Geisterfänger Band 14 Flucht ins Nichts von Henry Taylor Eine schaurige Reise ins Schattenreich.
Die weißen Punkte de...
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Geisterfänger Band 14 Flucht ins Nichts von Henry Taylor Eine schaurige Reise ins Schattenreich.
Die weißen Punkte der Straßenlaternen durchdrangen kaum den grauen Nebelschleier. Nur wenig stärker zeichneten sich die gelben Leuchten ab, die Zebrastreifen und Kreuzungen markieren sollten. Richard Dale gähnte. Er hatte wieder viel zu lange in seinem Büro gesessen. Niemand sprach jemals davon, wie viel Arbeit ihm die Organisation aufbürdete. Es ging auf Mitternacht zu. Er hätte lieber einen der letzten Züge der Metropolitan Linie nehmen sollen und die halbe Meile zu Fuß gehen. Trotz der leeren Straßen war das Autofahren eine Quälerei. Die Umrisse des Stationsgebäudes zeichneten sich schon in der grauen Milchsuppe ab. Links die Einmündung, rechts das Kino mit den längst erloschenen Leuchtschriften. Dale gähnte noch einmal. Seine Aufmerksamkeit ließ langsam nach. In zwei Minuten stände der Wagen ohnehin in der Garage. Er sah den Mann nur Sekundenbruchteile lang. Das in panischer Angst verzerrte Gesicht würde er nie vergessen können. Der Mann im grauen Regenmantel schien den alten, schwarzen Humber gar nicht zu sehen. Er rannte direkt auf Dales Wagen zu, als säße ihm der Teufel im Genick. Automatisch rammte Dale den rechten Fuß auf die Bremse. Die Reifen schlidderten über den glatten Asphalt der Alexandra Avenue. Dale spürte einen harten Aufschlag rechts am Kotflügel, als er den Körper traf. Er kniff die Augen zu. Ein Ruck riss seinen Kopf nach hinten. Bleck knirschte. Glas splitterte. Ein anderer Wagen hatte ihn von hinten angefahren. Dale ignorierte den Schmerz in seinem Genick. So ein unvermuteter Aufprall von hinten kann einem den Hals brechen. Auf den scheußlichen Anblick eines von dem schweren Wagen zerquetschten Körpers vorbereitet ging Dale um sein Auto herum. Eine Stimme dicht hinter ihm ließ ihn herumwirbeln. »Haben Sie ihn doch noch erwischt?« »Ja, aber wo ist er? Und wer sind Sie?« »Ich bin von hinten draufgebrummt. Sorry, Sir. War nichts mehr zu machen. Fred Rawlings ist mein Name. Aber mal Spaß beiseite. Wo ist der Kerl denn wirklich hin?« 4
Die beiden Männer krochen halb unter Dales Wagen. Nichts. Sie suchten die Umgebung mit ihren Batterieleuchten ab. Nichts. Nachdenklich strich Dale über die frische Beule in seinem Kotflügel. Die einzige Spur, dass der Wagen einen Körper berührt hatte. Der andere Mann holte eine Zigarettenschachtel aus der Tasche. Er hielt sie Dale hin. Der reagierte mit unerwarteter Heftigkeit. »Nein, danke. Das ist unrein.« Ungerührt klopfte sich Rawlings selbst eine Woodbine heraus. »Tut mir Leid, Mister. Aber ich kann mir keine besseren leisten.« Rawlings beschränkte sich auf das billigste Angebot, das der Markt hergab. Er gab vor, nicht zu spüren, wie er den offenbar tabakhassenden Dale mit dieser Bemerkung beleidigt hatte. »Was machen wir nun?« Dale umkreiste noch immer sein Auto. Er starrte fassungslos auf die Beule. Zögernd wandte er sich an Rawlings. »Sie haben ihn doch auch gesehen, oder?« »Und wie ich ihn gesehen habe! Glauben Sie etwa, ich würde mich so ruhig mit Ihnen unterhalten, wenn ich nicht verdammt genau wüsste, Sie hatten einen guten Grund, plötzlich auf die Bremse zu trampeln?« »Rufen wir die Polizei?« »Für Sie ist es auf jeden Fall besser.« »Für mich?« »Haben Sie etwa keinen Fußgänger angefahren?« »Betrunken durch die Gegend rasen und dann behaupten, Sie machen Ihre Unfälle nur, weil ein Bürger von seinem Recht Gebrauch macht, die Straße zu überqueren. Das haben wir gern. Fahren Sie doch um die Wette, wo es Ihnen Spaß macht! Aber nicht hier.« Erstaunt sah sich Rawlings nach dem Mann mit der zänkischen Stimme um. Einen Meter hinter ihm stand ein bleiches, teigiges Individuum. Auf der Hornbrille perlten außen Regen- und innen Schweißtröpfchen. Rawlings wurde ärgerlich. »Wer hat Sie denn gerufen, Sie Giftzwerg? Haben Sie wenigstens gesehen, wo der Mann hin ist?« 5
»Was für ein Mann? Der Mann im Regenmantel, den Sie sich einbilden? Hier war kein Mensch. Ich habe alles genau gesehen.« »Spinner«, sagte Rawlings vernehmlich. Er wandte sich zu Dale. »Kommen Sie mit. Wir fahren zur Polizei.« Die beiden ziemlich schwer mitgenommenen Wagen klapperten hintereinander über die Bahnbrücke und bogen nach links in die Rayners Lane ein. Die nächste Polizeistation lag am Cecil Park in Pinner. Irritiert bemerkte Rawlings das kaum verdeckte Grinsen, mit dem die drei Männer vom Nachtdienst die Unterbrechung ihrer eintönigen Warterei begrüßten. »Nun, Mr. Dale, was haben Sie heute gesehen?« »Einen Mann. Ich habe ihn überfahren.« »Großartig, Mr. Dale. Ich hoffe, Sie haben ihn liegengelassen, damit man ihn besichtigen kann. Wo war der Unfall?« »Auf der Alexandra Avenue. Bei der Einmündung von High Worple.« »Ach, genau vor dem Kino. Übler Punkt. Dort passiert viel, Mr. Dale.« Fred Rawlings verfolgte mit ungläubigem Staunen, wie der wachhabende Polizeikonstabler die Angaben sichtlich gelangweilt auf einem losen Blatt Papier notierte. »Ist dieser Herr das Opfer?« Der Polizistenfinger zeigte auf Rawlings. »Nein. Das ist es ja gerade. Dieser Herr ist mir nur hinten aufs Auto gefahren. Der andere ist weg.« »Unfallflucht eines Fußgängers. Die Zeiten werden immer schlechter, Mr. Dale.« In der Stimme des Polizisten lag gutmütiger Spott. Dale stampfte mit dem Fuß auf. »Nein, zum Donnerwetter! Er hat sich in der Luft aufgelöst.« »Das klingt schon etwas vertrauter. In dem Augenblick, in dem Sie ihn mit dem Auto berührten?« »Ja«, sagte Dale hoffungsvoll. »Genauso war es.« »Ist notiert, Mr. Dale. Wir lassen von uns hören. Und nun werden wir Ihrer Anzeige nachgehen.« 6
Die beiden anderen Bobbies traten hinter der hohen Holzbarriere hervor und führten den nur schwach widerstrebenden Dale aus dem Revier. Fred Rawlings hatte ausgesprochen Lust, mit weit offenem Mund dazustehen. Doch er besann sich rechtzeitig auf seine drei Jahre Oxford und die davor liegende Zeit in Windsor. Für einen Mann mit dieser Erziehung gehörte sich ein so gewöhnliches Zeigen höchsten Erstaunens absolut nicht. Der Polizist langte über den Tisch nach seinem Teebecher. Er schmunzelte wie ein Zoowärter, der ein besonders seltenes Tier vorführt. »Den haben wir alle drei oder vier Tage hier. Mr. Richard Dale von der Gesellschaft außersinnlicher Wahrnehmungen. Sie haben keine Ahnung, was der alles sieht. In einem halben Jahr sieben fliegende Untertassen, vier Vampire auf dem Apfelbaum im Garten, einen... Sagen Sie mal, Mister. Sie finden das wohl gar nicht komisch?« »Ich habe den Mann auch gesehen«, sagte Rawlings eisig. »Ach, du meine Güte!« Der Polizist kratzte sich am Kopf. Mit einem Mal sah er aus wie eine missmutige Bulldogge. »Wer sind Sie denn, Mister?« »Fred Rawlings vom Weekend Observer.« »Reporter?« »Ja.« Rawlings sah es durchaus nicht gern, wenn jemand ihn nicht kannte. »Ach so.« Damit schien das Thema für einen vernünftigen Polizisten erledigt zu sein. Konnte man nicht zur Genüge in den Zeitungen lesen, was Journalisten alles zu sehen glaubten? Weil sich auf den, ganzen Polizeirevier niemand für seine Beobachtungen zu interessieren schien, knallte Rawlings wütend die Tür hinter sich zu. Dale erwartete ihn, aufgeregt von einem Bein auf das andere tretend, wie ein Kind vor der Bescherung oder vor verschlossener Toilettentür. »Hat man Ihnen geglaubt?« »Nicht die Spur.« Damit war Rawlings ganz zufrieden. Er hatte mit einem Griff seinen staatsbürgerlichen Pflichten genügt und seine Story 7
exklusiv für das Wochenende gerettet. Wenn nicht noch etwas dazwischen kam... »Mit Blindheit geschlagen, unsere Polizei. Sie sehen nicht den Staub auf ihren Akten. Sehen Sie mal, was ist denn das für eine Schweinerei?« Sie waren an Dales Auto getreten. An dem glänzend schwarzen Kotflügel war die Beule verschwunden. An ihrer Stelle gähnte ein ausgezacktes Loch im Blech. Einer der Polizisten war den Männern neugierig gefolgt. Er betastete den Schaden. Lack und Blech zerbröckelten. »Rostlaube«, sagte der Polizist abfällig. Richard Dale ließ seinen Glauben an außersinnliche Wahrnehmungen verhöhnen und zur Not auch die Britische Flagge mit Füßen treten. Aber er ließ seinen gepflegten Humber nicht alte ›Rostlaube‹ beschimpfen. Ohne Rawlings Einschreiten wäre er dem Bobby an die Gurgel gegangen. Außerdem pflegten auch schlecht erhaltene Humber nicht an dieser Stelle zu rosten. Der Polizist trollte sich murrend in sein Revier und bearbeitete seine Hände ausgiebig mit Wasser und Seife. Er würde später sein Leben lang für diese hygienische Regung danken. Rawlings fuhr nachdenklich zur Unfallstelle zurück. Er hatte nicht viel in der Hand. Einen Zeugen, in dessen Apfelbaum Vampire hausten und dessen Terrasse sämtliche UFOs des Weltalls mit London Airport zu verwechseln schienen. Wenn er mit seinem Knüller vom verschwundenen Mann am Wochenende raus kam, würden ihn die Konkurrenzblätter bis auf die Unterhose lächerlich machen. Wenn nicht noch etwas geschah... Der Reporter wünschte immer wieder, sein Gehirn würde sich an die allgemeinen Vorurteile über Journalistenhirne halten und über ein photographisch genaues Personengedächtnis mit dazugehöriger Namenskartei verfügen. Rawlings konnte zwar ein Gesicht noch nach Jahren wieder erkennen, doch er kam beim besten Willen nicht dahinter, zu wem es gehörte. Ein derartiges Gedächtnis nutzte niemandem. 8
Es sei denn, man fiel Pim auf den Wecker. Pim ging auf die sechzig zu, hatte die letzten vierzig Jahre nichts anderes gemacht als Nachtdienst bei der Technik von Scotland Yard und dabei eine Engelsgeduld entwickelt. Diese Geduld stellte Rawlings in dieser Nacht auf die Probe. »Fangen wir mit den Fahndungsphotos an?« Rawlings wehrte ab. Er hatte nur das vage Gefühl, den gehetzten Mann wieder erkannt zu haben. Weiter nichts. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass dieser Mann zur Fahndung ausgeschrieben war. Doch Pims Gedanken bewegten sich naturgemäß immer zuerst in diese Richtung. »Zeichne mir wenigstens die Grundzüge auf.« »Du weißt genau, dass ich mit dem Zeichenstift so geschickt bin wie ein Nilpferd.« »Dann hilft es nichts.« Pim konnte mit Personenbeschreibungen nicht viel anfangen. Er schleppte leise brummelnd einen Holzkasten herbei und klappte ihn auf dem Tisch auf. In Gruppen, die Rawlings nie so recht verstanden hatte, hingen ein halbes Tausend durchsichtige Folien in dem Kasten. Dem Reporter machte die Arbeit mit dem Identikit immer wieder Spaß. Die Folien enthielten kleine Teile des menschlichen Gesichts. Falten, Bart, Schnurrbart, Kinn, Augenbrauen, Augen, Haare, Lippen, Nase, Brille in zigfacher Ausfertigung. Man kann aus ihnen jedes beliebige Porträt zusammenstellen. Pim packte die Folien auf die Opalplatte eines Tageslichtprojektors. An der Wand zeichneten sich die Umrisse eines Gesichtes ab. »Länger«, sagte Rawlings. Pim fischte einen anderen Umriss heraus. »Kürzer.« Pim griff nach einem kürzeren. So konnte man ihn nicht schaffen. Auf dem Victoria Embankment war schon die zweite Welle des Morgenverkehrs vorbei. Die ersten schmutzig weißen Motorbarkassen legten bei Westminster Bridge ab, um Touristen den Fluss, hinunter zum Tower zu fahren. Der Glaspalast von New Scotland Yard pulsierte von Leben. Pims Nachtdienst war seit zwei Stunden zu Ende. Da zeigte sich Fred Rawlings zufrieden. 9
»Dieser ist es. Kein anderer.« Pim atmete noch nicht einmal auf. Er hätte noch bis zum Abend vor dem Kasten hocken können. Sein Rekord lag bei 54 Stunden. Damals war die Zeugin eine halbblinde Toilettenfrau mit dem Gedächtnis eines Huhns. Doch Pim hatte das Gesicht aus ihr herausgelockt. Er notierte die Nummern der bedruckten Folien. »Was kommt jetzt?« »Wir haben einen Versuch laufen. Was uns an Bildmaterial in die Hände kommt, wird nach diesem System zerlegt. Die Nummern füttern wir in den Fahndungsrechner. Jetzt gebe ich die Nummern wieder ein. Wenn wir Glück haben, spuckt uns der Große Bruder Namen und Adresse deines Nachtgespenstes aus.« Nach 20 Minuten kam Pim wieder herein. Etwas war ihm sichtlich auf den Magen geschlagen. Rawlings tippte auf einen Anpfiff. »Ich soll dich rauf bringen zum Super. Er will mit dir reden.« »Rutherford? Warum?« »Wenn du uns an der Nase herumführen willst, dann such dir einen Tag aus, an dem der Super keine Magenschmerzen hat. Der Mann, den du gesehen haben willst, ist nämlich schon seit zehn Jahren tot.« »Jetzt darfst du nur noch sagen, dass er auf dem Zebrastreifen vor dem Kino von Raners Lane Station überfahren wurde und seitdem jede Mitternacht dort spukt.« »Beinahe. Er wollte gerade ins Kino gehen, als er an dieser Stelle verschwand.« »Aber Gespenster hinterlassen doch keine Beulen in Autos.« »Deshalb will der Super dich auch sprechen.« In Rutherfords Zimmer saß ein hagerer Mann, der es nicht für nötig hielt, sich vorzustellen. Dafür schoss er gleich eine Frage an Rawlings ab. »Sie haben also Brandish gesehen?« »Wenn Sie den Mann auf dem Photo meinen, dann ja.« Zu Rawlings Erstaunen hielt auch der Unbekannte ein Bild des Mannes in der Hand, den der Reporter gesehen hatte. Er wusste, was 10
man von ihm erwartete und sagte gehorsam sein Sprüchlein auf. Rutherford und der Unbekannte machten sich Notizen. »Damit Sie wenigstens in großen Zügen Bescheid wissen. Brandish erklärte vor gut zehn Jahren seiner Wirtin, er wolle ins Kino gehen. Man sah ihn noch die Straße überqueren. Danach verlor sich jede Spur. Vor fünf Jahren wurde er für tot erklärt.« »Aber ich habe doch ganz deutlich...« »Wir kennen Ihre Aussagen vor der Polizei in Pinner und wir wissen, was Sie Pim erzählt haben. Außerdem haben Sie es uns haarklein erzählt. Sie haben den Mann wieder erkannt. Das heißt, Sie haben ihn vorher schon einmal gesehen. Als Brandish verschwand, gingen Sie noch in Australien auf Vaters Farm Karnickel schießen.« »Alle Achtung vor Ihrem Computer.« »Das war unserer, der ist besser«, sagte der Unbekannte. »Was hat denn Mr. Brandish sonst noch gemacht, wenn er nicht gerade vor dem Kino auf der Straße hin und her lief?« »Er war ein Mitarbeiter von mir. In einer untergeordneten Position. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass eine fremde Macht sich für ihn interessierte. Sein Verschwinden hatte rein persönliche Gründe.« Der Unbekannte ereiferte sich. »Nun mal ruhig. Ich habe ja gar nicht gesagt, dass er den ganzen Geheimdienst verraten hätte.« Rawlings Schuss ins Blaue saß. Der Unbekannte widersprach nicht. Der Reporter formulierte an seiner Schlagzeile. Irgendetwas vom Gespenst eines Agenten musste darin auf jeden Fall vorkommen. »Sie sollten sich einmal mit Inspektor Field unterhalten«, schlug Rutherford vor. So sah das also aus. Der Fall war nicht so taufrisch, wie Rawlings vermutet hatte. Wenn Gerald Held sich damit beschäftigte, dann ließ das bei der Personalpolitik des Yard tief blicken. Das war ein Fall, der offiziell noch keiner sein durfte. Und dass hier rational nicht erklärbare Erscheinungen anscheinend eine Rolle spielten, hatte Rawlings selber gesehen. Field sah noch grauer im Gesicht aus als gewöhnlich. Die buschigen schwarzen Augenbrauen stachen als Kontrast hervor. Der Inspek11
tor war vor einer Stunde mit dem Nachtzug aus Glasgow zurückgekommen. Zweite-Klasse-Abteil. Er verfluchte den Kerl mit dem Sparfimmel. »Ich weiß nun alles über die Fabrikation von Kunsthonig«, begrüßte er den Reporter. »Die ganze Nacht hat mir jemand die Ohren damit voll geredet. Ich werde nie mehr an einer Packung Kunsthonig vorbeigehen können, ohne an die verdammte Eisenbahnfahrt und den schottischen Fabrikbesitzer zu denken.« Rawlings brachte den Inspektor in die ebenso traurige Wirklichkeit zurück. »Vor meinen Augen ist ein Mann verschwunden.« Field gähnte verhalten. »Machen Sie sich nichts draus, Rawlings. Sie sind nicht der einzige, dem das passiert.« Der Reporter ging hoch. »Behaupten Sie auch, ich sehe weiße Mäuse? Langsam reicht mir das.« Field sah viel zu abgearbeitet für Witze aus. Fast resigniert. »Wenn der Super Sie schickt, dann kann ich es Ihnen vermutlich sagen. Aber halten Sie um Himmels willen den Mund! Wir sind ja gewöhnt, dass der Mann sagt, er geht nur mal Zigaretten holen und nie mehr wieder kommt. Geschenkt. Aber das ist jetzt was anderes. Sie unterhalten sich mit einem Menschen, zwinkern nur mal mit den Augen und der ist weg. Es ist zum Verrücktwerden. Zehn Fälle sind bis jetzt nachgewiesen.« Rawlings kamen die Augen fast aus dem Kopf. Zehn Fälle nachgewiesen. Das heißt, es konnte unzählige geben. »Heißt das...?« »Das bedeutet, dass man westlich von London seiner Existenz nicht mehr sicher ist. Es klingt unglaublich, aber es ist so. Und wenn irgendetwas in die Zeitungen kommt, drehe ich Ihnen eigenhändig den Hals um. Darauf können Sie sich verlassen. Die Panik, die es dann gibt, kann keiner verantworten.« Das sah sogar Fred Rawlings ein. Aber das eine Jahr bei der Zeitung hatte ihn gelehrt, dass man eine gute Story immer loswird. Es würde sich schon eine Gelegenheit finden. »Das schönste ist, wir haben keine Handhabe. Es gibt einen Haufen wunderschöner Gesetze, aber keins stellt dem Bürger das Recht 12
auf sichtbares Vorhandensein sicher. Bisher müssen wir einfach ins Blaue ermitteln.« Rawlings konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. Von diesem Gesichtspunkt aus hatte er das Problem noch nicht betrachtet. »Kommen Sie mit? Ich sehe mir den Ort der Handlung einmal an. Von dem Dale verspreche ich mir nicht viel. Der ist einer von den echten Spinnern. Glaubt alles, was er sieht. Sonst wäre er nämlich schockiert davon, einem echten Fall von Entmaterialisierung begegnet zu sein. Aber die Kollegen aus Pinner sagten, er habe sich wie immer verhalten.« »Ich war der Meinung, die seien Trottel.« »Alles nur gespielt. Was soll der Bürger sagen, wenn schon der Beamte auf dem Revier in Panik gerät? Emotionen kann man sich in diesem Beruf nicht leisten.« Field versuchte es mit der Telefonnummer von Dales Büro. Niemand meldete sich. »Vielleicht treffen wir ihn zu Hause.« In dem großen, schwarzen Rover nahm Field ganz gegen seine Gewohnheit hinten Platz, um sich weiter mit dem Reporter zu unterhalten. Der Berg von einem Mann am Steuer lenkte den schweren Wagen geschickt durch den immer dichter werdenden Verkehr. Sergeant William Budds Qualitäten waren nicht jedem sichtbar. Er wirkte wie eine lebendige Reklame für dänischen Frühstücksschinken, war aber spurtschnell und verfügte über eine ausgesprochen rege Aufmerksamkeit. Am Tage sah das Zentrum der kleinen Schlafsiedlung an der Bahnstrecke nach Uxbridge viel anheimelnder aus. Die kleinen Geschäfte links und rechts der Alexandra Avenue barsten beinahe vor Leben. Aus dem Schaufenster einer Tierhandlung dicht neben dem Kino schaute eine kleine bunte Katze neugierig auf die Passanten, die großen Ohren spitz aufgestellt. Rawlings klopfte an die Scheibe. »Ich möchte wissen, was du gesehen hast.« Aus dem kleinen Lokal an der Ecke zogen lockende Schwaden von Essensduft. Gebackene Bohnen, Setzeier, Schinken. Der dicke Budd erflehte sich eine Viertelstunde Pause. Field ließ ihn bis an die Tür 13
kommen. Dann pfiff er ihm zu und deutete auf die Wohnung über dem Papiergeschäft gegenüber. »Erinnern Sie sich? Da oben hat das Wiesel gewohnt.« Budd grinste. Das Mitglied der Posträuberbande war hier draußen noch immer populär. Ein erschreckter Ausruf von Rawlings trieb ihm die Gedanken an eine Zwischenmahlzeit vollends aus dem Gehirn. »Kommt mal her! Hier steht der Wagen von Dale.« Der schwarze Humber parkte ziemlich außer Sicht in der stilleren Seitenstraße High Worple. Rawlings zeigte auf die Beschädigungen am Heck: »Das habe ich ihm verpasst.« Viel interessanter war das Loch im rechten vorderen Kotflügel. Es sah aus, als sei eine Säure darüber gelaufen und hätte das Metall weggeätzt. Rawlings ließ diesen Gedanken los. Budd inspizierte den Reifen eingehend. »Müsste eine seltsame Säure sein, die sich mit dem Blech begnügt und nicht weiter auf den Reifen tropft. Wenn sie den Lack schafft, schafft sie den Gummi schon lange.« »Was macht der Wagen überhaupt hier? Dale wohnt meines Wissens auf der anderen Seite der Bahn.« Field trieb zur Eile. Sie suchten Dales Haus in der Bruswick Avenue auf. Es stand einsam und fast verlassen da. Die rot geweinten Augen der Frau, die ihnen öffnete, mussten auch die Aufmerksamkeit eines vollendeten Trottels erregen. Es war Dales Schwester, die den Haushalt führte. Sie schien am Ende ihrer Nervenkraft zu sein. Dale war lange nach Mitternacht kurz nach Hause gekommen und dann sofort wieder losgefahren. Seitdem hatte er nichts mehr von sich hören lassen. Im Büro war er auch nicht. »Das hat doch sicher mit all den furchtbaren Sachen zu tun, mit denen er sich beschäftigt.« Rawlings spähte nach dem Apfelbaum, in dem der unglückliche Dale laut Protokoll der Polizeiwache Pinner Vampire gesehen hatte und unterdrückte ein Grinsen. Detektiv-Inspektor Field nahm das ernster. »Das ist ohne weiteres möglich, gnädige Frau.« Er bewies, dass Polizisten zuweilen das Gewissen eines knallharten Vertreters haben können. Es ginge nur noch um eine kleine Formalität, 14
meinte er. Sekunden später hatte er die Unterschrift der aufgelösten Frau unter einer Vermisstenanzeige. Zufrieden hob er das Papier in die Tasche. Eine Anzeige gab immer einen legalen Grund ab, sich mit einer mysteriösen Sache zu beschäftigen. »Was auch immer die Menschen verschwinden lässt, ich fürchte, der arme Dale ist ihm zu nahe gekommen. Er ist so in seine Phantasiewelt verstrickt, dass er kein Gespür mehr für Gefahren entwickelt.« »Sie meinen, er war dem Ungeheuer auf der Spur?« »Keine Ahnung, ob es ein Ungeheuer ist, Rawlings. Aber mein Gefühl sagt mir, er ist ihm zu nahe auf den Pelz gerückt. Leider täuscht sich mein Gefühl nur selten.« Field gab über Funk durch, dass er über eine Vermisstenanzeige im Zusammenhang mit den verschwundenen Personen verfügte. Superintendent Rutherford quittierte das mit sichtlicher Erleichterung. Der schwere Wagen rollte zurück durch den Verkehr. Rawlings war ausgestiegen und ging langsam zu seinem Zimmer, das er unweit der Station bewohnte. Der Reporter wurde das dumme Gefühl nicht los, dass er irgendeinen wichtigen Punkt übersehen hatte. Auf dem fünf Minuten langen Fußweg zum Haus seiner alten Wirtin zerbrach er sich den Kopf, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Er malträtierte den Klingelknopf, ohne dem Glöckchen das melodische Klingklong zu entlocken. Wieder kein Strom. Das nahm langsam Überhand mit den Unterbrechungen... * Unten in dem tiefen Einschnitt donnerte ein silbern glänzender Zug der Picadilly Line. Der Boden vibrierte. Die gebogene Straße hieß Fairview Crescent, aber so schön war der Ausblick auf die Bahnanlagen, die Rückseiten der Häuser und die rote Backsteinmauer gar nicht. Rayners Lane lief hier parallel hinter den Geschäftshäusern der Hauptstraße entlang und war absolut unbedeutend. Ein unbefestigter Weg, auf einer Seite von unaufgeräumten Höfen begrenzt, auf der anderen von halbhohem Buschwerk. Dahinter erstreckte sich der Cri15
cket Ground. Von hinten gesehen war die hübscheste alte Siedlung ausgesprochen hässlich. Das störte Tom und seine Bande nicht im Geringsten. Auch Robin Hood hatte auf Schönheit keinen Wert gelegt. Hier gab es hin und wieder ein geheimnisvolles Autowrack, an dem man den Schalthebel bewegen konnte, hier gab es große Teekisten mit Aufschriften aus Ceylon, von dem der Lehrer wissen mochte, wo das war, hier gab es haarsträubende Abenteuer, die man kaltblütig bestehen konnte. Tom ging unaufhaltsam auf den zehnten Geburtstag zu und galt unbestritten als Chef der Bande. Heute war der Leichenraub auf dem Friedhof dran. »Also merkt euch, das Ding da hinten ist die Kapelle. Von dort kommt nachher Charlie als Nachtgespenst. Da graben wir. Wer Angst hat, braucht ja nicht mitzumachen«, setzte er großspurig hinzu. Trotz der hellen Mittagssonne war es für Toms Bande tiefe, drohende Nacht und der friedlich verlassene Cricket Platz wurde zum geisterdräuenden Friedhof. Die Erdbrocken flogen von den Schäufelchen. Bis, völlig programmwidrig und viel zu früh, Charlie, das Nachtgespenst, durch die Büsche brach. »Kommt schnell, da hinten liegt 'ne Leiche!« »Natürlich«, sagte Tom dem Spiel gemäß, »auf 'nem Friedhof wimmelt es von Leichen. Sonst wäre es ja kein Friedhof.« »Mensch, Tom, das ist eine richtige. Und die ist...« Mehr war nicht zu verstehen. Im zarten Alter von neun Jahren haben die Magennerven auch des kaltblütigsten Nachtgespenstes ihre Grenzen. Die Sirenen der Polizeiwagen heulten auf der Alexandra Avenue. Mit quietschenden Reifen bogen die Autos in das verlassene Stück Brachland hinter den Geschäftshäusern ein. Als erstes flog eine Decke über Charlies Fund. Der Polizeiphotograph, der praktisch jede Scheußlichkeit auf der Mattscheibe seiner Rollei gesehen hatte, brauchte drei Anläufe, bis er seine Bilder schießen konnte. Ein Mann von der Wache Pinner zog vorsichtig die Decke vom Kopfende weg. Er kannte den Mann. 16
Es war Richard Dale, für den gerade eine Suchmeldung herausgegangen war. Inspektor Field stapfte unwillig durch die Grasbüschel. So schnell hatte er Dale gar nicht haben wollen. Im Gegenteil. Das Auftauchen der Leiche warf alle seine Hoffnungen über den Haufen. Er griff in die Tasche und holte sein Rauchzeug hervor. Mit einem Geschick, das nur jahrelange Übung verleiht, drehte er sich mit der linken Hand eine Zigarette. Die Nachricht vom Leichenfund hatte ihn unterwegs erreicht. Ehe er zurück bei Rayners Lane Station war, kam die Zusatzinformation durch, dass man Dale identifiziert hatte. Im Grunde war alles gelaufen. Field wunderte sich, dass Dale so klein gewesen sein sollte. Er bückte sich nach der Decke. Die Uniformierten ließen ihn machen. Sie hatten den Anblick schon genossen. Der Inspektor spuckte seine frisch angezündete Zigarette in hohem Bogen in die Büsche. Er ließ die Decke fallen und wurde noch bleicher als zuvor. Weiter verzog er jedoch keine Miene. Eine kleine Warnung hätten die uniformierten Kollegen ihm schon zukommen lassen können. Er hatte sich erst wieder voll in der Gewalt, als er im Rover saß und Budd ihm den Hörer des Sprechfunkgerätes reichte. Der Superintendent wollte auf dem Laufenden bleiben. Er hatte Fields Hoffnung wegen der Vermisstenanzeige ohnehin nur mit Bedenken geteilt. »Nun, Field, haben Sie Ihren vermissten Zeugen wieder?« »So halbe-halbe, Sir.« »Was soll der Quatsch?« »Die eine Hälfte ist da, die andere Hälfte ist nicht da. Wenn Sie mehr wissen wollen, schauen Sie ihn doch selber an.« »Danke. Also, was ist los?« »Sie haben ganz gut Spuren gesichert. Dale ist von den Häusern in das Feld gerannt. Den Schrittspuren nach muss er ein verzweifeltes Tempo angeschlagen haben. Am Rand des Cricket Grounds muss er ihn dann erwischt haben.« »Wer hat ihn erwischt?« »Vielleicht fragen wir lieber, was ihn erwischt hat.« 17
Der Superintendent am anderen Ende der Leitung holte tief Atem. »Das Ding?« »Genau, Sir. Aber es ist nicht fertig geworden. Dale ist noch halb da.« Field schauderte noch immer bei dem Anblick des verkrümmten Oberkörpers. Die untere Hälfte war einfach weg. Wie mit dem Messer abgeschnitten. Der unten offene Körper erinnerte Field an das Modell eines Menschen, das man ihm während seiner Ausbildung gezeigt hatte. Ja, Dale wirkte künstlich. Das war es, das einem den Schauder über den Rücken jagte. Blut neben einer verstümmelten Leiche ist schlimm genug. Aber ein halber Körper ohne die geringsten Blutspuren ist so unnatürlich, dass man an seinem eigenen Verstand zweifelt. Der Superintendent schien jemanden bei sich im Zimmer zu haben. Field hörte nur die Stimme, verstand aber kein Wort, weil Rutherford die Hand auf die Sprechmuschel presste. Dann kam der andere an den Hörer. Field unterdrückte einen Fluch. Er kannte Arthur Savile von der Anklagebehörde. Und Savile kennen, hieß, Savile verabscheuen. »Wenn ich Sie recht verstehe, ist eine Hälfte dieses Mannes verschwunden. Sie haben sich doch davon überzeugt, dass sie wirklich weg und nicht möglicherweise nur nicht mehr optisch wahrnehmbar ist.« Optisch wahrnehmbar! Der fiese Kerl war zu eingebildet, um vernünftig zu reden. Field hatte sich überzeugt und er sagte es dem Staatsanwalt deutlich. »Ich hätte ihn ins Knie getreten, wenn es noch da gewesen wäre.« Savile schluckte. Field grinste zufrieden. Er kannte Saviles Gedankengänge. Das Opfer war ihm gleichgültig. Jemanden unsichtbar zu machen, konnte immer noch an einer Verurteilung vorbeiführen. Schon, weil niemand auf den Gedanken gekommen war, so etwas zu verbieten. Vorausgesetzt, es gab überhaupt einen Täter, den man vor Gericht schleppen konnte. Jemanden verschwinden zu lassen, berührte dessen Recht auf die Unverletzlichkeit der Person. »Woran ist er gestorben?«, fragte Rutherford sachlich. 18
Field war es so selbstverständlich, dass ein halber Mensch nicht mehr leben kann, dass er sich über die Todesart noch keine Gedanken gemacht hatte. »Das wird man im Labor feststellen«, sagte er mit gespielter Zuversicht. Der unerklärliche glatte Schnitt quer durch den Körper ging ihm nicht aus dem Sinn. Sein Sergeant kam brummig von der Leiche zurück. Budd strotzte vor körperlicher und seelischer Gesundheit. Der Anblick machte ihm nichts aus. Er hatte schon einmal vier Stunden neben einem Erschossenen Wache gehalten und ungerührt Blutwurst gegessen. »Sieht aus, als hätte er in einem verdammten Fass mit Säure gesteckt, Sir.« »Und wo ist das Fass? Sehen Sie sich doch selbst die Spuren an. Dieser Mann ist gerannt, was das Zeug hielt. Dann hat es ihn gepackt. Der Oberkörper hat eine exakte Wurfparabel beschrieben und ist dort gelandet, wo er der Physik zufolge landen musste. Weiter nichts. Nichts war in seiner Nähe.« Budd legte seine Stirn in tiefe Dackelfalten. »Gespenstisch, Sir. Da geht man friedlich spazieren und plötzlich, schwapp, ist man nicht mehr da. Völlig aus heiterem Himmel. Sie haben ja gesehen, wie die anderen sich erschrecken. Stellen Sie sich vor, wie man sich selber entsetzt. Mich würde der Schock schon umhauen.« Diese Bemerkung des Sergeanten wurde später im Labor von Scotland Yard bestätigt. Dale war einem Schock erlegen. »Kein Mord?«, fragte Savile enttäuscht, als er diese Nachricht bekam. »Kein Mord«, bestätigte Superintendent Rutherford. »Wir können noch nicht einmal nachweisen, dass Dale noch lebte, als er... sagen wir, als er seine untere Hälfte verlor.« »Schade«, sagte der Staatsanwalt betrübt. Er liebte die eindeutigen Fälle. Die Rechte einer Leiche waren immer sehr beschränkt. * Fred Rawlings hörte in der geräumigen Public Bar des Rayners Hotel von dem Vorfall. Nach knapp zwei Stunden Schlaf kam er gerade zur 19
Öffnungszeit zurecht. Mit seiner Fleischpastete und einem Glas Bier zog er sich in eine Ecke zurück. Er erkannte einen der Polizisten vom Revier an der Theke, jetzt in Zivil. »Hello, Mister, Sie haben doch gestern Abend auch noch den armen Dale gesehen. So was Komisches. Behauptet gerade noch, er hätte gesehen, wie einer spurlos verschwindet und dann löst er sich selbst auf.« Rawlings fuhr hoch. »Was ist mit Dale?« »Noch nicht gehört? Heute Mittag haben sie ihn gefunden. Halb weg war er. Wie aufgelöst. Hören Sie mal, dann war da wohl doch was dran.« Der Polizist stieß in der Aufregung sein Glas um. Es war, als hätte er einen Sack mit Wespen losgelassen. Im Handumdrehen schwirrte der ganze Pub von Spekulationen und Gerüchten. Wortfetzen flogen über den nach drei Seiten hin offenen Ausschank. Wie die meisten ehrwürdigen Pubs war auch das Rayners Hotel in drei Klassen eingeteilt Public Bar, Lounge und Saloon. Über die Theke hinweg kamen die Besucher der drei Räume in die unvermeidliche Diskussion. Jeder hatte mindestens eine Theorie. Jeder kannte jemanden, der etwas gesehen hatte. Als der Wirt damit herausrückte, dass nebenan in South Harrow auch drei Männer unauffindbar waren, gab es kein Halten mehr. »Und ich sage euch, das hat es schon immer gegeben. Nur nicht in der Stadt. Da, wo ich herkomme, haben die Geister hin und wieder einen geholt, wenn sie Lust dazu hatten. Warum sollten sie sich nicht an die Städte gewöhnen?« »Was ihr in Schottland alles gehabt habt, Jock. Nur nichts, was euch Schotten reizt, dort oben zu bleiben, wie?« Ein kleiner Dicker mit teigigem Gesicht stellte seine pralle Aktentasche ab und blitzte die Runde wichtigtuerisch durch seine dicke Hornbrille an. »Erzählen Sie doch alle nicht so einen Unsinn, Herrschaften. Unsere nachlässigen Behörden lassen Tote so lange in öffentlichen Anlagen herumliegen, bis sie von selbst verfaulen. Dann beruft sich alles auf 20
Gespenster, die angeblich Mitmenschen verschwinden lassen. Gestern Abend...« Endlich fiel Rawlings ein, wo er den unsympathischen Kerl mit der quengeligen Stimme schon einmal gesehen hatte. Er hatte sich nach dem Unfall eingemischt und war so schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war. Entweder hatte er vergessen, dass Rawlings ihn Giftzwerg geschimpft hatte, oder er erkannte den Reporter nicht wieder. Diesmal fühlte sich Jock von den Nörgeleien des Kleinen auf den Schlips getreten. »Von wegen, keine Gespenster! Soll ich Ihnen mal sagen, was mir meine Tante darüber erzählt hat?« »Tantengeschwätz. Damit können Sie doch einem erwachsenen Menschen nicht kommen!« Der Unsympath mit der Hornbrille brachte nach und nach die ganze Public Bar gegen sich auf. Seine Geister nimmt jeder Brite in Schutz. Auch wenn es so weit kommt, dass ein Engländer schottische Gespenster verteidigen muss. Jock stampfte wütend mit dem Fuß auf. Er wies mit dem Zeigefinger auf den ungefragten Störenfried. »Wer sind Sie denn überhaupt? Sie können ja gar nicht mitreden. Eines Tages werden Sie es auch sehen, dass...« Was der Eindringling eines Tages sehen würde, sollte keiner mehr erfahren. Jock sprach den Satz nicht zu Ende. Er würde auch keinen neuen mehr anfangen. Wie sollte er auch? Es gab keinen Jock mehr. »Sehen Sie«, sagte einer triumphierend zu dem Kleinen. Dann dämmerte es ihm. »Mein Gott, Jock! Jock, wo bist du?« Aber Jock war nicht mehr auf der Welt, auf der man Fragen noch beantwortet. Der kleine Dicke schnappte seine Aktentasche und verdrückte sich mit allen Anzeichen einer beginnenden Panik. »Jetzt ist man ja seines Lebens nicht mehr sicher!« In der Public Bar war die Hölle los. Zusammen mit dem Polizisten und einigen mutigen Männern suchte Rawlings schrittweise den ganzen Raum ab, um eine Spur des Verschwundenen zu entdecken. Die Suche blieb erfolglos. 21
Ängstlichere Gemüter klammerten sich an ihren Gläsern fest. Es kamen Anrufe von allen möglichen Institutionen, die Feuerwehr meldete sich. Der Barkeeper stellte seine Vorräte auf den Tresen. Mit einer eleganten Flanke war er über den Tisch. Von der Tür her rief er den Gästen noch zu, sich nach Belieben zu bedienen. Eine Woche später kam eine Postkarte von ihm aus Genf. Er hatte möglichst viele Meilen zwischen sich und den Schauplatz der geheimnisvollen Entmaterialisierungen gelegt. Niemand verübelte es ihm. * Wenn es nicht mehr kostete als ein Ortsgespräch, war Rawlings die Fairness persönlich. Er rief Field an. Der Inspektor hockte missmutig in seinem engen Zimmer und grübelte. »Ich kann die Geschichte nicht mehr länger zurückhalten. Ganz Rayners Lane ist voll davon. Keiner spricht mehr von etwas anderem. Sie werden gleich offiziell alarmiert. Hier ist schon wieder jemand verschwunden. Mitten in der Kneipe. Nein, ich bin nicht sternhagel besoffen. Und außer mir haben es zwei Dutzend Leute gesehen. Sie alle sind außer Rand und Band.« Rawlings bemächtigte sich des Schlüssels und verschloss die Türen. Field würde ihn dafür loben, dass er fast alle Zeugen zusammengehalten hatte. Rawlings hatte allerdings etwas anderes im Sinn. Er wusste, was manche Blätter für diesen Tipp zahlen würden. Nach einigem Überlegen gab er seinem Herzen einen Stoß. Bis zum Wochenende würde er die Story doch nicht für seinen Weekend Observer exklusiv halten können. Besser, er machte sie zu Geld. Eine halbe Stunde später klapperten die Fernschreiber der Nachrichtenagentur. Das Grauen schlich durch Middlesex. Das Rätsel der spurlos Verschwundenen. »Ihr werdet sehen«, waren Jock McCullocks letzte Worte. Dann sah ihn niemand mehr... Rawlings rollte den Fall von Jocks Verschwinden her auf, erwähnte den unglücklichen Dale, dessen geheimhin als bessere bezeichnete Hälfte im Kühlfach bei Scotland Yard ruhte, berichtete ausführlich über den geheimnisvollen Unfall, bei dem ein angeblich toter Ex-Spion ver22
schwand und gab eine knappe Übersicht der bekannten weiteren zehn Fälle, von denen Field gesprochen hatte. Der Knüller kam noch rechtzeitig für die letzte Abendausgabe. An U-Bahn-Stationen rissen die Passanten die Blätter den Zeitungshändlern förmlich aus den Händen. Pfiffige Jungs verkauften die Zeitungen an verstopften Kreuzungen an Autofahrer. Weil Leute immer am liebsten darüber lesen, was sich in der unmittelbaren Nähe abgespielt hat, landete ein besonders großes Zeitungsbündel am Ausgang von Rayners Lane Station. Keine einzige davon fand einen Käufer. Die wenigen Passanten, die in der beginnenden Abenddämmerung an dem rechtwinkligen Backsteinkasten des Bahnhofs vorbeikamen, hasteten in den Schutz ihrer kleinen, in endlosen Zeilen sich wiederholenden Häuser Rawlings hatte mit seiner Schlagzeile den Punkt getroffen. Das Grauen ging um. Als Inspektor Field Leute vom Polizeirevier anforderte wurde er mit Krankmeldungen konfrontiert. Er musste Beamte aus der Stadt anrücken lassen. Nach acht Uhr waren die Straßen wie ausgestorben. Rawlings gondelte in die Stadt. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, einen Scheck einzustreichen, solange der Boss bei Stimmung ist. Aber noch etwas anderes trieb ihn zu der Nachrichtenagentur. Er hatte die Story noch im Lokal auf die Rückseite von Speisekarten stenographiert und telephonisch durchgegeben. Die Speisekarten waren im Kamin gelandet. Rawlings wurde die Vorstellung nicht los, dass ein wichtiger Punkt fehlte. Er erinnerte sich, dass er dieses Gefühl schon einmal gehabt hatte. In der Agentur begrüßte man ihn mit Jubelrufen und einer Flasche Gin. Er erbat sich den Originaltext. Nachdem er ihn mehrfach durchgelesen hatte, wurde er nachdenklich. »Das ist doch nichts faul dran, Fred?«, erkundigte sich der Chef der kleinen Agentur besorgt. »Das nicht. Aber ich habe einen Punkt vergessen. Kann wichtig sein, muss aber nicht.« »Schieben wir nach. Dann haben die Morgenblätter auch noch etwas Besonderes.« 23
»Das ist es ja gerade. Ihr könnt mich an den Füßen aufhängen, aber ich weiß nicht mehr, was es war.« Der kleine dicke Mann mit dem teigigen Gesicht und der unübersehbaren Hornbrille mochte eine Nervensäge sein. Gemessen am Gang der Ereignisse, schien er aber so bedeutend, dass er durch jedes Gedächtnis fiel wie Mehl durch ein Sieb. Er tauchte in keinem Protokoll, keiner Aussage und keinem Bericht auf. Dabei konnte man ihm bei einigem bösen Willen unterstellen, dass Jock erst nach seinen ungläubigen Bemerkungen verschwunden war. Als hätte er dem unangenehmen Quatschkopf etwas beweisen wollen. * »Verdammt!« In dem erstklassig ausgerüsteten Labor von Scotland Yard machte sich der Gerichtsmediziner hörbar Luft. Das einzige, das er an Richard Dales Überresten hatte feststellen können, war die Todesart. Schock. Weiter gab der Körper keine Informationen her. Die mikroskopische Untersuchung zeigte nur, dass die Zellen so fein durchtrennt waren, wie das normalerweise nur unter Laborbedingungen üblich ist. Warum aus dem durchtrennten Körper kein Blut ausgetreten war, konnte der Mediziner nicht ergründen. Er feuerte seine Utensilien in die Ecke. »Da ist die Wissenschaft machtlos.« Inspektor Field raffte sich von seinem Stuhl auf. Misstrauisch näherte er sich dem Pathologen. »Das soll nicht heißen, dass ich nach einer übernatürlichen Erklärung suche. Aber wenn ich kein ausgebildeter Naturwissenschaftler wäre, würde ich mich dem alten Volksglauben anschließen, dass es unsichtbare Menschenfresser gibt.« »Das heißt, Sie wollen es nur nicht glauben. Aber es gibt keine andere Erklärung für Sie.« »So kann man es auch formulieren.« »Dann gute Nacht. Sie meinen also, wir können einpacken.« 24
»Je weiter Sie sich von dieser Gegend entfernt halten, desto länger könnten Sie leben. Und das meine ich ernst.« Field hatte ein gutes Verhältnis zu dem Gerichtsmediziner. Er wusste, dass der Mann ihn nicht mit dummen Bemerkungen bepflasterte. Aber so leicht gab Field nicht auf. Das Telefon riss ihn aus seinen Gedanken. Von den ersten Sätzen verstand er kein Wort. Der Mann am anderen Ende redete wie ein Maschinengewehr. Nur allmählich brachte Field ihn zur Ruhe. »Sie bearbeiten doch den Fall mit den verschwundenen Personen. Kommen Sie schnell, Sir. Meine Frau ist verschwunden. Plötzlich war sie weg. Capthorn Avenue wohnen wir. Nummer 18. Das ist auch draußen in Rayners Lane.« Die Verbindung war unterbrochen. Field sprintete zur Garage. Er fummelte eine Minute mit den Schlüsseln herum, ehe er den Rover in Gang hatte. Meistens fuhr Budd den Wagen. Field nahm den Sergeanten auf, kurz ehe er das Haus des Anrufers erreichte. Es war eins von den hübscheren, einzeln stehenden Anwesen. Alle Fenster waren hell beleuchtet. Field hatte darauf verzichtet, das Revier zu benachrichtigen. Deshalb gab es auch keine Neugierigen. Nach dem ersten Klingelzeichen war der Mann an der Tür. Field erkannte ihn wieder. »Blake«, sagte der Mann. »Verzeihen Sie, aber ich glaube, ich habe Ihnen vorhin meinen Namen nicht genannt. Ich bin so froh, dass Sie selbst gekommen sind. Wir haben uns ja heute Mittag schon unterhalten.« Blake war jetzt noch bleicher als gewöhnlich. Sowohl Budd als auch Field erinnerten sich an den geschwätzigen Mann, der ihnen bei der Untersuchung auf dem Cricket Ground förmlich auf den Nerven herumgetrampelt hatte. Jetzt war er ganz klein und geknickt. Kein Wunder. Budd lehnte an Blakes Vauxhall und wärmte sich die klammen Finger an der angenehm warmen Motorhaube. Der verstörte Mann schien keine Anstalten zu machen, sie ins Haus zu bitten. Field war in solchen Fällen nie kleinlich. Er ging einfach an Blake vorbei. Budd folg25
te ihm fröstelnd. Mit einem Seitenblick streifte er ein Exemplar der Spätausgabe der Evening Star and News. »Also das war so, Gentlemen. Ich komme mit meiner Mary aus dem Kino, meine Frau heißt Mary, wissen Sie und wir gehen über die Straße. Mit einem Mal denke ich, da ist doch gar kein Druck mehr auf meinem Arm und ich gucke hin. Stellen Sie sich den Schreck vor. Mary ist weg. So weg, als hätte es sie nie gegeben. Ich bin dann nach Hause gerannt. Was ich konnte. Dumm von mir. Von der Telefonzelle aus wäre es schneller gegangen.« Budd betrachtete ein Photo, das zweifellos Mrs. Blake darstellte und stellte sich weniger den Schrecken als die Erleichterung vor, die ein Mann empfinden musste, wenn er von so einem Drachen befreit war. Doch er hielt sich mit seinen Bemerkungen zurück. Stattdessen machte er gehorsam Notizen. Jonathan Blake, Chemiker, wegen Arbeitsunfähigkeit vorzeitig in Ruhestand. Anscheinend eine ausreichende Rente, stellte Field mit einem schnellen Blick auf die gediegene Einrichtung fest. 20 Jahre verheiratet. Gut? »Das werden Sie von den Nachbarn schon erfahren, wie wir uns gestritten haben. Trotzdem, ich hätte nie gedacht, dass es mich so hart treffen würde. Es ist auch entsetzlich. Genauso gut hätte es mich...« Bei diesem Gedanken brach Blake der Schweiß aus. Field ertappte sich bei dem Gedanken, dass er endlich einmal mit einem ehrlichen Ehepartner einer verschwundenen Person zu tun hatte. Sonst wurden die lieben Vermissten über den grünen Klee gelobt. Blake blieb bei den Tatsachen. Field überprüfte diese Gedanken an der Wirklichkeit und verwarf sie sofort. »Sie werden von uns hören«, sagte er zum Abschied. »Das sagen Sie doch allen.« »Wir meinen es auch immer so. Natürlich lässt sich diese Zusage nicht immer einhalten. Aber Sie werden wirklich bald von uns hören.« Budd warf sich schnaufend auf den Sitz und knallte die Tür hinter sich zu. Er holte einen schwarzen Gegenstand aus der Jacke und legte ihn liebevoll unter den Sitz. »Lügner, verdammter.« 26
Budd startete den Rover und fuhr ihn zu Fields Erstaunen weiter die Capthorn Avenue hinunter. Die ruhige Straße endete an einem niedrigen Erdwall. »Lügner schon«, sagte Field. »Aber wie beweisen wir es ihm?« »Ich kann«, sagte der dicke Budd beruhigend. Da gibt es genug Material. »Erstens habe ich weder ihn noch seine Frau gesehen. Das besagt nicht viel, denn der Richter lässt nur zu, was ich gesehen habe und nicht, was ich nicht gesehen habe. Könnte ja gerade eingenickt sein. Aber mir genügt so etwas, dass ich die Augen aufsperre. Er war mit seinem Auto unterwegs. Und ich bin ihm ewig dankbar dafür. Die Motorhaube war eine Wohltat für meine fast erfrorenen Hände.« Budd betrachtete seine Wurstfinger liebevoll. Eines Tages würde er sich doch zum Kauf von Handschuhen entschließen müssen. »Was haben Sie ihm geklaut? Lassen Sie sich um Himmel willen nicht dabei erwischen. Sie wissen ja, wie man sich jetzt mit dem Beweismaterial hat.« »Den rechten Schuh mit einem Grashalm.« »Was?« »Seinen Schuh, Sir. Habe ich Ihnen doch schon mal erzählt, dass meine Tante hier gewohnt hat, als ich noch ein Junge war. Damals bin ich jede Woche herausgekommen. Wir haben hier am Yeading Brook gespielt. Da gibt es so ein Gras, wie Blake es zwischen Schuh und Sohle hat. Wetten, dass wir seine Frau dort finden?« Field beteiligte sich nicht an der Wette, dafür aber umso ausgiebiger an der Suche. Mrs. Blake war keineswegs verschwunden. Das einzige, was ihr fehlte, war der Lebensfunke. Jemand hatte ihr Blumendraht um den Hals gelegt, ein Stück Holz hindurch gesteckt und den Knebel so lange gedreht, bis der Hals schön fest zu war. Der für die Betroffene äußerst unangenehme Tod hatte ihre alligatorenhaften Züge noch verstärkt. Budd brachte Verständnis für den Mann auf. »Was meinen Sie, Sir? Wenn wir es ihm auf den Kopf zusagen, dann können wir uns einen Haufen Arbeit sparen.« 27
Field stimmte Budds pragmatischer Ansicht zu. Blake war der Typ, den man einschüchtern konnte. Aber Budd hätte den Schuh an seinem Platz lassen sollen. Das Haus Nummer 18 an der Capthorn Avenue war hell beleuchtet wie zuvor. Doch der Vauxhall mit der angenehm warmen Motorhaube stand nicht mehr in der Einfahrt. Jonathan Blake hatte seine Stunde genutzt. »Ich mache mich am besten wieder auf und bewache die Einmündung«, schlug Budd vor. »Das können Sie sich sparen. Wenn wir nicht lückenlos überwachen, können wir uns die ganze Arbeit sparen. Sehen wir uns lieber im Haus um, ehe die Kollegen kommen und alles zertrampeln.« Budd rief die komplette Mordbrigade. Es war angenehm, wieder einmal in unmittelbarer Nähe von London zu arbeiten. Wenn Spezialisten zur Verfügung standen, wurde bei der Spurensicherung weniger verdorben und es gab weniger zu tun. Field schimpfte leise vor sich hin. »Trittbrettfahrer, verdammte.« Es gibt einen Typ Gelegenheitskrimineller, die sich bei einer Kette von unerklärlichen Ereignissen unweigerlich einschalten, um ihr Schäfchen ins Trockene zu bringen. Field hielt Blake für den Typ. Die Fahndung nach dem geflohenen Chemiker lief an, noch bevor Field seinen Fuß in das verlassene Haus setzen konnte. Vorerst suchte man ihn im Zusammenhang mit dem Tod seiner Frau. Wenn es nach Field gegangen wäre, dann wäre es auch dabei geblieben. »Sehen Sie sich das mal an, Sir.« Budd rief seinen Inspektor in den Keller von Blakes Haus. Der dicke Sergeant betrachtete mit großen, erstaunten Kinderaugen ein blitzsauberes chemisches Labor. An den Wänden standen große Glasschalen mit einer stechend riechenden Flüssigkeit. Field warf einen Wattebausch hinein, weil er nichts anderes zur Hand hatte. Die Watte löste sich in Sekundenschnelle auf. »So einfach war das also«, sagte Arthur Savile, als Field dem Mann von der Staatsanwaltschaft die schnelle chemische Reaktion vorführte. »Nicht wahr, Rutherford, Sie haben doch auch gleich gesagt, dass der ganze faule Zauber irgend so eine chemische Sache mit Säu28
ren ist. Dieses unhaltbare Geschwätz von übersinnlichen Dingen und spurlos verschwundenen Menschen. Dieser Mann, wie hieß er, Blake, hat willkürlich seine Mitbürger ins Säurefass gesteckt und aufgelöst.« »Warum?«, erlaubte sich Field die bescheidene Frage. »Was meinen Sie wohl, warum man ihn zwangsweise pensioniert hat?« Savile klopfte stolz auf eine Ledermappe, die ein eifriger Detektiv in Blankes Schreibtisch gefunden hatte. »Blake hatte einen Dachschaden. Nur weil er Beziehungen hatte, ist er an einer Einweisung vorbeigekommen. Das haben wir nun davon.« »Und warum hat er dann seine Frau nicht auch stillschweigend aufgelöst?« Field konnte einen wundervoll scheinheiligen Ton anschlagen, wenn er sich über einen Vorgesetzten ärgerte. Superintendent Rutherford begnügte sich nicht damit, einfach seine Ansicht zu äußern; er gab eine Erklärung ab. »Das ist eine einfache Sache. Blake bildete sich ein, wir seien ihm auf die Schliche gekommen. Vermutlich wusste oder ahnte seine Frau auch von seinen Untaten. In seinem geisteskranken Gehirn reifte ein wahrhaft irrer Plan: Er beseitigt seine Mitwisserin. Das tut er denkbar ungeschickt. So kommt man ihm schnell auf die Spur. Blake hofft, dass man ihn für einen vergleichsweise harmlosen Frauenmörder hält, nach dem die Fahndung schnell einschläft, weil alles nach dem geheimnisvollen Ding sucht, das Menschen verschwinden lässt.« »Äußerst scharfsinnig«, lobte Arthur Savile von der Staatsanwaltschaft. »Meine Güte, glaubt der den Quatsch selber?«, fragte Budd, als er mit Field außer Hörweite war. Der lächelte und zwirbelte kampfeslustig seine buschigen Augenbrauen. »Kein Wort, Billie. Er wollte sich diesen Savile nur für einige Zeit vom Hals schaffen. Dann haben wir mehr Luft.« Auch Field wäre es lieber gewesen, wenn er sich mit dieser einfachen Erklärung hätte zufrieden geben können. Doch leider gab es zu viele Punkte, die Rutherfords Theorie widersprachen. 29
Field schüttelte sich. Es gab keinen Anhaltspunkt. Es gab keine Möglichkeit, jemanden vor dem Unfassbaren zu schützen, wenn die unerklärliche Macht wieder zuschlagen sollte. Erst allmählich kam dem Inspektor zum Bewusstsein, welche Bedrohung dieses spurlose Verschwinden der Menschen darstellte. Niemand konnte sich mehr sicher fühlen. * Merlins Mansions stammte aus der Zeit, in der man noch Wohnungen baute und keine Käfige für Goldhamster. Entsprechend hoch lagen die Preise. Wer sich eine Wohnung in dem ziemlich unmotiviert zwischen den Büschen einer Parklandschaft stehenden fünfstöckigen Gebäude leisten konnte, der zählte schon etwas in der kleinen Schlafstadt rings um die U-Bahnstation Rayners Lane Station. Beispielsweise Mr. Donald Hagon, Direktor der benachbarten Grundschule. Oder Miss Attenborough, die einzige Tochter des Generals Attenborough, der seinerzeit im Burenkrieg zu Ruhm und Reichtum gekommen war. Trotz ihrer achtzig Jahre verfügte die alte Dame über einen überaus regen Geist, wenn es darum ging, den Verfall von Sitte und Moral zu geißeln. Oder die Tatsache, dass heutzutage die unwürdigsten Personen über das Geld verfügten, in Merlins Mansions zu wohnen. Miss Attenborough nannte keinen Namen, aber es blieb kein Zweifel, wen sie meinte. Die Bliß, die sich als Photomodell ausgab und mit all der Schamlosigkeit dieses Gewerbes, das es früher auch nicht gegeben hatte, sogar vor Hosenanzügen nicht zurückschreckte. Mr. Hagon saß auf dem Balkon, er blickte über die Felder von Newton Sewage Farm und auf die jenseits davon liegenden Lichter des Isolierkrankenhauses. Mrs. Hagon war einerseits der Ansicht, der Direktor, wie sie ihn immer nannte, mache sich Gedanken über die Arbeit mit seinen Zöglingen, andererseits aber der Meinung, derartige Anstrengungen seien bei der heutigen Jugend fehl am Platz. Mr. Hagon beließ seine Ehehälfte bei diesen Gedanken und beschäftigte sich mit dem Portwein, den er heimlich unter der Jacke auf 30
den Balkon getragen hatte. Zufrieden strich er sich seinen weißen, immer gut gebürsteten Schnurrbart. Diese Abendidylle währte genauso lange, bis ein grässlicher Schrei die Stille durchbrach, gefolgt von einem Fluch, der nur der Stimme nach aus einer weiblichen Kehle kommen konnte, ansonsten aber einem Seemann die Schamröte ins Gesicht treiben müsste und schließlich einem zart klingendem Splittern. »Was war das?« Mrs. Hagon hatte ihren Kopf sofort in der Balkontür. Ihre flinken Augen hatten auch sofort die Ursache des leisen Klirrens entdeckt. »Keine Ahnung«, antwortete Hagon. »Lüge mich nicht an, Donald. Du hast getrunken und du bist noch nicht einmal in der Lage, dein Glas festzuhalten.« Über die Röte, die Donald Hagon jahrelangem Genuss erstklassigen Portweins verdankte, schob sich eine andere, die er jahrelangem unterdrücktem Zorn verdankte. Er drängte seine Frau vorsichtig in das Wohnzimmer zurück. Die Nachbarn brauchten die nun folgende Strafpredigt nicht zu hören. »Da müssen wir etwas unternehmen«, schlug er zaghaft vor. »Und ob. Du wirst noch in dieser Woche einen Arzt aufsuchen. Ich sehe mir das nicht mehr mit an«, giftete Mrs. Hagon zurück. »Sie hat um Hilfe gerufen«, brachte Hagon das Gespräch vorsichtig wieder auf das Thema, das ihm interessant erschien. »Sie hat zweifellos nicht um Hilfe gerufen, sondern sie hat einen unartikulierten, tierischen Schrei ausgestoßen. Und dann hat sie etwas gesagt, das ich in diesem Haus nicht wieder hören möchte. Wenn jemand nicht um Hilfe ruft, dann benötigt er auch keine Hilfe, Donald. Wir werden uns hüten, uns in die Privatangelegenheiten eines Nachbarn einzumischen.« Vor Hagons geistigem Auge verschwand die Vision einer aus entsetzlicher Gefahr zu rettenden, knackig frischen Miss Bliß; möglicherweise in einen jener durchsichtigen Hausmäntel gehüllt, die er sich so gern vorstellte. Gehorsam kehrte der Herr Direktor die Reste seines Glases auf dem Balkon zusammen. 31
Unabhängig von ihm war auch Mrs. Hagon zu dem Schluss gekommen, dass nur diese Person für die Ruhestörung verantwortlich zu machen war. Grund genug, morgen früh ein ernstes Gespräch unter vier Augen mit Miss Attenborough zu führen. Die Lektüre von Abendzeitungen lehnte Mrs. Hagon grundsätzlich, Mr. Hagon immer dann ab, wenn jemand ihn dabei beobachten könnte. Deshalb wussten beide nichts von dem Mysterium der verschwindenden Menschen. Sie gehörten zu den wenigen, die ohne Angst schlafen gingen und sogar ihre Fenster offen ließen. Mrs. Hagon quollen beinahe die Augen aus dem Kopf, als sie am nächsten Vormittag die Person fröhlich und aufgeräumt mit einem Berg Koffer aus einem Taxi klettern sah. Wieder einmal verreist gewesen. Was die so Reise nannte... Man wusste ja, was dahinter steckte. So langsam nahm das Formen an, die man nicht mehr dulden konnte. Hatte die Person also ihre Wohnung einer ihrer so genannten Kolleginnen zur Verfügung gestellt. Man müsste ein ernstes Wort mit Miss Attenborough darüber sprechen. Mrs. Hagon sprach kein ernstes Wort mit ihrer Nachbarin. Sie sah Miss Attenborough weder an diesem noch am folgenden Vormittag. Am Mittag las der Direktor ihr einen Artikel aus der Times vor. »Was die Leute für einen Unsinn schreiben! Die Menschen verschwänden schweigend. Natürlich hat sie geschrieen. Ich habe es selbst gehört und du auch.« Entschlossen packte er seinen Regenschirm. * Brad Eggers rieb sich die Hände. Seit er diesen lausigen Nachtclub übernommen hatte, konnte er immer nur ein Bündel Pfundnoten nach dem anderen in das wracke Unternehmen buttern. Der abgetakelte alte Zauberkünstler, den er jetzt im Programm hatte, verdankte das Engagement nur dem Geldmangel. Menschen auf der Bühne verschwinden lassen. Mit dem alten Trick konnte man doch keinen Hund mehr hinter dem Ofen hervorlocken. 32
Eggers hätte nicht Eggers sein müssen, wenn er die einmalige Chance nicht ergriffen hätte. Kaum waren die letzten Abendzeitungen im Handel, als er schon sein letztes Bargeld in einen Anreißer investierte. Die goldbetresste Uniform für den Türsteher hing noch in einer Ecke. Seine Rechnung ging auf. In Soho kannte man die Angst nicht, die ein gutes Dutzend Meilen weiter westlich umging. Hier zählte nur der Nervenkitzel. Je makabrer, desto besser. Die Meldungen über die spurlos Verschwundenen waren die beste Werbung, die Eggers sich wünschen konnte. Das erkannte auch Pete, der Zauberkünstler. Dessen einziges Verdient war eigentlich nur noch, dass er aussah wie zehn Teufel auf einmal. Und auch das nur als Folge seines Alters. Er hatte keinen einzigen Zahn mehr im Mund und die ständig weit aufgerissenen starrenden Augen waren eine Folge seiner an Blindheit grenzenden Kurzsichtigkeit. Pete hielt die Hand auf. Eggers kam nicht darum herum, ihm zwei Pfund extra zu versprechen, falls der Abend ein Erfolg würde. Zum Glück lebte Pete in dem Gedanken, zwei Pfund seien noch immer das, was zwei Pfund einmal gewesen waren. Der Abend wurde ein Erfolg. Die ersten drei Vorstellungen gut besucht, von da an platzte der kleine, dunkle Raum fast. Sogar die Bar machte wieder einmal Umsatz. Mit dem Anreißer hatte Eggers eine glückliche Hand gehabt. Der Mann baggerte Leute herein wie ein Förderband. Eggers sah auf die Uhr. Eine Nummer noch, dann war Schluss für heute. Er wollte die Zeit nicht überziehen und deswegen mit der Polizei in Konflikt geraten. Morgen war auch noch ein Tag. Maggie zierte sich. Der Mann, mit dem sie gekommen war, ließ ihr keine Ruhe. Er war angetrunken und entsprechend eigensinnig. »Da ist doch gar nichts dabei. Das ist ein Trick, nichts weiter. Stell dir vor, du kannst morgen im Büro erzählen, du warst auch verschwunden. Und dann lässt du die Katze aus dem Sack und sagst, wie es richtig war. Ist das nichts?« Der unscheinbare Mann neben dem Pärchen an der Bar schob ihr einen Ginfizz hinüber. Er lächelte ihr aufmunternd zu. 33
»Machen Sie schon, kleine Miss. Gönnen Sie sich die Freude. Ich habe es eben schon gesehen. Ist wirklich nichts dabei. Hier, trinken Sie sich Mut an.« Maggie trank den Cocktail mit einem Zug runter. Entschlossen ging sie zur Bühne. Brad Eggers hatte nach einer Freiwilligen gerufen, als Objekt für den großen Magier. Das hübsche Mädchen erhielt Beifall, als es auf die enge Bühne kletterte. »Sehen Sie«, sagte der unscheinbare Mann an der Bar. Er putzte seine Brillengläser mit einem nicht mehr ganz sauberen Taschentuch. Ulkiger Typ, überlegte Maggies Begleiter. Geht mit einer großen Aktentasche in einen Nachtclub. Er wollte gesprächsweise eine höfliche Frage stellen, aber der Mann war wie vom Erdboden verschluckt. In dem dunklen Raum konnte der junge Freund des hübschen Mädchens die andere Seite der Bar nicht sehen. Außerdem war sein Blick nicht mehr ganz klar. Er merkte es selber. Heute wird wohl nichts mehr daraus, die Kleine ins Bett zu bringen, überlegte er. Damit hatte er Recht. Der alte Pete begann mit seiner Vorstellung auf der Bühne. Er deckte das Mädchen mit einem bunt geblümten Seidentuch zu. Das Licht flackerte. Vom Tonband kam das Grollen eines tibetanischen Tempelgongs, allerdings vom Krächzen des miesen Bandes untermalt. Unvermittelt erlosch das Licht ganz. Brad Eggers sprintete durch das Dunkel zur Bühne. Der Alte musste spinnen. Eggers hatte die Handbewegung genau gesehen, mit der dieser verrückte Alte das Licht ausschaltete. Den Notschalter hatten sie auf der Bühne für den Fall, dass irgendetwas passierte, das das Publikum nicht sehen sollte. Die letzten Gäste hatten ein feines Gespür für etwas Ungewöhnliches. In dem überfüllten, stickigen Raum herrschte atemlose Stille. Petes zahnloses Nuscheln drang deshalb bis in die letzte Ecke. »Sie ist weg, Chef.« Eine brausende Lachsalve war die Antwort des Publikums. Man hielt das für einen tagesaktuellen Gag. Brad Eggers wusste aus trüber Erfahrung, dass man einer unangenehmen Tatsache nicht allzu lange ausweichen darf. Sonst wird sie noch unangenehmer. Mit einem Griff schaltete er sämtliche Lampen an. 34
Die späten Gäste sahen sein kaum unterdrücktes Zittern und die Schweißperlen auf seiner Stirn, die Scheinwerfer leuchteten die letzten Ecken, der kleinen Bühne aus. Der Raum war taghell. Jeder blickte von einem zu anderen. Ein paar Misstrauische linsten hinter die Bar, ob das Mädchen dort versteckt war. Es blieb keine andere Möglichkeit. Maggie war verschwunden. Wie immer gab es ein paar Langsamdenker. Sie klatschten wie besessen Beifall, bis die anderen sie nieder zischten. Dann machten sie besonders betroffene Gesichter. Praktisch auf Armlänge von ihnen entfernt hatte das Schicksal zugeschlagen, von dem jeder im Laufe des Abends in den Zeitungen gelesen oder in den Nachrichten gehört hatte. Bei einer Panik macht immer einer den Anfang. In diesem Fall war es der Begleiter der verschwundenen Maggie. Mit einem gellenden Aufschrei stürzte er zur Tür. Die übrigen Gäste folgten ihm wie eine durchgehende Rinderherde. Die Tür flog aus den Angeln. Das spärliche Mobiliar ging zu Bruch. Der Barmann zeterte hinter seinem Tresen. Er hatte die letzten Runden noch nicht kassiert. Als die Polizei endlich eintraf, fand sie außer verlorenen Schuhen, zurückgelassenen Handtaschen und der ruinierten Einrichtung nur noch einen langsam wieder zu Atem kommenden Barmann und den vor Zufriedenheit fast platzenden Eggers. Das hatte ihm für seinen miesen Klub gefehlt. Von Morgen an würde er sich vor Gästen nicht mehr retten können. Der Streifenführer hörte sich den ziemlich zusammenhanglosen Bericht von Brad Eggers an. »Wo ist der Zauberkünstler?« »Wo ist Pete?« »Der ist auf dem Lokus«, sagte der Barmann gelangweilt. Der alte Zauberkünstler war mit der erschreckenden Tatsache nicht fertig geworden, dass er, praktisch als Krönung seiner Laufbahn, einen Menschen wirklich verschwinden lassen konnte. Allerdings ohne ihn anschließend wiederzubeschaffen. Sie fanden ihn auf der Toilette, wie der Barmann gesagt hatte. Er hatte noch nicht einmal abgeschlossen. Möglicherweise in der Hoff35
nung, jemand würde kommen und ihn abschneiden. Er hing an seinem Gürtel und schaukelte langsam hin und her, wie ein welkes Blatt im Herbst. »Schade«, sagte Brad Eggers. »Er hätte jetzt Millionen verdienen können. Dass ich es auf keinen Fall vergesse. Ich brauche morgen Mittag einen neuen Zauberkünstler, der Old Petes Trick begreift.« * »Es sind Spinner und Schwätzer und Scharlatane alle miteinander!« Inspektor Gerald Field machte seinem Herzen nachdrücklich Luft. Lieber ließ er sich in ein gottverlassenes Dorf auf den äußeren Hebriden schicken, als mit den Herrschaften aus dem Innenministerium zu diskutieren. Jeder schien auf dem Weg ins Büro ein Handbuch des Okkulten gewälzt zu haben. Mit dem entsprechenden Ergebnis natürlich. »Aber meine Herrschaften, dass Wesen der Massenhypnose ist uns allen bekannt. Nur können Sie die Massenhypnose nicht für eine halbe Leiche bei uns im Kühlraum verantwortlich machen.« Field musste ein unsinniges Argument nach dem anderen zerpflücken. Dabei hätte er selbst gern an die einfachen Erklärungen geglaubt. »Telekinese halte ich für wenig wahrscheinlich, Sir. Sie ist das Bewegen eines körperlich vorhandenen Gegenstandes allein durch geistige Kräfte. Da hängen wir wieder an dem halben Dale. Das heißt...« »Sehen sie!«, hakte Sir Archibald aus dem Innenministerium ein, von dem der Vorschlag mit der Telekinese gekommen war. »Er ist gestört worden und hat den Mann nur teilweise wegschaffen können.« Ein Mann in Generalsuniform zeigte dem hohen Ministerialbeamten unverholen den Vogel. Halbe Telekinese. Hatte man davon schon etwas gehört? Im Krisenstab ließ sich die Erregung nicht mehr dämpfen. Sobald ursprünglich vernünftige Menschen sich auf das Glatteis des Übernatürlichen begeben, verstricken sie sich meist hoffnungslos in lautstarken Debatten. Die Spannung, die an diesem Morgen über London lag, 36
machte die Erregung in dem kleinen Raum des ehrwürdigen Gebäudes verständlich. Der Inspektor hatte den verständlichen Wunsch, spurlos zu verschwinden und sich an seinem Schreibtisch wieder zu materialisieren. Erstens hatte er anderes zu tun, zweitens redete er sich in seiner Ehrlichkeit hier nur um Kopf und Kragen. So, wie der Fall im Augenblick aussah, ließ er sich mit polizeilichen Mitteln nicht lösen. Aber Field würde nicht aufgeben. Sein Pech wollte es, dass seine Fälle immer so aussahen, als zöge einem ein bösartig veranlagter Spuk immer das Beweismaterial unter den Händen weg. Verschwundene Leichen konnten ihn nicht schrecken. Die Morgenblätter hatten Stimmung gemacht. Das Gespenst von Harrow fegte die Schlafstadt leer. Keine Hilfe gegen den Menschenschlucker von Middlesex? Todesschreie hallten durch die Villengärten. Wenigstens die letzte Überschrift war aus den Fingern gesogen. In keinem einzigen Protokoll konnte Field etwas von Schreien lesen. Das verdiente Aufmerksamkeit, war aber weder dazu angetan, den Krisenstab zu beruhigen, noch konnte es die aufkeimende Panik in der Bevölkerung zurückdrängen. Im Gegenteil. Wenn Field darauf herumredete, dann hieß es später nur, der Tod kommt schweigend. Und nichts war gewonnen. In den Morgennachrichten kam dann das Verschwinden des Mädchens in der Bar. Die Fahndungsmeldung wegen Jonathan Blake folgte unmittelbar darauf. Field nutzte den ersten günstigen Augenblick und verdrückte sich. Er war Polizist und blieb Polizist. Wenn es einen gemeingefährlichen Geist in der Grafschaft Middlesex gab, dann würde er ihn mit den nötigen Mitteln einkreisen. Er konnte seine Zeit nicht mit Redereien vertun. * Das unscheinbare Büro in einem Rückgebäude der Baker Street war von Reportern überlaufen. Der ältlichen Sekretärin löste sich der Haar37
knoten. Mit fliegenden Fingern sortierte sie die gewünschten Unterlagen aus den mit schwarzem Samt eingeschlagenen Ordnern. Das ganze Büro war mit schwarzem Samt tapeziert. Auch ohne den besonderen Anlass pflegten Kerzen zu brennen. Es roch nach dem erkalteten Rauch von Räucherstäbchen. »Wenn das unser Mr. Dale noch erlebt hätte...« Die Sekretärin betupfte ihre Augen. Sein Leben lang hatte der Geschäftsführer der Gesellschaft außersinnlicher Wahrnehmungen um Anerkennung und Geldgeber kämpfen müssen. Sein grauenvolles Ende sicherte ihm endlich die ersehnte Popularität. Inspektor Field scheuchte die ganze wilde Hammelherde aus dem Tempel. Er pflanzte sich auf Dales schwarz überzogenen Sessel und breitete die Ordner auf dem schwarzen Schreibtisch aus. Routinemäßig untersuchte er die Schreibtischschubladen. Mit der linken Hand drehte er sich gedankenverloren eins seiner geliebten Räucherstäbchen, während er schon nach einem Aschenbecher forschte. »Das würde Mr. Dale aber gar nicht gern sehen«, sagte die ältliche Sekretärin spitz und wies auf die Zigarette. Field, der viel lieber Mr. Dale gesehen hätte, störte sich nicht an dem Verweis. In der ersten Schublade stieß er auf nichts weiter als halb geleerte Schachteln mit Veilchenpastillen, Pfefferminzpastillen, Fenchelbonbons, Thyrnianpastillen, von denen er noch nie etwas gehört hatte und Erdbeerpastillen. Field betrachtete die Sekretärin mit anderen Augen. Sollte Dale sich auf außersinnliche Wahrnehmungen geworfen haben, weil er mit den sinnlichen nicht viel im Sinn hatte? Die oberen Fächer des Schreibtisches gaben nichts her. Field stürzte sich auf die Ordner. Dale oder die Sekretärin hatten die Pedanterie bis zum Irrsinn perfektioniert. Die von der Gesellschaft protokollierten Wahrnehmungen waren nach Arten, Zeit, Ort und weiteren Gesichtspunkten aufgeschlüsselt, die Field nichts besagten. Vermutlich kamen auf diese Weise mehr Fälle zusammen, die man den betuchten alten Damen vorlegen konnte, von denen allem Anschein nach das Geld für den seltsamen Verein stammte. Field atmete wegen der Ortskartei auf. 38
Er hatte die Liste der verschwundenen Personen im Kopf. Bei vielen ließ sich der Ort des Verschwindens mit hinreichender Genauigkeit angeben. Field durchforschte Dales Kartei, ob dem eigenartigen Mann Beobachtungen aus dieser Umgebung vorlagen. Er zog wieder einmal eine Niete. An dem Schreibtisch des gewerbsmäßigen Spuksehers überlegte der Inspektor. Was hatte Dale dorthin getrieben, wo Menschen so plötzlich verschwanden, als hätte es sie vorher nie gegeben? Warum war Dale nur zur Hälfte verschwunden? Wovor hatte er Angst? Dale war um sein Leben gerannt und der hatte den Wettlauf verloren. Auch das andere Opfer, dieser Brandish, war gerannt. So, dass er Dales Auto gar nicht mehr wahrgenommen hatte. Namenlose Furcht hatte ihn gepackt. Field fiel nur eine Lösung ein. Brandish und Dale wussten, was sie erwartete. Die anderen Opfer waren ohne jedes Zeichen von Angst oder Schmerz verschwunden. Noch nicht einmal für Überraschung war ihnen Zeit geblieben. Möglicherweise gab das einen Anhaltspunkt für eine Lösung. Dale glaubte sich einer der Erscheinungen auf der Spur, mit deren Auswertung er sein gar nicht so bescheidenes Brot verdiente. Und Brandish? Brandish war schon interessanter. Field forschte weiter in Dales Schreibtisch. Wider Erwarten stellte sich Erfolg ein. Field zog einen Stapel bunter Heftchen aus einer der unteren Schubladen, wie er sie auch bei der zuständigen Spezialabteilung im Yard noch nie zu Gesicht bekommen hatte. Der doch nicht ganz so außersinnliche Mr. Dale beschaute sich also Pornographie, wenn ihm die Spukprotokolle dazu Zeit ließen. Und zwar bevorzugte der Herr derbere Sachen. Field forschte weiter. Er zog ein Ringbuch heraus, das sich ebenfalls nicht mit Spukerscheinungen beschäftigte, sondern mit Chemie. Der Detektiv-Inspektor betrachtete staunend die Formeln und empfand eine tiefe Ehrfurcht vor den Menschen, die das verstehen mochten. 39
Er packte das Ringbuch ein. Die Pornoheftchen hinterließ er der Sekretärin zum Aufräumen. Vermutlich würde ihr wieder der Haarknoten herunterfallen. Field bedauerte, dass er das nicht sehen würde. Nach der U-Bahnfahrt zurück nach Westminster fühlte er sich wie gerädert. Die Züge waren nicht halb so voll wie gewöhnlich zu dieser Zeit. Die Angst kroch den Leuten förmlich aus den Poren. Field studierte die Personen, die ihm gegenüber saßen. Er fühlte sich verantwortlich für sie. Unfreiwillig las er die balkengroße Überschrift in der Zeitung, die der Mann ihm genau gegenüber vor dem Gesicht hielt. Die Zeitung sank und Field blickte in ein Paar starrer Augen. In diesem Moment wurde ihm der Schluss klar, den er aus seinen in Dales Büro angestellten Überlegungen ziehen musste. Die Angst beschlich nun auch ihn. Er hatte keine Möglichkeit, sich zu wehren. Weder gegen die Angst, noch gegen die Gefahr, die ihn so lange bedrohen würde, bis er die endgültige Lösung des Falles vorwies. Der Zug donnerte durch den engen Tunnel. Field stellte sich neben die Tür. So konnte er den ganzen Wagen im Auge behalten, ohne den Kopf allzu sehr drehen zu müssen. In Trafalgar Square verließ er den Zug. Draußen auf den belebten Straßen fühlte er sich besser. Praktisch als eine Art offizielle Begründung redete er sich ein, der kurze Fußweg nehme weniger Zeit in Anspruch als das Umsteigen bei Charing Cross. * »Er kann überall hin. Wir wissen nur nicht, ob er dafür Zeit benötigt, oder ob er in jedem beliebigen Augenblick an jedem beliebigen Ort auftauchen könnte. Außerdem schnappt er jeden, der ihm zu nahe kommt.« »Wer?«, fragte Budd mit vollen Backen. Field saß mit seinem Sergeanten in der Kantine von Scotland Yard. Budd schaufelte seine giftig grün aussehenden Erbsen mit der Ausdauer eines Kohlentrimmers in sich hinein. 40
»Wer wohl?« Dem gefräßigen Sergeanten purzelten Pommes-frites-Stäbchen aus dem Mund. Field zählte insgesamt sieben. Er kannte Budds Reaktionen. Jetzt hatte auch den schwer erschütterlichen Bacon-Billie die Angst gepackt. »Sie meinen, er will uns auch... wie soll ich sagen, vernaschen?« »Wenn ich ihn richtig einschätze, ja.« »Dann sitzen wir ziemlich in der Tinte, wie?« »Nein.« Field ließ keine weitere Auskunft aus sich herauslocken. Er war mit seinen Gedanken noch nicht im reinen. Aber er ahnte einen Weg, der zu der unheimlichen Macht führte, die er bekämpfen sollte. In einem Zimmer neben Field hausten drei junge Inspektorenanwärter. Sie hatten Field die Schulzeugnisse voraus und kamen sich schon deswegen mindestens dreimal so gut vor wie der hart gebissene Inspektor. »Sehen Sie, Mr. Field«, sagte einer mit unverkennbarem Stolz in der Stimme. »Macky hat alle bisher bekannten Punkte mit dem Kino verbunden. Und ich habe jetzt den Nachtclub eingetragen, in dem dieses Mädchen verschwunden ist. Der Fall fällt doch ganz aus dem Rahmen.« Zunächst glaubte Field, er sei beschränkt. Er sah keinerlei Zusammenhang. Dann ging ihm ein Licht auf. Die klugen Köpfchen hatten alle Markierungen durch Striche mit dem Kino von Rayners Lane Station verbunden. Der Platz lag noch nicht einmal in der Mitte der gestrichelten Fläche. Dem Kreuzchen an der Stelle der Bar hatten sie keine Verbindungslinie zukommen lassen. Also sah es auch so aus, als gehöre es nicht dazu. Field verkniff sich jeden Spott und trug die fehlende Linie nach. Dann grübelte er nach etwas Pädagogischem, mit dem er seinen Abgang die Würze verleihen konnte. »Wie seid Ihr überhaupt auf das Kino gekommen?« »Na, wenn Mr. Budd es dauernd bewacht, muss doch was dran sein, dachten wir.« 41
Daraus sollen einmal Polizisten werden, dachte Field. Traumtänzer. Nur, weil es im Kino zuweilen dunkel ist, soll da auch gleich ein menschenverschlingendes Ungeheuer hausen. Wenn das so einfach wäre! Dann könnte der Staat das Ding kaufen und durch den Schornstein mit Beton voll gießen. Wollen mal sehen, welcher miese Geist solche Behandlung verträgt. Field fiel das schwarze Ringbuch mit den chemischen Formeln ein. Er trug es hinunter in das Labor. Dort war man noch immer mit Richard Dales halber Leiche beschäftigt. Die Weißkittel bombardierten ihn mit einem ganzen Wust von Fachausdrücken, die er allmählich zu verstehen gelernt hatte. Field war immer wieder erstaunt, dass diese hoch bezahlten Spezialisten in tagelanger Arbeit und durch mühsame Untersuchungen genau das herausfanden, was er an den Spuren am Tatort abgelesen hatte. Manchmal glaubte er, sie legten ihm ihre Ergebnisse zur Prüfung vor. Richard Dale war also gerannt - Blutsauerstoffspiegel - er war erregt - Blutadrenalinspiegel - und er war ohne Anzeichen auf äußere Gewaltanwendung durch einen Schock gestorben. »Keine äußere Gewalt?«, fragte Field hinterhältig. »Keine.« »Und die andere Hälfte?« In diesem Labor schienen sie das Verschwinden eines Menschen, wenigstens das teilweise Verschwinden, klaglos hinzunehmen, solange sie noch etwas unter ihr Mikroskop legen konnten. Field glaubte, man müsste vor diesen unverständlichen Menschen ein größeres Grauen empfinden als vor dem namenlosen Ungeheuer, das da draußen Personen mit Namen, Gesichtern und Familien einfach aus den uns bekannten Dimensionen hob. Der Henker mochte wissen, wo sie waren. »Dale ist tot.« Superintendent Rutherford hatte sich ebenfalls in das Labor hinunterbemüht und dicht neben Fields Ohr diese nicht gerade neue Bemerkung fallen lassen. »Was folgern Sie daraus?« 42
Field folgerte, dass Dale gestorben sein müsste, weil er sonst nicht tot sein könnte. Aber er hütete sich, diesen Gedanken laut werden zu lassen. »Nun? Das ist ganz einfach. Er wollte ihn nicht mehr. Er will keine Leichen. Deshalb hat er den Rest gar nicht erst mit rüber genommen. Warum muss ich eigentlich immer auf die richtigen Einfälle kommen?« »Weil Sie Superintendent sind«, sagte Field so, als ob er es ernst meinte. Manchmal konnte man Rutherford Komplimente mit der Fettpresse ins Ohr jagen, er würde es immer noch genießen. Dabei sah das gar nicht einmal so unwahrscheinlich aus. Irgend etwas holte sich Menschen aus dieser Welt in eine andere, wählte nach nur ihm bekannten Kriterien diesen und jenen aus und zog ihn hinüber in ein anderes Dasein, aus dem es vielleicht sogar eine Rückkehr gab. Field überdachte diesen Gesichtspunkt von allen Seiten. Er ergab einen Sinn. Allerdings nur, wenn man sich entschloss, an eine solche Macht zu glauben. Superintendent Rutherford hatte die bedauerliche Eigenschaft, gerade seinen klügsten Äußerungen jedes Glanzlicht zu rauben, sobald sie ihm entschlüpft waren. »Und stellen Sie sich vor, er nimmt Briten.« Field sog heftig an seiner Selbstgedrehten, um den Lachanfall zu unterdrücken. Rutherfords Nationalstolz hätte diese Quittung nicht ertragen. * Die neue Theorie des Superintendenten war zu gut für den internen Hausgebrauch. Rutherford verbreitete sie telephonisch zunächst an das Innenministerium und dann an die vor seinem Zimmer lauernden Reporter. In dem Glaspalast von New Scotland Yard verbreitete sie sich praktisch von selbst. Die entsprechenden Zeitungsmeldungen am nächsten Morgen waren keinesfalls dazu angetan, die Leser zu beruhigen. Und Inspektor Field bekam praktisch einen Schlag ins Gesicht. Auf Anordnung des 43
Innenministeriums wurden jegliche polizeilichen Ermittlungen eingestellt. »Es gibt genug Institute für parapsychologische Forschungen. Die können sich damit befassen. Sie brauchen jeden Mann für die laufende Arbeit. Pfeifen Sie den Inspektor zurück. Und außerdem, vorzügliche Arbeit, Ihre Theorie, lieber Rutherford.« »An einem kleinen, unscheinbaren Indiz kann man einen großen Fall aufrollen. Wäre Dale nicht gestorben, dann würden wir noch heute an der Sache herumrätseln.« Rutherford hatte den Trick heraus, sich bescheiden zu geben und dabei seine Verdienste nur noch mehr herauszustreichen. Das war ihm wieder einmal gelungen. * Field vergrub sich hinter seinem Schreibtisch und ließ vor Nervosität die Fingergelenke knacken. Er ahnte einen Punkt, an dem er den Hebel ansetzen konnte. Aber mit Ahnungen war niemandem geholfen. Jede Äußerung hätte ihn der Lächerlichkeit preisgegeben. Was wollte ein kleiner Inspektor gegen eine Macht ausrichten, die nicht von dieser Welt war? Was vor allen Dingen sollte er gegen eine Macht ausrichten, die sehr wohl von dieser Welt war und Rutherford hieß? Der Inspektor überschlug, was er an Material besaß und hetzte Budd los. Der dicke Sergeant musste ihm die Personalakte von Brandish beschaffen. Und wenn er sie aus einem Tresor klaute. Wenn er den Fall schon nicht löste, dann wollte er wenigstens wissen, wo dieser Mann zehn Jahre lang gesteckt hatte, ehe er bei seinem anscheinend ersten Auftauchen endgültig verschwand. Aber Rutherford hatte seine Ohren überall. Natürlich hatte er Brandish völlig vergessen. Nachdem er ihm praktisch frei Haus wieder ins Gedächtnis geliefert wurde, quetschte er ihn gleich in seine Theorie. Am nächsten Morgen hatten die Zeitungen wieder ihr Futter. Zu Inspektor Fields stiller Wut bedeutete das gleichzeitig eine trügerische Hoffnung für die Angehörigen der Verschwundenen. 44
Kam einer zurück? Der Spion in der anderen Welt! Was hätte Brandish berichten können? Zehn Jahre gingen spurlos an dem Verschwundenen vorüber. Steht die Zeit für die Geraubten still? Field schüttelte sich beim Anblick der Schlagzeilen. Der Hausmeister des kleinen Appartementhauses nahe der Victoria-Station hatte die Zeitungen heraufgebracht. Field schlich im Bademantel durch die Wohnung und machte ein leidendes Gesicht. Gegen zehn machte Dr. Humbert erst die Praxis auf. Der Arzt hatte ihm schon einmal ein Magengeschwür bescheinigt. Er würde es wieder tun. Solche Tricks widerstrebten Field aus tiefster Seele. Er hatte sich erst nach einer schlaflosen Nacht dazu entschlossen. Mannhaft wie er war, lieferte er die Krankmeldung selbst im Yard ab. Dabei klemmte er sich Brandishs Personalakte unter den Arm und verabredete Kontaktaufnahmen mit Sergeant Budd. Dann fühlte er sich endlich frei für das, was er tun musste. Einem ungewissen Antrieb folgend ging er bei seinem Anwalt vorbei. Viel hat ein Inspektor nicht zu hinterlassen. Aber er wollte alles geregelt haben. Field nahm den Kampf gegen etwas auf, von dem er noch nicht einmal ahnte, was es war. Brandishs Personalakte gab nur einen interessanten Punkt her. Der Mann galt seinerzeit als Sicherheitsrisiko. Er machte kein Hehl daraus, dass ihm sein Gehalt zu niedrig war und dass er es aufbessern würde, wann immer ihm das möglich wäre. Er stand ziemlich kurz davor, an irgendeinen unbedeutenden Außenposten in den immer spärlicher werdenden Kolonien abgeschoben zu werden, als er damals verschwand. Field überdachte diesen Sachverhalt und ließ ihn dann bis zu einem günstigeren Augenblick in seinem Gehirn schmoren. Er legte ein genaues Protokoll des Geschehens an und verglich die Zeiten. Das brachte ihn zu einem überraschenden Schluss. Doch dazu benötigte er Hilfe. Er rief Rawlings an. Der Reporter war zu Hause. Er hatte seinen Startvorsprung genutzt und an dem makabren Fall einen halben Rolls Royce verdient. Field gönnte es ihm, bestand aber auf Rawlings Teilnahme unter allen denkbaren Entwicklungen. Der Repor45
ter war Feuer und Flamme. Field gönnte sich ein Taxi und fuhr hinaus nach Rayners Lane Station. Dort lag die Lösung des Falles. Field war wild entschlossen, sie zu finden. * »Bitte betrachten Sie alles, was ich Ihnen vortrage, mit Vorbehalt. Trotz der Disziplin, mit der ich mich beschäftige, sehe ich mich als Wissenschaftler der alten Schule. Ich möchte nicht, dass voreilige Schlüsse gezogen werden.« Washington Baile war Professor für parapsychologische Phänomene an der Universität Edinburgh. Ursprünglich Amerikaner, hatte er sich in Großbritannien naturalisieren lassen. Amerika erschien ihm zu jung für seine Studien. »Meine Theorie, für die es zwar stichhaltige Anhaltspunkte gibt, leider jedoch keine eindeutigen Beweise, beschäftigt sich mit der Erscheinung, dass Geister anscheinend nach Belieben auftauchen und wieder verschwinden. Niemand hat sich ernsthaft Gedanken darüber gemacht, wo ein Geist steckt, wenn er gerade nicht spukt. Um es einmal allgemein verständlich auszudrücken. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es den Geistern möglich ist, nach ihrem Willen zwischen den Dimensionen, die wir kennen und anderen, uns nicht zugänglichen, zu pendeln. Jetzt hat es einer von ihnen gelernt, nicht selbst zu pendeln, sondern die Bewohner unserer Dimensionen zu sich hinüber zu ziehen. Ich nehme an, er wird auf diesem Gebiet noch Fortschritte machen.« Die wüsten Spekulationen in den Zeitungen hatten abstumpfend gewirkt. Doch die ruhige, beinahe beiläufige Art, mit der Baile seine Theorie vortrug, versetzte die Zuhörer in Panik. Das Innenministerium hatte den Professor wie andere Spezialisten auf dem Gebiet zu einer Lagebesprechung gerufen. »Sehen Sie, es hat immer Geisterbeschwörer gegeben. Die Wissenschaft ist nie dahinter gekommen, wie diese Männer und Frauen das gemacht haben. Sie war meist vollauf beschäftigt, die Könner von den Scharlatanen zu trennen. Ähnlich, wie Menschen Geister be46
schwören, sie gleichsam in unsere Dimensionen pressen, kann man sich den Vorgang vorstellen, der jetzt viele von Ihnen erschreckt.« »Und das sollen wir einfach hinnehmen?« »Haben wir uns nicht auch an die Tatsache gewöhnt, dass wir einmal sterben müssen?« Hätte Baile es darauf angelegt, seine Zuhörer zu entsetzen, er hätte seine Worte nicht geschickter wählen können. Doch dem Amerikaner war es mit seinen Äußerungen ernst. »Je mehr Sie sich davor ängstigen, desto schlimmer machen Sie es für sich selbst«, sagte er abschließend. Im kleineren Kreis nach dem Vortrag zeigte der Professor sich bei weitem nicht mehr so gelassen und zuversichtlich. »Wenn wir davon ausgehen, dass es Brandish gelungen ist, den Rückweg in unsere Welt zu finden, dann gibt es nur eine Erklärung für dessen offensichtliche panische Angst. In der anderen Welt müsste es entsetzlich zugehen. Brandish tat alles, was ihm möglich war, um Kontakt zu einem Lebenden aufzunehmen. Jede Hilfe war ihm in dieser Sekunde willkommen. Er musste gewusst haben, dass es seine letzte Chance war. Dale, über dessen Arbeit mir wenig bekannt ist, muss Informationen über diese Welt hinter unserer Welt besitzen. Denn auch er befand sich auf der Flucht, als das Schicksal ihn ereilte.« * Von Rawlings Wohnung aus rief Field seinen Sergeanten an. Budd informierte ihn über den Vortrag des amerikanischen Professors. »Hat er sich auch darüber geäußert« »Nee«, sagte Budd. »Warum?« »Ich hätte es gefragt«, sagte Field. »Da ist noch etwas, Inspektor. Dieser Dale hat ein bisschen gespritzt.« »Ei, das ist interessant. Was denn?« »Das wissen Sie noch nicht. Aber das Labor hat den Körper praktisch Unze für Unze durchgekämmt. Dabei sind sie auf eine Einstich47
stelle im Oberarm gestoßen. Dazu gehören die typischen Gewebeveränderungen im umliegenden Gewebe.« »Dann muss doch auch das Zeug zu finden sein.« »Eben nicht, Sir. Das macht den Leuten ja auch Kopfzerbrechen. Sie wollen noch nicht mit der Sache herausrücken, aber mir haben sie es erzählt.« »Was ist mit den chemischen Formeln?« »Da finden die gar nichts dran. Aber ich werde noch einmal nachfragen.« »Sie werden ja veröffentlichen wollen, was Sie eben gehört haben«, wandte sich Field nicht ohne eine gewisse Bitterkeit an den Reporter. »Wenn Sie ebenso klug wie skrupellos sein wollen, dann behandeln Sie die Theorie dieses Baile kritisch.« »Wollen Sie der einzige sein, der angesichts des Unfasslichen den kühlen Kopf zeigt? Field, der furchtlose Mann mit den eisernen Nerven?« »Ich habe Angst wie jeder andere und ich habe mehr Grund, Angst zu haben, als jeder andere«, sagte Field leise. Er zwirbelte seine Augenbrauen zu einer verkleinerten Form von Kampfstierhörnern. »Trotzdem gehen wir heute Nachmittag zusammen ins Kino.« »Sie meinen, das Ungeheuer steckt doch da drin?« »Es hat mindestens sein Nest in der Nähe. Sie dürfen nie vergessen, dass die beiden einzigen Opfer, die Angst zeigten, in unmittelbarer Nähe des Kinos verschwanden.« »Wie wollen Sie es angreifen?« »Keine Ahnung. Ich hoffe nur, ich komme schnell genug in Sicherheit, wenn es mich angreift.« Rawlings wurde ziemlich still. Wenn Field angegriffen wurde, denn schwebte auch er in Gefahr. Doch auch dem Reporter war der einzige schwache Punkt in der Undurchdringlichkeit der vielen scheinbaren zusammenhanglosen und sinnlosen Fälle klar. Dale und Brandish mussten etwas gesehen haben. Sonst wären sie nicht so wild geflüchtet. Wo andere etwas gesehen hatten, wollte auch Field seine Informationen suchen. 48
Sie kamen an dem großen roten Backsteinbau des Rayners Hotel vorbei. Auf den Parkplätzen drängten sich schon wieder die Autos. Die Angst hatte bei den Stammgästen nicht lange vorgehalten. »Sie waren doch unmittelbar dabei. Ist Ihnen nichts aufgefallen?« »Doch«, sagte Rawlings. »Das ist es ja gerade. Ich zermartere mir den Kopf und komme nicht dahinter. Es war schon weg, als ich mich hinsetzte und den Bericht zusammenschrieb. Irgend etwas ganz Unscheinbares.« »Das haben Brandish und Dale auch gesehen. Deshalb hat es sie beseitigt.« »Schöne Aussichten«, sagte Rawlings mit gespieltem Gleichmut. »Wenn mir also einfällt, was mir aufgefallen ist, dann muss ich auch hinüber.« »Das kann Ihnen passieren. Mir aber auch.« Sie überquerten die Eisenbahnbrücke. Einen Augenblick lang verharrte Rawlings vor den Auslagen des Zeitungsstandes. Er überflog die Überschriften. Ein kleiner, rotgesichtiger Mann mit einem weißen Schnurrbart und allen Anzeichen hochgradigen Zorns im Gesicht trat den beiden Männern entgegen. Er setzte Field die Spitze seines Regenschirms auf die Brust. »Sie sind doch dieser Polizeiinspektor. Wie können Sie zulassen, dass man so einen haarsträubenden Blödsinn in Zeitungen veröffentlicht?« Mit wutbebenden Fingern durchwühlte der Mann einen Packen Papier, der vor kurzem noch die wohl geordnete Times gewesen war. Endlich hatte er die rot unterstrichenen Absätze entdeckt. »Hier! ›Die Opfer verschwanden nach Angaben der Polizei lautlos.‹ So ein ausgemachter Quatsch. Natürlich hat sie geschrieen. Wie am Spieß, wenn Sie diesen etwas vulgären Ausdruck verzeihen.« »Wer denn?«, fragte Field ziemlich fassungslos. »Miss Attenborough natürlich. Von wem reden wir denn sonst?« Eine Frau mischte sich ein, bei deren Anblick jeden Junggesellen der freudige Gedanke packte, es doch richtig gemacht zu haben. Sie 49
schob den Regenschirm entschlossen beiseite und packte Field mit festem Krallengriff am Mantelkragen. Rawlings grinste niederträchtig. »Sie hat sogar etwas gesagt, das sie nie im Leben von sich geben würde, die Ärmste.« Bei der ›Person‹ hätte diese Bezeichnung Mrs. Hagons höchste Entrüstung hervorgerufen. Miss Attenborough blieb die Ärmste. »Ich sehe, Sie wissen gar nicht, wovon wir sprechen. Dabei kommen Sie doch von der Polizei.« Hagons Zeigefinger trommelte auf einem Bild herum, das ohne Zweifel Field darstellte. Es gab also keine Fluchtmöglichkeit. Langsam bildete sich ein Menschenauflauf. Field kam ein rettender Einfalt. »Wo haben Sie die Sache denn gemeldet?« »Gemeldet? Wir? Wie kämen wir denn dazu, der Polizei auf die Nase zu binden, was in den Wohnungen anderer Leute vorgeht? Wofür halten Sie mich eigentlich?« »Einstweilen für niemanden. Ich weiß noch nicht einmal, mit wem ich spreche.« »Hagon. Donald Hagon.« »Direktor Donald Hagon«, ergänzte die Frau. »So, Mr. Hagon. Jetzt erzählen Sie uns einmal von Anfang an, was sich Ihrer Meinung nach zugetragen hat.« Hagon gelang es, die gesamte Affäre zu berichten, ohne die Tabuthemen Portwein und Miss Bliß im Nachtgewand auch nur zu streifen. »Das heißt also, da hat jemand verzweifelt um Hilfe gerufen und Sie hielten es nicht für nötig, auch nur vor die Tür zu treten.« »Niemand hat um Hilfe gerufen. Es war ein unartikulierter Schrei. Ich erkläre meinen Schülern auch immer...« »Außerdem konnte ich nicht wissen, dass Miss Attenborough Hilfe benötigt. Ich war der festen Überzeugung, es handle sich um diese Person«, fiel Mrs. Hagon ein. Langsam drang Field auch auf den Grund des Verhältnisses der übrigen Bewohner von Merlins Mansions zu dem Photomodell. 50
»Sie waren also der Ansicht, nicht Miss Attenborough, sondern Miss Bliß befinde sich in Gefahr. Und aus diesem Grund sahen Sie keinen Anlass, helfend einzugreifen.« »Diese Person hat selbst daran Schuld, wenn sie in eine missliche Lage kommt«, erklärte Mrs. Hagon unerschütterlich. »Meine Güte«, knurrte Field. »Wir laufen uns die Hacken ab, um ein Ungeheuer zu finden, das Menschen spurlos verschwinden lässt und dabei gibt es so etwas auf der Welt.« Dem Inspektor war ziemlich unwohl in seiner Haut. Mit einer ertricksten Krankmeldung in der Tasche sollte er ohne jegliche Unterlagen in eine Wohnung eindringen. Er hoffte nur, die Hagons würden den Schlüssel ohne Mühe vom Hausmeister beschaffen. Wenigstens dieser bescheidene Wunsch ging in Erfüllung. Vorgestern, rekapitulierte Field. Das war der Abend oder die Nacht, in der Blake seine Frau in den Wiesen von Yeading Brook erwürgte und in der das Mädchen in dem Nachtclub verschwand. Field fügte Ort und Zeit dem Schaubild ein, das er sich ständig vorstellte. Der Schlüssel drehte sich. Muffiger Geruch schlug ihnen entgegen. Miss Attenborough schien von diesem neumodischen Trend, ständig die Fenster aufzureißen, nichts zu halten. Die Wohnung war leer. Mit Rawlings im Gefolge suchte Field einen Raum nach dem anderen ab. Es gab keinen Hinweis auf etwas Ungewöhnliches. Abgesehen davon, dass Miss Attenborough von ungewöhnlicher Pedanterie sein musste. Das Schlafzimmer war genau das Gegenteil davon. Wäschestücke lagen in den Ecken, wie von einer Zentrifuge geschleudert. Die Schranktür hing nur noch an einem Scharnier. Das Bett war ein wüster Haufen von weißen Textilien. Mrs. Hagon presste sich die Hand vor den Mund. »Das sieht ja aus wie in einem Bordell!« »Gucken Sie sich mal einen Puff an. Sie werden staunen, wie ordentlich es da zugeht. Sie hätten Ihre Freude dran, Madam.« Rawlings konnte sich diese bissige Bemerkung nicht verkneifen. So hatte er sich immer die Frau seines Schuldirektors vorgestellt. 51
Der Inspektor schritt den Grundriss der Wohnung ab. Er machte sich Notizen. Er hatte keine Ahnung, wonach er suchen sollte. Es war auch nichts zu finden. »So ein verdammter Putzfimmel«, schimpfte er leise vor sich hin. Er nahm einige ungeöffnete Briefe von einem Tisch in der Diele und sah aufmerksam die Umschläge an. »Warum?«, fragte Hagon mit der Neugier eines großen Jungen. »Wenn es ein wenig Staub gäbe, dann könnte ich feststellen, ob jemand etwas von seinem Platz bewegt hat.« »Da machen Sie sich keine Hoffnungen. Bei der Ziege hat sich kein Staubkorn fünf Minuten lang gehalten.« »Sie mögen Sie wohl nicht?« »Wer mochte die schon. Höchstens doch meine Frau. Die passten zusammen.« Von Hagons Apparat aus rief Field seinen Sergeanten an, um den neuen Fall zu melden. Rutherford rückte an der Spitze eines Sonderstabes an, in den sich auch Budd eingeschlichen hatte. »Durch die Doppelfenster. Herein und wieder hinaus. Hinaus sogar mit der Frau.« Superintendent Rutherford verfolgte die Leistungen des Menschenschluckers mit einem Stolz, als hätte er den Geist selbst gezüchtet. Field fragte sich, was der Superintendent überhaupt wollte, nachdem die Ermittlungen auf Druck von oben hin eingestellt waren. Rutherford gab die Erklärung von allein. »Wir müssen etwas tun, um die Bevölkerung ruhig zu halten. Dazu gehört, dass wir wenigstens den Tatbestand aufnehmen. Finden Sie es nicht auch überwältigend? Durch die Doppelfenster!« Das war es also. Rutherford wollte aus erster Hand sehen, was das Ding anstellte. Neugier und Eitelkeit. Field wurde das Gefühl nicht los, ein alles verschlingende Gespenst sei bei weitem nicht die böseste Macht, mit der man auf dieser Welt konfrontiert werden kann. Er benutzte die erste Gelegenheit, um sich mit seinem Sergeanten in eine ruhige Ecke zu verdrücken. 52
»Das war das erste Mal, das jemand aus einem geschlossenen Raum verschwand, in dem sich niemand anders aufhielt. Wenn ich mich richtig erinnere, wenigstens.« »Richtig, Sir.« Der dicke Budd blätterte sein speckiges Notizbuch durch. Bei allen anderen Fällen hatte jemand das Verschwinden unmittelbar festgestellt und gemeldet. »Sofern uns alles gemeldet wurde, Sir. Die Gleichgültigkeit der Menschen ist wirklich erschreckend. Diese Leute hier hätten sich nie gemeldet, wenn sie sich nicht über eine vermeintlich falsche Zeitungsmeldung aufgeregt hätten.« Field dachte nach. Die Ansicht seines Sergeanten ergab einen Sinn. Und auch wieder nicht. Was auch immer die Menschen verschwinden ließ, bisher hatte es dafür gesorgt, dass sein Wirken auffiel. Miss Attenborough fiel nicht nur dadurch aus dem Rahmen, das sie geschrieen hatte. Der Inspektor verdrückte sich, ehe die Fernsehleute eintrafen. Er würde am Abend auf dem Bildschirm sehen können, wie Rutherford sich vor der Linse räkelte. »Diesmal hat er sich getäuscht«, sagte er auf der Straße zu Rawlings. »Das Ding?« »Der Super. Wenn ich Zeit finde, weis ich es ihm nach.« Die alte Frau hinter der Kinokasse wies den beiden selbst den Weg zu ihren Plätzen. Viel schien der Kasten nicht mehr abzuwerfen. Nachdem Fields Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er, dass sie die beiden einzigen Gäste waren. »Dabei fällt mir auf, er macht nie Bingo-Abende.« Unwillkürlich senkte Rawlings seine Stimme zu einem Flüstern. Die meisten englischen Kinos lassen an drei Wochentagen die Leinwand dunkel und veranstalten eine Art Glücks- oder Geschicklichkeitsspiel, eben Bingo. Anders kommen sie nicht daran vorbei, von einem Supermarkt aufgekauft zu werden. »Vielleicht finden wir heraus, wie er zu seinem Geld kommt«, flüsterte Field zurück. »Kommen Sie, wir sehen uns einmal um.« 53
Oben auf die Galerie konnten sie nicht. Der Weg zur Treppe führte an der Kasse vorbei durch den Vorraum. Rechts und links neben der Leinwand führten Türen zu den Toiletten und Ausgängen. Das Kino war auch für Theateraufführungen eingerichtet. Vor der Leinwand erstreckte sich eine kleine, erhöhte Bühne. Ein Treppchen führte hinauf. Neben dem Treppchen entdeckte Field eine kleine Tür. »Es ist dumm, was wir machen. Vermutlich quietscht das Ding wie ein Sägewerk und dahinter finden wir nichts als alte Stühle und Spinnweben.« Ein Teil von Fields Voraussage ging auf. Sie fanden Spinnweben. Aber die schmale Tür quietschte nicht. Im Gegenteil. Jemand hatte sich ausgiebig mit dem Ölkännchen an den Angeln betätigt. Von dem Klingelsignal, das ihr Eindringen auslöste, konnten die beiden Männer nichts ahnen. Sie fanden Spinnweben und Stühle. Allerdings lagen die Stühle nicht in einem wirren Haufen, sondern sie standen sauber ausgerichtet in dem gerade mannshohen Raum unter der Bühne. Weder Rawlings noch Field stellten sich die nächstliegende Frage. Warum war es hier unten nicht dunkel? Die Stuhlreihen waren ausgerichtet wie in einer Kirche. Doch vorn stand kein Altar. Wenigstens keiner im herkömmlichen Sinn. Die Stuhlreihen waren auf einen altmodischen, schweren schwarzen Sarg hin ausgerichtet. »Ein Meisterstück britischer Tischlerkunst«, versuchte Rawlings zu scherzen. »Genau das«, erwiderte Field mit vollem Ernst. »Das ist ein echter Turner.« »Sie meinen den Kommoden-Turner?« England war von jeher reich an Meistern des Möbelbaus gewesen. Die alten Stücke aus dem letzten Jahrhundert holten seit Jahren auf Versteigerungen Irrsinnspreise. Um die wenigen, aus dem 18. Jahrhundert stammenden Stücke des Kentischen Tischlers Turner schlugen sich die Sammler beinahe, wenn sie auf den Markt gerieten. Rawlings konnte Stilmerkmale erkennen, wenn man ihn darauf hinwies. Er untersuchte die Kanten des Sarges. 54
»Turner hat Särge gebaut? Ich kann es kaum glauben.« »Nicht für jeden. Man pflegte auch nicht darüber zu sprechen. Es gab aber zwei oder drei Jahrzehnte, in denen sich kaum ein Angehöriger des höheren Adels bereit gefunden hätte, die Augen für immer zu schließen, ohne dass er sich seines echten Turner sicher gewesen wäre. Manche vorsichtigen Earls ließen sich ihre Särge noch zu Lebzeiten anfertigen.« »Davon dürften wir einen vor uns haben.« »Gut beobachtet. Dieser Sarg war nie in der Erde.« »Sollte das heißen, der Besitzer hat ihn nie benutzen müssen?« »Er ist jedenfalls nie darin beerdigt worden. Das ist das einzige, was bis jetzt feststeht.« Field strich mit den Fingern über das Holz. Sie blieben an einer leichten Unebenheit hängen. »Sehen Sie, denen war er also zugedacht.« Er wies auf die mit dem Auge kaum wahrnehmbare Einlegearbeit. Das Wappen einer der ältesten Adelsfamilien aus dem gesamten Vereinigten Königreich. Rawlings erbleichte. Er kannte die Geschichte der Familie ebenso gut wie jeder Engländer. »Sagt man denen nicht Vampirismus nach?« »Welcher alten Familie sagt man nicht dieses oder jenes nach. Packen Sie mal mit zu.« »Sie wollen doch nicht etwa?« »Natürlich, wozu sind wir sonst hier?« Field ließ seinem inzwischen nicht mehr ganz freiwilligen Helfer keine Chance. Rawlings musste mit anpacken. Der Sargdeckel klappte hoch. Die beiden Männer hatten mit etwas Ungeheuerlichem gerechnet. Trotzdem erstarrten sie bei dem Anblick. In dem Sarg lag, gekleidet, als hätte er eben Gäste in der Halle seines Schlosses empfangen, ein typischer Vertreter der Adelsschicht aus der Zeit vor 200 Jahren. Die Nase und vor allem die unverkennbaren Mundwinkel wiesen auf einen Wintersham hin. Kein bläulicher Leichenfleck, kein bräunlicher Zeuge vor Fäulnis störte den makellosen Anblick des scharf geschnittenen Gesichtes. Der Körper lag bewegungslos. Kein Atemzug bewegte die schmale Brust. 55
Die Hände mit den langen, kräftigen Fingern lagen auf der Brust. Nicht gefaltet, wie Rawlings bemerkte. Die Lippen schienen sich über den kräftigen Zähnen zu spannen, als würden sie Fangzähne verbergen. »Der verschwundene Edward«, flüsterte Rawlings ehrfurchtsvoll. Er trat einige Schritte zurück. »Wer?«, fragte Field. Er schien sichtlich erstaunt darüber, dass Rawlings den Mann im Sarg offenbar kannte. »Der verschwundene Edward. Ich habe nie daran geglaubt.« Field verstand noch immer nicht, worum es gehen konnte. »Passen Sie auf. Wenn ein Junge aus Australien auf eine der besseren englischen Schulen kommt, dann haben die anderen Boys kaum etwas anderes zu tun, als den vermeintlich Halbwilden mit allerhand märchenhaften Geschichten aufzuziehen. Der junge Wintersham war mein Stubenkamerad. Eines Nachts erzählte er mir unter dem Siegel tiefster Verschwiegenheit von dem verschwundenen Edward. Bei dem alten Mann ging es ans Sterben. Davon, dass er sich einen Sarg bei Turner hatte machen lassen, erwähnte mein Stubenkollege kein Wort. Die Familie war versammelt, der alte Herr in einem großen Saal auf einem hohen Lager aufgebahrt. Alle halbe Stunde ging der älteste Sohn hinein, um nachzusehen, wie sich die Sache entwickelte. Der Alte wurde immer schwächer, doch er dachte nicht daran, diese Welt zu verlassen, wie mein Freund sich ausdrückte. Drei Tage lang ging das so. Dann ging der junge Edward wieder mal nach dem alten Edward sehen. Siehe da, der alte Edward war weg. Er ist nie wieder aufgetaucht. Damit sie wenigstens ein anständiges Begräbnis feiern konnten, haben Sie einen ihrer Pächter erschossen und in den Sarg gelegt. So hat es mir wenigstens der jetzige Edward erzählt. Ich war natürlich starr vor Ehrfurcht, bis ich dahinter kam, dass unser guter Eddie es mit der Wahrheit nicht so ganz genau zu nehmen pflegte. Deshalb wartete er auch gar nicht erst ab, bis man in Oxford wieder einmal Examenszeit hatte, sondern verließ das College nach einer un56
durchsichtigen Sache. Inzwischen hat er sich bis zur rechten Hand des Innenministers emporgearbeitet. Aber an der Sache mit dem spurlos verschwundenen Urahnen scheint doch etwas dran gewesen zu sein.« In Fields Hirn klickten nur die Begriffe ›spurlos verschwunden‹ und ›Innenminister‹. Die Menschen, denen er nachspürte, waren ebenfalls spurlos verschwunden. Das Innenministerium hatte die Ermittlungen einstellen lassen. Sollte dieser Edward seinen Einfluss geltend machen, um einen Schmutzfleck auf dem Familienwappen zu decken? Das würde an ein Verbrechen grenzen. Field ließ den Sargdeckel sinken. Er wusste nicht, wie viel Zeit ihnen zur Verfügung stand. Der Raum unter der Bühne, war nicht eine Abstellkammer, in die jemand eine unerwünschte Leiche schob. Die Anordnung der Stühle, der Aufbau des Sarges, die eigentümlichen Einrichtungsgegenstände, alles sprach dafür, dass hier eine okkulte Gemeinde ihre makabren Treffen abhielt. In einem Kasten hinter dem Sarg entdeckte Field dreißig weite, schwarze Umhänge. In die Kapuzen hatte man große Augenlöcher geschnitten und sie mit schwarzer Gaze überdeckt. Der seidige Stoff trug silbern gestickte Initialen. »Hier steckt noch mehr dahinter!«, rief Rawlings aus einer Ecke. Er hatte Peitschen, stählerne Fesseln und einen Stock entdeckt, dieses niederträchtige Gerät, in das Hals und Handgelenke betrügerischer Marktfrauen eingeklemmt wurden, damit jeder sie sonntags auf dem Dorfplatz besichtigen durfte. »Die besten Zeitgenossen scheinen sich hier nicht zusammenzufinden.« Field unterdrückte die nahe liegende Frage, ob die eigenartige Gemeinde auch dazu neigte, ihrem verehrten Leichnam im Sarge Opfer zukommen zu lassen. Erst als das indirekte Licht erlosch, wurde den beiden Männern klar, dass der Raum nicht so dunkel gewesen war, wie man es hätte erwarten sollen. Vom Sarg her wurden leise, schlurrende Schritte hörbar. Field zog den Reporter an der Hand mit sich. Die beiden Männer umkreisten die Stuhlgruppe. Die schlurfenden Schritte folgten ihnen. 57
Field brach kalter Schweiß aus. Sollte das das Ende sein? Niemand würde wissen, wohin er mit dem Reporter gegangen war. Wenn sie beide verschwanden, gäbe es niemanden, der die schwache Spur aufnehmen könnte. Der Inspektor bedauerte, nicht wenigstens Budd informiert zu haben. Die Schritte entfernten sich. Eine Tür klappte leise zu. Mit angehaltenem Atem lauschten Field und der Reporter. Fünf Minuten vergingen, ohne dass man ein Geräusch vernahm. Dann ließ Field seine Taschenlampe aufleuchten. Der Raum war unverändert. Noch einmal stemmten die beiden Männer den Sargdeckel hoch. Der Körper lag unverändert. Doch der tanzende Strahl der Taschenlampe verlieh dem Gesicht ein eigenartiges, unheimliches Leben. Angstschweiß überzog die Hände des Reporters. Der Deckel entglitt ihnen. Mit dumpfem Poltern fiel er zurück auf den Sarg. Der Boden schien zu vibrieren. Wieder lauschten die beiden Männer mit angehaltenem Atem. Dann lachte Field leise. Er gab sich keine Mühe mehr seine Stimme zu dämpfen. »Ist Ihnen nicht aufgefallen, dass wir von dem ganzen Radau des Films nichts hören? Der Raum ist ganz ausgezeichnet gegen Geräusche isoliert. Da dringt kein Laut nach draußen. Wir können so oft mit Sargdeckeln klappern, wie wir wollen.« »Oder so oft um Hilfe rufen, wie wir wollen«, sagte Rawlings düster. Er tastete sich zur Tür. Sie war verschlossen. Noch nicht einmal der Drehknopf des Drückers ließ sich öffnen. Field biss sich auf die Lippen, um eine aufsteigende Panik zu unterdrücken. Die Entdeckung des Reporters hatte ihn mehr erschreckt, als er eingestehen wollte. Field saß nicht zum ersten Male in einer Falle. Die Gesellschaft eines anscheinend 200 Jahre alten, gut erhaltenen Leichnams und eines Wesens, das tappend durch einen dunklen Raum schleicht, waren aber nicht dazu angetan, ihn die Angelegenheit auf die leichte Schulter nehmen zu lassen. 58
Von hier also waren Dale und Brandish in Todesangst geflüchtet. Field hatte Verständnis für sie. Er wäre ebenfalls liebend gern gerannt, was die Beine hergaben. Doch dem standen zwei Hindernisse entgegen. Der Ausgang war versperrt. Außerdem hatte Flucht den beiden nicht geholfen. Im Gegenteil. Wenn es auch gegen alle natürlichen Reaktionen anging, es war besser, in diesem unheimlichen Raum auszuharren und zu beobachten, was sich entwickelte. Es gab keine Tür. Aber es gab eine Stahlplatte im Fußboden, direkt hinter dem Sarg. Daher waren die Schritte gekommen. Field atmete auf. Wenigstens dieses Rätsel schien gelöst. Die Stahlplatte hatte zwar einen Griff wie die Falltür hinter dem Tresen eines alten Kaufmannsladens, doch sie ließ sich nicht anheben. Weder Schlüssel noch Riegel waren zu sehen. »Wie kommt der Kerl hier heraus und macht die Klappe zu, ohne sie abzuschließen?«, wunderte sich Rawlings. »Keine Ahnung. Aber wir sollten zusehen, dass wir uns in Sicherheit bringen.« Er leuchtete nach oben. Die Taschenlampe verhielt sich wie alle Taschenlampen. Ihre Batterie wurde müde. Der schwache Strahl beleuchtete direkt über der Stahlplatte ein falltürähnliches Gebilde in der Decke. »Da hätten wir auch eher drauf kommen können. Natürlich haben die in allen Bühnen Löcher. Schon im Interesse der Zauberkünstler und anderer Trickspieler.« Die Taschenlampe tat vor ihrem endgültigen Erlöschen ein weiteres gutes Werk und beleuchtete die unauffälligen Stufen einer Art Eisenleiter. Die Leiter war weder bequem noch entsprach sie den Mindestanforderungen an die Sicherheit. Doch in einer solchen Situation fragt Field nur unter gewissen Vorbehalten danach. Er hangelte sich hinauf. Mit einigen Verrenkungen konnte er die Klappe erreichen. Ein Riegel ließ sich mit gewissem Kraftaufwand zurückschieben. Doch die Klappe blieb fest. Field konnte sich vorstellen, woher der zähe Widerstand kam. Über der Klappe lag ein schwerer Teppich. Also war auch dieser Ausgang versperrt. 59
Vorsichtig, um sich in der Dunkelheit nicht das Genick zu brechen, kletterte der Inspektor wieder hinunter. Der Reporter war sichtlich froh, wieder Gesellschaft in dem unheimlichen Raum zu haben. Aus einer undefinierbaren Richtung hörten sie, wie ein Schlüssel in einem rostigen Schloss gedreht wurde. Das passte nicht zu den übrigen, übermäßig gepflegten Einrichtungen des Raumes, in dem sie gefangen waren. Es konnte Hilfe bedeuten. Es konnte auch bedeuten, dass eine noch größere Gefahr drohte. * Die Hitze des Filmprojektors drang durch die Wand bis in den kleinen Raum. Zwei Männer saßen an dem leeren Holztisch. Sie starrten wortlos vor sich hin. Der eine strich hin und wieder über eine Galerie von Hebeln und Lämpchen auf einer Konsole. »Sie sind drin. Ich habe sie gesehen«, brach endlich einer das Schweigen. »Hauen wir ab?« »Quatsch. Bis jetzt kann uns kein Mensch etwas nachweisen. Und wenn. Es ist ja nicht verboten.« »Hast du eine Ahnung. Woraus die einem alles einen Strick drehen!« »Und was machen wir mit denen?« »Wenn wir abhauen, lassen wir sie drin. Die haben sicher ein Taschenmesser. In zwei Wochen haben sie sich durch die Tür geschnitzt.« »Mach keinen Quatsch. Der eine ist ein Bulle. Wenn der verreckt, ist die Hölle los.« »Was denn?« »Die pennen ja auch mal ein. Dann ganz leise die Tür auf und nichts wie weg.« »Du weißt ja, ich kann mich nicht frei entscheiden.« »Das ist dein Problem. Damit habe ich nichts zu tun.« »Mensch, lass mich doch nicht hängen in der Sache.« 60
»Gehängt wird hier keiner mehr. Ich habe dir immer gesagt, du kassierst, du trägst das Risiko, außerdem ist es dein Kino. Ich halte mich da raus. Übrigens konnte ich den Kerl nie leiden.« »Mir ist er auch unheimlich geworden.« »Aber sein Geld nimmst du.« »Die paar Kröten!« Der Pächter des Kinos und der Mann, der offiziell bei ihm als Vorführer beschäftigt war, brüteten wieder vor sich hin. Es hatte keinen Zweck, sich in dieser Lage auch noch zu streiten. Ihre Aussichten wurden sowieso von Stunde zu Stunde geringer. »Mensch, nimm Vernunft an. Wir verduften. Wenn uns die Bullen nicht am Wickel packen, dann haben wir die Gemeinde auf dem Hals. Ich weiß nicht, was von beidem übler für uns ausgeht.« »Ich weiß nur, was noch schlimmer wäre.« »Was?« Der Pächter des Kinos machte eine bezeichnende Handbewegung. »Du weißt schon, was ich meine. Dadurch sind sie ja auf unsere Spur gekommen.« Der Vorführer wurde bleich. Er deutete mit dem Zeigefinger nach unten. Er begann, zu zittern. Zwar hatte er sich schon immer seine Gedanken gemacht. Aber damit hatte er nicht gerechnet. Jetzt verstand er die Angst des Chefs. »Dann erst recht. Weg, was das Zeug hält.« »Du weißt doch selbst, dass es keinen Zweck hat. Er erwischt einen, wo es ihm Spaß macht.« Die Vorstellung, als nächste von einem Augenblick zum anderen von diesem Erdball verschwunden zu sein, fraß sich den beiden Männer immer tiefer ins Bewusstsein; sie waren dabei, die Nerven zu verlieren. Der Filmprojektor lief längst leer. Doch niemand pfiff im Zuschauerraum. Die weiße Leinwand blieb unbemerkt. Denn wie an fast jedem Nachmittag war der große Saal leer. »Wollen wir für heute Abend absagen?« 61
»Unmöglich, Chef. Du kennst die Kerle doch. Sie rennen uns die Bude ein. Sind welche dabei, die lassen uns hochgehen, nur vor Wut, wenn wir aufhören.« »Und die beiden im Tempel?« »Mit dem ›Tempel‹ war der Raum unter der Bühne gemeint. »Im Grunde haben die nichts anderes gemacht, als einen gewaltigen Hausfriedensbruch begangen. Besprich das mal mit deinem Winkeladvokaten, diesem Kaufmann. Der wird dir einen Tipp geben. Nur frech sein. Schmeiß sie raus. Oder drohe ihnen mit der Polizei. Oder noch besser. Schreib ihre Namen und Adressen auf und versprich ihnen, du willst es für diesmal gut sein lassen. Was meinst du, wie die flitzen.« Der Kinopächter ließ sich das durch den Kopf gehen. Es klang gar nicht so übel. Wenn ihm jemand gut zuredete, fasste er leicht wieder Mut. Möglicherweise konnte man die Sache noch einmal gerade biegen. Wenn Zeit gewonnen war, ließ sich auch noch der nächste Monatsbeitrag von den Leuten einstreichen, die sein Vorführer mit ›Gemeinde‹ bezeichnet hatte. Er ging in sein Büro und rief den Anwalt an. * Ein schmaler Lichtkegel zuckte durch den Raum unter der Bühne. Er tastete von Winkel zu Winkel und von Ecke zu Ecke. Leicht zitternd stach er unter den Stuhlreihen hindurch. Im ganzen Raum war kein Schritt zu hören. Trotzdem, es bewegte sich jemand. Dicht unterhalb der Decke krallten sich Gerald Field und der Reporter an den Eisenstufen fest. Der versperrte Ausgang nach oben schien dem nicht bekannt zu sein, der jetzt den Raum absuchte. Die beiden Männer waren sicher, dass er es auf sie abgesehen hatte. Der Unbekannte schlich lautlos durch den Raum. Allenfalls ein Schatten war von ihm zu erkennen, allerdings ins Riesenhafte verzerrt. Field legte seinem Begleiter beruhigend die Hand an die Schulter. Er hatte bemerkt, wie der Körper des Reporters sich straffte. Rawlings war noch jung. Er glaubte daran, man könne ein Problem aus der Welt schaffen, in dem man dem Gegner ins Genick sprang. 62
Meist schuf man sich damit erst die Probleme. Es sei denn, es war nur ein einzelner Gegner und der war unterlegen. Doch für diese günstige Voraussetzung gab es hier keinerlei Beweis. Der Unbekannte stieß einen leisen Fluch aus. Dann folgte ein unverständliches Gemurmel. Einige Worte waren zum Schluss wieder zu verstehen. »Ich hätte beeiden können, dass hier außerhalb der üblichen Zeit jemand aufhältig ist.« Der Lichtstrahl zeigte jetzt auf eine Tür, die weder Field noch Rawlings bisher bemerkt hatten. Mann und Lampe verschwanden. Die Tür schloss sich mit demselben langsamen Knarren, mit dem sie sich geöffnet hatte. Der unheimliche Raum unter der vermutlich nie benutzten Bühne lag wieder so dunkel und still wie zuvor. »Eigenartig«, sagte Rawlings. »Ich hatte schon immer etwas gegen Leute, die mit sich selbst sprechen. Aber wenn einer mutterseelenallein vor sich hin brabbelt, wie ein kleiner Finanzbeamter vor seinem großen Chef, dann stimmt bei dem was nicht.« Field gab ihm vorerst keine Antwort. »Oder meinen Sie nicht?«, fragte der Reporter deshalb. Field lachte unterdrückt. »Haben Sie schon mal Urlaub auf dem Kontinent gemacht?« »Warum?« »Dann wollten Sie sicher auch einmal einem verdammten Kellner sagen, sie hätten ein Steak bestellt und keinen Autoreifen. Er könne das verdammte Ding zusammenrollen und zurück in die Küche schieben, sofern er Freude daran hat. Und was gibt Ihr Sprachführer her? Ich halte diese Speise nicht unbedingt für schmackhaft, mein Herr.« »Sie meinen, das war ein Ausländer?« »Auf jeden Fall hat er sein Englisch aus einem Wörterbuch. Übrigens nicht gerade aus dem besten.« »Warum quatscht er nicht in seiner Sprache?« »Weil er zu lange hier ist, um überhaupt noch auf diesen Gedanken zu kommen.« »Und welche Schuhgröße hat er, Mr. Sherlock Holmes?« 63
Field war noch nicht einmal beleidigt. Auch mit seinen jungen Inspektoren-Anwärtern musste er sich oft genug in Geduld üben. »Das waren alles völlig legitime Schlüsse, Mr. Rawlings. Ich kann Ihnen noch etwas sagen. Entweder stammt er aus einem Land, aus dem es kaum Emigranten in England gibt. Doch so ein Land scheint es auf diesem Globus kaum zu geben, wenn man unserer Ausländerstatistik glauben kann. Oder er hält sich von seinen Landsleuten fern.« »Deswegen spricht er nur Englisch, auch wenn es noch so miserabel ist. Das leuchtet ein.« »Sehen Sie, man muss nur von selbst auf die Dinge kommen, die einem einleuchten.« Darin lag endlich der verdiente leichte Spott. In Rawlings Gehirn war etwas in Bewegung geraten. Ihm war doch ein Mann aufgefallen, der sich schwatzend unangenehm bemerkbar machte. Irgendwie hatte auch der sich nicht ganz flüssig ausgedrückt. Aber wenn er Zuhörer hatte, konnte dieser Ausländer sich ja bemühen und nur die Sätze benutzen, die er sicher beherrschte. Wo ihm der Mensch aufgefallen war, konnte Rawlings ums Verrecken nicht sagen. Dafür war er wieder zu nichts sagend gewesen. »Sollen wir hier oben sitzen bleiben, wie die Affen auf der Stange, bis uns einer pflückt?« »Bis uns etwas einfällt, werden wir schon hier bleiben. Ich habe keine Lust, mich hier erwischen zu lassen. Rutherford reißt mir die Ohren ab und diesmal sogar zu Recht.« Die Überlegungen, was man tun sollte, wurden schnell unterbrochen. Die Tür zum Kinosaal flog auf. Sie knallte wieder ins Schloss. »Ihr Lausebengels, verdammte, wollt Ihr machen, dass Ihr wegkommt, oder soll ich die Polizei rufen?« Das Licht flackerte auf. Zum zweiten Male innerhalb von zehn Minuten kam jemand nicht auf den Gedanken, dass jemand sich in der Höhe verborgen haben könnte. Ein dicklicher Mann in grauem Kittel durchstöberte jeden Winkel. Er öffnete sogar den Sarg, überzeugte sich, dass außer der bekannten Leiche niemand darin lag und klappte den Deckel wieder zu. 64
Achselzuckend verließ er dann den Raum wieder. Field spitzte die Ohren. Die Tür fiel zu. Aber sie wurde nicht abgeschlossen. »Kommen Sie. Nichts wie raus. Ich habe langsam den Eindruck, wir sitzen hier in einem Irrenstall. Das ist schlimmer, als wenn man es mit einem Mörder zu tun hat.« Die beiden hangelten sich die Eisensprossen hinunter und eilten die wenigen Stufen hinauf, die zu der Tür führten. Mit zitternden Fingern griff Field nach dem Drehknopf. Er ließ sich bewegen. Millimeterweise öffnete er die Tür. Er linste lange in den halbdunklen Zuschauerraum, ehe er sich durch den Spalt zwängte. Rawlings folgte ihm unmittelbar. Dicht an die Bühne gepresst schlichen die beiden zu dem nächsten Ausgang. Die feuchte Luft des dämmerigen Spätnachmittags erschien ihnen köstlich erfrischend nach dem Aufenthalt in dem stickigen Gemäuer, das durch den schwarzen Sarg nicht im Geringsten gemütlicher wurde. Sie hörten nicht das hässliche Lachen hinter sich. Die Türen und Wände des Kinos waren zu gut gegen Geräusche isoliert. Sie hätten es auch nicht deuten können. In dem halbdunklen Raum, von den Sitzreihen zurückgeworfen und verfälscht, klang es unheimlich wie Teufelsgelächter. Doch es drückte nichts anderes aus, als eine unbeschreibliche Erleichterung. »Hier hat es also den guten Dale erwischt«, sagte Field. Sie standen am Rand des Cricket Grounds. Bis zum Fundort der halben Leiche waren es nur wenige Schritte. Sie umrundeten den Häuserblock, quetschten sich durch den engen Durchgang an der Bahnlinie und schwenkten nach links ab, die Alexandra Avenue hinunter. Field führte den Reporter zu dem Cafe gegenüber dem Kino. Eine große Tasse Tee hatten sie beide verdient. »Was stellen Sie sich darunter vor?«, fragte Field seinen Begleiter. Der schien nur auf die Gelegenheit gelauert zu haben. Er platzte mit seiner Theorie heraus wie ein Schuljunge, der zufällig die Lektion auswendig gelernt hatte. »Das Kino ist nur ein Deckmantel. Jemand finanziert es, um unauffällig einen Raum benutzen zu können. Nach dem, was mein Schul65
kamerad mir erzählt hat, ist er gerissen genug, seinen Ahnherrn vom Schloss zu entfernen. Ich habe keine Vorstellung davon, wie man einen Vampir wegschafft, aber ich stelle mir vor, wenn man seinen Sarg abtransportiert, dann musste er mit. Der junge Wintersham dürfte ganz andere Dinge im Sinn haben, als Spuk auf seinem Schloss zu dulden. Stellen Sie sich, vor, er hat den Minister zu Besuch und morgens finden sie jemanden mit durchbissener Kehle. Andererseits plant der gute Edward auch genau voraus. Er kann nicht wissen, ob er so ein Familiengespenst noch einmal benötigt. Also lässt er den alten Knaben nicht austreiben, sondern legt ihn praktisch hier im Kino auf Eis. Vermutlich lockt der eine Spuk die anderen nach. Sie treffen sich an festgesetzten Abenden unter der Bühne und halten ihr schauerliches Mahl. Der Kinopächter schlottert jetzt vor Angst. Wenn er die Sache weiter gehen lässt, kommen ihm die Behörden früher oder später auf den Hals. Wenn er macht, was sich für einen Staatsbürger gehört, also sich an die Polizei wendet, dann kommen ihm früher oder später die Vampire an den Hals. Ich weiß nicht, was angenehmer für ihn ist.« »Zweifellos die Behörden. Abgesehen von der Finanzverwaltung pflegen sie nicht unfreundlich zu sein. Aber wissen Sie auch, was Sie jetzt gerade gefunden haben?« »Die Lösung dieses Falles.« Rawlings lächelte stolz. Field lächelte ebenfalls. Aber sehr fein und mehrdeutig. Er sah keinen Grund, dem Reporter dieses Ergebnis von Wahrheit, Fehlbeobachtung, falschen Schlüssen und übersehenen Tatsachen um die Ohren zu schlagen. »Sie haben das Material für einen Bericht zusammengestellt, nach dem sich Ihre Leser sicher alle zehn Finger lecken werden. Aber das Geheimnis der verschwundenen Menschen aufzuklären, ist doch noch etwas schwieriger.« »Das heißt, ich kann meine Überlegungen auf den Müllhaufen werfen«, sagte Rawlings niedergeschlagen. 66
Field schien gar nicht zu reagieren. Er starrte durch den Reporter hindurch. Geistesabwesend zog er seine Tabakschachtel aus der linken Jackentasche und begann, sich mit der linken Hand ein vollendet rundes Stäbchen zu drehen. Man musste schon näher mit dem Inspektor befreundet sein, um zu erfahren, dass er eigentlich ein Linkshänder war. Unvermittelt sprang er auf. Er schlug Rawlings auf die Schulter. »Auf den Müllhaufen werfen. Das kann doch jeder Portier, nicht wahr? Manchmal haben Sie schon brillante Ideen, mein Junge.« Field riss seinen Mantel vom Haken und war aus der Tür, ehe Rawlings auch nur ein Wort äußern konnte. Beispielsweise den Inspektor an eine alte Sitte erinnern. Wenn man schon jemanden zum Tee einlädt, dann bezahlt man wenigstens seine eigene Tasse. Seufzend holte der Reporter seine Geldbörse hervor. Er hielt inne. Irgendwo musste er den Nachmittag verbringen, den Abend ebenfalls. Das Cafe war nicht schlechter als andere Plätze. Außerdem hatte man von hier aus einen guten Blick auf das Kino. * Krankgeschrieben oder nicht, Field brachte das Fußvolk im Yard auf Trab. Er gestand es sich ein. Es ging ihm dabei weniger darum, einen der unzähligen Morde aus dem gehobenen Spülsteinmilieu aufzuklären. Da konnte man zwischen Opfer und Schuldigem für seine Begriffe sowieso zu schwer unterscheiden. Field war es seinem Selbstbewusstsein schuldig, Rutherford, diesem großmäuligen Schreibtischhocker, eins auszuwischen. Er war sich über diese miese Regung völlig klar. Doch weil sie obendrein im Interesse der Polizeiarbeit lag, gab er ihr nach. Nach zehn Minuten wusste er, wo der Müll aus der Umgebung von Rayners Lane Station abgeladen wurde. Weitere zehn Minuten später waren drei Tieflader mit Planierraupen unterwegs zu dem Feld kurz vor Uxbridge. Eine ausgebeutete Kiesgrube wurde dort mit Hausmüll aufgefüllt. 67
Die schweren Diesel liefen an. Drei Raupenfahrzeuge bewegten sich langsam von den Transportwagen. Scheinwerfer blitzten auf, denn inzwischen war es dunkel geworden. Die Männer auf den Raupen waren Spezialisten. Zentimeter um Zentimeter hoben sie die Müllschicht ab. Field ging nervös auf und ab. Er sank bis zu den Knöcheln in die stinkende Masse. »Sie können es aufgeben«, sagte der Platzmeister. »Wir arbeiten hier verhältnismäßig sorgfältig. Wo Sie suchen, liegt schon der Müll der letzten Woche.« Field, knirschte mit den Zähnen. Welcher Teufel hatte ihn geritten. Er war seiner Sache so sicher gewesen. Im Grunde war er immer noch sicher. Er überprüfte sein Gedankengebäude. Die Bemerkung des Reporters über Müll hatte ihn nicht auf den Holzweg geführt. Ein Fluch entfuhr ihm. Field schlug sich auf die Stirn. Er hatte einen Anfängerfehler begangen, wie man ihn kaum verzeihen konnte. Zum Glück war das außer ihm noch keinem anderen aufgefallen. Die jungen Leute, denen er etwas beibringen sollte, würden sich vor Lachen über den alten Trottel Field biegen. Am besten, er wagte die Flucht nach vorn. »Sehen Sie meine Herren, hier haben wir das typische Ergebnis einer überstürzten Aktion. Ich habe eine richtige Frage gestellt, ich habe auch eine richtige Antwort erhalten. Weil ich eine Frage zuwenig gestellt habe, ist dieser ganze Zirkus angelaufen, der den Steuerzahler eine Menge Geld kostet. Wir sollten alle daraus lernen. Ich habe gefragt, wohin der Müll gebracht wird. Ich habe nicht gefragt, wann man ihn abholt. Das holen wir jetzt nach.« Das Gespräch durchlief einen Instanzenweg. Vom Auto zur Zentrale, von dort über die normalen Telefonleitungen zum Fuhrpark der Müllabfuhr, von dort zum Privatanschluss des Einsatzleiters. Die Antwort gab Field neuen Auftrieb. An dem Haus, für das er sich interessierte, war der Müllwagen drei Tage lang nicht gewesen. »Kommen Sie meine Herrn. Ich fürchte, uns erwartet ein unangenehmer Anblick.« 68
Sie erreichten Merlins Mansions innerhalb von zehn Minuten. Die Kavalkade von schwarzen Polizeiwagen erregte wieder die Aufmerksamkeit der Bewohner. Das führte wirklich zu weit. Zweimal am Tag die Polizei. In welcher Zeit lebte man eigentlich? Die Wagen stoppten direkt neben den beiden Müllcontainern an der Rückseite des Hofes, die Scheinwerfer auf die Klappen gerichtet. In einer Ecke standen Gartengeräte. Field wies seine uniformierten Mitarbeiter darauf hin. Die Bobbys schnappten sich die Harken und Schaufeln. Im Licht starker Handscheinwerfer begann die Suche in den großen Müllkästen. Auf den Balkons von Merlins Mansions standen die neugierigen Hausbewohner. Zwei, drei Ratten sprangen aus dem Stahlblechkasten. Eine Tür zu ebener Erde öffnete sich. Field kannte den Eingang zur Wohnung des Hausmeisters. Der alte Portier näherte sich, begleitet von einem etwa zwanzigjährigen Mann. »Was zum Teufel treiben Sie denn hier?« »Wir durchsuchen die Müllkästen«, beantwortete Field geduldig die Frage des Jungen. »Darf ich fragen, ob Sie einen Durchsuchungsbefehl besitzen?« »Gern. Fragen Sie nur, junger Mann.« Wenn jemand ihm auf den Wecker ging, konnte Field eine zynische Freundlichkeit an den Tag legen. Der alte Hausmeister versuchte zu vermitteln. »Mein Neffe reagiert manchmal ein wenig heftig, wenn er Polizeiuniformen in der Nähe sieht.« »Vielleicht hat er einen Grund dazu«, feuerte Field einen Schuss ins Blaue. Der junge Mann verdrückte sich unauffällig in Richtung Ausfahrt. Field machte eine Kopfbewegung, die seine Leute sofort verstanden. Sie stellten sich rechts und links neben dem Neffen des Hausmeisters auf. »Sie wollen sich doch dieses Schauspiel nicht entgehen lassen. Wann haben Sie schon einmal Gelegenheit, Bullen im Dreck wühlen zu sehen, wie Sie sich wohl ausdrücken würden?« 69
Nur für den jungen Mann hörbar, setzte er noch eine gemurmelte Überlegung hinzu. Sie gehörte zu seinen psychologischen Tricks, mit denen er seine Verdächtigen weich kochte, ohne sie erkennbar anzugreifen. »Wann hat der arme Kerl überhaupt noch Gelegenheit, etwas zu beobachten?« Einer der beiden Müllcontainer war durchsucht. Die vier Klappen fielen dröhnend zu. Die uniformierten Beamten wandten sich dem zweiten Kasten zu. Doch die Widerstandskraft des jungen Mannes war gebrochen. Er schrie auf. »Nein! Lassen Sie sie drin! Ich kann sie nicht noch einmal sehen!« Sein Schrei hallte von den Wänden des großen Wohnhauses wider. Fassungsloses Kopfschütteln auf den Balkons. Was mochte die Polizei suchen? Und was konnte der junge Ralph nicht noch einmal sehen? »Wollen Sie lieber gestehen?«, fragte Field. Ralph hing zwischen den beiden Inspektorenanwärtern. Die drei jungen Männer waren etwa gleich alt. Doch ansonsten trennten sie Welten. Field spuckte aus. Ralph hatte sich nun einmal auf die andere Seite begeben und er musste gegen ihn vorgehen. In der vertrauten Atmosphäre der kleinen Portierwohnung konnte Ralph die Tränen nicht mehr zurückhalten. Tränen der Wut, der Angst und der Enttäuschung. »Dieses Schwein. Dieses verlogene, versaute, erpresserische Schwein. Sie tut mir noch nicht einmal leid. Aber ich kann ihretwegen in den Bau wandern.« »Sie hat sie bezahlt?«, fragte Field mitfühlend. »Jeden Nachmittag musste ich rauf.« »Und dann?« »Dann habe ich wieder Arbeit gekriegt. Ich brauchte ihre Mäuse nicht mehr.« »Aber?« 70
»Das scheinheilige Aas wollte mich hochgehen lassen. Ich hatte doch schon mal gesessen. Und sie wusste, dass ich ein paar Autos aufgemacht hatte.« »Da haben Sie...« »Da habe ich ihr die Luft abgedrückt. Mann, war das ein Genuss! Diese scheinheilige Hexe.« »Und Sie haben ihm geholfen, die Leiche zu beseitigen.« Field wandte sich abrupt an den Hausmeister. »Er ist gar kein schlechter Junge, Sir. Ich habe ihn so gut erzogen, wie ich konnte. Ich dachte, er kommt von allein wieder ins Lot. Aber jetzt ist es wohl vorbei.« »Vielleicht hätte er sich gefangen«, sagte Field nachdenklich. »Aber er hatte auch mit seinem Mord Pech. Wie in seinem ganzen Leben. Sie haben ihn zu sehr auf kleinliche Ordnung getrimmt und ihm zu wenig beigebracht, wie man sein Leben in Ordnung hält.« »Wie meinen Sie das, Sir?« »Er macht sich nichts daraus, einen Menschen zu erwürgen und die Leiche auf den Müll zu werfen. Aber er kann nicht an drei Briefen vorbeigehen, die in der Diele auf dem Boden liegen. Er muss sie aufheben. Wer außer Ihnen konnte nach dem Tod und Verschwinden von Miss Attenborough in diese Wohnung kommen? Sehen Sie, so kamen wir auf Ihre Spur.« »Ich habe die Briefe aufgehoben«, sagte der Alte leise. Sein Neffe sah noch nicht einmal auf. Ihm war gleichgültig, warum man ihn geschnappt hatte. Field freute sich nicht im Geringsten über diesen schnellen Erfolg. Solche Verhältnisse gab es in jedem Milieu. Nur, weil es keine anderen Gesetze gab, waren sie ein Fall für die Polizei. Für ihn waren sie ein Umweg. Er suchte nach der geheimnisvollen Kraft, die Menschen verschwinden ließ, nicht nach muffiger Hintertreppenkriminalität. * Von seinem Eckplatz im Cafe beobachtete Rawlings den Kinoeingang. Ohne sich viel dabei zu denken, hatte er auf einer Serviette Kästchen 71
für die Stunden gezeichnet und für jeden Kinobesucher einen Strich gezogen. Wie üblich, liefen zwei Filme nacheinander nonstop. Das heißt, man konnte zu jeder beliebigen Zeit hineingehen und so lange bleiben, wie man wollte. An kalten Tagen eine angenehme Beschäftigung. Stevens, so hieß der Kinopächter, konnte mit diesem Umsatz kaum die Luft zum Atmen verdienen. Der Reporter registrierte die üblichen wenigen Kinogänger. Eine Handvoll Schulkinder, drei Pärchen, denen es offenbar an einem Auto mangelte, später einige ältere Frauen. Kurz vor Programmschluss kam ein unerwarteter Ansturm. Rawlings zählte zweiunddreißig Leute. Sie sahen nicht aus wie Leute, die sich einen der üblichen billigen Schwanke aus dem Leben der britischen Marine ansehen. Außerdem würde der letzte Film nur noch höchstens zwanzig Minuten laufen. Schnell entschlossen überquerte Rawlings die Straße und löste ebenfalls eine Karte. Die Frau hinter dem Kassenfenster erkannte ihn zu seinem Glück nicht wieder. Der Reporter drückte sich ziemlich weit hinten in eine Ecke. Seine Augen gewöhnten sich an das Dunkel. Nach und nach unterschied er die einzelnen Menschen. Der Film näherte sich unverkennbar seinem Ende. Wie üblich wetzten einige Pfiffige zum Ausgang. Sie hatten keine Lust, sich die Beine in den Bauch zu stehen, während der Lautsprecher die Nationalhymne spielte. Rawlings ließ sich zwischen die Sitzreihen gleiten. Er wartete ab, bis das Schurren der Füße vorbei war. Der große Saal war noch immer dunkel. Aus der kleinen Tür unter der Bühne drang ein Ungewisses Leuchten. Die zweiunddreißig Menschen, die zuletzt gekommen waren, gingen gemessenen Schrittes durch diese Pforte. Rawlings schlich den Mittelgang hinunter und schloss sich ihnen an. Der Raum war dunkel genug, um den Reporter unbemerkt hineinschlüpften zu lassen, aber hell genug, um ihm freie Sicht auf die Vor72
gänge zu gewähren. Rawlings verkroch sich hinter einem Kasten, der einem Harmonium ähnelte. Die zweiunddreißig Menschen warfen ihre Kleidung ab, ohne sich viel voreinander zu zieren. Einer nach dem anderen streifte eines von den schwarzen Gewändern über, die in den Kisten hinter dem Sarg lagen. Mit den Kapuzen auf den Köpfen verwandelten sich die lächerlichen feisten Nackten in Unheil kündende, dämonische Gestalten. Mit der Kleidung schienen sie ein anderes Wesen anzunehmen. Die unbeholfenen Schritte verwandelten sich in ein leichtes Gleiten. Sie formierten sich zu einem Kreis zu dem noch geschlossenen Sarg. Dunkel tönende Musik erklang aus verborgenen Lautsprechern. Die Gestalten in den wehenden schwarzen Umhängen umkreisten den Sarg in einem seltsamen Schreittanz. Der Sargdeckel klappte auf. Rötliches Licht spielte über die bleiche Gestalt in dem schwarzen Holzkasten und verlieh den scharfen Zügen so etwas wie Leben. Rawlings rechnete jeden Augenblick damit, dass der Leichnam sich erhob und an dem magischen Tanz teilnahm. Doch er rührte sich nicht. Die Musik verstummte. Die Schwarzgekleideten begaben sich zu ihren Stühlen. Rawlings zählte schnell durch. Fünf Reihen zu je drei Stühlen auf jeder Seite des Ganges. Das ergab dreißig. Für zwei der Schwarzen gab es keinen Platz. Dem Reporter blieb keine Zeit, zu überlegen, wo diese beiden sich hin begeben würden. Der eine stellte sich vor den Sitzenden auf. Den anderen sollte der Teufel holen. Er ging direkt zu dem Harmonium, hinter dem der Reporter sich versteckt hatte. Für eine Flucht war es zu spät. Es gab auch keinen anderen Platz, an dem er sich hätte verbergen können. Rawlings hatte keine Vorstellung davon, wie er sich verhalten sollte. Angreifen oder verteidigen? Und wie? Was konnte man gegen diese Gestalten ausrichten, die anscheinend alles Menschliche verloren hatten? Er verfluchte seine berufsbedingte Neugier, die ihn in diese nahezu aussichtslose Lage hineingetrieben hatte. Diese Kerle würden ihn auflösen wie eine Seifenblase, ehe er nur ein Wort herausgebracht 73
hätte. Flucht? Vergebens. Dann erwischten sie ihn halt hinter dem Kino, wo man den halben Dale entdeckt hatte. Der Harmoniumspieler schien genauso entsetzt zu sein wie Rawlings. Er fuhr zurück, als er den Eindringling bemerkte. Von einer Sekunde zur anderen war der Raum in grelles, weißes Licht getaucht. Ein wildes Stimmengewirr brandete auf. Der Reporter verstand seinen Namen. »Das ist Fred Rawlings, dieser schleichende Spion. Er will uns allesamt bloßstellen. Nur damit er für seinen verleumderischen Kram ein paar schäbige Pfund bekommt.« Freunde schien Rawlings hier unten nicht zu haben. Nachdem, wie er sich über die verschwundenen Menschen und die unerklärliche Kraft, der hinter deren Verschwinden stand, ausgelassen hatte, brauchte ihn das auch nicht zu wundern. »Weg mit ihm!« Diese befehlende Stimme gehörte zu dem Mann, der sich vor der eigenartigen Gemeinde aufgebaut hatte. Offenbar deren Chef. Rawlings fühlte, jetzt war es soweit. Sie würden ihn beseitigen. So, dass niemand mehr eine Spur von ihm aufnehmen könnte. Er krümmte sich zusammen und schnellte hoch. Wenn sie an sein Leben und an sein Vorhandensein heran wollten, dann würde er sich nach Kräften verteidigen. Rawlings wich zurück. Er drückte sich an der Wand entlang, um möglichst viel Raum zwischen sich und die lauernden Personen in den schwarzen Kutten zu bringen. Einer der schwarzen Kerle drängte sich durch den dichten Ring von Leibern, die Rawlings umgaben. Er schwang einen blitzenden Gegenstand in der rechten Hand. Das schwer definierbare Ding glich einem Schwert und gleichzeitig einer stilisierten Flamme. Rawlings sah die blinkende Waffe auf seinen Kopf zusausen. Er hörte das zustimmende dumpfe Murmeln der anderen. Die Wand in seinem Rücken schien zurückzuweichen. Er stürzte ins Bodenlose. Ein harter Aufprall ließ einen Funken Hoffnung in ihm aufflammen. Ich spüre Schmerzen. Also lebe ich noch. Dann schwanden ihm die Sinne. 74
Die schwarzen Gestalten standen bewegungslos vor dem leeren Fleck, auf dem eben noch der hilflose Reporter gestanden hatte. Sie hatten kaum eine Bewegung wahrgenommen. »Weg«, sagte einer aus der schwarzen Gruppe. »Weg«, bestätigte der mit dem Flammenschwert. »Nimm an dem Harmonium Platz, Bruder. Lasst uns unseren Gesang anstimmen.« * Inspektor Field war noch keine zehn Minuten zu Hause, als sein Telefon läutete. Der treue Budd hatte seit einer halben Stunde versucht, seinen Inspektor zu erreichen. »Was gibt es, Billie?« »Hier ist 'ne Menge los, Sir. Vielleicht sollten sie nicht zu hart mit den Kindern umspringen. Manchmal sind sie ganz brauchbar.« Mit den Kindern war die Herde der Inspektorenanwärter gemeint. Budd hatte schon von den neuesten Leistungen der beiden im Mordfall Attenborough gehört. So etwas macht im Yard schnell die Runde. »Was haben sie denn fertig gebracht?« »Meyers hat das Kino vorschriftsmäßig von hinten und vorn durchgecheckt. Stellen Sie sich vor, der Laden verbraucht dreimal so viel Strom wie jeder beliebige andere Kintopp.« Field pfiff leise durch die Zähne. Er liebte Stromzähler, Wässerzähler, Quittungen von der Müllabfuhr und dergleichen über alles. Erstens konnte man mit diesen Einrichtungen keinen Schmu anstellen, zweitens nimmt sie jeder als dermaßen selbstverständlich, dass er sie nicht wegen ihres Beweischarakters geheim hält. »Was hat der kluge Junge daraufhin gemacht?« »Er hat mir einen langen Vortrag darüber gehalten, dass es einem Not leidenden Unternehmen unmöglich ist, sich aus eigener Kraft mit kostengünstigeren Produktionsmitteln zu versehen. Er meint wohl, dass da zu wenig Geld drin steckt, um ein Vorführgerät zu kaufen, das weniger verbraucht.« 75
»Dieser Unglücksrabe. Das meint er wohl. Da finden diese blinden Hühner schon mal ein Korn und was machen sie damit? Sie fressen es auf, anstatt es als Saatgut zu verwenden. Billie und wenn Sie den Richter anlügen, beschaffen Sie einen Durchsuchungsbefehl. Ich will wissen, was die Kerle mit dem Strom machen.« »Sir, Superintendent Rutherford steht neben mir. Er möchte mit Ihnen sprechen.« Field knurrte etwas, in dem Wörter wie krankgeschrieben, Störung und Beamtenrechte vorkamen. »Lieber Mr. Field, ich möchte Ihnen Abbitte leisten. Sie wissen ja, ich habe mich selbst nicht ganz mit den Erklärungen des Innenministeriums zufrieden gegeben. Deshalb habe ich ja die polizeilichen Ermittlungen mehr oder weniger stillschweigend fortgesetzt. Sie hatten ja in dieser Beziehung erheblich mehr freie Hand.« »Sehr wohl, Sir. So kann man es zweifellos auch darstellen.« Field konnte sich dieser sarkastischen Bemerkung nicht enthalten. »Und worum geht es jetzt?« »Sie haben praktisch im Handumdrehen zwei Morde aufgeklärt, die uns wochenlang hätten beschäftigen können. Ich möchte, dass Sie die Arbeit wieder voll aufnehmen. Ihre Krankheit ist doch nur fauler Zauber.« Field war versöhnt. Auch wenn der Super noch so unverschämt log, was seine eigenen Fähigkeiten und die immer aufgegangenen Pläne anging, wenn er Field ungestört arbeiten ließ, spielte der Inspektor mit. »Ich bekomme also den Durchsuchungsbefehl.« »Den und so viele Leute wie Sie brauchen.« »Ich brauche nur Sergeant Budd.« »Und mich.« Das traf zwar keinesfalls zu, Field sah jedoch keine Möglichkeit, den Kopf aus dieser Schlinge zu ziehen. »Wir treffen uns vor dem Kino, Sir. Gegenüber ist ein kleines Cafe. Budd wird Sie hinführen. Übrigens, was macht die Fahndung nach dem flüchtigen Blake, diesem Chemiker, der seine Frau erdrosselt hat? Zeigt sich da etwas?« 76
»Noch nichts, Field. Wir haben die Fahndung auch zurückgehalten, bis der Fall mit dem Innenministerium abgesprochen ist. Sie geht morgen früh raus.« Field knallte den Hörer auf die Gabel. Von wegen die Fahndung zurückgehalten! Sie hatten die Sache einfach in dem Durcheinander verschlampt. Einerseits verständlich, andererseits ein Skandal, wenn ein Mörder entkommen konnte, nur weil geheimnisvolle, unheimliche Vorgänge die Polizei in Atem hielten. Der Inspektor schlüpfte wieder in seine Schuhe und streifte den Mantel über. Wenn ihm der nächste Zug der Tube nicht vor der Nase wegfuhr, konnte er so früh draußen sein, dass ihm Zeit für eine private Umschau blieb. Selbst wenn das mit dem überhöhten Stromverbrauch ein Holzweg war, dann konnte er mit Hilfe eines Durchsuchungsbefehls wenigstens offiziell Kenntnis von dem Raum unterhalb der Bühne und dessen seltsamer Einrichtung nehmen. Field stieg die Stufen des Bahnhofs hinauf. Der Zug war verhältnismäßig voll. Die rückflutende Welle abendlicher Stadtbesucher, die wegen der wenigen Parkplätze auf ihr Auto verzichtet hatten. Field machte sich Selbstvorwürfe. Wenn die nicht schnell mit dem Papier kamen, dann war der Film aus und sie standen mit ihrem Durchsuchungsbefehl vor einem leeren Haus. Der Inspektor schlenderte die Hauptstraße hinunter, bog zwischen der Bücherei und dem längst geschlossenen Fish-an-Chip-Shop nach links ein und umkreiste so den ganzen Häuserblock, in dem das Kino lag. Hinten war alles totenstill. Field registrierte, dass hier einige Autos parkten. Darauf hätte man achten können. Niemand hatte festgestellt, ob auch in anderen Nächten einige Kinobesucher ihre Wagen vor dem Cricket Ground abstellten. Er schlängelte sich an der Bahnlinie vorbei durch den engen Durchgang, in dem es wie immer nach den Hinterlassenschaften unzähliger Hunde roch. Dann ging er ein zweites Mal an dem Eingang des Kinos vorbei. Noch immer saß die alte Frau strickend im Kassenhäuschen. Sonst war niemand zu sehen. 77
Field schlenderte hinüber zum Cafe. Das Mädchen war dabei, Tassen und Teller zusammenzuräumen. Field trat an den Ecktisch, an dem er mit dem Reporter gesessen hatte. Ungeachtet der bösen Blicke, die ihm die Serviererin zuwarf, zog er sich einen Stuhl heran. Unter einer leeren Tasse klemmte Rawlings Aufstellung. Field erkannte die Handschrift des Reporters. Doch aus der Tabelle wurde er nicht so schnell schlau. Uhrzeiten und Striche. Was konnte das bedeuten? Er sah aus dem Fenster. Dabei wurde ihm schlagartig klar, was Rawlings registriert hatte. Die Besucher des Kinos, über die Zeit verteilt. Der Reporter musste sich etwas dabei gedacht haben. In der letzten Stunde gab es eine überraschende Häufung von Kinogängern. Rawlings hatte sie besonders eingekringelt. Wahrscheinlich war ihm an ihnen etwas aufgefallen. Field sah auf die Uhr. Der Reporter konnte keine zehn Minuten weg sein. Field fasste die Tasse an. Der Teerest war kalt. Also gut. Eine Viertelstunde. Er wandte sich an die Bedienung. »Ich will Ihnen den Feierabend nicht verderben, Miss. Machen Sie ruhig zu. Ich erwarte nur einige Freunde. Aber eine Frage. Mein Bekannter hat hier an diesem Tisch gesessen. Wo ist er hingegangen? Haben Sie es gesehen?« »Der ist zum Kino rüber. Gerade eben. Beinahe hätten, Sie ihn noch erwischt. Muss gleich kommen.« Da hatte er den Salat! Die Kinobesucher strömten aus dem Ausgang. Wenn Rutherford nicht bald mit dem Durchsuchungsbefehl kam, konnten sie für diese Nacht einpacken. Field überquerte langsam die Straße. Vielleicht konnte ihm Rawlings etwas berichten. Doch der Reporter kam nicht. Field stand sich die Beine in den Bauch. Nervös sah er auf seine Uhr. Wer zum Teufel schoss mit diesem Durchsuchungsbefehl quer? Die Frau von der Kasse machte sich zum Weggehen fertig. Sie klapperte mit ihrem Schlüsselbund. Endlich rollte ein Wagen aus. Rutherford hatte seinen privaten Morris aus der Garage geholt. Sie erwischten die Frau gerade noch, als sie den Haupteingang abschließen wollte. Sie erstarrte fast, als sie die Polizeimarken und das 78
amtliche Papier mit den vielen Stempeln vor die Nase gehalten bekam. Vor dem massigen Budd hatte sie sogar körperliche Angst. »Zum Chef wollen Sie? Der ist noch oben.« Sie zeigte den Weg über die Treppe. Die drei Männer eilten die bereiten Stufen hinauf. Zwischen Angst und Neugier hin und her gerissen folgte ihnen die Frau. Unter einer schmalen Tür neben der Garderobe schimmerte Licht. Field hielt sich nicht lange mit der Vorrede auf. Er klopfte noch nicht einmal. Er riss einfach die Tür auf und stand mitten in dem kleinen Raum. Aus dem Augenwinkel erkannte er gerade noch, wie einer der beiden Männer einen Koffer zuklappte. Er kam dem Inspektor bekannt vor. Auch hier taten die Polizeimarken ihre Wirkung. Die beiden Männer wurden bleich wie ertappte kleine Eierdiebe. Der mit dem Koffer sah aus, als würde er sich bald fassen und frech werden. Er stellte sich den drei Polizisten entgegen. Der andere tastete zitternd nach einem Knopf. Budd schlug ihm kurz auf die Finger. Jetzt war es zu spät, um Komplizen zu warnen. »Was fällt Ihnen ein, hier einzudringen?«, brachte der mit dem Koffer heraus. »Ruhig, Meeks!«, herrschte Field ihn an. Er hatte ihn erkannt. Meeks war ein kleiner Gauner, der sich eine Zeitlang auf das Ausräumen von Fahrkartenautomaten spezialisiert hatte. Field fiel ein, dass dieser Mann zeitweilig auch als Filmvorführer arbeitete. Der mit den schlechteren Nerven musste also der Boss sein. Tatsächlich fing er auch schon an, loszustammeln. »Wirklich, Sir, ich wollte gerade zu Ihnen, ehrlich wahr. Wir wollten zu Ihnen. Und davon haben wir auch noch nichts unter die Leute gebracht. Es gehört mir gar nicht. Jemand hat die Dinger hier abgestellt.« »Wovon reden Sie überhaupt?« »Na, von den Blüten.« »Halt dein blödes Maul!«, herrschte ihn Meeks an. 79
Der Superintendent bekam ausgesprochen hungrige Augen. Falschgeld. Da hatte Field ihm ja einen hübschen Brocken geliefert. Eine ganze Sonderabteilung des Yard suchte nach einer Bande von Notendruckern. »Machen Sie keine Ausflüchte, Mann. Sie sind lange genug beobachtet worden.« Rutherford ließ nicht leicht eine Gelegenheit verstreichen, dazwischenzufunken. Als Organisator war er einsame Spitzenklasse. Am Telefon hatte Field seinen Vorgesetzten richtig gern. Doch wehe, wenn er auf die Leute losgelassen wurde. Ein Elefant im Porzellanladen konnte von Rutherford immer noch etwas lernen. Budd hatte den Koffer mit einem Griff geöffnet. Field blätterte in den Notenbündeln. Samt und sonders Fünf-Pfund-Scheine. Gebündelt, wie sie aus der Presse kamen und nie wieder angefasst. Er blies den Staub herunter. Er befühlte das Papier. Er roch an den Scheinen. Manche mussten jahrelang in einer Ecke gelegen haben. Andere kamen frisch von der Bank. Weiter ließ sich nichts über das Geld sagen. Die Scheine waren so echt wie die Kronjuwelen. Field kannte sich mit gefälschten Noten aus. »Die sind Stück für Stück echt. Wenn Sie die Piepen vor zehn Jahren auf den Kopf gehauen hätten, dann hätten Sie wenigstens noch etwas dafür bekommen.« Er hielt dem Kinopächter eines der ältesten Bündel unter die Nase. Der Mann lief rot an. »Dieses Schwein! Und ich hätte schwören können, es ist falsch.« »Wo haben Sie es her?« »Keine Ahnung. Das hat mal hier einer deponiert.« »Und jeden Monat ein neues Bündel abgeliefert. Binden Sie mir doch nicht so einen Bären auf. Und jetzt raus mit der Sprache. Wo ist Rawlings?« »Fred Rawlings? Der Reporter? Keine Ahnung. Wo soll der sein?« »Das frage ich Sie doch. Los jetzt! Machen Sie den Raum unter der Bühne auf!« »Ach, Sie waren das!« »Im Verquatschen sind Sie groß, was? So, jetzt ab!« 80
Weder Rutherford noch Budd hatten einen Schimmer, worum es ging. Der Superintendent trottete mit, weil ihm inzwischen nichts Besseres mehr einfiel. Budd war gewöhnt, seinen Inspektor nie viel zu fragen. Field gestand sich selbst ein, dass auch er nicht wusste, was hier gespielt wurde. Sein Instinkt sagte ihm nur, dass die Zeit drängte. Er zerrte den Kinopächter die Treppe hinunter. Budd hatte ihm inzwischen zugeflüstert, dass er Stevens hieß. Stevens schaltete das Licht im Zuschauerraum an. In der vergeblichen Hoffnung auf irgendein rettendes Wunder ging er besonders zögernd. Doch es gab kein Wunder, sondern einen soliden Tritt von Budds ebenso solidem Polizistenschuh in den Körperteil, auf dem Stevens nach Budds Ansicht eine längere Strafe absitzen sollte. Gleichgültig, weswegen. Stevens zählte zu den Typen, die immer Dreck am Stecken haben. Stevens fühlte sich in diesem Augenblick gestraft genug für sein Leben. Es war die buchstäbliche Wut über den verlorenen Groschen. Nur, dass es sich nicht um einen Groschen handelte, sondern um 20 000 Pfund. Eine ganz schöne Miete für einen Raum, den er sonst nicht benutzte. Und er hatte es für Falschgeld gehalten. Die Tür flog auf. Das Harmonium verstummte in einem Missklang. Der Superintendent erbleichte. Direkt vor ihm lag etwas in einem Sarg, das man nur für einen lebenden Leichnam halten konnte. Der Schwarzgekleidete, der in der Haltung eines heidnischen Priesters vor den übrigen gestanden, hatte, schwang drohend sein silbernes Flammenschwert. In diesem Augenblick erlosch das Licht. Nur die flackernden Kerzen, die den Sarg und dessen Inhalt in schaurig flackerndes Licht tauchten, beleuchteten den Raum. Ein wüstes Durcheinander setzte ein. Füße scharrten. Unterdrückte Flüche wurden laut. Budd spürte den leichten Luftzug. Jemand hatte die Tür wieder aufgerissen. Instinktiv streckte er die Hand aus. Er erwischte Stevens gerade noch am Kragen. Der Kinopächter hatte die günstige Gelegenheit zur Flucht nutzen wollen. Die anderen nutzten sie. Bis Field seine Taschenlampe endlich herausgefingert hatte, war der Raum leer. Rutherford hielt sich den Bauch. Jemand hatte ihm die Faust in den Magen gerammt. Draußen klappte eine Tür. Motoren liefen an. 81
»Mist«, sagte Field. »Die sind uns entwischt.« Der Inspektor leuchtete Stevens direkt ins Gesicht. Jetzt musste der Kinopächter herhalten. »Wo ist Rawlings? Mann, machen Sie endlich den Mund auf!« Stevens zitterte. Seitdem er spitzbekommen hatte, dass Meeks ihm nicht mehr zur Seite stand, gab es keinen Halt mehr für ihn. »Ich sage Ihnen doch, ich habe keine Ahnung, wo der Reporter ist. Ich wusste noch nicht einmal, dass er da war. Wenn ich es gewusst hätte, dann hätte ich ihm das Haus verboten.« Rutherford, eine Faust noch immer in das Magendreieck gepresst, schlich sich an den Sarg heran. Er beäugte den von zuckenden Kerzenflammen beleuchteten, stillen Körper. »Vampirismus. Wie scheußlich. Die anderen werden seine Opfer sein, die er anlernt. Grauenvolle Sache. Field, haben Sie eine Idee, was man dagegen machen kann?« Noch nicht einmal jetzt konnte Rutherford darauf verzichten, seine Theorien zum Besten zu geben. Field knallte wutentbrannt den Sargdeckel zu. Die schwere Holzschale verschob sich. Einen Augenblick glaubte Field, sie würde zu Boden poltern. Dann stabilisierte sich der Deckel und drang mit einer Kante voran in den Sarg. Das scharfkantige Holz quetschte sich in den Hals der leblosen Figur. Instinktiv duckte sich der Inspektor, um dem vermuteten Blutstrahl zu entgehen. Doch nichts spritzte heraus. Kein Leichengeruch. Keine flatternde Seele, was auch immer das sein mochte. Einfach nichts. Field wuchtete den Deckel hoch. Er rechnete nahezu mit allem. Doch das kam doch unerwartet. Der schwere Deckel hatte die äußerlich glatte Schale zerquetscht. Das Innere kam hervor. Als erstes fiel Field eine vier Jahre alte Ausgabe der Times auf. Papprollen, Seidenpapier. Kunstvoll miteinander verflochtene Eisendrähte. Stoffreste. Budd prustete laut heraus. Er konnte sich vor Lachen kaum halten. Sie hatten sich von einer Wachsfigur ins Boxhorn jagen lassen. Aber warum hatte dieser Stevens auch so eine verdammte Angst? Genau diese Angst schien sich in diesem Augenblick in Wohlgefallen aufzulösen. Stevens strahlte förmlich. Wie einer dieser Straßen82
händler, die einem einen Kartoffelschäler aufschwatzen, obwohl man sich hundertmal geschworen hat, nie wieder einen Kartoffelschäler zu kaufen. »Das habe ich doch die ganze Zeit gesagt. Es ist alles ganz harmlos. Wirklich ganz harmlos, Gentlemen. Es ist doch nichts dabei, wenn sich ein paar Leute aus der Umgebung zu einem kleinen, außergewöhnlichen Fest treffen.« »Außergewöhnlich geschmacklos ist das«, schimpfte Rutherford. »Seien Sie sicher, wir finden Mittel und Wege, diesem faulen Zauber ein Ende zu machen.« Auch das war Stevens recht. Wenn die nur mit dieser unangenehmen Untersuchung ein Ende machen würden! Aber daran war offensichtlich nicht zu denken. Field fragte noch einmal. »Wo steckt Rawlings?« Sergeant Billy Budd, meist die Liebenswürdigkeit in Person, drehte ihm langsam den Kragen zu. Stevens sollte spüren, hier wurde pariert. »Wirklich keine Ahnung. Ich weiß gar nicht, wovon Sie reden. Was soll mit dem Mann sein?« »Nun legen Sie sich mal auf eine Rolle fest. Mal machen Sie ein Gesicht, als ob Ihre Unterhose brennt, dann meinen Sie wieder, es sei alles gar nicht so schlimm und zum Schluss wollen Sie von allem nichts gewusst haben. Was gilt nun?« Das Licht ging wieder an, flackerte ein paar Mal und erlosch. Es begann, nach schmorender Isolation zu stinken. Field besann sich auf den offiziellen Grund des Hier seins. Der ungewöhnlich hohe Stromverbrauch des Kinos. »Also Stevens, wer zapft hier den ganzen Saft aus der Leitung, wenn es nicht Ihr Falschmünzer ist?« * Fred Rawlings lag auf dem Rücken und konnte kaum ein Glied rühren. Der Aufprall auf den harten Boden hätte ihm das Kreuz brechen können. Oder war es gebrochen? Mit äußerster Anstrengung krümmte er 83
seine Zehen. Rawlings atmete auf. Sie bewegten sich. Mit seinem Rückgrat war alles in Ordnung. Er blinzelte und schlug dann ein Auge nach dem anderen auf. Das Gesicht, das unmittelbar über seinem Gesicht zu schweben schien, kam ihm bekannt vor. »Ach, Sie sind das!« Rawlings lag unmittelbar vor dem unscheinbaren, aufdringlichen, schwatzhaften Spaziergänger. An den dicken Gläsern der Hornbrille liefen innen Schweißtropfen herunter. Wie kam dieser unmögliche Kerl hierher? Wo, übrigens, spielte die ganze Sache? Rawlings war sich darüber bei weitem nicht klar. Einer von den Typen im schwarzen Umhang hatte nach ihm geschlagen. Dann schien der Boden unter den Füßen wegzusacken. Und hier spukte irgendwie dieser Giftzwerg mit dem teigigen Gesicht herum. Rawlings Gehirn arbeitete noch nicht wieder. Wenn er sich schon von diesem Spinner retten lassen wollte, dann konnte er auch wissen, wie er hieß. »Wer sind Sie, Sir?« »Auf einmal Sir. Nicht mehr Giftzwerg. So gefallen Sie mir schon viel besser.« Rawlings biss sich auf die Lippen. Die etwas schwerfällige Sprechweise erinnerte ihn an etwas. Natürlich. Der seltsame Kerl im Dunkel der Vampirkammer, der in so einem Wörterbuch-Englisch vor sich hin gebrabbelt hatte. Das also war Mr. Giftzwerg. »Wenn ich Ihnen mitteile, wer ich bin, dann nutzt es Ihnen doch nichts mehr. Außerdem könnten Sie meinen Namen nicht aussprechen. Sie sind doch Engländer.« »Australier«, entfuhr es Rawlings. »Also doch Engländer. Ich mag keine Engländer.« »Warum sind Sie nicht in Ihrem Urwald geblieben, wenn Sie England nicht mögen?« »Bul... Wir haben keinen Urwald zu Hause Außerdem geht Sie das nichts an. Ich wollte nicht, dass die Partei meine Erfindung bekommt.« 84
Rawlings zermarterte sich den Kopf. Wenn die Partei Erfindungen einstreichen kann, dann muss es ein Land aus dem Ostblock sein. Verdammt noch einmal, es gab ja so viele davon. Welches fing mit Bul... an? Er hatte Europa auf Anhieb gefunden, weil Linienflugzeuge sich nicht zu verirren pflegen und hier fuhr er mit der Untergrundbahn. Woher sollte er wissen, was es in Europa alles für Länder gab? Bulgarien, durchzuckte es ihn. Doch er wurde dieser Erkenntnis nicht froh. Gleichzeitig durchzuckte ihn eine andere, viel wichtigere Erkenntnis. Die Erfindung. Rein intuitiv wusste Rawlings, welche Erfindung der Mann gemacht hatte. Er konnte Menschen nach Belieben verschwinden lassen. Ihm war klar, was das bedeutete. Wenn der Kleine genug mit ihm gespielt hatte, dann würde es keinen Fred Rawlings mehr geben. »Sie wollen es mit mir also machen wie mit Brandish und Dale. Sie sind ein aufgeblasener kleiner Sadist.« »Brandish war ein Idiot. Er ist mir durch Zufall auf die Spur gekommen, als ich hier anfing. Dann hat er sich nach drüben abgesetzt und sich viel Geld dafür geben lassen, dass er mich zurückholt, wenn die Erfindung fertig entwickelt ist. Als ich anfing, meine Arbeit praktisch zu erproben, kam er wieder. Großspurig, wie nur ein englischer Trampel sein kann, tappte er hier herein und setzte mir buchstäblich die Pistole auf die Brust. Dieser Idiot! Alles Idioten. Sie hätten das Verfahren natürlich von mir kaufen können. Warum müssen sie alles stehlen wollen? Brandish hat es zum Schluss auch noch zugegeben. Ich habe ihm das Mittel gespritzt und ihm gesagt, morgen Mittag ist er weg. Er hat es mir geglaubt. Das beweist schon, dass er keine Ahnung hat. Und dann, peng, weg war er. Meine Güte, was ist der Idiot gerannt!« »Und Dale? Warum haben Sie ihn getötet?« »Neugieriger Schnüffler. Müssen ihre Nase in alles stecken, diese Typen. Genau wie Sie. Hatte keine Ahnung. Aber so ein Narr ist viel gefährlicher als ein halbes Dutzend Spione. Der posaunt überall hinaus, was er gesehen hat und was er ahnt; ehe Sie sich versehen, haben Sie alle Aufmerksamkeit der Welt am Halse.« 85
»Warum haben sie ihn nicht ganz beseitigt?« »Weil in diesem Land noch nicht einmal die Stromversorgung sichergestellt ist. In dem Augenblick, in dem ich ihn bestrahlen wollte, ist das Netz wieder einmal zusammengebrochen. Sauwirtschaft. Ich bin froh, wenn ich mich endlich ins Ausland zurückziehen kann.« Der Stromausfall. Rawlings fiel ein, dass sich schon mehrere Leute über die Unzuverlässigkeit der Versorgung in den letzten Wochen beklagt hatten. Der geheimnisvolle kleine Mann konnte also mit den Naturgesetzen nach Belieben umspringen, er konnte aber nicht auf die Segnungen des Central Electricity Generating Board verzichten. »Was war mit der Kleinen in dem Nachtclub?« Der so unscheinbar aussehende kleine Mann grinste gemein. »Haben Sie denn gar keinen Sinn für Humor? Ich finde es irrsinnig komisch, wenn ein drittklassiger Zauberkünstler eines Tages feststellen muss, dass sein Medium wirklich verschwunden ist. Und alle Welt erwartet von ihm, dass er es wieder beschafft. Dabei hat er das noch nicht einmal zugesagt.« Bisher hatte Rawlings nur Angst gehabt. Jetzt empfand er eine ausgesprochene Abscheu. Dieser Kerl war ein Irrer. Leider ein Irrer mit einer unbekämpfbaren Waffe in der Hand. Er bekam auch gleich eine Kostprobe des Sadismus zu spüren. »Nur damit Sie wissen, worüber Sie nie mehr schreiben werden, will ich Ihnen genau erklären, wie alles funktioniert. Es ist doch ein schönes Gefühl für einen Reporter, eine Weltsensation präsentiert zu bekommen, die gleichzeitig sein Tod ist. Oder täusche ich mich?« Nur langsam gewann Rawlings die Gewalt über seine Muskeln zurück. Er hatte immer ziemlich viel Sport getrieben und seinen Körper in Schuss gehalten. Also gut, dann würde also ein kerngesunder Fred Rawlings aufgelöst. »Die Grundbedingung ist, dass der Körper des Betreffenden entsprechend präpariert wird.« Der Bulgare sprach wie ein Professor auf dem Katheder. Rawlings schöpfte neue Hoffnung. Wenn das so aussah, dann würde er sich eben nicht präparieren lassen. Der Kerl sollte ihn nur anfassen. 86
»Das geschieht, indem seine Körperzellen sich mit einer von mir entwickelten, eigentlich völlig harmlosen und nicht nachweisbaren Substanz voll saugen. Ich nenne das, die Zellen müssen zu sich selbst finden. Hübsch gesagt, nicht?« Obwohl Australier, verspürte Rawlings eine englische Nationallust in sich aufsteigen. Er wünschte, diesen Kerl mit frei aus dem Kniegelenk schwingendem Unterschenkel in den Hintern zu treten. »Sie finden es also nicht schön gesagt. Auch gut. Ich fahre trotzdem fort. Es dauert fünf Minuten, bis meine Flüssigkeit in alle Zellen diffundiert ist. Wenn Ihnen jemand einreden will, es ginge schneller, dann glauben Sie ihm kein Wort. Das wäre, biologisch gesehen, reiner Blödsinn. Dann jagt ein haarfeiner Kathodenstrahl über den ganzen Körper. Denken Sie an den Strahl in einem Fernsehgerät, der den Bildschirm leuchten lässt. Dann können Sie es sich vorstellen. Mein Strahl wird genauso gesteuert. Wohin er trifft, da gibt es keine Hoffnung mehr. Alles löst sich auf, es verschwindet.« »Wo ist es hin?«, fragte Rawlings, mehr um Zeit zu gewinnen. »Ich bin ein Naturwissenschaftler und keiner von diesen lächerlichen Spekulanten. Wie soll ich wissen, wo etwas hin ist, das es nicht mehr gibt?« Der kleine Mann mit dem ausdruckslosen, teigigen Gesicht wurde ausgesprochen ärgerlich über Rawlings Frage. Er hatte sich noch nie Gedanken über den Verbleib seiner Opfer gemacht. Rawlings schoss eine Schlagzeile durch den Kopf. Der Geistermacher von Rayners Lane. Leider würde er wohl nie Gelegenheit haben, diese Schlagzeile in Satz zu geben. Es sei denn, ein Spiritist entschlösse sich, ihn zu zitieren. Doch welcher Spiritist holt schon den Geist eines verhältnismäßig unbekannten Reporters auf eine seiner Seancen? Rawlings hatte Tischrücken und ähnliches stets für einen gewaltigen faulen Zauber gehalten. Jetzt setzte er seine ganze Hoffnung darauf. Dabei war er noch am Leben und ganz intakt. 87
»Damit Ihnen auch nichts entgeht: Sie müssen aufmerksam hinsehen, es läuft nämlich schnell ab. Ihnen zu Gefallen werde ich mit den Füßen beginnen und nicht mit dem Kopf. Dabei können Sie verfolgen, wie Sie schnell weniger werden. Keine Angst, Sie kommen gar nicht dazu, Schmerzen zu empfinden.« Fürsorglich wie ein Krankenpfleger schleppte der Geistermacher einen mannshohen Spiegel herbei. Das Ding musste aus einer alten Bühnendekoration stammen. Langsam ging Rawlings auf, wo er sich befand. Er musste unter dem Kino sein und zwar noch tiefer, als der Raum unter der Bühne. Man hatte allerlei Kulissen, Versatzstücke und sonstiges Gerumpel dort abgestellt, ohne dass manche Leute nicht auszukommen glauben, wenn sie Theater spielen. Die Bruchstücke von Burgzinnen, Henkersbeile aus silbrig angestrichener Pappe, die roh gepinselte Szenerie einer mittelalterlichen Hexenverbrennung, alles von Staub bedeckt und von Spinnweben überzogen, das hätte Rawlings auch ohne die schreckliche Bedrohung einen Schauder über den Rücken gejagt. Er lag noch immer ausgestreckt am Fuß der eisernen Treppe. Der Geistermacher, wie er den kleinen Irren getauft hatte, bosselte im Hintergrund an seinen Apparaten. Der Spiegel lehnte so gegen einen Galgen aus Pappmachee, dass der Reporter sich ganz sehen konnte. Der Fall von der Treppe hatte ihn ganz schön zugerichtet. Die blutunterlaufenen Stellen unter den Augen würden bald die schönsten blauen Flecken abgeben... wenn er noch so lange vorhanden war, um das zu erleben. Auf der linken Backe war die Haut herunter. Ein Jackenärmel war in Fetzen. Rawlings beobachtete den Kleinen scharf. Jetzt beugte der sich so über die Werkbank in der hinteren Ecke des Raumes, dass er dem Reporter den Rücken zudrehte. Diese Gelegenheit würde kaum wiederkommen. Der Reporter stemmte sich hoch. Mit einem pfeifenden Schmerzenslaut sank er im selben Augenblick wieder zusammen. Aus dem Spiegel blickte ihn sein schmerzverzerrtes Gesicht an. Bei dem Sturz auf der Treppe musste er sich den linken Unterschenkel gebrochen haben. 88
Er wusste genau, er hatte nur die Auswahl zwischen Schmerz und Tod. Es war leicht, sich für den Schmerz zu entscheiden. Doch das gebrochene Bein machte nicht mit. Es war Rawlings unmöglich, sich aus seiner Lage zu erheben. Hätte er irgendetwas in Reichweite gehabt, woran er sich mit den Händen hochziehen könnte, dann wäre es vielleicht möglich gewesen. Doch in Griffweite stand nur der Rest einer eisernen Stehlampe. Fuß und Stiel. Aus Schmiedeeisen fein gehämmert. Rawlings konnte dergleichen Leuchtmöbel auf den Tod nicht leiden. Er packte die Lampe mit beiden Händen. Wenn sie schon keine Hilfe beim Aufstehen war, dann gab sie doch wenigstens eine Waffe ab. Der Kleine hatte ihn mit bösartigem Lächeln beobachtet. Er hielt sich wohlweislich außerhalb des Kreises, den Rawlings mit der Lampe bestreichen konnte. »Denken Sie wirklich, ich würde Sie einfach so liegen lassen, wenn ich nicht sicher wäre, Sie können nicht aufstehen? Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?« Rawlings hielt die Stehlampe wie eine Lanze. Er würde kämpfend untergehen. Dieser Widerling sollte wenigstens ein paar Schrammen davontragen. »Kommen Sie doch her und lassen Sie meine Zellen ›zu sich selbst finden‹.« »Was meinen Sie wohl, wozu ich Ihre Ohnmacht ausgenutzt habe? Denken Sie etwa, ich lasse mich auf einen Boxkampf mit so einem jungen Kerl, wie Sie es sind, ein? Sie müssen mich wirklich für dumm halten.« »Sie haben es mir also schon eingegeben?« »Gespritzt. Das geht bequemer und ist sauberer. Man kann es auch unter das Futter mischen. Oder in den Schnaps kippen, wenn jemand säuft. Ist völlig gleichgültig. Wenn Sie das Zeug ausschwitzen, dann stecken Sie jeden beliebigen anderen damit an. Ich brauche nur genug Typen wie Sie herumlungern zu lassen. Damit präparierte England sich selbst.« 89
Rawlings dachte an das Loch, das eine geheimnisvolle Kraft in den Kotflügel von Dales Wagen gefressen hatte. Das Zeug wirkte also auch auf Eisen, wenn es erst einmal einen Menschen passiert hatte. Die Stücke, die Brandish bei seinem Anprall berührt hatte, waren den Strahlen zum Opfer gefallen. »Jetzt muss sie warmlaufen, das dauert einige Minuten und dann ist in Sekundenschnelle alles vorbei.« Der Kleine schaltete ein Gerät ein, das entfernt einer Schmalfilmkamera glich. Vermutlich hatte er ein serienmäßiges Gehäuse verwendet. Er holte ein zweites, etwas kleineres Gerät aus einer Ecke. »Das ist eine entscheidende Verbesserung. Ist unabhängig vom Netz. Leider habe ich keine Batterien dafür.« Rawlings zermarterte sich den Kopf. Er war noch weit unter fünfundzwanzig und hatte entsprechend wenig Lust, diese Welt zu verlassen. Die Sekunden vertickten. Sie wurden zu Minuten. Der Reporter sah förmlich die Sanduhr vor sich, in der sein Leben verrann. Irgendetwas hatte der widerliche Geistermacher gesagt, dass ihm die Rettung bringen konnte. Dieses Gerät brauchte Strom. Als Dale beseitigt werden sollte, war der Strom ausgefallen. Nur deshalb hatte man die halbe Leiche hinter dem Kino auf dem Cricket Ground gefunden. Konnte ein gütiges Geschick ihm nicht auch einen Stromausfall bescheren? Möglichst rechtzeitig. Denn mit einer Hälfte seines Körpers war Rawlings nicht gedient. Am besten, man nahm die Sache selbst in die Hand. In die Hand! Er hatte doch etwas in den Händen. Was hat eine kaputte Lampe mit einem Stromausfall zu tun? Die Lampe nur wenig. Die schmiedeeiserne Lanze umso mehr. Wenn er irgendwie einen Kurzschluss machte? Dann wäre dieses Teufelsding ausgeschaltet. Rawlings sah sich um. Trotz der ziemlich langen Lampe war seine Reichweite nur gering. Die Zeit drängte. Er sah es an dem teuflischen Grinsen des Geistermachers. Praktisch neben seinem rechten Ohr entdeckte er eine Steckdose. Er sah sie nur in dem Spiegel. Sonst war kein Stück elektrischer Installation in Reichweite. 90
Einen Tod kann der Mensch nur sterben. Wenn er sich selbst auf der Eisentreppe grillte, dann wusste er wenigstens, was er hatte. Die Teufelsmaschine des wahnsinnigen Geistermachers wäre vielleicht schmerzloser. Aber die Folgen waren unabsehbar. Rawlings wuchtete das Lampenwrack hoch. Es ist nicht einfach, im Spiegel mit einem gefährlich spitzen Gegenstand nach einer Stromquelle dicht neben dem Kopf zu zielen. Er musste seine Lanze mit einem Stoß fest an die beiden Leiter pressen. Dann gab es den Kurzschluss, den er benötigte. Beim geringsten Fehler ging der Strom durch seinen Körper. Allen denen zur Freude, die sich schon immer einen Reporter im eigenen Saft gegrillt gewünscht haben. Der Wunsch, die Augen zuzukneifen, war übermächtig. Rawlings widerstand ihm. Die Lanze sauste neben seinem Kopf in die Wand. Ein Lichtbogen zischte auf. Es stank nach verbranntem Gummi und nach verkohltem Fleisch. Rawlings hatte sich das halbe Ohr weggeschmort. Doch er spürte den Schmerz nicht. Der Reporter hätte jubeln können. Das schwache Licht erlosch. Der Geistermacher stieß einen schrillen Wutschrei aus. Die mörderische Strahlenkanone polterte in eine Ecke. Rawlings spannte alle Sinne an. Er rechnete damit, dass der Kerl ihm jetzt auf konventionellere Art den Garaus machen würde. Etwa, indem er ihm die Kehle durchschnitt. Doch er konnte die schleichenden Schritte weder orten noch deuten. Der kannte sich in dem stockdunklen Raum aus. Kein Wunder, wenn er jahrelang dort unten gearbeitet hatte. Rawlings hörte ein knirschendes Drohgeräusch. Jemand schraubte Sicherungen aus der Fassung. Wieder das Geräusch. Eine neue Sicherung wurde eingeschraubt. Ein Fluch. Auch mit der neuen Sicherung gab es keinen Strom. Für seine Arbeiten hatte der Mann den Stromkreis viel zu hoch abgesichert. Rawlings Kurzschluss hatte deshalb nicht die Sicherungen ausgelöst, sondern in der nächsten Trafo-Station die Schalter rausfliegen lassen. Doch das wussten weder der Reporter noch der immer nervöser werdende Geistermacher. 91
Einen Augenblick lang flackerte das Licht wieder auf. Diesmal spürte Rawlings auch das niederträchtige Brennen am Ohr. Er gab mit seiner Lanze keinen Augenblick nach. Das rettete ihm das Leben. Der Strom fiel wieder aus. Hallende Schläge gegen etwas Eisernes dröhnten durch den Raum. Die Treppe, auf der Rawlings lag, zitterte mit und verursachte ihm fast unerträgliche Schmerzen in seinem gebrochenen Bein. Etwas barst über seinen Kopf. Er hörte die eiligen Schritte des Kleinen, dann eine zuknallende Eisentür, aber weiter entfernt. Die Lichtfinger von Taschenlampen tasteten sich die Eisentreppe hinunter. * »Sind Sie als Junge auch so gern ins Kino gegangen?«, fragte Sergeant Billie Budd unvermittelt. »Wenn ich an den Wochenenden herauskam zu meiner Tante, dann war die Sonnabendnacht immer ein Fest. Wir müssen doch so ungefähr in einem Alter sein. Mann, war das ein Spaß, wenn dann die Sirenen losgingen und alles ab in den Keller...« Budd hielt unvermittelt inne. Seine wasserblauen Augen quollen ihm beinahe aus dem gutmütigen breiten Gesicht. Das kam keinesfalls von der Erinnerung an irgendwelche zarte Mary, Betty oder Peggy aus seinen Jugendtagen. »Mensch! Warum sind wir darauf nicht eher gekommen, dass diese alten Kinos noch von damals her Keller haben! Die mussten sie einrichten, wegen der Luftangriffe. Und ich weiß auch noch, wo der Eingang ist.« Er warf sich gegen die eiserne Tür dicht neben dem Kasten, der wie ein Harmonium aussah und auch eines war. Die Tür rührte sich nicht. »Wo sind die Schlüssel, Stevens?« »Die hat... die habe ich nicht mehr.« Der Kinopächter war wieder von Angst geschüttelt. Er strebte von der Tür weg. »Wer hat sie? Der Mann, den Sie für einen Falschmünzer halten?« »Ich sage gar nichts mehr.« 92
Field sagte ebenfalls nichts mehr. Er zog Stevens Hände nach hinten, schob seine Handschellen hinter einem Rohr der Zentralheizung durch und ließ die Fesseln um die Handgelenke des Kinopächters klicken. So konnte er ihnen nicht mehr entgehen. Der kräftige Budd zerdrosch fünf Stuhlbeine an den Scharnieren der rostigen Eisentür. Dann waren die beiden Bolzen heraus. Die Tür klappte ihnen entgegen. Im Strahl der Taschenlampen sahen sie Fred Rawlings am Fuß der Treppe liegen. Der Reporter winkte ihnen matt zu. Field und der Sergeant trugen den verletzten Rawlings vorsichtig die steile Treppe hinauf. Sie betteten ihn auf den Teppich vor der Bühne. Field nahm zwei Stufen auf einmal, um vom Büro des Pächters aus einen Krankenwagen zu rufen. Der Reporter unterbrach seinen knappen Bericht, als Field zurückkam. Er schlug die Hände vor sein Gesicht. »Meine Güte, Sie hätten mich nicht anfassen dürfen. Ich bin verseucht.« Er erklärte, wie das geheimnisvolle Verschwinden zustande kam. Auch Field hatte das Loch im Kotflügel von Dales Wagen gesehen. Das genügte als Beweis. Er und der Sergeant hatten eine Dosis van dem gefährlichen Zeug abbekommen, das Materie für die völlige Auflösung präpariert. »Es ist dieser verrückte Wissenschaftler, der immer dann aufgetaucht war, wo jemand verschwand. Wirkte wie ein völlig unverdächtiger Schwätzer. Ich dachte, mich laust der Affe, als ich den da unten in der Hexenküche sah.« Der Reporter hätte seine Angaben lieber später in größerer Ruhe machen sollen. Doch das konnte er nicht wissen. Er war nur wenig über die Mordsache Blake informiert. Er wusste nicht, dass am nächsten Morgen die Großfahndung nach dem Chemiker anlaufen sollte. Die Photos erschienen schon in den letzten Abendblättern. Er wusste nicht, dass Blake wegen einer leichten Form von Geistesgestörtheit seine Arbeit in der chemischen Industrie hatte aufgeben müssen. Er wusste vor allem nicht, dass Blake nach dem Auffinden von Dales Leiche ein 93
paar Worte mit Field und Budd gewechselt hatte. Im Grunde war er an dem Missverständnis unschuldig. »Die Fahndung nach Blake läuft«, beruhige ihn Field. »Er hat jetzt kein Schlupfloch mehr. Sein Haus steht unter Beobachtung, vor das Kino werden wir mehrere Polizeistreifen postieren. Übrigens müssen wir daran denken, die Häfen und Flugplätze zu überwachen.« Der Superintendent hatte noch nicht genug von seinen Rückschlägen. Im Gegenteil. Er bekam Oberwasser. Hatte er nicht gleich mit dem Finger auf Blake gezeigt? »Habe ich es doch gesagt, das ist ein Ausgefuchster. Bringt seine Frau um und denkt, in dem Trubel kümmert man sich nicht um einen einfachen Familienmörder. Beinahe wäre er damit auch durchgekommen.« Ihr habt die Fahndung verschlampt, dachte Field. Er hütete sich, das auszusprechen. Außerdem schlug es ihm auf den Magen, dass Rutherford durch eine unerklärlichen Ratschluss des Schicksals doch noch Recht zu bekommen schien. »Er hat eins von seinen Geräten mitgenommen. Wenn er irgendwo an Batterien herankommt, macht er es einsatzfertig und löst jeden auf, der ihm zu nahe tritt.« »Wenn er ihm das Mittel einflößt.« »Wir haben keine Ahnung, in welcher Konzentration das erforderlich ist, in welchen Mengen er es besitzt und wie es sich verhält. Nach seinen Angaben scheint es sich im menschlichen Körper selbst neu zu bilden, wenn man es erst einmal drin hat. Deshalb müssen wir davon ausgehen, dass jeder gefährdet ist, auf den er seine Kanone richtet.« »Wo werden sie sein?«, fragte Field nachdenklich. »Es läuft allen Naturgesetzen zuwider, dass etwas auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Die halbe Leiche von Dale ist ebenfalls kaum zu erklären. Die Leute im Labor sagen, sie wirkt genauso, als sei die untere Hälfte noch dran. Kein Austritt von Blut oder Sekreten, die Organe nicht in ihrer Form verändert. Nur eben, die andere Hälfte ist nicht mehr da.« »Ich habe ihn den Geistermacher getauft. Ich stelle mir vor, dass die Opfer unsichtbar und unspürbar um uns herumschweben. Vielleicht 94
lernen sie es, sich mit uns in Verbindung zu setzen, wenn sie sich erst einmal an ihren Zustand gewöhnt haben.« »Sie meinen, der Mann hat einen völlig natürlichen Vorgang technisch nachvollzogen?« »Wenn Sie das Entstehen von Geistern als natürlichen Vorgang ansehen, selbstverständlich, Herr Superintendent.« Field rollte sich eine Zigarette. Dieser Rutherford war tatsächlich nur zu ertragen, wenn man aus größerer Entfernung mit ihm telefonierte. Rutherford gab keine Ruhe. »Gesetzt den Fall, sie sind wirklich noch in irgendeiner Form vorhanden. Dann muss es doch Mittel und Wege geben, sie wieder zu materialisieren.« Rutherford schritt nachdenklich auf und ab. Dann setzte er seinen heutigen Leistungen die Krone auf. »Schließlich haben wir doch Ihre Personalien.« Das fiel selbst Rawlings auf. Die Ambulanz kam und erlöste ihn von seinen Leiden. Das heißt, nicht von dem gebrochenen Bein. Sie brachte ihn aus dem Einflussgebiet eines entfesselten Superintendent Rutherford. In dem Kino gab es nichts mehr zu tun. Die Spurensicherung konnte sich um das Labor kümmern, oder wie man die Werkstatt in dem ehemaligen Luftschutzkeller nennen wollte. Die Einrichtung war eine Sache für Spezialisten. Die Fahndung nach dem Flüchtigen würde in der Nacht nichts mehr ergeben. Mit einer Warnung in Rundfunk und Fernsehen würde man nur eine Panik hervorrufen. Vorsichtig waren die Leute von selbst geworden. Man durfte sie nicht noch mehr verängstigen. »Ich fahre mit Ihnen, Sir.« Field mochte das Angebot seines Sergeanten nicht ausschlagen. Ohne Budd hätte er seine privaten Nachforschungen nicht anstellen können. Ohne ihn wäre er auch nicht so schnell auf die schließlich doch richtige Spur des Kinos gekommen. Er wurde mit Budd in seiner Wohnung noch ein paar Bier trinken und ein paar Pasteten heraufkommen lassen. Dann waren sie erreichbar, falls die Fahndung schon in der Nacht etwas ergab. »Kommen Sie, Billie. Wir laufen zur Station.« 95
Sie kauften die letzte Ausgabe des Evening Star and News. Das Fahndungsbild füllte drei Spalten auf der ersten Seite. Die Aufmerksamkeit der Bevölkerung war geweckt. Auf dem Weg von der Station zu Fields Wohnung fiel es beiden Männern zugleich auf. Zu dieser Stunde hatte eine Ambulanz in der verhältnismäßig stillen Wohnstraße nichts zu suchen. Zu dieser Stunde! Field und der Sergeant amüsierten sich noch immer darüber, dass sie ganz selbstverständlich zum Bahnhof gegangen und einen Zug bestiegen hatten. Auch dass dieser Zug mit morgendlich müden, Aktentaschen schleppenden Leuten gefüllt war, drang nur langsam ins Bewusstsein. Die Zeit war schneller vergangen, als man spürte. Die Nacht war vorbei. Der neue Tag begann. »Glauben Sie auch, dass die Verschwundenen noch irgendwie vorhanden sind?« »Es ist so, wie der Superintendent sagt«, entgegnete Field mit gespielter Würde. »Wir haben ihre Personalien. In dieser Form sind sie noch vorhanden. So genannte Karteileichen. Aber was ist mit diesem Krankenwagen?« »Steht verdächtig lange vor Ihrem Haus, Sir.« »Seltsam. Wenn jemand etwas von mir will, dann wird er sich doch nicht in einem Ambulanzfahrzeug verbergen.« Mit gemischten Gefühlen trat Field näher. Die Tür flog auf und knallte ihm unsanft vor die Brust. Von der Trage her wetterte ein maßlos erboster Fred Rawlings. »Was ist das für ein Quatsch, den Ihr Buch da leistet. Dieser Mann ist doch nicht der Geistermacher. Den habe ich mein Lebtag noch nicht gesehen. Und das könnt Ihr mir glauben, ich vergesse nie ein Gesicht. Ich weiß nur nicht, zu wem es gehört.« Das stieß den Fall um. Field zögerte nicht. Er sprang in die Ambulanz und zerrte Budd mit. »Zum Yard. Tut mir leid, mit Ihrem Bein. Aber wir werden es Ihnen so bequem wie möglich machen. Sie sind nun einmal unser einziger Zeuge.« 96
Der alte Pim war gerade dabei, seine Siebensachen zusammenzupacken und die Nachtschicht zu beenden, als Field und Budd mit den Krankenträgern im Gefolge hereinstürmten. Rawlings klammerte sich auf der Trage fest und wünschte, er wäre nie geboren. Der Superintendent hatte sie von dem Fenster seines Arbeitszimmers aus beobachtet. Er fuhr mit dem Aufzug hinunter und kam Field fröhlich grinsend entgegen. »Nun? Zum Feiern gekommen? Die Fahndung hatte Erfolg. Blake wurde heute in den frühen Morgenstunden in Liverpool erschossen. Was ist denn? Freuen Sie sich gar nicht?« »Der arme Hund. Aber was bringt er auch seine Frau um!« »Mann, er hat Menschen verschwinden lassen!« »Und wie ist er in der knappen Zeit nach Liverpool gekommen? Wo ist diese Strahlenkanone? Außerdem ist Mr. Rawlings der einzige, der den Mann gesehen hat. Es war nicht Blake.« Rutherford fiel das Gesicht herunter. So viele graue Haare konnte kein Friseur nachfärben, wie dieser Fall ihm einbrachte. Zum Verrücktwerden! Wer war dann der Täter, wenn nicht Blake? Field nahm ihm die Antwort vorweg. »Mr. Rawlings wird sich bemühen, so schnell wie möglich das Gesicht zu identifizieren. Pim ist schon dran.« So schnell wie möglich war in diesem Fall zwei Stunden. Dann stand das Bild zu Rawlings Zufriedenheit. Pim schlüsselte die Transparentfolien auf und tippte die Kennziffern auf einer Schreibmaschine, die mit dem Fahndungscomputer verbunden war. Die Maschine rasselte. Sie spuckte kein Ergebnis aus. »Wie ist es mit den ehemaligen Arbeitgebern von Brandish?«, schlug Field vor, der sich immer freute, wenn ein menschliches Gehirn dem Rechner überlegen war. Dieses Telefongespräch war eine Sache für Rutherford. Ein Mann, der nicht Superintendent war, bekam einfach nicht die entsprechenden Telefonnummern. Ein unscheinbarer Mann in nichts sagendem grauen Anzug und tadellos gebundener Fliege kam herüber. Rutherford stellte ihn als einen Physignomisten vor, worunter sich niemand etwas vorstellen konnte. 97
Der Mann warf nur einen kurzen Blick auf die Montage. »Das ist Dr. Dimotroff.« Er wandte sich zum Gehen. Rutherford stoppte ihn an der Tür. »Sie wollten doch nur wissen, wer es ist.« Erst nach einer Rücksprache mit seiner Dienststelle ließ der Mann sich zu einer näheren Auskunft drängen, obwohl das nicht sein Bereich sei. Er sei darauf spezialisiert, Menschen nach Photos oder Beschreibungen zu identifizieren. Dimotroff war ein genialer Physiker, von dem man nur wusste, dass er an einer unwahrscheinlichen Erfindung gearbeitet hatte. Seit zehn Jahren galt er als verschwunden. »Hat Brandish sich damals damit beschäftigt?« »Ja.« »Dann ist das geklärt. Er hat ihn erkannt, als er nach England kam. Die unwahrscheinliche Erfindung ist übrigens, Menschen spurlos verschwinden zu lassen.« Der Mann im grauen Anzug schob ab, nicht ohne eine genaue Personenbeschreibung zu hinterlassen. Sie hatte nur den Nachteil, zehn Jahre alt zu sein. Rawlings gab ihr den letzten Schliff. Bild und Beschreibung gingen über Draht an sämtliche Empfänger. Motorradfahrer verteilten das Fahndungsmaterial an alle Reviere und die Beamten, die gerade auf der Straße Dienst hatten. Alle Bahnhöfe wurden streng überwacht. Gegen zehn kam die erste Meldung vom Flughafen. Ein Mann, auf den die Beschreibung zutraf, hatte auf London Airport eine Flugkarte nach Trinidad gekauft, Kriminalbeamte behielten ihn im Auge. Field und Budd saßen schon im Auto. Budd steuerte den schweren Rover durch den dichten Verkehr hinaus auf die A 4, die nach Westen zum Flughafen führt. Der dicke Sergeant überlegte angestrengt, was ihm helfen könnte, den gefährlichen Mann zu stellen. Er hatte keinen Einfall. Budd war bekannt dafür, dass er nie etwas herausrückte, wenn er es dem reichhaltigen Magazin von Scotland Yard einmal entlockt hatte. Der Kofferraum des Rovers war voll gepackt mit Nützlichkeiten. 98
Angefangen von Leinen unterschiedlicher Länge bis hin zu einer kompletten Tauchausrüstung. Mitten im Verkehr fand er Zeit zu einer Zwischenfrage zu einer Szene, die nur eine Nacht zurücklag, aber Jahre entfernt schien. »Was machen wir mit den Vampiranbetern?« »Was sollen wir machen? Es ist nicht strafbar. Wenn wir gegen jede Geschmacklosigkeit angehen, dann kommen wir zu keinem richtigen Fall mehr.« »Und Stevens?« »Keine Ahnung. Wie ich so das Leben kenne, wird er noch nicht einmal das Geld verlieren.« Budd ließ den Wagen über die große Hochstraße bei Chiswick schießen. Jetzt lagen die drei Fahrbahnen der Great West Road vor ihnen. Der Rover jagte mit Vollgas in Richtung Flugplatz. Vor dem Hauptgebäude hielten einige uniformierte Beamte ihnen wenigstens einen Parkplatz frei. »Er ist in der Abflughalle«, flüsterte der Einsatzleiter dem Inspektor ins Ohr. »Er lässt das Ding nicht von dem Auge.« »Was für ein Ding?« »Sieht aus, wie eine Super-Acht-Kamera. Aber er hat ein Mordsding von einer Batterie umhängen.« Das genügte Field. Es konnte niemand anders sein, als der Gesuchte. Der Geistermacher, wie Rawlings ihn genannt hatte. Vielleicht hatte der Reporter damit Recht. Field bahnte sich in dem Gedränge einen Weg durch die Halle. Der Einsatzleiter zeigte ihm den Mann. Field erinnerte sich. Auch er hatte den kleinen, dicklichen Mann mit der immer beschlagenen Hornbrille schon gesehen. Draußen, hinter dem Kino. Doch Dimotroff, oder wie immer er heißen mochte, hatte ihn nicht angesprochen. Er wusste, was jetzt auf ihn zukam. Es war beinahe ein Selbstmord. Überall sah er bewaffnete Kollegen, Pistolen oder Schnellfeuergewehre schussbereit unter dem Mantel. Doch es gab die strikte Anweisung, nur im äußersten Notfall auf den Mann zu schießen. 99
Field murrte. Wenn sie etwas von einem wollten, dann war dessen Leben heilig. Um einen durchschnittlichen Detektiv-Inspektor scherte man sich wenig. Ihm war klar, wenn die Kollegen Anlass hatten, von der Waffe Gebrauch zu machen, dann kam das für ihn zu spät. Er hatte sich mit Budd eine Taktik ausgeknobelt. Die einzige, die möglich war. Er musste es wagen. »Hallo, Dimotroff, werfen Sie die Kiste weg! Es ist vorbei. Sie sind umstellt.« Er huschte hinter eine Säule. Dabei achtete er darauf, dass der Geistermacher ihn gut sehen konnte. Sekunden später sprintete er hinter eine Sesselgruppe. Es war teuflisch. Wenn jemand auf einen schießt, hört man wenigstens etwas. Man sieht, ob die Geschosse weit oder knapp vorbeigehen. Diese lautlosen, unsichtbaren Strahlen hinterließen keine Spuren. Man wusste noch nicht einmal, ob man nicht schon längst getroffen und aufgelöst war, die Handlungen nur noch in der eigenen Vorstellung vornahm. Field lockte den Geistermacher weiter. Budd hielt sich im Rücken des Mannes. Noch zehn Meter. Noch acht. Field schlidderte auf dem Boden unter einen Tisch und kippte ihn um. Ob die Strahlen durch Holz drangen? Budd war noch drei Meter entfernt. Die Rechnung ging auf. Er hatte den Charakter des anderen richtig eingeschätzt. Der Geistermacher war ein typischer Egozentriker. Einer, der sich selbst immer in den Mittelpunkt stellt. Diese Menschen neigen auch oft dazu, ihre Gegner zu personifizieren. Dimotroff sah nur noch Field. Die anderen waren für ihn unwichtig geworden. Field hob seinen Kopf kurz über die Platte und zog ihn sofort wieder zurück. Das genügte. Budds Arme schlossen sich um den Brustkorb des Geistermachers, pressten ihm die Oberarme an den Körper und nahmen ihm die Luft. Das teigige Gesicht des dicklichen Mannes zeigte noch immer keinen Ausdruck. Nur die Brillenglaser waren noch stärker von innen mit Schweißtröpfchen benetzt als sonst. 100
Der Mann kehrte die Strahlenpistole um. Field schrie seinem Sergeanten eine Warnung zu. Budd warf sich zurück. Doch selbst diese blitzschnelle Reaktion, die dem dicken Sergeanten niemand zugetraut hätte, wäre zu spät gekommen. Der Geistermacher hatte abgedrückt. Man wird nie dahinter kommen, was sein Ziel gewesen war. Sicher ist nur, dass er sich selbst traf. Es war ein unfassliches Bild. Der Mann war von einem Augenblick zum anderen nicht mehr da. Man sah keine Bewegung des kameraähnlichen Geräts. Der Strahl musste sich von selbst über den Körper geführt haben. Sekundenlang schwebte der kleine graue Kasten in Kopfhöhe über dem Boden. Dann zersplitterte er auf den Fliesen des Fußbodens. Field wischte sich den Schweiß von der Stirn. Diese unberechenbare Bestie war unschädlich gemacht. Sergeant Budd schlug ihm in einem Augenblick unbeherrschter Freude auf die Schulter. Diese äußerst ungehörige Handlung dem Vorgesetzten gegenüber erfüllte Field mit Erleichterung. Budd hatte ihn gesehen und getroffen. Welchen anderen Beweis brauchte er noch, dass der Geistermacher ihn nicht mit seinem Strahl erwischt hatte? Wie der Teufel aus dem Kasten stand Rutherford plötzlich vor ihm. Der Superintendent hatte es sich nicht nehmen lassen, ebenfalls hinauszukommen und einen Augenblick zu spät auf dem Schauplatz zu erscheinen. »Ich würde Ihnen gern gratulieren, aber ich darf nicht.« »Gewisse hohe Kreise wollten den Mann lebendig?« »So ist es leider. Und ich bedauere persönlich, dass er nicht seiner gerechten Strafe zugeführt wird.« Field beschloss, sich auf Rutherfords letzte Wellenlänge einzustellen. »Die wird er bekommen, Sir.« »Wie meinen Sie das?« »Denken Sie an die Leute, die er vorausgeschickt hat. Die bekommen ihn jetzt in die Finger. Und er hat es Rawlings gegenüber selbst zugegeben. Es führt kein Weg zurück.« Ende 101