen, Institutionen und „Lager“ übergreifenden Kartellen zusammenschließen, eine entscheidende Voraussetzung für funktionierende demokratische Ordnung. Konkordanzpolitische Formen der Interessenvermittlung und Konfliktbewältigung finden sich auch in vielen parlamentarischen Demokratien in jeweils unterschiedlichem Maße ausgeprägt. Länder wie Österreich, die Niederlande, die Schweiz und die Bundesrepublik Deutschland gelten als Paradebeispiele für Konkordanzdemokratien (vgl. ebd.: 232ff.). Auch die Entscheidungsstrukturen der Europäischen Union weisen Eigenschaften eines Konkordanzsystems auf. Im Unterschied zu den nationalen Demokratien sind in der Europäischen Union allerdings die konkordanzpolitischen Praktiken weit bedeutsamer. Wenn im Rahmen von parlamentarischen Verfassungsstaaten das politische Entscheidungssystem auch nachhaltig vom konsensuellen Interessenausgleich zwischen den jeweils herrschenden Funktionseliten geprägt sein mag, so büßt es dadurch in der Regel noch nicht seinen demokratischen Grundcharakter ein. Solange etwa die Grundprinzipien der Gewaltenteilung gewahrt bleiben, Regierungen aus demokratischen Wahlen hervorgehen, denen ein offener Parteienwettbewerb vorausgeht und eine politische Öffentlichkeit die Eliten wie die Exekutiven wirksam kontrolliert, solange können auch sog. Konkordanzdemokratien durchaus eine positive demokratische Leistungsbilanz aufweisen, weshalb solche Systeme auch als „gemischte Demokratien“ bezeichnet werden (vgl. Schmidt 1995: 234ff.). Mit Blick auf das Entscheidungssystem der EU haben wir es hingegen mit einem in dieser Hinsicht grundsätzlich anders gelagerten Sachverhalt zu tun: Consociationalism ist hier als ein wesentliche Strukturmerkmal des europäischen Regierungssystems anzusehen. Es basiert auf einer strukturprägenden Institutionalisierung konsoziativer Verhandlungs- und Vermittlungsprozesse, ohne dass diese noch auf ein institutionell konsolidiertes Referenzsystem von demokratischen Institutionen bezogen wären. Das lässt sich anhand des Begriffs „europäisches Mehrebenensystem“ verdeutlichen, mit dem in der Literatur die Struktureigentümlichkeiten des
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politischen Entscheidungssystems der EU bestimmt werden.13 Auch dabei kommt es darauf an, die zentrale analytische Problemstellung dieser Perspektive in den Blick zu nehmen und den Begriff nicht auf rein deskriptive Aspekte der Verschachtelung von mehreren Einheiten politischer Entscheidung zu reduzieren. Nach Scharpf (1994: 11ff.) zeichnen sich politische Mehrebenensysteme typischerweise dadurch aus, dass die konstituierenden Einheiten eines Verbandes an den Entscheidungsprozessen der höheren Ebene aufgrund eigener Kompetenzen beteiligt werden müssen. Mit anderen Worten: Das entscheidende Kriterium ist, dass in einem solchen Fall die höhere, die kollektive Ebene keine allgemein verbindlichen Beschlüsse ohne Mitentscheidung der nachgeordneten Einheiten treffen kann. Damit bilden sich Strukturen der „Politikverflechtung“ heraus, die zwar einerseits Entscheidungsblockaden begünstigen, andererseits aber dennoch eine Systemdesintegration verhindern. Exemplarisch dafür ist die föderal verfasste Bundesrepublik mit den Bundesländern, die u.a. über den Bundesrat an der zustimmungsbedürftigen Gesetzgebung des Bundes mitwirken. Obwohl selbst kein föderaler Staat im staats- und verfassungsrechtlichen Sinne, weist die in der EU institutionalisierte Politikverflechtung zwischen den Mitgliedsländern und den europäischen Organen grundlegende Strukturmerkmale eines solchen Mehrebenensystems auf: Die Entscheidungen des Ministerrates als dem höchsten Beschlussorgan der Europäischen Union erfordern – auch nach der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte, mit der auf begrenzten Regelungsfeldern zu Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit übergegangen wurde – auf allen entscheidenden Politikfeldern nach wie vor formal und faktisch Einstimmigkeit.14 Daher 13 14
Vgl. zum Konzept: Scharpf 1994; Jachtenfuchs/Kohler-Koch 1996; Leibfried/Pierson 1997; Wessels 2007. Nach wie vor unterliegen etwa 50 Entscheidungsmaterien der Einstimmigkeitsregel, so z.B. der gesamte Bereich der GASP, der Justiz und der Inneren Sicherheit, sämtliche konstitutionellen Fragen wie Vertragsänderungen und Institutionenreformen, Beitritte, Staatsbürgerschaftsfragen, sozialpolitische Fragen (Implementation sozialpolitischer Abkommen), die Grundsatzentscheidungen betreffend die Strukturfonds usw. (vgl. Hix 1999: 366ff.; Europäische Kommission 2000: 18ff.). Abgesehen davon bedeutet natürlich auch jede Entscheidung mit qualifizierter Mehrheit eine schwer überwindbare Hürde, die mit hohen Entscheidungskosten verbunden ist. Siehe dazu Sartori 1992: 220f., der feststellt: „Wird eine qualifizierte Mehrheit gefordert, so sind Entscheidungen schwer durchzubringen, und viele werden blockiert. Wenn jede beliebige Mehrheit genügt, dann gibt es immer eine Entscheidung“. Von einem „Übergang zu einem Mehrheitssystem“, wie
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sind und bleiben die Mitgliedsstaaten die mächtigsten Akteure des Systems. Und weil jede einzelne Regierung jederzeit eine Vetoposition einnehmen kann,15 ist – abgesehen von den vertraglich exakt geregelten Anwendungsfällen der qualifizierten Mehrheitsentscheidung – keine Beschlussfassung der europäischen Ebene ohne Beteiligung der Mitgliedsstaaten möglich. Die Kommission ist in diesem Verhandlungsspiel von souveränen Staaten ein zusätzlicher, freilich nichtstaatlicher, aber ebenfalls mit Vetomacht ausgestatteter Player.16 Festgehalten sei: Die Mitgliedsstaaten treten im Rat als organisierte Interessenvertreter auf. Dadurch wird der europäische politische Prozess von nationalen Regierungseliten dominiert. Diese präsentieren als „nationales Interesse“ Ergebnisse der Interessenaggregation und -organisation, die jeweils für eine Wahlperiode als politische Ziele und Präferenzen definiert wurden und im politischen System des eigenen Landes nach Maßgabe der Mehrheitsregel durchsetzbar sind (vgl. Windolf 2000). Die „Definitionsmacht der Interessen“, von der Noberto Bobbio spricht, und die er in einer zunehmenden Verdrängung des öffentlichen Gemeinwohldiskurses durch das „imperative Mandat“ korporativer Akteure sieht, kommt in der EU in mehrfacher Hinsicht zum Ausdruck: Einerseits dadurch, dass die Regierungseliten in hohem Maße von gesellschaftlichem Sanktionsdruck, wie er in den nationalen Systemen durch die parlamentarische und die medial vermittelte Öffentlichkeit wirksam wird, freigesetzt sind. Mit anderen Worten, die Mitgliedsstaaten nehmen ohne nennenswerte demokratische Responsivitätszwänge und zusätzlich noch unterstützt durch
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dies Th. König (1997) behauptet, kann daher im Falle der EU keine Rede sein (dazu ausführlicher Bach 1999: 152ff.). Im Vertrag von Lissabon wurden in zentralen Bereichen der Innen- und Justizpolitik sowie der Sozialpolitik sogar wieder Veto-Möglichkeiten eingeführt (vgl. Hofmann/Wessels 2008: 13). Nach dem „Luxemburger Kompromiss“ ist dies auch in Fällen möglich, bei denen eine qualifizierte Mehrheit ausreichen würde (Hix 1999: 60). Der sog. Kompromiss von Ioannina, der im Vertrag von Lissabon aufgegriffen wurde, eröffnet zudem die Möglichkeit einer Form des ‚suspensiven Vetos’ (vgl. Hofmann/Wessels 2008: 16) Die Vetomacht der Kommission basiert im Wesentlichen auf der Befugnis, Vorschläge gegebenenfalls wieder zurückzuziehen und damit eine Abstimmung im Ministerrat zu verhindern oder mittels Durchsetzung des Einstimmigkeitserfordernisses zu erschweren. Damit spielt die Kommission nicht nur eine passive Vermittlerrolle, sondern partizipiert dem Status nach wie ein 16. Mitgliedstaat an den Verhandlungsprozessen des Rates (vgl. Kerremans 1996: 230).
eine verbreitete Europa-Indifferenz in den nationalen Wählerschaften17 an den Verhandlungssystemen teil. Das hat auf der anderen Seite die Konsequenz, dass Auseinandersetzungen über wichtige europapolitische Themen und damit über grundlegende politische Zukunftsfragen unseres Kontinents einer breiteren politischen Interessen- und Wertevermittlung, die auch diffuse gesellschaftliche Interessen zu berücksichtigen hätte, weitgehend entzogen sind. Systematisch unterthematisiert bleiben so unter anderem die der europäischen Einigung zugrunde liegenden Wertbeziehungen, die Frage nach den wertrationalen Gestaltungsprinzipien der Institutionenordnung, aber auch die mittel- und langfristigen Konsequenzen der europäischen Integration für die politischen und gesellschaftlichen Ordnungen der Mitgliedsstaaten.18 Stattdessen vereinbaren die Staats- und Regierungschefs, meist im Rahmen des Europäischen Rates, fallweise Leitziele der europäischen Politik. Diese werden nach mehr oder weniger kontingenten (innen-) politischen Opportunitäten oder Problemwahrnehmungen – häufig im zeitlichen Umfeld von Gipfeltreffen – und meist ohne kritische Reflexion der Wertbezüge und sozialen Wirkungen dem bereits bestehenden lose gekoppelten Katalog an Leitideen hinzugefügt (so beispielsweise bei Fragen der Subsidiarität, der Osterweiterung, der Beschäftigung oder zuletzt auch der Energie und des Klimas). Unter diesen Voraussetzungen können freilich keine „neue(n) sozialpolitische(n) und sozialmoralische(n) Solidaritätsnormen, über die sich Identifikationen ausbilden“, entstehen (Lepsius 1999: 211). Das ist aber auf der anderen Seite auch die Grundlage für den immer wieder feststellbaren parteienübergreifenden Konsens in europolitischen Fragen unter den politischen und wirtschaftlichen Führungsgruppen in den Ländern der Union. Dieser informelle Konsens spricht für eine beachtliche Kohäsion der europäischen Eliten über nationale und parteipolitische Differenzen hinweg. Eine weitere, ebenfalls nicht beabsichtigte Konsequenz der Dominanz von Regierungsinteressen und des Einstimmigkeitsprinzips im europäischen Mehrebenensystem wird in der Literatur, wie wir sahen, unter dem Begriff der „Politikverflechtungsfalle“ diskutiert. Dabei handelt es sich nach 17 18
Siehe u.a. Noelle-Neumann 1999; dies. 2000; DeVreese 2007; Gabel/Scheve 2007. In der Politikwissenschaft wird dieser Komplex unter dem Stichwort „Europäisierung der politischen Systeme der Mitgliedsstaaten“ behandelt (vgl. Cowles/Caporaso/RisseKappen, 2001)
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Scharpf (1994) um strukturelle Pathologien des Entscheidungssystems, die sich der institutionellen Dynamik von solchen Verhandlungssystemen als inhärent erweisen. In erster Linie betreffen diese die suboptimalen, d.h. die ineffizienten und problemunangemessenen Entscheidungsergebnisse, die Unfähigkeit zu einer Institutionenreform sowie die systematische Privilegierung von Mitgliedsländern mit status quo-Interessen, was insgesamt einen beträchtlichen Immobilismus, besonders in Krisensituationen, zur Folge hat. Unter diesen Voraussetzungen wird das für Minimum-Gewinn-Koalitionen maximal erreichbare Pareto-Optimum sogar noch unterschritten. Unter Bedingungen der Politikverflechtungsfalle stellt eben eher das Erzielen pareto-inferiorer Ergebnisse den Regelfall dar. Wenn aber Problemlösungen im materiellen Sinne dadurch strukturell verhindert werden und somit die meisten Verhandlungsergebnisse von einer sachfernen, rhetorikdominierten und primär von der Logik verhandlungsstrategischen Handelns geprägt sind, dann haben wir es wohl mit einem generellen Gemeinwohl-Defizit der europäischen Beschlüsse zu tun. Wie lassen sich nun aber unter diesen eher integrationshemmenden Voraussetzungen die unbestreitbaren Fortschritte der europäischen Einigung erklären? In der einschlägigen Forschungsliteratur werden die Erfolge einem Bündel unterschiedlicher Variablen zugeschrieben. Angeführt werden in erster Linie: die politikunternehmerischen Aktivitäten der Kommission, der juridical activism des EuGH, die Selbstbeschränkung auf eine kostengünstigere „regulative“ Steuerung anstelle von verteilungswirksamen Politiken, die ihrerseits materielle Verteilungskonflikte neutralisierbar machen sollen, sowie schließlich die Herausbildung von sog. epistemic communities auf der Grundlage einer Homogenisierung von Problemlösungsmustern nach Maßgabe systemexterner, vornehmlich szientifischer Optimalitätskriterien. Die vorliegenden empirischen Befunde deuten aber auch darauf hin, dass vor allem durch eine ebenen- und sektorenübergreifende Diffusion konsoziativer Kommunikations- und Entscheidungsmuster im Gesamtsystem sich jene spezifischen Pathologien des Entscheidungsprozesses überwinden lassen, die als „Politikverflechtungsfalle“ bezeichnet werden (vgl. Wessels 2007). Meine generalisierte These dazu lautet: Die strukturellen Entscheidungsdefizite, die Scharpf zufolge in der „Politikverflechtungsfalle“ begründet sind, in der das europäische Mehrebenesystemen aufgrund seiner „institutionellen Logik“ gefangen bleibt, werden durch eine Systemdiffusion kon-
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sensualer Modalitäten teilweise überwunden. Mit anderen Worten: Die spezifische Mehrebenenstruktur des EU-Regimes lassen keine anderen Modalitäten der Interessenvermittlung und Konfliktlösung zu als eben konsoziative. Daher erscheint es mir plausibel, wenn Schmidt die EU als „konsoziativen Staat“ kennzeichnet (Schmidt 2000: 435). Dabei kann unter bestimmten Voraussetzungen, folgt man etwa Grande (1995: 340f.), eine Umstellung des dominierenden Verhandlungsmodus auf einen „Problemlösungsmodus“ erfolgen, der durch opportunistische statt strategische, prozessorientierte statt ergebnisorientierte, realistische statt maximalistische Akteursstrategien gekennzeichnet ist. Gemeinsame materielle, normativ verbindliche Referenzprinzipen oder Rationalitätskriterien können eine Disposition zur Konsensfindung und kooperativen Problemlösung erleichtern.19 Das kann systemintern aber auch, worauf ebenfalls Scharpf schon vor längerer Zeit hingewiesen hat (Scharpf 1994: 36), durch eine „institutionelle Trennung zwischen Problemlösungs- und Verteilungsentscheidungen“ begünstigt werden, mithin durch eine weitere institutionelle Aufspaltung der funktionalen Einheit von Souveränität. Letztgenannte Differenzierung der Souveränitätsprärogative entspräche der weiter oben hervorgehobenen Trennung von Entscheidungsbefugnissen und Initiativmacht: Die Beschlusskompetenz des Ministerrates erstreckt sich in der Regel auf die Lösung von Verteilungskonflikten mittels bargaining, während die Kommissionsinitiative stärker (freilich nicht: ausschließlich!) eine materiale Problemlösung anstrebt. Diese Umstellung, und darauf kommt es hier besonders an, erfolgt aber immer um den Preis eines weiteren Verlusts an Demokratie; denn dadurch werden die allgemeinen Demokratiedefizite des konsoziativen Modus des europäischen Verhandlungssystems keineswegs kompensiert oder korrigiert, sondern durch Strategien ersetzt, die ihrerseits auf weitere spezifische Pathologien bzw. Paradoxien demokratischer Systeme hinweisen: auf Bürokratisierung, Informalisierung und Arkanisierung der Entscheidungsprozesse.
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Eine herausragende Rolle spielen dabei die vom EuGH im Zuge von Vertragsauslegungen kodifizierten Rechtsprinzipien oder „focal points“, wie die „gegenseitigen Anerkennung“ von Produktstandards oder der Vorrang des europäischen gegenüber dem nationalen Recht (vgl. Garrett/Weingast 1993; Windolf 2000; Münch 2008).
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c) Bürokratisierung, Informalisierung und Arkanisierung der Entscheidungsprozesse Der konsoziative Vermittlungsmodus im Binnensystem der EU ist ebenfalls auf die Aufspaltung der Einheit von Initiativ- und Beschlusskompetenzen bzw. von Problemlösungs- und Verteilungsentscheidungen, von denen weiter oben die Rede war, zurückzuführen. Dadurch ist der legislative Prozess des europäischen Verbandes stets das Ergebnis des Zusammenwirkens von Rat und Kommission (gegebenenfalls unter Hinzuziehung des Europäischen Parlaments), mithin der „verschränkten Gesetzgebung“ dieser Organe. Die wichtigste Grundlage der politischen Entscheidungsfindung ist damit die Vermittlung institutioneller Konflikte. Auch in dieser Hinsicht erweist sich das Abweichen von der traditionellen Gewaltentrennung als äußerst folgenreich: Das Verhältnis von Legislative, Exekutive und Bürokratie wird nicht durch eine wirksame politische Öffentlichkeit und den parlamentarischen Parteienkampf gesellschaftlich gebrochen. Auftretende Widersprüche und Interessengegensätze zwischen den beteiligten Regierungen und Organen, die in den formalen Entscheidungsverfahren die Blockadefalle zuschnappen ließen, werden in aller Regel in einer komplexen Substruktur von Gremien, Ausschüssen und Netzwerken auf direktere, vor allem aber auf informelle Weise zwischen den Mitgliedern des europäischen Funktionselitenkartells zu einem Ausgleich gebracht. Auch hierbei ist das dominierende Verfahrenskriterium der Konsens, also jener „organische“ Kompromiss zwischen politisch-administrativen Funktionseliten im Weberschen Sinne, der dem für den modernen parlamentarischen Staat kennzeichnenden „Wahlkompromiss .. mit der ultima ratio des Stimmzettels im Hintergrund“ diametral entgegensetzt ist, weil dabei auf einer öffentlichen Austragung von Interessen- und Wertkonflikten verzichtet werden kann“ (Weber 1984: 368). Die Wirksamkeit des „organischen Kompromisses“ ist naturgemäß umso höher, je mehr sich damit „dissensproduzierende Wertbeziehungen unterlaufen“ lassen (Lepsius 1999: 216) Die Effizienz der Kommissionstätigkeit bemisst sich zudem in erster Linie am Maßstab des Erfolges ihrer regulativen und bürokratischen Initiativen, letztlich an der Organisationsleistung, dem Ministerrat möglichst abstimmungsfähige Verordnungs- und Richtlinienvorschläge vorzulegen. Da bei dessen Beschlussfassung aber die Entscheidungsschwelle relativ hoch ist, muss den Kommissaren prinzipiell daran gelegen sein, nur Vorlagen zu erarbeiten, die im weiteren Entscheidungsprozeß möglichst große Konsens-
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chancen haben.20 Zu diesem Zweck nutzen die Stäbe der Kommission auf den verschiedenen Hierarchiestufen, von den Kabinetten der Kommissare, dem Generalsekretariat und den Generaldirektionen abwärts bis zu den fachlichen Diensten und den nationalen Ministerialabteilungen, politischadministrative Netzwerke (supportive networks) als wichtigste extra-bürokratische Instrumente der Koordination (vgl. Puntscher Riekmann 1999: 73ff.). In diesen Netzwerken sind die gouvernementalen Akteure, unter massiver Beteiligung privater Verbände und Experten, in einem institutionell abgegrenzten, kontinuierlichen und weitgehend informalen Kontakt- und Kommunikationszusammenhang eingebunden, der die tradierte staatliche Struktur hierarchisch gestufter Kompetenzräume mit relativer Zurechenbarkeit von Verantwortlichkeit und Haftung auflöst. „Bargaining through networks in a densly structured game“, bemerkte bereits Middlemas (1995, xvi), „reduces friction and produces results for which the formal system may be ill attuned, even on ostensibly formal matters such as easier implementation and enforcement of laws. It allows for wide, flexible participation; it reduces inconsistencies; it gives rise to conventions, rather than formal rules, which can be adapted more easily over time.“ Der Autor fügt bemerkenswerterweise noch hinzu: „But it is not protective of weaker interests and it privileges the more efficient ones“. Es fehlt nicht an einschlägigen empirischen Studien, welche die Relevanz und Methode der Netzwerkbildung im Rahmen der Kommission in verschiedenen Politikbereichen (Telekommunikation, Umwelt, Forschung und Technologie, PHARE u. dgl.) belegen. Das allgemeine Muster ist bekannt. Héritier fasst es folgendermaßen zusammen: „The Commission issues a Green Paper and initiates a process of consultation seeking the expertise and positions of different actors. It organizes round-tables and conferences on specific issues to bring together all concerned actors, and a working group is then formed which submits a policy draft as a basis for future EU legislation.“ (Héritier 1999: 273) Der segmentäre Charakter der europäischen Netzwerke leistet damit aber einer beträchtlichen Fragmentierung des Politikprozesses Vorschub. Darüber hinaus bieten die Netzwerke für die nationalen Verwaltungen, insbesondere für die Ministerialbürokratien, selbst 20
Im Falle von qualifizierten Mehrheitsbeschlüssen richtet sich das Interesse der Kommission entsprechend auf die Mobilisierung der nötigen Stimmen bzw. die Verhinderung einer Sperrminorität.
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eine unverzichtbare Möglichkeit, bereits zu einem relativ frühen Zeitpunkt auf die Politikentwicklung und auch auf die Umsetzung von Ratsentscheidungen durch die Kommission Einfluss zu nehmen. Im weiteren Verhandlungs- und Beschlussfindungsprozess wird das Paket dann geschnürt und durchläuft schließlich eine Auf- und Abstufung durch die verschiedenen gouvernementalen und sub-gouvernementalen Entscheidungsarenen. Die differenzierten Abstimmungs- und Verfahrensregeln in diesem Prozess ermöglichen dann fallweise Öffnungen und Schließungen von Verhandlungspositionen, und zwar in der Regel ohne die einmal vorgenommene Bündelung der politikfeldübergreifenden Verhandlungsgegenstände in dem Paket grundsätzlich in Frage zu stellen. Erst in der Abschlussphase von Verhandlungen, wenn der Europäischen Rat und das Europäische Parlament daran beteiligt sind, gelangen auch informelle Dramatisierungsstrategien, wie etwa Zeitdruck, strategische und selektive Öffentlichkeitsmobilisierung und persönliche Interventionen der Staats- und Regierungschefs, mit ins Spiel. Diese verstärken zwar noch den Koordinierungs- und Konsenszwang, verbessern aber nicht die demokratische Qualität der zwischenstaatlichen Paktierungen. Die Dominanz der Exekutiven bleibt somit ungebrochen (Schmidt 1997: 157; Rometsch 1996: 69ff.; Bertolini 2005, Kap. 3). Das bedeutendste institutionelle Stützwerk der sub-gouvernementalen Diffusion konsoziativer Vermittlungsmodi im europäischen Entscheidungsprozess ist die Komitologie der Kommission. Das formelle und informelle Ausschusswesen in der EU ist ein zentraler Bestandteil der KommissionsNetzwerke, in die die Mitgliedsstaaten, vor allem über Abgesandte ihrer Bürokratien und politischen Führungsstäbe, sowie nationale und europäische Verbandsinteressen in die Entscheidungsprozesse eingebunden (Bücker/ Schlacke 2000: 196; Blom-Hansen 2008) sind. Soweit daran Funktions- und Expertenstäbe der Kommission federführend mitwirken, was in der Regel der Fall ist, und dies in eine ahierarchische, horizontale Vernetzung mit den nationalen Ministerialbürokratien mündet, handelt es sich dabei nicht um rein innerbürokratische Entscheidungskontexte und auch nicht um eine Variante von administrative government, wie etwa Weiler annimmt (Weiler 1999: 278). Aufgrund des prononciert politischen Charakters der politikunternehmerischen Initiativen der Kommission ist vielmehr auch die Ausschusspraxis der Kommission als ein extra-bürokratisches Koordinationsinstrument präziser bestimmt. Die Kommission ist eine „politische Verwaltung“ (Bücker und Schlacke 2000: 164).
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Neuere empirische Studien belegen, dass im europäischen Entscheidungssystem, neben der „Komitologie“ im engeren formalen Sinne,21 ein sehr viel ausgedehnteres, verzweigtes, politikfeldspezifisches, aber doch ebenenübergreifendes, national-supranationales Ausschusssystem, eine Art transnationales Komitee-Regime existiert. Diesem System gehört zumeist gemischtes Personal aus den Stäben, der Linie, aber auch aus der politischen Führungsebene (v.a. der Kabinette), Verbandsvertreter und sonstige, auch wissenschaftliche Fachexperten an. Die Verhandlungsprozesse im Ausschusssystem der EU lassen daher ein komplexes Interaktions- und Koordinationsmuster erkennen, in dem sich so gut wie sämtliche politikfeldrelevanten Akteure integriert finden. Generell ist aber festzustellen, dass in der Komitologie im weiteren Sinn die Exekutiven bei weitem dominieren und das Komitee-Regime der EU damit der institutionelle Ausdruck einer extrem bürokratielastigen Form der Politikformulierung ist (dazu ausführlicher: Bach 1999; außerdem Kap. V in diesem Band) Nun ist die Praxis des Ausschussverfahrens natürlich keine exotische Eigenart der europäischen Entscheidungsprozesse, sondern ein in vielschichtigen Entscheidungssystemen häufig angewandtes Instrument zur Reduktion von Komplexität im Luhmannschen Sinne.22 Ausschüsse sind in allen politisch-administrativen Systemen zu finden. Nach wie vor grundlegend ist die Analyse der Funktionsweise von Ausschüssen von Giovanni Sartori. Nach Sartori (1992: 228) ist „das Ausschusssystem der verbreitetste, wichtigste und zugleich missverstandenste Teil des Stoffes, aus dem die wirkliche Politik gemacht wird.“ Sartori definiert Ausschüsse durch folgende Strukturmerkmale: a) intensive Gruppeninteraktion mit persönlichen Kontakten, b) dauerhafte Institutionalisierung und c) einen kontinuierlichen Entscheidungskontext, der kooperative Positiv-Summen-Spiele ermöglicht (vgl. ebd.: 227ff.). Die spezifische Koordinationsleistung von Ausschüssen sieht er darin begründet, 21
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Darunter versteht man ein durch Ratsbeschluss formal geregeltes Verfahren der Konstitution und Konsultation von Fach- und Verwaltungsausschüssen durch die Kommission, bei dem eine Übertragung von legislativen Durchführungsbefugnissen durch den Rat an die Brüsseler Behörde erfolgt. Dazu ausführlich Falke/Winter 1996; Pedler/Schäfer 1996; Schendelen, (Hg.) 1998; Joerges/Falke 2000; Huster 2007. In dem bis heute unübertroffenen Werk „Legitimation durch Verfahren“ sieht Niklas Luhmann in informalen Kontaktstrukturen, die sich in Ausschüssen herausbilden, sogar funktional unersetzliche „Kleinstrukturen“ von Entscheidungssystemen mit einer legitimitätsstiftenden Kraft (Luhmann 1975: 186f.).
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dass ihre Mitglieder Tauschgeschäfte über die Zeit hinweg tätigen. Das wird durch den Umstand begünstigt, dass Ausschüsse nicht nur „im Halbschatten“ des politischen Geschehens und völlig „unspektakulär“ (Sartori) arbeiten, sondern auch eine ausgeprägte funktionale und sektorale Fragmentierung aufweisen. Sartori spricht in diesem Zusammenhang vom „Prinzip oder Mechanismus der zeitverschobenen gegenseitigen Kompensation“ (ebd.: 229). Grundlegend ist aber auch hier: eine Vermeidung oder Umgehung der Mehrheitsentscheidung durch Praktiken der Konsensfindung mittels Sachkompromissen, Kompensationszahlungen und Koppelgeschäften. Dabei wird ebenfalls häufig ein diffuses Prinzip der Reziprozität, also ein normatives Moment beansprucht. Dadurch wird zwar die Partizipation aller Beteiligten weitgehend ermöglicht und eine breite Interessenberücksichtigung gewährleistet; doch ist auch governance through committees letztlich dadurch charakterisiert, dass der Kreis der relevanten oder möglichen Beteiligten auf die systemischen oder korporativen Akteure, die über verhandlungsrelevante Ressourcen in den jeweiligen Politikfeldern verfügen, begrenzt bleibt. Fragt man danach, wie sich ein Ausschusssystem unter demokratietheoretischen Gesichtspunkten beurteilen lässt, so ergibt sich indes kein eindeutiger Befund. Nur soviel lässt sich sagen: Auf der einen Seite breiten sich Ausschüsse in Demokratien viel mehr als in Autokratien aus (ebd.: 233). Darüber hinaus sind solche Entscheidungskontexte aus der Sicht der Entscheidungstheorie der Demokratie „zweifellos der optimale Boden für eine reale Mitwirkung“ vieler Akteure. Andererseits gilt dies jedoch nur unter der Voraussetzung, dass es sich um repräsentative und responsive Ausschüsse handelt, die „auf die Bevölkerung achten und ihr verantwortlich sind“ (ebd.: 234). Hier befindet sich gleichsam die entscheidende Schnittstelle zum demokratietheoretisch Bedenklichen. Definitiv als pathologisch wären Ausschusssysteme freilich dann zu beurteilen, wenn sie sich als systemintern abgeschottete Entscheidungsgruppen mit dominant informellen Kontakt- und Kommunikationsstrukturen etablieren, deren Entscheidungskriterien und -verfahren zudem intransparent sind und die sich der öffentlichen Kontrolle entziehen. Die zuletzt genannten Merkmale treffen für das Komitee-Regime der Kommission in einem sehr hohen Maße zu, wie mehrere Fallstudien übereinstimmend bestätigen (vgl. statt vieler die ältere, aber immer noch sehr instruktive Arbeit von Schendelen/Pedler 1998: 287ff.). Generell werden die wesentlichen Pathologien des Komitologiesystems in drei typischen Deformationen gesehen: Erstens in der Verantwortlichkeitsschere, die sich zwi-
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schen der großen gesellschaftlichen Reichweite der im Ausschusswesen beschlossenen Regulierungen und ihrer politischen Bedeutung einerseits und andererseits ihrer minimalen Verantwortlichkeit und kontrollierbaren Gemeinwohlorientierung öffnet (vgl. Weiler 1999: 278). Zweitens privilegieren die restriktiven, durch das Organisationsmonopol der Kommission und der nationalen Exekutiven selektiv definierten Zugangschancen der Ausschüsse in erster Linie ressourcenmächtige und strategiefähige korporative Akteure. „Players in the informal sector of a system“, resümiert Middlemas die von ihm durchgeführten umfassenden und nach wie vor gültigen Feldstudien, „are those who choose to enter out of self-interest, who have the willpower and resources to stay in and the capacity to make themselves heard in the highly competitive arena. Lack of resources or inability to form stable alliances condemns the rest to marginal status ..“ (Middlemas 1995: xiv). Die Mitglieder der Ausschussnetzwerke sind naturgemäß primär von Regierungen, Verwaltungen und Verbänden delegiert, repräsentieren mithin hauptsächlich korporative bzw. systemische Interessen. Drittens ist im Ausschusswesen der Kommission eine deutliche Vorherrschaft von Ressortvertretern und Experten festzustellen, die einen dominant bürokratischen bzw. technokratischen Politikstil pflegen. Instrumentelle Rationalitätskriterien prägen die Auseinanderstetzungen in Ausschüssen. Deliberative Reflexionsund Kommunikationsfähigkeit treten dabei eher in den Hintergrund. „Political deliberation“, so lautet ein plausibler Befund aus der empirischen Forschung zum „Kommunikationsdefizit“ der EU, „occurs only at the very end of a technocratic policy-drafting. After months or years of expert’s work, potential public relation reactions are often properly considered only a few days before the proposal’s planned adoption“ (Meyer 1999: 628). 23 Deliberative Inklusionsstrategien in solchen Gremien führen möglicherweise, aber immer nur fallweise zu Konsensen nach Maßgabe instrumenteller Rationali23
Vgl. Puntscher Riekmann (1998: 158): Erst wenn der im „Interstitium der Macht ... ausgehandelte Kompromiss die Reife des Rechtsaktes erlangt hat, erst wenn alle Tauschgeschäfte abgeschlossen und alle Pakete geschnürt sind, erst wenn das Experiment ein vorzeigbares Ergebnis hervorgebracht hat, erst dann können die Experimentatoren das Interstitium verlassen und in ihre formalen Räume zurückkehren.“ Belehrt durch diese forschungsgestützten Evidenzen, vermag freilich die von Joerges und Neyer vertretene These, derzufolge die Komitologie als ein „supernationales Forum deliberativer Politik“ und „Problemlösung“ aufzufassen sei, nicht mehr zu überzeugen (vgl. Joerges/Neyer 1998; Neyer 2000; Rivaud/Lequesne 2003).
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tätskriterien. Da sie aber über keine demokratischen Mandate verfügen, können sie auch keine parlamentarische Legitimität von Beschlüssen substituieren (vgl. Lepsius 2000b). Puntscher Riekmann ist somit zuzustimmen: „Die Komitologie ist der praktische Ausdruck der bürokratischen Arkanherrschaft par excellence, und ihre Deliberationen im Interstitium entbehren der demokratischen Verantwortung, die ihre Akteure im Namen des ‚Sachzwangs’ rechtfertigen“ (Puntscher Riekmann 1998: 177). Damit repräsentieren die europäischen Politikund Verwaltungsnetzwerke in Gestalt des kapillaren Ausschusswesens der Kommission letztlich eine partizipationshinderliche „Tiefendimension“ der politischen Entscheidungsprozesse. Das führt uns wieder zu Bobbio, der diese Dimension von der landläufigen Klassifikation der öffentlichen Gewalten in „horizontale“ und „vertikale“ unterschied (Bobbio 1984: 75ff.). Die „Tiefendimension“ der „unsichtbaren Herrschaft“ verweist auf den opaken und informellen Machtraum von politischen Institutionen. In diesem Interstitium werden die Konflikte systematisch gleichsam entpolitisiert. Gleichzeitig wird politische Verantwortlichkeit nachhaltig verschleiert (vgl. Puntscher Riekmann 1998: 157ff.; Bartolini 2005: 174ff.). 3
Entdemokratisierung oder neue Formen der Demokratie
Gegen die bisher angeführte Argumentation ließe sich einwenden, dass sie einem veralteten Demokratieverständnis verhaftet sei und sich gerade unter Berücksichtigung des eigentümlichen Systems der Willensbildung und Entscheidungsfindung im europäischen Herrschaftsverband eine „alternative Perspektive“ empfehle (so etwa Héritier 1999). Eine solche Sichtweise legt beispielsweise den mutual horizontal control-Ansatz oder auch den bargaining democracy-Ansatz der angelsächsischen Politikwissenschaft nahe. Diesen Modellen zufolge stellen polykratische Regierungssysteme und Verhandlungsregime funktional angemessene Äquivalente für traditionell demokratisch legitimierte Ordnungen dar. Für eine solche Relativierung der normativen Standards traditioneller Demokratievorstellungen im Lichte post-nationaler Regierungsformen würde auch sprechen, dass die systemtypische Balance der Organe in der EU und die prozedurale Mediatisierung von Misstrauen an sich schon demokratische Legitimität begründen können – Legitimation durch Verfahren eben.
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Auch beschränken die Fragmentierung des politischen Prozesses und die komplexen Konsultations-, Vermittlungs- und Entscheidungsverfahren die Vorherrschaft partikularer Einflüsse. Gleichzeitig begrenzten die wechselseitigen Kontrollen, Einbindungen und differentiellen Allokationen von Kompetenzen die Machtentfaltung einzelner Organe oder Akteure. Auf der anderen Seite gewährleiste die auf allen Ebenen des supranationalen Systems beherrschende Praxis der Verhandlung und des politischen Tausches eine extensive und breite Interessenberücksichtigung, die ebenfalls als eigenständige demokratieförderliche Legitimationsquelle angesehen werden könnte (vgl. Scharpf 1998: 235; Wessels 2007). Und selbst das proliferierende Ausschusswesens der Union ist, wie wir sahen, nicht uneingeschränkt und rundweg als undemokratisch zu beurteilen. Eine solche Betrachtung der Legitimationsprobleme des europäischen Entscheidungssystems muss allerdings im Lichte der hier angesprochenen Entdemokratisierungsprozesse als eine Art von rationalisierender Beschönigung der Legitimationsprobleme der europäischen Integration erscheinen. Die vermeintlich „alternative Perspektive“ ist auch nicht geeignet, die Strukturdilemmata der europäischen Demokratielücke aufzulösen. Bei genauerer Betrachtung kann nämlich keine Rede davon sein, dass, wie Héritier (1999: 269) weiter annimmt, die beschriebenen Prozesse und Strategien „reinforce democratic support and accountability“. Im Gegenteil – so lässt sich die in diesem Kapitel entwickelte Argumentation resümieren – akzentuiert die Institutionalisierung extrabürokratischer Initiative und Koordination im europäischen Herrschaftssystem gerade die strukturellen Funktionsdefizite demokratischer Regierungspraxis, und zwar mindestens in folgenden vier Hinsichten: a) Die systematische Privilegierung gouvernementaler und korporativer Akteure im europäischen Verband, die über systemrelevante Ressourcen verfügen, schließt nicht nur „schwache Interessen“ und soziale Bewegungen systematisch aus dem europäischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß aus. Dadurch wird ein Prozess der Oligarchisierung und Elitenfusion auf europäischer Ebene forciert, der einer demokratischen Elitenkonkurrenz entgegensteht. b) Die zentralen Bezugseinheiten der europäischen Politik sind die nationalen Regierungs- und Verwaltungssysteme. Die demokratische Responsivität
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parlamentarischer Eliten wird durch eine bürokratische ersetzt. Die europäische Integration stärkt nachhaltig die Dominanz der Exekutiven. Damit wird einer zunehmenden, um die supranationalen Stabsorganisationen der Kommission, des Rates und angegliederter Gremien erweiterten Bürokratisierung des politischen Prozesses in den Mitgliedsländern Vorschub geleistet. Die europäische Integration steigert damit die Tendenz zur Staatsbildung als moderne legal-bürokratische Herrschaft. c) In Verbindung mit der asymmetrischen Kompetenzenallokation im Gesamtsystem der EU begünstigt die extra-bürokratische Steuerung durch die Kommission und ihr Ausschusswesen eine sektorale und netzwerkartig strukturierte Kompromiss- und Konsenskultur, die von einer Differenzierung und Diffusion konsozietaler Herrschaftspraktiken begleitet wird. Diese Prozesse erweitern die Domäne der „unsichtbaren Mächte“ in dem europäischen System der Politikverflechtung erheblich. d) Eine öffentliche Konfliktaustragung über Politikziele und Wertpräferenzen findet im europäischen System der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung nicht statt. Diffuse und breitere soziale Wert- und Interessenlagen, wie sie von Parteien und Parlamenten artikuliert und politisiert werden, sind deutlich unterrepräsentiert. Stattdessen dominieren technokratische und expertokratische Rationalitätskriterien die Verhandlungsprozesse, was einer Entpolitisierung europapolitischer Sachverhalte gleichkommt. Damit schrumpft auch der Einfluss der nationalen Parlamente und anderer demokratischer Institutionen. Die Überlegungen dieses Kapitels knüpften an Fragestellungen der klassischen Herrschafts- und Elitentheorien an, die zwar heuristisch gewendet wurden, aber dennoch ganz im Geiste des soziologischen Realismus auf eine Problemanalyse des Status quo abzielen. Die Befunde bestätigen weitgehend die pessimistischen Erwartungen der klassischen politischen Soziologie im Hinblick auf die Nichterfüllbarkeit der Versprechen der normativen Demokratietheorie. Die europäische Integration scheint diese Versprechen sogar noch mehr zu enttäuschen als die demokratischen Nationalstaaten. Doch die EU ist ein überaus dynamisches Herrschaftssystem mit unbestimmter geographischer und institutioneller Finalität (vgl. Vobruba 2005), so dass die
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Frage nach den Zukunftsperspektiven der Demokratie in Europa letztlich offen bleiben muss. So viel lässt sich heute aber schon absehen: Nachdem der Versuch, der EU eine Verfassung zu geben, gescheitert ist, ist eine Trendwende auf längere Sicht wohl nicht mehr zu erwarten. Eine grundlegende Parlamentarisierung der EU, die über eine inkrementelle Kompetenzenerweiterung des Europäischen Parlaments hinausginge, steht weder auf der aktuellen Agenda der Institutionenreformen, noch ist in absehbarer Zeit ein tragfähiger Konsens darüber unter den Mitgliedsstaaten zu erwarten. Dagegen spricht schon die schiere Zahl der Mitgliedsstaaten, die sich im Zuge der letzten beiden Erweiterungsrunden nahezu verdoppelt hat. An die Grundverfassung rührt dagegen die stets aktuelle Frage nach der möglichen Ausweitung der Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit im Ministerrat. Zwar wurden im Lissabonner Vertrag die Anwendungsbereiche für eine Beschlussfassung nach den Regeln der qualifizierten Mehrheit im Rat gegenüber der Version von Nizza auf 21 neue und 23 bestehende Politikbereiche ausgedehnt. Gleichzeitig haben die Mitgliedsstaaten jedoch wieder Vetomöglichkeiten eingeführt, und dies teilweise sogar im selben Kapitel (Innen- und Justizpolitik). Zudem besteht weiterhin ein grundlegendes Dilemma darin, dass eine Steigerung der Entscheidungseffizienz nur um den Preis einer Verschärfung der Legitimationskrise des EU-Systems zu erreichen ist. Denn ein Übergang zum Mehrheitsprinzip „bricht die Legitimationskette der gestuften Repräsentation“ (Lepsius 2000b). Zugleich erhöht er den Rechtfertigungsbedarf bei der Hinnahme getroffener Entscheidungen durch die Abstimmungsverlierer, ohne dass ein Rückgriff auf höherrangige Gemeinwohlinteressen und Solidaritätsnormen, die ihrerseits eine „belastbare“ europäische Identität voraussetzen würden, möglich wäre (vgl. Vobruba 2005: 59ff.). Auch für die absehbare Zukunft ist daher ein Übergang von der gegenwärtigen Situation eines „Staatenverbunds“ hin zu einer vollständigen Parlamentarisierung, wie sie der deutsche Außenminister Joschka Fischer in seiner viel beachteten Rede in der Humboldt-Universität in Berlin (Fischer 2000) gefordert hat, kaum zu erwarten. Abgesehen davon, würde dies die Krise des nationalen Parlamentarismus noch verstärken. Was die Stellung der Mitgliedsregierungen im europäischen Mehrebenensystem anbelangt, zeichnet sich eher ein Trend zu einer weiteren Stärkung ihrer Verhandlungsmacht bei gleichzeitiger Schwächung der Kommission ab. Sämtliche großen Gegenwarts- und Zukunftsthemen der europäischen Einigung, von der Währungsunion über
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die Osterweiterung und den Aufbau einer eigenständigen militärischen Struktur bis hin zum Versuch einer Konstitutionalisierung der EU, verdanken sich in erster Linie der politischen Initiative der Mitgliedsregierungen. Damit hat die intergouvernementale Ebene in letzter Zeit auch verstärkt supranationale Gestaltungsfunktionen übernommen und eine fundamentale Transformation des alten, von Jean Monnet geprägten Integrationsmodells, das die Kommission als Haupttriebkraft der Integration sah, eingeleitet. Parallel dazu entwickelt sich der Europäische Rat zu einem zentralen politischen Steuerungsorgan der EU. Der Beitritt von Staaten aus Mittelost- und Südosteuropas hat, so viel lässt sich jetzt schon feststellen, nicht nur zu einer dramatischen Verschärfung der Demokratieschwäche der bestehenden EU-Institutionen geführt. Mit der Übernahme des bisher beschlossenen Normen- und Regulierungsbestandes der EU, dem sog. acquis communautaire, wurde den neuen Beitrittsländern zudem eine Pfadabhängigkeit aufgezwungen, welche im Zuge der „samtenen Revolution“ die neu errungene demokratische Freiheit zu unterminieren droht (vgl. Ecker-Erhardt 2007; Bos/ Dieringer 2007; Bach/Lahusen/Vobruba 2006).
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V. Die EU als bürokratischer Herrschaftsverband
Die EU kann in ihrer aktuellen Gestalt weder in verfassungsrechtlicher noch in institutioneller Hinsicht mit einem demokratischen Staatsverband verglichen werden. Die mittlerweile in der politikwissenschaftlichen Europaforschung gebräuchlichen Begriffe Mehrebenensystem sowie European Governance (vgl. u.a. Kohler-Koch/Conzelmann/Knodt 2003; Wiener/Diez 2004; Wessels 2007) tragen diesem Umstand semantisch wie systematisch Rechnung, indem sie jegliche Konnotation mit der herkömmlichen Vorstellung von etatistischer, namentlich nationalstaatlich organisierter Herrschaft vermeiden. Ebenso musste sich die Forschung zur EG- bzw. EU-Verwaltung erst allmählich von den verwaltungswissenschaftlichen Prämissen des „methodologischen Nationalismus“1 der auch die traditionelle Bürokratiesoziologie prägte, befreien. Seit Max Webers prägnantem und die wissenschaftliche Diskussion nachhaltig beeinflussenden Idealtypus der bürokratischen Herrschaft wurde die öffentliche Verwaltung letztlich immer als spezifische, den binnengesellschaftlichen Herrschaftsraum von Nationalstaaten strukturierende Macht- und Organisationsform, als Teil der Zentrumsbildung betrachtet (vgl. Rokkan 2000; Bartolini 2005). Dauerhaft grenzüberschreitend kooperierende und multinationale Beamtenstäbe, gar „zwischenstaatliche Verwaltungsstränge“ (Wessels 2000: 34f.) lagen jenseits des Horizonts von Max Webers Theoriebildung (vgl. Breuer 1991: 226f.). Dass die heutige EU selbst in ihrer zentralen und äußerst „bürokratisch“2 anmutenden Verwaltungsstruktur der Europäischen Kommission kaum noch Ähnlichkeiten mit 1 2
Zum Begriff siehe: Smith 1979; Agnew/Corbridge 1995: 92; Beck/Grande 2004: 33ff., 147ff., 263ff. Zur verbreiteten öffentlichen Kritik an der vermeintlichen Zentralisierung und „bürokratischen Ausuferung“ der EU siehe exemplarisch Starbatty 1994: 44ff.; Oldeg/Tillack 2003: bes. Kap. 3; Vaubel 2001; Von „bürokratischer Deformation“ als „negativer Begleiterscheinung technokratischer Strategien“ sprechen auch Beck/Grande 2004: 233f.
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jenem Idealtypus hierarchisch-ständischer Organisation von Staatsfunktionen aufweist, wie er von Max Weber im Rahmen seiner Herrschaftssoziologie am Anfang des 20. Jahrhunderts entworfen wurde, ist demnach offensichtlich. Dennoch ist Max Webers Herrschaftssoziologie damit noch keineswegs obsolet. Für Weber stellte die legale Herrschaft mittels bürokratischer „Verwaltungsstäbe“ nicht nur eine spezifisch moderne Herrschaftsform dar (hier und im Folgenden stütze ich mich vor allem auf die klassische Studie von Schluchter 1985). Außer der typologischen Bestimmung der Struktureigenschaften dieser Herrschaftsform, erlangte Webers Bürokratietheorie paradigmatische Bedeutung aufgrund ihrer Problematisierung der gesellschaftlichen Eigendynamik bürokratischer Herrschaft. Diese betrifft in erster Linie die Tendenz zur Verselbständigung des Verwaltungsstabes gegenüber den politisch legitimierten Führungsebenen. So besteht immer die Gefahr, dass jene Verwaltungsstäbe, welche die sachlichen Ressourcen handhaben, diese in eigenem Namen und im eigenen Interesse einsetzen.3 Damit bedeutet bürokratische Herrschaft nach Weber nicht allein die Verwirklichung politisch legitimierter Ziele mittels bürokratischer Organisationen und Stäbe, sondern immer auch Herrschaft der Verwaltungsstäbe. Eine weitere Variante bürokratischer Herrschaft ergibt sich schließlich noch dort, „wo politisches Handeln faktisch nur noch als zentrales Verwaltungshandeln erscheint und alle gesellschaftlichen Bereiche mehr oder weniger intensiv zum ‚Objekt der Bearbeitung’ degradiert werden, was zur „Beherrschung der Politik durch den ‚Geist der Bürokratie’“ führt (vgl. Schluchter 1985: 77f.). Somit kann festgehalten werden, dass das klassische Paradigma der bürokratischen Herrschaft sich weder auf ein rein deskriptives Modell von Strukturprinzipien der modernen Staatsverwaltung, noch auf ein allein nationalstaatliches Ordnungsmodell reduzieren lässt. Vielmehr ergibt sich gerade aus Max Webers Thematisierung der bürokratischen Herrschaft unter den wechselnden analytischen Perspektiven, der historischen und strukturellen sowie der makrogesellschaftlichen und organisationsinternen, ein auch an die neuere verwaltungswissenschaftliche Forschung anschlussfähiges und 3
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Diese Frage wird in der neueren Verwaltungswissenschaft häufig auch unter der institutionenökonomischen Problemstellung des „Prinzipal-Agenten-Verhältnisses“ behandelt. Für eine Integration dieses Paradigmas in die Verwaltungssoziologie plädiert Schuppert 2000: 248ff.; vgl. Hooghe 2001.
generalisierbares Potential für die gegenwärtige Institutionenforschung. Gerade unter diesem Blickwinkel ist die Europäische Union zweifellos eines der interessantesten Beispiele für die Herausbildung eines neuartigen nichtstaatlichen und multinationalen Typs von bürokratischer Organisation und Herrschaft unter den Bedingungen der neuen europäischen Konstellation von politischen Instititutionen (vgl. Haller 2008: Kapitel 5). In diesem Kapitel soll zunächst die spezifische Aufgaben- und Kompetenzausstattung der Brüsseler Kommission als das am stärksten bürokratisierte politische Organ der EU betrachtet werden (1). Steht hier die formale, gleichsam konstitutionelle Stellung der Kommission im Vordergrund, so wird im darauf folgenden Abschnitt (2) die Verwaltungsstruktur der Brüsseler Behörde, insbesondere die politische und funktionale Binnendifferenzierung, die organisationsinterne Ressourcenallokation sowie das Selbstverständnis und die Einstellungen des Personals der Kommission in empirischer Hinsicht näher betrachtet. In diesem Zusammenhang soll auch der Frage nachgegangen werden, ob von einem „supranationalen öffentlichen Dienst“ im Sinne der Herausbildung einer eigenen europäischen Verwaltungskultur mit spezifischen, von den nationalen Verwaltungstraditionen unterscheidbaren Politikstilen gesprochen werden kann. In den abschließenden Überlegungen des 3. Abschnitts wird versucht, den Einfluss der bürokratischen Ebene auf den politischen Entscheidungsprozess und die Gesetzgebung der EU näher zu bestimmen. Dabei geht es vor allem um das Problem der „bürokratischen Politik“ in ihren vielfältigen Facetten. Im Fokus stehen Themen, wie die Verselbständigung exekutiver Agenturen im Policy-Zyklus der EU, die informellen Entscheidungsstrukturen und die bürokratischen Dimensionen der konsoziativen Politikverflechtung sowie die Chancen für Transparenz und Verantwortlichkeit. 1
Die Kommission als supranationaler Akteur
Fragt man nach der spezifischen bürokratischen Dimension des europäischen Integrationsprozesses im Rahmen der EU, so ist man in erster Linie auf die Brüsseler Kommission als den zentralen, größten und mächtigsten Verwaltungsapparat des europäischen Mehrebenensystems verwiesen. Damit
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gerät eine originäre politische Institution in den Blick, die in der bisherigen Staaten- und Institutionengeschichte ohne Vorbild ist.4 Die Kommission verfügt sowohl über administrative wie über exekutive und sogar über eigene legislative Kompetenzen, weshalb sie als „Fusionsbürokratie“ (Bach 1992; Wessels 1996) charakterisierbar ist. Andererseits besitzt sie aber keine eigene, vertikale Vollzugsvollmacht gegenüber den Mitgliedsstaaten. Sie bildet daher keine monolithische Organisation mit einer durchgängig hierarchischen Gliederung. Vielmehr ist die Kommission eher als eine „Multi-Organisation“ (Cram 1994) beschreibbar, die auch in ihrer internen Struktur ein hohes Maß an funktionaler Fragmentierung und Sektoralisierung aufweist. Ihre Organisationseinheiten und Stäbe sind überwiegend mit Beamten und Angestellten besetzt, die aus den Mitgliedsstaaten rekrutiert werden. Sie sind daher nicht nur meist in unterschiedlichen nationalen Verwaltungsstrukturen und -kulturen ausgebildet und sozialisiert worden; tagtäglich müssen sie auch mit den in ihren Arbeitspraktiken und ihrem Selbstverständnis teilweise erheblich divergierenden Verwaltungen der Mitgliedsstaaten kooperieren. Trotz der multinationalen Rekrutierung des Personals der Kommission gibt es aber Hinweise darauf, dass die EU-Beamtenschaft als eine weitgehend formierte Gruppe mit eigenen sozialen Merkmalen und einer mindestens rudimentären kollektiven Identität angesehen werden kann. In den folgenden Ausführungen dieses Abschnitts werden zunächst die konstitutionelle Stellung5 und die formalen Befugnisse der Kommission im Institutionengefüge und politisch-administrativen Entscheidungssystem der EU, wie sie sich aus den rechtlichen Rahmenbedingungen der Verträge ergeben, betrachtet. Den formalen rechtlichen Rahmen für die Stellung und Aufgaben der Kommission im Gesamtgefüge der Europäischen Union bilden die zwischenstaatlichen Verträge, namentlich der EG-Vertrag. Hier findet sich der „Verfassungsrang“ dieses Organs festgelegt. Demzufolge ist der Kommissionsbehörde eine zentrale und aktive Rolle als politischer Akteur im Mehrebe4
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Puntscher Riekmann (1998) vergleicht die Brüsseler Behörde mit der historischen Institution der „kommissarischen Verwaltung“, mit deren Hilfe im monarchischen Frankreich und Preußen die absolutistische Staatsordnung befestigt wurde. Allerdings ist fraglich, ob angesichts der zwischen der Kommission und dem Ministerrat geteilten „Souveränität“ und dem Fehlen einer supranationalen Durchsetzungsbürokratie auf europäischer Ebene dieser Vergleich tragfähig ist (Wonka 2008). „Konstitutionell” bezieht sich hier auf das Vertragswerk der EU.
nensystem der Europäischen Union zugewiesen. Zu ihren Aufgaben gehört es, den in Art. 211 EGV festgelegten Verwaltungs- und Exekutivaufgaben nachzukommen. Sie hat für die Umsetzung der Bestimmungen des EG-Vertrages sowie der Entscheidungsorgane Sorge zu tragen und Befugnisse auszuüben, die ihr der Rat zur Durchführung der von ihm erlassenen Vorschriften überträgt, darunter die Ausführung des Haushalts und die Überwachung sowie Umsetzung von Förderprogrammen und -mitteln aus den verschiedenen Fonds. Darüber hinaus ist sie aber auch befugt, sachliche Empfehlungen und politische Stellungnahmen abzugeben sowie „in eigener Zuständigkeit Entscheidungen zu treffen und am Zustandekommen der Handlungen des Rates und des Europäischen Parlaments mitzuwirken“ (Tömmel 2003: 67). Es sind vor allem die zuletzt genannten Kompetenzen, die das Aufgabenspektrum der Kommission über rein administrative Funktionen hinaus erheblich ausdehnen. Sie ermöglichen eine nachhaltige Strukturierung der Willensbildung und Entscheidungsfindung auf der europäischen Ebene, weil sie sich auch auf gesetzgebende Funktionen im engeren Sinne erstrecken. Die entscheidende Kompetenz für diese legislativen Aktivitäten der Kommission ist das Initiativrecht, eine ihrer exklusiven Prärogative. Es beinhaltet die Befugnis zum Entwurf sowie zur Ausarbeitung nahezu sämtlicher Rechtsakte der Gemeinschaft, womit die Kommission die Beschlüsse des Rates inhaltlich weitgehend zu präformieren vermag. Wenn der von den Regierungen der Mitgliedsstaaten dominierte Ministerrat auch das definitive Beschlussmonopol besitzt, so kann dieses Gremium grundsätzlich nur Vorlagen zu Rechtsakten beraten und beschließen, die von der Kommission inhaltlich ausgearbeitet, im Kollegium der Kommissare verabschiedet und damit in den legislativen Prozess der EU überführt wurden. Damit ist es praktisch die Kommission, die in der Regel ein gemeinschaftliches Rechtssetzungsverfahren formal in die Wege leitet. Da sie zugleich das einzige Organ ist, das die nötige administrative und technische Expertise in sämtlichen Regulierungsmaterien der Europäischen Gemeinschaft besitzt (das sog. PolicyWissen), die komplizierten Entscheidungsverfahren des europäischen Mehrebensystems beherrscht (d.h. über das Verfahrenswissen verfügt) sowie die notwendigen organisatorischen und personellen Ressourcen kontrolliert (s.u.), „eröffnet das Initiativmonopol der Kommission einen weiten Handlungsspielraum, indem sie die Inhalte der Gesetzestexte, aber auch die Verfahren zu deren Erarbeitung stark strukturieren kann“ (ebd.: 67).
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Damit ist die Brüsseler Behörde auch in der Lage, die „europäischen Interessen“ bzw. das „europäische Gemeinwohl“ in inhaltlicher Hinsicht wesentlich zu definieren und den operativen Anforderungen der supranationalen Entscheidungsverfahren entsprechend zu konkretisieren. Hinzu kommt, daß die Kommission laut EG-Vertrag sogar dazu verpflichtet ist, den Fortschritt des europäischen Einigungsprozesses nach Maßgabe der allgemeinen Leitideen und konkreten Vertragsziele aktiv und nachhaltig zu fördern. Durch die Entwicklung von Projektinitiativen, die den Handlungssowie Gestaltungsspielraum der europäischen Ebene insgesamt erweitern helfen, wirkt die Brüsseler Behörde gleichsam als „Motor der Integration“. Gestützt auf Art. 213 EGV, der vorsieht, dass „die Mitglieder der Kommission .. ihre Tätigkeit in voller Unabhängigkeit und zum allgemeinen Wohl der Gemeinschaften aus(üben)“, kann sie dabei als wichtigste supranationale Institution neben dem Europäischen Gerichtshof einen glaubwürdigeren politisch-moralischen Anspruch erheben, die Europaidee relativ unabhängig von nationalen Präferenzen zu vertreten und entsprechend zu agieren, als etwa die Organe der EU mit zwischenstaatlichem Charakter (vgl. Peters 1992: 119; Smith 2004). Die Kommission hat folglich im ganzen Umfang die strategische „Prozessführerschaft bei der europäischen Politikformulierung“ inne (Eichener 2000: 160). Um aber in der Praxis der Entscheidungsfindung auch erfolgreich sein zu können, muss sie ständig ihre Fähigkeit zum strategic leadership, mithin ihren institutionellen Führungsanspruch, durch kontinuierliche und effiziente Vermittlung von sektoralen, nationalen sowie europäischen Interessen unter Beweis stellen und sich darin politisch bewähren (vgl. Cini 1996: 11ff.). Dabei ist wichtig sich vor Augen zu führen, dass die spezifische institutionelle Dynamik des sog. europäischen Mehrebenensystems von drei unterschiedlichen, aber miteinander verzahnten „Spielen“ bestimmt wird: dem nationalen Spiel, bei dem die Mitgliedsstaaten ihre einzelstaatlichen bzw. substaatlichen Maximierungsinteressen verfolgen; dem interinstitutionellen Spiel, bei dem die einzelnen Organe der EU – namentlich das von Rat, Europäisches Parlament und Kommission gebildete zentrale institutionelle Machtdreieck – in Konkurrenz zueinander ihre Nutzenfunktionen zu verbessern trachten. Schließlich ist noch als eine dritte Handlungsebene das hier besonders interessierende bürokratische Spiel zu berücksichtigen. Hierbei rivalisieren die Verwaltungsstäbe und -einheiten der verschiedenen Organe um relevante Ressourcen und entwickeln eigene Organisationsinteressen
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und -kulturen sowie strategische und inhaltliche Politikentwürfe (vgl. Peters 2001: 106f.). Auf die Rahmenbedingungen und Handlungslogiken des „bürokratischen Spiels“ im Entscheidungsprozess der EU wird im nachfolgenden Abschnitt näher eingegangen. Festgehalten werden kann, dass die Kommission sich als eine weitgehend freigesetzte und nach eigenem Recht agierende, genuin supranationale Autorität darstellt, für die es in Geschichte und Gegenwart kein Vorbild gibt. Aufgrund der Eigenarten des EU-Systems fungiert die Brüsseler Behörde aber nicht wie eine staatliche, durch Mehrheitsverfahren legitimierte nationale Regierung. Vielmehr bildet sie eine zentrale politisch-administrative Agentur im multidimensionalen und durch multiple politische Akteure bestimmten Prozess der Aushandlung, Abstimmung und Vermittlung sektoraler, nationaler, interinstitutioneller sowie bürokratischer Interessen im Mehrebensystem der EU (Donnelly/Ritchie 1995; Lepsius 2000: 293; Tömmel 2003: 115; Smith (Hg.) 2004; Wessels 2007). Ihre Stellung im Machtgefüge der EU-Institutionen spiegelt sich ebenso wie ihr hybrider Charakter als zugleich politische Agentur und bürokratische Organisation in der Organisationsstruktur und der Arbeitsweise der Kommission wider, denen wir uns im kommenden Abschnitt zuwenden werden. 2
Die Kommission als politische Fusionsbürokratie
Auf welche Weise reflektiert sich die im vorangegangenen Abschnitt dargelegte Verfassungsstruktur in der Verwaltungsstruktur der Brüsseler Behörde? Lässt sich in diesem Zusammenhang von einer eigenen europäischen bzw. supranationalen Verwaltungskultur sprechen? Können spezifische Politikstile der Kommissionsbürokratie festgestellt werden? Und bezogen auf die Kommissionsbeamtenschaft: Gibt es einen „supranationalen öffentlichen Dienst“, wie es etwa von Cris Shore behauptet wird?6 Im Folgenden 6
Shore 2000: 138. Zu Recht bemerkt Shore (ebd.), dass „[f]or the architects and pioneers of the EU supranationalism represented much more than a legal principle and political ideal, important as these are. Supranationalism also embodied the ‘Community spirit’: a political ideal, a model of post-nationalist government and a sytyle of administration.” Auf einem anderen Blatt steht freilich, ob dieses politische Ideal der Gründungsväter auch verwirklicht werden konnte.
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richtet sich unsere Aufmerksamkeit deshalb auf die politische und funktionale Differenzierung, die organisationsinterne Ressourcenallokation sowie auf das Selbstverständnis und die Einstellungen des Personals der Brüsseler Behörde. Die Organisationsstruktur der Kommission trägt den Stempel der Kompetenzfülle und Aufgabenvielfalt dieses Organs. Wie wir sahen, kann die Kommission nicht auf traditionelle Verwaltungs- und Exekutivfunktionen reduziert werden. Obwohl die administrative Aufgabenerfüllung zweifellos den Löwenanteil der gesamten Aktivitäten der Kommissionsbehörde ausmacht, ist diese von vornherein so eng mit politischen Aufgaben vor allem im Zusammenhang mit ihrer Rolle als wichtigster Politikinitiator und politischer Akteur im europäischen Mehrebensystem verquickt, dass es gerechtfertigt erscheint, die Kommission als eine politische Bürokratie sui generis zu charakterisieren (vgl. Peterson 1995: 74f.; Trondal 2004). Das bedeutet zunächst, dass in der Kommission politische Funktionen und bürokratische bzw. technokratische Rationalität sich wechselseitig durchdringen: Einerseits wird das politische Handeln der Führungsstäbe im Umkreis der Kommissare von den Arbeitsabläufen, „Systemlogiken“, aber auch von den korporativen Interessen der bürokratischen Arbeitsebene bestimmt; andererseits ist das Handeln der bürokratischen Ebenen stark auf die politischen Leitideen und Funktionen der Kommission ausgerichtet. a)
Das Kollegium der Kommissare: Politische Unternehmer im Dienst des „europäischen Gemeinwohls“
Die Kommission steht zunächst für das Kollegium der Kommissare aus den Mitgliedsländern, die gemeinsam mit dem Präsidenten der Kommission die kollektive politische Führung dieses Organs repräsentieren und für spezifische Ressorts die politische und inhaltliche Verantwortung tragen. Die Kommissare werden von den Regierungen der Mitgliedsstaaten im „gegenseitigen Einvernehmen“ und mit einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments für eine Amtszeit von fünf Jahren benannt (Art. 214, Abs. 2 EGV).7 Aber nicht nur die Ernennung wird durch einen letztlich politi7
Grundlage ist hier der Vertrag von Nizza. Im Vertrag von Lissabon ist die Zustimmung des Europäischen Parlaments nicht mehr für die einzelnen Kommissare, sondern nur noch bei der Wahl des Kommissionspräsidenten vorgesehen. Somit stärkt der Lissabon-
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schen Prozess vollzogen. In den meisten Fällen besitzen die Kommissare auch ein mehr oder weniger ausgeprägtes eigenes Profil als politische Persönlichkeiten, weil sie überwiegend vor ihrer Nominierung bereits hochrangige politische Posten als Minister, in Parteifunktionen oder auf regionaler Ebene (z.B. Ministerpräsidenten eines deutschen Bundeslandes) bekleideten (vgl. Page 1992: 118). Zu ihren primären Aufgaben in der Kommission gehört es, die „europäischen Interessen“ der EU zu artikulieren und im interinstitutionellen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess sowie nach außen, in nationalen und internationalen Kontexten, zu vertreten. Jeder einzelne Kommissar ist für ein Portfolio zuständig, wobei die Ressorts durchaus unterschiedliches politisches Gewicht haben, je nach Kompetenzen der Kommission in den einzelnen Politikfeldern.8 Zu den markantesten Besonderheiten der kollektiven Entscheidungsfindung der Kommissionsspitze zählt, dass die Beschlüsse grundsätzlich vom Kollegium als ganzem zu vertreten sind (Kollegialitätsprinzip), weshalb jeder einzelne Kommissar ein Mitsprache- und Vetorecht auch bei Dossiers hat, die nicht in seine Zuständigkeit fallen. Schon aus diesem Grunde werden meist Konsenslösungen angestrebt, Mehrheitsbeschlüsse dagegen vermieden. Im Unterschied zu nationalen Ministern genießen die Kommissare außerdem eine relativ gesicherte Amtszeit und ein ungewöhnlich hohes Maß an politischer Unabhängigkeit. Sie sind dem Europäischen Parlament gegenüber weder direkt verantwortlich9 noch politischen Parteien oder der Öffentlichkeit rechenschaftspflichtig. Ihre Position ist den Wahlzyklen und damit auch eventuellen Regierungswechseln in ihren Herkunftsländern weitgehend entzogen. Selbst gegenüber einzelnen Kommissaren verfügt das Kollegium im Konfliktfall über keine nennenswerten Sanktionsmöglichkei-
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ner Vertrag die Position des Präsidenten der Kommission sowie dessen Legitimation. Vgl. Artikel 17 Absatz 6 EUV des konsolidierten Vertrags Beispielsweise rangieren Umwelt, Bildung und Kultur oder auch Beschäftigung und Soziales eher hinter den wirtschaftspolitischen Kernregulierungsbereichen der EG, wie Handel, Binnenmarkt oder auch Energie und Verkehr (vgl. Donnelly/Ritchie 1995). Nach dem Vertrag von Lissabon stellen sich der Kommissionspräsident und die übrigen Mitglieder der Kommission einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments.(Art. 17 EUV n.F.)
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ten,10 da deren Ernennung letztlich auf Beschlüsse der Regierungen zurückzuführen ist.11 Angesichts der besonderen Stellung der Kommissare liegt die Vermutung nahe, dass die Regierungen der Mitgliedsstaaten versuchen, Einfluß auf sie zu gewinnen. Damit wäre die formale Verpflichtung der Kommission zu Unabhängigkeit in Frage gestellt. Es würde auch bedeuten, daß die Kommissare mindestens informell als weisungsabhängige Emissäre ihrer Regierungen wirken und letztlich nationale Interessenverbindungen ihr politisches Handeln in Brüssel bestimmen würden (vgl. Wonka 2007). Dieser in der Öffentlichkeit häufig vernehmbaren Mutmaßung widersprechen indessen die meisten einschlägigen Studien. Das verbreitete Bild vom Kommissar als „Gefangener nationaler Interessen“ wird der Realität dieses vielschichtigen und auch widersprüchlichen Anforderungen ausgesetzten Amtes nicht gerecht.12 Die wenigen vorliegenden empirischen Befunde zeigen ein viel komplexeres Rollenbild der Kommissare, das sich in einem Spannungsfeld bewegt, welches von professionellen Leitbildern wie ‚Diplomatie’, ‚Technokratie’ und ‚politische Führung’ geprägt wird. Einer empirischen Untersuchung zur Arbeitsweise und zum Selbstverständnis des Kommissarskollegiums zufolge ist das konkrete Rollenverständnis der Kommissare von Fall zu Fall unterschiedlich und jeweils von besonderen institutionellen Handlungskontexten abhängig: „En effet, du fait de la légitimité contestée de la Commission dans son ensemble, les constraintes institutionelles qui pésent sur les commissaires ne les condamnent pas à une posture univoque. Pour cette raison, il ne s’agit pas de distinguer les commissaires-techniciens des commissaires-politiques, mais de saisir comment et pourquoi, dans différents contextes, chaque commissaire combine et instrumentalise les registres technocratique, diplomatique et politique » (Joana/Smith 2002: 243).
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Das Europäische Parlament kann nach Art. 234 des EGV n. F. einen Mißtrauensantrag gegen die Kommission annehmen. Außerdem kann der Präsident der Kommission ein Mitglied der Kommission auffordern, sein Amt niederzulegen (Artikel 17, 6 EUV n.F.). Aber auch unilaterale Revokationen von Kommissaren durch einzelne Regierungen sind in der Praxis äußerst schwierig. «[L]’influence de chaque commissaire n’est pas déterminée par sa nationalité », resümieren Joana und Smith ihre umfänglichen Untersuchungen zur Soziographie und zum Professionsbild der Kommissare (Joana/Smith 2002: 242). Siehe auch Page 1992: 69ff.; Donelly/Ritchie 1995: 34f.
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Dieselben Autoren charakterisieren die Rolle und Funktion des Kommissars daher treffend als diejenige eines „politischen Unternehmers“. Die Interessen politischer Entrepreneure in dem hier untersuchten Feld richten sich freilich nicht auf Machtbildung durch Mobilisierung von Wählerstimmen, sondern auf die Maximierung des individuellen Einflusses auf die Kommissionspolitik und die institutionelle Macht der Kommission im Organgefüge der EU insgesamt. Da dies am besten mittels greifbarer praktischer Erfolge bei der operativen Definition spezifisch „europäischer Problemlagen“, der Erweiterung der formellen und informellen Befugnisse des eigenen Organs sowie schließlich bei der Durchsetzung bzw. Institutionalisierung genuin europäischer Regulierungen mit entsprechender Mittelallokationen erfolgt, erscheint es plausibel davon auszugehen, dass sich die Kommissare primär mit den supranationalen Leitideen der Kommission selbst identifizieren. In den meisten Fällen gehören sie auch zu den wichtigsten Interpreten des „europäischen Gemeinwohls“ und infolgedessen zu den einflussreichsten Protagonisten des europäischen Einigungsprozesses.13 Wenn die Kommissare neben der Bündelung supranationaler Machtpotentiale auch eine bedeutende Rolle in der öffentlichen Arena der Europapolitik spielen, so unterliegen deren Aktivitäten auf diesem Gebiet doch nicht im gleichen Maße den üblichen Spielregeln demokratischer Machtbildung und -kontrolle, die durch öffentliche politische Auseinandersetzung, Parteienrivalität und Wahlen sowie den Regierungs-Oppositions-Code bestimmt werden. Vielmehr sind die Aktivitäten der Kommissare treffender als ein spezifischer Modus von Institutionenpolitik charakterisierbar. Verglichen mit den üblichen politischen Handlungsmöglichkeiten von Ressortchefs erhalten die „Regierungsaktivitäten“ der Kommissare nämlich einen ausgeprägt technokratischen Charakter, weil sie im Kern auf die operative Konkretisierung und administrative Umsetzung der in den Verträgen inhaltlich weitgehend spezifizierten Leitideen und Zielvorgaben ausgerichtet sind. Dadurch unterliegen die Kommissare in ihren machtpolitischen Handlungsmöglichkeiten letztlich beträchtlichen Beschränkungen. Das traf auch für das immens erfolgreiche Binnenmarktprojekt der 1980er und der 1990er Jahre zu, das zwar auf eine politische Initiative der Kommission unter der Präsidentschaft Jacques Delors’ zurückgeführt werden konnte (vgl. Ross 13
Siehe dazu die bisher am gründlichsten untersuchten Amtsperioden der Kommission unter der Präsidentschaft Jacques Delors’: Ross 1994.
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1994: 29ff.; Fielder 2000), dessen wirtschaftsliberale Stoßrichtung aber bereits in den Leitvorstellungen der Römischen Verträge weitgehend festgelegt worden war. Letztere bildeten denn auch die entscheidende Legitimationsgrundlage von Delors’ Deregulierungspolitik. Allerdings muss hier einschränkend hinzugefügt werden, dass spätestens seit Mitte der 1990er Jahre die formale Vorschlagskompetenz und damit die Machtstellung der Kommissare immer häufiger durch strategische Initiativen des Ministerrates bzw. des Europäischen Rates ausgehöhlt wurde. So deuten beispielsweise wegweisende Beschlüsse, wie die zur Verwirklichung der Währungsunion, zum Ausbau der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, zur fünften Erweiterung sowie zuletzt zur Initiierung der europäischen Verfassungsgebung nicht nur auf eine neue institutionelle Balance zwischen den wichtigsten EU-Organen hin. Mit den historischen Weichenstellungen zeichnet sich, wie bereits hervorgehoben, eine neue Qualität der Integrationsdynamik ab, die dadurch bestimmt wird, dass wesentliche Impulse zur Vertiefung und Erweiterung verstärkt von den Regierungen der Mitgliedsstaaten und von den intergouvernementalen Arenen der EU ausgehen. Festgehalten werden kann aber dennoch, dass die politischen Aktivitäten des Gremiums der Kommissare aufgrund ihrer relativen Freisetzung von den Zwängen und Spielregeln der öffentlichen politischen Auseinandersetzungen, wie sie in den nationalen Demokratien vorherrschen, sowie auch wegen ihres stärkeren Verwiesenseins auf die Instrumentarien regulativer Politik (d.h. normative Rahmensetzungen; expertisegestützte Steuerungsprogramme u. dgl.)14, die aus den auf europäischer Ebene strukturell begrenzten Möglichkeiten zur Politikgestaltung mittels redistributiver Mittelallokation resultiert, deutlich technokratische Züge trägt.15
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Zur Unterscheidung zwischen „regulativer“ und „distributiver Politik“ siehe Majone 1996: 28ff.; ders. 2005. Das ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, daß der EU-Haushalt eine sog. „Eigenmittel-Obergrenze“ vorsieht. Für die „Finanzielle Vorausschau 2007-2013“ beläuft sich diese auf maximal 1,24% des Bruttonationaleinkommens. Es versteht sich: diese Plafondierung liegt vor allem im Interesse der sog. „Nettozahlerländer“ in der EU, wie Deutschland, Österreich oder den Niederlande. Einer expansiven Dynamik der Ausgabenpolitik kann dadurch effektiv entgegengewirkt werden (vgl. Gröning-von Thüna 2007).
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b)
Die Kabinette der Kommissare: Eine intermediäre Ebene von Stäben
Eine erfolgreiche regulative Politik setzt die möglichst effiziente Kontrolle und entsprechende Mobilisierung der Kommissionsbürokratie für die durch das Kollegium der Kommissare definierten politischen Ziele voraus. Formal unterstehen den Kommissaren mindestens eine, häufig aber auch mehrere Generaldirektionen, welche die inhaltliche Zuständigkeit des jeweiligen Ressorts abdecken und zusammen die bürokratische Linienorganisation der Kommissionsbehörde bilden. Die Interaktion zwischen den einzelnen Kommissaren und dem Beamtenpersonal der Generaldirektionen erfolgt aber in der Regel nicht direkt. Die Kommissare sind keineswegs die verantwortlichen Führungsorgane der einzelnen Generaldirektionen. Letztere sind weitgehend weisungsunabhängig. Sie wird vielmehr durch eine besondere intermediäre Ebene von Stäben vermittelt, den sog. Kabinetten. Diese fungieren als die wichtigsten Scharnierglieder zwischen den politischen Führungsorganen und dem bürokratischen Apparat der Kommission. Bei den Kabinetten handelt es sich um relativ kleine Stäbe mit mehreren persönlichen Beratern, die unmittelbar von den Kommissaren ausgewählt werden und auch nur diesen gegenüber direkt verantwortlich sind. Die Kabinettstäbe unterstützen und entlasten die Kommissare bei ihrer täglichen Arbeit, bei der Außendarstellung ihrer Politik, bei der Koordination der beteiligten Verwaltungsstränge sowie bei den Beziehungen zu den Mitgliedsstaaten (vgl. Donnelly/Ritchie 1995). Während die Kabinettsmitglieder meist die Nationalität der Kommissare besitzen und überwiegend aus den Ministerialverwaltungen der Mitgliedsländer oder den Generaldirektionen kommen, bilden sie bei ihren regelmäßigen Zusammenkünften eine eigene Substruktur von Koordinierungsstäben. Zu deren Hauptkennzeichen gehört Multinationalität und ein hohes Maß an fachlicher Expertise sowie praktischer EU-Erfahrung (vgl. ebd.). So sind die special chefs’ meetings für die inhaltliche Abstimmung und Koordinierung von speziellen Sachfragen vorgesehen, während auf der Ebene der chefs du cabinets die Tagesordnung der wöchentlichen Kommissionssitzung vorbereitet wird, Konsensmöglichkeiten ausgelotet und bereits wichtige Vorentscheidungen getroffen werden. Letzteres Gremium bildet eine Art „Kommission im kleinen“ (Tömmel 2003: 114). Ross (1994: 502), einer der besten Kenner der Kommission, hebt hervor, dass „[t]he Commission’s actual ordre du jour is … largely determined by Cabinet activities“. Nach übereinstimmender Ansicht der wissenschaftlichen
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Beobachter haben sich die Kabinette mittlerweile zu regelrechten „Schaltstellen für inhaltliche Fragen“ und damit zu einer „eigenen Politik- und Entscheidungsebene“ entwickelt (Tömmel 2003: 111; siehe auch Nugent 2001: 119ff.). Mit der Kompetenzerweiterung der Kommission im europäischen Entscheidungsprozess nahm im Laufe der Zeit auch die Macht der Kabinette entsprechend zu. „They operate at the centre of a complex web of European, national and functional interests which have to be balanced against each other. Cabinets filter policy demands up to the Commissioner and pass strategic policy decisions down to the Commission bureaucracy and to the Member States. In addition, cabinets are increasingly instrumental in building policy majorities and package deals across Community institutions and with the Member States” (Donnelly/Ritchie 1995: 49). Als eine der zentralen Machtressourcen der Kabinette sind deren unmittelbare Legitimation durch die Führungsspitze der Kommission und der nicht in jedem Fall direkte, aber doch einfachere Zugang ihrer Mitglieder zum jeweiligen Kommissar anzusehen. Das erhöht deren Durchgriffsmöglichkeiten auf die nachgeordneten Verwaltungsebenen, die Generaldirektionen und Dienste enorm. Es erleichtert aber auch erheblich die Mobilisierung der Linie für die politischen Ziele der Kommissionsspitze.16 Es sind vor allem die Mitglieder der Kabinette, die im täglichen Routinebetrieb direkte Arbeitsbeziehungen mit den höheren Beamten der Generaldirektionen in ihren jeweiligen Zuständigkeitsbereichen unterhalten. In gewisser Weise bildet das Kabinettsystem demnach eine Art Parallelhierarchie zur regulären Kommissionsbeamtenschaft (vgl. Donnelley/Ritchie 1995: 50; siehe auch Trondal 2004; zum Problem der „Doppelhierarchie“ aus verwaltungswissenschaftlicher Sicht siehe: Mayntz 1985: 77ff.; ferner Strutz 1982: 183.). Das versetzt die Kommissare in die Lage, die für sie hinsichtlich Kontroll16
Für einen ausgezeichneten Einblick in die Arbeitsweise der Kabinette siehe George Ross’ Fallstudie zur Präsidentschaft Jacques Delors’. Ross führt Delors’ politische Erfolge, insbesondere bei der Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes, zu einem erheblichen Teil auf die außergewöhnliche Professionalität und Leistungsfähigkeit seines Kabinetts unter der Leitung von Pascal Lamy, dem späteren Handelskommissar in der ProdiKommission, zurück. Eine der wesentlichen Ressourcen der exzeptionellen Machtstellung dieses „cabinet de presidence“ sieht Ross in „Delor’s pre-eminence“, mithin in seiner besonderen Führungsqualität, die ihm zufolge charismatische Züge trug (Ross 1994: 51ff., Zitat: 71).
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möglichkeiten und Informationsverarbeitung strukturell benachteiligte Prinzipal-Agenten-Relation zu ihren Gunsten zu beeinflussen und damit ein höheres Maß an strategischer Kontrolle der bürokratischen Einheiten zu erreichen.17 Die zwischen konzeptionellen Leitungsfunktionen und direkter administrativer Intervention changierende Praxis der Kabinette führt aber auch unweigerlich zu Konflikten und Spannungen zwischen ihnen und der Beamtenschaft der Generaldirektionen, namentlich ihren Spitzenbeamten, den Generaldirektoren und Direktoren. Ein Teil des Problems wird in der Literatur in dem Umstand gesehen, dass die Kabinettsmitglieder für sich einen höheren Rang als die Kommissionsbeamtenschaft beanspruchen (vgl. Nugent 2001: 128f.). Andere sehen in den Kabinetten aufgrund ihrer informellen Rekrutierung geradezu Einfallstore für nationale Interessen und Patronage.18 Allerdings konnte diese Ansicht durch empirische, auf teilnehmende Beobachtungen und Experteninterviews gegründete Analysen bisher nicht bestätigt werden. Vielmehr ergibt sich, wie schon bei der weiter oben angesprochenen Rolle der Kommissare, ein weit differenzierteres Bild. Joana und Smith fassen die Ergebnisse ihrer empirischen Untersuchung dazu wie folgt zusammen: „ ... notre recherche montre que si la défense des intérêts du pays dont est originaire le commissaire fait partie des constraintes qui pésent sur les cabinets, elle ne constitue qu’un aspect des tâches qu’ils ont à assumer“ (Joanna/Smith 2002: 52). Das Hauptproblem besteht aber offenkundig in der Rivalität um Einflusschancen, Policy-Kompetenzen und andere Machtressourcen zwischen diesen beiden Leitungsgruppen. Die administrative Elite der EU ist insofern alles andere als einheitlich und in sich ge17
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Stevens/Stevens 2000: 230ff. Sogenannte „counterstaffs”, d.h. von den politischen Führern selbst rekrutierte und diesen allein verpflichtete Stabsmitarbeiter werden in der Verwaltungswissenschaft zu den wirksamsten Mitteln zur politischen Kontrolle der Bürokratie sowie als unabhängige Informationsquellen betrachtet; siehe Peters 2001: 247 ff.; „Ministeriale Kabinette” werden auch dazu gezählt (vgl. ebd.: 328f.). Unter diesem Blickwinkel sind es besonders die Rekrutierungswege des Personals einerseits und das kollektive Selbstverständnis der höheren Kommissionsbeamtenschaft andererseits, welche die ambivalente Stellung der Kommission im Spannungsfeld von supranationalen Leitideen und nationalen Einflußnahmen auf dem Gebiet der Personalpolitik deutlich machen. In der Tat werden, um erneut C. Shore zu zitieren, „most of the major tensions and cleavages in the integration process, particularily those arising from the encounter between intergovernmental and supranational visions of Europe, … played out in the Commission’s staffing and management practices” (Shore 2000: 132).
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schlossen (vgl. Donnelly/Ritchie 1995: 49). „This has the effect”, bemerken Donnelly und Ritchie, „of damaging morale in the Commission bureaucracy and there is an increasing problem of civil servants not accepting the authority of the cabinet to supervise or monitor them” (ebd.: 50). c)
Die Generaldirektionen: Der bürokratische Arm der Kommission
Den eigentlichen administrativen Arm der Kommission bildet der Verwaltungs- und Beamtenapparat der Kommission, mithin die derzeit fünfundzwanzig horizontal nach Ressorts gegliederten Generaldirektionen (u. a. Wirtschaft und Finanzen, Handel, Landwirtschaft, Industriepolitik und Regionalpolitik).19 Hinzu kommt noch eine Reihe von sog. Diensten, die besondere Service- und Standardisierungsleistungen erbringen (darunter der Juristische Dienst, der Presse- und Informationsdienst und das Statistische Büro). Das Generalsekretariat der Kommission fungiert dabei als zentrale Koordinationsinstanz der Generaldirektionen und Dienste (vgl. Spence 1997: 109). In formaler Hinsicht weist der Kommissionsapparat eindeutig Strukturmerkmale auf, die weitgehend dem Idealtypus einer bürokratischen Organisation entsprechen20: In der Abstufung der Verantwortlichkeit vom Generaldirektor (A5) an der Spitze und dem Vize-Generaldirektor über die Direktoren der Facheinheiten (A3) und ihren Unterabteilungen zeigt sich das klassische Muster einer festgelegten Amtshierarchie. Der entsprechende Berichtsweg nach oben bzw. der Weisungsweg nach unten entsprechen einem formalen System vertikaler Kommunikationslinien (Dienstweg). Als Kennzeichen einer klassischen bürokratischen Behördenorganisation erweist sich auch die interne funktionale und fachliche Differenzierung der Einheiten, die eine formal geregelte Arbeitsteilung der Behörde widerspiegeln. Hinzu kommen noch ein in den Bestimmungen der Staff Regulations und in den Manual of Operational Procedures geregeltes Normensystem von Verhaltensregeln, Richtlinien und exakt festgelegten Verfahrensmodi für die Aufgabenerfüllung 19
20
Die fachliche Zuständigkeit der Generaldirektionen entspricht nicht derjenigen der Kommissare. Dieser Asymmetrie werden ein Großteil der Koordinationsdefizite der Kommission zugeschrieben (vgl. Spence 1997). Zu den grundlegenden Strukturprinzipien bürokratischer Verwaltungsorganisation im Allgemeinen immer noch instruktiv: Mayntz 1985: 109ff.
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der einzelnen bürokratischen Einheiten (vgl. Spence 1997; Nugent 2001; Page 1992: 31ff.; Cini 1996; Stevens/Stevens 2000; Cini 2007). In den Generaldirektionen findet sich nicht nur der Löwenanteil des Personals der Kommission, sondern auch der EU insgesamt (vgl. Page 1992: 28). Die Personalstruktur soll im Folgenden nur in ihren herausragenden Merkmalen und auch nur soweit ihr eine Relevanz für den Policy-Prozess und die „bürokratische Politik“ der Kommission zukommt, näher Berücksichtigung finden.21 Betrachtet man zunächst allein die Zahl und die Zusammensetzung ihres Personals, wird deutlich, dass es sich unter diesem Gesichtspunkt um eine vergleichsweise ‚unbürokratische’ Organisation handelt. Von den etwa 15.000 Angestellten, welche die Kommission 1995 insgesamt beschäftigte, hatten 28,3% (ca. 5000) Planstellen der A-Kategorie, d.h. als Beamte in den leitenden und mittleren Rängen der Generaldirektionen inne (vgl. Page 1992: 24ff.; Stevens/Stevens 2000: 19). Damit ist die Kommission, was ihre Personalausstattung anbelangt, eine ungewöhnlich kleine bürokratische Organisation. Allein die deutschen Bundesministerien beschäftigen deutlich mehr Beamte als die Kommission (Rudzio 1991: 278). Die territoriale sowie funktionale Reichweite der Befugnisse und die grenzüberschreitende Dimension der Tätigkeitsfelder der Kommissionsbürokratie stehen somit in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu ihren quantitativen Personalkapazitäten. Kompensiert wird dies allerdings durch einen relativ hohen Anteil an fachlich hoch qualifizierten und auch polyglotten Beamten.22 Mehr als 40% von ihnen hatten bereits Positionen im öffentlichen Dienst ihrer Herkunftsländer inne und mehr als ein Drittel waren in Bildungsinstitutionen tätig, bevor sie nach Brüssel wechselten. Letzteres spiegelt sich auch im typischen Bildungshintergrund der Kommissionsbeamten wider: 49,6% besitzen einen sozialwissenschaftlichen, 18,3% einen geisteswissenschaftlichen und 36% einen juristischen Abschluss (Page 1992: 76ff.; vgl. Wessels 2007; Haller 2008: 160). Unter den Generaldirektoren und Direktoren ist der Anteil der Beamten mit einem akademischen Abschluss in den Sozialwissenschaften mit 44,2% bzw. 42,1% deutlich höher als derjenigen mit einer juristischen Ausbildung (32,6 bzw. 29,4%). Die EU21 22
Für ausführlichere soziographische Analysen der Kommissionsbeamtenschaft sei hier besonders auf die Studien von Page 1992 und Stevens/Stevens 2000 verwiesen. Im Durchschnitt sprechen die Kommissionsbeamten zwischen 2 und 4 Fremdsprachen (vgl. Page 1992: 67; Haller 2008: 169ff.).
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Beamtenschaft unterscheidet sich damit in ihrem Bildungsprofil deutlich von den Staatsbeamten der meisten Mitgliedsländer. So weist sie weder das für die deutsche Beamtenschaft typische Juristenmonopol auf, noch wird sie von Absolventen der nationalen Elitenschulen dominiert, wie das vor allem für die französische (ENA) und die britische Beamtenschaft (Oxbridge) charakteristisch ist (vgl. Peters 2001: 33ff.). Die Quantität und das Qualifikationsprofil der Kommissionsbeamtenschaft weist dagegen Züge einer kosmopolitischen Elite von Policy- und Verwaltungsexperten auf (vgl. Haller 2008). Der bürokratische Geist tritt hier hinter die einzigartige expertokratische und multinationale Aufgabenorientierung der Brüsseler Stäbe zurück (Stevens/ Stevens 2000: 116ff.). Auch die Rekrutierung des Personals der Kommission weist verglichen mit typischen nationalen Bürokratien strukturelle Eigenarten auf, die für ein genaueres Verständnis der bürokratischen Dimension der europäischen Politik von Bedeutung sind. Zwei Sachverhalte sind in diesem Zusammenhang besonders erwähnenswert: Zum einen das vertraglich verbriefte und in der supranationalen Unabhängigkeitsverpflichtung begründete Privileg der Kommission, ihr Personal eigenständig, nach einem europaweit gleichen Bewerbungsverfahren, dem sog. concours, auszuwählen. Damit unterscheidet sich die Personalpolitik der Kommission auch von der in internationalen Organisationen üblichen Praxis, deren Bedienstete meist von den Mitgliedsländern in eigener Kompetenz abgeordnet werden. Die Rekrutierungspraxis der Kommission entspricht demgegenüber im Kern der Personalhoheit und den Prinzipien des Berufs- und Fachbeamtentums von souveränen Staaten im staatsrechtlichen Sinn und ist eine wesentliche Voraussetzung für die formale und materielle Unabhängigkeit ihres Beamtenpersonals (vgl. Stevens/Stevens 2000: Kap. 3; Spence 1997; Cini 1996: 99ff; Nugent 2001: 162ff.). Denn der besondere „europäische“ oder supranationale Status der Kommissionsbeamten erschwert es darüber hinaus den Mitgliedsstaaten erheblich, auf personalpolitischem Gebiet ihre nationalen Interessen zur Geltung zu bringen und die Kommission mittels Patronage oder anderen Einflussnahmen politisch zu kontrollieren. Vor allem deshalb – und nicht nur wegen der evidenten multinationalen Zusammensetzung des Kommissionspersonals – wird dem „Nationalitätsproblem“ der EU-Verwaltung in der einschlägigen Forschung immer wieder besondere Aufmerksamkeit geschenkt (Page 1992: Kap. 3; Spence 1997: 81ff.; Nugent 2001: 174). „The nationality issue“, schreibt Edward Page (1992: 68), „is at the heart of a more general political process of senior level
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appointments, involving Council and Commission members.“ Dahinter verbirgt sich ein vielschichtiger Problemkomplex, der neben den politisch brisanten Fragen des nationalen Anteils besonders an den leitenden Stellen (das sog. „geographische Gleichgewicht“) und des Erhalts von traditionell durch bestimmte Mitgliedsstaaten „besetzte“ Ressorts (reserved posts) vor allem auch um die politische Kontrolle der Rekrutierungskanäle kreist. Als personalpolitische Maßnahmen der Mitgliedsstaaten besonders umstritten ist in diesem Zusammenhang die Rekrutierung via parachutage, wie es im Kommissionsjargon heißt. Darunter versteht man eine Praxis der Stellenbesetzung außerhalb der regulären Karrierewege, meist durch direkte Interventionen von Kabinetten oder nationalen Regierungen (vgl. Nugent 2001: 171f.; Stevens/Stevens 2000: 83ff.; Page 1992: 49ff.; Cini 1996: 119f.). Nach einer Untersuchung von E. Page waren Mitte der 1990er Jahre mehr als die Hälfte der Kommissionsbeamten parachutists. Als besonders signifikant erweist sich deren Anteil bei den A1 und A2 Graden, der auf 81,8% bzw. 65,7% anstieg (Page 1992: 49ff.). Das System nationaler Quoten, Parachutage sowie die nationale Kolonialisierung von Ressorts verweisen somit auf institutionelle Schnittstellen, wo die prinzipielle Personalhoheit der Kommission durch informelle Einflussnahmen und Zwänge seitens der Mitgliedsstaaten tendenziell unterhöhlt wird und somit Nationalität weiterhin als relevantes Kriterium der Personalselektion und -allokation fortwirkt. d)
Eine supranationale Verwaltungselite?
An dieser Stelle erhebt sich die Frage nach der Kohäsion der Verwaltungselite der Kommission: Bildet die Kommissionsbeamtenschaft eine supranationale Funktionselite mit eigener kollektiver Identität? Existiert eine spezifische multinationale „Verwaltungskultur“ der Kommission, die sich in einer gemeinsamen professionellen Orientierung und einem eigenen Berufsethos ihrer höheren Beamten niederschlägt? In Anbetracht der Tatsache, dass die Kommission ihr Personal aus mittlerweile 27 verschiedenen Ländern mit je spezifischen nationalen politischen Traditionen und administrativen Kulturen rekrutiert, dies zudem über höchst unterschiedliche Auswahl- bzw. Kooptationsverfahren erfolgt, erscheint es fragwürdig, von einem einheitlichen Verwaltungskorpus zu sprechen. Ist es angesichts der multiplen institutionellen Kontexte, die für die Entscheidungsprozesse im europäischen Mehrebenensystem relevant sind und auch mit Blick auf die Fragmentierung des
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europäischen Entscheidungssystems überhaupt sinnvoll und angebracht, von einer auch nur ansatzweise homogenisierten europäischen Verwaltungskultur auszugehen? Wie weit reicht die Identifikationsbereitschaft der Beamten mit dem europäischen Integrationsprozess? Welche Rolle spielen die konkreten Arbeitskontexte und -erfahrungen bei der Veränderung der politischen Präferenzen und Orientierungen der Beamten? Sind supranationale Sozialisationseffekte feststellbar oder erweisen sich die in den nationalen politisch-administrativen Systemen geprägten politischen Orientierungen im multinationalen Kontext der EU-Kommission als dauerhaft dominant? Von verwaltungswissenschaftlichem Interesse sind sowohl die angeführten institutionellen als auch die subjektiven Aspekte der Verwaltungskultur und Identität von institutionellen Eliten, weil die Variablen Kohäsion und Identifikation der Beamtenschaft Aufschluss über den tatsächlichen Einfluss der bürokratischen Ebene auf den Politikprozess sowie über den Grad der Verselbständigung bzw. der politischen Eigenmacht der Bürokratie zu geben vermögen. Es sind in der Tat aussagekräftige Indikatoren für soziale Schließung und für die Monopolisierung strategischer Ressourcen durch diese in den Zentren der Politik und der gesellschaftlichen Macht agierenden Funktionsgruppen (vgl. Bartolini 2005: 136ff.). Übertragen auf die europäische Kommission lassen sich folgende hypothetische Annahmen formulieren: Je höher der Kohäsionsgrad der Kommissionsbeamtenschaft, desto nachhaltiger dürfte die Definitionsmacht und Durchsetzungsfähigkeit der bürokratischen Ebene im Policy-Prozess sein. Umgekehrt kann davon ausgegangen werden: Je fragmentierter die organisatorische Kultur der Kommission, desto größer wird der Einfluss nationaler Interessen auf den bürokratischen Politikprozess sein. Ob und in welchem Maße die Kommission den an sie gestellten Anforderungen gerecht wird, als „Motor der Integration“ zu wirken, wie es die Verträge vorsehen, hängt infolgedessen nicht nur von der politischen Kontrolle der Personalrekrutierung durch die Mitgliedsstaaten ab, sondern auch davon, ob sich die Kommissionsbeamtenschaft in ihrem Bewusststein und in ihrem professionellen Selbstverständnis als eine geschlossener soziale Trägergruppe des europäischen Integrationsprozesses versteht.23 23
Ähnlich argumentiert Cris Shore: „To a large extent, what happens inside the EU’s bureaucracy and the kind of society being created there is the reality of European integration for its principal political actors” (Shore 2000: 131).
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Die vorliegenden empirischen Untersuchungen zu den politischen Orientierungen der höheren Kommissionsbeamten sind allerdings widersprüchlich. Lange Zeit dominierte in der Integrationsforschung die hypothetische Erwartung, dass sich im Laufe der Zeit bei der Kommissionsbeamtenschaft, trotz der beträchtlichen Heterogenität hinsichtlich ihrer nationalen Zusammensetzung, beruflichen Qualifikation, Karrieremuster und Aufgaben, ein mehr oder weniger ausgeprägter, durch ein unter den Amtsträgern geteiltes genuin „europäisches“ Wertebewusstsein gestützter ésprit de corps herausbilden würde (dazu grundlegend: Haas 1964: 119ff.; ferner Bach 1999). Aussagekräftige empirische Untersuchungen lagen dazu aber lange Zeit nicht vor. Erst mit den Studien französischer und britischer Ethnologen (siehe Abélès/Bellier 1996; Shore 2000) konnten erhellende Einblicke in das von außen schwer zugängliche Arbeitsmilieu der Brüsseler Kommissionsbeamtenschaft gewonnen werden. Cris Shore etwa bestätigte die verbreiteten Erwartungen, dass sich in Brüssel eine auch kulturell unterscheidbare Funktionselite herausgebildet hat: „[M]y research confirmed that a considerable degree of ideological commitment to the ‘European idea’ persists, even among those newly recruited to the service” (Shore 2000: 140ff.; vgl. Spence 1997: 104). Shore schreibt die relative Homogenisierung des politischen Bewusstseins der Kommissionsbeamtenschaft vielfältigen sozialen und kulturellen Faktoren zu, wie der nationalen Entwurzelung (dépaysement), dem privilegierten sozialen Status, dem multilingualen Arbeitsumfeld, der Wohnortsegregation, dem relativ hohen Einkommen und anderen Besonderheiten der Arbeits- und Lebenssituation der Brüsseler Beamtenelite. Welche Homogenisierungseffekte welchen spezifischen sozialen Ursachen zuzuschreiben sind, bleibt allerdings auch bei Shore im Unklaren. Zu differenzierteren Ergebnissen gelangt indes Lisbeth Hooghe, die der in der Integrationsforschung lange vernachlässigten Frage nach dem Einfluss von institutionellen Faktoren auf die politischen Orientierungen und auf das professionelle Selbstverständnis der höheren Kommissionsbeamten nachgeht (Hooghe 2001). Die politischen Präferenzen von Beamten variieren, so die vom institutional learning-Ansatz inspirierte Leithypothese der Autorin, mit den spezifischen institutionellen Kontexten, in denen sie tätig sind, und mit den Funktionen, die sie wahrnehmen. Diese Fragestellung zielt auf die Sozialisationswirkungen von Institutionen und administrativen Arbeitszusammenhängen. Im Falle der untersuchten Kommissionsbeamtenschaft, deren früherer Sozialisationshintergrund in den meisten Fällen natio-
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nale Verwaltungen und politische Systeme waren, stellt sich dann die Frage, ob, in welchem Maße und unter welchen Voraussetzungen die Tätigkeit in der Kommission mit einer erkennbaren Umorientierung der Präferenzen hinsichtlich der Bedeutung der europäischen Politik sowie der politischen Rolle der Kommission einhergeht. Mit anderen Worten geht es Hooghe darum, dem Ausmaß des Wandels der politischen Selbstbilder (images of governance) im Sinne der Internalisierung europäischer Leitideen und Rationalitätskriterien bei den höheren Kommissionsbeamten nachzugehen. Diesem Forschungsdesign liegt auch die Annahme zugrunde, dass die Identifikation mit den supranationalen Leitideen der Kommission auf Seiten der Beamtenschaft umso ausgeprägter ist, je autonomer und effektiver die Kommission gemäß den Verträgen als supranationaler Akteur wirken kann. Umgekehrt bedeutet das: Je prägender und persistenter die nationale Sozialisation der Beamtenschaft, desto abhängiger erscheint die Kommission von politischen Einflussnahmen einzelstaatlicher bzw. inter-gouvernementaler Akteure. Als deskriptive Indikatoren berücksichtigt Hooghe eine ganze Reihe von Wertbzw. Präferenzvariablen, die Aufschluss darüber geben sollen, ob die Beamtenschaft der Kommission eher „supranationale“ oder eher „intergouvernementale“ Einstellungen aufweist.24 Hooghes Untersuchung gelangt zu dem Ergebnis, dass die Kommissionsbeamtenschaft, auch was deren politische Orientierungen anbelangt, nicht als ein einheitlicher Akteur (unitary actor) angesehen werden kann. In allen vier genannten Analysedimensionen sind es zwar primär Faktoren, die mit der Dauer der Zugehörigkeit und den konkreten Erfahrungen in institutionellen Kontexten zusammenhängen, welche die politischen Orientierungen der Akteure nachhaltig prägen. Dabei erweise sich allerdings, dass „contexts external to the Commission are more decisive for preferences than are contexts within the Commission: party, country, and prior work environment leave a deeper imprint on Commission officials’ basic preferences than do their location in a particular directorate-generals or cabinet.“ (Hooghe 2001: 24
Im Einzelnen handelt es sich um vier verschiedene Leitzielpaare: 1) Supranationalität vs. Intergouvernementalität als Wertideen europäischer governance; 2) regulierter Kapitalismus oder neo-liberaler Marktkapitalismus als Maximen der europäischen Wirtschaftspolitik; 3) traditionelle Verwaltungsbürokratie oder politikunternehmerische Exekutive als Leitbilder der Kommission; 4) national verankerte (‚konsoziative’) Mehrebenenorganisation oder homogene und verselbständigte, dem europäischen Gemeinwohl verpflichtete Bürokratie als Politik- bzw. Herrschaftsmodelle der Kommission.
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213). So ist es dieser Studie zufolge keineswegs der Fall, dass die Identifikation mit den supranationalen Leitideen mit der Dauer des Dienstverhältnisses in der Kommission zunimmt. Entscheidend sei vielmehr: a) der Grad der institutionellen Vernetzung des Herkunftslandes mit den EU-Organen, b) der Status als Nettoempfängerland sowie c) die Machtstellung der jeweiligen Generaldirektion. Beamte aus den großen Mitgliedsstaaten mit traditionell stärkerer nationaler Verankerung in Brüssel (strongly networked nationalities) tendieren zur Übernahme intergouvernementaler Überzeugungen. Bemerkenswert ist aber, dass Beamte aus Nettoempfängerländern sich stärker mit der supranationalen Ausrichtung des Organs identifizieren. Beamte aus einflussreicheren Generaldirektionen mit zentralen Kompetenzen (z.B. Binnenmarkt, Regionalpolitik, GAP) sind ebenfalls stärker supranational ausgerichtet als weniger einflussreiche oder randständigere Generaldirektionen. Die wirtschaftspolitische Orientierung der Kommissionsbeamten wird Hooghe zufolge wiederum nachhaltig von der nationalen Parteizugehörigkeit und der früheren Beschäftigung geprägt. Somit kann festgehalten werden: In nationalen Sozialisationszusammenhängen erworbene politische Grundüberzeugungen änderten sich erfahrungsgemäß nur noch selten, nachdem die Beamten nach Brüssel gewechselt waren. Die generelle These von der Kontinuität und Konsistenz von Wertüberzeugungen (belief consistency) trifft somit auch für die multinationale Behörde zu. Der einzige Fall, bei dem eine eindeutige Korrelation zwischen Dauer der Tätigkeit in der Kommission und supranationaler Präferenzbildung feststellbar ist, betrifft die Einstellungen der höheren Dienstgrade zur politischen Rolle der Kommission: Spitzenbeamte mit langjähriger Kommissionserfahrung zeigen sich deutlich weniger geneigt, die Kommission auf reine Verwaltungs- und Managementaufgaben zu beschränken. Sie geben dagegen der Leitvorstellung einer integrationspolitisch aktiven Kommission den Vorzug, mithin einer Kommission als dominierender politischer Akteur. Hooghes Untersuchungen über die Selbstbilder und Präferenzen der Kommissionsbeamtenschaft widerspricht damit dem gängigen Bild einer sozial integrierten und mental homogenisierten Verwaltungselite der Kommission. Diese Befunde relativieren auch die oft wiederholte Vermutung, dass individuelle Karriereinteressen und insbesondere auch das multinationale Arbeits- und Lebensumfeld in Brüssel mit zunehmender Dauer und Sicherheit des Beschäftigungsverhältnisses zu einer wachsenden Identifikation mit der normativen Leitidee der Supranationalität seitens der Kommis-
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sionsbeamten führe. Die sozialisatorischen Wirkungen des supranationalen Institutionenkontextes sind demzufolge für die politische Präferenzbildung deutlich geringer zu veranschlagen als diejenigen der nationalstaatlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse, in denen die meisten Beamten der Kommission vor ihrem Wechsel nach Brüssel politisch und bürokratisch sozialisiert worden sind. Was folgt nun aus diesen Befunden zu den politischen Orientierungen der leitenden Beamtenschaft der Kommission für den europäischen PolicyProzess? Dazu findet sich in Hooghes Studie lediglich der Hinweis, dass man sich auch unter diesem Aspekt von der gängigen Annahme zu verabschieden habe, die Kommissionsbeamtenschaft bilde ein abgrenzbares, auf gemeinsam geteilten Wertvorstellungen und politischen Orientierungen basierendes Kollektiv. Vielmehr handle es sich eben auch in dieser subjektiven Hinsicht um eine intern differenzierte Organisation mit heterogenen politisch-administrativen Leitideen und sektorspezifischem bzw. kontextabhängigem Selbstverständnis und entsprechenden Handlungspraktiken (Hooghe 2001: 39f.). So plausibel und empirisch fundiert Hooghes Ergebnisse auch für die höheren Beamtenränge der Kommission sein mögen, so muss doch vor dem Hintergrund der verwaltungswissenschaftlichen und bürokratiesoziologischen Kommissionsforschung kritisch angemerkt werden, dass Hooghes Studie schon in ihrer Anlage eine gerade für die Untersuchung von vermeintlichen Sozialisationseffekten von institutionalisierten Handlungskontexten im Rahmen der EU äußerst bedeutsame Organisationsstruktur vernachlässigt. Dabei handelt es sich um die administrativen Netzwerke und zwischenstaatlichen Beamtengremien, insbesondere im Rahmen des Ausschusswesens der Kommission. Diese dritte Ebene der Policy-Koordinierung im Organisationszusammenhang der Kommission ist aber auf jeden Fall mit zu berücksichtigen. Sie tritt, wie weiter oben bereits angesprochen, neben die Ebenen der Kommissare und Kabinette sowie der Generaldirektionen und Dienste. Auch sie bestimmt die Entscheidungsprozesse der Kommission maßgeblich mit. Sie wurde zu Beginn der 1990er Jahre von der Forschung als eine wichtige, gleichsam subinstitutionelle Entscheidungsebene des europäischen Policy-Prozesses entdeckt und in der Folge zu einem der innovativsten und fruchtbarsten Felder der Integrationswissenschaft
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ausgebaut.25 Die Befunde dieser Forschungsrichtung legen in der Tat eine etwas andere Einschätzung der Sozialisationswirkungen multinationaler Handlungskontexte nahe als Hooghes Analyse, wie im folgenden Abschnitt gezeigt werden soll. e)
Multinationale Beamtennetzwerke zwischen deliberativer Problemlösung und bürokratischer Arkanherrschaft
Administrative Verflechtungen von inner- und zwischenstaatlich angesiedelten Verwaltungssträngen sind ein konstitutives Kennzeichen der bürokratischen Dimension des europäischen Mehrebenensystems. Das politisch-administrative Ordnungsgefüge der EU ist nicht nur durch transnationale „Politikverflechtung“ auf der institutionellen Ebene der Regierungschefs und in Ministergremien charakterisiert (Scharpf 1994; Wessels 2007). Auch in ihrer administrativen Dimension bildet die EU eine komplexe administrative Verflechtungsstruktur oder, um hier einen Begriff von Wessels aufzugreifen, eine „Fusions-Bürokratie“, bei der Regierungen und Verwaltungen „mehrere Ebenen (quasi-)staatliche Handlungs-, Steuerungs- und Regelungsinstrumente gemeinsam nutzen“ (Wessels 2000: 123). Beamte nationaler Ministerialbürokratien beteiligen sich dadurch direkt, in zunehmend großer Zahl und mit wachsender Kontaktintensität (vgl. ebd.: 37f., 195ff.) an dem die Ebenen und Einheiten übergreifenden Politikzyklus der EU. Allerdings ist nochmals darauf hinzuweisen, dass es sich bei der europäischen „FusionsBürokratie“ nicht um eine Vollzugsverwaltung handelt, die etwa den Bürgern der Mitgliedsstaaten bei der supranationalen Aufgabenerfüllung als Eingriffs- oder Leistungsverwaltung unmittelbar gegenübertritt. Die Kommission verfügt für die Umsetzung konkreter Rechtsakte der EU über keine eigene Vollzugsbürokratie. Die Implementation europäischen Rechts bleibt daher stets den einzelstaatlichen Verwaltungsstrukturen überlassen. Das wirft die grundsätzliche Frage nach den tatsächlichen politischen Handlungsspielräumen der Verwaltungsstäbe auf (siehe allgemein Mayntz 1985: 211ff., Kap. 8). Auch die Umsetzungseffektivität und die compliance der Mitgliedsstaaten im Vollzug der europäischen Regulierungsvorgaben wird unter 25
Siehe dazu Bach 1992; Wessels 2000; Joerges/Neyer 1998; zusammenfassend zum Forschungsstand: Joerges/Falke 2000; Neyer 2000; Töller 1999; dies. 2001; Blom-Hansen 2008.
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diesen Voraussetzungen zu einem Problem (vgl. Mendrinou 1996; Gibson/Caldeira 1995). Darüber hinaus bringt es das Angewiesensein der europäischen Instanzen auf die Mitwirkung der nationalen Exekutiven und Bürokratien mit, dass die eigentliche, die supranationale Rechtsquelle im Vollzug verborgen bleibt und die Legitimationskraft der nationalen Rechts- und Verwaltungssysteme gleichsam parasitär genutzt wird. Trotz des eindeutigen Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem nationalen Recht gibt es „keine hierarchischen Weisungsbefugnisse zwischen der Kommission einerseits und nationalen Behörden andererseits“ (Wessels 1996: 177). Insbesondere beim Vollzug, aber auch bei der Kontrolle der Umsetzung von europäischen Rechtsakten und Maßnahmen ist daher nicht nur eine kontinuierliche und intensive Kooperation auf der Verwaltungsebene strukturell unerlässlich. Auch ist es unter diesen Rahmenbedingungen unverzichtbar, dass Standards und Modi der argumentativen Verständigung über inhaltliche Sachfragen, der Festlegung von operativen Rationalitätskriterien sowie schließlich der materialen Problemlösung entwickelt und zur Routine gemacht werden. Sie müssen für die beteiligten Beamten und Experten verbindlich sein. Nur dadurch können sie dazu beitragen, divergierende Positionen, die zum Teil auf unterschiedliche nationale Policy- und Verwaltungstraditionen zurückzuführen sind, effektiv zu überwinden. Diese Aspekte untersucht und diskutiert ausführlich die neuere Forschung zu den Policy-Netzwerken und insbesondere zum Ausschusswesen der Kommission. Ein typischer und verbreiteter Organisationstypus von Beamtengremien und -netzwerken auf der EU-Ebene ist der sog. Verwaltungs- und Sachverständigenausschuss bzw. die Komitologie.26 Ausschüsse finden sich nicht nur in der Kommission; auch im Rat, im Europäischen Rat und Europarlament27 erfolgt der Prozess der Problembewältigung im bürokratischen Alltag durch Konsensfindung im wesentlichen innerhalb jener teils formalen, teils informalen sozialen „Kleinstrukturen“ und „Netzwerke“, die im allgemeinen auch als „Komitees“ bezeichnet werden. Nach G. Sartori bilden Ausschüsse und 26
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Als „Komitologie“ i.w.S. wird in der Regel das Ausschusssystem der EU insgesamt bezeichnet; formal-rechtlich handelt es sich um Kommissionsausschüsse, die auf Initiative des Rates bei der Übertragung von Durchführungsbefugnissen auf die Kommission eingesetzt werden. Hierbei sieht das Recht (Komitologie-Beschluss von 1987) bestimmte Modalitäten der Kontrolle vor (dazu ausführlich und mit weiteren Belegen: Falke 2000). Für die Ausschüsse und Beamtengremien der anderen EU-Organe siehe ausführlich Wessels 2000: 207ff.
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Ausschusssysteme verbreitete Entscheidungskontexte in den meisten komplexeren politischen und bürokratischen Systemen, und zwar unabhängig davon, um welche Regierungsform es sich handelt. Ausschusssysteme zählt der Demokratietheoretiker zu dem „verbreitetste(n), wichtigste(n) und zugleich missverstandenste(n) Teil des Stoffes .., aus dem die wirkliche Politik gemacht ist“ (Sartori 1992: 228). Ihre funktionale Unverzichtbarkeit ergibt sich aus der sozialen Tatsache, dass es sich dabei um Entscheidungskontexte in Gestalt von Interaktionssystemen handelt. Aufgrund der meist überschaubaren Mitgliederzahl und der dominierenden face-to-face-Kommunikation kann sich eine situativ wirksame Gruppendynamik entfalten, die eher informelle Konsensfindung ohne Abstimmungen, aber nach Maßgabe des Prinzips der (diffusen) Reziprozität unterstützt.28 Auch wird dadurch eine Partizipation der beteiligten Akteure ermöglicht und eine relativ breite Interessenberücksichtigung gewährleistet. Hinzu kommt, dass in den Netzwerkgremien soziale Prozesse zum Tragen kommen, die unter der Voraussetzung einigermaßen kontinuierlicher Interaktionen und konstanter Gruppenmitgliedschaft einen konsensfördernden Diskursstil begünstigen. Dieser kann unter bestimmten Umständen zur Herausbildung und Internalisierung eines gemeinsamen Problem- und Verfahrensverständnisses bei den Beteiligten führen oder einer solchen Entwicklung mindestens förderlich sein. Soweit in den Netzwerken hauptsächlich wissenschaftliche Experten mitwirken, spricht man dann auch von epistemic communities (siehe Haas 1992). Bedeutsam ist diese Art von expertokratischen Gruppenbildungen bei komplexen politisch-administrativen Organisationen vor allem dadurch, dass sie die politischen Probleme oft maßgeblich nach ihren eigenen normativem bzw. epistemischem Vorverständnis definieren, die Agenda bestimmen, dadurch aber auch vielfach schon die Lösungswege vorgeben.29 „Komitees sind ein essentieller Bestandteil des europäischen Governance-Prozesses, stellt auch Klaus Gretschmann 28
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Luhmanns Analyse von „Kleinstrukturen“ und „informalen Kontaktsystemen“ im Verfahren der Gesetzgebung betont dagegen vor allem die Funktion der Komplexitätsreduktion: „Sie reduzieren die hochkomplexe Entscheidungslast durch soziale Strukturen auf ein Format, in dessen Grenzen der einzelne erkennen kann, was er sagen und was er nicht sagen kann und wie die anderen darauf reagieren werden“ (Luhmann 1975: 187). Siehe außerdem Luhmann 2000: insb. 22ff.; ferner Kieserling 1994; ders. 1999: 335ff. „[M]embers of an epistemic community tend to pursue activities that closely reflect the community’s principle beliefs and tend to affiliate and identify themselves with groups that likewise reflect or seek to promote these beliefs” (Haas 1992: 19).
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fest, und er führt dazu weiter aus: „Sie liefern Fachwissen und die Expertise für die Arbeitsebene des europäischen Politik- und Entscheidungsprozesses; sie sind das Bindeglied zwischen den nationalen Regierungen und den europäischen Institutionen; sie unterstützen die Gesetzgebungsarbeit im Rat und kontrollieren die Implementation von EU-Recht durch die Kommission“ (Gretschmann 2001: 29). In der Tat sind administrative Ausschuss-Netzwerke in den verschiedenen Phasen des Politikzyklus der EU präsent.30 In quantitativer Hinsicht ergibt sich aus der Forschung folgendes Bild:31 In der Vorbereitungsphase des Politikzyklus der EU, in der der Kommission vertragsgemäß eine aktive Rolle zukommt, ist für die Mitte der 1990er Jahre von mindestens 800 Ausschüssen und Expertengruppen auszugehen. An der unmittelbaren Vorbereitung der verbindlichen Beschlussfassung beteiligen sich noch einmal knapp 300 Ausschüsse und Arbeitsgruppen des Rates. An der Operationalisierung der Beschlüsse durch die Kommission nehmen nationale Beamte in eigens zu diesem Zweck eingerichteten Durchführungsausschüssen (offiziell die „Komitologie“) teil, deren Zahl sich 1999 auf etwa 450 belief. Die Zahl der im Gesamthaushaltsplan der EG bzw. der EU ausgewiesenen Ausschüsse nahm im Zeitraum zwischen 1975 und 1999 kontinuierlich zu (vgl. Falke 2000:Tab. 6). Einer Überschlagsrechnung zufolge waren Mitte der 1990er Jahre insgesamt mehr als 1.500 verschiedene Ausschüsse mit ca. 10.000 Sitzungen jährlich aktiv.32 An diesen 10.000 Sitzungen, an denen in der Regel Beamte aus fünfzehn Mitgliedsstaaten teilnahmen, wirkten annähernd 150.000 Beamte pro Jahr mit (Wessels 2000: 30
31
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Wessels unterscheidet idealtypisch vier Phasen des EG-Politikzyklus: Vorbereitung (I), Herstellung (II), Durchführung (III) und Kontrolle der Entscheidungen (IV). „Beamte der Mitgliedsstaaten werden von den Dienststellen in ‚ständigen’ oder ‚vorläufigen’ Sachverständigen- und Expertengruppen sowie in informellen Direktkontakten konsultiert“ (Wessels 2000: 197f.). Im Folgenden stütze ich mich vor allem auf die detaillierten Erhebungen von Wessels 1996, ders. 2000; ferner auf Falke 2000, sowie Page 1992. Obwohl dem Phänomen der Komitologie seit den 1990er Jahren zahlreiche Studien gewidmet wurden, liegen bisher nur wenige zuverlässige quantitative Erhebungen vor. Das ist wohl auch auf die Zurückhaltung der Kommission zurückzuführen, hierzu umfassend eigene Daten bereitzustellen bzw. Berichte zu erheben und damit Einblick in die eigene semi-informelle Organisationsstruktur zu geben. 4262 Sitzungen mit insgesamt ca. 46.546 Teilnehmern wurden allein für die von der Kommission im Haushaltsjahr 1995 finanzierte Ausschußtätigkeit ermittelt (siehe Page 1992: 107).
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198ff.). Das entspricht ungefähr 25% der höheren Berliner Beamten, die direkt an der Gremienarbeit auf EG-Ebene beteiligt waren (Wessels 1996: 178). Infolge der Befugniserweiterung der EU und der im Mai 2004 erfolgten EU-Erweiterung um weitere 10 Mitgliedsstaaten erhöht sich naturgemäß die Zahl der beteiligten Beamten entsprechend.33 Ausdruck der bürokratischen Mehrebenenverflechtung ist damit ein ausgesprochen hoher Anteil nationaler Ministerialbeamter, die im EU-Problemverarbeitungsprozess involviert sind. Neben den territorialen Staatsbürokratien der Mitgliedsstaaten wird somit im Funktionssystem der EU ein neuer Typus von Verwaltungsorganisation sichtbar: Eine geographisch sowie horizontal hoch mobile politische Netzwerke-Bürokratie (ähnlich Bücker/Schlacke 2000: 164), bei der sich die Grenzen zwischen nationalen und supranationalen Interessen zunehmend verwischen. Insbesondere das Ausschusswesen der Kommission spiegelt die strukturellen Charakteristika des EU-Systems insgesamt wider. Tatsächlich besteht eine weitgehende Übereinstimmung zwischen den Schlüsselmerkmalen des Komiteeregimes und den strukturellen Eigenarten der europäischen Governance (siehe Christiansen/Kirchner 2000). Der durch die Vielzahl der beteiligten politischen Akteure und Ebenen und die immense Komplexität der Entscheidungsmaterien sowie -prozesse strukturell bedingte hohe Koordinations- und Vermittlungsbedarf leistet der Ausdifferenzierung von subinstitutionellen Foren und Arenen Vorschub. Ausschüsse erfüllen diese Anforderungen optimal. Wie wir sahen, bilden sie überschaubare Entscheidungskontexte, in denen „policy ideas can be deliberated, policy proposals discussed, and policy implementations monitored“ (ebd.: 3). In diesen Handlungskontexten wird die komplexe politisch-administrative Entscheidungsfindung gleichsam als sozialer Prozeß in der Form von Gruppenbildung organisiert und bewältigt. Neuere, an Jürgen Habermas’ Diskursmodell angelehnte Ansätze der Politikwissenschaft betonen deshalb auch den reflexiven Charakter der Entscheidungsfindung in den Ausschüssen und sehen in dieser Struktur ein neuartiges „Forum deliberativer Problemlösung“ (Neyer 2000: 289f.). Diese trügen wesentlich dazu bei, dass „die oftmals hochgradig divergierenden Problemperzeptionen und Regelungsphilosophien mitgliedstaatlicher Regie33
Dazu liegen bisher keine aktuellen Daten vor.
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rungen“ in der durch das Ausschusswesen konstituierten „europäischen Problembearbeitungsgemeinschaft ... harmonisiert“ würden (vgl. ebd.: 302). Durch die Berücksichtigung wissenschaftlich-technischen Sachverstandes als „Maßstab der Erörterungen“34 und durch die „Beförderung argumentativer Verständigung“ in den Ausschüssen werde auf diesem Weg ein Maß an „materieller Problemlösung“ und darauf aufbauender Konsensbereitschaft bei den Ausschussmitgliedern erreicht, wie sie aufgrund der nur begrenzt verfügbaren Instrumente majoritärer sowie hierarchischer Durchsetzung auf Seiten der Kommission ansonsten wohl kaum erzielt werden könnten (Neyer 2000: 302). Auf dieser Grundlage führe die interadministrative Kooperation und soziale Interaktion im Komiteeregime der Kommission und der EU insgesamt nicht nur zu einer „engen Verkopplung von Präferenzbildungsprozessen“ der verschiedenen beteiligten Entscheidungsebenen, sondern auch zu einer „Veränderung von Präferenzen durch verständigungsorientiertes Handeln“.35 Das Ausschusswesen reflektiert aber auch die charakteristische Uneindeutigkeit des zwischen supranationalen Prärogativen und einzelstaatlichen Souveränitätsreservaten changierenden Systems der europäischen Politikformulierung: Aus der Sicht der Kommission leisten die Ausschüsse deliberative Vorverhandlungs- und Vorabstimmungsfunktionen. Diese nehmen allerdings einen deutlich instrumentellen Charakter an, insofern sie als subinstitutionelle und semiformelle Arenen der Konsensfindung, auf der sog. „Arbeitsebene“, und als Träger des relevanten Policywissens die Kontroll- und Wissensdefizite der Kommission kompensieren und deren Verhandlungsmacht stärken helfen. Die Mitgliedsstaaten hingegen können die Ausschüsse als nützliche Instrumente zur politischen Kontrolle der Kommission nutzen, indem sie in diesem „Interstitium der Macht“ (Puntscher-Riekmann 1998) durch direkte Beteiligung der von ihnen selbst entsandten Beamten und Fachleute auf die Meinungsbildung und Entscheidungsfindung der Kom-
34 35
Zur Einbeziehung wissenschaftlichen und internationalen Sachverstands in die Verhandlungen der Ausschüsse siehe Bücker/Schlacke 2000: 208. Vgl. Neyer 2000.: 309. Neyer bezieht sich dabei auf empirische Daten, die im Rahmen einer Untersuchung zur Implementation von Rechtsakten der Gemeinschaft im Bereich der Lebensmittelpolitik und der technischen Normung erhoben wurden (vgl. ebd.: 258ff.; für weitere empirische Fallstudien siehe Joerges/Falke 2000).
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missionsstäbe inhaltlich sowie verhandlungstaktisch Einfluss zu nehmen versuchen. Auf diese Weise konstituiert sich, darauf wurde weiter oben bereits hingewiesen, das Ausschusssystem der Kommission als eine eigentümliche Parallelbürokratie (vgl. Christiansen/Kirchner 2000: 6) neben den multiplen Hierarchien der Kommission, aber mit sehr viel flacheren Status- und Autoritätsabstufungen.36 In den horizontalen Netzwerken sind die Regierungsvertreter unter massiver Beteiligung privater Verbände und Experten in einem institutionell abgegrenzten, kontinuierlichen und weitgehend informalen Kontakt- und Kommunikationszusammenhang eingebunden, der die tradierte staatliche Struktur hierarchisch gestufter Kompetenzräume mit relativ transparenter Zurechenbarkeit von Verantwortlichkeit und Haftung auflöst. Seitdem sich das Ausschusswesen zu einem anerkannten Gegenstand der Europaforschung entwickelt hat, stand es stets auch im Fokus einer normativen, demokratietheoretisch konnotierten Kritik. Für viele Autoren verkörpert vor allem das Komiteeregime und die Komiteepolitik der Kommission die häufig auch in der politischen Öffentlichkeit kritisierte „bürokratische Deformation“ (Beck/Grande 2004) des Brüsseler Regierungssystems. Die Ausschusnetzwerke der Europäischen Verwaltung haben sich, wie weiter oben (Kap. IV/3 ausführlich dargelegt, zur tragenden Infrastruktur nicht nur für eine aktive und nachhaltige Beteiligung der bürokratischen Ebenen an dem europäischen Problemverarbeitungsprozess und für die Etablierung von administrativen Problemverarbeitungskartellen entwickelt. Vielmehr ist die Komitologie auch, um es mit Puntscher Riekmann auszudrücken, „der praktische Ausdruck der bürokratischen Arkanherrschaft par excellence“ (vgl. Puntscher Riekmann 1998: 177). 3
Bürokratische Politik oder Integration durch Bürokratie?
Wenn das Komiteeregime der Kommission, wie Christiansen und Kirchner zu Recht feststellen, „intrinsische“ und „essentielle“ Eigenschaften der supranationalen Governance verkörpert und damit gleichsam als „Mikrokosmos 36
Zu den „extrabürokratischen Instrumenten der Koordination“ siehe Puntscher-Riekmann 1998: 73ff.
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der europäischen Integration“ (Christiansen/Kirchner 2000: 8 bzw. 11) angesehen werden muss, wie ist dann das Regierungssystem der Europäischen Union insgesamt zu charakterisieren? Festgehalten werden kann, dass mit der Kommission eine Regulationsagentur geschaffen wurde, die Exekutivvollmachten und Legislativkompetenzen verbindet und deren Leitungsstäbe bürokratische bzw. technokratische Herrschaftsfunktionen ausüben. Lässt sich damit die europäische Integration insgesamt als ein durch verselbständigte Verwaltungsstäbe und die bürokratische Rationalität beherrschter und deformierter politischer Prozess kennzeichnen? Haben wir es mit einem fortschreitenden Prozess der Entdemokratisierung und Bürokratisierung der europäischen und damit großer Bereiche der nationalen Politik als Folge der politischen und ökonomischen Einigung Europas zu tun? Das sog. Demokratiedefizit der EU hat freilich viele Wurzeln, auf die im vorangegangenen Kapitel bereits näher eingegangen wurde. Als durchschlagend erweist sich dabei zweifellos der für die EU insgesamt typische und ausgesprochen große Spielraum für bürokratiebestimmtes politisches Handeln, auch „bürokratische Politik“ genannt. Der Begriff „bürokratische Politik“ wird in der Policy-Forschung zur Bezeichnung von politischen Prozessen auf administrativer Ebene unter maßgeblicher Beteiligung von Verwaltungsstäben verwendet. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Ebene der Exekutive in inhaltlicher und strategischer Hinsicht eine normativ und verfassungsrechtlich bedenkliche Dominanz gegenüber den demokratisch legitimierten Organen der Gesetzgebung und der politischen Führung gewinnt. Seit Max Webers klassischer Analyse des bürokratischen Phänomens und des sog. „Amtsmechanismus“ werden in den langfristigen Beschäftigungsverhältnissen (z.B. in der deutschen Tradition als Beamte), der formalen Unabhängigkeit und institutionellen Stabilität, der gegenüber der politischen Führung überlegenen Expertise, den verfügbaren Personal- und Organisationsmitteln sowie der Suggestion des „Apolitismus“ und der Überparteilichkeit die wesentlichen Voraussetzungen und Ressourcen bürokratischer Machtentfaltung gesehen. Unter solchen Voraussetzungen ist es der Verwaltung jederzeit möglich, die von der Regierung und den repräsentativen Organen vorgegebenen politischen Zwecksetzungen zu unterlaufen oder gar zu boykottieren. Im EU-System ergibt sich dieser große Spielraum für bürokratische Politik zunächst bereits aus der herausgehobenen Kompetenzfülle der Kommission im Institutionengefüge und aus deren Einfluss auf die europäische
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Gesetzgebung aufgrund der ihr in den Verträgen zugewiesenen Initiativund Regulierungsbefugnisse (siehe Peters 1992; Page 1992; ders. 1997; Page/Wouters 1994; Bach 1999: 11ff.; Majone 1993). Besonders die PolicyNetzwerke und das Ausschusswesen bilden die entscheidende Arena für die bürokratische Politik der Kommission: Nahezu vollkommen im Schatten der Öffentlichkeit und jeglicher politischer und demokratischer Kontrollen, durchdrungen von einer technokratischen Problemlösungsphilosophie bzw. -ideologie und anfällig für Pressionen seitens organisierter, besonders neokorporatistischer Interessen (siehe Page 1992: 89ff.; Tömmel 2003: 189ff.), besitzen Beamte und „Eurokraten“ die entscheidende Definitions- und Entscheidungsmacht. Daran wirken diskret kooptierte wissenschaftliche Experten in informellen und intransparenten Kleingruppengremien mit. In diesen Gremien wird über weit reichende gesellschaftliche und politische Belange wie die Allokation von Risiken und Kosten sowie von Ressourcen und deren Verteilung im europäischen Integrationsraum entschieden (vgl. Weiler 1999: 278). Wenn der Impetus der europäischen Einigung bisher im wesentlichen von der Integrations- und Strukturierungskraft des supranationalen Rechts abhängt (vgl. Weiler 1999; Lepsius 2000b; Haltern 2004), dann ist bürokratische Politik der dazu komplementäre Integrationsmodus. Durch bürokratische Politik werden nicht nur die von den Mitgliedsstaaten beschlossenen Rechtsakte und die Rechtssprechung des Europäischen Gerichtshofs in konkrete Rationalitätskriterien umgesetzt und ausgeführt. Aufgrund der legislativen Initiativfunktionen der Kommission bestimmt die Exekutive dank der Verwaltungsstäbe und Beamtengremien darüber hinaus auch maßgeblich über die konkreten Inhalte der Verordnungen, Richtlinien und Entscheidungen mit (vgl. Schmidt 2000: 157; Rometsch 1996: 69ff.). Wenn vor allem die konkordanzpolitische Vergesellschaftung der EU die dauerhafte Kooperation der Mitgliedsstaaten in dem transnationalen Verband sicherstellt und dadurch das Exitrisiko bei Interessenkonflikten vermindert wird, dann bilden die politische Fusionsbürokratie und die Beamtennetzwerke der Kommission die in der „Tiefendimension“ institutionalisierte Struktur spezifisch konsoziativer Verhandlungs- und Vermittlungsprozesse (vgl. Schmidt 1995: 231ff.). Durch die Diffusion konsensualer Modalitäten und die verbreitete Praxis des „Regierens durch Ausschüsse“ in den Policy-Netzwerken der EU werden die strukturellen Entscheidungshemmnisse der „Politikverflechtungsfalle“ teilweise überwunden. Darin mag eine der zentralen Funktionen
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des Ausschusswesens liegen, was auch seine Proliferation erklären würde. Mit anderen Worten: Die spezifische Mehrebenenstruktur des EU-Regimes lässt vermutlich gar keine anderen Modalitäten der Interessenvermittlung und Konfliktlösung zu als die konsoziativ-bürokratischen. Dabei kann unter bestimmten Voraussetzungen sogar eine Umstellung des im System dominierenden Verhandlungsstils auf den „Problemlösungsmodus“ erfolgen. Auch können gemeinsame normativ verbindliche Referenzprinzipen oder Rationalitätskriterien der „epistemischen Gemeinschaft“ eine Disposition zur Konsensfindung und kooperativen Problemlösung erzeugen (siehe Neyer 2000; Grande 1995). Aber diese Umstellung erfolgt immer nur um den Preis einer Stärkung des „bürokratischen Spiels“ und damit einer weiteren Einbuße an demokratischer Legitimation; denn dadurch werden die allgemeinen Demokratiedefizite des konsoziativen Modus des europäischen Verhandlungssystems keineswegs kompensiert oder korrigiert, sondern im Gegenteil durch Strategien ersetzt, die ihrerseits auf weitere spezifische Deformationen bzw. Pathologien der europäischen Systembildung hinweisen, wie z. B. auf die Dominanz der Exekutive, das Fortbestehen von Oligarchien, die Arkanherrschaft subinstitutioneller Beamtengremien, den wachsenden Experteneinfluss und die Tendenz der Informalisierung und Entparlamentarisierung des Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses (vgl. Kap. IV oben). Wenn eine weitere Wurzel des europäischen Demokratiedefizits der EU also im konkordanzdemokratischen Modus gesehen wird, dann ist festzuhalten, dass die „Konsoziation“, wie Manfred Schmidt bekräftigt, „nicht demokratischer, sondern bürokratischer Art“ ist (Schmidt 2000: 435). Allerdings verkörpert dieser europäische konsoziative Staat, wie wir sehen, eine Bürokratie eigener Art. Bürokratische Politik in der EU ist gleichbedeutend mit der inhaltlichen Interpretations- und Definitionsmacht der Kommission und ihrer Stäbe, was den Sinn und die Rationalitätskriterien der regulativen Politik anbelangt. Aufgrund der Initiativkompetenz der Brüsseler Behörde ist hier die bürokratische Arbeitsebene in die Lage versetzt, die eigenen Ressourcen und expertokratischen Wissensbestände extensiv für ein Vorantreiben der Integration auch über die vertraglich vorgesehenen Grenzen hinaus zu nutzen. Im Namen des „europäischen Gemeinwohls“, das wesentlich von der Kommission definiert wird, erfolgt eine ständige Reformulierung sowohl der Leitideen als auch der instrumentellen Policy-Ziele im Interesse einer Kompetenzenexpansion des Brüsseler bürokratischen Apparats. Das
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„bürokratische Spiel“ dominiert unter diesem Blickwinkel somit nachhaltig das Policymaking der Kommission. Die Räte können in der Praxis nicht mit der Expertise, die den Kommissionsstäben zur Verfügung steht, konkurrieren, zumal die intergouvernementalen Beschlussarenen durch die Logik der Politikverflechtung strukturell handlungsbeschränkter und ihrerseits wiederum auf die Kommission angewiesen sind, um die typischen Verfahrenspathologien der „Politikverflechtungsfalle“ überwinden zu können. Dadurch wird allerdings die durchschlagende Präge- und Deformationskraft dieser Herrschaftsform keineswegs gemindert. Bei aller berechtigten Kritik an der bürokratischen Politik in der EU sollte indes nicht übersehen werden, dass die administrativen Verflechtungen und Beamtennetzwerke das entscheidende Stützwerk und die Garanten der Kontinuität der transnationalen Kooperation im alltäglichen Politikprozess der EU sind. Nur durch die Trennung der Vorschlags- und Beschlusskompetenz in der europäischen Gesetzgebung und nur durch das Zusammenwirken der Staaten mit einem „autonomen Dritten“ (Georg Simmel), der nach eigenem Recht agierenden Kommission, konnte schließlich jene Stabilität und Kohärenz der supranationalen Organstruktur erreicht werden, die auch längere Phasen verminderter Integrationsdynamik und des Gefangenseins der Akteure in der selbst geschaffenen „Figurationsfalle“ (Norbert Elias) des europäischen Mehrebenensystems überdauern konnte (vgl. Lepsius 2000b: 292f.). Aber: Je stabiler und kohärenter das politische System in Brüssel unter diesen stark bürokratielastigen Bedingungen ist, desto pessimistischer sind wohl die Chancen für eine nachhaltige Erhöhung der Partizipationschancen der Bürger Europas und für eine Förderung ihrer Bereitschaft zur Identifikation mit dem „Projekt Europa“ einzuschätzen.
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VI. Restrukturierung der territorialen Räume in Europa
In den vorausgehenden Kapiteln stand das Herrschaftsgefüge der Europäischen Union im Mittelpunkt der Betrachtung. Herrschaftsinstitutionen weise aber immer auch eine spezifische räumliche Ausdehnung und Struktur auf. Diese werden vor allem durch Grenze konstituiert. Europas historische Grenzen, die bereits durch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts beträchtlichen Verschiebungen unterworfen wurden und im Kalten Krieg eine vorläufige Stabilisierung erfahren hatten, sind spätestens nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder in Bewegung geraten. Im Inneren der Europäischen Union gehört der ungehinderte grenzüberschreitende Verkehr von Waren, Kapitalien und Personen mittlerweile zum Alltag. Im Schengenraum wurden die Grenzkontrollen auch für Personen weitgehend abgebaut. Mit der Osterweiterung verschieben sich die Außengrenzen des politisch und ökonomisch integrierten Europas weiter nach Osten. Grenzregionen erleben eine Aufwertung, sei es als europäische Förderregionen oder als Brückenräume, die überkommene Kontinentalbrüche überwinden. Die aktuellen Prozesse der Grenzüberschreitungen und neuen Grenzbefestigungen werfen die Frage nach der Zukunftsgestalt des erweiterten und integrierten Europa auf. Das Problem der „Finalität“ der EU ist somit nicht nur ein Problem der Verfassungsgestalt des supranationalen Herrschaftsverbandes, sondern berührt mittlerweile auch die territoriale Dimension der europäischen Integration. Wer sich mit Europa beschäftigt und dessen politische und geographische Einheit zu fassen versucht, stößt unweigerlich auf die Grenzenproblematik. Es war schon immer schwierig und auch stets von politischer Brisanz, die Grenzen des europäischen Kulturraums – besonders im Osten des Kontinents und auf dem Balkan – wissenschaftlich präzise zu bestimmen. „Das schwierigste Problem, das sich den Geographen seit je bei ihrem Nachdenken über Europa stellte“, konstatierte Rolf-Joachim Sattler bereits Anfang der 1970er Jahre, „war die Frage, wie dieser Kontinent nach Osten zu Lande
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abzugrenzen sei, wo und entlang welcher Linie er nach Asien übergehe“ (Sattler 1971, S. 16). Die Debatte über einen EU-Beitritt der Türkei bringt diese Frage wieder an die Oberfläche der politischen Auseinandersetzungen. Doch bereits die im Mai 2004 eingeleitete fünfte Erweiterungsrunde ist eine der ausgreifendsten Expansionen des Herrschaftsterritoriums der EU in der Geschichte der europäischen Integration. Deshalb hat besonders die Osterweiterung die Frage nach den Staatsgrenzen Europas ins Zentrum auch der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt. Geopolitische Fragestellungen erlebten – im Anschluss an die geopolitische Wende in der Geographie seit Mitte der 1990er Jahre (vgl. Agnew/Corbridge 1995; Agnew 1998) – auch in der bis dato eher institutionalistisch ausgerichteten Europaforschung einen unerwarteten Aufschwung (vgl. u.a. Zielonka (Hg.) 2002; Anderson/Bort 2001; Vobruba 2005). Die Begriffe Grenze und Territorium sind für diesen Ansatz ebenso grundlegend wie für die Geographie im Allgemeinen. Bekanntlich ist ein Grund für die Schwierigkeit, die territoriale und kulturelle Ausdehnung Europas genauer zu bestimmen, in der Tatsache begründet, dass Europa keine natürlichen Grenzen besitzt, sieht man vom Atlantik und vom Mittelmeer ab, die allerdings in der Geschichte viel weniger trennend gewirkt haben als etwa nationale und ethnische Grenzziehungen unmittelbar benachbarter Völker auf dem Kontinent. „Der Natur gegenüber“, stellte Georg Simmel fest, „ist jede Grenzsetzung Willkür, selbst im Falle einer insularen Lage, da doch prinzipiell auch das Meer ‚in Besitz genommen’ werden kann.“ Simmel führt weiter aus: „Gerade an dieser Unpräjudiziertheit durch den natürlichen Raum macht die trotzdem bestehende unbedingte Schärfe der einmal gesetzten physischen Grenze die formende Macht des gesellschaftlichen Zusammenhangs und ihrer von innen kommenden Notwendigkeiten ganz besonders anschaulich“ (Simmel 1908: 465). Mit anderen Worten: Grenzen sind Produkte gesellschaftlicher Prozesse, sind soziale Konstruktionen. Auch die Staatsgrenzen Europas sind primär kulturelle, politische und sozial geprägte Trennungs- bzw. Verbindungslinien. Dass sich Europa als gesellschaftlicher und politischer Raum geographisch nicht befriedigend bestimmen lässt, wird auch von Geographen immer wieder betont. Schon Sattlers vielbeachtete Rekonstruktion des EuropaBegriffs resultierte in der Erkenntnis, dass „eine Inhaltsbestimmung dessen, was Europa als historische Größe meint, ... nicht aus der Geographie gewonnen werden (kann). Denn der Europa-Begriff der Geographie ist deskriptiver Natur; mit einer fast naturwissenschaftlichen Präzision und an
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Hand morphologischer Kriterien gibt er an, welcher Teil der Erdoberfläche als Europa bezeichnet und dementsprechend kartographisch dargestellt werden kann. Der historische Europa-Begriff dagegen, und das hat er mit allen eine historische Größe bezeichnenden Begriffen gemeinsam, meint ein Abstraktum, das naturwissenschaftlichem Denken unzugänglich ist“ (Sattler 1971: 38; ähnlich Schultz 2004: 52f.). Die sozial- und kulturräumliche Dimension Europas bildet damit ein eigenes Diskursfeld, das man auch als „symbolische Geographie“ bezeichnen könnte. Geopolitische Vorstellungen sind allerdings weder beliebig noch reine Phantasiegebilde von Intellektuellen. Soweit sich solche territoriale Ordnungsvorstellungen mit politischen Organisationen, wie etwa der EU, verbinden, strukturieren sie konkrete gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse. Durch die damit einhergehenden Grenzziehungen – politische wie kulturelle – wird über legitime Zugehörigkeiten und kollektive Identitäten von gesellschaftlichen Gruppen, damit über Macht und Ohnmacht, Inklusion und Exklusion wesentlich mit entschieden. In diesem Kapitel werde ich eine These vorstellen, die sich mit der Reorganisation der Grenzen und der sozialen Räume in Europa beschäftigt, wobei „Europa“ soziologisch als transnationaler Sozialraum1 konzipiert werden soll. 1
Grenzbildung und gesellschaftliche Strukturierung
Vorausgeschickt seien einige begriffliche Überlegungen, die das soziologische Verständnis von Grenzen und Grenzprozessen betreffen. Wenn es eine spezifische Perspektive der Soziologie der Grenze gibt, dann wohl die, dass eine Wechselwirkung zwischen Grenzbildungen einerseits und der Strukturierung von gesellschaftlichen Binnenräumen andererseits postuliert wird. Mit anderen Worten, der soziologische Blickwinkel betrachte Grenzverläufe und Grenzprozesse territorialer Räume als kausale Zuschreibungseinheiten für gesellschaftliche Strukturbildungen und soziale Dynamiken – diesseits und jenseits der gegebenen Grenzlinien. Unter dieser Prämisse ist Grenze
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In Abgrenzung vom Begriff „europäische Gesellschaft“, bei dem die Vorstellung eines nationalstaatlich organisierten Herrschafts- und Sozialraums mitschwingt (vgl. Kap. II oben).
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als soziologische Kategorie sinnvoll. Grenzen, besonders Staatsgrenzen, sind insofern als Institutionen zu bezeichnen, die soziale Räume prägen. Der wichtigste sozialwissenschaftliche Referenzautor für diese Frage ist Stein Rokkan. Rokkan brachte diese Perspektive folgendermaßen auf den Punkt: „Die Geschichte der Strukturierung menschlicher Gesellschaft lässt sich gewinnbringend als Interaktion zwischen geographischen Räumen und Mitgliedschaftsräumen untersuchen“ (Rokkan 2000: 138). Dabei erweist sich die Zentrum-Peripherie-Relation als eine entscheidende Strukturierungsdimension. Grundsätzlich ist zwischen einer horizontalen Dimension und einer vertikalen Dimension der Peripherisierung zu unterscheiden. Die horizontale Peripherisierung bezieht sich auf regionale Disparitäten, mithin auf die je spezifische Konzentration bzw. Diffusion von Herrschaftsressourcen auf einem bestimmten Territorium. Hier geht es um geographische Relationen, wie Abhängigkeiten von Randregionen oder strukturelle Machtasymmetrien im Verhältnis von regionalen Einheiten. Die zweite Dimension, die vertikale, verweist hingegen auf spezifische Benachteilungen und Privilegierungen von bestimmten Bevölkerungsgruppen, vorrangig im Hinblick auf deren sozialen Status sowie politischen Einfluss. Beiden Dimensionen gemeinsam ist der Fokus auf cleavages, d.h. auf Bruch- bzw. Spaltungslinien von Gesellschaften, wie die in soziale Klassen, Konfessionen, oder regionale Disparitäten und ethnische Konfliktlinien. Diese faktischen oder potentiellen Konfliktlinien verweisen auf unterschiedliche Ausprägungen sozialer Ungleichheit, und dies nicht nur in räumlicher Hinsicht. Entscheidend für mein Argument ist nun, dass zwischen Prozessen der territorialen Grenzbefestigung und sozialen Strukturen nicht nur bestimmte Interdependenzen bestehen, sondern dass sich die Muster der Grenzziehungen darüber hinaus auf die Ungleichheitsstrukturen von Gesellschaften auswirken. Dieser Zusammenhang lässt sich paradigmatisch an der europäischen Geschichte der Staatswerdung und Nationsbildung zeigen, dem zentralen Gegenstand von Rokkans Forschungen (vgl. Rokkan 2000): Die Herausbildung und Etablierung der europäischen Nationalstaaten erfolgte in erster Linie durch strategische Grenzverstärkungen in den politischen, militärischen, ökonomischen und kulturellen Vergesellschaftungsräumen (vgl. Bartolini 2005). Moderne Staatsbildung lief entweder darauf hinaus, alle vorhandenen Grenzen möglichst kongruent zur Deckung zu bringen, oder zumindest den unbestrittenen Vorrang der politischen und militärischen gegenüber anderen gesellschaftlichen Einheiten durchzusetzen (vgl. Rein-
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hard 2000: 42). Der Territorialstaat wirkte wie ein „geographischer Container“ der modernen Gesellschaft (Agnew 1998, S. 51). Mit der äußeren Grenzstabilisierung einher ging also ein Prozess der Binnenstrukturierung des Nationalstaates in politisch-institutioneller und gesellschaftlicher Hinsicht. Dieser Prozess lässt sich mit Stein Rokkan als Internalisierung von cleavages verstehen: Mit anderen Worten, die im gleichsam vorstaatlichen europäischen Raum existierenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften, Sprachgruppen, Konfessionen und sozialen Klassen mit ihren je eigenen Grenzziehungen und territorialen Identitäten wurden im Zuge der Formierung der modernen Flächenstaaten durch Internalisierung in sozialpolitisch deutungsfähige und institutionalisierbare Probleme sozialer Ungleichheit der staatlich organisierten geschlossenen Nationalgesellschaft transformiert (vgl. Flora 2000a). Dieser Prozess der Internalisierung lässt sich an der deutschen Wiedervereinigung veranschaulichen: Durch die Wiederherstellung eines gesamtdeutschen Sozialraums nach dem Fall der Mauer wurden die ökonomischen und sozialen Disparitäten, die zwischen den neuen und den alten Bundesländern zur Zeit der Doppelstaatlichkeit bestanden, in das in der alten Bundesrepublik vorherrschende Deutungsmuster der sozialen Ungleichheit überführt – mit den bekannten Folgekosten, die mit den Transferzahlungen in die neuen Bundesländer im Zeichen nationaler Solidarität verbunden sind. Verallgemeinernd kann man sagen: Die Vorgänge der Externalisierung und Internalisierung von cleavages sind komplementäre soziale Prozesse. Grenzbefestigungen nach außen ermöglichen die Externalisierung sozialer Kosten und Folgeprobleme in Räume jenseits der jeweiligen Grenzlinien. Umgekehrt gehen territoriale Grenzexpansionen in der Regel mit einer Internalisierung von sozio-ökonomischen Kosten, Risiken und Konfliktpotentialen einher. Staatsgrenzen markieren also nicht nur Differenzen zwischen Herrschafts- und Kulturräumen. Vom jeweiligen Grad der Durchlässigkeit der Staatsgrenzen hängen nicht zuletzt auch das konkrete soziale Konfliktniveau sowie die Integrationsfähigkeit der gesellschaftlichen Binnenordnung ab. Für die westeuropäische Staatswerdung und Nationsbildung zeigen Rokkans Arbeiten, wie im Zuge der territorialen Konsolidierung der Nationalstaaten durch Internalisierung der gesellschaftlichen Konflikt- und Komplexitätsbewältigung nicht nur stufenweise die demokratischen Partizipationsrechte verwirklicht und parlamentarische Regierungssysteme geschaffen wurden. Durch die seit Ende des 19. Jahrhunderts flächendeckend einge-
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führte Massensozialisation in den öffentlichen Bildungssystemen konnte auch ein relativ hohes Maß an kultureller Homogenisierung und Gefühlsbindung an den eigenen Staat und an die jeweilige Standardsprache erreicht werden. Aber auch die von den Klassenspaltungen ausgehenden sozialen Konflikte erfuhren – besonders unter den Wohlstandsbedingungen nach dem Zweiten Weltkrieg – in den Paktierungen der Tarifparteien, in neo-korporatistischen Arrangements und den wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssystemen eine erfolgreiche Institutionalisierung (vgl. Ferrera 2005). Unter diesem Blickwinkel lässt sich die Geschichte der Staatswerdung und Nationsbildung in Europa als ein Prozess der Internalisierung von europaweiten Spaltungslinien und einer parallelen institutionellen Regulierung bzw. Zähmung von sozialen, ethnischen und religiösen Konflikten im Rahmen des souveränen und kulturell homogenisierten Nationalstaates beschreiben. Diese historische Konstellation nationalstaatlich internalisierter sozialer Konfliktlinien wurde treffend als nationally bounded cleavages, als gleichsam institutionell eingehegte gesellschaftliche Spaltungslinien bezeichnet (Rumford 2002: 10). 2
Erweiterung und Sozialintegration
Mit Bezug auf den neuen europäischen Raum stellt sich nun aber die Frage: Wie wirken sich die Grenzöffnung und Grenzenexpansion im Zusammenhang der EU-Erweiterung auf die skizzierte historische Konstellation geschlossener nationalstaatlicher Sozialräume aus? Wie strukturiert sich der europäische Sozialraum unter diesen neuen Rahmenbedingungen? Bildet sich im Zuge der fortschreitenden Integration und territorialen Expansion der EU eine europaweite und überstaatliche Gesellschaft? Wie entwickelt sich das betreffende Innen-Außen-Schema? Welche neuen Spaltungslinien und Konfliktpotentiale zeichnen sich ab? Kurz: Was bedeutet das für die Formierung der „europäischen Gesellschaft“ und für die soziale Integration Europas insgesamt? Die sozialwissenschaftliche Europaforschung steht hier noch gänzlich am Anfang. Es zeichnet sich aber jetzt schon eine eigentümliche Problematik der europäischen Integration ab, soweit es um ihre gesellschaftliche Wirkung geht. Bei der europäischen Integration haben wir es namentlich mit der Paradoxie zu tun, dass die Fortschritte bei der wirtschaftlichen und politisch-
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institutionellen Einigung mit teilweiser Desintegration in gesellschaftlicher Hinsicht einhergehen. Die Dialektik von Grenzabbau im Inneren und Grenzbefestigung nach außen führt zu neuen Ausprägungen und Verschärfungen gesellschaftlicher Spaltungen im sozialen Binnenraum, den die EU als territoriale Herrschaftsinstitution mit eigenen Außengrenzen konstituiert. Zwar formiert sich weder eine europäische Bürgergesellschaft, noch eine „belastbare“ europäische Identität (Georg Vobruba), wie die öffentlichen Auseinandersetzungen um das europäische Demokratiedefizit, die Finalität der EU und die europäische Staatsbürgerschaft verdeutlichen (siehe Kap. VII und VIII unten). Wir müssen aber die Fragen des europäischen Volkes und der europäischen Gesellschaft der Staatsbürger in Bezug auf das besondere Problem der Grenzen neu diskutieren, weil sich darin nicht nur materielle Interessenkonflikte, sondern auch auf besondere Weise Spannungen um kollektive Identitätsvorstellungen verdichten (vgl. Balibar 2003). Dass die europäische Integration gleichbedeutend ist mit Grenzenabbau, liegt auf der Hand (vgl. Mau 2006). Die größte Durchschlagskraft erzielte bisher zweifellos die europäische Binnenmarktpolitik. Ökonomische Güter zirkulieren weitgehend ungehindert und mit minimierten grenzenbedingten Transaktionskosten im ausgedehnten europäischen Wirtschaftsraum. Aber auch die grenzenüberschreitende Kontakthäufigkeit und -intensität von Politikern, Beamten und Experten im Rahmen der europäischen Institutionen hat in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich zugenommen (vgl. Wessels 2000). Eine neue, und wie ich weiter oben gezeigt habe, demokratisch schwach legitimierte „europäische“ Funktionselite lenkt mit immer weiter wachsenden Entscheidungs- und Gesetzgebungskompetenzen die Geschicke der EU und damit eines Großteils unseres Kontinents. Auf der Grundlage dieser institutionellen Entgrenzungen entsteht vor allem ein Europa als bürokratische Herrschaft und ein supranationales ökonomisches und politisches Machtzentrum. Aber keineswegs alle Lebensbereiche erfahren Entgrenzungen. Die meisten lokalen und lebensweltlichen Ordnungen und die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme bleiben einer traditionalen Semantik der Zugehörigkeit und kollektiven Solidarität verhaftet. Die kulturellen Ordnungen, kollektiven Identifikationen und nationalstaatlichen Wir-Identitäten geraten zwar auch in den Sog der Dialektik von Grenzabbau und Grenzbefestigung, aber ihre Beharrungskraft ist beträchtlich. Die Gefühlsbindungen an den eigenen Staat, die eigene Gesellschaft, die lokalen Lebenszusammenhänge erweisen
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sich nach wie vor als ungebrochen und lebendig. Unter den verschiedenen Schichten der Wir-Identität kommt der nationalstaatlichen Ebene immer noch ein besonderes Gefühlsgewicht zu. Daran haben auch die fünfzig Jahre europäische Einigung bisher nichts nennenswertes ändern können (vgl. Lahusen 2008). Daran wird deutlich, dass man sich die Öffnung des EU-Binnenraums keineswegs als einen eindimensionalen Prozess vorstellen darf, der alle gesellschaftlichen Systeme in gleicher oder ähnlicher Weise mit Grenzabbau konfrontiert. Vielmehr erfolgt der Abbau von Grenzen sektoral und vor allem auf asynchrone Weise (vgl. Bös 2000). Deshalb ist es zweckmäßig, den Europabegriff zu desaggregieren und von unterschiedlichen sozialen Räumen bzw. territorialen Vergesellschaftungen auszugehen: In Anlehnung an eine aufschlussreiche Einteilung des französischen Geographen J.-F. Drevet (1997) lässt sich die nouvelle identité de l’Europe als eine Pluralität territorialer Sozialräume (territoires) bestimmen. Demnach wären unterscheidbar: ein europäischer Raum der Staaten und der supranationalen Institutionen, ein europäischer Raum der ethnischen Gemeinschaften und der kulturellen Minderheiten; darüber hinaus existiert das „Europa der Regionen“, aber auch ein Europa des Binnenmarktes, ferner der europäische Migrationsraum und ein europäischer Raum der Bürgerrechte usw. Wichtig ist dabei, dass die Grenzen dieser multiplen Raumstrukturen keineswegs deckungsgleich sind. Vielmehr weisen sie eine komplexe Konstellation von inkongruenten und dynamischen Grenzverläufen auf. Wir haben es offensichtlich mit einem gegenläufigen Entwicklungsprozess zur Staatswerdung zu tun: also mit Dissozation und Dislokation vormals geschlossener und segmentärer, besonders staatlich organisierter Sozialräume. Viele dieser Räume entkoppeln sich zudem von den nationalstaatlichen Institutionenordnungen. Festgehalten werden kann: Die asynchrone Dialektik von Grenzabbau und Grenzbefestigung, die den europäischen Integrations- und Erweiterungsprozess wesentlich bestimmt, hat eine neue, weit fluidere Konstellation von Staatsgrenzen und Räumen, von Zentrum-Peripherie-Relationen und von Innen-Außen-Verhältnissen in Europa hervorgebracht als sie im Vorkriegseuropa bestand. Welche Folgen hat nun die sozio-territoriale Reorganisation Europas im Zeichen des Grenzabbaus nach innen und der Grenzenbefestigung nach außen für den Wandel der sozialen Strukturen?
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Ein neues europäisches Muster sozialer Ungleichheit
Die Reorganisation der territorialen Sozialsysteme Europas, so die These, wirkt sich unmittelbar auf die europäischen Gesellschaftsstrukturen aus, indem sich ein neues Muster sozialer Ungleichheit im gesamteuropäischen Makroraum herausbildet. Damit gerät eine neuartige gesellschaftliche Konstellation von grenzüberschreitenden Spaltungs- und Konfliktlinien in den Blick, die als unbounded cleavages – entgrenzte oder entkoppelte Spaltungsstrukturen – bezeichnet werden können. Diese unbounded cleavages verlaufen entlang einer Vielzahl verschiedener Konflikt- und Spannungslinien, so dass in wachsendem Maße neue Ungleichheitsformen und Ungleichheitsrelationen die innergesellschaftlichen Verhältnisse überlagern und prägen. Anders ausgedrückt: Mittlerweile ist ein neues Koordinatensystem der sozialen Ungleichheit in Europa entstanden, das die spezifische europäische Tradition von nationalstaatlich überformten Spannungsbalancen in Frage stellt. Zwei dieser europäischen Konfliktlinien seien im Folgenden näher betrachtet: Die asymmetrische Integration im Außenverhältnis im europäischen Raum der Staaten und die abgestufte Inklusion im Binnenverhältnis des europäischen Raumes der Bürgerrechte. Wie Georg Vobruba gezeigt hat, bildet sich in Europa ein Muster von „konzentrischen Kreisen“ heraus, dem folgende sozio-politische Entwicklungsdynamik der EU zugrunde liegt: Im Zentrum befindet sich eine politisch stabile Staatengruppe mit hohem materiellem Wohlstandsniveau, hauptsächlich bestehend aus den westeuropäischen Volkswirtschaften der alten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Außerhalb dieses Bereichs nimmt der Wohlstand mit zunehmender Entfernung vom Zentrum immer mehr ab. Zwischen den einzelnen Zonen ungleicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit bestehen Grenzen mit unterschiedlicher Durchlässigkeit; die Durchlässigkeit der Grenzen, insbesondere für Zuwanderer, aber auch für Waren nimmt von der Peripherie zum Zentrum ab. Daraus ergibt sich einerseits, dass die wohlhabende Kernzone durch einen cordon sanitaire abgesichert wird. Andererseits entspricht das einem territorialen Muster wirtschaftlicher und politischer Peripherisierung, das dem europäischen Raum der Staaten und dem europäischen Raum des Binnenmarktes eine nachhaltige soziale Ungleichheitsstruktur aufprägt (vgl. Vobruba 2001; ders. 2005). Die fünfte Erweiterungsrunde verschärfte diese Problematik noch dadurch, dass die europäische Integration mittlerweile an die geographischen Gren-
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zen Europas stößt. Oder anders formuliert: Die jetzigen Nachbarländer der EU, darunter die Türkei, aber auch die Ukraine und Weißrussland, lassen sich nach den tradierten Vorstellungen weder geographisch noch kulturell noch historisch als Teile Europas bezeichnen. Ihr Beitritt kann nicht mehr als selbstverständlich gelten (vgl. Lepsius 2006: 113). Das bedeutet, dass die Staaten des ehemaligen cordon sanitaire außerhalb der Europäischen Union sich heute nicht mehr ohne weiteres als Peripherie der Europäischen Union von morgen und somit auch nicht mehr als Teil ihres wohlhabenden Kerns von übermorgen betrachten können. Damit entsteht eine neue Konstellation, nämlich eine relativ schroffe Unterscheidung und dauerhafte Grenzziehung zwischen der Europäischen Union und ihren Anrainerstaaten (ebd.). Was folgt daraus für die Binnenverhältnisse des europäischen Sozialraums? Nach innen gewendet heißt das, dass sich die beträchtlichen wirtschaftlichen Disparitäten der Länder und Regionen der erweiterten Union in europaweite Binnendifferenzierungen umsetzen. Das „Muster konzentrischer Kreise“ wird sich voraussichtlich auf die Weise durchsetzen, dass EUMitglieder erster, zweiter und vielleicht sogar dritter Klasse entstehen. Die hier skizzierte neue geopolitische Konstellation der sozialen Ungleichheit ist demzufolge das Produkt der Zunahme von grenzüberschreitenden Transaktionen im EU-Raum, ist also vor allem eine Folge der neuen Mobilität von ökonomischen Gütern, politischen und administrativen Ressourcen, sowie von Arbeitskräften. Unter diesem Blickwinkel zeichnet sich eine neue gesamteuropäische Struktur von regionalen Disparitäten in der Wohlstandsverteilung sowie der territorialen Distribution von Opportunitätsstrukturen ab. Dieses Szenario wird jetzt schon vor allem von zwischenstaatlichen und interregionalen Verteilungskonflikten geprägt, und zwar entlang zweier, sich neuerdings kreuzender Spaltungslinien: der Nord-Süd-Spaltung einerseits, der Ost-West-Spaltung andererseits. Bei den zuletzt genannten Disparitäten verfügt der EU-Verband über Ausgleichsinstrumente und gewisse strategische Handlungsmöglichkeiten: die Struktur- und Kohäsionsfonds. Allerdings lässt sich die daraus resultierende Transferlogik, die bei der EU-15 noch wirksam und erfolgreich war, nicht ohne weiteres auf die EU-27 übertragen. Die historischen Inklusionsmechanismen der EU, territoriale Peripherien mittels Transferleistungen für Strukturdefizite Kompensationszahlungen zukommen zu lassen und damit in das System einzubinden, stoßen mittlerweile an Grenzen, sowohl der Finanzierungsbereitschaft wie der Legitimierbarkeit von relativ kostspieligen
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Fördermaßnahmen. Auf der anderen Seite begründen die auf europäischer Ebene paktierten Leitideen der europäischen Solidarität und Kohäsion sowie die entsprechenden Finanzierungsinstrumente eigentlich erst das Europa der Förderregionen und Kohäsionsstaaten als fait social. Die Interessenlagen der politischen Akteure richten sich daran aus. Die EU-Mitgliedschaft wird so zum legitimen Anspruchstitel auf effektive Förderung bei den benachteiligten oder sich als benachteiligt ansehenden Ländern und Regionen der Union. Nationale und regionale Diaparitäten im gesamteuropäischen Raum werden auf diese Weise zu Relevanzkriterien eines neuen sozial- und transferpolitisch instrumentalisierbaren spezifisch europäischen Deutungsmusters von regionaler sozialer Ungleichheit. Unter diesem Blickwinkel wird die territoriale Dimension der europäischen Ungleichheit als ein Konstrukt der institutionalisierten Regional- und Strukturpolitik der EU, gleichsam als Produkt der supranationalen Regulierung sichtbar. 4
Abgestufte Inklusion im europäischen Raum der Bürgerrechte
Ein zweiter Prozess der Peripherisierung sei hier als „abgestufte Inklusion“ bezeichnet. Die relevanten Referenzeinheiten sind der europäische Raum der Bürgerrechte sowie der europäische Migrationsraum. Die Grenzverschiebungen nach außen im Zuge der Osterweiterung zeitigen, so die These, unmittelbare Wirkungen auf die sozialen Inklusions- und Exklusions-Spannungen im Binnenraum der EU. Dies vor allem dadurch, dass europaweite Spaltungslinien, wie diejenigen zwischen Unionsbürgern und „Drittstaatenangehörigen“, Christen und Muslimen sowie auch Modernisierungsverlierern und Modernisierungsgewinnern dazu beitragen, dass sich die sozialen Polarisierungen in den gesellschaftlichen Binnenverhältnissen der Mitgliedsstaaten verschärfen. Das neue Innen-Außen-Schema, das durch die Unionsbürgerschaft definiert wird, konstituiert einen exklusiven europäischen Raum der Bürgerrechte mit schroffen symbolischen Grenzen der Zugehörigkeit und der Ausgrenzung. Hierbei reproduzieren sich die externen politischen Grenzziehungen des Europa der Staaten im innergesellschaftlichen Raum – vor allem in den nationalen Migrationsräumen – als soziale Exklusion in der Form abgestufter Teilhaberechte und einer begleitenden Semantik der „neuen Apartheid“ (E. Balibar).
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Derjenige soziale Raum, der unter dem Druck der Grenzveränderungen einen erheblichen Strukturwandel erfährt, ist der europäische Raum der ethnischen Gemeinschaften und kulturellen Minderheiten. Konflikte um kollektive Identitäten sind die Folge, vor allem im Zusammenhang mit den Einwanderungsprozessen, die europaweit in den vergangenen Jahren eine neue Qualität angenommen haben. Bereits vor der jüngsten Erweiterung lebten insgesamt gut 50 Millionen von 344 Millionen Menschen in der EU, die eine andere Sprache als die ihres Aufenthaltslandes sprachen. Hinzu kommen schätzungsweise 14 Millionen Muslime. Nationale Identitätsfragen gewinnen unter diesen Voraussetzungen an politischer Brisanz, und die Bedeutung der religiösen Dimension hat trotz fortschreitender Säkularisierung in Europa deutlich zugenommen. Diese Prozesse können einen neuen Nationalismus oder auch einen nicht weniger fremdenfeindlichen EuroChauvinismus fördern. Dort, wo diese Tendenzen sich mit sozialen Spaltungen verbinden, könnten sie sogar die gegenwärtigen Institutionen der Europäischen Union in Frage stellen (vgl. Fijalkowski 2000). Darauf komme ich in Kap. VII zurück. Die hier exemplarisch skizzierten Szenarien von unbounded cleavages des europaweiten Sozialraumes werden in der Öffentlichkeit zwar zunehmend als interne Probleme der EU-Gesellschaft wahrgenommen, und die EU wird auch vielfach für deren negative Konsequenzen verantwortlich gemacht, beispielsweise für die Probleme in den östlichen Grenzregionen mit großem Lohn- und Wohlstandsgefälle, obwohl diese Probleme keineswegs in jedem Falle der europäischen Politik allein angelastet werden können. Als folgenreicher erweist sich allerdings der Umstand, dass dem gegenwärtigen politischen System der EU in vielerlei Hinsicht die geeigneten institutionellen Instrumente und die nötige soziokulturelle Verankerung fehlen, um nachholend jene Institutionalisierung und Domestikation der cleavages zu erreichen, die der nationalstaatlichen Vergesellschaftungsform nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa ihre relative Integrationskraft und Systemstabilität verliehen hatte. Wir werden es also in Zukunft in Europa, so eine nahe liegende Prognose, zunehmend mit Konstellationen von unbounded cleavages oder, um Claus Offe (2001) zu zitieren, von „schlecht strukturierten Konflikten“ und sozialen sowie kulturellen Brüchen und Spannungen zu tun haben. Mit anderen Worten: Die vertraute europäische Tradition von Spannungsbalancen, die das „europäische Gesellschaftsmodell“ kennzeichneten, verliert zunehmend
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ihren institutionellen und sozialstrukturellen Rückhalt. Gleichzeitig führen neue Ungleichheitsrelationen – territoriale, soziale, ethnische, kulturelle – zu ungeahnten Herausforderungen der sozialen Integration und Desintegration im politisch und ökonomisch geeinten Europa. Von einer europäischen Gesellschaft sind wir damit freilich noch weit entfernt. Die im Zuge der fünften Erweiterungsrunde erfolgten Beitritte zur EU verändern, so lässt sich dieses Kapitel zusammenfassen werden, die geopolitischen Gewichte innerhalb und außerhalb Europas. Geopolitik nimmt vorrangig souveräne und territorial konsolidierte Staaten in den Blick. Der Fokus liegt dabei auf den Außengrenzen. Die EU formiert sich in dieser Hinsicht als ein Machtgebilde mit relativ großer politischer Integrationskraft und darauf gründender außenpolitischer Handlungsfähigkeit und Attraktivität. Zugleich zeitigt der Wandel der Grenzstrukturen in Europa aber auch Rückwirkungen auf die gesellschaftlichen Binnenordnungen und Konstellationen. Als Folge des Grenzabbaus und der neuen Durchlässigkeit der Staatsgrenzen im Binnenraum der EU wird das bisher dominierende grenzenkongruente Gesellschaftsmodell des europäischen Nationalstaates in Frage gestellt. Gelang es letzterem, wie Stein Rokkan zeigt (vgl. Bartolini 2005; Ansell/DiPalma 2004), durch externe Grenzstabilisierung und interne Konfliktinstitutionalisierung soziale Spaltungen und Ungleichheiten mehr oder minder erfolgreich zu überformen und gleichsam einzuhegen, so wird dieses gesellschaftliche Integrationsmodell mit fortschreitender Europäisierung zunehmend unterminiert, ohne dass auf europäischer Ebene ein neues Modell gesellschaftlicher Integration erkennbar würde. Die europäische Integration entkoppelt sich somit auch in dieser Hinsicht mehr und mehr von ihren Bezugsgesellschaften. Es erhebt sich dann aber die Frage, mit welchen spezifischen Grenzen sich die sozialen Integrationsformen unterhalb der politischen Integrationsebene in Zukunft formieren und Geltung verschaffen können. Welche Konfliktpotentiale und Pazifizierungsaussichten wird dann die neue europäische Konstellation von unbounded cleavages hervorbringen? Im nachfolgenden Kapitel wird dieser Frage am Beispiel des europäischen Migrationsraumes nachgegangen.
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VII. Bürgerrechte und soziale Exklusion im europäischen Migrationsraum
Mit dem Prozess der Europäisierung konstituieren sich zahlreiche neue Räume der Vergesellschaftung in Europa, deren Grenzen und soziale Dynamiken einerseits nicht mehr mit den segmentären Räumen der einzelnen Nationalstaaten zusammenfallen, andererseits aber auch noch keinen integrierten europäisch-transnationalen Gesellschaftsraum bilden. Der europäische Sozialraum zeigt vielmehr eine neuartige Konfiguration von heterogenen und weitgehend entkoppelten Vergesellschaftungen und Rechtskreisen mit differenzierten Mitgliedschaftsräumen höchst unterschiedlicher territorialer Ausdehnung und Integrationsgrade. Wir können Europa nicht mehr allein vom überkommenen nationalstaatlichen Vergesellschaftungsmodell her denken (Beck/Grande 2004), freilich auch nicht ohne dieses. Nationale, transnationale und supranationale Vergesellschaftungen bilden ein neuartiges und spannungsreiches Beziehungsgefüge mit einer eigenen Entwicklungs- und Konfliktdynamik, welche die Voraussetzungen und Bedingungen der sozialen Integration, der Zentrum-Peripherie-Beziehungen, der sozialen Teilhabe, aber auch der kollektiven Identitätsbildung im europäischen Maßstab neu strukturiert. Im vorigen Kapitel habe ich zu zeigen versucht, dass eine viel versprechende Möglichkeit, sich aus soziologischer Perspektive dem multidimensionalen sozialen Raum Europa zu nähern, darin besteht, die neue Struktur Europas vom Konzept der Grenze her zu denken. Das bedeutet: Strategien der Grenzbildung und Grenzkontrollen als konstitutiv für Prozesse der sozialen Systembildung zu betrachten. Dabei ist die grundlegende Dialektik von Grenzüberschreitung und Grenzbefestigung in den Mittelpunkt der Betrachtung zu stellen. Der norwegische Sozialwissenschaftler Stein Rokkan hat die Fruchtbarkeit dieser theoretischen Perspektive unter historisch-soziologischen Gesichtspunkten herausgestellt. „Die Geschichte der Strukturierung menschlicher Gesellschaften“, um an die grundlegende Erkenntnis Rokkans noch einmal zu erinnern, „lässt sich gewinnbringend als Interaktion zwischen
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geographischen Räumen und Mitgliedschaftsräumen untersuchen“ (Rokkan 2000: 135). Ein Grundgedanke dieses theoretischen Ansatzes ist, wie gezeigt, dass externe Grenzziehungen von territorialen Sozialsystemen auf eine je spezifische Weise auf die interne Strukturierung der jeweiligen Gesellschaften zurückwirken. Rokkans Theorie postuliert demnach einen Zusammenhang zwischen der Art und Weise der Grenzbefestigungen bzw. der Kontrolle der Grenzüberschreitungen und der jeweiligen Struktur der internen Institutionenordnung (vgl. Flora 2000; ders. 2000a). Während Rokkans Analysen auf den historischen Nationalstaat begrenzt blieben, stehen wir heute vor der Herausforderung, diese theoretische Perspektive auch für eine Analyse der Formierung der „europäischen Gesellschaft“, genauer der europäischen Vergesellschaftungen fruchtbar zu machen. In diesem Kapitel soll dies nun am Beispiel von zwei transnationalen Räumen versucht werden: Für den europäischen Raum der Bürgerschaft und den europäischen Migrationsraum. 1
Staatsbürgerschaft und soziale Schließung
Die rechtliche Institution der Staatsbürgerschaft ist einer der wirksamsten Mechanismen der Konstituierung des politisch-gesellschaftlichen Mitgliedschaftsraumes in der Gestalt des modernen Nationalstaats „Jeder moderne Staat definiert formal sein Staatsvolk, indem er öffentlich einen bestimmten Personenkreis als seine Mitglieder anerkennt und alle übrigen als Nichtbürger oder Ausländer bezeichnet. Jeder Staat verbindet den Status der Bürgerschaft mit bestimmten Rechten und Pflichten“ (Brubaker 1994: 45). Parallel zur territorialen Konsolidierung der Nationalstaaten als umgrenzte und geschlossene Sozialsysteme bildete sich das Staatsbürgerrecht aus. Es erweist sich als ein mächtiges Instrument der sozialen Schließung (vgl. Mackert/Müller 2000). Es zieht gleichsam eine unsichtbare, rechtliche und symbolische Grenze zwischen denjenigen, die zur nationalen Gemeinschaft gehören und denjenigen, die nicht dazugehören. Diese Grenzziehung, die durch die nationale Staatsbürgerschaft erfolgt und Mitglieder von Nichtmitgliedern des jeweiligen Staatsverbandes und der nationalen Gemeinschaft unterscheidet, findet in den Staatsgrenzen ihr territoriales Pendant. Der sozialen Schließung durch das Staatsbürgerschaftsrecht analog ist daher die territoriale Schließung durch die Staatsgrenzen eines Landes. Nationalstaatlicher Mitgliedschaftsverband und staatliches Territorialsystem verweisen so wechselseitig aufeinander. 144
Das Staatsbürgerschaftsrecht dient, außer zur Kontrolle von Grenzverletzern, wie Schmugglern, Spionen und grenzüberschreitend tätigen Kriminellen, vor allem der selektiven Kontrolle von unerwünschter Einwanderung (vgl. Horn/Kaufmann/Bröckling 2002). Flüchtlinge, Asylanten, Arbeitsmigranten als die wichtigsten Typen von grenzüberschreitenden Personengruppen, sind daher diejenigen Personengruppen, auf die das Staatsbürgerschaftsrecht selektiv exkludierend angewendet wird. Alle Staaten, auch Einwanderungsgesellschaften wie die USA haben dasselbe vitale Interesse daran, Migration, namentlich unerwünschte Zuwanderung möglichst wirksam zu kontrollieren. Die Kontrolle von Zuwanderung erfolgt unter anderem über Grenzkontrollen, mithin durch Errichtung von Zugangsbarrieren für nicht erwünschte Personenkreise. Diese Kreise werden anhand der Staatsbürgerschaft identifiziert und entweder abgewiesen, oder es wird ihnen unter bestimmten Auflagen – wie z.B. mit befristetem Aufenthaltsrecht bei Touristen oder Saisonarbeitern – der Zutritt gewährt. Die Abgrenzung gegenüber Vollbürgern ist zwangsläufig formaler Natur. Die Nichtzugehörigkeit wird erst unter der „besonderen Linse administrativer Kontrolle sichtbar“ (Brubaker). Die Institution der Staatsbürgerschaft geht mit der Errichtung von administrativen und polizeilichen Klassifizierungs- und Überwachungsmechanismen einher. Diese führen die Unterscheidungsoperationen an den Staatsgrenzen bzw. im Inland praktisch durch. Externe Schließung an den Grenzen und interne Abgrenzung gegenüber Nichtbürgern gehen so Hand in Hand (vgl. Eigmüller/Vobruba (Hg.) 2006; Eigmüller 2007). 2
Unionsbürgerschaft – eine postnationale Staatsbürgerschaft?
Die vorangegangenen Ausführungen beschreiben auf idealtypische Weise die historisch gewachsene Situation des alten Europas, des Europas der weitgehend nach außen geschlossenen und intern relativ homogenisierten Nationalstaaten. Wie verändert sich nun diese Lage mit der europäischen Integration im Hinblick auf die Migration in einem Europa, das sich mit der Schaffung des europäischen Binnenmarktes ohne Grenzen und der Unionsbürgerschaft den Abbau von Staatsgrenzen auf die Fahnen geschrieben hat? Auf die Unionsbürgerschaft, die mit dem Vertag von Maastricht europarechtlich kodifiziert wurde, richteten und richten sich große Erwartungen, besonders an deren Legitimations- und Inklusionsleistungen. Seit den
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1970er Jahren wurde vom Europäischen Parlament und Europäischen Rat die Unionsbürgerschaft propagiert, um die demokratische Legitimationsschwäche der EU wett zu machen und eine größere Bürgernähe zu erreichen (vgl. Hansen 2000: 142 f). Doch das Europa der Bürger findet sich ebenso wenig wie das Subsidiaritätsprinzip in den Verträgen ausreichend konkretisiert. Es handelt sich um deklamatorische Formeln und rhetorische Kompensationsbemühungen. Trotzdem begründet die Unionsbürgerschaft eine neue Rechtsfigur, die – wie Lepsius bemerkt – „den Übergang von den ‚Völkern der Mitgliedsstaaten‘ zu einem Volk der EU einleiten könnte“ (Lepsius 2000b: 303). In diese Richtung weisen auch die Forderungen nach einem einheitlichen Wahlgesetz zum Europäischen Parlament ohne Länderquoten, die durch die Vertragsreformen nach Maastricht bereits erfolgte weitgehende Stärkung der Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments sowie die Entwicklung, die zur Ausdehnung der Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat führt (zuletzt durch den Vertrag von Lissabon). Diese Tendenzen bergen das Potential für einen Typenwechsel der EU: „Die Unionsbürgerschaft könnte sich zu einer postnationalen Staatsbürgerschaft entwickeln, die EU auf einen Kurs der Staatsbildung ohne Nationsbildung setzen“ (ebd.). Das würde die Ausdifferenzierung eines exklusiven europäischen Bürgerstatus im Rahmen des supranationalen Rechtsraumes voraussetzen. Das daraus entstehende Nebeneinander von Rechten und Pflichten ließe sich dann aber nicht mehr in das Ordnungsmodell des Nationalstaates einbinden. Eine greifbare Entwicklung in diese Richtung ist allerdings derzeit nicht abzusehen. Ebenso wenig ist mit einer Entwicklung zu rechnen, die auf der Basis der Unionsbürgerschaft zur Herausbildung einer europäischen Identität und damit zu einem espace social europeènne führen könnte (vgl. Eder/Giesen 2001: 267). Die Unionsbürgerschaft bleibt stattdessen wesentlich auf den Zusammenhang von Marktbildung und Arbeitnehmerfreizügigkeit der Bürger von Mitgliedsstaaten der EU verwiesen. Dieser zentrale Konnex bleibt auch im Lissabonner Vertrag unverändert. Dort heißt es: „Unionsbürger ist, wer die Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaates besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ohne diese zu ersetzen“ (Art. 20 EGV n.F.) Weiter lautet der entsprechende Artikel: „Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in der Verfassung vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten.“ Im Anschluss daran
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werden noch aufgezählt: das aktive und passive Wahlrecht bei den Wahlen zum Europaparlament und bei den Kommunalwahlen für EU-Ausländer an ihrem Wohnsitz, das Recht auf konsularischen Schutz durch diplomatische und konsularische Behörden eines jeden Mitgliedslandes sowie schließlich das Recht, Petitionen an das Europäische Parlament zu richten. Darin erschöpft sich der mit der Unionsbürgerschaft verbundene Rechtsstatus. Ihr Kern ist also die Freizügigkeitsnorm. 3
Unionsbürgerschaft und Migrationskontrolle
Nüchtern betrachtet, beschränkt sich demnach die soziale Inklusionskraft der Unionsbürgerschaft auf eine äußerst kleine Minderheit von Bürgern der Union, nämlich auf jenen Teil, der transnational mobil ist. Bekanntlich bestehen auf den regulären Arbeitsmärkten der EU-Mitgliedsstaaten nach wie vor beträchtliche soziale und kulturelle, vor allem sprachliche Barrieren, die einen ausgedehnteren grenzüberschreitenden Austausch von Arbeitskräften in Grenzen halten. Grenzüberschreitend bewegen sich fast nur Angehörige bestimmter Elitensegmente, vor allem Hochqualifizierte, Spitzenbeamte oder auch Studierende. Schätzungen zufolge handelt es sich dabei um ca. 5 Millionen EU-Bürger oder 1,5 % der EU-Bevölkerung. Diese Lage verdeutlicht nicht nur, dass der Unionsbürgerschaft ein im Kern „ökonomistisches Verständnis der Staatsbürgerschaft“, nämlich die Leitidee der „Marktbürgerschaft“ zugrunde liegt (vgl. Martiniello 1995: 39f). Außerdem repräsentiert die Unionsbürgerschaft einen ausgeprägten Partikularismus, wobei letztlich nur eine verschwindende Minderheit der EU-Bevölkerung real in den Genuss der Inklusion in den europäischen Raum des Rechts und der Zugehörigkeit – der wiederum letztlich durch nichts anderes als den Raum des Binnenmarktes definiert wird – gelangt. Auf diese Weise spielt der universalistische Gehalt von Bürgerrechten im herkömmlichen Verständnis in der Unionsbürgerschaft nur eine untergeordnete Rolle (vgl. Hansen 2000). Soweit es um die Zugangsberechtigung zur Staatsbürgerschaft der EU geht, dominiert nach wie vor ein „primordialer Code“ (Giesen 1999), weil sie letztlich an den Besitz der Staatsbürgerschaft eines Mitgliedslandes gebunden bleibt und keinen europäischen Bürgerschaftsraum ausdifferenziert: „The concept of European citizenship .. is still largely derived from the national concept of citizenship“ (Martiniello 1995: 41). Im Hinblick auf die Inklusionslogik ist
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der Binnenmarkt mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit als Kernnorm insofern die einzig relevante Bezugsgröße. Für das Ausländerwahlrecht auf kommunaler und europäischer Ebene gilt im Grunde das Gleiche wie für die Arbeitnehmerfreizügigkeit: Es betrifft nur eine verschwindend kleine Zahl von Menschen. Anders stellt sich die Lage freilich dar, wenn man die Exklusionseffekte der Unionsbürgerschaft betrachtet. Dann zeigt sich, dass die Unionsbürgerschaft in erster Linie als ein Instrument der politisch-administrativen Kontrolle von unerwünschter Migration fungiert. Hinzu kommt, dass sie eine rechtlich-administrative Klassifizierung von Einwanderungsgruppen unterstützt und dabei, wie weiter unten noch ausführlicher dargelegt werden soll, bestimmte sozial diskriminierende Effekte bewirkt. Damit trägt die Unionsbürgerschaft wesentlich mit dazu bei, dass die „Festung Europa“ aufgebaut wird und wirksam bleibt. Das ist mittlerweile ein Gemeinplatz. Doch die Festungsmetapher erweist sich als unterkomplex und im Grunde als irreführend. Sie unterstellt nämlich eine Eindeutigkeit des Innen-Außen-Schemas und einen Grad an territorialer Außenabgrenzung, die bei genauerer Betrachtung nicht zutreffend sind. Grenzüberschreitungen von Personen lassen sich in der Praxis nur äußerst schwer verhindern. Staatsgrenzen können niemals hermetisch abgeriegelt werden. Hinzu kommt, dass die Außengrenzen der EU nicht ein für alle Mal feststehen. Sie sind expansiv und variabel. Mit jeder Erweiterungsrunde expandieren sie, und zwar in die Peripherien der Kernländer der EU weiter: in Richtung der südlichen Peripherie bei früheren, in Richtung Osten bei der bisher letzten, der fünften Erweiterungsrunde, und die Perspektive einer Südosterweiterung zeichnet sich heute schon mit dem Beitritt Rumäniens und Bulgariens und mit der geplanten Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Kroatien und der Türkei ab. Die territoriale Finalität der Europäischen Union ist in keinem der Europaverträge näher bestimmt. Fortwährend verkündete die Ukraine, dass auch sie prinzipiell an einem EU-Beitritt interessiert sei. Weitere Länder Ost- und Südosteuropas, vielleicht auch des Kaukasus, Maghreb und Nahen Ostens könnten demnächst durchaus noch dazukommen.1
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Die 2008 gegründete Europäische Mittelmeerunion eröffnet in dieser Hinsicht noch weitere Horizonte.
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Externe Grenzziehung und interne Migrationsdynamik
Wie aber strukturiert nun die Institution der Unionsbürgerschaft den europäischen Migrationsraum? Nach welchem Muster vollzieht sich die Dynamik der europäischen Integration? Wie interagiert die Grenzbildungsfunktion der Unionsbürgerschaft mit den Grenzüberschreitungen des europäischen Migrationsregimes? Welche sozialen Wirkungen zeitigt die rechtliche und symbolische Grenzbefestigung der europäischen Staatsbürgerschaft auf die Struktur der sozialen Ungleichheit in Inneren der EU-Gesellschaften? Solche Fragen ergeben sich aus dem eingangs erwähnten territorial-soziologischen Ansatz Stein Rokkans. Dabei geht es um die spezifische Dialektik von Grenzüberschreitung und Grenzbefestigung, und zwar im Hinblick auf die interne Strukturierung der territorialen Sozialräume Europas. Die These, die hier knapp umrissen werden soll, geht von einem spezifischen Muster der Inklusion und Exklusion aus, das auch besonders für den europäischen Migrationsraum Relevanz besitzt. Ich komme dabei wieder auf das von Vobruba analysierte „Muster der konzentrischen Kreise“ und der abgestuften internen Peripherisierungen zurück. Im Kern geht es dabei darum, dass bei ihren bisherigen Erweiterungen die Europäische Union ihre jeweils benachbarte Peripherie inkludiert hat und dabei eine Pufferzone, einen cordon sanitaire zwischen dem wohlhabenden Kerneuropa einerseits und den ökonomisch unterentwickelten Regionen Europas andererseits geschaffen hat. Gleichzeitig wurde den Ländern des äußeren Rings der Peripherie außerhalb des Integrationsraumes eine realistische Beitrittsperspektive für die Zukunft geboten, so dass diese sich Hoffnung machen konnten, früher oder später ebenfalls in den Wohlstandsbereich der zentralen Volkswirtschaften Europas integriert zu werden. Mit dieser Strategie gelang es der EU, ihren Wohlstandskern zu schützen und gleichzeitig vor allem die ökonomischen Chancen, die sich für die Kernökonomien in deren Peripherie ergaben, selektiv für sich nutzbar zu machen.2 Schutzfunktionen für die 2
Bei Vobrubas theoretischem Ansatz handelt es sich allerdings um eine ex postRationalisierung der bisherigen EU-Erweiterungspolitik, welche die konkreten, den historischen Umständen geschuldeten politischen Motive, die den verschiedenen Erweiterungsrunden zugrunde lagen, außer Acht lässt. Als abstraktes Modell eignet es sich aber gut, um die politischen und sozialen Dynamiken der Zentrums-Peripherie-Struktur Gesamteuropas zu analysieren. In diesem Sinne verwende ich Vobrubas Theorie hier als heuristishes Modell.
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Kernökonomien übernehmen dabei beispielsweise die im Zusammenhang der Schengener Abkommen aufgebauten Hürden für Migration und die verschärften Kontrollen der Außengrenzen, aber auch die gezielte Abschottung des Europäischen Binnenmarktes gegenüber Produkten aus so genannten sensiblen Sektoren, wie der Stahlindustrie oder der Agrarwirtschaft. Auf der anderen Seite nutzen die zentralen Wirtschaftsregionen Europas die Vorteile des Wohlstandsgefälles und der Arbeitskostendifferenz für sich, und ihre Exportindustrien profitieren von den neuen Marktchancen in den Transformationsländern.3 Bereits jetzt zeichnet sich aber ab – und das ist der entscheidende Punkt –, dass die Erweiterungsfähigkeit der EU bald an ihre geographischen Raumgrenzen stoßen wird. Das bedeutet nicht nur, dass sich eine weitere Expansion der EU in die äußere Peripherie nur noch schwer unter der kulturellen und geographischen Identitätsformel Europa durchführen lässt. Die Außengrenzen werden mithin in Zukunft noch schärfer gezogen sein als in der Vergangenheit, geographisch wie politisch und auch kulturell. Vobruba hat dieses neue Szenario folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Dass die Dialektik von Integration und Expansion an ihre Grenzen stößt, bedeutet, dass die Staaten des ‚cordon sanitaire‘ außerhalb der Europäischen Union sich heute nicht mehr als Peripherie der Europäischen Union von morgen und als Teil ihres wohlhabenden Kerns von übermorgen betrachten können.“ (Vobruba 2001: 148). Das hat zur Folge, dass sich der geopolitische Integrationsmechanismus der konzentrischen Kreise nach innen kehrt und ein neues europäisches Muster von grenzüberschreitenden cleavages hervorbringt. Zugespitzt formuliert: Die sich verschiebenden externen territorialen Grenzziehungen der expandierenden EU reproduzieren sich intern als cleavages, die sich als Spaltungs- und Konfliktlinien der „europäischen Gesellschaft“ mit den bestehenden, aber weitgehend institutionalsierten Ungleicheits- sowie Zentrum-Peripherie-Strukturen der nationalen Gesellschaften Europas überschneiden. Die sich daraus ergebenden Spannungen und Konflikte können immer schwerer über die Staatsgrenzen hinaus externalisiert werden (vgl. Vobruba 2005), wie es noch in der EU vor der fünften Erweiterungsrunde üblich war; jetzt erfahren sie hingegen eine Internalisierung in 3
Für eine erhellende Analyse der Wohlfahrtseffekte der EU-Osterweiterung in West- und Mittelosteuropa unter besonderer Berücksichtigung der Zuwanderungsproblematik siehe: Hebler 2002.
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den durch die expandierenden EU-Außengrenzen neu formierten sozialen Binnenraum der „europäischen Gesellschaft“. Bezogen auf die Kontrolle der Migration an den äußeren Grenzen der Mitgliedsstaaten Europas reproduziert sich das skizzierte Muster insbesondere durch die Abschiebungsketten nach dem Prinzip des „sicheren Erstaufnahmelandes“. Solange Deutschland von solchen „sicheren Drittstaaten“ umgeben ist, wird es dadurch vor massiveren Migrationswellen weitgehend geschützt. Ganz anders stellt sich die Lage aber dar, wenn man die Exklusionswirkungen der Unionsbürgerschaft betrachtet. Immer zeitigt Staatbürgerschaft, wie jede Art von kollektiver Zugehörigkeitsdefinition, auch ausschließende Effekte, gegenüber Fremden und Außenseitern (vgl. aus ethnologischer Sicht: Barth 1969: 15ff.). Die Institution der Staatsbürgerschaft definiert immer gleichzeitig mit der Abgrenzung des Mitgliedschaftskreises auch den Kreis der Nichtbürger, der Ausländer, der Fremden und Nichtdazugehörigen. So auch die Unionsbürgerschaft: Sie erweist sich, wie ich im vorangehenden Kapitel dargelegt habe, als ein effektives rechtliches Instrumentarium zur politisch-administrativen Kontrolle von unerwünschter Migration, da nur Bürger der Mitgliedsländer die mit der Unionsbürgerschaft garantierten Rechte, insbesondere Freizügigkeit auf dem Territorium der EU genießen. So genannte Drittstaaten-Angehörige, Asylanten, Flüchtlinge oder „Illegale“ sind von diesen „universalen“ EU-Rechten prinzipiell ausgeschlossen. Gleichzeitig werden die Staaten der südlichen und östlichen Peripherie dazu verpflichtet, ihre Außengrenzen verstärkt technisch aufzurüsten und in Kontroll- und Fangtechnologien zu investieren. Der große Zuwanderungsdruck vor allem aus afrikanischen, südosteuropäischen und asiatischen Regionen ist somit in erster Linie von den Ländern der Peripherie nach den strengen Anforderungen des Schengen-Regimes zu bewältigen. Man kann mit Vobruba auch sagen, dass „auf diese Weise die Kosten der Exklusionspolitik vom Zentrum auf die Peripherie abgewälzt wird“ (vgl. Vobruba 2005: 21). Eine solche Externalisierungsstrategie lässt sich nicht nur in Südspanien und Polen, sondern auch in Italien, besonders in Süditalien beobachten. Für Polen war die Sicherung und Aufrüstung ihrer Ostgrenzen einer der Preise, der für den Beitritt zur EU im Zuge ihrer Osterweiterung zu entrichten war. Die Einführung des Visazwangs, z.B. für Ukrainer, die nach Polen einreisen wollen, ist dafür kennzeichnend: Traditionelle lokale Handelskontakte in der Grenzregion werden dadurch erschwert, wenn nicht
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sogar unterbunden. Das Visum ist in diesem Falle zugleich ein rechtliches Instrument und ein politisches Symbol der neuen Grenzziehungen und der damit verbundenen Exklusion innerhalb des integrierten Europa. Die EU-Randstaaten müssen deshalb nachhaltig daran interessiert sein, selbst ebenfalls mittel- und langfristig von Pufferzonen umgeben zu sein. Nur so können langfristig die Kosten der Migrationsabwehr an die weiteren Anrainerstaaten weitergegeben werden. Die Strategie der Vorverlagerung der Grenzkontrollen durch Errichtung von Auffanglager etwa in den Maghrebstaaten (als Gegenleistung für erhöhte Zuwendungen aus der Entwicklungshilfe), wie sie vom Innenminister der Regierung Schröder, Otto Schily, propagiert wurde, weist ebenfalls in diese Richtung. Aber auch ein prinzipielles Offenhalten der Beitrittsperspektive für Länder wie die Ukraine, Weißrussland und die Türkei erfüllen den gleichen Zweck. Es sind Strategien, die den Mechanismus der sozialen Schließung Europas untermauern. Je mehr die Erweiterungsfähigkeit der EU an ihre geographischen und kulturellen Raumgrenzen stößt, je weniger sich eine weitere territoriale Expansion noch unter der geopolitischen Identitätsformel Europa, also geographisch und kulturell, plausibel machen lässt, desto schärfer werden die Außengrenzen gezogen. In diesem Zusammenhang ist auch die Türkeifrage zu sehen: Ein Beitritt der Türkei ist nicht zuletzt aufgrund des großen anatolischen Migrationspotentials für die EU und insbesondere für Deutschland problematisch. Darauf wird auf Seiten der Beitrittsgegner immer wieder verwiesen (vgl. Wehler 2004; Madeker 2008). Auf der anderen Seite würde eine Verschiebung der EU-Außengrenze an die Ostgrenze der Türkei durch ihre Pufferfunktionen vor allem den sicherheitspolitischen Interessen Kerneuropas im östlichen Mittelmeer Rechnung tragen. Eine Assoziierung der Türkei nach dem Prinzip der „privilegierten Partnerschaft“, wie sie von der CDU als Alternative zur Vollmitgliedschaft propagiert wird, könnte eine sinnvolle Lösung für dieses Dilemma sein. Fraglich ist allerdings, wie viel Frustration der nach wie vor äußerst vitale kemalistische Nationalismus in der Türkei verträgt. 5
Abgestufte Inklusion
Ein Grundgedanke der Soziologie der Grenzen ist, dass externe Grenzziehungen in einem spezifischen Wechselverhältnis mit sozialen Strukturierun-
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gen im Inneren des jeweiligen Mitgliedschaftsverbandes stehen. So konnten sich beispielsweise erst mit der territorialen Konsolidierung des Nationalstaates die demokratischen Institutionen und wohlfahrtsstaatlichen Arrangements herausbilden, die zu den Haupterrungenschaften der europäischen Moderne gehören (vgl. Rokkan 2000; Ferrera 2004). Nationale Identitäten sind in Europa nach wie vor eng mit Grenzen verknüpft bzw. auf sie bezogen (vgl. Eisenstadt 1998: 241). Die besondere dialektische Dynamik der Grenzöffnung im Inneren auf der einen und der Außenabgrenzung der EU auf der anderen Seite zeigt ebenfalls spezifische soziale Strukturierungswirkungen im ökonomisch und politisch integrierten Sozialraum der EU. Es sei hier nur exemplarisch auf die interne Hierarchisierung von Einwanderergruppen im Hinblick auf deren staatsbürgerlichen Status zurückgekommen: Den höchsten Status, d.h. Freiheits- und Partizipationsrechte sowie sozialen Schutz, genießen die Staatsbürger eines EU-Mitgliedslandes und damit diejenigen Bürger, die den europäischen Pass besitzen. Unionsbürger sind die „Vollbürger“ der europäischen Gesellschaften. Bei den anderen Migrantengruppen vermindert sich der Rechtstatus und damit die soziale Stellung gegenüber der jeweils vorhergehenden Kategorie grob in der folgenden Abstufung: 1. Angehörige von assoziierten Staaten, 2. Drittstaatenangehörige, 3. Asylbewerber, 4. illegale Zuwanderer. Man könnte hier von abgestufter Inklusion sprechen, die zu einer spezifisch europäischen Klassenbildung von Migranten führt. Auffällig ist hierbei, dass sich das Muster der territorialen Expansion der EU als internes soziales Inklusions- und Exklusionsmuster von Zuwanderern im Binnenraum der „europäischen Gesellschaft“ reproduziert. Mit anderen Worten: Bürger von Beitrittsländern erhalten – nach angemessenen Übergangsfristen bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit – den staatsbürgerlichen Status von Voll-Unionsbürgern, Bürger aus den umliegenden Pufferzonen können auf einen solchen Status für eine unbestimmte Zukunft hoffen und Menschen jenseits des zum Hoffnungsgürtel gewordenen cordon sanitaire werden zu Einwanderern sans papiers gestempelt. Das bedeutet in der Regel nach geltendem europäischem Recht: Illegalisierung und Kriminalisierung. Migration fördert immer soziale Ungleichheit in den Einwanderungsgesellschaften, weil die große Masse der Zuwanderer meist ein Leben lang einen vergleichsweise niedrigeren sozialen Status besitzen und – oft über mehrere Generationen hinweg – zu den ökonomisch, sozial und politisch Benachteiligten gehören. Die Migrationspolitik in Europa und das EU-
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Recht zusammen aber führen zu einer neuen europäischen Spaltung der Zuwandererpopulationen. Das Spektrum der sozialen Hierarchie reicht also von Vollbürgern mit allen sozialen Rechten bis zur vollkommenen Rechtlosigkeit von illegalen Einwanderern. Wo sich diese an der Einwanderungsfrage zeigenden neuen sozialen Spaltungslinien der „europäischen Gesellschaft“ mit sozialen Polarisierungen und xenophobischen Ressentiments verbinden, könnten neue Formen eines extremen Nationalismus und interethnischer Konflikte die bestehenden Institutionen der EU in Frage stellen (vgl. Flora 2000a). Deshalb ist mit dem französischen Philosophen Étienne Bailbar (2003) nachdrücklich vor einer neuen „europäischen Apartheid“ zu warnen. Diese öffnet nicht nur neuen Formen der ökonomischen Ausbeutung und Diskriminierung Tür und Tor. Sie führt auch zu rassischen, administrativen und kulturellen Stigmatisierungen von Einwanderern und damit zu einer neuen Ethnisierung der sozialen Ungleichheit in Europa (vgl. für Spanien: Eigmüller 2007). Die Migrationsfrage in Europa fordert die Soziologie somit auf, das Konzept des transnationalen Bürgerstatus unter Berücksichtigung der transnationalen Grenzverschiebungen weiterzuentwickeln (vgl. Mackert/Müller (Hg.) 2007). Politisch ginge es aber auch darum, nach Wegen zu suchen, die bestehenden nationalen Identitäten in Europa mit gemeinsamen Standards von „Eurozivilität“, d.h. einer sich auch auf die Migrantenpopulationen erstreckenden Europäisierung von Menschen- und Bürgerrechten zu vereinbaren (Fijalkowski 2000). Denn eines liegt auf der Hand: Mit restriktiven Staatsangehörigkeits- und Einbürgerungsregelungen, exklusionswirksamer Visapolitik und polizeilichen Abschiebepraktiken allein lassen sich die sozialen Probleme der Europäisierung des Migrationsraumes auf lange Sicht nicht lösen.
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VIII. Soziale Ungleichheit in europäischer Perspektive
Die überraschende Dynamik, die der Prozess der europäischen Integration in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat, weckt Erwartungen in Bezug auf eine fortschreitende Europäisierung der nationalen Gesellschaften. Wenn sich die Hoffnungen auch meist auf eine Annäherung und Konvergenz der in Europa stark segmentär differenzierten Sozialräume richten, so darf eine soziologische Annäherung an das neue Europa Desintegrationsprozesse ebenso wenig unbeachtet lassen wie strukturelle Differenzierungen, Disparitäten und Ungleichheitsverhältnisse der anvisierten „europäischen Gesellschaft“. In den Blick geraten dabei die im vorangegangenen Kapitel bereits behandelten Migrationsströme, aber auch die Ungleichgewichte zwischen den Regionen und einzelnen Ländern der Europäischen Union, das immense Wohlstandsgefälle zwischen West- und Osteuropa, das nach der Osterweiterung von 2004 bzw. 2007 zunehmend als internes Problem der EU wahrgenommen wird, sowie insgesamt die Veränderung der ZentrumPeripherie-Relationen im gesamteuropäischen Raum. Auf diese Weise wird Europa als neuer transnationaler Referenz- und Zurechnungsraum von sozialer Ungleichheit und deren Regulierung zugleich beobachtet und konstruiert. Paradoxerweise ist jedoch gerade die Soziologie von allen Sozialwissenschaften wohl diejenige Disziplin, die in theoretischer und methodologischer Hinsicht am schlechtesten für die Analyse transnationaler sozialer Ungleichheitsdynamiken gerüstet zu sein scheint (vgl. Berger/Weiß (Hg.) 2008). Das liegt vor allem an dem wissenschaftsgeschichtlichen Legat unseres Faches: Gesellschaft wurde als Entdeckung bzw. Erfindung des Nationalstaates und der nationalen Rechtssysteme betrachtet. Der Gesellschaftsbegriff der Soziologie wird deshalb durch einen nationalstaatlichen Bias, auch als „methodologischer Nationalismus“ bezeichnet, bestimmt. Dieser legt die Sozialstrukturanalyse europäischer und weltgesellschaftlicher Zusammenhänge methodologisch auf einen Vergleich von staatlich verfassten
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nationalen Gesellschaften fest (vgl. Bayer/Mordt/Terpe/Winter (Hg.) 2008). Mit diesem Begriffsinstrumentarium lässt sich das heutige wirtschaftlich und politisch integrierte Europa schon deshalb nicht mehr angemessen analysieren, weil es sich um ein nicht-staatliches und heterarchisches Netzwerk von nationalen und supranationalen Institutionen handelt. Die Politik der EU orientiert sich zudem – wie die meisten internationalen Organisationen weltweit – mehr an globalen Leitideen mit universalistischen Prinzipien – Marktbildung, Wettbewerbsfreiheit, Menschenrechte, Regionalismus, Geschlechtergleichheit, Individualismus, soziale Inklusion etc. – als an primordialen Prinzipien (vgl. Meyer 2005). Damit ähnelt die Europäische Union in ihrer Struktur und politischen Kultur mehr der Weltgesellschaft als dem politischen Vergesellschaftungsmodell des relativ geschlossenen und homogenen Nationalstaates. Daher ist eine Europäisierung der Ungleichheitssoziologie mit beträchtlichen epistemologischen Hindernissen konfrontiert. Das vermag zu erklären, warum soziale Ungleichheit bisher weder in einer weltgesellschaftlichen noch in einer europäischen Perspektive zu einem nennenswerten Forschungsthema avancieren konnte. Die transnationalen Dynamiken stellen die Ungleichheitssoziologie somit vor neue Herausforderungen. Grundlegende analytischen Konzepte und Perspektiven herkömmlicher Ansätze der Ungleichheitssoziologie müssen daher im Hinblick auf deren Anwendbarkeit auf europäische Zusammenhänge überdacht und gegebenenfalls für die transnationalen Bezugsebenen neu justiert werden. In diesem Kapitel soll zunächst die Reichweite und Erklärungskraft von komparativen Untersuchungen zur Europäisierung der sozialen Ungleichheit in der EU kritisch diskutiert werden (Abschnitt 1). Daran schließen sich Überlegungen zur Erklärbarkeit von Ungleichheitswirkungen aus der Politik der Europäischen Union an (Abschnitt 2). Dass sich Disparitäten nicht zwangsläufig als Ungleichheiten interpretieren lassen, wirft die Frage auf, wie Ungleichheit im Zuge des europäischen Einigungsprozesses wahrgenommen und neu definiert wird (Abschnitt 3). 1
Reichweite und Grenzen des europäischen Gesellschaftsvergleichs
In den vergangenen Jahrzehnten hat die Europäische Union, wie andere internationale Organisationen auch (etwa die OECD und die Weltbank),
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damit begonnen, umfassend europabezogene sozialstatistische Daten zu erheben sowie große transnationale Sozialforschungsprojekte zu etablieren (vgl. Haller 2006). Dabei fördert die Europäische Union nicht nur die Vereinheitlichung von Indikatoren und Kriterien. Sie beteiligt sich auch maßgeblich an der Sozialberichterstattung, mithin an der sozialwissenschaftlichen Beobachtung der europäischen Sozialstrukturen. Bezog sich die Sozialberichterstattung in der Vergangenheit stets auf nationale, also binnengesellschaftliche Entwicklungen der Sozialstruktur, so erfolgt mit der Datenerhebung im Rahmen der EU allmählich eine Art Europäisierung der Sozialforschung. Mittlerweile liegen aufschlussreiche Untersuchungen vor, die solche Daten auswerten und versuchen, spezifisch europäische Spaltungslinien und Ungleichheitsdimensionen, die auf die zunehmende Durchlässigkeit der Grenzen (Marktbildung; Migration) sowie auf integrations- und vor allem binnenmarktinduzierte Veränderungen der Sozialstrukturen zurückzuführen seien, zu identifizieren. Die markantesten europäischen Muster sind das ausgeprägte Wohlstandsgefälle zwischen West- und Osteuropa (vgl. Vobruba 2005; Mau 2004), die Asymmetrien zwischen innereuropäischen Metropolen und ländlichen Regionen (vgl. Heidenreich 2003), große Disparitäten im Regionalgefüge (vgl. Mau 2004) sowie die geopolitisch folgenreichen Ungleichgewichte in der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zwischen EU-Mitgliedsländern und Nachbarländern außerhalb der Außengrenzen (vgl. Vobruba 2005). In der Literatur besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass im europäischen Referenzrahmen der Regionalisierung von Ungleichheit ein zentraler Stellenwert zukommt. Tatsächlich sticht die territoriale Dimension von Ungleichheit, wie die Verschiebungen in den Zentrum-PeripherieRelationen durch die Expansion der Grenzen im Zusammenhang der fünften Erweiterungsrunde deutlich machen, hervor. Das ist nicht verwunderlich. Dieses Diskrepanzmuster reproduziert die Strukturbesonderheit des europäischen Mehrebenensystems, das von Staaten und Regionen für Staaten und Regionen geschaffen wurde. Die konstituierenden Einheiten der EU werden durch politisch verfasste, souveräne Territorialkörperschaften sowie deren regionale Subeinheiten gebildet. Aufgrund der auf europäischer Ebene dominierenden zwischenstaatlichen Interessenvermakelung und Kompromissfindung, für die der Modus der Verhandlung und Paktierung bei begrenzter Mehrheitsentscheidung unter der Prozessführung der Kommission kennzeichnend ist, sind die territorialen Akteure letztlich die einzig
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legitimen und zugleich auch praktisch handlungsfähigen Akteure. Die Privilegierung der Territorialität als Ordnungsprinzip des europäischen Verhandlungssystems leitet sich somit von der in den Verträgen fixierten quasikonstitutionellen Stellung, der Kompetenzenallokation im System, der Ressourcenausstattung sowie der Interessenartikulationsfähigkeit der Mitgliedsstaaten und (sekundär) der Regionen her. Demgegenüber erweist sich die bisherige Entwicklung der europäischen Institutionen der kollektiven Interessenvertretung (etwa durch soziale Bewegungen, Gewerkschaften, NGO’s u. dgl.) als ebenso ungenügend wie die Formierung einer europäischen Öffentlichkeit. Das Hervortreten und die Wahrnehmung von regionalen und zwischenstaatlichen Disparitäten in Europa spiegelt daher zunächst nichts anderes wider als die gubernativ-technokratische Struktur des europäischen Verhandlungssystems, die bisher einen funktionsfähigen Unterbau an intermediären Institutionen und an demokratischer Legitimität vermissen lässt. Eine Artikulation von sozial diffuseren, etwa klassenbezogenen Interessen oder auch von solchen, die direkt mit wohlfahrtsstaatlichen Verteilungsfragen und sozialen Konflikten zu tun haben, lassen sich nur äußerst schwer in den in der EU dominierenden bargaining-Modus überführen. So informativ und lehrreich komparative Untersuchungen zu den regionalen Ungleichgewichten in der EU auf der Basis von aggregierten Makrodaten auch sein mögen, sie reproduzieren doch häufig lediglich die Selbstbeschreibung sowie das dominierende Legitimationsmuster der EU-Politik, für die die staatlichen und substaatlichen Akteure und deren Interessen sowie die Regional- und Strukturpolitik der EU stehen. So gesehen, sind die Befunde bezüglich der Europäisierung von territorialen Ungleichheiten unterkomplex. Ob solch eine Orientierung an den normativen Prinzipien und den Rationalitätskriterien der europäischen Strukturpolitik dem differenzierten Erkenntnisprogramm der Ungleichheitssoziologie entsprechen kann, ist fraglich. Eine rein deskriptive Deutung von sozialstatistischen Daten vermag den theoretischen Ansprüchen des Ungleichheitsparadigmas jedenfalls nicht zu genügen. Vielmehr müsste ein adäquates Analysemodell neben der empirischen Datenerhebung zu sozio-ökonomischen Disparitäten1 auch die 1
Sozio-ökonomische Disparitäten sollte man tunlichst nicht mit sozialer Ungleichheit verwechseln. Der Begriff der sozialen Ungleichheit entspricht dem normativen Deutungsmuster sozialer Gleichheits- und Inklusionsanforderungen von nationalen Gesell-
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Frage der Ursachen- und Verantwortungszuschreibung, mithin der relevanten gesellschaftlichen Bezugseinheiten thematisieren. Darüber hinaus wären die institutionellen und kulturellen Dimensionen von sozialer Ungleichheit, namentlich die Ungleichheitssemantik und deren Wandel, mit zu berücksichtigen. 2
Die EU als prekäre Zurechnungsebene von Ungleichheit
Verbreitet ist die Rede von einer Zunahme der sozialen Ungleichheit in der Europäischen Union, insbesondere nach bzw. im Zuge der sog. Osterweiterung (vgl. die Beiträge in Heidenreich 2006 (Hg.)).2 Man muss sich dabei allerdings vor Augen führen, dass dies zunächst lediglich ein statistischer Effekt ist, der sich aus der Extension der Bezugseinheiten unter Einbeziehung von Beitrittsländern mit unterschiedlicher wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit ergibt. Das Wohlstandsgefälle zwischen EU-15 und den neuen EU-Mitgliedern war vor wie nach der Erweiterung offensichtlich. Ebenso erweist sich die relative Abnahme des BIP bezogen auf Gesamteuropa, bei gleichzeitiger asymmetrischer Zunahme des Territoriums und der Bevölkerungszahl, zunächst als ein bloßer statistischer Effekt. Über die UrsachenWirkungs-Relationen der sozio-ökonomischen Disparitäten ist damit noch nichts gesagt. Ungleichheitsgenerierende Dynamiken sind hoch komplex. Wenn eine Zunahme von Ungleichheit im europäischen Maßstab angenommen oder behauptet wird, käme es darauf an, die Europäische Union bzw. deren politische Entscheidungen als Zuschreibungsebenen auch hinreichend trennscharf zu diskriminieren und nicht nur die statistischen Referenzeinheiten zu wechseln. Die Frage muss lauten: Gibt es nennenswerte Verschiebungen oder Verwerfungen in den Ungleichheitsrelationen, die ursächlich dem europäischen Integrationsprozess zugeschrieben werden können? Mit anderen
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schaften, deren Grenzen relativ geschlossen und die politisch konstituiert sind, während der Begriff der Disparitäten als deskriptive und wertneutrale Kategorie verwendet wird. Bevor die EU-Osterweiterung die öffentliche Debatte über die europäische Integration zu beherrschen begann, spielte die Ungleichheitsproblematik selbst in der Europasoziologie so gut wie keine Rolle. Sämtliche thematisch einschlägigen Untersuchungen wurden erst in der Endphase bzw. nach dem förmlichen Vollzug der fünften Erweiterungsrunde veröffentlicht.
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Worten: Verändern sich die Benachteiligten- bzw. Privilegienmuster in den Mitgliedsstaaten und in der EU insgesamt als Folge der europäischen Wirtschaftsintegration und der Erweiterungen? In welchem Maße und wie wandeln sich dadurch die Ungleichheitsverhältnisse und damit die Lebenschancen bestimmter sozialer Gruppen? Schließlich: Welche sozialen Dynamiken werden durch diese Neustrukturierung der Ungleichheitsverhältnisse freigesetzt? Die Beantwortung dieser Fragen erweist sich aus mehreren Gründen als ziemlich schwierig. András Inotai macht im Zusammenhang einer Analyse der Gewinner-Verlierer-Konstellationen in Mittel-Osteuropa deutlich, dass es nahezu unmöglich ist, „to separate the gains and losses of EU integration from the other components of the process. Most of the benefits and costs of preparing for membership in the EU can be attributed to those of transformation or globalization. They would have appeared, even if the accession to the EU were not a priority task.” (Inotai 2000: 18). Darüber hinaus ist es schwierig, die Veränderung der Verteilung der Gewinner und Verlierer im zeitlichen Verlauf und mit Bezug auf die unterschiedlichen Phasen der Beziehung zur EU eindeutig zu bestimmen. Ökonomische Modernisierungsprozesse verlaufen in der Regel nicht eindimensional. Vielmehr zeigt sich, wie Vobruba am Beispiel der osteuropäischen Transformationsländer argumentiert, typischerweise ein Double-Ditch-Muster. Demzufolge setzt „nach einem Aufschwung und einer längeren Phase der Depression (…) eine Erholung (des Wirtschaftswachstums, der Konjunktur, der Aktienkurse) ein, bricht aber wieder ab und es droht eine neue Abwärtsbewegung. Das generelle Problem solcher Konstellationen besteht in der Wiederholung des Musters.“ (Vobruba 2005: 39). Aus der modifizierten Wiederkehr des Verlaufsmusters ergibt sich dann eine Differenzierung hinsichtlich der Modernisierungskarrieren von davon betroffenen sozialen Gruppen: a) Modernisierungsgewinner, die ihre Gewinnerposition langfristig halten können. Dazu gehören etwa jene Unternehmen und Arbeitskräfte, die sich rasch auf neue Gegebenheiten einzustellen vermögen; b) Akteure, die kurzfristig in der Umbruchsphase Nutzen ziehen, sich aber nicht dauerhaft etablieren können, etwa weil sie in der Konkurrenz unterliegen oder illegale Aktivitäten betreiben; c) kurz- und langfristige Verlierer, die sich territorial oder sozial verfestigen und zu sozial Exkludierten werden können, wie beispielsweise Personen im Rentenalter in den Mittelosteuropäischen Beitrittsländern oder marginalisierte ethnische Gruppen wie die Roma; d)
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schließlich die nationalen Ökonomien insgesamt, wobei kurzfristig die Verluste und längerfristig die Gewinne überwiegen und es vor allem darauf ankommt, Interessenaufschübe und Frustrationstoleranz zu erreichen, was bei den jüngeren Generationen naturgemäß leichter zu bewerkstelligen ist als bei Kohorten kurz vor oder. im Rentenalter. Trotz dieser methodologischen Vorbehalte gegenüber eindimensionalen Zurechnungs- und Verlaufsmustern von Modernisierungsprozessen in Mittelosteuropa sind empirische Untersuchungen, die Gewinner und Verlierer des Integrations- und Erweiterungsprozesses in den Blick nehmen, informativ. Dabei ergibt sich je nach den in Betracht gezogenen Funktionssystemen, Populationen, territorialen Einheiten usw. ein differenziertes Bild (vgl. Tang 2000), das hier freilich nur äußerst skizzenhaft wiedergegeben werden kann: Eine generelle Tendenz lässt sich hinsichtlich der durch den europäischen Binnenmarkt verschärften Konkurrenz zwischen weniger produktiven und produktiveren Volks- und Regionalwirtschaften (Mittelostund Südeuropas vs. West- und Nordeuropa), zwischen konkurrenzfähigen und weniger kompetitiven Branchen (Landwirtschaft vs. Hightech-Industrie) sowie allgemein zwischen marktbezogenem und öffentlichem Sektor (v. a. öffentlicher Dienst) feststellen. Hier sind die europäische Marktbildung und -erweiterung mit ihren zentralen, politisch paktierten, in den europäischen Verträgen verbindlich verankerten und durch die Rechtsprechung des EuGH fortgeschriebenen Leitprinzipien des Primats der Wettbewerbsfreiheit und der Deregulierung (Binnenmarktprogramm und Vertrag von Maastricht), eindeutig als treibende Kräfte der Transformation auszumachen. Eine weitere Gewinner-Verlierer-Konstellation ergibt sich aus der durch die Erweiterung auf die östlichen Grenzen ausgedehnten Durchlässigkeit für ökonomische Güter, Transaktionen und Dienstleistungen. Sie betrifft die bereits erwähnte Wohlstandskluft zwischen West und Ost sowie die Standortkonkurrenz zwischen östlichen Grenzregionen Westeuropas und westlichen Grenzregionen Osteuropas. Die vorliegenden Untersuchungen geben Hinweise darauf, dass die westlichen Grenzregionen Mittelosteuropas teilweise dadurch komparative Vorteile aus ihrer geographischen Lage ziehen können, dass sie aufgrund derzeit noch weit geringerer Arbeitskosten westliches Kapital anlocken und im Dienstleistungsbereich im Westen als kostengünstigere Anbieter auftreten können. Umgekehrt verschlechtert sich durch Arbeitsplatzabwanderung und Dumping die ökonomische Lage in
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den Grenzregionen westlich des ehemaligen Eisernen Vorhanges (vgl. Vobruba 2005). Insgesamt verstärken sich als Folge der EU-Osterweiterung in den neuen Mitgliedsländern insbesondere diejenigen Disparitäten, die einen territorialen Bezug haben, deutlich: Ländliche Regionen verlieren gegenüber städtischen und besonders hauptstädtischen Regionen an Bedeutung; westliche Gebiete gewinnen tendenziell im Vergleich zu östlichen Gebieten; Unternehmen und Beschäftigte im Dienstleistungs- und High-Tech-Bereich können ihre Gewinnerpositionen und Standortvorteile gegenüber dem industriellen und landwirtschaftlichen Sektor behaupten und noch ausbauen. Obwohl das Gesamtbild der Ungleichheiten in Europa noch wenig konturiert erscheint, zeichnet sich doch eine markante Tendenz ab: Marktbildung und verschärfte Konkurrenz führen zu weiteren Differenzierungen in den Modernisierungspfaden und -karrieren. Differenzierung bedeutet aber nicht notwendig auch zunehmende soziale Ungleichheit, die die Politik bzw. das gesellschaftliche System insgesamt unter Legitimationsdruck setzen müsste. Sozioökonomische Disparitäten können zwar zu einem Problem für eine weitere Vertiefung und Erweiterung werden, wenn damit eine Erhöhung des Konfliktpotentials einhergeht und die Interessen- und Verteilungskonflikte durch die bestehenden mitgliedstaatlichen sowie europäischen Institutionen nicht mehr kanalisiert und absorbiert werden können. Dafür gibt es bisher aber keine Anhaltspunkte. Disparitäten in der ökonomischen Leistungsfähigkeit und Differenzierungen der Märkte sind nicht per se als problematisch einzuschätzen. Vielmehr ergeben sich typischerweise eher aus segmentären Gleichartigkeiten – in der Produktions- und Distributionsstruktur, den Qualifizierungsniveaus der Bevölkerung etc. – kontraproduktive Konkurrenzlagen als durch Unterschiede und Differenzierung (Vobruba 2005: 30f.). Gerade die Strukturpolitik der Europäischen Union fördert aber weitere Differenzierung auf regionalem Gebiet und unterläuft damit die Konvergenzziele der Verträge. Darauf werde ich noch zurückkommen. Im Hinblick auf die Politisierung von Disparitäten ist außerdem zu berücksichtigen, dass die EU gerade aus der von ihr seit den 1980er Jahren erfolgreich verfolgten „negativen Integration“ durch Marktöffnung und Deregulierung (siehe oben Kap. II) einen beträchtlichen Teil ihrer OutputLegitimation beziehen konnte. In weitgehender Übereinstimmung mit Theorien liberaler Ökonomen werden von den EU-Organen vor allem die posi-
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tiven Wohlstandseffekte – also Wachstums- und Wohlstandszunahme – als Folge der Schaffung des europäischen Binnenmarktes hervorgehoben. Die neuen Gewinner-Verlierer-Konstellationen im europäischen Raum müsste aber mit den effektiven Konvergenzgewinnern im Hinblick auf Einkommen, Arbeitsmärkte, Produktivität und soziale Inklusion, die im Kontext und als Folge des neuen Systems der europäischen Arbeitsteilung erreicht werden, gleichsam verrechnet werden. Mit wenigen Ausnahmen – periphere, durch Landwirtschaft geprägte Regionen Ost- und Südeuropas, Rentner und öffentlicher Dienst in den neuen Beitrittsländern, westliche Regionen mit massiver Kapitalabwanderung und umfangreichen Arbeitsplatzverlusten – lässt sich schwer eindeutig entscheiden, ob im Gesamtbild durch die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes und die Erweiterungen die positiven oder die negativen Wohlstandseffekte überwiegen.3 Bisher fehlen aussagekräftige empirische Studien, die komplexe Gewinner-VerliererRelationen angemessen und empirisch gesichert bilanzieren. Zumal solche, die sich nicht nur auf die ökonomischen Aspekte beschränken, sondern darüber hinaus auch die sozialen Dynamiken der ökonomischen Modernisierung mit berücksichtigen (vgl. Bach/Lahusen/Vobruba (Hg.) 2006). Die hier vorgenommene Re-Formulierung des Ungleichheitsbegriffs in termini von Gewinner-Verlierer-Konstellationen ist im Hinblick auf eine Analyse des Zuschreibungsproblems und für die vergleichende empirische Beschreibung von Verteilungsgrößen fruchtbar, aber begrifflich nicht unproblematisch. Die damit verknüpfte Problemfassung verschiebt nämlich das Erkenntnisinteresse auf eine abstraktere und, wenn man so will: wertneutralere Analyseebene als sie für die herkömmliche, in einem normativ aufgeladenen Verständnis von „moralischer Ökonomie“ wurzelnden Ungleichheitssoziologie bestimmend war. Die Neufassung abstrahiert von kulturellen und ethischen Konnotationen des herkömmlichen Ungleichheitsparadigmas. So sind die gesellschaftlichen Voraussetzungen des soziale Rechte verleihenden Mitgliedschaftsstatus in diesem Analysemodell ebenso sekundär wie die im Sozialrecht institutionalisierten Solidaritäts- und Fürsorgeauf3
In der volkswirtschaftlichen Literatur zu den Effekten der europäischen Integration lassen sich die Studien, die negative Wohlstandseffekte (Zunahme der Arbeitslosigkeit; Prekarisierung und Deklassierung von Migrantengruppen u. dgl., thematisieren, an einer Hand abzählen (vgl. Hebler 2002). Die soziologische Literatur thematisiert demgegenüber eher die negativen Effekte (vgl. exemplarisch Heidenreich (Hg.) 2006).
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gaben des Staates. Auch finden sozialstrukturell angelegte soziale Konfliktlagen und deren politische Dynamiken, etwa Verteilungs- und Legitimationsprobleme, meist nur am Rande Berücksichtigung. Den impliziten normativen Maßstab der Analyse bilden letztlich – ähnlich wie bei der oben schon angesprochenen Frage der territorialen Disparitäten – das programmatische Selbstverständnis und die politischen Ziele der Europäischen Union, in erster Linie die Konvergenz- und Kohäsionsnormen sowie die Leitideen der Wohlstandssteigerung durch ökonomische Integration. Die neue europabezogene Ungleichheitsforschung erhebt damit unreflektiert Funktions- und Legitimationsprinzipien des politischen Systems der EU zu zentralen Leitkriterien der soziologischen Forschung. Zum entscheidenden zeitlichen Vergleichsmaßstab wird die Unterscheidung von Vor-dem-Beitritt- und Nach-dem-Beitritt. Der europäische Sozialraum wird so gewissermaßen mit Bezug auf die Referenzeinheit EU temporalisiert und vermessen; die sozialen Dynamiken können damit aber ebenso wenig erfasst werden, wie der Wandel der Ungleichheitssemantik im Zusammenhang der europäischen Integration. Daraus ergibt sich die These, dass die Umstellung auf die utilitaristische Gewinner-Verlierer-Semantik mit einer grundlegenden und folgenreichen Neu- bzw. Umdeutung des Ungleichheitsparadigmas korrespondiert (siehe dazu unten Abschnitt 4). Fragt man danach, welche Ungleichheitsdynamiken sich ursächlich auf die EU zurückführen lassen, so ist, um nur ein Beispiel herauszugreifen, die Einkommensverteilung zwar im hohen Maße markt- und konjunkturabhängig, worauf die Wirtschaftspolitik der EU einen gewissen Einfluss haben mag.4 Die Schaffung eines gemeinsamen Marktes führt aber nicht zur Nivellierung von Einkommen. Vielmehr bewirkt die Verringerung von Transaktionskosten durch den Abbau tarifärer und nichttarifärer Hindernisse an den Grenzen tendenziell eine zunehmende Konzentration von Produktion und selektive Kapitalallokation an Standorten mit Zugang zu attraktiven Absatzmärkten. Außerdem wirken sich korporative Aushandlungsprozesse im Zusammenhang von Tarifauseinandersetzungen, gesetzgeberische Maßnahmen bezogen auf den öffentlichen Dienst oder die Beamtenschaft sowie rechtli4
Einschränkend ist allerdings zu vermerken, dass viele Ökonomen nennenswerte Wachstumsimpulse eher von starken nationalen Volkwirtschaften wie der deutschen erwarten. Diese übernehmen dann aufgrund ihrer Verflechtungen im System der europäischen Arbeitsteilung eine Art Lokomotivfunktion für andere nationale Wirtschaftssysteme.
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che Regulierung von Zuwanderung ebenso nachhaltig auf die Einkommens-, Status- sowie Chancenverteilung großer Bevölkerungssegmente aus. Ähnliches gilt für die Verteilung von Bildungschancen, die Entwicklung der Arbeitslosigkeit, die Armutsrisiken usw. In den meisten Fällen ist dabei nach wie vor der Einfluss nationaler Systeme und Institutionen dominierend. Soziale Ungleichheit bleibt insofern primär ein Problem der Mitgliedsstaaten; die EU vermag hier höchstens indirekt etwas zu bewirken. Anders stellt sich die Situation, wie bereits angesprochen, im Hinblick auf die regionale Ungleichheit in Europa dar. Doch kommen hier besonders durch die EU-Strukturpolitik auch ungleichheitsverstärkende Effekte zum Tragen, die der dominierenden Integrations- und Kohäsionsideologie widersprechen. Auf diesem Gebiet besteht ebenfalls ein großer Bedarf nach theoriegeleiteter und empirischer Forschung. Es gibt bisher nur wenige Studien, die den Effekt der Kohäsionspolitik in Abgrenzung zu anderen Einflussfaktoren und Entwicklungen näher zu bestimmen versuchen (vgl. Mau/Büttner 2007). Notwendig wäre es, die Wirkungen der funktionalen Differenzierung im europäischen System der Arbeitsteilung, darüber hinaus aber auch in einem weltgesellschaftlichen Maßstab zu berücksichtigen. Dafür lassen sich heuristisch fruchtbare Anregungen aus der soziologischen Systemtheorie gewinnen. Geht man von der Annahme der funktionalen Differenzierung aus und orientiert man sich an der Methodologie funktionaler Vergleiche (anstelle der üblichen regional vergleichenden Methode; vgl. Luhmann 1997: 162), dann kann man besser erklären, weshalb bestimmte Ausgangsbedingungen, die in national sowie regional unterschiedlichen Wirtschaftsdaten zum Ausdruck kommen, sich durch politische Integrationsprozesse sowie weltgesellschaftliche Vernetzungen abschwächen bzw. verstärken. Lineare Kausalzurechnungen, etwa auf die europäische Regulierungsebene, verlieren dann allerdings an Plausibilität. Überraschende, schwer prognostizierbare, nicht-lineare Kausalitäten gewinnen an Bedeutung. Eine solche Perspektive sensibilisiert dann, um mit Luhmann zu sprechen, „für ‚dissipative Strukturen’, für ‚Abweichungen verstärkende Effekte’, für das Verschwinden von anfänglich bedeutenden Unterschieden und umgekehrt: für gewichtige Auswirkungen minimaler Differenzen, darunter nicht zuletzt des Zufallsfaktors regionaler ‚policies’“ (Luhmann 1997: 164). Mit Bezug auf die Regionen der EU wäre hier beispielsweise an die diskrepanzenverstärkenden Effekte der ungleichen Ausstattung mit Humankapital, die auf unterschiedliche Qualifizierungsstandards der Arbeitskräfte
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zurückzuführen ist, auf ungleiche, Migrationsprozesse verstärkende bzw. hemmende Ausgangsbedingungen sowie auch an die unterschiedliche fund raising-capacities regionaler Verwaltungen zu denken. Aber auch Fehlallokationen von Fördermitteln, die nicht nur auf Korruption und Betrug zurückzuführen sind, sondern der Logik der Förderpolitik selbst innewohnen, wären einzubeziehen. So führt beispielsweise die immer nur als Teilförderung gewährte Unterstützung durch die EU-Strukturfonds zum Infrastrukturausbau oder zur Tourismusförderung im Rahmen der europäischen Kohäsionspolitik zum Beispiel in Griechenland und Portugal häufig zu Fehlallokationen. Unter der Voraussetzung lokaler Ressourcenknappheit bedingt das eine folgenreiche Bindung von nationalen oder regionalen öffentlichen Eigenmitteln für EU-Projekte, häufig zu Lasten von Investitionen etwa im Bildungs- oder im Sozialbereich. Insgesamt führt gerade die Logik der Strukturpolitik sowohl zu einer Stärkung endogener Potentiale wie zu einer pfadabhängigen Verfestigung von Strukturdefiziten und damit zu einer weiteren Differenzierung des europäischen Territoriums. Für Europa sind somit Differenzierungs- und Heterogenitätsmuster – in wirtschaftlicher, sozialer wie kultureller Hinsicht – die entscheidenden Zuordnungskriterien, nicht Ähnlichkeit und Konvergenz, wie es die Rhetorik der politischen Eliten gebetsmühlenartig wiederholt. 3
Europa als Deutungsmusters von Ungleichheit
Aus den voranstehenden Überlegungen kann der Schluss gezogen werden, dass es ratsam ist, den Begriff der sozialen Ungleichheit mit Bezug auf die Europäische Union von dem traditionalen Gesellschaftsbegriff zu lösen und diesen durch eine analytische Perspektive zu ersetzen, die funktionale und institutionelle Differenzierung fokussiert. Im Folgenden richtet sich unsere Aufmerksamkeit auf die in der Europäischen Union institutionalisierten Deutungsmuster von sozialer Ungleichheit, mithin auf den Zusammenhang von europäischer Institutionenbildung und dem Wandel der öffentlichen Wahrnehmung sowie Semantik von Ungleichheit. Wir gehen davon aus, dass Deutungsmuster von Gleichheit und Ungleichheit erst unter der Voraussetzung einer effektiven Institutionalisierung als Grundprinzipien legitimer Ordnungen gesellschaftliche Wirksamkeit im Sinne von politischer und sozialer Handlungsrelevanz entfalten.
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Ungleichheit besitzt ebenso wenig einen intrinsischen Wert wie deren wichtigste normative Referenzgröße soziale Gerechtigkeit. Ungleichheit als Thema öffentlicher Diskurse und politischer Auseinandersetzungen setzt voraus, dass Disparitäten in der Ressourcen- und Chancenverteilung mit Bezug auf kulturell und institutionell definierte Relevanzkriterien als soziale Probleme, die einen meist staatlichen Handlungsbedarf begründen, gedeutet werden (vgl. Hondrich 1984; Lepsius 1990). Die jeweils gesellschaftlich anerkannten und dominierenden Deutungsmuster der sozialen Ungleichheit übernehmen dabei, um eine Metapher Max Webers zu verwenden, eine entscheidende „Weichenstellerfunktion“ im Hinblick auf die Thematisierungs- und Skandalisierungsfähigkeit von sozioökonomischen Disparitäten. Ausschlaggebend sind dabei allerdings nicht allein die universellen Bezugsideen der modernen Gesellschaft, wie Gleichheit, Gerechtigkeit oder Solidarität (vgl. Eder 1990). Erst deren Institutionalisierung, also nicht allein schon deren Präsenz in der kulturellen Sphäre konstituiert zugleich mit der Ausdifferenzierung von bestimmten Geltungs- und Handlungsräumen ein relativ verbindliches Wirkungsfeld. Unter Institutionen sollen in diesem Zusammenhang kognitive Modelle und kulturelle Regeln – Leitideen, normative Konzeptionen, Rationalitätskriterien, Handlungsmodelle u. dgl. – verstanden werden. Institutionen sind somit als kulturelle Regelsysteme zu betrachten, die in der sozialen Praxis Handlungsrelevanz erlangen, indem sie legitimierte Handlungsmuster in abgegrenzten Handlungskontexten (z. B. Organisationen oder Netzwerken) vorgeben und dadurch zwischen der kulturellen Sphäre und der Handlungspraxis vermitteln. (vgl. Kap. III oben). Will man also die soziologische Strukturrelevanz von Deutungsmustern, Semantiken oder kulturellen frames erfassen, dann sind sie stets in Verbindung mit Institutionen und Institutionalisierungsprozessen zu beobachten. Das gleiche gilt für die soziale Dynamik, die von den uns hier interessierenden Deutungsmustern der Gleichheit und Ungleichheit ausgeht. So entfaltete auch der klassische, mit der Französischen Revolution zum historischen Durchbruch gelangende Gleichheitsdiskurs eine die Sozialstrukturen und deren Wandel nachhaltig prägende Durchschlagskraft erst in der institutionalisierten Form von Citizenship. Erst mit Bezug auf gesamtgesellschaftlich verbindliche Gleichheits- und Solidaritätsideen, wie sie sich in den politischen und sozialen Grundrechten der modernen westlichen Staaten kodifiziert finden, konnten Anerkennungs-, Partizipations- und Fürsorgeansprüche von benachteiligten sozialen Gruppen und Minderheiten als prinzipiell
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legitime Forderungen zur Geltung gebracht werden. Umgekehrt wird die Legitimität des Gesamtsystems und der politischen Ordnung durch bestimmte Ungleichheitsformen, wie Arbeitslosigkeit, Armut oder Ausgrenzung ethnischer Minderheiten, soweit sie politischen Entscheidungen und damit den Regierungseliten zugeschrieben werden (können), in Frage gestellt (Lepsius 1990; Mackert/Müller 2000: 12). Trägt die Institution der Bürgerrechte also auf der einen Seite dazu bei, ein globales politisches Kulturmodell der sozialen Inklusion und der Pazifizierung von sozialen Konflikten mit universalistischen Geltungsanspruch zu etablieren, so wirkt auf der anderen Seite die für sie typische „doppelte Codierung“ als Rechtsstatus und Volks- bzw. Staatszugehörigkeit limitierend (Habermas 1996: 136). Schon T. H. Marshall (2000: 49f.; vgl. Bendix 1977) betonte, dass von einem engen Zusammenhang zwischen Citizenship und Nationalstaatsbildung ausgegangen werden muss. Das den Bürgerrechten inhärente Inklusions- und Solidaritätsgebot verweist somit zwar auf einen universalen Sinngehalt; tatsächlich erstreckt es sich aber nur auf ein letztlich historisch-kulturell definiertes Kollektiv: Auf die (imaginierte) Gemeinschaft der Bürger eines konkreten Staatsverbandes. Es ist also der Nationalstaat, der den zentralen, wenngleich meist impliziten und selbstverständlichen gesellschaftlichen Bezugsrahmen staatsbürgerlicher Inklusion darstellt. Wenn folglich davon auszugehen ist, dass die Institution Citizenship durch die Semantik der Nation gleichsam supercodiert wurde, dann erhebt sich die Frage, welche Neucodierung sie im europäischen Zusammenhang erfährt. Mit anderen Worten: Welche spezifischen Deutungsmuster von sozialer Ungleichheit finden sich in der Europäischen Union institutionalisiert und in welchem Grad? Wodurch unterscheiden sich diese von den entsprechenden Deutungsmustern in den Mitgliedsländern? Der zweifellos radikalste Bruch mit der herkömmlichen Semantik der nationalen Wohlfahrtstaaten im Prozess der europäischen Integration erfolgte seit Mitte der 1980er Jahre durch die politischen Entscheidungen zur Verwirklichung des Europäischen Binnenmarktes. Dieses Projekt, mit der grenzüberschreitenden Wettbewerbsfreiheit als normativem Kern, ist (abgesehen von der protektionistischen Agrarpolitik) zweifellos das bis heute erfolgreichste und am weitestgehenden europäisierte Politikfeld der Europäischen Union. Marktpolitik besitzt seit Anbeginn in der europäischen Integrationspolitik die höchste Priorität, und sie genießt auch ein außergewöhnlich hohes Maß an Legitimität (vgl. Egan 2001: 64ff.). In den Rationalitäts-
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kriterien der „vier Freiheiten“ des Binnenmarktes – ungehinderte grenzüberschreitende Zirkulation von Waren und Kapital, Dienstleistungsfreiheit und Freizügigkeit – erfuhr die allgemeine Leitidee der Wohlfahrtssteigerung durch die europäische Integration zudem eine rechtlich-administrative Konkretisierung. Aus diesen Gründen ist von einem relativ hohen Grad der Institutionalisierung der Marktkriterien in der Europäischen Union auszugehen. Diese zeichnen sich zudem durch prinzipielle Höherrangigkeit gegenüber konkurrierenden Kriterien, etwa sozialer Solidarität, aus. Damit geht ein Paradigmenwechsel in dem Deutungsmuster der Ungleichheit und der Solidarität einher. Zum Grundprinzip des traditionellen Deutungsmusters von sozialer Ungleichheit in seiner wohlfahrtsstaatlichen Ausdifferenzierung gehörte eine rechtlich kodifizierte Kompensation mittels staatlich organisierter Transferleistungen von denjenigen sozialen Gruppen, die von der Teilhabe an den marktwirtschaftlichen Verwertungszusammenhängen aufgrund von Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Alter zeitweise oder endgültig ausgeschlossenen sind. Die europäische Marktintegration hebelt dieses klassische europäische Sozialmodell aus und stellt es auf eine neue Grundlage, wie oben in Kap. II argumentiert wurde. Im Rahmen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft werden die ungehinderte grenzüberschreitende Zirkulation von Gütern und Kapitalien sowie die Niederlassungsfreiheit und die Freizügigkeit, d.h. die zentralen Rationalitätskriterien der Marktbildung und Markterweiterung, gegenüber den traditionellen wohlfahrtsstaatlichen Solidaritäts- und Gerechtigkeitsprinzipien deutlich höher bewertet. Die Allokationsfreiheit auf dem europäischen Binnenmarkt wurde für die Mitgliedsstaaten verbindlich geregelt. Sie wird zudem selbst von den Ansätzen einer europäischen Sozialpolitik als Legitimationsprinzip systematisch aufgewertet. Auf europäischer Ebene erfolgt damit eine folgenreiche Umdeutung des klassischen wohlfahrtsstaatlichen Paradigmas von Ungleichheit – soziale Gerechtigkeit, citizenship und Solidarität – in ein Deutungsmuster, das die Marktlogik in den Mittelpunkt stellt. Was den Wohlfahrtsstaat einst auswies, nämlich die Korrektur und Milderung der endogen durch Marktprozesse und Klassenverhältnisse produzierten und reproduzierten Ungleichheit, gehört mittlerweile wohl einer transitorischen Phase der Vergangenheit an, wo diese Legitimationsprinzipien noch Bestandteile einer politischen Ökonomie waren, in der einflussreiche politische Kräfte die nationalen Märkte vor allem schützen und den Wohlstand der geschlossenen Nationen zugunsten ihrer autochthonen Klientel und zur binnenge-
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sellschaftlichen Konfliktprävention fördern wollten (vgl. Mongardini 1997: 87ff.) Das neue europäische, die Marktkräfte betonende Deutungsmuster der sozialen Ungleichheit kommt auch in den Ansätzen zu einer europäisierten Sozialpolitik zum Vorschein. Tatsächlich sind es nicht allein die Vorbehalte der EU-Mitgliedsstaaten, die – vermittelt über die Einstimmigkeitserfordernisse, das Veto und die anderen institutionellen checks and balances des europäischen Mehrebenensystems – bisher den Ausbau einer genuin europäischen Dimension der Sozialpolitik verhinderten und auch für die nächste Zukunft überzogene Erwartungen in diese Richtung enttäuschen werden. Weitaus bedeutsamer erscheint der Umstand, dass die Sozialpolitik im europäischen Mehrebenen-System in einzigartiger Weise mit Marktbildung, also mit der Herstellung des Gemeinsamen Marktes verbunden ist. „Nirgends sonst“, betonen Leibfried und Pierson, „ist Sozialpolitik so intensiv und sichtbar Teil der Entstehung des Marktes gewesen wie in der EU“ (Leibfried/Pierson 1998: 89). Die sozialpolitischen Maßnahmen der EU sind integraler Bestandteil u. a. der Freizügigkeit (Portabilität und Exportierbarkeit von Sozialleistungen), der Aufhebung von Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit und der Konsumfreiheit bei Sozialleistungen und des grenzüberschreitenden Wettbewerbs zwischen den verschiedenen Privatversicherungen (vgl. ebd.: 66ff.). Sie entsprechen damit nicht mehr der traditionellen marktkompensatorischen und ungleichheitsmildernden Funktion von Wohlfahrtsstaatlichkeit, sondern sie erwachsen unmittelbar aus der Konstruktion des Gemeinsamen Marktes. Eine entscheidende Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Europäische Gerichtshof, für dessen Urteilsfindung in zahlreichen sozialpolitischen Streitfällen in den vergangenen Jahrzehnten die Wettbewerbsnorm und die Durchsetzung der vier Grundfreiheiten des freien Waren-, Dienstleistungs-, Personen und Kapitalverkehrs zentrale Leitkriterien gewesen sind.5 Durch die „ungewöhnlich enge Rückkopplung von Sozialpolitik an die Schaffung eines neuen Gemeinsamen Marktes“ (vgl. Leibfried/Pierson (Hg.) 1998: 87) und durch die einseitige Steigerung der Wettbewerbsfreiheit und der Rationalitätskriterien des Binnenmarktes in ihrer Rechtsprechung trägt die europäische Jurisdiktion wesentlich dazu bei, den Konflikt zwischen den Werten 5
Siehe dazu mit zahlreichen Belegen Leibfried/Pierson 1998. Vgl. Egan 2001: 83; Mau 2008.
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soziale Gerechtigkeit einerseits und Allokationsfreiheit andererseits zugunsten letzterer aufzuheben. Die Rechtslogik korrespondiert vollständig mit der Marktlogik (vgl. Münch 2001: 217). Zugleich wird der Markt auch als Regulierungsmodell für Ungleichheitsprobleme, wie Arbeitslosigkeit, Armut oder Exklusion funktional und legitimatorisch in Anspruch genommen. Man schreibt dem Markt nicht nur die Fähigkeit zu, den allgemeinen Wohlstand klassenübergreifend und grenzüberschreitend zu steigern, sondern auch die Ungleichheitsprobleme und sozialen Verwerfungen, die mit einer Politik der Deregulierung einhergehen, mittel- und langfristig zu bewältigen. In der EU-Politik kann somit nicht mehr säuberlich zwischen Markt und sozialen Fragen getrennt werden. Zugespitzt formuliert: die Kriterien der Verwirklichung des Gemeinsamen Marktes und die Steigerung der Marktkompatibilität von Sozialpolitik gewinnen für die europäische Ebene letztlich die Oberhand. Europäische Sozialpolitik gehorcht nicht einer Logik der Korrektur von marktinduzierter sozialer Ungleichheit, sondern folgt umgekehrt einer Ratio neoliberaler Deregulierung. Dass dies Auswirkungen auch auf die Deutungsmuster der gesellschaftlichen Solidarität und der sozialen Gerechtigkeit sowie auf die politische Regulierung von sozialer Ungleichheit hat, ist evident. Im integrierten Europa ist sogar ein grundlegender Formenwandel der Solidarität und der Gerechtigkeitsvorstellungen feststellbar. Wirtschaftlicher Protektionismus, politischer Korporatismus, Wohlfahrtsstaatlichkeit und Schutz von Kollektivrechten als die wichtigsten Säulen der sozialen Solidarität in den geschlossenen Nationalstaaten werden im Zuge der Öffnung der Märkte und der Verflechtung der Volkswirtschaften in einem internationalen, namentlich europäischen System der Arbeitsteilung immer mehr ersetzt durch eine transnationale Variante der organischen Solidarität im Sinn Durkheims (vgl. Münch 2000; Münch/Büttner 2006). Diese fördert einen europäischen Kult des Individuums, wie Münch argumentiert. Sie zielt außerdem auf eine flächendeckende Herstellung von Wettbewerbsfähigkeit und betont die universalen Prinzipien der Chancengleichheit und der Leistungsgerechtigkeit. Mit anderen Worten, „es wird mehr an die Verwirklichung von Gerechtigkeit durch individuelle Leistung und Markterfolg geglaubt als an die Gerechtigkeit von kollektiven Regulierungen und Vereinbarungen“ (Münch/Büttner 2006: 78). Mit dem Wandel des Paradigmas der Solidarität geht somit eine tief greifende Veränderung der Semantik von Sozialpolitik einher. Sie kreist neuerdings um Begriffe wie Marktfähigkeit, lebenslanges Lernen, Fördern
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und Fordern, empowerment, enabling, employability und flexicurity. Dieses modische Vokabular des aktivierenden Wohlfahrtsstaats, das eine Re-Kommodifizierung von Arbeitskraft programmatisch zur Hauptaufgabe erhebt und dieses Ziel über eine Verstärkung des Arbeitszwanges sowie über eine Ausweitung befähigender Politiken zu erreichen trachtet, weist zwar verschiedene nationale Varianten auf (vgl. Dingeldey 2007). Dennoch lässt sich ein europaweiter Wechsel des Paradigmas der sozialen Inklusion deutlich erkennen, das den beruflichen Erfolg und die ständige Anpassung des Einzelnen an die Erfordernisse des Marktes in den Mittelpunkt stellt (vgl. Münch/Büttner 2006: 93). Der Wandel der Semantik erfolgt in einem transnationalen politisch-kulturellen Bezugsrahmen, in dem die Einführung und Umsetzung dieser neuen Prinzipien abgestimmt und kodifiziert werden (vgl. Münch/Büttner, 2006: 79).6 Im Unterschied zur Marktrationalität haben die Prinzipien der sozialen Staatsbürgerschaft und damit das klassische Deutungsmuster sozialer Ungleichheit in der Europäischen Union bisher nur eine äußerst schwache Institutionalisierung erfahren. Die entscheidende Frage ist, ob die europäische Ebene dem Nationalstaat vergleichbare Funktionen übernehmen kann. Das erscheint zweifelhaft, weil sich die spezifisch transnationale Dimension der Unionsbürgerschaft in quantitativ und qualitativ äußerst beschränkten Rechtsansprüchen, die für die Unionsbürger zudem auch nur ergänzend zur nationalen Staatsbürgerschaft Wirksamkeit entfalten können, erschöpft: Ein europaweites Mobilitäts- und Aufenthaltsrecht, das aktive und passive Wahlrecht für EU-Ausländer bei Kommunalwahlen sowie bei den Wahlen zum Europäischen Parlament für EU-Ausländer, das Recht auf diplomatischen und konsularischen Schutz für EU-Bürger im Ausland auch durch Botschaften oder Vertretungen von Mitgliedsstaaten, deren Staatsangehörigkeit der Betreffende nicht besitzt; schließlich das Petitionsrecht beim Europäischen 6
Das bestätigt exemplarisch eine Studie über die europäischen und transnationalen Dimensionen der Agenda 2010, die zu folgendem Ergebnis gelangt: „Die Betrachtung der europäischen Dimension des (…) bundesdeutschen Hartz-IV-Gesetzes verdeutlicht, dass die europäischen Vorstellungen des EU-Koordinierungsprozesses im Bereich Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung die Ausrichtung der bundesdeutschen Politik maßgeblich beeinflusst haben dürfte (…). Die Agenda 2010 und der bundesdeutsche Aktionsplan spiegeln die neue europäische Philosophie – ‚Arbeit, die sich lohnt‘ – wider, die zurzeit die Grundidee des nationalstaatlich zu etablierenden neuen europäischen Sozialmodells in der EU darstellt“ (Behning, 2005: 225).
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Parlament. An dieser Aufzählung wird schon deutlich, dass die Unionsbürgerschaft zwar mit neuen subjektiven Rechten verknüpft ist, diese aber vor allem, wie bereits oben näher angeführt, grenzüberschreitend tätige EU-Bürger schützen sollen. Mit der Institution der Unionsbürgerschaft verbinden sich keine universalen politischen und sozialen Rechte, die über den Rechtsstatus des Staatsbürgers eines Mitgliedsstaates nennenswert hinausgingen, sondern in erster Linie verbürgt sie den rechtlichen Status und eine Privilegierung der Markt- bzw. Wirtschaftsbürger (vgl. Hansen 2000). So gesehen ist die Unionsbürgerschaft nur das subjektivrechtliche Korrelat zum systemischen Funktionszusammenhang des europäischen Wirtschaftsraumes ohne (Binnen-)Grenzen und mit Freizügigkeit für EU-Bürger. Damit ist sie in ihrer normativen Reichweite äußerst begrenzt. Die nationalen Bürgerrechte kann sie nicht ersetzen (vgl. Preuß 1997). Außerdem setzt die Unionsbürgerschaft nicht nur äußerlich und formal den Besitz der nationalen Bürgerrechte voraus; die nationalen Gerichte sind somit nach wie vor die entscheidenden Kontroll- und Garantieinstanzen. Zudem definieren die Staaten weitgehend autonom die damit verbundenen Pflichten und Auflagen. Daher begründet die Einführung der Unionsbürgerschaft zwar eine neue duale oder „verschachtelte“ Staatsbürgerschaft (vgl. Faist 2000), aber (noch) keinen selbständigen postnationalen Mitgliedschaftsstatus (vgl. Lepsius 2000b). Für eine sozial wirksame Deutung von Ungleichheit erweist sich die Unionsbürgerschaft aufgrund ihrer geringen Reichweite deshalb als nicht geeignet. Die nationale Staatsbürgerschaft bleibt nach wie vor die normative Legitimationsfigur für die Bestimmung und vor allem für die juridisch-prozedurale Konkretisierung von Freiheits- und Gleichheitsrechten. Die Unionsbürgerschaft als solche kodifiziert, wie wir sahen, keine über den mobilen europäischen Marktbürger hinausgehende politische und soziale Gleichheitsnorm, die als kulturell-normative Wertbeziehung zu einem Katalysator für Ungleichheitskritik oder Benachteiligtenproteste fungieren könnte. Ihre Inklusionskraft beschränkt sich auf den Marktbürger, der, solange ein europaweiter Arbeitsmarkt aufgrund von sprachlichen und anderen kulturellen Barrieren praktisch unbedeutend ist, typischerweise ein Angehöriger der europäischen Funktionseliten von Wirtschaft, Politik und Wissenschaft ist. Eine Neuerung, die mit der Unionsbürgerschaft eingeführt wurde, darf jedoch nicht vernachlässigt werden, weil gerade sie in Europa neuartige Ungleichheitsverhältnisse zementieren könnte: Die Unterscheidung zwi-
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schen EU-Bürgern und Drittstaatenangehörigen (vgl. Kleger 2001; Sterbling 2006 (Hg.)). Aus dem Rechts- und Sozialraum der EU ausgeschlossen werden seither Menschen, die von Ländern außerhalb der EU als Migranten nach Europa gelangt sind und hier kein reguläres Bleiberecht besitzen. Man kann davon ausgehen, dass es sich hierbei um eine der potentiell konfliktträchtigsten sozialen Spaltungen in der Europäischen Union handelt (vgl. Flora 2000a: 165). Das Recht der Union entfaltet eine sozial klassifizierende und exkludierende Wirkung: Unionsbürger genießen auf dem gesamten Territorium der EU einen Status vergleichbar den von Inländern, während die Drittstaatenangehörigen, wie wir sahen, sich mit rechtlicher, sozialer und politischer Marginalisierung bzw. Illegalisierung konfrontiert sehen. Die Unionsbürgerschaft legitimiert somit den sozialen Ausschluss großer Bevölkerungsgruppen. Sie entwickelt sich zu einem Element einer europäischen Ausgrenzungspolitik, die auf einer restriktiven, auf der Drittstaatenregelung, den Abschiebepraktiken, der Kriminalisierung beruhenden Zuwanderungspolitik der EU basiert (vgl. Eigmüller/Vobruba 2006; Eigmüller 2007; siehe Kapitel VII oben). Gerade irreguläre Zuwanderer werden in die Illegalität gedrängt und dadurch zur vollständigen Rechtlosigkeit verurteilt (vgl. Balibar 2003). Ein minimaler Schutz kann nur noch durch Appell an und Rekurs auf die Menschenrechte gefordert und vielleicht garantiert werden. Menschenrechte beziehen sich aber nicht auf soziale Ungleichheitsverhältnisse, sondern auf elementare Lebens- und Überlebensinteressen von bedrohten Individuen und damit auf ein anders gelagertes Deutungsmuster (vgl. Soysal 2001). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die europäischen Bürgerrechte keine ausreichend eigenständige soziale Deutungs- und Integrationskraft besitzen und deshalb zivilgesellschaftliche Solidaritätspotentiale in der Europäischen Union nur schwach entwickelt sind. Nennenswerte soziale Konflikte, die sich entlang von europäischen cleavages entzünden könnten, sind aller Voraussicht nach in der nächsten Zukunft nicht zu erwarten. Allerdings ist unter den Verlierern des integrationspolitisch induzierten Modernisierungsprozesses ein Rückfall in das politische Konfliktmuster des Nationalismus nicht auszuschließen. Viel mehr als durch territoriale sozioökonomische Disparitäten ist meines Erachtens von den damit einhergehenden sozialen Polarisierungen und fremdenfeindlichen Allianzen eine Gefährdung des Integrationsprojekts zu erwarten. Hier eröffnet sich ein
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wichtiges neues Forschungsfeld der Ungleichheitssoziologie mit spezifisch europäischen Perspektiven. Resümierend ergibt sich folgendes Bild: Wird von einer Europäisierung der sozialen Ungleichheit gesprochen, so kann das nicht bedeuten, die aus der herkömmlichen soziologischen Ungleichheitsforschung bekannten Beurteilungsmaßstäbe einfach in ihrem Raumbezug umzustellen und auf Europa auszudehnen. Das hieße, die allen empirischen Messungen von sozioökonomischen Disparitäten zugrunde liegenden kulturellen und institutionellen Voraussetzungen von Sozialintegration zu unterschätzen. Diese sind bisher wesentlich mit dem Vergesellschaftungsmodell des Nationalstaates verknüpft. Auch in der EU ergeben sich insbesondere die Staatsbürgerrechte aus der Mitgliedschaft zu einem Mitgliedstaat als sozialer Einheit, welcher die Bürger zu formal Gleichen macht und ohne den eine gesellschaftliche Binnenintegration kaum denkbar wäre. Aus diesen Gründen können die politische Wahrnehmung europaweiter Ungleichheitsprobleme und Integrationsschwierigkeiten nicht zu einer institutionellen Lösung auf europäischer Ebene führen. Einer Übertragung von sozialintegrativer Politik auf die EU steht, wie ich in diesem Kapitel ausgeführt habe, die alles beherrschende, sogar auf die rudimentäre EU-Sozialpolitik durchschlagene Universalisierung der Marktprinzipien auf dem europäischen Binnenmarkt entgegen. Beklagt wird zudem vielfach das Fehlen einer belastbaren, das heißt „umverteilungsfesten“ (G. Vobruba) europäischen Kollektividentität als Voraussetzung für verstärkte sozialintegrative Maßnahme auf Seiten der EU. Das ruft Hoffnungen auf Überwindung der Vergesellschaftungslücke und Stärkung der sozialintegrativen Kapazitäten durch „europäische Identität“ hervor. Was kann man von ihr erwarten? Dazu Näheres im folgenden Kapitel.
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IX. Kritik der europäischen Identität
Es gibt wohl keinen Begriff der aktuellen politischen Debatte, der schwammiger ist als „europäische Identität“. Worauf soll, worauf kann sie sich beziehen? Auf die geographische Gestalt des Kontinents, das kulturelle Erbe der europäischen Geschichte, das Christentum und die Aufklärung oder auf gemeinsame europäische Werte? Dem mittlerweile zur politischen Alltagsroutine gewordenen Einigungsprozess ist eines bisher nicht gelungen: Die Bürger in einem nennenswerten Umfang „mitzunehmen“, emotional zu binden und ein Europa-Bewusstsein zu entwickeln. Umfragen bestätigen: „Europa“ rangiert als Bezugseinheit kollektiver Identifikationen konstant an letzter Stelle.1 Wie lassen sich kollektive Identitäten soziologisch bestimmen? Zunächst ist festzustellen, dass sich kollektive Identitäten prinzipiell von ihrem individuellen Pendant unterscheiden und entsprechende Analogien daher wenig aussagekräftig sind. Mit kollektiven Identitäten sind Vorstellungen über Gemeinschaftlichkeit verbunden. Sie werde symbolisch konstituiert sowie durch Rituale und Institutionalisierung befestigt (vgl. Giesen 1993; ders.1999; ders. (Hg.) 1991; Lepsius 2006) Der Begriff der kollektiven Iden1
Im Jahre 2004 hat Eurobarometer (Nr. 61) einige spezielle Fragen zur europäischen Identität eingeführt, die später soweit ich sehe, nicht mehr auf die selbe Weise erhoben wurden. Demzufolge ist zwar die Flagge der EU mittlerweile bekannt (81% der Europäer kennen sie), weniger bekannt ist allerdings die Hymne: Von Beethovens »Ode an die Freude« wissen nur 25%. Auf die Frage, wie sich die Befragten in Zukunft sehen, antworteten nur 4%, sie würden sich ausschließlich als Europäer sehen. Weitere 6 % verstehen sich als Europäer und in zweiter Linie als Bürger ihres jeweiligen Staates. Bei 46% rangiert ihre jeweilige Nationalität an erster Stelle und Europa an zweiter. Doch 41 % sehen sich ausschließlich als Bürger ihres jeweiligen Staates und nicht als Europäer. Die Zahlen für die Deutschen entsprechen weitgehend dem europäischen Durchschnitt (6% Europäer, 8% Europäer und Deutsche, 46% Deutsche und Europäer, 38 % Deutsche). Einen Trend hin zu einer größeren Zahl von Menschen, die sich ausschließlich oder zumindest zusätzlich als Europäer verstehen, lässt sich auch über einen längeren Beobachtungszeitraum von 30 Jahren nicht erkennen (vgl. Roose 2007).
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tität bezieht sich somit auf Ordnungsvorstellungen wie sie ethnische Gemeinschaften, Nationen, soziale Klassen, Berufsgruppen und dergleichen verkörpern. Häufig sind sie mit Herrschaftsstrukturen verknüpft, deren Grenzen kulturell oder politisch definiert werden. Entscheidend aber ist immer das soziale Konstrukt eines Gemeinsamkeitsglaubens, auf dem das Zusammengehörigkeitsgefühl basiert. Je größer und umfassender das betreffende Kollektiv, desto fragiler erweist sich das jeweilige Gebilde, weil die interaktive und kommunikative Erreichbarkeit unter den Mitgliedern mit der räumlichen Ausdehnung abnimmt und den Charakter einer „Gemeinschaft von Fremden“ annimmt (vgl. Brunkhorst 1997; ders. 2002). Es ist freilich kein Zufall, dass gerade die moderne Gesellschaft mit ihren anonymen Institutionen, ihren ausdifferenzierten Sozialsystemen, dezentrierten Weltbildern und Wertsphären sowie fragmentierten Personalidentitäten den gesellschaftlichen Nährboden bildet, in dem kollektive Identitäten im Sinne von emotionalen Vergemeinschaftungen und Zugehörigkeiten zu Großgruppen am nachhaltigsten gedeihen. Dies obwohl gerade moderne Organisationen mit ihren wechselnden Mitgliedschaften und ausdifferenzierten Funktionen die Ausbildung kollektiver Identitäten erschweren. Eine Erklärung dafür ist: Das universale Deutungsmuster der Stammesverwandtschaft und Familiensolidarität suggeriert eine durch Affekte gestützte Gemeinschaftsvorstellung, die auf andere, intern auch anders strukturierte Vergesellschaftungseinheiten, wie die Nation oder die Klasse, übertragbar erscheint. Oft überlagern sie die sozialen Differenzierungen der Klassen- und Lebenslagen, Milieus, des Habitus und die damit verbundene Vielfalt von Interessen und Interessengegensätzen, die für moderne Gesellschaften konstitutiv ist. Insbesondere die Nation bildet so die „integrative Basis“ (Giesen 1993: 21) für den Differenzierungsprozess moderner Gesellschaften. Die Soziologie weist freilich den Gedanken zurück, diese Kollektive könnten als Ausdruck anthropologischer Gegebenheiten oder als historische Wesenheiten aufgefasst und entsprechend überhöht werden. Sie ersetzt ihn durch eine kulturalistische und konstruktivistische Perspektive. Die Naturalisierung der Zugehörigkeitsdefinitionen mit Bezug auf Merkmale wie Geschlecht, Abstammung, Rasse oder Siedlungsgebiet gehören demzufolge selbst zum kulturellen Repertoire symbolischer Konstruktionen von Gesellschaftlichkeit durch Anwendung „natürlicher Klassifikationen“ im Rahmen des „primordialen Codes“ (ebd., 52ff.) Mit Bezug auf ethnische Kollektive, die für die Entwicklung politischer Identitäten in der Moderne einen zentra-
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len Referenzpunkt darstellen, hat insbesondere Max Weber deutlich gemacht, wie sie durch die Entwicklung eines „Stammesverwandtschaftsglaubens“ in ihrer Machtentfaltung gefördert werden. Mehr noch: Politische Institutionen, wie etwa der moderne Nationalstaat, pflegen „überall … auch in ihren noch so künstlichen Gliederungen, ethnischen Gemeinschaftsglauben zu wecken …“ Hervorzuheben ist, dass Weber hier einen artifiziellen Mechanismus der Konstruktion kollektiver Identitäten am Werke sieht, also eine „künstliche Art der Entstehung eines … Gemeinschaftsglaubens“.2 Mit anderen Worten: In der Gegenwartsgesellschaft zeigen sich vielfach gerade durch rationale Funktionen und abstakte Mitgliedschaften geprägte politische Institutionen bemüht, ein Gemeinschaftsgefühl künstlich zu erzeugen und zu pflegen. Das so sozial konstruierte Gemeinschaftsgefühl orientiert sich am Modell familiärer oder primordialer Affektbeziehungen. Max Weber hebt auch den instrumentellen Charakter von dieser Art Gemeinsamkeitsglauben hervor und betont gleichzeitig die Bedeutung von imagined communities, um es mit Bendedict Anderson (1983) auszudrücken, für die Legitimation rationaler sozialer Ordnungen. In diesem Sinne erweist sich der historisch gewachsene Nationalstaat, mit der für ihn typischen Institutionalisierung von abstrakter Territorialherrschaft, anonymer Massenmitgliedschaft, konstitutioneller Bürgergemeinschaft, der ihm eigenen moralischen Ökonomie und dem nationalem WirGefühl als eine der historisch erfolgreichsten Vergesellschaftungsformen. Der Europäischen Union mangelt es zwar keineswegs an Staatlichkeitsattributen, auch nicht an den dazu erforderlichen rechtlichen und bürokratischen Herrschaftsinstrumentarien. Was der EU bis heute aber offenkundig fehlt, ist gerade jenes gesellschaftliche und kulturelle Gemeinschaftsfundament, auf das sich der Nationalstaat als ein naturalisiertes „Substrat“ meist berief und von woher er einen Großteil seiner demokratischen Legitimation empfing. Für den Nationalstaat wurde die Identität der Nation, sowohl in ihrer territorial-staatlichen Einheit wie ihrer kollektiven Selbstbeschreibung, zum zentralen Bezugspunkt politischen Handelns und Legitimation. Die Nation entwickelte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zum „alles andere überragende(n) ‚kollektive(n) Subjekt der Geschichte“ (Giesen 1993: 10).
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Grundlegend für dieses sozial-konstruktivistische Verständnis von kollektiver Identität: Weber 1976: 234-244.
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Es ist daher nicht überraschend, dass der Nationalstaat auch in der europäischen Identitätsdebatte zum wichtigsten Bezugs- und Vergleichsmodell wurde. Für die meisten Politiker und Beobachter ist – explizit oder unreflektiert – die Europäische Union ein Staat im Werden, ein „unvollendeter Bundesstaat“, um es mit Walter Hallstein auszudrücken. Dessen Finalität wird, so eine verbreitete, aber – wie im Folgenden gezeigt werden soll – irreführende Ansicht, erst dann erreicht sein, wenn die Europäische Union die Entwicklung zum demokratischen Nationalstaat, also zu einer „gesellschaftlichen Gemeinschaft“ auf der Basis eines europäischen Kollektivbewusstseins (Parsons 2000: 113ff.) verwirklicht hat. Welche Optionen lassen sich nun für eine europäische Identitätsbildung ausmachen? Welches Gemeinschaftsmodell kommt überhaupt in Frage? Zahlreiche Intellektuelle hängen, so meine These, einem politisch kurzsichtigen Essentialismus an, wenn es um die Frage der europäischen Identität geht. Sie gehen von einer Deckungsgleichheit von geographischem, historisch-kulturellem und politischem Raum als Voraussetzung eines Gemeinsamkeitsbewusstseins aus. Die historischen Erbschaften, die dabei als Identitätsbezüge evoziert werden, sind bekannt: Antike, Christentum, Renaissance und Aufklärung. Nun lässt sich die Annahme von der einheitsstiftenden Kraft dieser historisch-kulturellen Traditionsbestände allerdings durchaus kritisch hinterfragen. Es sei hier nur auf die großen Spaltungen verwiesen, die mit der Religionsgeschichte Europas verbunden sind:3 Erstens die Trennung zwischen Ost und West, d.h. im wesentlichen das Mittelmeerbecken („Okzident“) auf der einen vom Rest der Welt („Orient“) trennt; zweitens die Teilung Europas in der Mitte des Mittelmeerbeckens als Folge der islamischen Eroberungen des östlichen und südlichen Mittelmeerraumes im 7. Jahrhundert; die dritte Trennungslinie verläuft im Inneren der Christenheit und führte zum Schisma zwischen Lateinern und Byzantinern; schließlich sei noch an die vierte, durch die Reformation eingeleitete Teilung Europas erinnert. Das sind historische Dichotomien und Paradoxien, die bis in die Gegenwart nachwirken. Mit der Christenheit wurde Europa also keineswegs vereint, sonder eher gespalten. „Europa zeigt uns … ein von Narben gezeichnetes Gesicht, das die Spuren der Wunden trägt, die es zu dem machten, was es ist … (Sie) definieren Europa im Gegensatz zu dem, was es nicht ist“ (Braque 1993: 16). 3
Im Folgenden stütze ich mich auf die Analyse Remí Braques (1993)
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Auch lässt sich fragen, was es mit den viel beschworenen Werten der Renaissance und der europäischen Aufklärung auf sich hat? Selbst wenn sie sich arabischen Einflüssen verdanken sollten, so lagen sie doch, um hier noch einmal Max Weber zu zitieren „in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit“ (Weber 1988: 1). Ein Gemeinsamkeitsglaube der Europäer lässt sich damit indes nur schwer begründen. Universelle Gültigkeit heißt doch: Darauf kann sich generell die ganze Welt berufen. Ein europäischer Monopol- oder einen Exklusivitätsanspruch lässt sich damit nicht erheben. Zugespitzt formuliert: Primordiale Selbstbeschreibungen, die in der Regel auf Idealisierung der eigenen Kultur, Geschichte und Traditionen beruhen, zeitigen häufig unheilvolle Nebenfolgen. Sie bewirken typischerweise Exklusion und präjudizieren Konflikte (vgl. Giesen 1999). Von Max Weber kann man darüber hinaus lernen, dass die Pflege des Gemeinsamkeitsglaubens, insbesondere der ethnischen und nationalen Abstammungsfiktionen, soziologisch gesehen primär der „sozialen Schließung“ dient. Das bedeutet: einer Absicherung und Monopolisierung von wirtschaftlichen und politischen Ressourcen sowie Chancen privilegierter Kollektive (vgl. Weber 1976: 23ff.). Norbert Elias hat nachgewiesen, auf welche Weise und mit welchen Konsequenzen die soziale Kohäsion abgrenzbarer Kollektive in Verbindung mit Machtdifferentialen stets eine Statusideologie der „Etablierten“ hervorbringt, welche die Wir-Gruppe durch Selbstzuschreibung eines „Gruppencharismas“ idealisiert (vgl. Elias/Scotson 1990). Und Jürgen Habermas stellt dazu fest, dass besonders die Konstruktion nationaler Kollektividentitäten mit ihren völkischen Stereotypen einer „positiven Selbststilisierung der eigenen Nation“ Vorschub leistete, die sich „zum gut funktionierenden Mechanismus der Abwehr alles Fremden, der Abwertung anderer Nationen und der Ausgrenzung nationaler, ethnischer, religiöser Minderheiten“ entwickelte (Habermas 1996: 134). Die öffentliche Debatte in Deutschland zum EU-Beitritt der Türkei scheint mir hierfür besonders erhellend zu sein. Eine Untersuchung, die Pressestellungnahmen und Leserbriefe zur Türkeifrage ausgewertet hat, kommt zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass die Bezugnahme auf eine wie auch immer konkret ausgestaltete europäische Identität überwiegend mit einer Ablehnung eines EU-Beitritts der Türkei korreliert. Mit anderen Worten: Der Identitätsframe geht signifikant mit exkludierend wirkenden Deutungen einher (vgl. Madeker 2008). Aus diesem Blickwinkel betrachtet, er-
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scheint der Begriff „kollektive Identität“ in der Politik eher Unheil zu stiften. Die Geschichte des XX. Jahrhunderts lehrt uns, dass „Identitätspolitik … einer der verheerendsten Destruktionspotentiale moderner Politik“ sein kann. „Bei genauerem Hinsehen“, so Thomas Meyer, „erweisen sich vor allem die Gattungen religiöse und ethnische Identität, mitunter auch kulturelle, als Hauptdelinquenten moderner Gewaltpolitik.“ (Meyer 2004: 8). Welche Alternativen gibt es dazu? Kollektive Selbstbeschreibungen bilden sich in der modernen Gesellschaft, so M. Rainer Lepsius (1999: 201), auch dadurch, dass „institutionalisierte Ordnungsvorstellungen“ als Objekte der Identifikation gesellschaftliche Geltung erlangen. Der Akzent liegt hier auf „Institutionalisierung“, mithin auf Institutionen. Grundsätzlich kann die Europäische Union somit prinzipiell auch als Bezugsobjekt einer europäischen Identitätsbildung dienen. Für sie ist die Leitidee einer kontinuierlichen und effizienten Kooperation der Mitgliedsstaaten spezifisch. Sie wurde in dem einzigartigen Brüsseler Verhandlungsregime verwirklicht. In ihr findet die gesamte Entscheidungsfindung durch das Zusammenwirken des Ministerrates als Repräsentanz der Mitgliedsstaaten auf der einen Seite und der EU-Kommission als Agentur des „europäischen Gemeinwohls“ auf der anderen statt, bei einer immer noch marginalen Mitwirkung des Europäischen Parlaments. Die bisher entwickelte EU-Konsens-Maschinerie, die bereits mehrfach erwähnte „Komitologie“, die an die Arkanpolitik des Absolutismus erinnert, hat sich in rein funktionaler Hinsicht durchaus bewährt (vgl. Bach 1999; Puntscher Riekmann 1998). Für eine europäische Bewusststeinsbildung erwies sich dies alles allerdings im hohen Maß als kontraproduktiv. Denn damit korrespondiert ein struktureller Defekt des politischen EU-Verhandlungssystems: Schwerfällige Entscheidungsprozesse, die oft durch sachfremde Rücksichtnahmen und Verpflichtungen jede Rationalität überlagern und eine ausgeprägte Tendenz zu suboptimalen Problemlösungen, das uns bereits als Politikverflechtungsfalle begegnet ist. Dergleichen potenziert das ohnehin starke Desinteresse der Bürger an institutionellen Prozessen. Dies gilt zumal für ein System, wie das der EU, bei dem die Zuschreibung von politischer Verantwortung ebenso schwierig ist wie eine mediensystemgerechte Personalisierung von Politik, bei dem der Regierungs-Oppositions-Schematismus weder in den parlamentarischen Auseinandersetzungen noch in den Beschlussgremien greift, wo Weltanschauungsdifferenzen hinter einem parteienübergreifenden europa-
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politischen Konsens verschwinden, wo demgemäß eine kritische Öffentlichkeit völlig fehlt (vgl. Imhof 2002: 50ff.). Selbst der europäische Binnenmarkt, bisher das primum movens der Integration, kann kaum etwas zur Formierung einer europäischen Identität beitragen. Wie auch? Die Rationalität der Marktbildung folgt der Logik einer instrumentellen Integration. Sie zielt auf den Abbau tarifärer und nichttarifärer Hindernisse im grenzüberschreitenden Waren- und Kapitalverkehr, mithin auf Kapital- und Gütermarktliberalisierung. Legitimiert wurde das Projekt der europaweiten Marktbildung durch ein politisches Versprechen auf allgemeine Wohlstandssteigerung für alle. Das war, wie sich im nachhinein zeigt, eine überaus optimistische Prognose der Ökonomen und der Europäischen Kommission, die sich inzwischen selbst widerlegt hat. Es ist symptomatisch, dass in der sozialwissenschaftlichen Europaforschung hinsichtlich der sozialen Effekte, zu den Anpassungslasten aufgrund der Veränderungen von Güter- und Kapitalströmen durch die Vollendung des europäischen Binnenmarktes, zu den Arbeitsmärkten, zu den gesellschaftlichen Verteilungseffekten und generell zur Europäisierung der sozialen Ungleichheit bisher so gut wie keine aussagefähigen Studien vorliegen. Was nach wie vor unangefochten triumphiert, ist die Ideologie des Marktes (vgl. Münch/Büttner 2006; ferner Tang 2000; allgemein Mongardini 1997). Es war vor allem die Währungsunion, die, wie in Kapitel II.2 ausgeführt, dafür die monetären Rahmenbedingungen schuf. Mit ihr und den Maastrichter Kriterien wurde Geldwertstabilität als primäres Rationalitätskriterium europäischer Wirtschaftspolitik festgeschrieben. Dadurch erfolgte die Zementierung der Entkopplung von Wirtschafts- und Sozialpolitik im europäischen Maßstab (vgl. Weinert 2000). Mit der Einführung des Euro als gemeinsame Währung wurden die Transaktionskosten bei grenzüberschreitenden Geschäften auf dem Binnenmarkt noch einmal deutlich reduziert. Allerdings muss auch festgestellt werden, dass diese Entwicklung weder erkennbar zu einer Stärkung des europäischen Bewusstseins in der Bevölkerung beitrug, noch die soziale Kohäsion Europas nennenswert gefördert wurde. Im Gegenteil: Bei näherer Betrachtung erweist sich die Währungsunion geradezu als der Kulminationspunkt der wirtschaftspolitischen Deregulierungsstrategie, die zu einem radikalen Bruch mit einer langen, von wirtschaftspolitischem Protektionismus und wohlfahrtsstaatlicher Lebenssicherung geprägten Tradition der sozialen Integration in Westeuropa führen sollte.
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Zugespitzt formuliert geht es um Folgendes, und damit komme ich noch einmal auf meine Argumentation in Kapitel II zurück: Aus der früher noch als einem unauflösbaren Ensemble makroökonomischer Ziele verstandenen wirtschaftspolitischen Konzeption, dem „magischen Viereck“, das Preisniveaustabilität, Vollbeschäftigung und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem Wirtschaftswachstum prinzipiell als gleichrangige Ziele verstand, wurde ein Rationalitätskriterium herausgelöst und zum einzig relevanten, die anderen verdrängenden erklärt: Geldwertstabilität. Damit untergräbt die Währungsunion die Fähigkeit der Mitgliedsländer, den Kurs ihrer eigenen Ökonomien noch nennenswert autonom zu beeinflussen und etwa selbst definierte sozialpolitische Ziele zu verwirklichen. Die nationalen Optionen, die unter dem europäischen Recht noch zur Verfügung stehen im Grunde nur noch, wie Fritz Scharpf hervorhebt, angebotsseitige Strategien wie Steuerentlastungen, weitere Deregulierung und Flexibilisierung von Beschäftigungsverhältnissen sowie zunehmende Lohndifferenzierungen und Kürzung von Sozialleistungen (vgl. Scharpf 2003). Es liegt auf der Hand, dass dies nicht gerade günstige Voraussetzungen sind, um die Identifikation der Bürger mit dem europäischen Projekt zu fördern. Beim Verfassungsreferendum 2005 in Frankreich und den Niederlanden erwies sich, wie eine unmittelbar nach dem Referendum durchgeführte Meinungsumfrage der Kommission belegt, gerade diese Dissoziation von Wirtschaftsund Sozialpolitik mit als das stärkste Motiv bei der Ablehnung der Europäischen Verfassung (vgl. Eurobarometer 2005, vgl. Blaseck 2007: 101ff.). Die Einführung des Euro als europaweites Zahlungsmittel ist in seiner symbolischen und bewusstseinsbildenden Bedeutung ohnehin in der Öffentlichkeit weit überschätzt worden. Nach meinem Dafürhalten kann die Währungsunion schon aufgrund ihrer Ausrichtung die vielfach in sie gesetzten Erwartungen auf Förderung des europäischen Gemeinsamkeitsbewusstseins nicht erfüllen. Das gilt letztlich auch für die Unionsbürgerschaft. Mit dieser Rechtsfigur scheint zwar der Übergang zu einer postnationalen Staatsbürgerschaft angelegt zu sein; sie kann allerdings nur sehr bedingt als „potentielle Basis für eine kollektive Identität in Europa“ (Giesen/Eder 2001) angesehen werden. Denn erstens ist dies kein unmittelbares, sozusagen primäres Gut, vielmehr leitet sie sich von der Staatsangehörigkeit zu einem Mitgliedsstaat ab. Und zweitens sind die Rechte, die dem Unionsbürger zukommen, äußerst beschränkt. Nicht genug damit, ergänzend erstreckt sich ihr universalistischer Inklusionsanspruch keineswegs auf alle Menschen, die auf dem Territorium
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der EU leben. Ganz im Gegenteil: Eine große Zahl von Drittstaatenangehöriger, extra-communitari oder irreguläre Zuwanderer sehen sich tagtäglich mit systematischer Exklusion aus dem Rechts- und Sozialsystem der europäischen Gesellschaften konfrontiert. Das bedeutet, die Institution der Unionsbürgerschaft verlagert die Konflikte um soziale Inklusion und Exklusion, die mit Staatsbürgerschaft stets verbunden sind, einerseits an die EU-Außengrenzen und andererseits auf die Relationen zwischen EU-Bürgern und Nicht-EU-Bürgern ins Innere der Europäischen Union (vgl. Kap. VI und VII oben). Damit werden nicht nur Außenbeziehungen zu sozialen Binnenproblemen (vgl. Bach/Lahusen/Vobruba (Hg.) 2006). Man muss auch nüchtern konstatieren: Die mit der Unionsbürgerschaft verbundenen spezifischen Rechte – also das Recht auf Freizügigkeit, das kommunale Wahlrecht für EU-Bürger im Hoheitsgebiet eines dritten Landes, die Petitionsrechte beim Europäischen Parlament und der diplomatische und konsularische Schutz im Ausland durch einen anderen EU-Staat – gelten lediglich für einen verschwindend kleinen Teil der Unionsbürger. Das liegt daran, um hier ein zentrales Argument von Kapitel VII noch einmal zu wiederholen, dass die meisten anderen und damit die ganz überwiegende Mehrheit der EU-Bürger von ihren Rechten gar keinen Gebrauch machen. Letztlich betreffen die Unionsbürgerrechte nur ca. fünf Millionen überwiegend hoch qualifizierte und mobile Personen, die wie Manager, Spitzenbeamte, Verbandsfunktionäre oder Wissenschaftler zu den Funktionseliten Europas zu zählen sind. Und die Europäische Verfassung? Verfassungen können als Institutionen für politische Identitätsbildungen eine wichtige Referenz mit konkreten und verbindlichen Wertbezügen sein. „Um zu einer Ordnung eine Identifizierung aufzubauen, muss diese eine Wertladung aufweisen. Der Identitätsbildung liegt ein Bekenntnis zu Wertvorstellungen zugrunde, die durch diese Ordnung repräsentiert und verwirklicht werden soll. Je stärker der Wertbezug, desto stärker wird die Identitätsstiftung sein, die von ihr ausgehen kann“ (Lepsius 2006: 109f.) Dafür bieten die Verfassung der USA und das Grundgesetz der Bundesrepublik eindringliche Belege. Davon sind der Europäische Verfassungsvertrag und erst recht der Vertrag von Lissabon allerdings weit entfernt. Ihre Kenntnis und Akzeptanz in der Bevölkerung sind äußerst gering, nicht nur in Frankreich, den Niederlanden und Irland. Zudem ist äußerst fraglich, ob die verfassungsartigen Texte für die EU einen spezifischen europäischen Eigenwert aufweisen, auf dem eine unterscheidbare europäische Identifikation aufbauen könnte. Ihre
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politischen Leitideen und Wertbindungen – Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und dergleichen4 – sind weitgehend Derivate der Mitgliedsstaaten bzw. globale Modelle mit universalistischem Wertgehalt. Die Europäische Union repräsentiert in ihrem Wertekanon insofern eher ein universales „Weltmodell“ statt eines spezifisch europäischen Musters. Es sollte nicht vergessen werden: Selbst der Nationalstaat als Strukturmodell politischer Vergesellschaftung ist, im Rückblick auf seine Geschichte gesehen, mehr ein Produkt der modernen Weltgesellschaft als Ausdruck lokaler Traditionen (vgl. Meyer 2005). Eine kollektive Identitätsbildung würde auf europäischer Ebene einen radikalen Systemwechsel in Richtung einer Primordialisierung Europas bedingen. Das wäre ein Rückfall in alte Zeiten. Anstelle der bisherigen, von ausdifferenzierten Funktionseliten getragenen rationalen Vergesellschaftung in Gestalt eines supranationalen Verhandlungssystems mit primär wirtschaftspolitischer Zwecksetzung, würde eine bundesstaatliche EU mit unvorhersehbaren politischen und sozialen Folgen entstehen. Wir sollten aber die Europäische Union nicht überfrachten mit Funktionen und Anforderungen, denen sie nicht gerecht werden kann, weil sie dafür nicht geschaffen wurde. Dazu gehören die Prätentionen einer Verfassungsgebung und einer politischen Identitätsstiftung. Noch organisieren die Nationalstaaten, auch als Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die demokratische Partizipation, die politische Legitimation, die kollektive Identität und die soziale Solidarität am effektivsten und transparentesten. Sie bleiben daher als Institutionensysteme, die wesentlich den sozialen Konfliktausgleich und damit die Binnenintegration leisten, also aus guten Gründen – auch wenn die Isomorphien mit weltgesellschaftlichen Prinzipien und Modellen deutlich zunehmen (vgl. Wobbe/Biermann 2007) – die wichtigsten politischen und gesellschaftlichen Referenzeinheiten der Bürger. Die Errungenschaften der europäischen Nationalstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg sollten deshalb nicht voreilig aufgegeben werden. Sie leisten bis heute unverzichtbar die politische Legitimation und soziale Integration der Gesellschaften. Alle Bestrebungen, eine europäische Identität auszubilden, sollten das berücksichtigen und sich daher von irreführenden Analogien zum Nationalstaat freihalten. 4
Vgl. dazu Art 2 des Lissaboner Vertrages.
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X. Ausblick
Als ein Phänomen der Moderne ist auch für das europäische Integrationsprojekt die Vorstellung grundlegend, die sozialen, kulturellen und politischen Ordnungen könnten durch bewusste menschliche Aktivität planmäßig gestaltet und zum Besseren hin verändert werden. Beständige, aktive Reformen sowie planmäßige Gestaltbarkeit sind ebenso Momente seiner Legitimation und Autorität wie das Selbstverständnis, dass es als politisches System einer demokratischen Legitimation bedürfe, die auf einer Kollektividentität der Unionsbürger basiert. Die Europäische Union muss sich darüber hinaus unter gesellschaftlichen Rahmenbedingungen bewähren, die durch andauernden Institutionenwandel und durch Autoritätsverlust traditioneller Ordnungen sowie überlieferter Ideen- und Symbolsysteme gekennzeichnet sind. Wie alle komplexeren politischen Systembildungen, die weder ihre Umwelten noch ihre Binnenordnung voll kontrollieren können und selbst Unsicherheiten durch Entscheidungen erzeugen, ist auch die europäische Integration ein unwahrscheinliches und riskantes Großprojekt. Dieses Projekt stößt schon aufgrund der Vielzahl der an ihm beteiligten Mitgliedsländer und politische Akteure, der Komplexität seiner Institutionenordnung, der Unbestimmtheit seiner geographischen und konstitutionellen „Finalität“ sowie der Intransparenz der institutionalisierten Verfahren der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung an die Grenzen der politischen Planbarkeit und Gestaltbarkeit. Riskant ist die mit der Europäisierung eingeschlagene Entwicklung vor allem für die Zukunft der Demokratie als Konfliktlösungs- und Steuerungsmodus. Die EU entfaltet, wie oben ausgeführt, eine institutionelle Eigendynamik, die in einem schleichenden Prozess eher eine autoritäre und technokratische politische Ordnung hervorbringt als eine transnationale Demokratie. Risiken birgt der europäische Einigungsprozess aber auch, wie wir sahen, für die soziale Integration der Mitgliedstaaten. Mit der europäischen Integration werden neue transnationale Spaltungen wahrgenommen, bestehende soziale Polarisierungen, etwa im Zusammenhang mit Einwanderern in europäischen Großstädten, werden verstärkt und die normative Universalisierung des Markt- und Wettbewerbsprinzips lässt zu187
sammen mit einer zunehmenden Durchlässigkeit von Grenzen und einer nachhaltigen Schwächung der Wohlfahrtsstaatlichkeit unübersichtlichere, vor allem aber schwer institutionalisierbare Ungleichheits- und Konfliktlagen entstehen. Es besteht weitgehend Übereinstimmung darüber, dass die Europäische Union weder über die einschlägigen Kompetenzen noch über die nötigen Ressourcen noch über hinreichende demokratische Legitimation verfügt, um die Sozialintegrationsverluste der Mitgliedstaaten angemessen kompensieren zu können. Aber auch das als Gegengift wider das notorische Identifikationsdefizit und die viel beklagte Bürgerferne der Europäischen Union propagierte Bemühen um eine europäische Kollektividentität ist keineswegs so harmlos und risikolos wie es häufig den Anschein hat. Symbolische Kämpfe, zumal um Gemeinschaftlichkeits- und Zugehörigkeitsdefinitionen und damit verbundene Grenzziehungen haben immer auch mit Machtfragen zu tun und sind deshalb von eminent politischer Brisanz. In diesen Kämpfen wird stets auch eine symbolische Ordnung als Legitimationsbasis eines neuen Herrschaftssystems konstruiert. Dabei gibt es ebenfalls Grenzen des Vorhersehbaren und Planbaren. Immerhin besteht die nicht gänzlich von der Hand zu weisende Gefahr der Entstehung eines neuen xenophobischen Nationalismus auf seiten der Europäisierungsverlierer und Integrationsskeptiker. Das ließe sich auch als eine nicht intendierte Antwort auf die Zumutungen und Überforderungen der Leute durch in ihren Rückwirkungen auf deren Lebenswelt schwer kalkulierbare Transnationalisierungsprozesse interpretieren. Außerdem verfängt sich eine Politik, die europäische Identität herstellen, also bewusst konstruieren will, leicht in den Fallstricken sozialer Konstruktionen: Gerade aufgrund der sie kennzeichnenden Kontingenzen und Paradoxien muss sie verbergen, dass sie konstruiert wurden, um nicht selbst unter Kontingenzverdacht zu geraten, was die Legitimierungskraft unterminieren würde. Ein anderes Problem ist, dass die Demokratisierungszumutungen, mit denen die EU konfrontiert wird und denen sie sich auch nicht entziehe kann, sowohl die Risiken als auch die Krisenanfälligkeit der supranationalen Systembildung erhöhen, wie die Folgen der Verfassungsvertragsreferenda in Frankreich, den Niederlanden und zuletzt in Irland exemplarisch deutlich machen. Je mehr die Rhetorik der Demokratie im supranationalen Kontext bemüht wird, desto anfälliger wird paradoxerweise das System für Legitimationskrisen, weil ein wahrscheinliches Scheitern das gleichzeitig das entsprechende Anspruchsniveau bezüglich der Demokratisierbarkeit zugleich an-
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hebt und frustriert. Die Frustration ist dann vorprogrammiert, weil die EU selbst, trotz des zu unterstellenden guten Willens ihrer Repräsentanten, aufgrund ihrer Abhängigkeit vom Konsens der Mitgliedstaaten, kaum etwas zur Erzeugung der erforderlichen demokratieförderlichen Legitimationsressourcen beitragen kann. Auch versagen auf europäischer Ebene gewohnte Schematismen, Rituale und Verfahren der Reduktion von Komplexität, mithin das ganze in parlamentarisch-demokratischen Regierungssystemen übliche „coping with paradoxes“. So ist nicht nur die für öffentliche politische Zurechnungsprozesse grundlegende Dichotomie Opposition/Regierung nicht übertragbar. Aber auch der für gesellschaftliche Konfliktlösung in modernen Gesellschaften fundamental bedeutsame Entscheidungsmodus der einfachen Mehrheitsregel, die Personalisierbarkeit von Regierungsfunktionen, die Parteienkonkurrenz um Gemeinwohlvorstellungen – all diese institutionalisierten Formen des Umgangs mit Kontingenzen, Paradoxien und Tautologien im politischen Tagesgeschäft greifen, wie wir sahen, nicht mehr angesichts der strukturellen Besonderheiten des europäischen Mehrebensystems. Die politische Praxis des europäischen Verhandlungs-, Verflechtungs- und Rechtssystems entzieht sich somit grundsätzlich einer Übersetzung in die landläufige politische Praxis und Semantik nationaler politischer Auseinandersetzungen. Gleichwohl bleibt die EU unentrinnbar auf die in den Mitgliedstaaten gültigen normativen Beurteilungs- und Legitimationskriterien von demokratischer Politik verwiesen. Da sie aber weder ihre eigene Umwelt der Mitgliedstaaten umfassend kontrollieren noch sich ihre demokratischen Legitimationsressourcen selbst beschaffen kann und zudem die Veränderung ihrer eigenen Institutionenordnung und Entscheidungsverfahren mit exorbitant hohen Verhandlungskosten verbunden ist, vor allem außerordentlich viel Zeit in Anspruch nimmt1, besteht bei den europäischen Funktionseliten und Regierungen eine ausgeprägte Neigung, die offenkundigen Legitimationsdefizite, die fundamentalen Interessenkonflikte sowie die langfristigen Risiken der Integrationspraxis mit politischer Rhetorik zu überspielen. Besonders in Krisensituationen tritt rhetorische Politik naturgemäß in den Vordergrund der politischen Praxis. Das Versprechen von Lösungen 1
Allein die Verhandlungen und Abstimmungen um den Verfassungsvertrag haben mindestens sieben Jahre beansprucht, wenn man von der Humboldt-Rede des damaligen Bundesaußenminister Fischer (2000) bis zu dem endgültigen Scheitern des Verfassungsentwurfs auf dem Gipfel von Lissabon rechnet.
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für anstehende Probleme ersetzt dann Entscheidungen, die aufgrund von krisenbedingten Handlungsbeschränkungen nicht getroffen werde können. In der europapolitischen Rhetorik spielen naturgemäß ebenfalls Rationalitäts- und Fortschrittsmythen eine zentrale Rolle. Es genügt ein Blick in die Präambel und den Titel I („Gemeinsame Bestimmungen“) des Lissaboner EU-Vertrags, um dies zu erkennen. Die Europäische Union präsentiert sich als eine politische Ordnung von moralischer Überlegenheit, die Frieden, Fortschritt, Solidarität und Bürgernähe in Europa verspricht und zu der es prinzipiell keine alternative Ordnungsvorstellung gibt. Im Vergleich dazu muss jeder Ausdruck von europapolitischem Skepitizmus, sei er noch so demokratisch legitimiert, wie beispielsweise im Falle des irischen Referendums, als irrational und illegitim erscheinen. Jeder Integrationswiderstand widerspricht so gesehen aus Sicht der „Europamacher“ letztlich der Vernunft der Geschichte. Wenn sich die Wertesemantik vor allem deshalb zur politischen Legitimation eignet, weil sie auf Gesellschaft verweist, dann steht die europapolitische Rhetorik vor einem uauflösbaren Dilemma: Der Entwertung des Nationalstaats als „Normalform“ von Gesellschaft mit zu betreiben, ohne die alternative europäische Ordnungsvorstellung mit gesellschaftlichem Leben erfüllen zu können.
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