Beiträge zur Geschichte der Psychologie herausgegeben von Helmut E. Lück Band 5
Wolfgang Schönpflug (Hrsg.) Kurt Lewin - Person, Werk, Umfeld Historische Rekonstruktionen und aktuelle Wertungen aus Anlaß seines hundertsten Geburtstags
J.
Peter Lang Frankfurt am Main . Bern . New York · Paris
Kurt Lewin gehört zu den international bedeutendsten Vertretern der deutschen Psychologie. Wegen seiner Herkunft 1933 zur Emigration gezwungen, hat er seine wissenschaftliche Arbeit in den Vereinigten Staaten fortgesetzt. Lagen die Schwerpunkte seiner Forschungen in Deutschland im Bereich der Wissenschaftstheorie und Motivationspsychologie, hat er sich in den Vereinigten Staaten der Handlungsforschung und der Gruppendynamik zugewandt. Der Band bietet Erkenntnisse aus neuen Quellen und bemüht sich um kritische Wertungen aus gegenwärtiger Sicht.
Wolfgang Schönpflug wurde 1936 geboren. Er besitzt einen Magistergrad der University of Kansas (USA), hat an der Universität Frankfurt a.M. promoviert und habilitierte an der Ruhr-Universität Bochum. Er Ist Professor für Psychologie (Schwerpunkt Allgemeine Psychologie) an der Freien Universität Berlin.
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Beim Symposium "Zum hundertsten Geburtstag von Kurt Lewin"
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Am 26. September 1990 beim 37. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Kiel (von links nach rechts):
Lothar Sprung, Mitehe II G. Ash, Wolfgang Schönpflug, Alexandre Metraux, Kurt Back, Horst-Peter Brauns, He/ga Sprung, Eberhard Ulich, Helmut E. Lück sowie Carl-Friedrich Graumann (Foto: Dieter Schneider)
VotWOit Wissenschaftler haben mit den Mimen gemeinsam, da~ ihnen die Nachwelt meist keine Krinze bindet. Selbst gro~r Ruhm zu Lebzeiten schützt nicht vor schnellem Vergessenwerden nach dem Tode. Ein wachsendes Heer von Historikern sucht den Proze~ des allgemeinen Vergessens aufzuhalten. Der Erfolg solcher Bemühungen ist wechselhaft: Mitunter stellt sich eine Renaissance des Vergangenen ein, und der Fachmann, der sie herbeigefiihrt hat, kommt zu hohen Ehren. Doch häufiger verbla~t die Erinnerung. und das Publikum straft den Fachmann, der sie erhalten will, mit Mi~achtung. Aber auch dieses geschieht: Eine Persönlichkeit - und sie braucht nicht zu den bei Lebzeiten Gefeierten gehört haben - geht der Nachwelt nicht aus dem Sinn. Ihr Name wird von Generation zu Generation überliefen, ihre Lehren sowie die von ihr eingeführten Gebräuche leben weiter; die professionellen Vergangenheitspfleger brauchen da nicht viel dazu zu tun. Es kann sogar vorkommen, da~ die Erinnerung ins Kraut schie~t: Legenden bilden sich, die oder der Erinnerte wird zur Kultfigur, deren sich die aktuelle Phantasie bemächtigt, um der Vergangenheit zu unterschieben, was die Gegenwart an Wünschbarem vermissen lä~t. Dann fällt dem Historiker die Aufgabe zu, die Erinnerung auf die geschichtliche Wirklichkeit zurückzuführen. Begibt man sich auf das Feld der Psychologie, so begegnet man in Kurt Lewin wohl einenjener Vertreter, der im Gedächtnis der Fachwelt auch ohne besondere Anstrengungen der Psychologiehistoriker lebendig geblieben ist. Seine Ideen tauchen immer wieder auf- in der Allgemeinen Psychologie, der Persönlichkeitspsychologie, der Entwicklungssowie der Sozialpsychologie. Er wird für die wissenschaftstheoretische Begründung der Psychologie in Anspruch genommen wie für ihre gesellschaftspolitische Praxis. Ihn eine Kultfigur zu nennen, wäre sicher übertrieben. Eine Symbolfigu!_ist er allemal. Ein Symbol wofür? Letztlich für eine in vielfältigen Bereichen zutage tretende Kreativität, für eine3· unbekümmerten lntegrationswillen, für transdisziplinäres Forschen und methodisch Frägen sowie für ein engagiertes Anpacken von sozialen Problemen. Die anhaltende Faszi 1 nation von Lewins Werk und seiner Person rührt wohl von seinem Willen zur Zusammen-1 führung des Auseinanderlaufenden. Die Berufung auf Lewin hält den Wunsch nach einer Psychologie wach, die vieles bewegt, und - multum in U1IO - doch ein einheitliches Unternehmen bleibt. Der Verweis auf Lewin rechtfertigt das Verlangen nach einer Psychologie, die unter den akademischen Fächern Selbständigkeit genie~t und gleichzeitig harmonisch in das System der Wissenschaften eingebunden ist. Das Beispiel Lewins bestärkt den Glauben an die Vereinbarkeil von methodischer Reflexion, theoretischer Analyse und empirischer Erhebung und mahnt zur Überwindung der Trennung von in sich gekehrtem Gelehrtenturn und nach au~n gewandter Weltverbesserung. So steht Lewins Namen wie kaum ein anderer für das ld~~l ~hte~ ei~h!'litliche.n_. i.llt~~jgipli~r_y~rltrt~.Pf!~'.!!.-theC?~~tiJclu!.nd. melhodisch ! I reflektierten llndgleic!rzeiligJll"ktiscb witksamen.f.sr~hol_op~·' 9
Vorwort
Von diesem Ideal ist die moderne Psychologie sicher weit entfernt. Sie teilt sich in zahlreiche unverbundene Forschungsprogramme, isoliert sich im Verbund der Wissenschaften. Theorie, Methodik, Empirie und Praxis klaffen auseinander, und alle vier leiden unter dem Vorwurf, nichts Rechtes zustande zu bringen, solange sie nicht von ihrem Alleingang lassen. Aber war die Psychologie je der beschriebenen Idealvorstellung nahe? Ist diese Idealvorstellung der Psychologie Oberhaupt angemessen? Und wird Lewin zu Recht mit ihr in Verbindung gebracht? Hat er zur Entstehung und Verbreitung der Idealvorstellung beigetragen? Hat er zu ihrer Realisierung beizutragen vermocht? Zur Klärung solcher Fragen benötigt man den Geschichtsforscher. Er mutJ anband der noch verfügbaren Quellen zu klären versuchen, was die Vergangenheit an Realitäten, an zukunftsträchtigen Vision und an Illusionen aufzuweisen hat, und welchen Anteilindividuen daran haben. Jahrestage stimulieren die Rückbesinnung. So hat auch die hundertste Wiederkehr des Geburtstags von Kurt Lewin an mehreren Stellen die Beschäftigung mit seiner Person und seinem Werk verstärkt. Nur wenige Tage nach Lewins hundertstem Geburtstag fand am 26. September 1990 während des 37. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Kiel ein ganztägiges Symposium zu seinem Gedenken statt; dem Symposium schloiJ sich ein Überblicksreferat von cari-Friedrich Graumann zur gegenwärtigen Rezeption des Lewinsehen Wertes an. Das Ziel des Symposiums war die Rekonstruktion von Lewins Persönlichkeit, seines Werkes und seiner Zeit. Das daran anschlieiJende Überblicksreferat versuchte, die bis zu unserer Gegenwart anhaltenden Wirkungen der Lewinsehen Lehre zu ermitteln. Insofern handelte es sich um wissenschaftshistorische Unternehmungen, welche wie in der Wissenschaft Brauch -der Vermehrung und Sicherung von Erkenntnis dienten. Allerdings: Auf die nüchterne Funktion der Erkenntnisgewinnung lietJen sich die genannten Veranstaltungen nicht beschränken. Der Tatsache, daiJ sie im Rahmen eines Kongresses der Deutschen Gesellschaft fiir Psychologie stattfanden, kommt auch eine symbolische Bedeutung zu. War doch l..ewin selbst Mitglied dieser Gesellschaft gewesen und hatte diese unter dem Druck des Nationalsozialismus verlassen müssen; nach 1932 enthält kein Mitgliederverzeichnis der Gesellschaft mehr seinen Namen. Kein Organ der Gesellschaft hat bisher die erzwungene Beendigung der Mitgliedschaft - wie immer sie zustande gekommen sein mag - in angemessener Form eingestanden, bedauert oder gar widerrufen; kein förmliches Bekenntnis versäumter Unterstiitzung für einen wegen seiner Herkunft verfolgten Kollegen war bisher zu vernehmen. So kann man wenigstens die KongretJveranstaltungen aus AnlaiJ seines hundertsten Geburtstags als späten Ausdruck der Identifikation der Deutschen Gesellschaft für Psychologie mit Kurt Lewin werten. Es war eine Ehrung für einen Fachvertreter, der ein Stück glanzvoller Wissenschaftstradition im deutschsprachigen Raum verkörpert.
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Die oben eiWihnten zehn Kongre~referate sind inzwischen teilweise überarbeitet und e!Weiten worden. Zugleich sind drei neue, thematisch einschlägige Arbeiten entstanden. So sind insgesamt dreizehn Beiträge zusammengekommen, welche die gegenwinige Auseinandersetzung mit Lewin bezeugen. Dieser Band soll sie gedruckt an die Öffentlichkeit bringen. Zu danken ist Helmut E. Lück ist für seine Bereitschaft, den Band in die von ihm herausgegebene Reihe "Beiträge zur Geschichte der Psychologie" aufzunehmen, sowie dem Verlag Lang, venreten durch Frau Dr. Claudia Frank, für die gute Kooperation. Anerken· nung verdient auch Sigrid Greiff für ihre Umsicht und Geduld beim Edieren der Druckvor· Iage.
Berlin, Oktober 1991
Wolfgang SchiJnpflug
Kurt Lewin - eine biographische Skizze Wolfgang SchiJnpflug Im Jahre 1856 wurde Sigmund Freud im mährischen Städtchen Freiberg geboren. Seine Eltern betrieben dort ein Textilgeschäft, das sie, als Freud drei Jahre alt war, auflösten, um nach Wien zu ziehen. ln Wien geno~ Freud eine humanistische Bildung am Leopoldstädter Kommunalgymnasium und absolvierte danach ein Studium der Medizin und Zoologie. Mit umfassenden Interessen ausgestattet, die bis in die Ethnologie und Religionsgeschichte hineinreichten, ging Freud daran, eine grundsätzlich neue Lehre des Psychischen, die Psychoanalyse, zu entwickeln. Obwohl in der Öffentlichkeit weithin beachtet, blieb ihm in der akademischen Gesellschaft nur eine Au~nseiterposition; immerhin erhielt er an der angesehenen Wiener Universität in seinem 29. Lebensjahr die Lehrbefugnis als Privatdozent für Neuropathologie und mit 46 Jahren den Titel eines au~rordentlichen Professors. Freud war jüdischer Herkunft. Das war ein Hemmnis für eine weitergehende akademische Karriere und zwang ihn 1938 zur Emigration, als das nationalsozialistische Regime auf ÖSterreich übergriff(Jones, 1960; vom Scheidt, 1976). Soviel zu Freud. Doch wie kommen wir auf Freud, den Begründer der Psychoanalyse? Ist dies nicht ein Buch über Kurt Lewin, den Gestalt· und Feldtheoretiker der Psychologie, den Begründer der Gruppendynamik? ln der Tat: Dies ist ein Buch über Lewin. Aber niemand möge sagen, die Biographie Freuds habe nichts mit der von Lewin gemeinsam. Zwar kann dieser jenen der Generation seines Vaters zurechnen; Freud ist 24 Jahre alt, als Lewin am 9. September 1890 geboren wird. Aber wie sich sonst die Lebensläufe decken! Man ersetze in der Freudschen Biographie das mähcisehe Freiberg durch den Ort Mogilno im damals Preu~ischen Posen, die Habsburgermetropole Wien durch die Hohenzollernhauptstadt Berlin, das Leopoldstädter Gymnasium in Wien durch das Berliner KaiserinAugusts-Gymnasium. Lewins Eltern hatten keinen Textilladen, vielmehr einen Gemischtwarenladen und etwas Landwirtschaft; gleich Freuds Eltern der jüdischen Mittelschicht zugehörig. beteiligte sich Lewins Familie an der Westwanderung in die gro~n Städte, deren Modernität und Liberalität Bildung, Aufstieg und Wohlstand versprach- sowie soziale Emanzipation insbesondere für diejenigen Familien, welche wie die Freuds und Lewins zur Assimilation an die christlich erzogene Bevölkerung bereit waren (zu dieser und den folgenden Charak:terisierungen s. Volkov, 1991; speziell zur Haltung Lewins und seiner Eltern zur jüdischen Tradition s. Lück, dieser Band). Die beiden Fälle Freud und Lewin stehen wohl für viele in Mitteleuropa um die Jahrhundertwetide. Der Lebensweg Lewins ist von Anfang an unverkennbar geprägt von den gesellschaftlichen Bedingungen der Region und der Epoche, in die er geboren wurde.
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Sein Leben soll -wie der weitere Vergleich von Freud und Lewin beispielhaft belegen - epochal- und regionaltypisch bleiben. Es sind neben der Wirtschaft und der Kultur die Wissenschaften, die in jener Zeit Bildungs- und Aufstiegschancen sowie Zuginge zu nützlichen und geachteten Berufen eröffneten und zugleich intellektuelle Herausforderungen boten. Kein Wunder, dafl die Neubürger in den Metropolen die Universitäten aufsuchten, auch wenn die Reste der Diskrimination ihnen noch zumeist die Übernahme von höheren Lehrämtern verwehrten. Lewin näherte sich der akademischen Welt zunächst wie Freud über die Medizin; anders als bei Freud blieb die Medizin nicht sein Metier. Dafl Lewin und Freud das Psychische zu ihrem zentralen Gegenstand machten, mag eine Koinzidenz sein, die sich aus dem Lebensschicksal nicht ableiten liflt. Aber aus ihrer Lebensgeschichte dürften drei Grundzüge ihres Werkes hervorgehen: Qer Hang zur Grundsitzlichkeit, der Drang zur Erneuerung und die Neigung zur komprehensiv~·n,lirelchs- und disziplinübergreifenden Betrachtung. Diese drei Züge finden sich wohl nicht zutällig im Werk zweier Autoren, die aus mitteistindischem und traditionellem Denken herkommend einen Platz in der sich neu formierenden, aufklärerisch gesonnenen und naturwissenschaftlich orientierten Wissenschaft anstreben. Anzunehmen, ihre Herkunft habe ihnen in der neuen Welt Minderwertigkeitsgefühle bereitet, die ihnen Befriedigung nur bei höchsten Ansprüchen gestattet habe, hiejk, sich ohne Belege einem verbreiteten Erklärungsschema anzuvertrauen. Aber das Bewufltsein, aus Provinz, Traditionalismus und Diskrimination zur intellektuellen Avantgarde gestopen zu sein, gepaart mit der Erfahrung von immer noch hemmenden Vorurteilen, mag ungewöhnliche Ambitionen und Energien freigesetzt haben. Nichts geringeres verlangen sie von sich selbst, nichts geringeres soll ihnen Anerkennung sichern als die Entdeckung neuer, universell gültiger Prinzipien. So entwickelt Lewin, was Totman (1948) in seinem Nachruf als "inlellectlllll keenness and origitullity, courage and ust" charakterisiert - Eigenschaften, die man sicher auch Freud zuschreiben kann. Schliej31ich wird die bittere Erfahrung der Emigration zur epochen- und regionaltypischen Gemeinsamkeit. Freud wandert nach England aus, Lewin in die Vereinigten Staaten. Aber hier macht sich der Generationenunterschied bemerkbar. Freud hat bereits sein achtzigstes Jahr überschritten, als er 1938 ÖSterreich verläj3t. Er ist bereits unheilbar krank und steht am Ende seiner wissenschaftlichen Lautbahn. Lewin befindet sich, als er 1933 aus Deutschland auswandert, noch in den besten Mannesjahren, setzt in den Vereinigten Staaten seine Karriere fort, im neuem Wirkungskreis mit neuen Ideen. Bis zum Schluj3 also ein Leben, in dem sich die Zeitläufe - die förderlichen wie die widrigen - nachhaltig widerspiegeln.
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Lebensstadien und Arbeitsperioden Die Eckdaten aus Lewins Biographie sind bekannt und gesichen. Einen knappen Überblick über Leben und Werk geben Metzger (1979) und Graumann (1981). Lewins Leben und Werk ist allerdingc; bisher nur eine einzige umfangreiche Monographie gewidmet worden; sie stammt von seinem Schüler Alfred J. Marrow und ist im Jahre 1969 erstmals erschienen. Freilich ist gerade die grofJe Biographie aus der Perspektive des Schülerkreises vom Massachusetts Institute of Technology verf~t; dies ist sicher eine wichtige, aber nicht die einzige anzulegende Perspektive. Au~rdem ist die Forschung über Lewin fongeschritten; es gibt neue Berichte (u.a. Bierbrauer, 1983; Heider, 1983; Patnoe, 1988) und neue Dokumente. Vor allem sichern Forschungen zur Psychologiegeschichte Kenntnisse über das politische und soziale Umfeld Lewins, die bereits verloren waren oder verloren zu gehen drohten. Mit dem Zuwachs an Wissen ergeben sich neue lnterpretationsansätze. Der Anteil der Theorie an der Biographie wächst. Der vorliegende Band gibt einen lebendigen Eindruck von den gegenwänigen Bemühungen, die Kenntnisse über Lewin zu vermehren und den theoretischen Zugang zu seiner Persönlichkeit sowie seiner Arbeit zu veniefen und zu verbreitern. Gut dokumentien ist auch Lewins Arbeit. Er und seine Schüler haben flei~ig publizien. Die deutsche Ausgabe von Lewins (1963) Feldtheorie in den Sozialwissenschaften enthält ein Schriftenverzeichnis. Die Publikationen und einige unveröffentlichte Schriften von Lewin und seinen amerikanischen Mitarbeitern sind bei Marrow (1969) zusammengestellt. Im übrigen ist der Nachlap bei der Familie Lewin erhalten. Seit 1981 erscheintbetreut von Cari-Friedrich Graumann als Hauptherausgeber - in deutscher Sprache eine auf Vollständigkeit bedachte Kun-Lewin-Werkausgabe (im folgenden abgekürzt als KLW), die auch bisher unveröffentlichte Manuskripte enthält. Fajlt man die Kindheit in Posen bis 1903 und die Schul- und Jugendzeit in Charlottenburg bis zur Reifeprüfung 1909 zum ersten Stadium von gut 18 Lebensjahren zusammen, so bildet die Zeit vom 19. bis zum beginnenden 30. Jahr, in dem er sein erstes Habilitationsgesuch einreichte, das zweite Lebensstadium. Aber wie kontrastreich gestaltete sich dieses zweite Stadium, das den Übergang von der Schule zum Beruf als Wissenschaftler vermittelte! Lewin war in diesem zweiten Stadium Student, wurde junger Wissenschaftler. Aber noch bevor die Promotion abgeschlossen war, meldete sich Lew in als Kriegsfreiwilliger, kam als Feldanillerist an die Front nach Frankreich und Rujlland, wurde im April 1918 zum Leutnant der Reserve beförden und im August 1918 - wenige Wochen vor Kriegsende - schwer verwundet. Das Studium begann mit drei Semestern Medizin, dem neun Semester Philosophie folgten. Lewin schrieb sich zunächst für je ein Semester an den Universitäten von Freiburg i.Br. und München ein; dann kehne er wieder nach Berlin zurück. Als seine akademischen Lehrer nannte er u.a. Abderhalden, Cassirer, E~ma.n.!l.....ßl~~e.!!? Riehl und Stumpf. (Diese und andere biographische .Ängä~lür "c:iie- ~il bis 1919 stamme~-;~~ <Jeißiiändgeschriebe15
nen Lebenslauf Lewins aus dem Archiv der Humboldt-Universitit Berlin. den er seinem ersten Habilitationsgesuch beilegte; für die Überlassung einer Kopie habe ich Dr. HorstPetee Brauns zu danken.) Am Psychologischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität arbeitete er zwei Jahre lang bis Ostern an seiner Dissertation über Die psychische Tiltigkeit bei der Hemmung von Wil/ensvorgi.lngen und das Grundgesetz der Assoziation (gedruckt Lewin, 1917b).legte noch kuiZ nach Kriegsbeginn im September 1914 seine Doktorprüfung ab; förmlich promoviert wurde er jedoch erst im Dezember 1916. Sein Frontdienst wechselte mit wissenschaftlicher Arbeit ab; er arbeitete an Schallme~apparaturen und an einem Eignungstest für Funker. Bekannt geworden ist aus dieser Zeit jedoch mehr sein 1917(c) gedruckter Aufsatz Kriegslondschoft. der als eine der ersten ökopsychologischen Analysen gilt. Erst Ende April 1919 konnte er aus dem Lazarett entlassen werden. Dort schon hatte er seine als Habilitationsschrift gedachte Studie mit dem Titel Der Typus tkr genetischen Reihen in Physik, organismischer Biologie und Entwicklungsgeschichte begonnen; er brachte sie zum Ende 1919 zu einem Abschlup, am 9. Januar 1920 unterzeichnete der Dekan die Habilitationsanmeldung. Der erste Habilitationsversuch scheiterte am Desinteresse der Gutachter an der Habilitationsschrift; die Einzelheiten des gescheiterten Verfahrens hat Metraux (1983) rekonstruiert. ln der Tat handelt es sich um eine wissenschaftstheoretische Abhandlung. die fächerübergreifend angelegt das Interesse einzelner Fachvertreter leicht verfehlen kann; die Psychologie ist darin übrigens gar nicht berücksichtigt. Andererseits handelt es sich um ein zentrales Werk in Lewins frühen Bemühungen um eine allgemeine Wissenschaftslehre. ln diesem Band legt Alfred Lang ein leidenschaftliches Bekenntnis zu der Geneseschrift ab; gerade weil Psychologie darin fehle, fordere sie den Psychologen zur Bestimmung des Gegenstands seines Faches heraus. Der Mi~erfolg des ersten Habilitationsvorhabens war schnell überwunden. Die Schrift selbst erschien 1922 in aufwendigem Druck bei dem renommierten Verlag Springer; die Berliner Philosophische Fakultät erteilte die venia /egendi aufgrund einer experimentalpsychologischen Arbeit und eines gedichtDispsychologischen Vortrags Ende 1920. Bezüglich des zweiten hier definierten Lebensstadiums sind vier Punkte hervoiZuheben: (1) Lewin gelang es bis zum Ende seines drei~igsten Lebensjahres. sich als Wissenschaftler mit aussichtsreicher Berufsperspektive zu qualifizieren. (2) Seine wissenschaftliche Orientierung ist transdisziplinär. was Alexandre Metraux in diesem Band noch ausführlicher analysieren wird. (3) Im Mittelpunkt Lewinsehen Denkens stehen früh methodologische Probleme - ein Punkt. dem sich in diesem Band Lothar Sprung und Uwe Linke noch eingehender widmen werden. (4) Sein Fortkommen in der akademischen Gesellschaft verdankt Lewin vorwiegend seinen psychologischen Beiträgen. Bin drittes gro~ Stadium in Lewins Leben erstreckt sich von 1921 bis 1933. Br übernahm eine Assistentenstelle in der von Hans Rupp geleiteten ARgewandten Abteilung am Berliner Psychologischen Institut. von der aus er eine eigene Arbeitsgruppe zur Willens-
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psychologie aulbaute. 192? -~~~-~_!!~~olule beamtet Z\1 we*n, zum_aujlerordeotlichen Professor der PhiiOS()p~ie_ und Psyc~logie ~r~~_am~t _Die Möglichkeiten für eine auswärtige Berufung waren wegen Lewins jüdischer Herkunft stark eingeschränkt, seine Zugehörigkeit zur akademischen Gesellschaft jedoch gesichert. In diesem dritten Stadium entfaltete sich eine !ebhafte Aktivität, in der die folgenden Leistungen hervorzuheben sind: (1) Forschungen zur Arbeitspsychologie, wie sie fiir ein Mitglied einerAngewandten Abteilung angemessen sind - Eberhard Ulich wird sie in diesem Band noch würdigen. (2) Ein eigenes Experimentalprogramm zur Willens-, Affekt- und Mandlunppsychologie - HorstPeter Brauns wird in diesem Band seine Entwicklung rekonstruieren. (3) Im Rahmen von _, (2) Ansitze zu einer eigenständigen Persönlichkeits- und Entwicldungspsychologie. (4) Die Fortsetzung der methodologischen Arbeiten, die sich nunmehr zunehmend auf die Psychologie konzentrieren. (5) In Zusammenhang mit (2), (3) und (4) ein eigener Darstellungs- und Analyseansatz, die Topologische Psychologie. Lewins Berliner Vorlesungen und Seminare sind dokumentiert (vgl. Metraux, dieser Band), über seinen Erfolg als Dozent hört man wenig. Gern berichtet wird jedoch über seinen lebhaften und inspirierenden Umgang mit Doktoranden (Marrow, 1969). Wie seine (möglicherweise aus der Erfahrung eigener Diskriminierung genihrte) Aufgeschlossenheit den Studierenden zugute kam, davon gibt in diesem Band Helga Sprungs Kapitel über seine Schülerinnen einen Eindruck. Aufgeschlossen ist Lew in überhaupt für die Modeme - in der Politik, der Kunst, der Wissenschaft; freilich wäre es auch falsch, ihn unbesehen als Verfechter aktueller Fortschrittslehren darzustellen. So zeichnet Mel van Elleren in dem hier folgenden Beitrag über Lewins sozialpolitische Orientierung diesen als Uberalen mit durchaus konservativen Zügen. Lewin lieji fiir seine Familie in Berlin-Nikolassee ein Wohnhaus im Bauhausstil errichten und einrichten, er drehte Filme und interessierte sich fiir Filmästhetik. So erschloji er sich ein künstlerisches Umfeld. Seine Beziehung zu dem russischen Filmregisseur Eisenstein und dessen Bindung an die Psychologie, wie sie in diesem Band Oksana Bulgalwwo beschreibt, ist nicht nur ein anschauliches Beispiel für die Vertlechtung von Wissenschaft und Kunst im Berlin der Zwanzigerjahre; die Episode verweist auch auf das lebhaft schweifende Interesse Lewins für neue Erfahrungsbereiche und anregende Persönlichkeiten. Schon in seinem zweiten Stadium _!!Jtte sich Lew in im intellektuellen Kraftfeld der Berliner Philosophischen Fakultät bewegt. IlD seinem dritten Berliner Stadium setzte er sich mit.-~~r._neu propagierten Gestalttheorie auSern3Jt~~r•. fa~J~~ir~_in. W~lfg!i~i!(~~!~.r einen stimüiieieiiden; freilieb ·auch.recliiicrm&chen (s. ~ack, in diesem Band) Gesprächspanne!. Di~--Frage wird ltnmer driöglicnir'gesieilt; ~i~- weit Lewin in seiner Suche nach Erkenntnissen über die in der Philosophischen Fakultät gesetzten Grenzen hinausgegangen ist. Insbesondere stellt sich die Frage nach Lewins Offenheit zur Psychoanalyse, von der berichtet wird, sie sei am Berliner Psychologischen Institut ein Tabuthema gewesen (s. Bulgakowa, dieser Band), obgleich auch in Berlin seit 1920 aujierhalb der Universität eine 17
Psychoanalytische Poliklinik die Lehre Freuds pflegte (Jones, 1962, S.3S). Tatsache scheint zu sein, da~ Lewin Freud nie begegnet ist; es fehlen auch Berichte über einen Besuch von psychoanalytischen Veranstaltungen. Doch mit Schriften Freuds dürfte Lewin durchaus vertraut gewesen sein (s. Brauns, dieser Band; Lück & Rechtien, 1989). Als die internationale Anerkennung beginnt, nähert sich die Berliner Zeit ihrem Ende. 1929 erhielt Lewin eine Einladung zum Internationalen Kongre~ für Psychologie nach Yale und nahm 1932 eine sechsmonatige Gastprofessur an der Stanford University wahr. Über Japan und Ru~land ging die Reise zurück nach Deutschland. Das war im Januar 1933, und Deutschland befand sich auf dem Weg in den Faschismus. Das Berufsverbot tnr Bürger jüdischer Herkunft war abzusehen, weitere Boykottma~nahmen kündigten sich an. Der in Lewins Nachla~ gefundene Brief an Köhler vom 20. Mai 1933 (Lewin, 1981) beweist seine überaus starke Bindung an Deutschland; "•••~sich trotz allen Vernunftgründen alles in mir dagegen aufbäumt, Deutschland zu verlassen", bekennt er darin. Er macht noch Eingaben an das Ministerium, um als Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges seine Stellung an der Berliner Universität behalten zu können - ohne Erfolg. So entschlo~ er sich zur Emigration. Robert Ogden, ehemals Student bei Oswald Külpe in Würzburg (Watson, 1963, S.270) und damals Dekan an der Comell University, lud ihn an seine Universität ein, wo er ab Herbst 1933 lehrte. Die vierte Periode Lewins hatte damit angefangen, die Periode der Etablierung in den Vereinigten Staaten. Die Periode der Etablierung in den Vereinigten Staaten sei hier auf rund ein Jahrzehnt von 1933 bis 1944 festgesetzt. Sie umfa~t die Tätigkeit an der Cornell University in Ithaka im Staate New York bis 1935 sowie die Arbeit an der Iowa State University von 1935-1944. Es sei hier die Auffassung gewagt, da~ in dieser vierten Periode Lewin zu einer neuen persönlichen und wissenschaftlichen Identität fand: In persönlicher Hinsicht als Amerikaner und Jude, als Gruppendynamiker und Aktionsforscher in wissenschaftlicher Hinsicht. Mit dieser doppelten Identität - so sei weiter angenommen - eröffnete sich ihm 1944 ein fünftes Lebensstadium, als er am angesehenen MassachusetiS Institute ofTechnology (MIT) in Cambridge, Massachusetts, das Forschungszentrum für Gruppendynamik leitete. Dieses fünfte Stadium wies eine erhebliche Eigenständigkeil auf und versprach noch beachtliche neue Entdeckungen und Enlwicldungen. Aber schon nach knapp dreijähriger Dauer brach es jäh ab, als Lewin am 12. Februar 1947 einem Herzschlag zum Opfer fiel. Zu Beginn des vierten Stadiums war Lewin durchaus noch nicht zum endgültigen Verbleib in den Vereinigten Staaten entschlossen. Offenbar bemühte er sich ernsthaft um eine Fortsetzung seiner Tätigkeit im damaligen Palästina, an der Universität von Jerusalem. Hierzu, und warum es wohl zu einer Berufung nach Jerusalem nicht gekommen ist, wei~ Helmut E. LUck in diesem Band anband von Dokumenten aufschlu~reich zu berichten. Obwohl die Pläne einer Übersiedlung nach Palästina nicht verwirklicht wurden, zeigen sie doch, da~ sein Emigrantenschicksal in Lewin das Bewu~tsein seiner jüdischen Herkunft stärkt. Dieser Proze~ hat sich später zweifellos fortgesetzt, als die Vernichtung jüdischen 18
Lebens zum erklärten Ziel der deutschen Regierung wurde und Lewins eigene Mutter in einem Konzentrationslager den Tod erlitt. So wurde jüdische Identität für ihn nicht nur ein neues Thema (s. Lewin, 1940/1948), sondern auch eine neue Erfahrung. Für das Erleben einer solchen Identität bedurfte es gar nicht der Auswanderung in einen eigenen Judenstaat; die Vereinigten Staaten als multikulturelles Gebilde mit mächtigen jüdischen Organisationen gestatteten, sich zugleich als Amerikaner und als Jude zu fühlen • mit weniger Kontlik· ten als selbst noch das liberale Deutschland, das auf Assimilation im Namen des Fortschritts drängte. Lewin hörte also auf, ein Deutscher unter Assimilationsdruck zu sein. Er wurde im Januar 1940 amerikanischer Staatsbürger in der Gewi~heit, sich frei zur jüdischen Gemeinschaft bekennen zu können. Gleichzeitig entfernte er sich immer stärker von der akademisch organisierten Psychologie, ja überhaupt von den akademischen Gemeinden der Philosophen und Psychologen, denen er bisher angehört hatte. Weder an der Cornell University in lthaka, noch an der lowa State University, noch am MIT fand er jene geballte philosophische Gelehrsamkeit vor, die ihn seit seinen Studienjahren umgeben hatte. Mitglied eines Psychologischen lnsti· tuts ist er nie wieder geworden. In lthaka lehrte und forschte er an der School of Home Economics sowie an der Nursery School, in Iowa an der Child Welfare Research Station; in Cambridge wurde ein eigens auf ihn zugeschnittenes Research Center for Group Dynamics gegründet. An den beiden erstgenannten Stellen gab es Psychologische Institute, die Lewin jedoch nicht kooptierten; in Cambridge war die Psychologie als eigene Fachrichtung gar nicht vertreten. Hierzu mehr von Mitchell G. Ash und Kurt Back in diesem Band. Seiner Einordnung folgend vertiefte sich ~~i~ ~~c;IJst. in die Kinderpsychologie. Gleichzeitig wandte er sich stärker praktisch bedeutsa;..en Frage~·m: Das zeiSt sich gl~ich in It.~~ wo er E~gewohnheiten bei Kindern und deren Änderung untersucht (Lewin, 1943). Von der ~~~~.Y.C.I_lologie ist es dann nur ein kurzer Schritt zur Psychologie der _9nlppe...wenn d~~laJ~n_f~-~~n. unter de~ll.l9:~r~uf\v.a~!ls~:':l_,Jn den Mittelpunkt der Betrachtung rücken. Eine Schlüsselstellung bei diesem Übergang kam wohl Lewins Studie ····-····-·-··~ mit Ronald Upp1tt über die <~:emo!cia~!~~ l,l~_!'
[email protected]!IP~~-rc..ID-!(i~erB.n.J.P~~zu (Lewin & Uppitt, 1938). Lewin sah sich offenbar nicht in der ja durchaus vorhandenen sozialpsychologischen Tradition, sondern reklamierte für sich und seine Schüler ein eigenes Fachgebiet: ~G.J11~ndx..n!lmik. (Diese intendierte Eigenständigkeil begründet Back später in diesem Band noch ausführlicher. Wie weit Lewinsich damit freilich in eine damals auflebende Tradition der amerikanischen Soziologie begibt, wird van Biteren später in diesem Band diskutieren.) Für ti.~. Q..IYJ!PCndYNßlik ko~~-~~n wiederum eine Ieistungs· fähige 5.
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Forschungsgebiet entwickelt, als er in Cambridge seinen letzten Neubeginn wagte. Der Neubeginn führte ihn zunichst heraus aus der institutionalisierten Psychologie in eine - wie Back (dieser Band) berichtet· randständige Stellung. Doch als die Erfolge der Gruppendynamik offenbar wurden, holte die akademische Psychologie Lew in als Begründer der modernen Sozialpsychologie wieder in ihre Reihen zurück; das war freilich erst nach Lewins Tod. Oder waren es die Schüler Lewins, die des Sonderwegs der Gruppendynamik überdrüssig geworden waren und diese wahlweise in die etablierteren Flicher Psychologie und Soziologie einbrachten? Die gruppe~~ik hatte im Labor begonnen, zielte aber von Anfang an auf das Anwendungsf~klSChliejJtlch überwogen die Studien im Feld. Bei der Auswahl von Plätzen, Stichproben und Fragestellungen liejJ sich Lewin vom aktuellen Problemdruck leiten. Dem Problemdruck wären freilieb folgenlose Analysen nicht angemessen gewesen, und so ging die Untersuchung über in eine Handlungsforschung, die anband von Modellfällen praktische Ulsungen zu verwirklichen trachtete. Das Amerika, das Lewins neue Heimat geworden war, hatte sich dem Streben nach Glück verschrieben, war ein Hort der Menschenrechte und de! Demokratie. Aber es steckte auch voll von Armut, Diskriminierung und Gewalt. Lew in und seine Mitarbeiter beschäftigten sich mit dem Zusammenwohnen von Schwarzen und i · WeilJen in der gleichen Siedlung, mit Widerständen gegen die Beschäftigung von Schwarzen, mit jugendlichen Banden, Umstellungsproblemen in der Industrie • das sind nur einige der in Angriff genommenen Projekte. Unter den Minderheitenproblemen spielten die jüdischen Probleme eine besondere Rolle: Wie verhindert man Übergriffe auf jüdische Gemein· den? Wie erzieht man jüdische Kinder? Die Einsicht, dajJ die Artikulation und Lösung sozialer Probleme am besten von den Betroffenen selbst zu leisten ist, führte zur Entwicklung des letzten Lewin zuzuschreibenden Beitrags, dem Sensibilisierungstraining in Gruppen. Die akademische Psychologie und die Universität als Institution hat also Lewin in Amerika wenig eingebunden, gefordert und gefördert. Umso mehr nahmen ihn die sozialen Probleme im Umfeld gefangen. Bestärkt wurde er in seinem Praxisbezug durch Stiftungen und Verbinde, die sich der Besserung gesellschaftlicher Verhältnisse verschrieben hatten und deren Unterstützung Lewin suchte. In Amerika hat Lewin die "Drittmittelforschung" entdeckt, und er legte • verglichen mit anderen europiischen Emigranten • einen ungewöhnlichen Eifer im Einwerben von Forschungsauftrigen an den Tag. Unter seinen Förderem befanden sich die Field Foundation, die dem KongrejJ Amerikanischer Juden verbundene Commission on Community lnterrelotions, Industrieunternehmen und wohl noch viele andere. Lewin wandelte sich zum Unternehmer. Seine Projekte der Handlungsforschung entsprangen sicherlich seinen eigenen wissenschaftlichen Interessen; aber sie e~tsprachen auch den Anforderungen eines Marktes an praktischen Erkenntnissen und wissenschaftlich gestützten Dienstleistungen.
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Lewins Pläne erstreckten sich- folgt man seinem Biographen Marrow {1969)- auf eine noch stärkere lnstitutionalisierung seiner bzw. der von ihm favorisierten Forschunpbemühungen. Von einer internationalen jüdischen Forschunpstiftung ist da die Rede, einem Sozialforschungsprogramm zur Rehabilitierung europlischer Juden. Marrows Schilderung ist auch zu entnehmen, daji seine verantwortunpvollen Projekte, die vielseitigen Kontakte und weitreichenden Pläne Lewins Gesundheit belasteten und einem frühen Tod den Weg bereiteten.
GenialiJIJt der Anpassung? Ohne Anpassung an seine Umwelt vollzieht sich auch das schöpferischste Leben nicht. Doch gewinnt man beim Betrachten der Biographie Lewins den Eindruck einer besonders intensiven Angeregtheil durch das Umfeld; ja man wird diesem Wissenschaftler geradezu bescheinigen wollen, fiir ~..&Y!l&e!l_a~~~l!\..l.!mfdd eine .bel!!_e!.k~...m~.. E.mp.tind3.!!mkeitbese.~~ und seine Oris!!!~.~!!.!!~Hci.i~!:r.~mP.!iJlc!$.lQJ.~eU..&~c.böpfJ ~ ~~~1). Es sei versucht, dies an einigen Punkten zu belegen. Der erste Punkt sei das Erlebnis des Ersten Weltkriep. Lewin wird die herrschende nationale Stimmung nicht fremd gewesen sein, als er sich als. Freiwilliger..zum Militär meldete. Die idealistischen Analysen des Krie~ienstes, die u.a. sein Lehrer Max Dessoir im Jahre 1916 drucken lieji, rezensierte er ohne Widerspruch (Lew in, 1917a). Er selbst nahm seine Krieperlebnisse zum Anlaji für eine Analyse des psychologischen Raumes, erschienen unter dem Titel "Kriegslandschaft". Wie immer er seine Dienst- und Kampferfahrungen persönlich erlebt und bewertet hat, er schloji sich der akademisch-distanzierten Betrachtunpeise der sich zu Worte meldenden Wissenschaftler an (allein der 12. Band der ZeitschriftfUrangewandte Psychologie von 1917 rezensierte fünf derartige, neu erschienene Schriften zum Krieg). Und das von ihm gewählte Thema des psychologischen Raumes war esoterisch, vergleicht man es mit der expressiven Schilderung der Entbehrungen und Leiden des Frontsoldaten, überhaupt der Brutalität des Krieges in Erich Maria Remarques allerdings erst 1929 erschienenen Roman Im Westen nichts News. Sozialkritisch war die Kriegsif!nd· Ii:~ schal!. keinesfalls, und doch bildete sie • und das macht sie zu einem originellen Beitrag den Au!Bans.munkt .Yon 1:..e:wJ~.m.e.t119
logisch~tum~f...F.~!dllle~uie._, _.. Die Kriegslandschaft stellt sich als subjektiver Raum dar. "Da den Infanteristen in manchen Fällen andere Landschaftsgebilde begegnen mögen, sei erwähnt, daji ich Feldartil· lerist bin"- betont der Autor ausdrücklich (Lewin, 1917c, S. 441). Der subjektive Raum ist ein ganzheitliches, gleichwohl gegliedertes Gebilde; Zonen, Grenzen und Richtungen sind !~ darin auszumachen. Die besondere Kriepsituation bestimme Charaktere • so nehme etwa ~ ·· ein Laufgraben Gefechtscharakter an. Solche Charaktere bestimmten Gesinnungen und .~ Handlungen - so könnten bürgerliche Gebrauchsgegenstände wie Möbel, nachdem sie ·· Kriegscharakter angenommen hätten, ohne Reue angesteckt werden. Wechsel von Eindrük-
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ken ergAben sich durch Bewegungen im Feld - etwa beim Nachrücken gegenüber dem ··-zurückweichenden Gegner. Hier vollzieht sich offenbar- wie schon Heider (1959) meint der erste Entwurf eines topologischen Vokabulars mit Begriffen wie "Lebensraum", "Region", "Grenze", "Lokomotion", "Aufforderunpcharaltter" und "Vektor". Dies also ein erstes Beispiel, wie Lewinsich von seinem Umfeld zu eigener Kreativität inspirieren lä~t, und die Vennutung ist nicht weit hergeholt, der Topologe Lewin sei aus dem Feldartilleristen Lewin hervorgegangen. (Auf die obigen Zusammenhänge hat mich zunächst Horst-Peter Brauns [s.a. seinen Beitrag zu diesem Band] hingewiesen.) Nachhaltig lie~ sich der junge Lewin auch vom genius loci seiner Berliner Universität beeinflussen. In seinem umfangreichen wissenschaftstheoretischen Werk, seinem Bemühen um eine Wissenschaftslehre eiferte er unverkennbar Ernst ~irer nach, dem er erstmals 1910 als Privatdozenten begegnet ist (Lewin,1949/1981). Cassirers damals gerade erschienene Monographie SubsttJ~&r.iJI..f!!'d fliiÜci~/Je..~~i/f. ~at Lewin nicht nur tief beeindruckt, sondern auch zur Nachahmung und Fortsetzung angeregt. Ohne dieses Vorbild wäre wohl weder sein ~griff der Genese noch wären die späteren wissenschaftstheoretischen Schriften wie Der obergäng von 'der aristotelischen zur galileischen Denleweise entstanden. Freilich war diese Anpassung aß sein Umfeld für t..eWins""Käifiere· wenig förderlich. Der Dozent, der sein Vorbild war, konnte im ersten, im gescheiterten Habilitationsverfahren nicht sein Mentor sein. Hätte Lewins Schrift zum Begriff der Genese auch zurückgezogen werden müssen, wenn Cassirer Ende 1919 noch in Berlin gelehrt hätte, wenn er gar Sitz und Stimme in der Berliner Philosophischen Fakultät besessen hätte? Eine reizvolle Frage. Doch die Wirklichkeit ist ihr zuvorgekommen: Ernst Cassirer war als Privatdozent nie Mitglied der Berliner Philosophischen Fakultät, und er wurde kurz vor Lewins erstem Habilitationsantrag 1919 nach Harnburg berufen. Unbestreitbar erfolgreich waren Lewins theoretische und experimentelle Auseinandersetzungen mit der Assoziationspsychologie von Narzi~ Ach. Auch zu Ach führten biographische Spuren. Ach lehrte im Jahre 1906 als au~erordentlicher Professor in Berlin, bevor er 1907 als ordentlicher Professor nach Königsberg berufen wurde (Düker, 1966). Damals hatte er gerade seine Schrift Die Willenstilliglreit und d4s Denken (Ach, 1905) veröffentlicht und war wohl dabei, die Monographie Über den Willensakt und d4s Temperament (Ach, 1910) für den Druck vorzubereiten. In der kurzen Zeit von Achs Lehrtätigkeit in Berlin war Lewin noch Gymnasiast, als Student mag er jedoch Narzi~ Ach während seines Besuchs zum 5. Kongre~ für experimentelle Psychologie im Jahre 1912 persönlich begegnet sein (vgl. Ach, 1912). Zur Beachtung von Narzifi Ach trugen vermutlich auch die vergleichsweise engen Beziehungen zwischen dem Berliner und dem Göttinger Institut bei, das unter der Leitung von Georg Elias Müller stand; so war Müller Vorsitzender der Gesellschaft für experimentelle Psychologie, als Stumpf deren Kongre~ in Berlin ausrichtete. In Göttingen bei Müller hatte Ach bereits habilitiert; Köhler übernahm später, bevor er Stumpfs Nachfolge in Berlin antrat, ein Extraordinariat in Göttingen. Bei allen diesen Ver-
zuniciiSt
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fkchtungen lag es wohl nahe, da~ Ober den Willensakt und das Temperament zu Lewins Studienzeit in Berlin als bedeutende ~lnüng·reilplett wurde. Und s0 iiiäg es wiederum eine Reaktion auf eine aktuelle Anregung gewesen sein, dafi sich.~!!!_: wie er in seinem bereits oben zitierten Lebenslauf angibt- von Ostern 1912 bis Ostern 1914 kritisch 11lit.!l.en ~~n.Arbeiten Achs I!_USein~~JKfzle. Und die Studie, die da entstand (Lewin, 1917b), wurde keine schlichte epigonale Arbeit, sondern ein kiihner Gegenentwurf. Horst-Peter Brauns wird spiter in diesem Band skizzieren, wie sich ~ d~.!J Anfängen das verzweigte E!C.J?C!riß!~Dt~ll!.!!l.l!l_~r Handlungs- und Affektf~rschung entwickelte. Damit wiederum schlofJ sich Lewin der von seinem Lehrer Carl Stumpf gepflegten experimentalpsychologischen Tradition an. Aber das sei hier ebenso wenig verfolgt wie die schwierige Frage nach seillE!!) .l(vhältni§.e.der sich in Berlin entfa!_~nden Richtung det..Gestalttheorie, wie sie Köhler und Wertheimer vertraten:- -sei ein~-zeitlicher ~ng gem~cht i~-die Zeit nach der Auswanderung. Es wurde oben bereits ausgefiihrt: Lewin entfernte sich in dieser Zeit von der akademischen Psychologie, ja Oberhaupt einem theoriezentrierten Wissenschaftsbetrieb. Das Lösen praktischer Probleme wurde sein Hauptanliegen, und er verschmähte dabei das spontane Handeln nicht ("probieren wir's doch einmal" - sei sein Leitspruch gewesen, berichtet Kurt Back in diesem Band). Was hat dieser Wandel mit dem in diesem Abschnitt behandelten Thema der Beziehung Lewins zu seinem Umfeld zu tun? Nun, die Emigration versetzte Lewin aus einem int~U~IgyeJl.JD9t.ivie(ten.UIId.Jw.f.QJu~la~n ausFrichteten Umfeld inei~ pragmatisch orle~-~t:f§,..Es gab keinen Abderhalden, kei~~~ Geheimmt·st;;;pft;fnen.Kötiter als unnifÜelbaren Gesprächspartner; kein Künstler Eisenstein (s. Bulgakowa, in diesem Band)
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stattete ihm einen Besuch ab. Aber es g~~~~!l~ -~~--~U~~sch~. r~!>le~~- ~-~au!; in eigener exist~!!~!~~!lng ~~~!e ~win ~r!ahren, was Diskrimierung, Gewalt und Diktätür bec:Je~~i.en.l.&wig war: ~r~U~h:t.t't!i~~ ~ieme.empthid5am·gewol-den wie Die zuvor. Nach der Emigration wandelte mit sCiiieiii""Probleinbewu-~tsein auch der ihn umgebende Personenkreis. Sicher, die Beziehung zu seinen alten Freunden, den Heiders, blieb erhalten. Er sammelte auch wieder einen stattlichen Kreis von Schülern, Mitarbeitern und gleichgesinnten Kollegen um sich. Die Berliner "Quasselstrippe" fand in dem "Hot Air Club" ihre Fortsetzung, die arrivierten Kollegen organisierten die Zusammenkünfte der "Topology Group". Aber es gab einen neuen Typus von Bezugspersonen, denen sich Lewin widmete: Die Funktionäre von Stiftungen und Verbänden, die Leiter von Betrieben, die Amtsträger in Kommunen, die Mittel fiir Forschungsprojekte zu verteilen hatten, aber diese nur zugunsten der Ziele ihrer Institutionen auszugeben bereit waren. Lewin geriet in das Dickicht öffentlicher und privater Vereinigungen, gesellschaftlicher und individueller Interessen, struktureller und aktueller Nöte. Sein Bedürfnis, Hilfe zu gewähren, mischte sich wohl ununterscheidbar mit seinem Bedürfnis nach Unterstützung fiir seine Person und seine Mitarbeiter. Aus dem Theoretiker, der seine schämten Gedanken darauf verwendet hatte, in einer eigenen Wissenschaftslehre den Disziplinen ihren Platz zuzuweisen (oder mindestens
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der Psychologie ihren Platz im Verbund der Disziplinen), wurde ein Wissenschaftsmanager, welcher für seine Gruppendynamik eine Nische im Forschunpmarkt zu schaffen trachtet. Darf man es wagen, einen deutschen von einem amerikanischen Lewin zu trennen? Man mufl es wohl. Maflgebend für diese Trennung ist nicht so sehr der gewachsene Anteil der sozialpsychologischen Thematik in den Jahren von lowa und Cambridge. Vielleicht wäre ein solcher Zuwachs auch eingetreten, wenn Lewin in Europa geblieben wäre. Möglicherweise war der Keim für eine solche Entwicklung bereits in den Berliner Motivationsexperimenten angelegt (Danziger, 1990, S.174f.). Aber der \Y~cl!Kl von .den. theore.üschen GJ!I_~~a&e!.l..zu ~.ll.ltt:~~~~~J). ~~~~9n~n!j_a~e umfängliche theoretische Vorldärungen ist ausschlaggebend. Und dieser Wechsel !!_~det wohl eine ausreichende Be~!!_dung. wenn man auf den durch die Emigration verursac.I!tcm....W.ap~~J-des Umft:ldes, . dei ~mgdißde~ Ku~ verweist. ln.D;utschlaixl~ai es die vom ~~~~!D~_gepd.gt~ PhiJQ59..Phische Fakultät, eine~ den ßediirinissen-der ~!!Xis und den Themen der Aktualität abptitefiiteiiektuelle Gemeinschaft, die in de_~_!9.ii..11J!l&fundamc:nt;tl~r Fragen wetteiferte; hinzultäin für Lewi~ die ·~iäfp<)litische und kunstiistheti~)le Szene, in .der fu~damentale Ansätze ebenfalls willkommen waren. lnjedem Fall war der Intellektuelle deutscher Provenienz eingebettet in eine Umgebung. in welcher der Diskurs die Methode der Bewährung war. A~ers in Amerika: Lewin traf dort auf eine pr~J!l.!tische Tradition, die Problemen ........... ----~~---... ·-··· ... -~wegen ihrer gesellschaftlichen Aktualität hohe Aufmerksamkeit einräumte und jedem, der sich dieser Probleme tatkräftig annahm, eine Bewährungschance gab. Lewin machte sich diese Pragmatik mit ihren Konsequenzen zu eigen, und wiederum fügte er ihr seine eigene Produktivität hinzu, indem er Techniken wie das Gruppentraining entwarf und einsetzte. Glaubte Lewin mit seiner pragmatischen Wende ein besonders guter Amerikaner zu werden? Ist er dadurch tatsächlich ein besonders guter Amerikaner geworden? Die Fragen sind zu stellen, weil notwendige Anpassung nicht selten in Überanpassung einmündet. Die Anpassungs- und Umstellungsleistung Lewins ist andererseits erstaunlich; dafl er als Emigrant in einer universitären Umgebung einem starken Anpassungsdruck ausgesetzt gewesen war, ist wohl nicht zu belegen. Jedenfalls war die oft aggressiv gescholtene amerikanische Kultur zu den Intellektuellen, die in Colleges ihr Auskommen gefunden hatten, in der Regel sanft; sie zwang ihnen generell den Pragmatismus nicht auf. Lewins fachlicher Widerpart in lowa, der hochangesehene Kenneth W. Spence (z.B. 1956) war ein formalistischer Modellbauer und Laborforscher, dessen Arbeit zur Ulsung gesellschaftlicher Probleme unmittelbar nichts beizutragen hatte. Wolfgang Köhler, der zwei Jahre nach Lewin das Schicksal der Emigration wählte und eine Professur in Swarthmore annahm, widmete sich dort in Fortsetzung seiner Berliner Forschungen dem ihm fundamental erscheinenden Problem der figuralen Nachwirkungen (Köhler, 1944), und die mächtige American Psychological Association ehrte ihn mit ihrer Präsidentschaft, wofür Lew in nie in Erwägung gezogen wurde. Ein äuflerer Zwang war es also nicht, der Lewin eine so entschiedene Zuwendung zur pragmatischen Seite seines neuen Umfelds abforderte. Es war eher eine
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innere .N.ot\Vendigkeit, deren sollten.
~uczeln zukiiAftige-Biographen
freizulegelf sich bemühen
Nachwirkungen
Knapp fünfzig Jahre nach seinem Tode ist Lewin immer noch ein Wissenschaftler, dessen Namen unter den Vertretern der Psychologie hervorsticht. Schon vielen Studenten ist er vertraut. Immer wieder trifft man auf Bewunderung für die Person Lewins und auf Verbundenheit mit seiner Lehre. Haben sich zunächst die Weggeflihrten Lewins für dessen Erbe verantwortlich gefühlt, so ist es inzwischen eine neue Generation von Psychologen, Pädagogen und Sozialwissenschaftlern, die sich auf ihn beruft. Lewin wird heute vor allem in Anspruch genommen (1) als früher Vertreter einer W~~~-~~heo_~~ in~~r~!!lb.JkL Psychologie, (2) als Initiator der modernen Motivationstheorie, (3) als Begründer der nicidemen Sozialpsychöiogie, (4)äi;-P;~nlich~tst~;'tik;;~ie (S) alSHaiiafünp"TOrsCher~
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Es ist oben die These von den zwei Lewins vertreten worden, dem szientistischen und dem praxisorientierten, dem deutschen und dem amerikanischen. Diese Trennung geht wohl auch durch das Lager der heutigen Anhänger. ~~I!~-~~ zu bewahren- das bedeutet den einen, die Konzep~-der Le~-~~~-~e~ ~~~h~olog!e, ~er MOiivatio_nstheon~ und der .!<.>~~-~!-~- hochzuhalten, den anderen, sich mit wissenschaftlichem Engagement den Problemen dieser Welt entgegenzuwerfen und sich insbesondere der_f~ld- und 9n!PP.C?.~arbeit ~-~-~!'_!~Chr.~l~n. Betrachtet man die gröfkren Monographien, die sich ausdrücklich in die Nachfolge Lewins stellen (Heigi-Evers, 1979; Stivem &. Wheelan, 1986; Wheelan, Pepitone & Abt, 1991), so drängt sich der Eindruck auf, das zweite Lager sei das stärkere. Die Ausbildung von unterschiedlichen wissenschaftlichen Gemeinschaften in der Nachfolge Lewins belegt noch einmal mittelbar die These vom "doppelten Lewin". Der historische Lewin bietet sich damit zweifach als Vorbild, zur Identifikation an. Jeder, der ihn als Modellwissenschaftler und Identifikationsfigur in Anspruch nehmen will, mag nach seinem eigenen Arbeitsschwerpunkt, seiner methodischen Ausrichtung und seiner regionalen Herkunft seine Wahl zwischen dem szientistischen und dem pragmatischen Lewin treffen. Das historische Studium sollte sich dagegen nicht mit einer Auswahl von Ausschnitten aus Lewins Leben, von Facetten seiner Persönlichkeit und von Schwerpunkten seiner Arbeit zufrieden geben. Es sollte Leben, Persönlichkeit und Werk in seinem gesamten Entwicklungsverlauf rekonstruieren. Darin werden Wandlungen, innere Krisen und äufkre Hemm'nisse festzustellen sein. Das historische Interesse wird nach der inneren Entfaltungslogik und den äufkren Umfeldwirkungen fragen, die diese Wandlungen hervorgebracht haben, es wird die Ursachen und Folgen von Krisen und Hemmnissen zu ermitteln vemuchen. Als Ergebnis des historischen Studiums kann durchaus eine Figur hervortreten, die zur Identifikation einllidt. Eher sollte sich jedoch die Einsicht einstellen, welche Wege eine Wissen25
schart und ein sie tragender Wissenschaftler unter den Bedingungen ihrer Epoche zurückgelegt haben, wie weit der Endpunkt dieses Weges tatsächlich zum Ausgangspunkt einer neuen Generation von Wissenschaftlern geworden ist, wie weit der eingeschlagene Weg zu Ende gegangen ist und wie weit er noch einer Fortsetzung bedarf. In dem Kapitel, das diesen Band abschlie~t, warnt Cari-Friedrich Graumann aufgrund eigener Uteraturrecherchen davor, den Eintlu~ Lewins zu überschätzen. Diese Warnung sollten vor allem die Verehrer Lewins nicht überhören. Aber gerade wenn sich die Spuren des Lewinsehen Werkes in der Fülle neuerer Forschungen verlieren sollten, ist die Psychologiegeschichtsforschung gefordert, sie zu sichern und jeweils neu zu bewenen. Und scblie~licb kann die Geschichtsforschung selbst Eintlu~ auf die Nachwirkung nehmen. Was und wieviel die gegenwlinige wissenschaftliebe Welt und nachfolgende Generationen aus Lewins Schicksal und dem von ihm hinterlassenen Werk lernen, das wird auch von der Kompetenz und dem Eifer abhängen, mit denen sich die historische Forschung mit ihm auseinandersetzt. Da erwanen uns vielleicht noch aufscblu~reiche Lektionen.
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Kurt Lewin im philosophisch-psychologischen Rollenkonflikt Alemndre Mitraux
Wie jemand in die Rolle einer an akademischer Forschung beteiligten Person hineinwächst (oder diese Rolle zielstrebig zu übernehmen sucht), und wie dieser Person eine bestimmte Rolle zuerkannt (oder auch gegen deren Willen auferlegt) wird, das hängt weitgehend von sozial verankerten Mechanismen ab, die dazu bestimmt sind, die Selbsterhaltung (oder Selbstreproduktion) der Wissenschaften zu sichern. Aber diese Mechanismen sind zeitbedingt. Zudem sind sie weder in allen akademischen Disziplinen gleich, noch determinieren sie überall den dem Individuum belassenen Handlung~~- und Gestaltung~~Spielraum auf gleiche Weise. Das macht sich beispielweise am Migrationsphänomen bemerkbar: der Übergang von einer Disziplin in eine andere und der damit verbundene Rollentausch sind unter bestimmten Bedingungen verhältnismäf'ig leicht zu vollziehen (etwa von der Biologie in die medizinische Grundlagenforschung), während dies unter anderen Bedingungen so gut wie ausgeschlossen ist (wenn etwa ein Wechsel von der Geographie in die Kulturanthropologie angestrebt wird). Verwandte Erkenntnisioteressen, ähnliche Methoden und teilweise überlappende Ausbildunpwege können die Migration zwischen Disziplinen fördern und die möglicherweise dabei entstehenden individuellen Rollenkonflikte lindern. Doch selbst inhaltliche und forschung~~Strategische Verwandtschaftsbeziehungen zwischen zwei oder mehreren Disziplinen können in gewissen geschichtlichen Konstellationen die Migration nicht einmal geringfügig erleichtern, wenn die sozialen, d.h. die forschunpexternen (juristischen, administrativen, organisatorischen oder institutionellen) Mechanismen die Möglichkeit einer neuen (zweiten, womöglich einer dritten) Rollenübernahme durch Migration verhindern. Als ähnlich vielschichtig entpuppen sich die Zusammenhänge zwischen individueller Rollentindung und sozialen Zulassung~~- und Anerkennunpmechanismen in Disziplinen, die erst im Entstehen begriffen sind. Allerdings ist die Komplexität der Rollentindung dann primär darauf zurückzuführen, daf' die besagten sozialen Mechanismen, weil sie sich noch nicht verfestigt haben, unübersichtliche Situationen schaffen, in denen sich das Individuum ebensowenig zurechtfindet wie die noch diffuse Fachöffentlichkeit. Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich mit Kurt Lewins akademischer Lautbahn bis 1933 unter dem Gesichtspunkt der individuellen Rollenfindung. Gefragt wird folglich, wie sich Lewin zwischen seiner Studienzeit und dem Zeitpunkt der Beurlaubung durch den nationalsozialistischen Obrigkeitsstaat nach der Machtübergabe an Hitler eine akademische Rolle in dem institutionell nur halbwep etablierten und durch Definitionsdefizite gekennzeichneten Fach 'Psychologie' anzueignen versucht hat. Die Untersuchung einer individuellen Lautbahn bringt den Vorteil mit sich, die während dieser Karriere stattfindende Rollen-
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findung nicht als Exempel eines typischen, überindividuellen Musters (mit allden dabei in Kaufzunehmenden UnschArfen), sondern als Einzelfall konkret darstellen zu müssen. Deshalb erheben die nachstehenden Ausführungen keinen Anspruch auf Repräsentativitit (Lewins Lautbahn war übrigens im Vergleich zu der seiner Zeitgenossen in der Tat eher atypisch). Doch die Analyse dieser Lautbahn unter dem oben angegebenen Gesichtspunkt li~t sich nicht zuletzt auch als Korrektiv zu dem in der heutigen Psychologiegeschichtsschreibung etwas voreilig propagierten Bild einer bereits während der Weimarer Republik in sich geschlossenen, autonomen und erwachsenen Psychologie verstehen.
Rollenülentifikotion und Multidisziplinoritllt 'Kein Gelehrter bitte in der Zeit vor der Französischen Revolution Ansto~ daran genommen, wenn ein junger virtuoso in verschiedenen Zweigen der Wissenschaft und der Künste sich hätte betätigen wollen, um so seine Qualitäten unter Beweis zu stellen. Sofern einer das wissenschaftliche Handwerk ·das Experimentieren, das Beobachten, das logische Räsonnie· ren und technische Fingerfertigkeit, kurzum: sauberes Kopf- und Handarbeiten - tatsichlieh beherrschte, konnte er sich mühelos zugleich als Geometer, Astronom und Botaniker oder als Mediziner, Mathematiker und Experte für Luft- und Wasserpumpen verdient machen, ohne damit als merkwürdiger Vogel im Flug zwischen den Wissenschaftszweigen aufzufal. Jen. Konnte sich jemand in überschäumendem Erkenntnisdrang nicht schon selbst für ein bestimmtes Fach oder Forschungsgebiet (oder sogar für eine bestimmte Ficherkombination) entscheiden, so wurde die Entscheidung nicht von au~n durch die Institution erzwungen. Denn nicht die Identifikation mit einer fachspezifischen Rolle, sondern vielmehr die mit der Rolle des (möglichst enzyklopädischen) Gelehrten unabhängig von fachspezifischen Anfor· derungen wurde als notwendig erachtet und sozial honoriert. Rollenkonflikte blieben private Angelegenheiten. Die multidisziplinäre Beschlagenheit der meisten Gelehrten des 18. Jahrhunderts lä~t sich übrigens mühelos durch das Konsultieren der biographischen Register der Mitglieder der wissenschaftlichen Akademie in Paris, Berlin, London usw. nachprüfen. Ganz anders stellt sich die Problematik der Affiliation über Rollenidentifikation unmittelbar nach der Gründerzeit der modernen Psychologie dar, der man seit Wundt auch das Zierwort 'neu' anhängte. (Diese Aussage bezieht sich also auf die Zeit zwischen 1910 und 1935 ·jeweils plus/minus 5.) Zwar hatte sich die Psychologie in einem ersten Schritt mit der Gründung eigener Laboratorien und Institute von anderen Disziplinen abgesetzt und damit eine gewisse Sichtbarkeit (zu diesem wissenschaftssoziologischen Begriffvgl. Merton 1973, S. 448-449 und S. 458) erlangt. Das galt besonders für die Psychologie im Deutschen Reich und in der Doppelmonarchie, doch bereits weniger ausgeprägt für die Psychologie in Frankreich, Italien, im zaristischen Ru~land und in anderen Undern des europäischen Kontinents. (Von der Entwicklung der Psychologie in den USA und in Kanada wird allerdings • allein schon wegen der erheblichen rechtlichen und administrativen Gegensitze zur
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Kurt Lewill im philosophisch·psycho/ogisclwll RolkrtJroftflilll
europäischen Situation - in diesem Beitrag ginzlich abgesehen.) Von umfassender Autonomie der Disziplin kann aber schon deshalb nicht gesprochen werden, weil die Forscher, die nach heutigem Verständnis als Psychologen angesehen werden, ihre akademische Sozialisation in anderen Fliehern erfahren und nach wie vor innerhalb der universitären Philosophie binnenfachliche Abgrenzungsprobleme und Konflikte um die Verteilung von Ressourcen durchzustehen hatten. Der Vergleich der jungen akademischen Psychologie mit der ungeflihr gleichaltrigen Mikrobiologie in der Leseart Pasteurs mag dies verdeutlichen. Louis Pasteurs wissenschaftliche Laufbahn verlief in einem Zwischenbereich zwischen diversen Fiebern; sie streifte mal die Kristallographie, mal die organische Chemie, mal die theoretische Biologie, mal die Physiologie, mal die Parasitologie - und sie endete glorreich in der Mikrobiologie und Immunologie. Affiliationsprobleme plagten weder Pasteur noch die Institution "Wissenschaft", die sich mit ihm auseinanderzusetzen hatte. Für angehende lmmunologen und Mikrobiologen der unmittelbaren Folgegeneration hätte eine derartig aufgetächerte Laufbahn jedoch zu schwerwiegenden Affiliations-und Rollenkonflikten geführt. Denn die Gerinnung mikrobiologischer Erkenntnisse zu einem in sich kohärenten Lehrbuchwissen, die im Verlaufvon nur zwanzig Jahren erfolgte Routinisierung der mikrobiologischen Arbeit (Identifikation von Krankheitserregern oder von eindeutig pathogenen Wirkungen von Krankheitserregern; Züchtung von Kulturen; Herstellung von Abwehrstoffen usw.) und die Gründung spezialisierter Forschungsstationen und -instituten schlugen sich nieder in der auch international zu beobachtenden Typisierung der mikrobiologischen Berufslaufbahn mit stabilen Zulassungs- und Anerkennungsmechanismen. Eine solche Normalisierung des wissenschaftlichen Betriebs erfolgte dagegen in der Psychologie (aus welchen Gründen auch immer) weder in einem so kurzen Zeitraum noch mit einer derartigen Eindeutigkeit. Ich gebe hier von der Annahme aus, d~ in einem noch nicht hinlänglich definierten Fach wie der Psychologie die traditionellen akademischen Affiliationsmechanismen - f d.b. die Unausweichlichkeit der Selbstidentifikation mit einer bestimmten Disziplin und die ; in umgekehrter Richtung verlaufende Anerkennung fachspezifischer Kompetenzen durch die Institution- zu Rollenkonflikten geführt haben (daß sich also die Sachlage in der Psy- . chologie anders verhält als in etwa der nach-pasteurschen Mikrobiologie).lch gehe aufgrund einiger psychologie-historiographischer Voruntersuchungen zur Person Lewins ferner davon aus, daß dieser Rollenkonflikt bei diesem Psychologen nachweisbar ist, und daß die Analyse des Rollenkonflikts über den Zustand der Psychologie in der Phase nach !i91Ö einige erste, bei anderer Gelegenheit zu verfolgende Hinweise gibt.
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Lewins Habilitation an der Berliner Philosophischen Falalltllt
\ Bekanntlich beantragte Lew in Ende 1919 oder Anfang 1920 die Habilitation an der Philosophischen Fakultät der Universielt Berlin mit einer naturphilosophischen Arbeit, die Ende März 1922 unter dem Titel Der Begriffder Genese in Physik, Biologie und Entwiclclungsgeschichte bei Ferdinand Springer erschien (vgi.Lang, dieser Band). Hans Driesch, seines Zeichens Biologe und Philosoph, hatte den Verlagsdirektor in befürwortendem Sinne beraten (vgl. KLW 2, S. 24). Ob die der Fakultät vorgelegte Typoskriptfassung bereits den Untertitel "Eine Untersuchung zur vergleichenden Wissenschaftslehre• trug, ist mir nicht bekannt. Carl s,umpf, philosophischen Themen gegenüber mitnichten abgeneigt und mit den Arbeiten Lewins recht gut vertraut, erblickte in der Geneseschrift einen genuin naturphilosophischen Beitrag, gegen den er einige gravierende, jedoch keineswegs vernichtende Einwände vorzutragen hatte. Da die Arbeit allemal einige naturWissenschaftliche Themen aufgreife, war Stumpf bereit, die "weiteren Habilitationsstadien" zu empfehlen, vorausgesetzt, "daji die physikalischen und biologischen Fachmänner der Kommission keine wesentlichen Einwendungen zu erheben finden• (KLW 2, S. 19). Aujier Stumpf gehörten der Kommission der Botaniker Gottlieb Johann Friedrich Haberlandt, der Physiker Heinrich Rubens, der Zoologe Karl Heider und die Philosophen Benno Erdmann und Ernst Troeltsch an. Von irgendwelchen Stellungnahmen der beiden letzteren ist nichts bekannt. Sie dürften sich im Hinblick auf die Abwicklung des Geschäfts der Urteilstindung ganz auf den Kollegen Stumpf als des akademischen Ziehvaters Lewins verlassen haben. Heiders Beurteilung fiel kurz aus: "Nach meiner Ansicht ergeben sich vom Standpunkt des Biologen keine Einwendungen gegen die Zulassung des Habilitationsbewerbers" (KLW 2, S. 20). Was denn für die Zulassung plädiere, darüber schwieg sich der verehrte Gutachter diskret aus. Haberlandt und Rubens vermochten aus der Habilitationsschrift keine nutzbringenden Erkenntnisse zu gewinnen; sie wollten aber auch nicht gegen die Zulassung votieren, da - wie Rubens sich ausdrückte- "der Schwerpunkt der Arbeit auf rein philosophischem Gebiet liegt" (KLW 2, S. 20). So war anscheinend keiner der Gutachter bereit, die Habilitation Lewins zu vereil teln. Und dennoch zog Stumpf am 27. März 1920 seinen Antrag auf Zulassung zurück, und zwar mit der folgenden Begründung: "Da man von einer naturphilosophischen Habil[itations]schrift verlangen muJJ, daji auch Naturforscher selbst gewisse Anregungen darin finden, keiner der HH (sc. Herren) Kollegen aber etwas Verdienstliches in dieser Beziehung erwähnt, und da ich ohnedies selbst nicht unerheblich Ausstellungen zu machen hatte ... " . (KLW 2, S. 21). Die Ablehnung der Fakultät wurde Lewin am 26. Mai mitgeteilt. Zugleich gab man ihm die Möglichkeit, mit einer anderen Arbeit einen zweiten Anlauf zur Habilitation zu nehmen. So stand demnach nicht Lewins Befähigung zur akademischen Laufbahn zur
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Kurt Lewin im philosophiscll-pqchologiscllen RolkMDnftib
Debatte, sondern allein das Dokument, das seine Affiliation zu einem bestimmten, institutionell und sozial eindeutig definierten Fach (Naturwissenschaft oder Philosophie) besiegeln sollte. Beim zweiten Anlauf gelang dann die Habilitation. Die Bewerbung wurde am 28. Juni 1920 eingereicht, am 9. Juli von der Fakultät registriert; am 10. Oktober lag Stumpfs Gutachten vor, in dem es heijJt: die Arbeit Ober experimentelle Untersuchungen mm Grundgesetz der Assoziation ist eine Erweiterung seiner Dissertation, quantitativ umfangreich, qualitativ exakt durchgeführt, ebenso kühn in ihren Zielen wie umsichtlieh in der Anordnung der Versuche. Es handelt sich um nichts Geringeres als um die UmstofJung des allgemeinen Assoziationsgesetzes ... Vf. (sc. Verfasser] setzt an Stelle des Assoziationsgesetzes in seiner obigen [sc. in seiner bis dahin akzeptierten] Form die Tatsache der Übung von Tätigkeiten und schliejJt mit einer Theorie der Übung und des Lernens" (KLW 2, S. 23). (Die von Stumpf erwähnte Dissertation Lewins ist während des Ersten Weltkriegs erschienen (vgl. Lewin, 1917]). Und diesmal verschlugs dem Philosophen Erdmann die Stimme nicht, denn auch er votierte am 17. Oktober in befürwortendem Sinne. Am 4. November wurde der Bewerber von der Fakultät einstimmig zur Habilitation zugelassen, und Ende des Jahres wurde ihm die philosophische venia legendi verliehen. Gleichgültig, ob man sich von der Annahme leiten läfJt, dajJ Stumpf durch taktisches Kalkül das Problem der Affiliation Lewins umgangen hat, oder ob man von der ganz anders lautenden Annahme ausgeht, dap Lewin seine akademische Laufbahn mit einer unverkennbar philosophisch-wissenschaftstheoretischen Arbeit nicht gefährden wollte: im Ergebnis wurde durch den Habilitationsvorgang die Rolle des jungen Akademikers im Spannungsfeld zwischen den Naturwissenschaften, der Philosophie und der (noch?) philosophischen Subdisziplin Psychologie nicht geklärt, sondern verwaltungstechnisch verdrängt. Das Thema des Hauptbeitrags im Habilitationspaket - beim zweiten Anlauf handelte es sich um eine kumulierte Habilistion - war zwar eindeutig psychologisch. Doch auch vom Standpunkt der Philosophie konnte man ihm etwas abgewinnen. Der Assoziationismus hatte auf allen Fronten den Rückzug angetreten - in der Erkenntnistheorie nicht weniger als in der Psychologie-, und zudem war die Philosophie selbst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch damit beschäftigt, ihr Verhältnis zu den empirischen Wissenschaften zu klären: sei es durch die weitere Empirisierung ursprünglich nur im Medium der Reflexion angegangener Fragestellungen, sei es durch die Wendung ins Meta-Wissenschaftliche. Innovativ waren die experimentellen Untersuchungen Lewins zum Assoziationsgesetz allerdings nicht. Stumpfs Aussage über die Umstojmng des Assoziationsprinzips klingt wie ein redundanter Nachsatz zu der 1913 unter dem Patronat Külpes von Selz durchgeführten Widerlegung eben dieses Prinzips.
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Lewin als Privatdoum und ausserplanmiJssiger Professor: Im Flicherdreieck "Philosophie, Psychologie, Piidagogüc" Anfang 1921 war Lewins Qualifikation zum akademischen Lehrer und universitär eingebundenen Forscher sozial durch die Institution anerkannt. Die Affiliationsproblematik und der damit einhergehende Rollenkonflikt blieben dadurch jedoch unverändert bestehen. Es stellt sich nun die Frage, wie Lewin mit diesem Konflikt umgegangen ist, nachdem die Konfliktlösung durch die Fakultät nicht herbeigeführt oder sogar erzwungen worden war. Mit Beginn des Sommersemesters 1921 nahm Lewinseine Lehrtätigkeit auf. Bis Ende des Wintersemesters 1931ß2 summierten sich die angekündigten Lehrveranstaltungen, die er selbständig anbot oder an denen er als Mitveranstalter teilzunehmen gedachte, auf insgesamt siebzig. Ab Sommersemester 1932 las Lewin nicht mehr in Berlin. Die quantitative Erfassung der Lewinsehen Unterrichtstätigkeit fu~t auf der Durchsicht der Vorlesungsverzeichnisse der Universität Berlin. Ob die angekündigten Lehrveranstaltungen in jedem Falle auch durchgeführt wurden, lie~ sich bisher nicht nachprüfen. Wihrend des Sommersemesters 1932 und des Wintersemesters 1932ß3 war Lewin übrigens auf eigenen Wunsch beurlaubt und hielt sich mit einer Gastprofessur in den USA auf. Nach Deutschland kehrte er über die Westroute zurück, die ihn zuerst nach Japan, dann in die UdSSR führte. Anfang Apri11933 wurde er gegen seinen Willenaufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns erneut (und unwiderruflich) beurlaubt. Von den oben genannten siebzig Veranstaltungen behandelten zwanzig ein philosophisch-wissenschaftstheoretisches Thema und fünfzig ein psychologisches. Daraus ist zu ersehen, da~ parallel zu den psychologischen die philosophisch-wissenschaftstheoretischen Interessen nach wie vor Bestand hatten, ungeachtet der Tatsache, da~ die Habilitation aufgrund einer psychologischen und eben nicht aufgrund einer genuin philosophischen Arbeit erreicht worden war. Die genannten Zahlen besagen als solche jedoch nicht sonderlich viel. Will man aus der Verteilung der Lehrveranstaltungen auf bestimmte Themen historiographisch relevante Folgerungen ziehen, kann man sich eine AufschlüsseJung schlechterdings nicht ersparen. Wihrend der Privatdozentenzeit (also bis zum Ende des Wintersemesters 1926) hat Lewin 21 Lehrveranstaltungen angekündigt - davon zwölf im Bereich der Philosophie und neun in dem der Psychologie. Damit war sein gesetzlich festgelegtes Lehrdeputat erschöpft. Freiwillig, doch - wie es scheint - nicht ungern, wirkte er zusätzlich an fünf Praktika in Psychologie mit. Als au~rplanmi~iger Professor hatte er ab Wintersemester 1926/27 ein verdoppeltes Deputat zu bewilligen. Doch an seiner Gewohnheit, alternierend Psychologie und Philosophie in Vorlesungen und Seminaren zu dozieren, änderte sich nicht viel. Von den 23 selbstiindig angebotenen Lehrveranstaltungen entfielen 15 auf die Psychologie und deren acht auf die Philosophie. Der Rest des Deputats, insgesamt 21 Veranstaltungen für die Zeit von
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Oktober 1926 bis März 1932, wurde auf Praktika verwandt, von denen die meisten gemeinsam mit Wolfgang Köhler durchgeführt worden sind. Seinen philosophisch-wissenschaftstheoretischen Interessen hat Lewin während seiner Berliner Zeit freien Lauf gelassen. Auch wurde er von der Institution nicht angehalten, die ihm zugestandene Lehrfreiheit auf eine bestimmte Weise zu interpretieren. Anders gesagt: was er tat, entsprach dem rechtlich abgesicherten Handlungsrahmen. Er hätte von Rechts wegen die Möglichkeit gehabt, sich im Sinne des zweiten Habilitationsverfahrens auf die Psychologie zu konzentrieren, und er hätte von Rechts wegen nicht minder die Möglichkeit gehabt, die übliche Universitätsphilosophie (also: die Philosophiegeschichte nach dem drögen Schema "Grundprobleme der Philosophie von Descartes bis Kant", mit dem sich andere auch in der Psychologie tätige Zeitgenossen durchaus zufrieden gaben) zu vertreten, stat{iiiit der vergleichenden Wissenschaftslehre neue Wege philosophischer Erkenntnis abzutasten. In seinen Arbeiten zu Themen philosophischer und wissenschaftstheoretischer Provenienz hat sich Lewin keiner Richtung der Philosophie seiner Zeit angeschlossen. Vielmehr hat er bei Philosophen geholt, was er brauchte - oder was er zu verarbeiten vermochte. Anleihen machte er beim Neukantianismus nicht weniger als beim Logischen Empirismus, bei der Phänomenologie nicht weniger als beim Vitalismus. Auffällig ist zudem, da~ manche seiner mit Vorliebe zitierten Autoren Lehrer, Kollegen oder Freunde waren. Dies ist unzweifelhaft bei Alois Riehl, Edmund Husserl, Ernst Cassirer und Hans Reichenbach der Fall. Nun könnte man geneigt sein, die philosophisch-wissenschaftstheoretische Komponente im Schaffen Lewins als einen Versuch zu deuten, den Zugang zu einem Ordinariat für die noch traditionelle Fächerdreieinigkeit Philosophie/Psychologie/Pädagogik durch einschlägige Kompetenzbeweise zu erleichtern. In den Berufungskommissionen sa~n immerhin auch Professoren, deren Lehrgebiet mehr oder weniger auf eine Spielart der damaligen Philosophie beschränkt war. In einer Situation der Konkurrenz zwischen mehreren Bewerbern mit unterschiedlich gewichteten Fachkompetenzen hätte dann wohl derjenige die meisten Aussichten auf Erfolg gehabt, der in der Psychologie nicht weniger als in der Philosophie bewandert gewesen wäre und mit originellen Arbeiten die Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit auf sich gelenkt haben würde. In diesem Falle wäre Lewins philosophisch-psychologische Doppelspurigkeit - oder, wenn man seine entwicklungspsychologischen Untersuchungen der Sparte der Pädagogik zuschlägt: seine philosophisch-psychologisch-pädagogische Dreisporigkeil - eine Antwort auf die institutionell verankerte Dreieinigkeit der besagten Fächer gewesen. Oder anders gesagt: es hätte sich um Lewins Reaktion auf eine durch soziale Definitionen noch unabgeschlossene Rollendifferenzierung innerhalb eines lediglich mit administrativen Mitteln einheitlich definierten, inhaltlich aber heterogenen Bereichs der Lehr- und Forschungstätigkeiten gehandelt.
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Es müJhe dann jedoch mitbedacht werden, dap Lewins philosophisch-wissenschaftstheoretischer Eklektizismus schlecht in das Normalbild der Universitätsphilosophie paf\te, und dap seine Wissenschaftslehre die Affiliation - sei es zur Psychologie - sei es zur Philosophie nicht gestärkt hat. Das regt einen alternativen Deutungsversuch an.
Lewins Wissenschaftslehre als multidisziplinilrer Ansatz Die frühesten erhaltenen AufSätze Das Erhallungsprinzip in der Psychalogk von 1911 (vgl. KLW 1, S. 81-86) Erhaltung, Identililt und Verlinderung in Physik und Psychologie von 1912 (vgl. KLW 1, S. 87-110) können wie die späteren Beiträge, angefangen vom Aufsatz für die Stumpf-Festschrift Psychologische und sinnespsychologische Begriffsbildung von 1918 (vgl. KLW 1, S. 127-151) über die Geneseschrift (vgl. KLW 2, S. 47-318) bis zu den bekannten Aufsätzen der späten Berliner Zeit, als Annäherungen an eine vertretbare, jedenfalls an eine auf zureichenden Plausibilitätsgründen beruhende Bestimmung des Gegenstands psychologischer Forschung und der Struktur der Psychologie als Wissenschaft verstanden werden. Die philosophisch-wissenschaftstheoretische Komponente wäre dann integraler Bestandteil psychologischer Forschungstätigkeit selbst gewesen. Das würde dann allerdings dem Rollenkonflikt eine andere Prägung geben. Denn es stünde nicht mehr die Rollenfindung im Spannungsverhältnis zwischen der akademischen Philosophie und der akademischen Psychologie (ungeachtet ihres institutionellen Unterbaues), sondern die Definition der Rolle des forschenden Psychologen in Abgrenzung zur damals in Ansätzen definierbaren Rolle des bereits etablierten Psychologen auf dem Spiel. Eine auch nur oberflächliche Betrachtung der philosophisch-wissenschaftstheoretischen Beiträge Lewins scheint dieser Deutung Auftrieb zu geben. Wie vergewissert sich die Psychologie ihres Gegenstandes? Mit dieser Frage setzen sich die frühesten Arbeiten Lewins auseinander. Im Versuch, diese Frage zu beantworten, gerät Lewin in die Problematik des Existenzbegriffs, auf die die Geneseschrift, bereits wissenschaftsvergleichend, ausführlich eingeht (s. wieder Lang, dieser Band), deren Relevanz für die Psychologie von Stumpf indes nicht erkannt worden zu sein scheint. Und in der gesamten vergleichenden Wissenschaftslehre steht die Bedingung der Möglichkeit der Psychologie thematisch im Vordergrund. Aufgabe dieser vergleichenden Wissenschaftslehre war es, analytisch - und eben nicht normativ - Maf\stäbe zu erarbeiten, an denen der Fortschritt psychologischer Erkenntnis bemessen werden könnte. Das würde verstehbar machen, warum nicht das Wesen der Wissenschaft (oder der wissenschaftlichen Erkenntnis) philosophisch-abstrakt, sondern die Entwicklung der Wissenschaftlichkeit in den einzelnen Disziplinen wissenschaftstheoretisch-konkret Gegenstand der vergleichenden Wissenschaftslehre war. Wie vor ihm schon William Whewell Licht in die differenzierte Wissenschaftlichkeit der akademischen Fächer hatte bringen wollen ("Wir können am ehesten hoffen, einigen Fortschritt in Richtung auf eine Philosophie der Wissenschaft zu machen, wenn wir uns der Philosophie der Wissen36
Kun Lewin im philosophisch-p.sychologischert RolkllktM/Iib
schaften zuwenden", hatte der englische Gelehrte festgestellt, nachzulesen in der zweiten Auflage von Whewells Philosophy ofthe lnductive Sciences, Band 1, S. 2 (1841), hier zitiert nach Elkana, 1986, S. 314), so versuchte Lewin durch ~veAaalysen dem Kern der psychologischen Forschung Profil zu geben. Dies geschah einerseits durch die Herausarbeituns der geschichtlichen Gleichliufigkeiten zwischen den Wissenschaften sowie der erst im Vergleich erfafibaren Defizite der psychologischen Wissenschaftlichkeit. Es geschah andererseits durch die Bestimmung dessen, was den Gegenstand der Psychologie von demjenigen anderer Wissenschaften (etwa der Sinnesphysiologie, der Physiologie, der Soziologie usw.) unterscheidet. (Dabei entwickelte Lewinseinen Ansatz wohl völlig unabhängig von Whewell; auf irgendwelche Hinweise einer wie auch immer ausgeprägten Vertrautheit mit dessen Ideen bin ich jedenfalls bis heute noch nicht gestof'en.) Dafl es Lewin in der Tat um die Bedingungen der Möglichkeit der Psychologie als einer Wissenschaft (und nicht um die Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaft am Paradigma der Psychologie) ging, liflt sich an der im Aufsatz Gesetz und Experiment in der Psychologie (vgl. KLW 1, S. 279-320) angestrebten Verschränkung von Statistik und substantiellem Verständnis psychologischer Erkenntnis ablesen. Eine gewisse Desillusionierung mufl Lewin befallen haben, als er feststellte, dafl die modernen Massenversuche es nicht mehr auf die Bestimmung psychischer Prozesse, sondern auf die Verteilung von Eigenschaften (gleichgültig, ob erworben oder ob angeboren) in Populationen abgesehen hatten, also zunehmend in ein funktionelles Verständnis psychologischer Erkenntnis abzugleiten drohten. Und wenn nicht die akademische Psychologie insgesamt den Wundtschen Anspruch auf Bestimmung der Natur psychischer Prozesse aufgegeben hatte, so hatte sich durch die Verbreitung der Psychotechnik (die das Bild der psychologischen Forschung mitfirbte) doch eine Tendenz zur Verwechslung des methodisch Verrichteten mit dem Gegenstand der Erkenntnis ergeben. Gegen diese Tendenz gerichtet versteht sich Lewins Intention, wie Newton dereinst die Natur von Gravitation und Ucht aufzuklären sich bemüht hatte, die Natur psychischer Kräfte auf den Begriff zu bringen - oder, bescheidener formuliert, zu verstehen, was es denn hief'e, in der Psychologie mit den Ambitionen eines Newton zu arbeiten. Dies alles übrigens nicht nebenher, den Wonnen der Sonntagsphilosophie frönend, sondern aus der Notwendigkeit heraus, dem psychologischen Forschungsprozell eine übersichtliche und zuverlässige Begriffs- und Methodenblaupause zu unterlegen. Dafl die Affiliationsproblematik und der Rollenkonflikt, wie immer man beide ausdeuten und einschätzen mag, aus dem Wissenschaftsmilieu der deutschen Psychologie sich ergeben haben, darauf deutet die Tatsache, dafl die Verhältnisse in dieser Hinsicht durch die Emigration Lewins in die USA schlagartig bereinigt worden sind: die philosophisch-wissenschaftstheoretische Komponente entfiel einfach. Welche Rollenkonflikte im &il womöglich entstanden sind, müflte geprüft und diskutiert werden. Man kann aber wohl
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davon ausgehen, ~ sie für Lewin von anderer Art gewesen sind als die vor 1933 • nämlich auch milieuspezifisch.
Literatur Elkana, Y. {1986). Anthropologie tkr Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft. Frankfurt/M.: Suhrkamp. Lewin, K. (1917). Die psychische Tätigkeit bei der Hemmung von Willensvorgängen und das Grundgesetz der Assoziation. Zeitschrift fDr Psychologie, 71, 212-247. Lewin, K. (1981). Wissenschaftstheorie I, hrsg. von A. Metraux. Kurt-Lewin-Werkousgabe, Bd. 1. Bem und Stuttgart: Huber und Klett-Cotta. Lewin, K. (1983). Wissenschaftstheorie II, hrsg. von A. Metraux. Kurt-Lewin-Werkausgabe, Bd. 2. Bem und Stuttgart: Huber und Klett·Cotta. Merton, R.K. (1973). The Sociology of Science: 11reoretical and Empiricallnvestigations. Chicago: University of Chicago Press. Whewell, W. (1847). The Philosophy ofthe lnductive Seiences (voLl). London: Parker.
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Die Frage nach den psychologischen Genesereihen -
Kurl Lewins grosse Herausforderung A/fredLang
In seinem letzten Aufsatz, dem Nachruf auf seinen philosophischen Lehrer Ernst Cassirer, schliigt Kurt Lewin einen rückschauenden Lebensbogen und charakterisiert sich selbst als den "... wissenschaftliche(n] Anfänger von 1910, der mit Mutter Philosophie noch kaum gebrochen hatte und mit eiStaunten Augen und einem unruhigen Hea auf die entwik· ketten Wissenschaften blickte, nicht wissend, ob er veiSUchen sollte, sie nachzuahmen oder ob er eher seiner eigenen Richtschnur folgen solle... " (Lewin 1949, S. 347). Dieser späte Aufsatz behandelt das Problem der Existenz in der empirischen Wissenschaft, im besonderen die Realität sozialer Phänomene. Wenn wir zum Beispiel psychische und soziale Phänomene beschreiben: was existiert denn eigentlich? Und was existiert "hinter" diesen Phänomenen, welches dieses in unseren Beschreibungen Dargestellte seinerseits überhaupt hat entstehen lassen? Warum wirkt dieses "Hintere" über das Vordere auf uns gerade so ein, wie es einwirkt? Und wenn wir etwas auf die eine oder eine andere Weise beschreiben können, existiert dann Eines oder Mehreres oder Etwas mehrfach auf unterschiedliche Weise? Ich möchte in diesem Aul'satz jener Frage nachgehen, die Kurt Lew in seit seinen Studienjahren umgetrieben hat, nämlich der Frage nach .der Möglichkeit psychologischer Gen~s.~.r:~i.b~!J_, In seinem Begriff der Genidentität von Gebilden bzw. der GeneSe(folge)reihen, in denen Gebilde in der Zeit existieren, kristallisiert sich die Frage nach dem Verursachungsverständnis der verschiedenen Wissenschaften. Ich werde zu zeigen versuchen, dap es diese Frage ist, welche Lewin sowohl zu einem der gropen Psychologen wie zu einem der anregendsten und auch am Ende des Jahrhunderts noch hochaktuellen Wissenschaftstheoretiker gemacht hat. Obwohl er an der Aufgabe wohl gescheitert ist, ist es wahrhaft eine Frage, die das Herz unruhig macht, heute wie zu Beginn des Jahrhunderts. Auch dürfte deutlich werden, dap Lew in in der Tat "seiner eigenen Richtschnur" gefolgt ist. Es ist meine Überzeugung, dap Lewinsich durch diese Frage nach den psychologischen Genesereihen zeit seines Lebens herausgefordert fühlte, ja dap fast alle seiner vielfältig~n theoretischen Entwicklungen und praktischen Unternehmungen, wenn man sie im Uchte dieser Frage untersucht, an Tiefe gewinnen. Und es ist meine betrübliche Einsicht, dap von den Psychologen des 20. Jahrhunderts, die Kurt Lewin mit seiner Frage aufs 39
Entschiedenste aufgefordert hat, diese Wissenschaft gründlicher zu fundieren, nur wenige diese Herausforderung angenommen haben. Im vorgegebenen Rahmen kann Lewins Frage nach den psychologischen Genesereihen nicht erschöpfend behandelt werden. Weil es sich sozusagen um eine Konstante seiner Wissenschaft handelt, möchte ich mit einem quasi-genetischen Verfahren zu zeigen versuchen, welche Formen die Frage in verschiedenen Stadien von Lewins Werk angenommen hat. Im Wandel der Zuginge sollte die bleibende Frage umso deutlicher hervortreten. Aus naheliegenden Annahmen darüber, was ich beim geneigten Leser voraussetzen kann, bin ich bei den beiden ersten Stationen ausführlicher und beschränke mich bei den späteren Manifestationen auf Hinweise.
Der Erhaltungssotz und di4 Psychologie: di4 grosse Herausforderung des jungen Kurt Lewin (1911, 1912) Dank dem Herausgeber der wissenschaftstheoretischen Binde der Kurt-Lewin-Werkausgabe, Alexandre Metraux (Lewin, 1981, 1983), sind wir in der glücklichen Lage, anband von zwei Texten Lewins aus dem Nachlaf\ (1911/1981, 1912/1981) diesen Lebensbogen von seinen frühesten Anfingen her zu verstehen. Das älteste erhaltene Manuskript des 21jihrigen, vermutlich vor allem von Paul Cassirers Vorlesungen beeindruckten Studenten ist betitelt: wDos Erlulltungsprinzip in der Psychologie" (Lewin, 1911). Auf sieben Druckseiten stellt Lewin die Frage, ob das Erhaltunpprinzip • kein Objekt vergeht in nichts oder entsteht aus nichts • "auch hinsichtlich psychischer Objekte" anwendbar sei. Bereits hier versteht Lewin diese Frage nicht als eine philosophische oder nominalistische, womit ihre Beantwortung von einer Definition von Psychologie abhängig würde, sondern als eine wissenschaftsempirische: Wie hält es die real bestehende Psychologie hinsichtlich der von ihr untersuchten Gegenstände? Die Frage war übrigens nicht neu, ohne daf\ Lewin dies zu erkennen gibt; doch ist seine Antwort neu. Christian von Ehrenfels hatte 1890 in seiner berühmt gewordenen Abhandlung die Frage gestellt, ob die Gestaltqualitit, (z.B. der Melodie) etwas zu der Summe der Einzelempfindungen (z.B. der Töne) Hinzutretendes, also vor und mit deren Empfindung noch nicht Dagewesenes sei. Diese Frage hat während Jahrzehnten den Disput zwischen der sog. Berliner und der Grazer Schule der Gestaltpsychologie beherrscht und bestimmt auch heute das Verhältnis zwischen Informationsverarbeitungstheorie und Ge· stalttheorie. Ehrenfels hatte ohne Begründung dogmatisch geantwortet: eine Übertragung des Erhaltungsgesetzes auf das psychische Gebiet sei unberechtigt (Ehrenfels. 1890, S. 15). Psychisches, so scheint man auch heute zu glauben, kommt und geht einfach so. Die Naturwissenschaft hat sich ihre grof\en Erkenntniserfolge dann eröffnet, als sie begann, ein allgemeines Existenz-Axiom zu postulieren, wonach keine der verschiedenen Erscheinungsformen dessen, womit sie sich beschäftigt, je für sich kommt und vergeht. 40
Vielmehr sei jede von ihnen nur Erscheinungsform von etwas Dahinterliegeodem oder Durchgehendem, von etwas als solchen nicht Spezifizierbarem. So ist Energie überhaupt ja nur begrifflich fa~bar, obwohl sie wirklich existiert; doch wirkt sie immer nur in einer von vielen Formen (mechanisch, chemisch, elektrisch, nuklear ...) und ist nur in solchen, also in ihren Wirkungen, aufz.eigbar. Sie ist zwischen den Formen wandelbar; doch geht sie nicht verloren und sie entsteht nicht neu. Naturgesetze seien, so meint Lewin, Aussagen über den Zusammenhang zwischen Eigenschaften von Gebilden oder über den Übergang von einer Erscheinungsform in eine andere; sie seien nur dann Kausalaussagen, wenn sie ein durchgehend Existierendes voraussetzten. Gesetze mü~en also über das Schicksal des hinter den Erscheinungsformen Existierenden vollständig Rechenschaft ablegen, obwohl sie stets nur die Erscheinungsformen betreffen können. Wissenschaftliche Aussagen müssen sich demzufolge auf einen in sich geschlossenen Bereich von Existenz beziehen. Wissenschaft wurde erfolgreich, als sie darauf verzichtete, in die Naturerkllirung naturfremde Existenzen wie Gottheiten, Seelen oder z.B. das Phlogiston einzubeziehen. Zwischen unterschiedlichen Existenzbereichen kann es keine Verursachung geben, weil ja eben kein innerer Zusammenhang zwischen den postulierten Ursachen und Wirkungen besteht. Genau das ist der Sinn des Erhaltungssatzes in der klassischen Naturwissenschaft. Wie steht es aber mit weniger strikten Verursachungsverhältnissen? Sind unterschiedliche Existenzbereiche denkbar, in denen Gebilde einander bl~ "berühren"? Wo nicht zwingende Kausalverhältnisse herrschen, sondern etwa bl~ Bedingungszusammenhinge bestehen, z.B. im Sinne eines Auslösers? Kann man also beispielsweise etwa Psychisches denken, welches Physisches bedingt, und umgekehrt, und kommt dabei etwas hinzu und geht etwas verloren? Oder darf das nicht der Fall sein? Man sagt, ein Reiz löse einen (physiologischen) Erregungsproze~ ebenso wie einen (psychologischen) Wahrnehmungsproze~ zwar aus: verursacht er sie auch, wenn ja, in welcher Weise? Wie kann ein Affekt einen Schrei bedingen, ein Wissen eine Problemlösung ermöglichen, eine Vorstellung einen Handlungsvollzug begründen, eine Erfahrung einen Charakterzug oder ein pathologisches Syndrom hervorbringen, eine Interaktion ein soziales Netz miterzeugen? Um was für eine Form von Verursachung kann es sich dabei handeln? Lewin stellt lapidar fest, die Psychologie habe zwischen kausaler Verursachung und weniger zwingenden Bedingungszusammenhängen begrifflich überhaupt nicht und praktisch nur selten genug klar getrennt. "Ursache und Wirkung sind Positionen des sich in der Zeitfolge identisch Erhaltenden, und jede Ursachen- oder Wirkungsfrage enthlilt somit bereits die Behauptung der Erhaltung derjenigen Objekte, im Hinblick auf die sie gestellt wird" (Lewin, 1912, S. 87). Ich habe im zitierten Satz den Ausdruck "in der Zeitfolge identisch" ausgezeichnet, weil Lewin spiter dafür seinen Begriff der GenidentiiiJt eingeführt hat (vgl. unten Abschnitt zu 1922). Keiner der in den obigen Beispielen implizierten Zusammenhänge ist jedoch 41
dergestalt, da~ die Ausdrücke links und rechts vom irgendwie gedachten Gleichheits- oder Folgezeichen auf ein mit sich selbst identisch bleibendes Existierendes verweisen. Im Gegenteil: die Bedingungen können vergehen oder mit der Folge erhalten bleiben, gleich oder verändert; sie können sich von sich aus verindem oder gerade dadurch, dall sie etwas 1hervorrufen. Obwohl ein Zusammenhang zwischen solchen Bedingungen und ihren angebli,chen Auswirkungen nicht unplausibel ist, ist ein für sie gültiges Erhaltungsprinzip nicht \auszumachen; die existentielle Verbiodung bleibt ein ad hoc Postulat. Damit sind nach Lewin für die Psychologie zwei Möglichkeiten offen (1912, S. 88): Einerseits orientiert sie sich an den bekannten Erhaltungssitzen und sucht also nach strikten Kausalgesetzen. Damit setzt sie freilich ihren Gegenstand als einen eigentlich physischen und zwingt sich so zum physikalischen Reduktionismus. Sie beschränkt sich anderseits auf die Klärung allgemeinerer Bedingungszusammenhinge. Damit verpflichtet sie sich, die Natur dieser anderen Bedingungszusammenhinge aufzuklären. Ein dem Erhaltungssatz analoges Prinzip für den Bereich des Psychischen wäre dann aufzeigen. Achtzig Jahre später klammem sich die meisten empirischen Psychologen trotz fehlender Erfolge an die erste Möglichkeit. Die anderen, welche den Reduktionismus für unangemessen halten, haben wohl ihre Klärungsaufgabe versäumt. Nun könnte man vielleicht das Ganze als eine terminologische Spitzfindigkeit um Varianten des Kausalitätsbegriffs abtun, wäre da nicht die von Lewin geforderte Klärung unterschiedlicher Erhaltungsprinzipien. Denn es geht ihm gar nicht um materiell-energetische Konstanz des Untersuchungsgegenstandes, sondern um dos "allgemeine Problem der gegenseitigen Zuordnung der Obje/cte" einer Wissenschaft. Man kann es nicht deutlich genug wiederholen: für Lewin ist die Physik nicht Modell für die Psychologie, sondern bloll die am weitesten fortentwickelte Wissenschaft, welche die formalen Eigenschaften ihrer Begrifflichkelt und Methodik besser expliziert hat als jüngere. In der Physiko-Chemie sind die Erhaltungssätze von unglaublicher heuristischer Kraft für die Forschung gewesen; in der Psychologie hat man bisher Dunkel und Dickicht vorgezogen. Der Erhaltungssatz behauptet ja nur sozusagen axiomatisch die Konstanz der gesamten Energie im Universum; denn empirisch ist damit nicht umzugehen. Forschungspraktisch impliziert er jedoch eine Regel, die fordert, dall in jedem Experiment die lokale Bilanz stimmen muJl, weil sonst gewissermallen noch der Teufellos ist. Oder, wie Lewin so klar sagt, da~. man von Veränderung von physischen Objekten - und davon handelt jedes Naturgesetz- nur dann sprechen kann, wenn "in der Veränderung eine Jdenlililt verschiedener Objekte besteht, die uns berechtigt, danach zu fragen, was die augenblicklich existierenden physischen Objekte früher gewesen sind und später sein werden" (Lewin, 1912, S. 91). Ein Naturgesetz wie "Wasser und Wärme ergibt Dampf" kann seit langem nutzbare Erfahrungen korrekt zusammenfassen; es wird erst dann wissenschaftlich, wenn die gleiche materielle Natur von Wasser und Dampf erkannt und die Rolle der Energieform Wärme für ldas Verhalten der H20-Moleküle verstanden ist. Entscheidend ist der Einbau der Erfahrung
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in einen allgemeineren Zusammenhang; die quantitative Ausformulierung ist seltundir, wenngleich für die Absieheruns und für die Anwendung der Gesetze bedeutsam. Aber die Wahl des allgemeineren Zusammenhan~ und die Art seiner Betrachtung ist eben ein Stück weit beliebig: diese Wahlkonstituiert olmlieh die verschiedenen Wissenschaften. Die Wabl der Betrachtun~eise und der Aufbau des Experiments sind Sache der Forscher, nicht der Natur, auch wenn die Natur unsere Wahlfreiheit beschrAnkt und uns nur ein bestimmtes Spektrum von Betrachtun~weisen offen hält. Es entbehrt freilich nicht einer gewissen Paradoxie, da~ diese Einsicht in den Naturwissenschaften erst dann Fuf} zu fassen begann, als die Erhaltungssitze durch die Quantenmechanik ihre Relativierung erfahren hatten (vgl. z.B. Laurikainen, 1988). Die Anwendbarkeit des Erhaltungsbegriffs "... für die Psychologie ist also abhängig von der Eigenart der psychischen Objekte oder von der Art, wie die Psychologie diese Objekte wissenschaftlich behandelt" (Lewin, 1912, S. 90). Kann man also die Terme von Bedingungsgleichungen je unabhängig voneinander begrifftich und operational definieren und dann hoffen, sie durch einen Akt empirischer Forschung dergestalt untereinander in Beziehung zu setzen, da~ ein nicht nur empirisch gültiger, sondern vor allem ein wissenschaftlicher Satz entsteht? Kann man also, wie Psychologen das immer wieder tun, einerseits Situationen und anderseits Reaktionen definieren und dann verstehen wollen, wie das eine das andere bewirkt? Oder kann man Fähigkeiten, Eigenschaften, Zustände oder Motive von Personen definieren und dann hoffen, ihre Wirkungen in Handlungen anders, gründlicher als in Form eines statistischen Zusammenhangs wiederzufinden? Psychologische Sätze mögen ja durchaus solche sein, die manchmal stimmen; aber sind sie deswegen wissenschaftlicher Natur? Es ist reizvoll, psychologische Erkenntnisse auf ihren Kerngehalt zu reduzieren und ihre Begründung daraufhin zu untersuchen, ob die Forderungen eines Erhaltun~tzes in irgendeiner Weise gewährleistet sind; ob zwischen den statuierten Bedingungen und Wirkungen ein durchgehend Existierendes glaubhaft gemacht wird. Literaturstudien unter diesem Gesichtspunkt, die hier nicht wiedergegeben werden können, haben mich recht sehr ernüchtert. Ahnte Lewin schon 1912 die unbefriedigende, physik-orientierte Entwicklung seines Faches voraus? Jedenfalls öffnet er mit klarem Blick das Feld psychologischer Wissenschaft weit über den physiko-chemischen Erhaltungssatz hinaus, indem er die Aufmerksamkeit auf Objekte richtet, welche tatsichlieh diesem Erhaltungssatz nicht folgen. Er stellt eine dreifache Klassifikation auf und exemplifiziert (1912, S. 93(, 103): (a) "Seiende Objekte, die nicht aus nichts", sondern "aus einem andern Objekt entstehen", bzw. "nicht in nichts", sondern in ein anderes Objekt "vergehen": z.B. physische Objekte, die also ihre Identität oder Existenz behalten müssen, wenn sich ihre Eigenschaften verändern. (b) "Seiende Objekte, die aus nichts entstehen oder überhaupt kein Entstehen oder Vergehen kennen•: z.B. begriffliche, insbesondere mathematische Objekte. Je nach der Auffassung der mathematischen Operatoren entstehen sie entweder aus anderen mathematischen Objekten, 43
ohne daP diese dabei vergehen, oder sie sind "zeitlos seiende Objekte, also unwandelbar und absolut starr". In beiden Pillen hätte jedes mathematische Objekt seine eigene, nur soseinsmlf'ig, nicht aber existentiell auf andere bezogene Identität. Denn es gibt sie in unbegrenzter Zahl, vorhanden oder herstellbar, ohne dap deswegen andere Gebilde vergehen müfken.Ihre Identität bleibt demnach nicht bestehen noch vergeht sie, wenn etwa mittels Funktionen Werte von Verinderlichen aus anderen "hergestellt" werden. Aber psychische Gebilde haben zweifellos nicht diesen "ewigen" Charakter. (c) Lewin verweist weiter auf die Tatsache, dap physische Gebilde ihre Veränderungsfähigkeit gewissermapen in sich tragen, dafl ihre Veränderung unabhängigvon "aller Zuwendung oder Erfassung durch ein Subjekt" (Lewin, 1912, S. 94) stattfindet, während z.B. begriffliche Gebilde, wenn man sie nicht wie die mathematischen für zeitlos nimmt, konstituiert werden müssen. Dieser Vergleich ruft nach der Möglichkeit von weiteren Klassen von seienden Objekten, auf die er dann allerdings nicht weiter eingeht, die aber gerade für psychologische Fragestellungen von höchster Bedeutung sein müpten. Denn physische Gebilde seien notwendig räumlich, zu einer Zeit stets an einem Ort und ausgedehnt; psychische Erscheinungen jedoch seien unräumlich, "nehmen keine Stelle im Nebeneinander der physischen Objekte ein" (Lewin; 1911, S. 83). Dem widerspricht nicht Lewins späterer Versuch, in der topalogischen Psychologie psychische Objekte räumlich-symbolisch zu repräsentieren. Wenn jedoch psychische Objekte selbst aus physischen Objekten in irgendeiner Weise hervorgehen sollen, dann "... müf'ten die physischen Objekte aber, um sich bei ihrer Veränderung als psychische Objekte identisch zu erhalten, den Raum verlassen können. (....) Ein 'Herauskommen aus dem Raum' wie ein 'Hineingehen in den Raum' aber widersprechen dem Begriff des Raums. Daraus folgt, dap eine Veränderung eines physischen Objekts nicht unräumliche Gebilde ergeben kann, d.h. keine Gebilde, die nicht in ein und derselben Ordnung des Nebeneinanders mit physischen Objekten existieren.... Danach bleibt für die Verbindung von physischen und psychischen Objekten lediglich eine begriffliche [oder reflexive, vgl. unten, AL) Zuordnung übrig, über deren Bestimmung damit noch nichts gesagt ist. In der Psychologie wird der Grundsatz, Psychisches und Physisches nicht als aufeinander wirkend anzusehen, allerdings recht selten eingehalten -sehr zum Nachteil der psychologischen Theoriebildung" (Lewin, 1911, s. 84t). Wenn so die Unmöglichkeit des Auseinanderhervorgehens psychischer aus physischen und physischer aus psychischen Objekten aufgezeigt ist, oder allgemein, "dap zwischen den Objekten verschil!dener Seinsarten keine Identität besteht" (Lewin, 1911, S. 85, Identität wie bisher verstanden als durchgehende Existentialbeziehung), so ist freilich damit noch nichts über existentielle Zusammenhinge oder "Identitätsbeziehungen zwischen psychischen
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Objekten untereinander" (ebenda) gesagt. Wenn Psychisches und Physisches sogar aufein· ander einwirken können sollen, so mup es neben den physischen und den begrifflichen zumindest eine weitere Identitätsweise oder -beziehung geben. Dann kann es sich dabei auch nicht um eine blop reflexive, nur im Bewuptsein des Betrachters konstituierte Kon· stanz handeln, sondern es sind reale, in der betrachteten Sache selbst begründete, also kon· stitutive Identitätsweisen unabdingbar. Ich akzentuiere Lewins Gedanken: Wie können psychische Gebilde konzipiert und wie müssen sie in der Psychologie behandelt werden. damit Veränderungsreihen gesetzmä· pigen Charakters konstitutiert sind und diese Veränderungen auch empirisch angegangen werden können? Wie könnte ein Prinzip lauten, das, in einer analogen Rolle zum Erhal· tungssatz, in den Bereichen des Psychischen und des Psychophysischen Gebilde so konstituiert, daf' die unter ihnen wirkenden und von uns aufz.eigbaren Zusammenhänge Gesetzes· charakterbekommen können? Was könnte dieser Gesetzescharakter sein, welche Art Verursachung ist psychologisch möglich, was für Funktionsbegriffe soll die Psychologie bilden? Oder ist Psychologie nur als ein Sprachspiel durchführbar, dergestalt, dati punktuell erlebte Gebilde in ein symbolisches Medium reflektiert und dort mit anderen solchen Reftektionen in wirklichkeitsfeme, beliebige Pseudo-Genesereihen komponiert werden? Solche Fragen haben Lewin nach meiner Überzeugung zu Beginn seiner Begegnung mit der Psychologie herausgefordert und ihnen hat er sein Lebenswerk gewidmet. Sein lebenslanges Dilemma ahnte Lewin wohl bereits voraus: so wie die Psychologie ihren Gegenstand bisher verstanden hat, ist sie den Fragen ausgewichen, weil "in der Psychologie prinzipielle Bedenken gegen das Aufwerfen der Ursachenfrage zu bestehen scheinen" (Lewln, 1912, S. 87, 89). Aber im wesentlichen versucht er die Frage als eine offene zu stellen, keine Antwort zu präjudizieren (ebenda, z.B. S. 88). In den beiden Fragmenten des Anfänger-Studenten Lewin sind fast alle seiner Lebensthemen angebahnt: (1) Die Frage nach der Existenz von Sinngebilden ·_innerpsychischen (Vorstellungen, Affek· ten etc.) oder solchen der Kultur (aus einem Baum macht man einen Tisch)· wird gestellt und das psychophysische Problem als besondere Crux der Psychologie erkannt (Lewin, 1911, S. 81ft). Damit sind die Handlungspsychologie, das Lebensraumkonzept und die ökologische Sichtweise vorbereitet. (2) Die Kennzeichnung der Wissenschaften als Betrachtungsweisen (Lewin, 1911, S. 82), der damit verbundene Erkenntnisrelativismus und die Idee der vergleichenden Wissenschaftslehre als Methode sind im wesentlichen errungen (Lewin, 1912); die Methode der Handlungsforschung, nämlich in offener Interaktion von Welt und Forscher die Wirkungs· gefüge selber wirken zu lassen, ist impliziert. (3) Das Verhältnis zwischen Erhaltung und Wandel und der Genidentitätsbegriff sind klar vorgezeichnet (Lewin, 1911, S. 85; 1912, S. 88 et passim), und auch die erklärungsorientierte Begriffsbildung nach dem Prinzip der Reihung (später "Konditional-Genese") und damit 45
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die Orientierung auf Entwicklung - als etwas zu Verstehendes wie als etwas zu Beeinflussendes - ist angelegt (Lewin, 1912, S. 89f, lOSt). (4) Die zentrale Rolle einer fundamental durchdachten theoretischen Psychologie wird fast selbstverständlich vorausgesetzt. Nicht direkt angesprochen sind Lewins soziales Engagement und die Wende zur Sozialpsychologie und die Gruppendynamik. Die beiden Fragmente, im akademisch-philosophischen Stil der Zeit geschrieben und in manchen Nebengedanken durchaus - wie ja auch die späteren Texte Lewins ·etwas verwirrlieh, stellen erregende Fragen. Sie stellen die akademische Disziplin, für die sich ihr Autor eben entschieden hat, gründlich in Frage.
Warum enthlllt das GenidentitlJts-Buch von 1922 kein Psychologk-KJlpitel? Das Problem der Existenz psychischer Objekte oder Gebilde bzw. die Aufgabe einer adäquaten K.onzeptualisierung psychologischer Prozesse mu~ Lewin gründlich gepackt haben. Zwar studiert er, nach dem Usus der Zeit, die experimentelle Psychologie im breiten Rahmen der philosophischen Tradition. Unterbrochen durch Kriegseinsatz experimentiert er über eine der fundamentalen Fragen des Faches (vgl. unten Abschnitt zu 1917 etc.), gibt aber seine wissenschaftstheoretische Fundamentalfrage nach dem Charakter und den Vorbedingungen psychologischer Erkenntnis beileibe nicht auf. Er schreibt im Felde und im Lazarett den Aufsatz Kriegslandschaft (1917), das bildhafte Voraus-Kondensat seines Lebenswerkes, und Teile seines ersten Buches Ober den Begriff der Genese (1922). Um die Jahreswende 1919/20 reicht er dessen Manuskript als philosophische Habilitationsschrift ein, die von einem multidisziplinären Gremium unter der Federführung von Carl Stumpf abgelehnt wird (vgl. Metraux in Lewin, 1983, S. 18ft). Ich habe den Inhalt und die nach meiner Überzeugung zentrale Bedeutung dieses Textes für das Verständnis von Lewins Psychologie bereits an anderer Stelle dargestellt (Lang, 1964, 1980, 1990). Kürzlich hat Kurt Back eine Darstellung des Genidentitäts-Buches vorgelegt (Back, 1986). Meines Wissens ist dies - von Hinweisen von Donald Adams und Fritz Heider abgesehen - das erste Mal, da~ es im amerikanischen Milieu in seiner zentralen Bedeutung für Lewins Werk gewürdigt wird. Im vorliegenden Zusammenhang lä~ sich die Schrift im wesentlichen als eine Durchführung der in den beiden frühen Fragmenten angelegten Fragestellung nach den Existential-Voraussetzungen von wissenschaftlichen Sachzusammenhängen überhaupt sehen. Die Ausgangsfrage: Gibt es eine eigenständige Psychologie? ist aber im Buch in den Hintergrund getreten. Während Lewin 1911/12 von einer solchen Frage an die Psychologie angetrieben worden war, gibt es jetzt, nach einer Einleitung zur Grundlegung einer empirischen, vergleichenden Wissenschaftslehre (vgl. dazu auch Lewin, 1925), einen ersten Teil zu den Genesereihen in der Physik (30 Seiten), einen zweiten Teil in drei Abschnitten zu drei Arten von Genesereihen in der Biologie (150 Seiten) und einen dritten Teil zur vergleichenden Gegen46
überstelJung (12 Seiten). Die Psychologie taucht, abgesehen von zwei Erwähnungen im Vorwort und einer in einem weiteren Anhang, in dem Text nicht auf. Einzig im Anhang XII, betitelt Biologie und Psychologie, erwägt Lewin die Möglichkeit und weni&'llens teilweise Angemessenheil einer "biologischen Theorie 'psychischer Lebensvorglinge'", um es aber sogleich als voreilig zu qualifizieren, wollte man "die Psychologie insgesamt als Teil der Biologie ansprechen" (Lewin, 1922, S. 299). Der Text dieses Anhangs XII zeichnet ein begrifflich zwar klares, inhaltlich aber recht vages Bild des Verhältnisses zwischen psychischen und physischen Funktionen oder Gebilden. Man müsse die Einwirkungen untersuchen, welche vorfindbare Gebilde aufeinander ausübten. Gebilde, sagt Lewin, die so gedacht werden, dafl sie Gegenstand der Biologie oder der Psychologie werden können, sollten von jenen Gebilden, die Gegenstand der Physik sein und daher physikalische genannt werden können, klar unterschieden werden. Ich ziehe den Inhalt dieser wissenschaftstheoretischen Erwägungen in Tabelle 1 (auf der folgenden Seite) zusammen und verweise auf meine früheren Bemerkungen zu Lewins Terminologie (im Übersetzer-Vorwort zur Feldtheorie von 1951/1963, S. 12, und in Lang, 1990, Fuflnote 2, S. 12St). Den Übersetzern der Topalogischen Psychologie ins Deutsche (Lewin, 1936/1969, S. 21) kann ich somit nicht beipflichten, daJl Lewin die Ausdrücke "psychisch" und "psychologisch" völlig unterschiedslos verwendet, obwohl ich eine gelegentliche Irregularität zugestehen mufl. Für das doppeldeutige "psychological" in den englischen Texten kann freilich nur der Zusammenhang entscheiden. In den deutschen Texten, bis hin zum erhaltenen Manuskriptteil zur Topologischen Psychologie, verweist "psychisch" fast immer auf einen Phänotypus, "psychologisch" auf einen Genotypus, also eine bestimmte wissenschaftliche Konstruktion. Psychologische Gesetze sind Sätze, die sich auf psychisches Geschehen beziehen, aber auch weiteres einbeziehen können. Die letzte Zeile der Tabelle habe ich kursiv gesetzt, weil die Psychologie (im engeren Sinn, also als eine nicht-biologisch angelegte Psychologie) im Text des Anhan&'l unverbunden mit dem Übrigen nur ganz am SchluJl, sozusagen im mehrfachen Konjunktiv, auftritt aber nicht diskutiert wird: "Es wäre ja möglich, dafl ebenso wie die physikalischen Gegenstände nicht mit den physischen Gegenständen zu identifizieren sind, es auch 'psychologische' Gegenstände glibe, die als Gegenstandstotalität das Objekt einer besonderen Psychologie wären, ohne mit der 'psychisch' genannten speziellen Gruppe biologischer Gegenstände identisch zu sein." (Lewin, 1922, S. 299).
In diesem Fall gäbe es "noch eine besondere selbständige Wissenschaft - die Psychologie" (ebenda). Aber Lewin läfk die Frage offen stehen.
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ins Begriffiichkeit für die GegenstAnde der drei Wissenschaften
voJWissenschaftlich
physisch physisch (Lebensfunlttionen) psychisch (höhere Funktionen)
psychisch
Physik
Biologie
Psychologie
physikalisch biologisch biologisch
psychologisch
Genesereihen in fortgeschrittenen Wissenschaften und in der Psychologk Was ist nun der Inhalt des Genidentitäts-Buches? Wie wir die Welt begreifen, ist nicht blof3 Sache der Welt selbst, sondern ebensosehr Folge der von uns gewählten Betrachtungsweise. Lewins These ist einfach, und doch ist es gar nicht leicht, ihren Gehalt mitzuteilen (Back, 1986; Lang, 1964, S. 18-33; Lang, 1990). Im vorausgehenden Abschnitt über den Erhaltung.uatz ist eigentlich bereits alles Wesentliche erwähnt worden. Im Buch und in einem späteren und umfassender angelegten Buchmanuskript aus dem Nachlaf3 (Lewin, 192528/1983) wird jedoch deutlicher, daf3 es ihm vor allem um das Problem der Konstitution von Wissenschaften geht. Ich werde das folgende bevorzugt anband der Wissenschaftslehre (1925-28) darstellen, weil dort etwas mehr von Psychologie die Rede ist. Mit der Vervielfachung der Disziplinen im Lauf des 19. Jahrhunderts sei zunehmend deutlicher geworden, daf3 die "Forschung in allen Wissenschaften auf die Hilfe der übrigen Disziplinen angewiesen" sei (Lewin, 1925-28, S. 322). Es ist deshalb eine Wissenschaftslehre gefragt, welche auf das Vo!Schreiben verzichtet, wie Wissenschaft sein solle, und stattdessen erforscht, wie Wissenschaften tatsichlieh operieren: eine Wissenschaft über die Wissenschaften oder eine empirische Wissenschaftslehre. Lewin scheint manchmal bewuf3t den Ausdruck Wissenschaftstheorie zu meiden. Aber charaltteristischeJWeise für einen Gestalttheoretiker fügt er bei: "Die Wissenschaftslehre wird ihrer Aufgabe eiSt gerecht werden, wenn sie die Wissenschaften nicht mehr blof3 als historisch-konventionelle, sozusagen zufällige Konglomerate von Sitzen, Methoden, Theorien deutet, sondern als Gebilde zu veiStehen veiSucht, die eine eigene Struktur, eine Eigennatur besitzen und deshalb begrifflich und gesetzlich genau erfaf3bar sind" (Lewin, 1925-28, S. 322).
Damit ist die vergleichende Methode nahegelegt, welche Lewin im ezsten Teil des Genidentitäts-Buches entwickelt und für die er auch später in einem gewissen Umkreis auf Interesse st~t (Lewin, 1925; vgl. auch Metraux, in diesem Band). Ein Rätsel bleibt, warum Lewins empirische Wissenschaftslehre, die in mancher Hinsicht durchaus den Einsichtsstand des letzten Drittels des 20. Jh. vorwegnimmt, über einen kleinen Berliner Kreis hinaus kein Echo gefunden hat. Bisher fehlen Kenntnisse über die Hörer von Lewins wissenschaftstheoretischen Vorlesungen und Vortrigen und über das Schicksal der von ihnen rezipierten erregenden Gedanken ebenso wie über deren Ursprünge. Manches von Lewins Erkenntnisrelativismus und Wissenschaftsverständnis ist bei Ernst Mach und bei Georg Simmel vorgezeichnet. In seinen Schriften verweist Lewin nur selten und meist nur global aufbeide. Mach (1838-1916), der die Naturwissenschaft als in biologischen, psychologischen und sozialen Prozessen begründet erkannte, wurde allerdings bereits seit der Jahrhundertwende positivistisch umgedeutet, obwohl eine ganze Reihe von Bewegungen zur Überwindung des Positivismus Mach entscheidende Impulse verdanken (vgl. Haller & Stadler, 1988). Er erklärte das Leib-Seele-Problem zum Scheinproblem, weil die perzeptiv-kognitive Rolle des Erkennenden so wenig idealistisch verabsolutierbar ist wie der materielle Charakter von Erkanntem materialistisch. Simmel (1858-1918), der mit der Berliner Fakultät noch schlimmere Erfahrungen gemacht hatte als Lewin und bis 1914 mit groJkm Publikumserfolg, aber nur als Extraordinarius, in Berlin lehrte, ist nicht nur ein ebenso entschiedener Evolutionist, auf biologischer wie auf kultureller Ebene, sondern ein ebenso unzeitgemiJkr wie radikaler Kant-Nachfolger wie Mach gewesen. Nicht nur die Möglichkeit, sondern sogar die Nützlichkeit des Erkennens erzeuge fiir uns die Gegenstände des Erkennens; Wahrheit sei somit ein Verhiltnisbegriff(vgl. Helle, 1988). Undenkbar, da~ Lewin die Ideen der beiden eminenten Psychologen nicht gekannt hat; aber wie genau hat er sie gelesen? Oder hat er es vorgezogen, ihre Ideenwelt selber neu zu erfinden? Die wichtigsten Aufgaben der allgemeinen Wissenschaftslehre (Lewin, 1925/28, S. 333ft) sind die Bestimmung der Wissenschaften als Einheiten (ebenda S. 366-427) und das Verständnis der Entwicklung der Wissenschaften (ebenda, S. 335-365). BeschrAnken wir uns hier auf die erste dieser beiden Fragen. Lewin untersucht in seinem Buchentwurf (1925/28) verschiedene Möglichkeiten der Bestimmung von Wissenschaften als Einheiten oder selbständige Sinngebilde. Er kommt, nach der Ablehnung der Einheitswissenschaft, zum Schlu~, da~ formal-logische, methodologische, erkenntnistheoretische oder gegenstandsbezogene Eigentümlichkeiten der Wissenschaften nicht ausreichen, um sie gegeneinander abzugrenzen. Lewins Ausführungen dazu (1925/28, S. 366-411) scheinen mir übrigens, von Einzelheiten abgesehen, auch heute gültig; in die damalige wissenschaftstheoretische Landschaft müssen sie recht erratisch eingebrochen sein, wenn man von den erwähnten Au~nseitern Mach und Simmel einmal absieht. So kann man zur Kritik am Positivismus so schöne Sätze lesen wie:
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Alfred La"g
"Nun fragt es sich, ob man es bei der Physik mit einem speziellen Beispiel eines allgemeinen Sachverhalts zu tun hat, der besagt, daji jede Wissenschaft die ins Gebiet einer anderen Wissenschaft fallenden Eigenschaften und Gebilde nicht zur Tatsächlichkeil rechnet" (1925/28, S. 391). Wenn Lewindennoch einen weiteren Versuch, einheitliche Wissenschaften zu umschreiben und gegeneinander abzugrenzen, unternimmt, so durchaus im Bewujitsein um dessen hypothetischen Charakter (Lewin, 1925-28, S. 411). Sein Kriterium liegt in der von den verschiedenen Wissenschaften auf unterschiedliche An vorausgesetzten Existenz ihrer Gegenstände. Wissenschaften entwickeln ihre Beschreibungsbegriffe, Metboden und Erklärungssysteme anband der Eigenschaften oder des Soseins der von ihnen ausgewählten Gegenstandsbereiche und -aspekte. Die Existenz oder das Dasein dieser Gegenstände aber setzen sie voraus, und dies unabhängig davon, ob sie sich mit ihren begrifflichen Darstellungen auf reale Entitäten oder auf ideelle (Sinn-) Gebilde oder Prozesse beziehen. Existenz kann man als solche nicht wahrnehmen, da direkte oder durch Instrumente vermittelte Wahrnehmung stets Eigenschaften ihrer Objekte betrifft. Was- aufirgendeine Weise· wahrgenommen oder dargestellt werden kann, muji aber existieren, weil es ja wirkt. Die Existenz ist also ein erschlossener Aspekt jeder Gegebenheit. Das Verdienst von Lewins Genidentitäts-Buch ist es nun, daji es mit der vergleichenden Methode in detaillierter Konkretheil nachweist - Einzelheiten mögen im Uchte der Wissenschaftsentwicklung revisions- oder ergänzungsbedürftig sein -, daji verschiedene Wissenschaften durch die An und Weise, wie sie das Sosein ihrer Gegenstände angehen, unterschiedliche Existenzweisen dieser Gegenstände voraussetzen. Im Genidentitäts-Buch konzentriert Lew in diesen Nachweis auf den Vergleich zwischen Physiko-Chemie und Biologie, während er im Manuskript zur Wissenschaftslehre darüber hinaus, freilich meist in eher allgemeiner Weise, auch auf Disziplinen wie Ökonomie, Geschichtswissenschaft, Kunstwissenschaft, Mathematik, Wissenschaftswissenschaft, Jurisprudenz und auch Psychologie Bezug nimmt. Für Physik und Biologie wird in aller Klarheit gezeigt, daji deren Gegenstände in der Zeit als in Reihen auseinander hervorgehender Gebilde gedacht werden müssen, damit das begriffliche und methodische Instrumentarium dieser Wissenschaften überhaupt greifen kann. Die Möglichkeit, auch bei den anderen Disziplinen Genesereihen vorauszusetzen, kommt deutlich zum Ausdruck; doch bleiben diese Reihen, von Ausnahmen abgesehen, wenig klar erkennbar, eher illustriert als konzipiert. Ich übernehme und ergänze Beispiele: So existiert Kohle für die Physiko-Chemie als ein überaus komplexes Konglomerat, das durch seine Verbrennung in Wärme, Gase und Asche, die Wärme ihrerseits in Druck und mechanische Bewegung, übergeführt wird. Für die Ökonomie ist Kohle hingegen ein je nach Jahreszeit und Marktlage mehr oder weniger begehrtes Gut, dessen Genesereihe die Erdgeschichte, das Herlrunftsbergwerk, die Möglich50
keiten ihres Abbaus und die Techniken ihrer Verwertung, die Transportsysteme, die Zahlungsmittel, die Bedürfnisbefriedigung von Iohnabhängigen Bergarbeitern, Kautleuten und ungern frierenden Stadbewohnern etc. einschlieflen kann. Solche Genesereihen gibt es also ...überhaupt nur in sozio-kulturellen Systemen. So existiert eine Stadt als Gegenstand der Kulturgeschichte trotz wechselnder Bewohner und Gebäude, Gestalt und Ausdehnung über Jahrhunderte; dasselbe gilt für eine Institution oder eine Nation als Gegenstand der Jurisprudenz, ja, diese erhalten und verlieren ihre formelle Existenz erst durch Rechtssetzung. So ist ein Werk der Kunst oder Literatur für die entsprechenden Kulturwissenschaften ein Sinngebilde mit thematisch, stilistisch, technisch u.a.m. spezifizierbarer Vorgeschichte, Entstehungsgeschichte, Rezeptionsgeschichte; seine mit den Interpretationsepochen und -kreisen wechselnden Wirkungen gehören in der Betrachtung dieser Disziplinen wesentlich zu seiner Existenz. Während Lewin 1922 der überzeugende Nachweis gelingt, da~ Physiko-Chemie einerseits und die biologischen Disziplinen anderseits ganz unterschiedliche Genesereihen implizieren- die biologischen Disziplinen überdies in drei unterschiedlichen Formen-, kann man den Texten von 1925-28 entnehmen, da~ diese physikalischen und biologischen Genesereihen-Typen generell den Vorgehensweisen der anderen Wissenschaften nicht entsprechen; doch bleibt man im Ungewissen, wie denn nun diese anderen Reihen allgemein zu konzipieren sein könnten. Über die psychologischen Genesereihen wird im Unterschied zu den ökonomischen oder kulturhistorischen besonders wenig ausgeführt. Ich kann hier nicht in Details der Genesereihen-Arten eintreten, möchte aber mit einem vergleichenden Beispiel (Lewin, 1925-28, S. 434) deutlich machen, wie verblüffend elementar und folgenreich diese auch in der heutigen Wissenschaftspraxis kaum je explizit gemachte Einsicht wirklich ist. Eltern und Kinder, egal welcher Art Lebewesen, sind zweifellos form- und verhaltensähnliche Gebilde, von denen, biologisch gesehen, stets das eine gesetzmä~ig aus dem andem hervorgeht, keinesfalls umgekehrt. Physiko-chemisch gesehen sind aber beides ebenso separate wie zufällige Ansammlungen von Atomen und Molekülen, die miteinander physikalisch nur dann zu tun haben, wenn das eine das andere z.B. herumträgt oder wärmt; und es ist kein physiko-chemisches Gesetz möglich, welches gerade diese beiden Aggregierungen oder gar ihren selbstreproduktiven Zusammenhang erklären könnte, obwohl kein einziger der dazu führenden Prozesse in irgendeiner Weise irgendeinem physiko-chemischen Gesetz widerspricht. Die Gestalt der beiden Individuen und ihr Werden ist eben ein je einmaliger historischer Proze~. bedingt durch die Genomgeschichte der Vorfahren und die Lebens- und Erfahrungsgeschichte der beiden Gebilde in ihrer tatsächlichen, ebenfalls historisch-einmalig so gewordenen Umgebung. Biologisch (und psychologisch) ist gesetzmä~ig, was physiko-chemisch ein Ergebnis von (extrem unwahrscheinlichen) Zufallsprozessen darstellt. Gerne hätte man Lewin mit Kurt Back (1986) gefragt, wie die ElternKind-Genese oder wie die Existenz von Gruppen psychologisch zu verstehen sei.
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Die Physiko-Chemie vedolgt gewissermallen das "Schicksal" von elementaren, d.h. als solche mit gleichartigen austauschbaren, Atomen und Molekülen, ihren Bestandteilen und ihren Aggregaten, was immer ihren immanenten Eigenschaften entspringt und was ihnen die herrschenden energetischen Bedingungen auferlegen. Sie formuliert Gesetze über die möglichen und notwendigen und beschreibt die wirklichen Schicksale dieser untereinander in Raum und Zeit energetisch in Wechselwirkung tretenden Gebilde. Dabei tut sie gut, alle Gebilde-Schicksale in Reihen zu denken und im Rahmen des Erhaltungsprinzips darauf zu achten, dajJ die Reihen jeweils restlos erhalten bleiben, d.h., dajJ nicht aus nichts etwas dazu tritt oder dajJ nicht etwas von ihnen in nichts verschwindet. Die Biologie hingegen, soweit sie aufs Lebendige gerichtet ist, vedolgt das Schicksal von als solchen einmaligen Formierungen aus Atomen und Molekülen, die wir Zellen, Organe oder Organismen nennen und deren Gestalt trotz ihrer Einmaligkeit selbst-reproduktionsfähig ist, weil sie nicht nur von den Eigenschaften ihrer Elemente selbst und den Umgebungsbedingungen, sondern zusätzlich von geschichtlich gewordenen und ihnen eigenen "Programmen" abhängen. Bereits die von Lewin detailliert untersuchten Genesereihen zeigen eine groj3e Vielfalt von Existenzformen. Sie können kontinuierlich oder diskret konzipiert sein, in der Zeit unendlich oder mit Anfang und Ende, vorwärts und rückwärts in der Zeit symmetrisch oder gerichtet oder rekursiv in sich selber zurückkehrend; sie können linear sein oder divergent und konvergent verzweigt; sie können von anderen Reihen getrennt oder mit ihnen gekoppelt sein oder sich in bestimmter Weise mit ihnen schneiden. All das und Weiteres kann hier nicht ausgeführt werden. Was bedeutet das alles für die Psychologie? Warum hätte ich so gerne ein Psychologie-Kapitel im Genidentitäts-Bucb oder in der Wissenscbaftslebre? Nun, Lewin zeigt, welch zentrales Problem die Psychologie bis heute offen gelassen bat. Warum sind wir in der Psychophysik oder in der Handlungstheorie mit Sätzen zufrieden, deren Terme untereinander eigentlich viel unverträglicher sind als die sprichwörtlichen "Äpfel und Birnen", die man nicht addieren kann; und dies in Bereichen, wo wir keinen Begriffwie "Obst" konzipiert haben. Dasselbe gilt wohl für die meisten Kultur- und Sozialwissenschaften. Wie könnten also Genesereiben konstituiert sein, welche von Aspekten der Welt in die Umwelt von Individuen und über deren Wahrnehmung zu ihren Gedächtnisinhalten reichen? Was müssen oder können das für Genesereihen sein, welche systemartige innerpsychische Gebilde mit ihren kognitiven und ihren motivationalen Vorgängen tragen, welche die Bezogenbeil von Gedächtnisinhalten von Individuen auf das Sosein ihrer Umgebung, auf die eigene Geschichte, ja auf die eigene Zukunft ermöglichen und trotz ihrer Vielfalt diese seltsame Kohärenz bis bin zur Iebhaftigkeit bedingen? Und welche über die handelnden Subsysteme Wirkungen in die Welt zurücktragen, indem diese innerpsychischen Gebilde wesentliche Bedingungen werden für das, was wir allgemein - in ihren materiellen
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und symbolischen Aspekten - die Kultur nennen; und deren Komponenten und Aspekte dann ihrerseits wieder von uns selbst und von anderen Menschen irgendwie aufgenommen werden? Ich glaube, da!J die Psychologie - wie andere jüngere Disziplinen - nur dann eine befriedigende Wissenschaft werden kann, wenn ihr die Klärung durchgängiger und konsistenter Existenzverhältnisse in ihrem Bereich oder wenigstens in ausgrenzbaren Teilbereichen gelingt. Und hierzu sind in seiner Studienzeit von einem der GröfJten unserer Disziplin entscheidende Vorarbeiten geliefert worden. Diese Einsicht Lewins, da~ Genesereihen expliziert werden sollten, mü!Jte die Psychologie auch inhaltlich voranbringen. Aus der Überlegung des Hin- und Zurückwirkens zwischen Individuum und Umwelt leitet sich die Kreishaftigkelt psychologischer Genesereihen ab; nimmt man die Tatsache der Entwicklung von Mensch-Umwelt-Systemen hinzu, müfJte sich das Bild von •spiraligen" Genesereihen aufdringen (vgl. Lang, 1981, in Vorbereitung).ln der Psychologie ist, so weit ich sehe, bis heute neben der spekulativen Vision der Gestaltkreislehre Viktor von Weizsickers (1947) nur ein Ansatz diesen Überlegungen wenigstens in methodologischer Hinsicht gerecht geworden, allerdings nur unzullinglich in der empirischen Durchführung. Es ist der von Vygotsky in den frühen Drei!Jigerjahren, übrigens unter Diskussion mit Lewin, begründete sozial- oder kulturhistorische Ansatz (vgl. z.B. Wertsch, 1985). Aber wie sollen wir die psychologischen Genesereihen fassen? Einen jungen Leser, der ein Netz von Gewi!Jheiten durch seine Fragen hindurch zu knüpfen suchte und zwar das Genidentitits-Buch mit seinen abenteuerlichen Einsichten in biogenetische Reiche verschlingen, aber die Fragmente von 1911/12 nicht kennen konnte, mu!Jten Lewins Zweifel leicht stärker beeindrucken als die im mehrfachen Konjunktiv enthaltene Möglichkeit einer eigenständigen Psychologie. Ich jedenfalls mu!J bekennen, dafJ ich mich von der aufS. 47 zitierten Textstelle - und belc:rlftigt von Aussagen wie dem Schlupsatz des 4. Kapitels der Topologischen Psychologie (Lewin, 1936/1969, S. SO) -dazu verführen lie!J zu glauben, die Psychologie sei bezüglich der Existenzweise ihres Gegenstandes am besten analog der (organismischen Individual-) Biologie zu sehen, obwohl Lewin genau das eben nicht behauptet. Nicht dafJ ich einem biologischen oder gar physikalischen Reduktionismus des psychologischen Fragens verfallen wlire - da baue Lewin durch seine Separierung der Wissenschaftsindividuen klar genug vorgearbeitet. Aber ich konnte mir keine eigene Existenzweise psychologer Gebilde vorstellen. Erst nach nahezu drei!Jig Jahren Befangenheit eröffnet sich mir jetzt die Möglichkeit der Konzeptualisierung von psychologischen Genesereihen mit Hilfe einer triadischen Semiotik im Anschlu!J an C.S. Peirce (vgl. Lang im Druck, in Vorbereitung).
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Aber wie kommt es, dap Lewin, der als Anfänger-Student ausdrücklich von einem Problem der Psychologie gefangen worden war • "Dos Erhaltungsprinzip in der Psychologkw betitelte er seinen Text von 1911 -, in seinen publizienen Arbeiten zur Wissenschaftslehre die Psychologie kommentarlos auslief', ja in der einzigen Bezugnahme eher Zweifel an der Möglichkeit einer eigenständigen Wissenschaft Psychologie schüne oder sich jedenfalls dazu nicht äupern wollte, obwohl er die Erörterungswürdigkelt der Frage anerkannte? Die Frage nach dem fehlenden Psychologie-Kapitel im Genesereihen-Buch ist mir inzwischen zur Schlüsselfrage geworden. Ich hatte die Frage bei meiner Lektüre 1960 nicht übersehen; doch die Antwon hatte ich mir zu leicht gemacht: wenn Lewin mit der vergleichenden Methode keine psychologischen Genesereihen beschreiben könne oder wolle, sagte ich mir, dann müpe er zum Schlup gekommen sein, daf' dies nicht möglich wäre. Der Schlupabschnitt vom Anhang XII wäre dann halt eine höfliche Absage an eine eigenständige Psychologie gewesen. Bleiben wir also bei den biologischen Genesereihen, schlief'lich braucht Psychisches ein Gehirn, um zu existieren! Was ich bei dieser Antwon übersehen, obwohl ich es gut genug gewuf't habe, ist die Tatsache, daf' Lewin zeit seines Lebens nichts anderes als eine eigenständige Psychologie entworfen und durchzuführen versucht hat. Gegenüber dem Isomorphie-Biologismus seiner älteren Berliner Psychologen-Kollegen hat er sich ja deutlich abgesetzt (vgl. Vorwon zu Lewin, 1936). Der Schlupabschnitt vom Anhang XII, so gelesen, könnte ein verkapptes Bekenntnis zu einer selbständigen Psychologie sein. ein leicht verschlüsseltes Versprechen: ich werde Euch eine solche Psychologie machen, wenn ich nur "meiner eigenen Richtschnur folge". Ein nicht zu lautes und nicht zu eindeutiges Bekenntnis. weil die Herausforderung grof' genug war; ein Scheitern muf'te in Betracht gezogen werden. Mein erster Impuls nach dieser befreienden positiven Umdeutung war: man müj)te das Psychologie-Kapitel des Genidentitäts-Buches nachträglich zu schreiben versuchen. Wird sich die Psychologie auf einen einzigen Genidentitätsbegriff bringen lassen oder wird sie mehrere verschiedene benötigen? Die Psychophysiker, die Bewuj)tseinspsychologen, die verschiedenen Tiefenpsychologen, die Gestalttheoretiker, die Behavioristen, die Kognitivisten, die lnformationsverarbeiter, die lnformationsaufpicker .•. - wer verfügt über die Voraussetzungen für ein solch gewaltiges wissenschaftshistorisches und psychologievergleichendes Unternehmen? Aber eine würdige und vielleicht folgenreiche Aufgabe für die Psychologiegeschichte wäre das allemal. Nach einem solchen Gefühlswechselbad in später Auseinandersetzung mit meinem geistigen Vater nahm ich die Frage nach dem fehlenden Psychologie-Kapitel in Lewins Schrift endlich ernst: warum hatte er es nicht geschrieben. da er doch ursprünglich genau mit diesem Ziel ausgezogen war? Denn inzwischen hatte ich ja die Fragmente von 1911 und 1912 (vgl. oben). Zeitmangel ist kein zureichender Grund; er hat sich die ganzen 20er Jahre lange genug mit Wissenschaftstheorie befaj)t und hätte es "nachliefern" können.
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Da uns Dokumente zu Lewins konzeptuellem Weg zwischen 1912 und 1920 fehlen, bleibt nur die Spekulation. Meine Vermutung- ich kann sie nicht herleiten, aber ihre Annahme erhöht die Prägnanz der Gesamtgestalt von Lewins Werk- geht dahin, dap er bei der Suche nach den psychologischen Existential-Annahmen im Unterschied zu den physika· Jischen und den biologischen Wissenschaften in der bestehenden Psychologie nichts Vernünftiges finden konnte. Man kann sich tatsächlich des Eindrucks nicht erwehren, dap viele psychologische Begriffe auf Gebilde verweisen, die aus (nahezu) nichts kommen und in nichts vergehen können. Es ist keine Übertreibung festzustellen, dap sich die meisten Psychologen für das existentielle Schicksal psychischer Gebilde nur punktuell interessieren. Die Aufteilung der Psychologie in Teildisziplinen verleitet dazu, nur noch methodisch, kaum aber inhaltlich zu berücksichtigen, dap psychologische Funktionen stets verkettet auftreten. Anderseits hat man in Konzepten wie Persönlichkeitsdisposition oder Entwicklungsstufe zeitlose Konglomerate gebildet, die sehr groJ'zügig mit der ProzeJ'haftigkeit des Psychischen umgehen. Beispielsweise mup eine Erinnerungsvorstellungper definitionem auf eine Wahrnehmung in einer konkreten Situation zurückverweisen, für die ja im kontrollierten Experiment auch gesorgt wird; aber erst BartJett und die Gestaltpsychologen haben gezeigt, dap Gedichtnisspuren spontanen Veränderungen unterliegen können. Bis heute wird immer wieder miJ'achtet, daJ' die verbale Beschreibung einer Erinnerung nicht die Erinnerung selber ist, daJ' vielmehr ein eher lockerer Zusammenhang besteht. Oder es wird von den Tiefenpsychologen ein Charakterzug oder ein pathologisches Symptom auf eine frühkindliche Erfahrung zurückgeführt, das Schicksal des Systems zwischen den beiden Zeitpunkten aber ausgeblendet. eine sogenannte Fähigkeit wird aufgrund einer aktuellen Leistung diagnostiziert und damit künftige Leistungen prognostiziert, ohne daJ' die aktuellen und die dispositionellen Bedingungen der diagnostischen und einer künftigen Leistung in irgendeiner anderen als einer postulativen Weise sachlich und genetisch untereinander in bezug gesetzt worden sind. Die Beispiele sind beliebig vermehrbar. Die Erkenntnis, die Psychologie organisiere ihren Gegenstand sozusagen überhaupt nicht in Genesereihen, könnte Lewin erschreckt haben. Daraus lieJ'e sich sein wissenschaftstheoretisches Schweigen zur Psychologie bis nach der Mitte der 20er Jahre verstehen. Doch mup ihn die Einsicht, die bestehende Psychologie habe kein konzeptuelles Rückgrat, nicht zur Aufgabe dieses Faches veranlaJ't, sondern, im Gegenteil, herausgefordert haben, eine Psychologie über Genesereihen zu konstruieren. Ich mup mir versagen, an dieser Stelle weitergehende Mutmassungen zu den psychologischen Genesereihen zu äuJ'ern, sei es :iu den erschlieJ'baren in der bestehenden Psychologie, sei es programmatisch zu weiteren Möglichkeiten. In aller gebotenen Kürze möchte ich aber einige Aspekte des bekannteren Werkes von Lewin unter dem Gesichtspunkt der psychologischen Genesereihen betrachten. Die Leitlinie dieser Heuristik könnte etwa lauten: Seine Herausforderung von 1911/12, ein konzeptuelles Rückgrat (Erhaltungs-
Oder
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A.lfredLtu~g
satz, Genesereihen) in der bestehenden Psychologie zu finden, hat Lewin damals nicht einlasen können. Vermutlich deswegen, weil in den frühen Entwicklungsstadien, in denen sich die Psychologie damals -wie wohl auch heute noch - befand (vgl. dazu Lewin, 192528, S. 335-362), auf ltonzeptuelle Konsistenz zu wenig geachtet worden ist. In der Folge hat er sich dafür entschieden, selber auf eine Psychologie hin zu arbeiten, welche seinen Träumen gerecht werden könnte. Wiederholt hat er mit Wendungen wie der "These von der strengen Gesetzlichkeit des Psychischen" (z.B. Lewin, 1926, S. 298ft) diese Zielsetzung markiert. Was für Themen stellten sich einer solchen Psychologie und wie ging Lewin sie an?
Von der leiossifizierenden und lcorrelierenden zur /conditional-genetischen Psychologie (Lewin, 1927, 1931) Die beiden Aufsitze Gesetz und Experiment in der Psychologie aus dem Jahre 1927 und Der
Obergang von der aristotelischen zw galileischen Denleweise in Biologie und Psychologie aus dem Jahre 1931 haben einen weitgehend verwandten Inhalt. Der frühere ist der erste Text, in dem Lewin ausdrücklich sein wissenschaftstheoretisches Denken auf die Psychologie und ihre Methodik anwendet. Hier entwickelt und propagiert Lewin die konditionalgenetische als die der Psychologie angemessene Erklärunpweise. Dem Kenner des Genidentitäts-Buches wird nichts grundsätzlich Neues geboten, wohl aber wird in vielen Einzelheiten erläutert, was in den Fragmenten von 1911/12 gefragt und in den Texten der frühen 20er Jahre nicht ausgeführt worden ist. Entgegen seinen Grundsitzen einer empirischen Wissenschaftslehre wird jetzt in den wissenschaftstheoretischen Publikationen allenthalten deutlich, dafl Lewin nicht die Analyse einer vorgefundenen Psychologie betreibt, sondern ein eigenes Programm entwikkelt. Eine seiner zentralen Thesen ist, dafl "im Prinzip ein einziges Exemplar" zur Bestimmung eines Geschehenstypus und damit zur Formulierung eines Gesetzes genügt (1927a, S. 292t). Etwas nur entfernt Ähnliches findet sich in der zeitgenössischen Psychologie nicht bis heute nur selten. Es leuchtet jedoch sofort ein, wenn man bedenkt, dafl eine aufs Individuum gerichtete Psychologie zunächst einmal für jedes Individuum eine eigene Genesereihe voraussetzen mufl. Natürlich kommen Genesereihen-"Zweige• (was immer diese sein mögen) aufdem Weg von Wahrnehmungen bzw. Erfahrungen von auflen hinzu und es gehen Wirkungen vom Individuum in die Welt hinaus, beispielsweise in Form von kulturellen Produkten, die später rekursiv in die individuelle Genesereihe zurückmünden mögen oder auch nicht. Aber es ist (aufler in statistischen Betrachtungen) sinnlos, Entitäten aus Genesereihen, die sich mit derjenigen des interessierenden Individuums nicht schneiden, überhaupt in Betracht zu ziehen. Über den besonderen Charakter von psychologischen Genesereihen führt Lewin aber weiterhin nichts Genaues aus. Der Akzent ist auf dem Methodischen. 56
Die "Beschreibung eines konditional-genetischen Oeschehenstypus", so wird gesagt, "bzw. das Zusammenspiel mehrerer solcher Typen" sei "nichts anderes• als das Gesetz (1927a, S. 304), das, im Unterschied zur Regel, "Ausnahmen schlechterdings nicht zuli~t" (S. 313). Das Problem liegt freilich in der Zirtularitit: eine Genesereihe kann man nicht direkt wahrnehmen (1912, S. 102; 1927, S. 306f). Vielmehr mujJ man sie theoretisch generell voraussetzen (z.B. in Form des Erhaltungsprinzips); um sie in ihrer Eigenart zu spezifizieren, braucht man dennoch viel Vorwissen. Denn man kann die Eigenart von Genesereihen nur aus mittels bestimmter Vorgehensweisen gewonnenen empirischen Befunden erschlie!Jen, indem man von gültigen Soseins-Zusammenhingen auf die Existenz und die Existenzrelationen der in diesen Vorgehensweisen involvierten Gebilde zurückschli4t. Kennt man also die Soseins-Zuammenhinge oder das Gesetz eines Gegenstandsbereichs, so ist damit auch die Art der Genesereihe bestimmt. Im Zusammenhang mit der aristotelischen Denkweise (1931) erfahren wir jetzt mehr über die Dynamik des psychischen Geschehens und auch über psychische Gebilde mit Wertcharakter: die Genesereihen müssen über Gebilde gehen, welche positive bzw. negative Beziehungen zwischen einer konstanten Instanz, der Person, und variablen Reprisentanten der Umwelt, also die Aufforderungscharaktere oder Valenzen, einschliejJen. Systeme in gespaMtem und in gelöstem Zustand müssen existentiell untereinander verbunden sein, damit ihre Dynamik zum Wirken kommen kann. Für den Handlungs- und Affektpsychologen Lewin ist nicht mehr ausblendbar, was eigentlich den Wissenschaftstheoretiker schon bitte interessieren können, wenn man bedenkt, in wie kühner Weise Simmel (1900 /1989) implizite Genesereihen zwischen psychischen Erscheinungen wie Begehren und kulturellen Konkretisierungen wie Geld gestiftet hatte. Sitze wie der nachstehende bekommen einen volleren Sinn, wenn man sie im Uchte der Psychologische-Genesereihen-Heuristik liest.
"Die Dynamik des Geschehens ist allemal zurtJckmftJhren auf die Beziehung des konkreten Individuums zur konkreten Umwelt und, soweit es sich um innere Krifte handelt, auf das Zueinander der verschiedenen funktionellen Systeme, die das Individuum ausmachen" (Lewin, 1931, S. 270, Hervorhebung im Original). Der Wissenschaftstheoretiker Lewin zeigt nun den konsequenten Gestalt- und Systemtheoretiker. Und er greift zu einer Zeit, da er das Lebensraurn-Konstrukt und die Formel Verhalten, Entwiclclung f (psychologische Person, psyclwlogische Umwelt) erarbeitet, bereits weit voraus auf den Begriff des psychologischen Feldes, ja, auf den Lewin der psychologischen Ökologie (vgl. Abschnitt zu 1939 etc.). Zwischen Lewins Wissenschaftstheorie und seiner theoretischen Psychologie besteht ein Zusammenhang, wie ich ihn von keinem anderen modernen Wissenschaftstheoretiker kenne. So ist etwa der Satz: "Experiment und Theori~ sind Pole eines dynamischen Ganzen• (1926, S. 297) die Aussage eines psychologischen Wissenschaftstheoretikers, der Wissenschaft als einen ProzejJ in - auch psychologisch zu
=
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konstruierenden - Genesereihen denkt. Kommen wir damit zu den inhaltlichen Aspekten von Lewins theoretischer und praktischer Psychologie.
Assoziationen oder Willensakte wirken nur in gespannten Systemen (Lewin, 1917, 1922, 1926)
Lewins Dissertation betrafbekanntlich das "Grundgesetz der Assoziation". In der Nachfolge von Narziss Ach führte er den Nachweis, da~ eine durch assoziative Koppelung (Konditionierung) gestiftete Reiz-Reaktions-Verbindung zur Erklärung des Auftretens der Reaktion nicht ausreicht, sondern da~ zusätzlich geeignete motivationale Voraussetzungen bestehen müssen. Im Lehrbeispiel: gelernt zu haben, da~ Drücken der Türfalle die Türe öffnet, bedeutet nicht, da~ jeder Blick auf eine Türfalle als Stimulus die Reaktion "drücken" auslöst; man mup sich vielmehr auf dem Weg hinein oder hinaus befinden. Die assoziative Verbindung ist also nur ein Teil eines umfassenderen und dynamischen Systems. Die Einsicht ist heute vielleicht {I) trivial; sie war es damals nicht. In unserem Zusammenhang lä~t sie sich sehen als einen eJSten Schritt zum psychologischen Feld: alle notwendigen Bedingungen eines Verhaltens aufzeigen und sie in ihrem Zusammenhang begreifen. Das ist die Forderung auf der Scseins-Ebene. Auf der Daseins-Ebene hei~t das, den Blick auf alle möglichen Glieder der Genesereihe zu richten, von welcher ein Glied die Aufmerksamkeit des FoJSCheJS gefangen hat: für jeden vermuteten Zusammenhang ist zu untersuchen, was auch noch notwendig wirkt oder zwingend bewirkt wird. Jedes einzelne phänotypische Gebilde ist nur • ..• ein Inbegriffvon Verhaltungsweisen. Es ist charakterisiert als ein Kreis von Mög· liehkeilen derart, dap erst mit Angabe eines bestimmten Bedingung,
•psychologischen Wände" zwischen Systemteilen, welche einander mehr oder minder beeinflussen. Die "psychologische Wirklichkeit" (Lewin, 1926, S. 314) ist eine gestaltartige Konstruktion. Sie existiert genotypisch in ständigem Wandel eines mit sich identisch bleibenden Gebildes als Genesereihe. Phänotypisch wird sie in je bestimmten Umstindeo in ganz unterschiedlichen Formen manifest, und man kann auf sie in gleicher Weise einwirken und wird bei unterschiedlichen Umständen ungleiche Wirkungen erzeugen; oder man kaM auf sie in unterschiedlicher Weise mit gleichen Effekten einwirken. Beispielsweise sind Bedürfnis, Vornahme und Unterbrechung phänotypisch verschieden, erzeugen jedoch allemal ein gespanntes System. Die Suche nach psychologischen Genesereihen war fruchtbar, hat mehrere bisher getrennt behandelte Gebiete der Psychologie in einen Zusammenhang gebracht und der empirischen Psychologie Inhalte erschlossen, die man bisher den Uterateo oder den Psychoanalytikern überlassen mu~e. Lewin hat nach den Trägem von Erscheinungsformen gesucht, gemäj3 der These, "daj3 jedes wirkliche psychische Objekt einen Hinweis auf eine Reihe anderer Objekte gibt, die mit ihm (gen)identisch sind" (Lewin, 1912, S. 106). Indem er sie in Genesereihen voraussetzte, haben ihn die Phänotypen selbst auf fehlende Glieder ihres Werdens aufmerksam gemacht: Beispielsweise reicht die assoziative Koppelung nicht aus. Seine psychologische Methode erinnert mit ihrer Dezentrierung vom unmittelbaren Interessenobjekt an den Beginn der modernen Chemie, als nach dem Verbleib der verbrennenden Kerze und dem Grund ihres Erlöscheos unter einer Haube gefragt wurde. Sein Verfahren gleicht demjenigen Lavoisiers, der gegen Ende des 18. Jh. durch Wägen über den Abgang und den Hinzutritt von Stoffen bei der Oxydation Rechenschaft ablegte, und der so nicht nur die alte Phlogistoo-Theorie widerlegen, sondern auch den Sauerstoff als Element definieren konnte.
Der Lebensraum und seine Dynamik (Lewin, 1936, 1938) Was seine Konstruktion noch entbehrte, war eine durchgängige, einheitliche, systematische Sprache oder Darstellungsweise für die psychologische Wirklichkeit. Eine solche zu entwickeln ist das Ziel der beiden Monographien der 30er Jahre (Lewin, 1936, 1938). Wenn man das psychische Geschehen als in Genesereihen existierend versteht, dann wird man rasch sehen, daj3 mit psychischen Tatsachen allein kein vollständiges Bedingungs- und Wirkungsgefüge zu konstruieren ist. Physikalische, soziale und begriffliche Sachverhalte müssen in diese Konstruktion aufgenommen werden: nämlich "alles, was vom Standpunkt des Psychologen für diese Person existiert" (Lewin, 1936, zitiert nach 1969, S. 40). Denn "wirklich ist, was wirkt" (Lewin, 1936, S. 41). Lewin entwickelt mit der sog. Topalogischen Psychologie.und mit der Velclorpsychologie eine besondere mathematisierende Darstellungsweise der psychologischen Konstruktion in struktureller und dynamischer Hinsicht.
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Es kann hier nicht darum geben, diese Konstruktion nachzuvollziehen. Auch ihre Brauchbarkeit zur Durchführung einer auf Genesereiben l>Mierenden Psychologie soll nicht diskutiert werden. leb stimme mit den meisten Kennern überein, da~ die ~~!~tb~orie, wie Lewin sie zunehmend nennt, zwar eine fruchtbare Heuristik darstellt, da~ es ibm aber nicht gelungen ist, eine durchführbare Formalisierung vorzuschlagen (vgl. z.B. Graumann, in diesem Band). Hingegen scheint mir eine Ambivalenz diskutierenswert, die immer wieder, gerade auch nach der sog. kognitiven Wende in der Psychologie der 70er Jahre, zu Mi~verstiodnis sen Aola~ gibt. Es ist die Frage, ob der Lebensraum, das psychologische Feld, ein innerpsychisches oder ein öko-psychologisches Konstrukt darstellt. Lewins Formulierungen in dieser Hinsicht sind immer wieder zweideutig und entsprechend sind die Deutungen in der Sekundärliteratur, welche Lewin fälschlieberweise in Lager verweisen, die vom Phänomenalismus bis zum PhysikaUsmus reichen. In moderner Terminologie kann man ernstlieb fragen, ob Lewin ein Vorläufer des Kognitivismus der 70er und 80er Jahre war oder ob er als ein Begründer einer real-ökologiseben Auffassung von Psychologie gesehen werden soll (vgl. Lang, 1981). Auf dem Hintergrund der oben geschilderten Rezeption bin ich bisher der Meinung gewesen, der Lebensraum sei als wirkende Realität innerhalb des Individuums zu denken, Lewin sei also ein nicbt-pbäoomeoologiscber Kognitivist. Das ergab sieb aus der Annahme der biologiseben Fundiertbeil der psycbologen Genesereiben. Durch das Einverständnis Lewins mit Brunswiks Einwand, der Lebensraum sei post-perzeptuell und prä-bebavioral hatte Lewin gewissermallen ein Gütesiegel auf diese Auffassung gedrückt. Er reagierte ja auf die Kritik, indem er seine Konzeption ausweitete und die Begründung einer psychologischen Ökologie einleitete (Lewin, 1943-1947). Nach Gewinn meiner neuen Genesereiben-Heuristik und erneuter Lektüre vieler Texte Lewins bin ich jedoch jetzt zur Überzeugung gekommen, diese Auffassung sei besser durch die Annahme zu ersetzen, Lew in habe von früh weg ein "überpsycbisches", eben ein psychologisches Konstrukt im Sinne gehabt, welches wir beute am bestem mit dem Ausdruck ökopsychologisch bezeichnen. Es bleibt in dieser Auffassung zu verstehen, warum sieb Lewin nicht früher eindeutiger für seine Sache engagiert und warum er nicht spätestens bei jener Gelegenheit in Chicago 1941 Brunswik bzw. den Funktionalisten und Bebavioristen den Einkapselungsvorwurfzurückgespiegelt hat: sie kapselten den Menschen aus, seien mit der statistischen Behandlung von Reiz und Reaktion prä-perzeptuell und post-bebavioral; Psychologie müsse Konstrukte, umfassend den Menschen und seine Umwelt, entwikkeln. Für eine solche Argumentation hätte Lew in auf seine früheren Texte zurückgreifen können. Ein Beispiel: Im allgemeinen verstehe man die zeiträumliebe Ausweitung der psychischen Umwelt des Kindes so,
• ••. d~ das Kind allmählich lernt, eine immer breitere Umwelt zu beherrschen, und dank der auch zeitlich grö~Jeren Überschau fähig ist, weiter ausholende Aktionen durchzuführen. Dieser Vorgang hat zugleich aber eine zweite Seite, die nicht minder entscheidend ist. Damit, dafi die Umwelt psychische Existeoz gewinnt, wird sie ein Teil der Seele des Kindes. Von dem psychischen Ganzen, das dieses Kind ausmacht, bildet das 'Ich' des Kindes dann nur einen Teil neben den Freunden des Kindes, seinen Spielsachen u.a.m. Der eigene Körper wird damit psychologisch zu einem Teil eines viel umfassenderen Umweltbereiches. Ieik VeriJnderung in tkr psychisch existenten Umwelt tks Kintks ist daher ein unmittelborer Eingriff in die seelische Substonz tks Kintks und damit in die spezifische Gleichgewichts- oder Ungleichgewichtslage, in der das psychische Ganze, das das Kind psychologisch darstellt, sich momentan befindet. Nicht nur soziologisch, sondern auch individualpsychologisch ist also das körperliche Kind nur als ein unselbständiger Teil eines umfassenderen Bereiches anzusehen, von dessen Gesamtkonstellation und Verinderungen das momentane psychische Geschehen und damit auch das Ausdrucksgeschehen abhängt" (Lewin, 1927b, KLW Band 6, S. 82f, Hervorhebungen im Original). Ich mufi mir versagen, weitere Belege beizubringen. Lewin war also vielleicht schon in den 20er Jahren ein ökologischer Entwicldungspsychologe. Er hat seinen Standpunkt nur nicht mit harter Konsequenz vertreten. Das ist nicht verwunderlich; denn was hätte die Fachwelt mit einem Psychologen anfangen sollen, der behauptet, die Seele sei zum Teil auch aufierhalb des Kindes?
Ober die entwiclclungs- und sozialpsychologische zur iJiwpsycho/ogischen Betrachtungsweise (Lewin, 1939, 1943-1947, 1947) Es dringt sich demnach auf, die verschiedenen Fragestellungen, die Lewin in seinen amerikanischen Jahren in Angriff genommen hat, auf ihren Ort im vorgeschlagenen Deutungsentwurf zu untersuchen. Um "die Psychologie dem Status einer logisch begründeten Wissenschaft" (Lewin, 1936/1969, S. 10) anzunähern, sei es nötig, der Logik "nicht nur des Zeitbegriffs, sondern auch des Raumbegriffs" (ebenda, S. 9) nachzugehen. Die Frage nach der Zeit in der Psychologie steht am Ursprung des Genesereihenpostulats. Damit ist die Zeit aber erst methodologisch, noch nicht inhaltlich in die Psychologie eingeführt. Mikropsychologisch kann sie in den aktuellen Austauschprozessen zwischen Individuum und Umwelt, mabopsychologisch in den längerfristigen Entwicldungen beider angegangen werden. Lewin ist aus methodologischer Logik zu dem Entwicldungspsychologen geworden, der er in den Berliner Jahren schon war, und nicht erst durch die Berufung an die /owa Child Welfare Stotion.
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Lewin betonte wiederholt die zeitlose Gegenwart des Lebensraumkonstrukts; freilich vor allem, um umso schärfer Reihen von Lebensraum-Zuständen in ihrer Abfolge denken zu können. Verhalten und Entwicklung müsse aus einer Gesamtheit der zugleich gegebenen Tatsachen abgeleitet werden (l..ewin, 1943, KLW Bd. 4, S.13Sft). Doch formalisierte er die Entwicklungsreihen nicht so gründlich wie die Lebensraum-K.onstellationen und ihre aktuellen Veränderungsschritte. Tatsichlieh sind die Reihen von Lebensraum-ZustAnden (methodologisch die Abfolgen von "Geschehensdifferentlalen") reflexive Konstrukte des ForscheiS. Sie müssen aber als konstitutiv für die Entwicklung des Individuums vorausgesetzt werden, obwohl die hinzukommenden und die hinauswirkenden Einfluflströme nur rudimentär fa~bar sind. Dem Individuum selbst hingegen sind sie auch nur partiell und erneut bio~ reflexiv, auf der lrrealitits-Ebene, also in einem Sekundir-Feld, gegeben. Das Individuum kann seine bisherige Entwicklung, auch mögliche klinftige Entwicklungen oder gar solche "vergangene•, die auch bitten möglich sein können, aber nicht wirklich geworden sind, erlebnismi~ig, im Traum usf. reflektieren; aber es ist bis heute weit offen, ob und wie solche Reflexionen in die Genesereihen zurlickwirken. Der FoiScher anderseits kann ohne weiteres ein Individuum eine Zeitlang bei den Begegnungen mit seiner Umwelt begleiten; jede Begegnung zwischen Individuum und seiner Umwelt mü~ da einem Zeitschnitt entsprechen und als aktueller Lebensraum dargestellt werden. Die Feinheit der zeitlichen Auflösung des Geschehens ist primär Sache des Forsc;:heiS; doch bietet der Begegnungsverlauf"natürliche" Segmentierungen gewisserma~n an. Es wird bei dieser Betrachtung sofort einsichtig, da~ ein daraus abgeleitetes Konstrukt nicht nur einen zeitlichen, sondern, insofern verschiedenartige Begegnungen der Individualgenesereihe mit Umgebungsreihen stattfinden können, auch einen räumlichen oder, besser noch, einen ökologischen Charakter bekommt. Auch diese Idee war bereits 1912 vorgezeichnet, wenn Lewin feststellt, da~ Entwicklung von einfacher Veränderung dadurch unterschieden werden kann, da~ die biologische Reihe im Unterschied zu "der physischen Veränderung charakterisiert [1St] durch einen Zweck-, Ziel- oder Aufgabenbegriff, in bemg auf welchen ldentitit der Wandlung besteht, während in der (physischen) Veränderung lediglich die bio~ zeitliche Aufeinanderfolge der Identitit grundlegend ist" (KLW Bd. 1, S. lOSt). Unabhängig davon, ob man "die biologischen Abhängigkeiten letztlich auf physische Abhängigkeiten zurückführen" wolle oder nicht, seien "die Objekte der Biologie nicht au~erhalb des physischen Erhaltungsgesetzes• zu stellen, "während physische Objekte sehr wohl au~rhalb des biologischen Entwicklungsgesetzes stehen können" (ebenda S. 106). Das Räumliche gewinnt in Lewins Psychologie mithin ebenfalls früh eine entscheidende Bedeutung, und dies nicht nur repräsentativ in der räumlichen D81Stellungsweise des Lebensraums und der ihn bestimmenden Dynamik in der topologischen und Vektorpsychologie, sondern auch empirisch, weil räumliches Verhalten (z.B. das Umwegproblem, vgl. 62
Psychologische Gertuereihen
dazu auch KLW Bd. 4, 8.99-131) in der Feldtheorie am leichtesten handhabbar ist (vgl. Lewin, 1917). Eine markante konzeptuelle Erweiterung gewinnt Lewins räumliches Denken Ende der 30er Jahre mit der Aufnahme von sozialpsychologischen Themen. Im Anschlu~ an die berühmt gewordenen Untersuchungen zum Führungsstil in Jugendlichen-Gruppen entwickelt Lewin ein feldtheoretisches Verstiindnis der Adoleszenz (1939, KLW Bd. 4, 193ft). Er konzeptualisiert Adoleszenz als eine soziale Lokomotion, einen Wechsel der Zugehörigkeit von der Gruppe der Kinder in die Gruppe der Erwachsenen. Ein solcher Lagewechsel, der "beispielsweise in der Politik als fait accompli sehr gefürchtet" werde, ändere aber "nicht nur die augenblickliche Umgebung einer Person, sondern mehr oder weniger die gesamten Verhiiltnisse" (ebenda). Lewin stellt diesen Obergang und Verhältniswechsel in verschiedenen Facetten ausfiihrlich dar. Das Wechselspiel zwischen den durch die Zugehörigkeit zur Kindergruppe wirkenden Kräften im Lebensraum und denjenigen, die durch die Angebote und Aufforderungen der Erwachsenengruppe entstehen, ruft nach einer übergeordneteneo Betrachtungsweise, für die Lewin später den Begriff des sozialen Feldes einfühn. Bereits in The Background ofConflict in Marriage (1940) entdeckt Lewin, da~ die Sozialpsychologie mit einem innerpsychischen Begründungskonstrukt allein nicht auskommt. Auf einer ersten Ebene seien die individuellen Lebensräume der Gruppenmitglieder zu analysieren; auf einer zweiten die Repräsentationen der Lebensräume der je andem im je eigenen Lebensraum; auf einer dritten sei ein Übergang nötig zur Formulierung eines überindividuellen Feld-Konstrukts aus der Sicht des Forschers. Aus der Analyse der je eigenen und der je vom andem induzierten Lebensräume von Ehemann und Ehefrau lassen sich die jeweils nächsten Schritte der Interaktion verstehen. Um dem Schicksal der Ehe folgen zu können, bedarf es jedoch einer Betrachtung eines Ganzen, von dem die beiden Lebensräume und das weitere Umfeld seinerseits Teile darstellen. Denn in diesem Ganzen werden Kräfte zur Wirkung kommen, die in den Teilen selbst nicht existieren (vgl. auch KLW Bd. 4, S. 245ft). Und es wird auch sofort deutlich, da~ dieser konzeptuell-räumlichen Ausweitung des psychologischen Gegenstandes eine erweiterte psychologische Zeitlichkeit folgt: auch der soziale Wandel mu~ zum Bestandteil psychologischer Betrachtung werden (Lewin, 1947, vgl. KLW Bd. 4, S. 249ft). Obwohl erst im Todesjahr 1947 im Zusammenhang publiziert, bestimmt die damit gewonnene Begriffiichkeit zweifellos das Denken der "Gruppendynamiker" seit den frühen 40er Jahren (Lewin, 1947). Da~ Lew in hier die wissenschaftstheoretischen Einsichten seiner frühen Jahre verkürzt und .wie nebenbei einfJie~n lä~t, kann leicht übersehen werden: "Entwicklungsstand der Wissenschaften", "Das Problem der Existenz", "Die Wirklichkeit sozialer Phänomene" und andere Überschriften machen die Kontinuität seines Denkens zumindest dem Kenner sehr deutlich. Lewin vermeidet sorgfältig, die beiden Ebenen der Analyse, das individuelle und das soziale Feld, gegeneinander auszuspielen. Methodisch schlägt er einen "Dreischritt" vor: von der Rekonstruktion der individuellen Lebensräume
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aller Gruppenmitglieder müsse zum gemeinsamen sozialen Feld fortgeschritten werden und von dort wieder zurück zu den Auswirkungen in den Lebensräumen der Individuen, weil es darauf ankomme, wie die soziale Situation von den Beteiligten •gesehen• wird. Analoges gilt für die Untersuchung von Interaktionen zwischen Gruppen (KLW Bd. 4, S. 247t). Was für Mittel hat der Psychologe, diese physischen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen zu analysieren, die im sozialen Feld eine der psychologischen Umwelt im individuellen Lebensraum analoge Rolle einnehmen? Lewin stellt fest, da~ solche Analysemittel fehlen und entwirft eine Disziplin, die psychologische Ökologie, um diese riesige Aufgabe in Angriff zu nehmen (1943-47). Er stellt fest, da~ Veränderungen von wichtigen Verhaltensweisen im Gruppenleben, die durch Ma~nahmen wie Information, Anreize, Verbote und andere Führungsinstrumente erzielt werden - das Spektrum seiner Untersuchungsbeispiele reicht von der Produktion eines Unternehmens über Kauf und Verkauf von Kriegsanleihen oder den Weif'-/Schwarzbrotkonsum-Quotienten bis in den pädagogischen oder psychotherapeutischen Bereich -, nicht selten nur kurzlebig sind. Nach kurzem "Strohfeuer" kehre das Niveau solcher Flief'gleichgewichts-Variablen wieder auf den vorherigen Stand zurück. Es ist allgemein bekannt, da~ Lewin zur Steuerung und Sicherung der Gewohnheitslinderungen das Verfahren der Gruppenentscheidung entwickelt und perfektioniert hat, das bis heute in der angewandten Sozialpsychologie einen prominenten Rang einnimmt. Dabei handelt es sich zunächst um Veränderungsprozesse in individuellen Lebensriumen, die aber durch Krll.fte aus dem sozialen Feld induziert werden. Weniger bekannt ist der Vorschlag, auf dem Weg über koordiniertes Individualverhalten auch überdauernde Verin· derungen im sozialen Feld selbst, einschlief'lich der nichtpsychologischen Tatsachen, zu erreichen. Seine Theorie der "Kanalisierung sozialer Prozesse" verweist auf Umstrukturierungen der kulturellen Gegebenheiten (1943-47, KLW Bd. 4, S. 293ft) und verweist damit über die psychologische Ökologie hinaus auf eine ökologische Psychologie. Will man zum Beispiel verstehen, warum die Leute essen, was sie essen, so mu~ man zeigen, wie die psychologischen und die nicht-psychologischen Tatsachen einen Zusammenhang bilden, der in Form von "Kanälen" und ihrer "Pförtner" dargestellt werden kann, über welche beide das Essen auf den Tisch kommt. Das ist offensichtlich weder bio~ psychologisch noch bio~ nicht-psychologisch (ökonomisch, soziologisch, technisch usf.) zu verstehen. Der Konsequenz seiner Leitidee folgend, die Bedingungen irgendeiner Erschei· nung in ihrer Genese zu suchen, hat Lewin mithin die Grenzen der Psychologie gesprengt und ist über eine sozialpsychologische Stufe zur Idee einer Wissenschaft des ökologischen Systems vorgestossen.
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Lewins grosse Herausforderllllg der Psychologie Es bleibt, daran zu erinnern, dali Lewins Psychologie hier nur punktuell unter der Heuristik der psychologischen Genesereihen untersucht worden ist. Ich glaube beanspruchen zu dürfen, dati diese Betrachtungsweise die Rezeption mancher Einzelheit vertieft und den Zusammenhang in Lewins Gesamtgestalt erhöht. Marrow (1969, S. 235) zitiert einen persönlichen Bericht von Donald Adams, der Lewin in seinem letzten Lebensjahr gefragt hat, wann er die vergleichende Wissenschaftslehre wieder aufzunehmen gedenke. Lewin habe sehr ernst geantwortet: "Ich muii das tun. Was wir jetzt hier erforschen, wird man in fünf oder zehn Jahren sowieso herausfinden; diese andere Sache aber vielleicht erst in 50 Jahren." Lewins Einfluti aufviele Bereiche der Psychologie ist unbestritten. Ist seine Anregung und Herausforderung, auch jüngere Wissenschaften, insbesondere aber die Psychologie, auf der Basis von explizierten Genesereihen zu betreiben, nicht mindestens so bedeutsam? Wann und wie werden wir sie erfüllen können?
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Kurt Lewin als Methodologe und Methodiker- Marginalien über Bleibendes und Ver~gliches aus einem grossen Lebenswerk Lothar Sprung und Uwe LinU Lewin als Methodologe und Methodilrer- Was soll's? "Sonntagsreden" und •Alltagspraxis" sind nicht selten zweierlei. Filr die Wissenschaft gilt es dabei zu bedenken: "Filr den Typus der Begriffsbildung in einer bestimmten Wisssenschaft ist es nicht entscheidend, was der Forscher sozusagen privatim, als Philosoph, filr Meinungen verficht, sondern welche Thesen in den tatsächlich zur Anwendung kommenden Methoden der Forschungsarbeit implizit enthalten sind" (Lewin, 1981, S. 281). Blickt man mit den Augen eines heutigen Methodologen und Methodikers, auf Lewins wissenschaftliches OEuvre (Sprung & Sprung, 1984; Kriz, Lück & Heidebrink, 1990), dann stellt man eine erstaunliche Kongruenz zwischen "Wissenschaftstheorie" und seiner "Wissenschaftspraxis" fest. Dies dilrfte bei einem Manne wie Lewin auch nicht verwundern, hatte er doch faiih konstatiert: "Auch die Wissenschaftslehre wird, sofern sie als 'empirisch', nichtspekulative Wissenschaft auftreten will, gut daran tun, sich mehr an den in der tatsichliehen Forschungspraxis der Einzelwissenschaften implizit enthaltenen philosophischen Thesen zu orientieren, als an ihrer philosophischen 'Ideologie'" (Lewin, 1981a, S. 234). Dies kongruente Verstindnis gilt auch filr das Verhältnis von "Theorie" und "Praxis". Bekannt ist seine Maxime, wonach es nichts Praktischeres gibt, als eine gute Theorie. In einer seiner zahlreichen Formulierungen liest es sich so: "Es ist hier kein aus konkreten Gegebenheiten Abstrahiertes gemeint, sondern eine Theorie, die die Realitit der einzelnen Fälle direkt berilhrt" (Lewin, 1987, S. 442). Deutlich wird dies bereits in seiner Berliner Periode. Bereits in dieser Zeit hatte er festgestellt: "In der sowohl beim Theoretisieren wie Experimentieren gleichermajkn allgegenwärtigen dynamischen Spannung zwischen dem Streben nach umfassenden theoretischen Ansitzen und dem Ergreifenwollen der konkreten Ereignisse mit all ihren Wichtigkelten und Nichtigkeiten sehe ich das Grundphinomen des wisse~haftlichen Lebens, zumindest des experimentellen Forschers" (Lewin, 1926, S.8). Sicher hat es im Laufe seines Lebens Wandlungen gegeben. Sie im einzelnen zu verfolgen, würde aber ein eigenes Thema bilden. Wir wollen heute zwei Fragen nachgehen: 1. Welche methodentheoretischen Invarianten bestimmten Lewins Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis? 2. Was ist - mit Blick auf die heutige "Methodenlehre" - aus ihnen geworden?
Lothllr Sprung & Uwe LinM
zu diesem Zweck haben wir seine wissenschaftstheoretischen Arbeiten auf der einen und seine empirischen Arbeiten, sowie die seiner Schüler, auf der anderen Seite durchgemustert und sie mittelbar einzuordnen versucht in die Geschichte der psychologi' sehen Methodenlehre (Sprung & Sprung, 1983, 1990, 1991; Unke, 1988). In diesem Sinne sind unsere Bemerkungen auch als Marginalien zu "Bleibendem und Vergänglichem" in einem gro~n Lebenswerk zu verstehen. Blickt man vom Ende des Lewinsehen Lebenswerkes her auf sein Gesamtwerk, so llij3t sich feststellen, daj3 viele Vorstellungen seines Wissenschaftsverstlindnisses früh ange. legt worden sind. So sind beispielsweise nach Graumann (1982, S. 16) wesentliche Teile seiner Feldtheorie bereits 1920 entwickelt. Für die Wissenschaftstheorie ist besonders der frühe und nachhaltige Einfluj3 seines Lehrers Ernst Cassirer wesentlich gewesen. Nicht umsonst weist Lewin noch am Ende seines Lebens auf dessen prägenden Einfluj3 hin (Lewin.1981b). Dabei scheint Cassirers Werk "Substanzbegriffund Funktionsbegriff' aus dem Jahre 1910 von besonderem Einfluj3 auf den jungen Lewin gewesen zu sein. Eine Schlüsselarbeit für Lewins wissenschaftstheoretisches Denken auf der einen Seite und sein empirisch - psychologisches Wissenschaftsverständnis auf der anderen Seite, stellt eine frühe kleine Schrift dar, die er als Kriegsfreiwilliger des I. Weltkrieges schrieb. Sie erschien 1917 mit dem Titel "Kriegslandschaft" unter der Rubrik "Mitteilungen" in der "Zeitschrift für angewandte Psychologie" und umfaj3te acht Seiten. In dieser phänomenologischen Studie tauchen in impliziter oder expliziter Form Vorstellungen auf, die sein Lebenswerk bestimmen sollten. Sie sind später unter Begriffen wie "Feldtheorie", "Topologische Psychologie", "Handlungs- und Affektpsychologie", "Wille", "Vornahme", "Dynamische Psychologie", usw. in die Geschichte eingegangen.ln der "Kriegslandschaft" sind- gleichsam in stotu fUIScendi befindlich - sowohl methodologisch-methodische Reflexionen auf der einen als auch lebensnahe psychologische Forschungen auf der anderen Seite, thematisch vereint. Später sollte sich Lew in häufiger getrennt und systematisch zu beiden Arbeitsgebieten
I
liu~m.
Verlassen wir nun die wenigen Bemerkungen zur Genese seiner methodentheoretischen Vorstellungen und fragen wir direkt nach den Invarianten seiner Methodologie und Methodik. Unter diesem Blickwinkel betrachtet llij3t sich wiederum eine allgemeine Feststellung treffen: Lewins Methodenbegriff ist weit und kommt dem heutigen Methodenbegriff in seiner vierfachen Verwendung nahe. Keinesfalls sehrlinkt er ihn jedoch auf einen Methodenbegriff ein, so z.B. auf den des Forschungsexperiments. Allerdings neigt er dazu - wie viele seiner Zeitgenossen - alle Methoden, zumindest alle Untersuchungsmethoden, als "Experimente" zu bezeichnen (vgl. z.B. Lewin, 1982, 1983). Wenn auch die begrifflichen Unterscheidungen in der Methodentheorie seiner Zeit, noch nicht so weit fortgebildet waren, so wird doch deutlich, daj3 Lewin den Methodenbegriff bereits in der vierfachen Bedeutung verwandte, wie er heute in der methodischen Uteratur gebräuchlich ist. Es ist dies die Unterscheidung der Methoden in: 70
Kurt Lewin als Methodolop und Medtotliklr
1. Methoden als Forschungsmethoden, d.h. als Verfahren zur Generierung neuen Wissens. 2. Methoden als Diagnosemethoden, d.h. als Suchmethoden von bekanntem Wissen in unbekannten Suchräumen. 3. Methoden als lnterventionsmethoden, d.h. als Verfahren der gezielten Veränderungen bestehender Zustände und nach Möglichkeit auch deren Bedingungen. 4. Methoden als EvalUIJtionsmethoden, d.h. als Verfahren des normativen Vergleichs und der Bewertung.
Lewins methodologische und methodische Prinzipien . Wie sah nun Lewins methodologisch-methodische Konzeption im einzelnen aus? Was war für Lewins wissenschaftstheoretisches Verständnis und die daraus resultierende Praxis charakteristisch? Um den Umfang dieses Beitrags knapp zu halten, wollen wir unsere Ergebnisse in thesenharter Form in nenn Prinzipien zusammenfassen und anschlief'end jeweils kurz danach fragen, was aus ihnen innerhalb der heutigen Methodenlehre geworden ist.
Das Prinzip des biotischen Versuchs. Es besagt, dafl ein Versuch "lebensnah" gestaltet werden mufl (Lewin, 1981a, S. 252). Das bedeutet, dafl sich ein psychologischer Versuch nicht primär am Modell der isolierenden Einzelbedingungsvariation des klassischen naturwissenschaftlichen Laborexperiments orientieren soll. Vorbild ist vielmehr eine komplexe, dem Feldversuch verwandte Bedingungsvariation. Sie wird vor allem durch die Variation der Untersuchungssituation realisiert. Nach Lewin sind Laborversuche oftmals unnatürlich und damit lebensfern gestaltet (Lewin, 1928). Das bedeutet aber nicht, dafl im Experiment die natürliche Welt noch einmal neu geschaffen werden mufl. Die experimentelle Situation mufl jedoch dem Geschehenstyp der Realsituation entsprechend gewählt werden (Lewin, 1929, s. 301). Biotische Experimente müssen eine phänomenerzeugende Bedingungsvariation der unabhängigen Variablen realisieren. Sie müssen die Phänomene als abhängige Variablen aus ihren verursachenden Bedingungen heraus erzeugen und damit erklären. Mit den Worten Lewins gesagt liest es sich dann beispielsweise so: "Bedingungskonstellationen sind im allgemeinen nur dann mit einer für Gesetzesfeststellungen hinreichenden Sicherheit zu durchschauen, wenn sie vom Experimentator willkürlich gesetzt sind" (Lewin 1929, S. 28). Als Beispiele sei auf die Arbeiten seiner Doktorandinnen Tamara Dembo (1931) über den "Ärger als dynamisches Problem" oder von Gita Birenbaum (1930) über das "Vergessen einer Vorannahme" verwiesen.
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L«hllr Sprung&: Uwe LinU
Offenbar ist auch Lewins frühe Vorliebe für Filmaufnahmen und ihr Einsatz in der Psychologie in diesen methodologischen Kontext mit einzuordnen, weil sie den Bedingungen eines biotischen Versuches sehr nahe kommen können (Lewin, 1926a; vgl. auch Lück, 1985, 1987, 1989a, 1990). AufVorstellungen vom "biotischen Versuch" bzw."biotischen Experiment", sollten später Konzeptionen aufbauen, die z.B. unter Begriffen wie "Quasiexperiment" oder "PräExperiment" bekannt geworden sind. Als Beispiel sei auf die Arbeiten von Campbell & Stanley (1966) sowie Campbell (1968, 1971) verwiesen. Sprung & Sprung {1984, 1989) haben später diesen Ansatz zu generalisieren versucht und ihn zu einer humanwissenschaftliehen Methodentaxonomie, der "Methodenhierarchie", hin entwickelt. Das Prinzip des Geschehenstyps. Es besagt, da~ eine Untersuchungssituation prototypisch für eine Klasse natürlicher Lebenssituationen sein mu~. "Für die Charalaerisierung eines konditional-genetischen Geschehenstypus bestehen im wesentlichen zwei Möglichkeiten: Man kann 1. den Typus entweder durch Angabe einer Reihe aufeinander folgender Phasen und der Art der Abhängigkeit dieser Phasen voneinander schildern oder 2. durch Angabe darüber, wie die verschiedenen wesentlichen Eigenschaften des Geschehens miteinander zusammenhängen" (Lewin, 1981, S. 304-305). Und an anderer Stelle führt er dazu aus: "Hält man sich gegenwärtig, da~ die Gleichheit des Geschehenstypus die Voraussetzung für die Gleichheit der Ergebnisse einer Reihe von Experimenten ist, so wird auch der scheinbar paradoxe Umstand verständlich, warum man, wie sich in der Psychologie immer wieder herausstellt, nicht bei möglichst 'einfachen' äu~ren Bedingungen, sondern gerade im Falle komplizierterer äu~rer Bedingungen konstante Ergebnisse erwarten darf" (Lewin, 1981, S. 114). In diesem Sinne mu~ eine Untersuchungssituation, soll sie dem gleichen "Geschehenstypus" der entsprechenden Realsituationen entsprechen, struktur- und proze~gleich zu dieser Klasse natürlicher Situationen sein. In diesem Fall mu~ die Auswahl oder die Gestaltung einer Untersuchungssituation ganzheitlichen Modellcharakter für die damit abgedeckten Alltagssituationen besitzen. In der Sprache Lewins liest es sich dann beispielsweise so: "... bei allen Problemen des höheren Seelenlebens lä~t sich nicht ein einziger experimenteller Schritt vorwärts tun, ohne da~ man diese Abhängigkeit des Einzelgeschehens aus dem speziellen Gesamtgeschehen, in das es ~ingeht, von Grund auf berücksichtigt" (Lewin, 1981, S. 286). Das Untersuchungsgeschehen :entspricht dann einem Geschehenstyp, wenn es das zu untersuchende Phänomen in seinem natürlichen Zusammenhang auftreten lä~t und es damit lebensnah untersuchbar macht.
"Nicht der Umstand, ob zeitlich ein gewisser anderer Akt vorausgegangen ist oder nicht, sondern der Charakter des Handlungsgeschehens selbst wird man bei der Zuordnung des Geschehens zu einem bestimmten Typus in den Vordergrund zu stellen haben", heiflt es -
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Kurt Lewin als Mellwdologe und Mfthodiker
von ihm selbst hervorgehoben- in einer seiner bedeutenden frühen Schriften (Lewin, 1926,
s. 83). Als Beispiel sei auf die Untersuchungen seines Doktoranden Georg Schwarz (1927, 1933) über die "Rückfälligkeit bei Umgewöhnung" verwiesen. Auch hier kam ihm wiederum das Mittel des Films sehr entgegen: "Die Möglichkeiten des Filmstreifens, einen Geschehensablauf festzuhalten, macht ihn zu einem verlokkenden Hilfsmittel für die wissenschaftliche Erforschung und Demonstration auf allen Gebieten, wo charakteristische Eigentümlichkeiten nicht im einzelnen, momentanen Zustand, sondern erst im ganzen Geschehensablaufs zutage treten" (Lewin, 1926a, S. 414). Auf Vorstellungen vom "Gesch~henstyps" sollten später Konzeptionen aufbauen, die z.B. unter Begriffen wie "externe Validierung", "repräsentative Versuchsplanung" oder "ökologische Validierung" bekannt geworden sind. Als Beispiel sei wiederum auf Campbell & Stanley (1966) aber auch auf Brunswik (1947, 1952, 1956) verwiesen. Wir haben später versucht, einige dieser Vorstellungen im Rahmen unserer "Methodentheorie" humanwissenschaftlicher Forschungs- und Diagnosemethoden", dem sogenannten" Kommunikationstheoretischen Grundansatz" zu integrieren und weiter zu entwickeln (Sprung & Sprung, 1984, 1990; Sprung, Sprung & Müller, 1991). Das Prinzip der Mathematisierung. Es besagt, dafl zur Experimentalpsychologie als Kom-
plementierung eine Theoretische Psychologie gehören mufl, die sich der Mathematik bedient. Das bedeutet, daf' die Beschreibung, Analyse und Modeliierung psychischen Geschehens mit mathematischen Mitteln vorgenommen werden sollte, wo immer das vom Entwicklungsstand her möglich ist (Lewin, 1934, 1969). Die Mathematisierung ist notwendig, weil die mathematische Beschreibung, Analyse und Modellierung, eine tiefere Erkenntnis in Form von Gesetzesformulierungen, Prognosen und Erklärungen gestattet. "Eine derwichtigsten wissenschaftlichen Methoden, die die allgemeinen Theorien von konkreten Einzelfällen direkt faflt, ist die richtig angewandte Mathematik" (Lewin, 1987, S. 442). · Zur Statistik hatte Lewin offenbar ein ambivalentes Verhältnis, indem er sie einerseits aus seiner wissenschaftstheoretischen Sicht heraus kritisch behandelte (Lew in, 1981c), sie andererseits aber- zumindest in elementarer Form - in seinen empirischen Arbeiten berücksichtigte, so beispielsweise wenn er Häufigkeitsauswenungen vornahm und diese Ergebnisse untereinander quantitativ verglich. Offenbar stand er dem probabilistischen Denken fern und hielt es hier wie sein grof'er Zeitgenosse Alben Einstein, der sich auch schwer vorstellen konnte, dafl "der liebe Gott würfelt". In bezugauf seine allgemeinen Vorstellungen einer "Mathematisierung" der Psychologie, hat Lew in Recht behalten. Es fand seit seiner Zeit und es findet heute beschleunigt ein allgemeiner Trend der Mathematisierung von Teilen der Psychologie statt. Am deutliebsten sichtbar innerhalb der Methodik der quantitativen Datenanalyse (Gutjahr, 1971; Uenen, 1973; Rudinger, Chaselon, Zimmermann & Hennig, 1979; Sydow & Petzold, 1981; Borg, 1981, um nur einige willkürlich ausgewählte Beispiele zu nennen). Gegenständ-
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lieh betrachtet erinnern wir beispielhaft an die immer umfangreicher und leistungsfähiger werdenden Gebiete der Deskriptionsstatistik, der lnferenzstatistik, der Testtheorie, der Falttorenanalyse, der Clusteranalyse, an die Methoden der Computermodeliierung und Computersimulation usw. In seinen speziellen Erwartungen in bezug auf eine mathematische Psychologie •topologischer" Art haben sich Lewins Hoffnungen jedoch bisher nicht in dem Mafle erflillt, wie er es erhofft hatte. Das Prinzip tkr DytuJmik. Es besagt, daf3 der eigentliche Zugang zur Aufklärung und Erklä-
rung psychischen Geschehens von der Seite seiner dynamischen Grundlagen her erfolgen • ••• damit also ein Proze~ stattfindet, mu~ arbeitsfähige Energie freigesetzt werden. Man wird also bei jedem seelischen Geschehen zu fragen haben, wo die verursachenden Energien herstammen" (Lewin 1929, S. 312}. Danach stellt die primäre Aufklärung der dynamischen Grundlagen psychischer Erscheinungen den basisbildenden Zugang zur Erklärung aller psychischen Erscheinungen dar. Mit anderen Worten: die Untersuchungsparadigmen müssen so entwickelt oder ausgewählt werden, da~ sie in der Lage sind, die jeweils vorliegenden Emotionen, Affekte, Bedürfnisse, Quasibedürfnisse, Motivationen, usw ., d.h. die antriebsmii~igen Grundlagen eil}es psychischen Geschehens zu erfassen. Negativ ausgedrückt, sie diirfen sich nicht auf die Erfassung und Analyse der strukturellen Seiten des Untersuchungsgegenstandes beschränken oder gar nur erkenntnismä~ige psychische Werkzeugfunktionen zum Gegenstand machen. Immer wieder beschäftigte sich Lewin mit der methodologisch-methodischen Umsetzung seiner diesbezOgliehen Vorstellungen. Zwei Beispiele möge das Gemeinte illustrieren. Auf dem Marburger Psychologenkongre~ im April 1921 denkt er paradigmatisch laut: mu~.
"Die Durchführung beruht auf folgendem Gedanken: Li~t man ein an und für sich wenig intensives Gefiihl nicht zur Entwicklung kommen, z.B. durch eine intensive Beschäftigung der Vp mit einer aufgegebenen Tätigkeit, so bringen weitere, an und für sich ebenfalls nicht besonders starke Gefühlsreize ihnlieber Art unter Umständen eine beträchtliche Steigerung des Gefühls mit sich und können zu lebhaften Affekten führen• (Lewin, 1922, 8.146). Einige Jahre später, 1926, lesen wir: Die "Aufgaben werden bei der Untersuchung der Triebhaftigkeit also allenfalls den Zweck haben, die Vp in jene aufgabenfreie Situation hineinführen, auf deren Beobachtung es ankommt. • Und weiter tührt er aus:
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Kurt Lewin als Methodologe IUid MethodiJr;er
"Beim affektiven Geschehen gilt es hier ... nicht, eine bestimmte Form des Ausdrucks zu studieren, sondern es kommt darauf an, das von der Norm abweichende in der Art des Auf- und Ausbaus der affektiven Spannungen selbst zu zeigen. Experimentelltechnisch lä~t sich diese Aufgabe in der Regel nicht durch eine einzelne Aktion bewältigen, sondern nur durch eine geeignete Aufeinanderfolge einer Reihe von Situationen derart, da~ der eigentlichen entscheidenden Situation eine genügend experimentell geformte Vorgeschichte vorausgeschickt wird, auf der sich die Spannungen der Hauptsituation aufbauen können" (Lewin 1926a, S. 421). Gerade auf diesem Gebiet der "dynamischen Grundlagen" offenbart sich sein in Teilen "quasi-physikalistisches" wissenschaftstheoretisches Konzept besonders deutlich. In diesem Zusammenhange drückt er es auch besonders deutlich aus, wo die Experimentalpsychologie besonders lernen kann. In seiner Sprache liest sich das dann so: "In der modernen Physik ... beruht das Auftreten der physikalischen Vektoren allemal auf einem Zueinander mehrerer physikalischer Fakten, insbesondere auf einer Beziehung des Gegenstandes zur Umgebung" (Lewin, 1981a, S. 259). Dem Vorwurf des "Physikalismus" in den Begriffswahlen wie beispielsweise bei denen der "Energie", "Kraft", "Spannung" oder "System" weist er mit dem Hinweis zurück: "Jedenfalls sind diese Begriffe m.E allgemein-logische Grundbegriffe der Dynamik". Und er fügt hinzu: "Sie sind keinesfalls ein Spezifikum der Physik, sondern zeigen sich, wenn auch bisher weniger präzis entwickelt, z.B. in der Ökonomik, ohne da~ man deshalb etwa annehmen mü~te, da~ sich die Ökonomik irgendwie auf die Physik zurückführen Jie~" (Lewin, 1926, S. 23-24). Das "Dynamische Prinzip" ist ein besonders charakteristisches Prinzip seiner Psychologie, das sich praktisch durch alle seine Arbeiten zieht und immer wieder Gegenstand wissenschaftstheoretischer Erörterungen bildet (Lewin, 1926, 1929, 1981a). Insbesondere dies Prinzip rückt ihn in die Nähe psychoanalytischen Denkens, worauf bereits mehrfach verwiesen wurde (Marrow, 1977; Lück & Rechtien, 1989). Wenn auch die Erforschung der motivationalen und der affektiv-emotionalen Prozesse, im Gegensatz zu den kognitiven Prozessen, in der Folgezeit innerhalb der Experimentalpsychologie nicht in dem Umfange 'genommen hat, wie sich Lewin das wahrscheinlich gewünscht hat, so ist doch die Prämisse vom prozessualen und dynamischen Cbarakter psychischer Erscheinungen, ein allgemeines Kennzeichen der Experimentalpsychologie geworden. Allerdings hat die oft geforderte "emotionale Wende" - nach der vor einigen Jahrzehnten erfolgten "kognitiven Wende" innerhalb der experimentellen Allgemeinen Psychologie noch nicht in dem Ma~ stattgefunden, d~ sie einem Mann wie Lewin auch nur annähernd befriedigen könnte (Scherer, 1981, s. 304).
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Das Prinzip der PhiJnomenologie. Es besagt, da~ die Phänomene und nicht die physikalischen Reizbedingungen ihrer Entstehung oder die gesellschaftlich-objektiven Faktoren den methodischen Ausgangspunkt einer psychologischen Untersuchungsplanung und Untersuchungsrealisierung bilden müssen. Das bedeutet, da~ die methodische Variablenanalyse letzlieh eine methodische Phänomenanalyse des Individuums als Träger des phänomenalen Ereignisses sein mup. "Denn die 'objektiven' sozialen Faktoren haben genausowenig eine eindeutige psychologische Beziehung zum Individuum, wie objektive physische Faktoren" (Lewin, 1982, S. 176). Darauf aufbauend, mu~ eine experimentelle Untersuchung die Phänomene aus ihren Bedingungen heraus erklären. "Es ist ohne jeden wissenschaftlichen Wert, aufWesenheilen zurückzugehen, die nicht Teile dieses Feldes sind, was immer diese Wesenheilen sein mögen und gleich, ob man ihnen philosophische oder physiologische Namen gibt" (Lewin, 1982a, S. 102). Demgegenüber sind die physikalischen Reizbedingungen ihrer Entstehung bestenfalls ein sekundärer oder tertiärer Analysegegenstand. Diese Prämisse verband Lewin mit der Gestaltpsychologie, und innerhalb dieser vor allem mit Max Wertheimer, der dieses Prinzip in seiner paradigmatischen Analyse des sogenannten "Phi • Phänomens" vorgeführt hatte. Im Gegensatz zur Gestaltpsychologie verband Lewin die Phänomenologie aber nicht mit dem lsomorphieprinzip, wie es vor allem von Wolfgang Köhler vertreten wurde. Diesem Isomorphieprinzip gemä~ hätte Lewin bei seinen psychologischen Untersuchungen auch nach den korrespondierenden organismischen Grundlagen des psychischen Geschehens fragen müssen. "Den Begriff der Isomorphie ... auf die Beziehung zwischen den 'psychologh;chen' und den 'physiologischen' Systemen anzuwenden, wäre abwegig, da es sich auf '*r Ebene des Dynamischen ja gar nicht um eine prinzipielle Zweiheit, sondern um identische Systeme handelt" (Lewin, 1969a, S. 97). Das er dies nicht tat, hat ihm zuweilen den Vorwurf des "Phänomenologismus" eingetragen. Das Prinzip der Makroanalyse. Es besagt, da~ das gesamte relevante Geschehensganze den Gegenstand der bedingungsanalytischen empirischen Untersuchung bilden mup. Das bedeutet, da~ die Bedingungsanalyse und die psychologische Erklärung sich auf das gesamte Feld der UntersucAungssituation, auf die Handlung beziehen mu~ und nicht nur auf mikroanaly· tisch bestimmte Teile oder Bedingungen desselben. "Was eine Handlung ihrer psychologischen Existenz nach ist, hängt davon ab, in was für einer Geschehensganzheit die einzelne Handlung steht" (Lewin, 1982b, 103). Oder anders gesagt, nicht mikroanalytische Untersuchung von Teilleistungen sondern makroanalytische Analyse des Geschehensganzen ist die notwendige Untersuchungsstrategie. Um dies zu erreichen, müssen bevorzugt Paradigmen eingesetzt werden, die den entsprechenden psychologischen Alltagssituationen verwandt sind. "Hält man sich gegenwärtig, dap die Gleichheit des Geschehenstypus die Voraussetzung für die Gleichheit der Ergebnisse einer Reihe von Experimenten ist, so wird auch der hier scheinbar paradoxe Umstand verständlich, warum man, wie sich in der Psychologie immer mehr herausstellt, nicht bei möglichen 'einfachen' äu~ren Bedingungen, sondern 76
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gerade im Falle komplizierterer iuperer Bedingungen konstante Ergebnisse erwarten darf" (Lewin 1981, S. 314). In dieser Hinsicht folgt er mapgeblich seinem Lehrer Ernst Cassirer: "Was uns im Gebiet des Bewuf'tseins empirisch wahrhaft bekannt gegeben ist, sind niemals die Einzelbestandteile, die sich sodann zu veiSChieden beobachtbaren Wirkungen zusammensetzen, sondern es ist bereits eine vielfältig gegliederte und durch Relationen aller Art geordnete Mannigfaltigkeit, die sich lediglich kraft der Abstraktion in einzelne Teilbestände sondern lif't" (Cassirer, 1910, S. 459). Lewins Paradigmen betrafen dementsprechend markante psychologische Alltagsphänomene und waren ihnen strukturell nachgebildet. Als Beispiele sei an die "Psychische Sättigung" (Karsten, 1928), das "Vergessen einer Vornahme" (Birenbaum, 1930) oder an den "Ärger als dynamisches Problem" (Dembo, 1931) erinnert. In gegenwärtigen psychologischen Konzeptionen, wie sie beispielsweise in Vorstellungen zur "Handlungsregulation" oder in "Ökologischen Psychologien" vorliegen, finden wir Fortsetzungen Lewinseher makroanalytischer Forschungsstrategien. Dabei sei beispielsweise auf Arbeiten von Schönpflug (1979, 1984, 1985) und Hacker (1973) sowie von Bronfenbrenner (1977, 1979), Kaminski (1976, 1986) und Schmidt (1970, 1982) verwiesen.
Das Prinzip der Introspektion. Es besagt, dap die zusätzliche lnformationsquelle, die in der erlebnismipigen Reprisentation einer experimentellen Untersuchungssituation in einer Versuchsperson besteht, filr die Analyse des Phänomens, nicht vernachlässigt werden sollte. Das bedeutet, dap- wo immer es möglich ist- die Introspektion der Versuchsperson als Zusatzmethode eingesetzt werden soll. "Es ist eine besondere Eigentümlichkeit der Psychologie, daf' die zu Prüfungen oder Versuchszwecken benutzten 'Objekte', die Versuchspersonen (Vpn) in der Regel zugleich einen nicht unwesentlichen Teil der wissenschaftlichen Arbeit zu leisten haben. Sofern nämlich überhaupt eine Beschreibung der psychischen Vorginge beabsichtigt ist, sind es die Vpn selbst, die als Beobachter zugleich auch die eigentlichen Objekte der Untersuchung sind. Denn nur ihnen allein stehen die psychischen Objekte zur direkten Beobachtung zur Verfügung" (Lewin, 1981d, S. 153). Gegebenenfalls ist eine "Erziehung der Versuchsperson zur richtigen Selbstbeobachtung" vorzunehmen, wie sie Lewin beschrieben hat. Aus der Tatsache, daji nur den Versuchspersonen "die psychischen Objekte zur direkten Beobachtung zur Verfügung stehen" zieht er die Konsequenz:
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"Daraus folgt nun notwendig. da~} auch die Versuchspersonen eine gewisse Schulung durchmachen müssen, wie sie für jede wissenschaftliche Leistung nötig ist, eine Schulung, die umso intensiver sein mu~, je höher die Anforderungen an die Exaktheit und Ausführlichkeit der Selbstbeobachtung gestellt werden" (Lewin, 1981d, S. 153). Lewin fordert somit, da~ beide Zugriffsformen zum psychischen Geschehen, die "exterospektive" und die "introspektive", eingesetzt werden müssen, wo immer das möglich ist, um möglichst viele Informationen über das tatsichliebe Geschehen zu erhalten. Kurt K.offka hat dies einmal in die Worte gekleidet: "Jedes Verfahren, das zu einem psychologischen Satz oder Begriff führt, enthält an irgend einer Stelle Erlebnisse. Gleichviel, in welchem Gebiet der Psychologie ich Versuche anstelle, und mögen meine Methoden noch so objektiv sein, solange ich Psychologie treibe, kann ich der Erlebnisse nicht entraten" (K.offka, 1912, S. 1). In der Experimentalpsychologie sollte demgegenüber in der Zeit nach Lewins Tode eher die Auffassung von einer sogenannten Entbehrlichkeit der Introspektion als eigenständiger Methodik vorherrschend werden, wie es Werner Traxel (1985) gekennzeichnet hat. Leider hat diese Einstellung in der rezenten experimentellen Allgemeinen Psychologie dazu ge· führt, die Erlebnisanteile am psychischen Geschehen in vielen Experimenten überhaupt nicht mehr zu bedenken, zu erfassen und in der Interpretation der Befunde zu berücksichti· gen.
/ Das Prinzip der sozialen Untersuchungssillllltion. Es besagt, da~ das gesamte soziale Ver· hiltnis innerhalb einer Untersuchungssituation den Ausgangspunkt, das Mittel und das Ziel einer Untersuchungsplanung und Untersuchungsrealisierung bilden müssen. Das bedeutet, ~die Untersuchungssituation als Ganzes und nicht nurTeile derselben, wie beispielsweise die Eigenschaften der Versuchsperson, die Validität, Reliabilität und Konkordanz der Methodik zur Datengewinnung oder die computergestützten Techniken der Datenanalyse, die Untersuchungsergebnisse bestimmt. Mit anderen Worten, der Untersuchungsgegenstand konstituiert sich nicht nur aus den "objektiven", d.h. situationsinvarianten psychischen Phinorneneo der Versuchsperson. Den eigentlichen Untersuchungsgegenstand jeder psychologischen Untersuchung bilden daher die Wechselwirkungsresultate, die sich aus den Bedingungen der Untersuchungssituation als Ganzem ergeben.
"Dabei ist es wichtig, welche zentraleren Willensziele die Vp veranlassen, die lnstruk· tion des Versuchsleiters anzunehmen. Bittet etwa der Versuchsleiter die Vp um eine bestimmte Arbeit, weil er sie für andere Versuche brauche, so übernimmt die Vp eine solche Arbeit ja nicht als 'Vp' sondern als jemand, der dem Versuchsleiter gefällig 78
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sein will, also sozusagen als Studienkollege oder Gesellschaftsmensch. Die betreffende Handlung ist dann eine 'ernsthafte' Handlung.ln solchen Fällen ist die Tendenz zur Wiederaufnahme wesentlich stärker, als wenn es sich um eine blope 'Versuchshandlung' handelt" (Lewin, 1926, S. 47). Diese Auffassung von der sozialen Situation als Gegenstand der Untersuchung, die durch die vier methodischen Hauptkomponenten (1) des VeJSuchsleiters, (2) der Untersuchungsmethodik zur Datengewinnung und Datenanalyse, (3) der Versuchsperson und (4) den Randbedingungen gebildet wird, sollte heuristisch besonders bedeutsam werden. Auf ihrer Basis sollten später Vorstellungen von der sogenannten "Sozialpsychologie des Experiments" entstehen, wie sie beispielsweise in den sogenannten Rosenthai - Effekten (Rosenthai, 1976) oder in der Methodentheorie des" Kommunikationstheoretischen Grundansatzes" (Sprung & Sprung 1984, 1990) ihren Niederschlag gefunden haben (vgl. auch Lück, 1989; van Elteren, 1989).
Das Prinzip "n = 1 ". Es besagt, daf} sich Wahrheit empirisch nicht vermehren läf}t. Das bedeutet, daf} die gesamte Information bereits vollständig in einem repräsentativen Einzelfall enthalten ist. "Ein einzelner individueller Fall reicht im Prinzip für die Widerlegung oder den Beweis eines Satzes aus, sofern nur die Bedingungsstruktur des betreffenden Falles hinreichend gesichert ist" (Lewin 1929, S. 300, vgl. auch 1981). Zwar ist aus methodischen Gründen eine Replikation jedes Versuches notwendig, um seine Zuverlässigkeit zu prüfen. Sie ist aber wissenschaftslogisch nicht notwendig. Hier folgt Lewin seinem Lehrer Ernst Cassirer, der wiederum Christian von Ehrenfels als Zeugen anruft: "Niemals wiederholen sich psychische Combinationen mit vollkommener Genauigkeit. Jeder Zeitpunkt einer jeden unzähligen Bewuf}tseinseinheiten besitzt daher seine eigenthümliche Qualität, seine Individualität, welche unnachahmlich und unwiderbringlich in den Schof} der Vergangenheit untertaucht, wenn zugleich die neuen Schöpfungen der Gegenwart an ihre Stelle treten• (von Ehrenfels, 1890, S. 292). ln dieser Hinsicht sollte später die "Differentielle Psychologie" und insbesondere die Ausbreitung des stochastischen Denkens innerhalb der Methodologie und Methodik der Psychologie eine Modifikation dieser Auffassung mit sich bringen. Sie betrafvor allem das differentielle Problem der "natürlichen Variabilität" und das wissenschaftsphilosophische Axiom des "stochastischen Determinismus". Der "differentielle Gedanke" ergänzte die" Allgemeine Psychologie" und der "stochastische Determinismus" den "strengen Determinismus". Lewins Grundmaxime aber blieb als Idee erhalten. Die Suche nach allgemeinen "Invarianten• oder nach "Universalien" ist nach wie vor eine Zielvorstellung vieler gegenwärtiger psychologischer Forschungsstrategien.
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ResDnree
"Sonntagsreden" und "Alltagspraxis" sind - wie eingangs erwähnt • in der Wissenschaft oft zweierlei. So war es reizvoll, einmal danach zu fragen, was ein Wissenschaftler in seinen theoretischen Schriften metbodologisch-methodiscb forderte und was er in seinen empiri· schen Arbeiten wirklieb tat. Dieser kritische Vergleich ist umso eher möglich, je mehr ein Wissenschaftler ein reichhaltiges OEuvre auf beiden, d.b. auf dem der theoretischen und auf dem der empirischen Ebene hinterliejt In solchen Fällen lassen sich besonders gut die "sonntäglichen Reflexionen" und die "alltäglichen Realisierungen" einander gegenüberstellen und zu einem "K.omplementierungs-" und/oder "Kontrastprogramm" vereinigen. Für einen solchen Vergleich ist das reichhaltige, produktive und aspektreiche Lebenswerk Kurt Lewins ein besonders geeignetes Gegenstandsfeld. Stellt man diesen metbodologiscb-metbodiscben "Soll- Ist· Vergleich" zusätzlich noch in den historischen Entwicklungsverlauf einer humanwissenschaftliehen Methodologie und Methodik und betrachtet ihn am Ende schliejllich von einigen kanonbildenden Prämissen der rezenten Methodologie und Methodik der Psychologie aus, dann läjlt sich aujlerdem der historische Stellenwert eines Wissenschaftlers im Sinne eines "Bleibenden und Vergänglichen" beson· ders gut markieren. Unser erstes Ergebnis einer derartigen Analyse besteht darin, dajl Kurt Lewin als Empiriker dem Kurt Lewin als Theoretiker in allen wesentlichen methodologiscb-wissenschaftstheoretiscben Vorstellungen gerecht wurde. Lewin beherzigte, was er forderte. Dies betrifft seine Konzeptionen (1) vom Charakter eines biotischen Versuchs bei der Gestaltung der Untersucbungsumstände; (2) vom Wesen des Geschehenstyps bei der Paradigmenwabl; (3) von der Rolle der Mathematisierung der Psychologie auf dem Wege zu einer Vertiefung der Psychologie in Richtung auf eine Theoretische Psychologie hin; (4) von der Dynamik psychischen Geschehens als der primären Zugangsweise zum Psychischen; (5) von der Phänomenologie des Seelischen als dem eigentlich seelisch Gegenständlichem; (6) von der Makroanalyse als der Grundform einer Untersuchungplangestaltung und Auswertungstrategie der Ergebnisse einer empirischen Untersuchung; (7) von der Introspektion als einer unverzichtbaren zusätzlichen Datenquelle;_ (8) von der sozialen Untersuchungssituation als dem Gegenstand jeder Planung, Realisierung und Dokumentation einer empirischen Untersuchung und (9) von der zentralen Rolle des repräsentativen Einzelfalles als empirischem Wahrheitskriterium, weil sich Wahrheit nicht vermehren Iäpt. Unser zweites Ergebnis besteht darin, dajl Kurt Lewin in der rezenten Literatur zur Methodologie und Methodik (Methodenlehre) kaum Erwähnung findet, wenn man beispielsweise Daten aus Zitations-oder Referierungsanalysen heranzieht. Mit den Augen eines Historikers betrachtet, begegnen wir Lewin dagegen allenthalben. Allerdings sind viele seiner methodologisch-metbodischen Vorstellungen heute aufgehoben in den verschiedensten Begriffen und Vorstellungen der modernen humanwissenschaftliehen Methodenlehre 80
Kurt Lewin 1111 Methotlolop uNI Metllodilrier
zu Forschungs-, Diagnose-, Interventions- und Evaluationszwecken. Als Beispiel wurde von uns u.a. auf gegenwänige Vorstellungen vom "Experiment" bzw. "Quasiexperiment", der "Externen Validität" bzw. "Internen Validität", der "Ökologischen Validität", der "Methodentheorie" (z.B. Kommunikationstheoretischer Grundansatz) oder auf die sogenannten "Rosenthai - Effekte" verwiesen. Zur Herausbildung deraniger Vorstellungen hat nach unserem Verständnis l...ewin mittelbar oder unmittelbar mafigebliche Beiträge geleistet. Unser allgemeines Resümee besteht schliefilich darin: Kun Lewins methodologisch-methodisches Lebenswerk ist heute in vielem zum selbstverständlichen Allgemeingut der Psychologie geworden. Es wurde angenommen, indem es in den Kanon der Psychologie aufgenommen wurde. Das Denken Lewins als Methodologe und Methodiker ist uns also erhalten geblieben. Geblieben ist auch das Beispiel eines Lebens, das in vielem noch heute als Vorbild dienen kann. Zwei Hinweise mögen das Gemeinte illustrieren: 1. Kun I...ewin war ein Mann, der Zeit seines Lebens aufbeiden Gebieten, dem der Wissenschaftstheorie und dem der empirischen Forschungspraxis produktiv engagien war und zu beidem wesentliche Beiträge geleistet hat. Diese "Doppelstrategie" machte es ihm leicht, einen ansonsten in der psychologischen Forschung nicht selten anzutreffenden Fehler zu vermeiden, den Mario Bunge einmal als den des "Modellplatonismus" auf der einen und den des "Dataismus" auf der anderen Seite bezeichnet hat. 2. Kun Lew in war ein Mann, der Zeit seines Lebens versuchte, aus der empirischen Forschungspraxis für die Wissenschaftstheorie zu lernen und aus der Wissenschaftstheorie für die empirische Forschungspraxis Nutzen zu ziehen. Dieser wechselseitige I...ernprozefi machte es ihm leicht einen weiteren, ebenfalls nicht selten anzutreffenden, Fehler zu vermeiden, den Wolfgang Metzger einmal als die "Schizophrenie" vieler Experimentalpsychologen bezeichnet hat. Sie besteht nach ihm darin, dafi sie in ihren wissenschaftstheoretischen "Sonntagsreden" die "heile Welt der strengen Wissenschaft" verkünden, von der in ihrer methodologisch-methodischen "Alltagspraxis" kaum etwas zu beobachten ist. Fragt man also, was von Kun l...ewin geblieben ist, wenn wir den Blick auf die heutige Methodologie und Methodik der Psychologie werfen, so gestattet uns unsere Erkenntnis zwei Antwonen: 1. "Kaum etwas", wenn wir die Landschaft mit den Augen eines rezenten Methodologen und Methodikers betrachten. 2. "Sehr viel", wenn wir die Land.oochaft mit den Augen eines Historikers betrachten. Offenbar erging es dem Methodologen und Methodiker Kun l...ewin ebenso wie es dem Feldtheoretiker I...ewin, dem Sozialpsychologen Lewin, dem Entwicklungspsychologen l...ewin und dem Pädagogischen Psychologen Lewin ergangen ist. Sein Lebenswerk ist heute in vielem zum selbstverständlichen Allgemeingut unserer Wissenschaft geworden. l...ewin
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wurde angenommen, indem er in den Kanon unserer Wissenschaft aufgenommen wurde. Und das ist am Ende vielleicht das grö~Jte Lob, das man einem Menschen an seinem 100. Geburtstag aussprechen kann.
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Lewins Berliner Experimentalprogramm Horst-Peter Brauns Im Forscherleben Lewins umfa~t das Berliner Experimentalprogramm der Publikationschronologie nach die Jahre 1926 bis 1938 (s. Tab. 1, S. 91). Der Zeitraum, in dem Versuche durchgeführt werden, beginnt 1924. 1934 sind die experimentellen Erhebungen abgeschlossen. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich Lewin schon an der Comell University (Freeman, 1977), um " ... einen Ort zu finden, an dem man aufrecht leben kann" (Brief an Köhler v. 20.5.1933). Insgesamt dürfte es eine intensive und produktive Forschungsphase gewesen sein: zwar wurden die Untersuchungen nicht von Lewin selbst durchgeführt, aber es spricht einiges dafür, da~ sämtliche Endfassungen - die bis auf eine in der "Psychologischen Forschung" erscheinen • aus seiner Feder stammen.
Das Berliner Experimentalprogramm im Zusammenhang Lewinseher Sclulffensperictkn und Forschungsinteressen Aus der Perspektive ineinandergreifender Lewinseher Schaffensperioden Iie~ sich das Berliner Experimentalprogramm als eine der mittleren auffassen. Ihr voraus geht eine Phase, die sich vor allem durch eine experimentelle Auseinandersetzung mit der Assoziationspsychologie auszeichnet. Auf der anderen Seite leitet die Berliner Schaffensperiode über zum topalogischen Ansatz, welcher eine Phase charakterisiert, in der Lewin schwerpunktmä~ig mit formalen Mitteln an "the unification ofthe different fields ofpsychology" arbeitet (Lewin, 1936b, S. 5). Das Berliner Experimentalprogamm ist in ein aktuelles theoretisches und soziales Umfeld eingebettet. Zunächst sind die "Gestaltists" am Berliner Institut, K.öh· ler, Wertheimer und Koffka zu nennen, auf die Lewin als "a collectivity of friends, working together for many years" zurückblickt (Lewin, 1936b, S. VIII). Explizite theoretische Bezüge in historischer Kontinuität stellt Lewin überdies zu tiefenpsychologischen Ansätzen her. Dieser Umstand ist vielfach noch zu wenig beachtet worden und angesichtsder bemerkenswerten wissenschaftsgeschichtlichen Konstellation, da~ Lewins Lehrer Stumpf sowie Freud enge Beziehungen zu Brentano hatten, verwunderlich (Brauns & Schöpf, 1989). Shakow (1974) verlegt aufgrundeiner Mitteilung Gertrud Lewins das Interesse an psychoanalytischen Konzepten in die frühen Studentenjahre, in denen Lewin nach Lektüre der "Traumdeutung" mit Sammeln und Interpretieren von Träumen begonnen habe. 1911 deuten in einer unveröffentlichten Frühschrift einige Wendungen auf Kenntnis der Psychoanalyse hin. Wenig später wird im Zusammenhang mit einer Diskussion des psychologischen Bewu~tseinsbegriffs die "Traumdeutung" angeführt (Lewin, 1914). ln einer Rezension aus dem Jahre 1916 erwähnt Lewin (S. 434) "die Postulierung eines besonderen Verdrängungs-
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oder Abspenungsmechanismus, wie ihn Freud annimmt•. Da auch Stumpf(1918, S. 98) auf den Freudschen Allsalz hinweist, könnte die Annahme eines entsprechenden friihen Diskussionszusammenhangs am Berliner Institut naheliegen. Lewin selbst jedenfalls bezieht sich in theoretischen Zusammenhingen wiederholt auf zentrale psychoanalytische Begriffe (z.B. 1926 und 1941). Gleiches gilt für eine Reihe von Untersuchungen aus dem Berliner Experimentalprogramm. Es hat sogar den Anschein, als neigte Lewin zu der Auffassung, im Rahmen dieser Versuchsreihe u.a. "problems of Freudian psychology• in Angriff genommen zu haben (Lewin,1936b, S. 5). Gleichzeitig spricht er vom "brilliant worlt of Freud" (1936b, S. 3) und fa~t unter methodischen Einschränkungen zusammen, "da~ die psychoanalytische Theorie für den Bereich der Bedürfnisse, der Träume und der Persönlichkeit ein Ideensystem von unvergleichlicher Reichhaltigkeit und Ausführlichkeit entwickelt hat• (Lewin, 1936a). Ein weiteres zentraleres, kontinuierliches Forschungsinteresse Lewins, das im Berliner Experimentalprogramm seinen Niederschlag findet, aber in seiner individualhistorischen Erstreckung allzuleicht verkannt wird, ist die Beschäftigung mit Rolle und Verwendung der Kategorie des Raumes in der Psychologie. In einem Schreiben an Köhler vom Mai 1936, das als Vorwort seiner Principles ofTopologiCQfp;,~floiO"gy erscbelnt:·hiit ~in fest: ftMuch interested in the theory of science, I had already in 1912 as a student defended the thesis (against a then fully accepted philosophical dictum) that psychology, dealing with manifolds of coexisting facts, would be finally forced to use not only the concept of time but that of space too" (Lewin, 1936b, S. VII). Möglicherweise mitgeformt von der Abhandlung Riehls "Der Raum als Gesichtsvorstellung" (1877) dürfte sich Lewins Auseinandersetzung mit der psychologischen Tragweite der Raumkategorie in Forschungsfacetten wie z.B. zur Räumlichkeit psychischer Objekte (1911), z11m Erleben des natürlichen Raumes einer Landschaft im Kriege (1917a), zu räumlichen Darstellungen von inneren Situationen der Vpn (Zeigamik. 1927, S.36f; S.69f), Theoriebegriffen (Birenbaum, 1930, S. 234), experimenteller Versuchsfelder (Dembo, 1931, S. 20ft), der experimentellen Situation (Siiosberg, 1934, S. 129) fortsetzen. Zieht man zudem in Betracht, da~ Lewin als Feldartillerist im 1. Weltkrieg u.a. die Termini "Richtung", "Ziel", "Zone", "Region", "Grenze" in vitalem Zusammenhang erfährt, ist die Hypothese einer persönlichen Neigung zur räumlichen Vorstellungsform vielleicht nicht mehr völlig von der Hand zu weisen. Das Erlebnis des Krieges wiederum dürfte Lewin veranla~t haben, sich mit diesem als einem wissenschaftlich angehbaren Phänomen auseinanderzusetzen. Zeugnis dafür geben die fünf - offenbar im Felde verfa~ten- Rezensionen zum Thema Krieg und Soldatenturn (Lewin, 1917, b,c,d,e,f) ebenso ab wie die Zitation von Clausewitz in der Arbeit von Dembo (1931, S. 79), um den Kampfzwischen der Vp und dem VI, ihrem Feind, als einen "Akt des menschlichen Verkehrs" zu definieren.
Parallel dazu liegt Lewins Forschungsinteresse an wahrnehmungspsychologischen Fragen sowie seine Auseinandersetzung mit der Assoziationspsychologie. Die Kontinuitit des wahrnehmungspsychologischen Forschungsinteresses manifestiert sich sowohl in Einzeluntersuchungenwährend und nach dem 1. Weltkrieg· sowie in der von Voigt (1932)- als auch in der Berücksichtigung des Wahrnehmungsgeschehens in den theoretischen Vorarbeiten zum Berliner Experimentalprogramm (s. S. 92). Seinen wohlletzten Ausdruck wird es schlie~lich im Programmbereich "soziale Wahrnehmung" am MIT finden (s. Graumann, 1981, S. 10). Durch frühere Schwerpunktbildung zeichnet sich Lewins ~':J!e.i~_!!!.etzung mit dem Assoziationsgesetz und Befassung mit willenspsychologischen Problemen aus einer Tbeniatik.des späteren Stumpf (Stumpf, 1924, S. 61). Möglicherweise ängeregt von Stumpfs "Theoretischen Übungen (Über Willenshandlungent vom SS 1910 und Rupps "Colloquium über Neuerscheinungen auf dem Gebiete der Experimentalpsychologie• vom WS 1910/11 "arbeitete" Lewin •von Ostern 1912 bis Ostern 1914 an einer experimentalpsychologischen Arbeit über Willens- und Gedächtnisprobleme" (Lewin, oJ. handschriftlicher Lebenslauf). Seinen diesbezüglichen eigenen Entwicklungsgang einschlie~nd - uns an sein Berliner Experimentalprogramm heranführend und dieses z. T. in seiner individuellen Forschungskontinuitit kennzeichnend - resümiert Lewin 1928 auf dem 3. Allgemeinen ärztlichen Kongre~ für Psychotherapie: "Die ~x~~~~-~~~lle Wmenspsychologie ist von phänomenalen und elementen-psychologischen Fragestellungen au5gehend sehr bald zu dynamischen Problemen fortgeschrittenr Sie ist dabei zunächst von assoziationspsychologischer Grundlage ausgegangen, hat den Rahmen der assoziationspsychologischen Theorien sehr bald gesprengt ~;j- hat schlie~lich zum expe-rimentellen Nach~eis der Unrichtigkeit des
Assozia_tionsgese~ und ~~~~ng zu ~~~~:~:~;~~~~~~~lffen·geführt. ·-·--:>' r-r .. ...... ..., ':.)
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Damit war der bere;tet für eine neue experimentelle Inangriffnahme der Frage nach den d)IJWDischen .. Kräften ~~~~-~n~~gi~ll.R~t.~lischen Vorgänge über_h_~!JPL-Dies dürfte das Hauptcharakteristikum der gegen~Ärti"g~n exPerimeiitelnll Willenspsychologie sein" (Lewin, 1929, S. 169). Wie diese "neue experimentelle Inangriffnahme" sich im einzelnen strukturiert und systematisch in der Zeit entwickelt, soll im einzelnen nun zur Sprache kommen.
Hont-Peter BrtiUIIS
Dk Forschungslconzeption von 1926 und die wtheoretische SphlJrew "Er (der Forscher} muf' einerseits ganz von der Theorie geleitet werden, ohne die alles experimentelle Tun blind und sinnlos ist und von deren Weite und Kraft die Bedeutung seiner Experimente abhingt. Das Vorwirtsschreiten in dieser theoretischen Sphäre zu immer tiefer und zentraler liegenden Punkten, von denen aus prinzipielle, die Totalität des Psychischen umfassende Ansitze möglich werden, bildet die entscheidende Bewegung seines Forschens; diese Sphäre ist die eigentliche Welt, die es zu gestalten gilt ... Andererseits will der experimentelle Forscher die Richtigkeit seiner Theorie am Experiment erweisen, d.h. an einem vollkommen konkreten, in einem bestimmten Menschen und einer bestimmten Umgebung sieb vollziehenden psychischen Ereignis. Er muf' die Brücke schlagen von der Theorie zu der vollen Wirklichkeit des Einzelfalles ...• konstatiert Lewin (1926a, S. 296) in den "Vorbemerkungen überdie psychischen Kräfte und Energien und über die Struktur der Seele". Dieser ersten Abhandlung der "Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie" werden nach der darauffolgenden theoretischen Schrift "Vorsatz, Wille und Bedürfnis" (1926b} bis zum Jahre 1938 noch achtzehn von Lewin herausgegebene experimentelle Arbeiten folgen (s. Tab. 1 auf der folgenden Seite). Wenn man obige Konzeption Lewins für psychologische Forschung auf diese von ihm selbst herausgegebene Untersuchungsreihe anwendet, erhebt sich die Frage: Hat Lewin "die entscheidende Bewegung" des Forschers hin zu einem "die Totalität des Psychischen" umspannenden Ansatz in seinen beiden ersten Abhandlungen zur Handlungs- und Affektpsychologie vollzogen ? Falls dem so ist, mü~Jten die folgenden experimentellen Arbeiten auf die Bewährung dieser theoretischen Aussagen zielen und sich insoweit zu einem tbeo'S· .. . ] 1:.., riegeleiteten Forschungsprogramm verbinden. In den "Vorbemerkungen" (1926a) wird als umfassendste psychische Einheit die menschliche Seele im Sinne einer Totalität "der gespannten und ungespannten seelischen •: '; .: i ·'' · .Systeme" eingeführt. Einer noch vielfach verwendeten gestalttheoretischen Maxime gemäf' . ·' '· '· itrukturiert sie sich in systemische Unterganze. Diese eher statische Struktur erhält ihre Dynamik durch die Energie der Systeme. Dazu tragen ferner bei die Festigkeit der Systemgrenzen und die mehr oder weniger starke Abgeschlossenheil der Systeme gegeneinander, welche deren - übrigens kausalrelevante - Kommunikation und wechselseitiges Aufeinanderwirken mitbedingen. In Zusammenhang mit dieser dynamischen Ebene steht die der psychischen Prozesse und Gebilde, wie z.J!, JfandiUAgen, Affekte, wooschc..J~edürfnisse, willentliche Vornahmen oder Vorsätze. Auch für diese gilt die gestaltpsychologische Maxime von der Untergliederung einer Ganzheit in unselbständige Unterganze bzw. die These von der-ursächlichen Bedeutung der Einbettung von Teilen in ein umfassenderes Gesamt. Seelischen Prozessen, wie z.B. ein willentlich oder bedürfnismäf'ig gesetztes Ziel, 90
Lewins BerliMr ~lprogramm
Tab. 1 : Publikationschronologie zur Handlungs- und Affektpsychologie (Berliner Experimentalprogramm) von 1926 bis 1938 herausgegeben von Kurt Lewin
Autor, Titel
Eingangs- Publ.- Versuchsdatum durchfilhr. Jahr
Lewin. K. Vorbemerkungen über die psychischen Kräfte und Energien und über die Struktur der Seele (1. Teil) 18.3.26 Lewin. K. Vorsatz, Wille und Bedürfnis (2.Teil) 18.3.26 Zeigamik, B. Das Behalten erledigter und unerledigter Handlungen 25.3.27 Schwarz, G. Über Rückfilligkeit bei Umgewöhnung (1. Teil) 31.1.27 KarstenA. Psychische Sättigung 28.7.27 Ovsianlcina, M. Die Wiederaufanhme unter09.8.28 brochener Handlungen Freund, A. Psychische Sättigung im 25.3.30 Menstruum und Intermenstruum Birenbaum, G. Das Vergessen einer Vomahme 27.3.30 Hoppe, F. Erfols und Miperfolg 8.12.29 Dembo, T. Der Arger als dynamisches Problem 13.7.30 Voigt, G. Über die Richtungsprizision einer 14.9.31 Fernhandlung Fajans, S. Die Bedeutung der Entfernung für die Stärke eines Aufforderungscharakters beim Säugling und Kleinkind 29.3.32 Fajans, S. Erfolg, Ausdauer und Aktivität 29.3.32 beim Säugling und Kleinkind Brown, J.F. Über die dynamischen Eigenscharten der Realitäts- und lrrealitätsschichten 27.7.32 Mahler, W. Ersatzhandlungen verschiedenen Realitätsgrades 19.9.32 Schwarz, G. Über Riickfilligkeit bei 15.10.32 Umgewöhnung (2. Teil) Forer, S. Eine Untersuchung zur Lese-Lern-Methode Decroly o.Ang. Lissner, K. Die Entspannung von BedürfDissen durch Ersatzhandlungen 8.8.33 Sliosberg, S. Zur Dynamik des Ersatzes in Spiel- und Ernstsituationen 17.5.34 Jucknat, M. Leistung, Anspruchsniveau und Selbstbewu~tsein 6.10.36 91
1926 1926 1927
1924-1926
1927 1928
Dez.23/Aug.24 1924-1926
1928
1924-1926
1930 1930 1931 1931
ohne Angabe 1924/25;28/29 ohne Angabe 1925-1928
1932
ohne Angabe
1933
1928-1929
1933
1928-1929
1933
ss 1930
1933
1930-1931
1933
Dez.23/Aug.24
1933
ohne Angabe
1933
ohne Angabe
1934
1930-1931
1938
1931-1934
Hor11t-Perer Brtu~M
entspricht eine Störung des Systemgleichgewichts, dessen Wiederherstellung angestrebt wird. Dabei liegt Spannung frei, die dem Willens- oder Bedürfnisdruck korrespondierenden System solange anhaftet - im Sinne eines stationir gespannten Systems, bis das gesetzte Ziel erreicht ist, Befriedigung nach einem Bedürfnis bzw. Erledigung nach einer Willensvornahme und damit Spannun~- bzw. Energieausgleich eintritt. ln seiner "Theorie der Vomahmehandlung" (1926b) behandelt Lewin eingehender, was geschieht, wenn jemand etwas zu tun beabsichtigt: eine deranige Vomahme wird als eine Kraft betrachtet, ein gerichteter Druck, "ein innerer Spannun~zustand, der auf die Ausführung der Vomahme hindrängt" (S. 348). Erlebnismäflig kann sich ein entsprechender Druck bemerkbar machen. Da willentliche Vomahmen weitgehend dieselben dynamischen und psychologisch - erlebnismifligen Merkmale aufweisen wie echte Bedürfnisse, fühn Lewin für erstere den Terminus ~llsJ.~ü!.f!!i~t ein. Der Anstofl zu einer Handlung erfolgt keineswe~ nur endogen. Bedeutungshaltige Wahrnehmungen von Dingen und Ereignissen ihrerseits können einen Vorsatz erzeugen, ein Bedürfnis wecken oder einen bereits bestehenden Spannun~zustand deran ansprechen, dafl eine ihm entsprechende gerichtete Handlung aktualisien wird. ln diesem Falle erhält das involviene Ding oder Ereignis einen entsprechenden Aufforderungscharakter zuerkannt. Ebenso wie bei endogenen Vomahmen werden durch wahrgenommene Dinge und Ereignisse interne energetische Umschichtungen in Gang gesetzt, wodurch gespannte seelische Systeme entstehen oder modifizien werden und nach Spannun~ausgleich verlangen. Der weitere Verlauf des auf die Erreichung des Handlun~zieles gerichteten Verhaltens unterliegt der Gesamtheit der vorhandenen Kräfte im inneren und iufleren Umfeld. Deren Veneilung indensich aufgrunddes geiuflenen Verhaltens, wobei diese Veränderungen ihrerseits wieder wahrgenommen werden und insofern steuernd in das weitere Verhalten hineinwirken. Ist das Ziel erreicht, hört auch die Wirksamkeit dieser Kräfte auf, sie sind erschöpft. Mit diesem, nach Lewins Auffassung mit Grundbegriffen einer allgemeinen Dynamik arbeitenden Ansatz, ist Verhaltenserklärung nicht länger auf mechanisch starre Bindungen- wie etwa vordem die sog. Assoziationspsychologie- angewiesen. Verhaltenserklärung erfolgt vielmehr unter Aufweis der Wirksamkeit systemischer Energien, d.h. gespannten seelischen Systemen und damit zusammenhingenden Prozessen. Versuchen wir nun, die auf Selbstanwendung fuflende Frage zu beantwonen, ob Lewin in seinen ersten beiden Abhandlungen der "Untersuchungen zur Handlun~- und Affektpsychologie" die "entscheidende Bewegung" vollzogen hat. Die Antwon kann nur positiv ausfallen, da er explizit in der "theoretischen Sphäre" einen die "Totalität des Psychischen" umfassenden Ansatz vorlegt. Zudem schlägt Lewin die Brücke zur experimentellen Bewährung, indem er ein generalisienes Aussagengefüge über individuelle psychische Ereignisse unter besonderer Berücksichtigung der wahmehmungsmäflig unmittelbar gegebenen Umgebung, d.h. eine prüfbare individualisiene Theorie formulien.
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.. Zum Verhllltnis von Theorie und Experiment bei Lewin Wie steht es nun um die eJOpiriscbe Bewährung, d.h. das Erweisen der "Richtigkeit" der "Theorie am Experiment" ? Zunächst ist festzustellen, dafl Lewin in beiden im März 1926 bei der "Psychologischen Forschung" eingegangenen theoretischen Abhandlungen auf bereits durchgeführte Experim,:nte Bezug nimmt, und zwar im Zusammenbang mit . -der VeJSOrgung einer Handlung aus einerneuen Energiequelle nach ihrer Sättigung ~uf die Untersuchung von Karsten, die- eingegangen im Juli 1927- 1928 erscheint. Die Versuche wurden allerdings schon in den Jahren 1924 bis 1926 durchgeführt; --·- ~em Vorhandensein einer Kraft, dem Drängen nach innerem Spannungsausgleich,"Jaachdem eine Handlung vor ihrer Beendigung unterbrochen wird. Die diesbezügliche Arbeit von Ovsiankina ist ebenfalls 1928 publiziert, angenommen im August 1928, nach experimentelle~ Untersuchungen von 1924 bis 1926; -der ~achwirkung einer willentlichen Vornahme im Sinne einer Kraft, einer Spannung, welche z.B. durch Ersatzerledigung geschwächt wird und somit zu ihrer Nichtausführung, d.h. ihrem Vergessen führen kannl Die vollständige Untersuchung von Birenbaum ist 1930 erschienen. Dieser Arbeit lagen zwei experimentelle Untersuchungsphasen von 1924as sowie 1928/29 zugrunde; - dem Ausführen von Handlungen, die auf eine aus einem Bedürfnis stammende Spannung zurückgehen, aber nicht auf das eigentliche Bedürfnisziel gerichtet sind, die sog. Surrogaterledigung. Dieses Phänomen spielt in der Untersuchung von Dembo eine Rolle, die 1931 veröffentlicht wird nach Eingang im Juli 1930 und Versuchen von 1925 bis 1928; -dem realen Spannungszustand, der eine Vornahmenhandlung begleitet und sich nach deren Unterbrechung auch indirekt bei Gedächtnisleistungen bemerkbar macht. Die Untersuchungen wurden 1924 bis 1926 von Zeigarnik durchgeführt, die fertige Arbeit gebt im März 1927 bei der "Psychologischen Forschung" ein. Lewin bat also zum Zeitpunkt der Formulierung seiner Theorie im Jahre 1926 bereits experimentelle Befunde zur Gestaltung der theoretischen Sphäre zur Hand. Sie stammen aus noch nicht abgeschlossenen Untersuchungen, die in endgültiger, ausführlicherer Form erst Jahre später publiziert werden. Was ist hieraus hinsichtlich eines theoriegeleiteten Forschungsprogramms zu scblieflen ? Kann es sich bei den fraglichen Untersuchungen noch um Komponenten eines theoriegeleiteten experimentellen Forschungsprogramms handeln, wenn diese Untersuchungen ihrerseits schon in die Formulierung der Theorie einbezogen worden sind ? Eine Antwort ist u.a. vom wissenschaftstheoretischen Vorverständnis des Verhältnisses zwischen Theorie und Experiment abhängig. Wird etwa davon ausgegangen, dafl jedem Experiment
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HMII·Peter BrauttS
theoretische Vorannahmen über allgemeine Ereignisrelationen vorausgehen, wäre anzunehmen, da~ die fraglieben Untersuchungen theoriegeleitete experimentelle Prüfungen darstellen. Fa~t man indessen theoretischen Annahmen als induktiv aus Einzelexperimenten gewonnene Generalisierungen auf, wären die fraglichen Untersuchungen zum Entdeckungszusammenhang des theoretischen Aussagengefüges zu zählen, dessen Bewährung noch aussteht. Lä~t man hingegen die dichotomisierende Unterscheidung zwischen Begründungsund Entdeckungszusammenbang beiseite und stellt den realen Forscbungsproze~ in den Vordergrund, tragen die mitgeteilten experimentellen Befunde sowohl zur Bewährung von Allgemeinaussagen als auch zu deren Gewinnung bei. Zum Zeitpunkt der Publikation der beiden Abbandlungen über die "theoretische Sphäre" sind noch keine der erwähnten expe· rimentellen Arbeiten abgeschlossen und ihre endgültigen Resultate gehen über die zuvor im Theorieteil erfolgten Bezugnahmen hinaus. In Fortfilhrung des bisherigen Vorgehens, im Zuge der Darstellung des Berliner Experimentalprogramms auftretende Fragen nach Möglichkeit durch Lewin beantworten zu lassen, wäre an dieser Stelle auf sein wissenschaftstheoretisches Vorverständnis über das Verhältnis zwischen Theorie und Experiment zurückzugreifen. Demzufolge "(kommt es im Experiment) nicht auf die Realisation einer möglichst gro~n Anzahl gleicher Fälle an, sondern auf eine systematische Variierung, also auf eine Analyse der Bedingungen durch Verwirklichung eines Inbegriffs verschiedener Fälle. Die Allgemeingültigkeit stützt sich nicht auf eine breite historische Erfahrung über Gleichheiten, sondern wird im tatsächlichen wissenschaftliche Beweisverfahren ... vorausgesetzt" (Lewin, 1927, S. 385). Seiner Auffassung nach sind Allgemeinausagen keineswegs auf möglichst viele Einzelfälle gegründet: "Das Wesentliche ... ist nicht die Aussage über eine bestimmte Menge von Einzelgebilden ... Sondern ... eine Aussage über einen bestimmten Typus, der durch sein Sosein charakterisiert ist" (Lewin, 1927, S. 388). Hinzukommt, da~ Lewin "die alte ... Theorie der Induktion", die er filr irrig hält, nicht im Zuge der Genese seiner eigenen Theorie angewendet habe dürfte (Lewin, 1927, S. 384). Sonach wären die den ersten Untersuchungen des Berliner Experimentalprogramms :tugrundeliegenden theoretischen Annahmen weder induktiv gewonnene Generalisierungen noch vorgängig durch den tatsächlichen Forschungsproze~ erzeugt. Vielmehr müssen wir im folgenden vor allem die erste Variante im Auge behalten, wonach jedem Experiment allgemeine theoretische Voraussetzungen unterliegen, und durch eine Reihe von Experimenten ein Inbegriff verschiedener Fälle realisiert wird. Dazu sind gleichsam als variierbare Prämissen - geeignete theoretische Basisaussagen aus dem energetisch dynamiseben Systemmodell sowie ggf. mitherangezogene Nebenbedingungen herauszuheben. Für die sich an die theoretischen Vorarbeiten von 1926 anscblie~nden Einzeluntersuchungen kommt als Basissaussage mit hohem Integrationswert in Betracht:
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( a) Einer handlungsmäfligen Vornahme korrespondiert ein Spannungssystem, welches durch Erreichung des Handlungszieles entladen wird. Als geeignete Nebenbedingungen bieten sich an: (b) Innerpsychische Teilsysteme, die energetisch aufgeladen sind, treten miteinander in kausalrelevante Interaktion, sofern es ihre gegenseitige Offenheit der Grenzen zuläf't und (c) Mehrere energetisch aufgeladene innerpsychische Teilsysteme bilden ein ganzes, in sich zusammenhängendes Spannungssystem. Wie leicht zu sehen ist und weiter unten gezeigt werden wird, lassen sich "Variierungen" der Basisaussage bei Bewahrung ihres wesentlichen Bedeutungsinhalts vornehmen, welche ihrerseits experimentellen Untersuchungen als theoretische Sätze zugrundeliegen. Die Nebenbedingungen ermöglichen ebenfalls, da auch sie die entsprechenden Grundbegriffe enthalten und in hohem AllgemeinheilSgrad formuliert sind, experimentelle Realisationen abzuleiten bzw. ihnen konkrete psychische Funktionen zu koordinieren. Bekanntlich folgt der tatsächliche Forschungsprozef' kaum - und eine sich über Jahre erstreckende experimentelle Untersuchungseihe umso weniger - den Gesetzen der Logik. Neben der Rekonstruktion der spezifischen Lewinsehen Theoriegeleitetheil von Einzeluntersuchungen wird also darauf zu achten sein, ob und inwieweit auch andere Faktoren. wie z.B. Befunde vorgängiger Arbeiten, konzeptuelle Erweiterungen, Neuerungen u.a.m.- für sie bestimmend waren. Unter diesen Vorausetzungen wird versucht, die" Geneseordnung" der 18 Untersuchungen darzustellen (s. Abb. 1 auf der folgenden Seite). Damit übernehmen wir einen von Lewin im Rahmen theoretischer physikalischer Überlegungen (1923) geschaffenen Begriff in den humanwissenschaftliehen Bereich.
Theoriegeleitete Programmuntersuchungen von Zeigarnik, Karsten, Ovsionkina, Birenbaum Wird eine Handlung vor ihrer zielgemäflen Beendigung unterbrochen, verbleibt eine restliche systemische Spannungsgröf'e, die nach ihrem Abbau drängt. Verfügt diese über Kommunikation zu einem innerpsychischen Teilsystem, geht die verbliebene Spannung in letzteres über und führt zu Entspannung. Diese "Variierung" der Basisaussage (a) nebst Nebenbedingung (b), welche die Einführung des Teilsystems Behalten abdeckt, liegen den zentralen Operationalisierungen der Arbeit von Zeigarnik (1927) zugrunde: die Vpn erhaltenein breites Spektrum von zwanzig teils lebensnahen Aufgaben, welche unterbrochen bzw. zu Ende geführt werden. Die Behaltensprüfung ergibt, da(' unerledigte Aufgaben erheblich besser behalten werden als erledigte. Eine Gruppenuntersuchung bestätigt dieses Ergebnis. Mögliche Alternativerklärungen -etwa mittels gesteigerter Aufmerksamkeit oder stärkerer
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Fajans/1 Erfolg und Mißerfolg bei Kindem
Sliosberg Ersatzvon Gegenständen bei Kindem
I
Jucknot Übertragung von J\nspruchsniveau Quantifizierung
r--
Lissner Selbständige Ersatzhandlungen
Ersatztheorie (Kongreß, 1931)
Hoppe Erfolg-Mißerfolg Anspruchsniveau
-
I
I Mahler Ersatzwert und Realitätsgrad
1-
I Dembo Brown Ärger, J\nspruchsniveau r--Dynamische Realitätßrrealität Mediendifferenz Ersatzhandlungen
1--
Fajansl Aufforderungscharakter Kleinkind
I Karsten jSättigung
l
I
Zeigarnilc Bebalten 1
Freund Sättigung Menstruum/ Intermenstruum
Birenbaum Vergessen
I
Typen von Ersatzhandlungen Dynamik Theorie der Vomahmehandlung Lewin, 1926, a,b
-
I
OIISÜJnkina Wiederaufnahme
Miszellen: Schwarz I und II: Umgewöhnung; Voigt: Femhandlung; Forer: Methode Decroly Abb. 1: Geneseordnung der Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie (Berliner Experimentalprogramm). 96
Betonung der unerledigten Aufgaben -la<~Sen sich mit Hilfe einer weiteren Versuchsreihe ausräumen. Somit kommt als Ursache für das bessere Behalten unerledigter Aufgaben allein das Fortbestehen einer restlichen SpannungsgröJ'e nach Unterbrechung vor Zielerreichung und deren dynamischer Verbindung zum innerpsychischen Teilsystem Behalten in Betracht. Wenn ein Teilsystem durch eine Handlung encspannt worden ist, kann diesem nach Kommunikation mit einem anderen energiehaltigen Teilsystem erneut Spannung zugefiihrt werden, wodurch die ursprüngliche Handlung wieder zur Ausführung gelangt. Auf dieser Verbindung von (a) und (b) fu~t das empirische Material von Karsten (1928): fortlaufende Handlungen, wie z.B. Stricheln oder kurze Endhandlungen, wie z.B. ein Gedicht lesen oder ein Tintenfa~ abzeichnen, sind bis zum Abbrechen, d.h. Sättigung, von der Vp auszuführen. Der Ablauf bis dahin stellt sich als ein phasischer Proze~ dar, in dem neben seiner Strukturierung in Sinnzusammenhänge sowie Ganze und Unterganze, Variationen der Ausführung, Leistungsabfall und affektive Ausbrüche hervortreten - bei gleichzeitiger Spannungserhöhung. Ein eben erreichter Sättigungszustand lä~ sich wieder rückgängig machen, wenn es gelingt, einen Teil der Handlung in ein anderes Handlungsgesamt umzubetten oder die Bedeutung der Handlung zu ändern. Dynamisch wird damit zumeist die Kommunikation zu einer bislang unbeteiligten inneren Sphäre mit den ihr eigenen Trieb- und Willenszielen hergestellt, deren Energie nun zur Verfügung steht. Wenn eine Handlung vor ihrer zielgemäJ'en Beendigung unterbrochen wird, bleibt eine restliche Spannungsgröl'e bestehen, die nach ihrem Abbau drängt, welcher durch Wiederaufnahme und Zuendebringen der Handlung erfolgt (a). Die sich hieraus ergebende experimentelle Grundsituation der Arbeit von Ovsiankina (1928) ist einfach: einer Vp wird während der Ausführung einer Handlung, der sog. Haupthandlung, eine sog. Störungshandlung aufgetragen, der sie sich unverzüglich zuzuwenden hat. Aus der Analyse von Verlaufsprotokollen ergibt sich, da~ während der Ausführung der Störungshandlung zumeist die unterbrochene Handlung präsent bleibt. Zugleich wird die Störungshandlung vielfach gefühlsmä~ig abgelehnt und ihrerseits abgebrochen. Gleichzeitig bzw. während deren Abschlu~ aktualisiert sich abermals die Haupthandlung, wird wieder aufgenommen und bis zum Ende durchgeführt. Ganz gleich, ob parallel dazu entsprechende Bewu~tseinsphäno mene auftreten, liegen diesem Geschehen bedürfnisartige Spannungen als kausalrelevante Faktoren zugrunde. Wichtig ist, da~ Wiederaufnahme nicht infolge eines äuJ'eren Druckes stattfindet, sondern sich darin eine innere Spannung ausdrückt. Finden Handlungen andererseits ihr zielgemä~ Ende, zeigt sich keine Wiederaufnahme. Entspannung und Gleichgültigkeit treten ein. Eine handlungsmä~ige Vornahme, derein Spannungsystem korrespondiert, kommt nach anderen Handlungen zur Ausführung, wenn ersteres mit deren Spannungssystemen ein Gesamtspannungssystem bilden; vgl. (a) und (c). Die hierauf gründenden experimentellen Realisationen Birenbaums (1930) verlangen von der Vp, ihre jeweils auf einem Einzelblatt vermerkte Aufgabenlösung auf der Rückseite desselben mit der eigenen Unterschrift zu 97
Hant·Peter BrtiUIIS
versehen. Dynamisch betrachtet bilden sich zwei, der Aufgabe sowie der Unterschrift ent· sprechende Spannungssysteme aus. Das Unterschreiben auf der Rückseite des Lösungsblattes hingt im wesentlichen davon ab, ob mit der Aktivierung des der Hauptaufgabe äquivalenten Spannungsystems zugleich auch die Nebenhandlung - auf der Rückseite unterschreiben - dynamisch gespannt wird. Auf diesem Hintergrund stellt sich der Verlaufvon Lösungen mehrerer Aufgaben dynamisch zunächst als ein isoliertes Nebeneinanderbestehen, in d~r Folge zunehmend als ein Verschmelzen, als Einbettung des Spannungsystems Unterschreiben in das der Aufgaben dar. Einbettung sowie der gleichzeitige Abschlu~ des neu entstandenen Ganzen bewirken, dafl bei Erregung der Aufgabenspannung, die Unterschriftsspannung miterregt wird, so dafl die Schreibhandlung erfolgt, d.h. ihre Nichtausführung, Vergessen, unterbleibt. Umgekehrt findet Vergessen dann statt, wenn die Spannung der Vomahme Unterschreiben nicht in den Gesamtbereich eingebettet wird und somit kein Zusammenhang der Spannungssystem in einem Gesamtspannungssystem gewährleistet ist. In einem Zwischenresümee darf bis hierher festgehalten werden: Die vier experimentellen Unte~uchungen von Zeigarnik, Karsten, Ovsiankina und Birenbaum, welche Lewin einerseits bereits 1926 in seinem Theorieentwurf berücksichtigte, die andererseits aber in ausführlicherer Fassung erst Jahre spiter publiziert werden, erweisen sich als theoriegeleitet. Der Grund dafür liegt in dem Gelingen, ihre zentralen theoretischen Sitze, welche ihre wesentlichen Operationalisierungen fundieren, als •variierungen" einer Basisaussage bzw. Nebenbedingungen der "theoretischen Sphäre" von 1926 herzuleiten. Insofern erscheint zulässig, sie auch als Programmuntersuchungen zu kennzeichnen.
Theoriegeleitete Programmuntersuchungen zweuer Ordnung: Freund und Fajans I. Das bisher umrissene Forschungsprogramm findet Erweiterung in theoriegeleiteten Programmuntersuchungen zweiter Ordnung, bei denen neben ihrer theoretischen Fundierung zur Hypothesengenerierung unmittelbar auf vorgängige experimentelle Resultate Bezug genommen wird. Aus dem Resultat von Karsten, wonach erhöhte Spannungslage mit Sättigungsprozessen parallelläuft bzw. dem Abbruch einer Handlung kurzfristig vorausgeht, leitet Freund (1930) die zentrale Untersuchungshypothese über "Psychische Sättigung im Menstruum und Intermenstruum" ab. Wenn es zutrifft, dafl zu den Begleiterscheinungen des Menstruums psychische Nervosität, Ungeduld, Unruhe und Unbeherrschtheit, mithin eine erhöhte Spannungslage gehören, müflte sich im intraindividuellen Vergleich mit der Phase des Intermenstruums unterschiedliche Sättigungsgeschwindigkeit nachweisen lassen. Anband von sieben Beschäftigungsarten konnten beschleunigte Sättigung im Menstruum ohne gleichzeitige Verschlechterung der Arbeitsleistung demonstriert werden.
Als weitere Anschluflstudie an die Untersuchung von Karsten dürfte die Arbeit von Fajans (1933a) in Betracht kommen, sofern man nämlich ihr zentrales Moment in der Analyse der Stärke eines Aufforderungscharakters sieht (Fajans, 1933a, S. 216). Fajans fragt, inwieweit sich insbesondere auch ein physikalisches Merkmal, wie z.B. die Entfernung eines Objekts, auf die Stärke seines Aufforderungscharakters auszuwirken vermag. Hieraus folgt für die experimentelle Grundsituation die Variation des Faktors Entfernung. Verhaltensbeobachtungen sowie Verlaufsanalysen an Säuglingen und Kleinkindern im Nahund Weitversuch hinsichtlich eines erwünschten, aber nicht erreichbaren Objekts weisen auf die Abhängigkeit eines Aufforderungscharakters, gemessen an Dauer und Aktivitätsgrad der Zuwendung, von der Entfernung des Zielobjekts hin. Beim Kleinkind spielt zunehmend die Stärke einer Schwierigkeitsbarriere eine Rolle während seine Spannungslage von der Entfernung relativ unabhängig bleibt, was beim Säugling nicht der Fall ist. Die Verhaltensunterschiede zwischen Säugling und Kleinkind werden vor allem von ihrer unterschiedlichen Ausdehnung des Lebensraumes mitgeprägt. Insgesamt hat in dieser Arbeit Verhaltenserklärung durch Situationsfaktoren grö~eres Gewicht als die mit Hilfe interner systemischer Dynamismen.
Die Unrersuchung von Dembo und ihre Sontkrrolle Auf die Arbeit von Dembo (1931), "Der Ärger als dynamisches Problem", sind wir bisher deshalb noch nicht eingegangen, weil sie offenkundig in bezug auf die gleichfalls vorgängig erwähnten vier Programmarbeiten eine Sonderstellung, hinsichtlich nachfolgender Untersuchungen indessen eine Schlüsselstellung einnimmt (vgl. Abb. 1). Ihre Sonderstellung liegt u.a. darin, da~ ihre experimentellen Erhebungen - nur ein Jahr später begonnen als die der vier anderen, nämlich 1925- 1928 abgeschlossen werden, und sie erst im Juli 1930 bei der "Psychologischen Forschung" eingeht. Von daher dürfte sie mit der Theorie von 1926 nur relativ .lose verbunden sein, zumal hier Affekte eher am Rande liegen. In der Tat wird sie dort lediglich an zwei Unterpunkten erwähnt. Im Zentrum dieser Arbeit stehen Entstehungsbedingungen und Verlauf des Ärgeraffekts. Zur Begründung der dabei einzuschlagenden Forschungsstrategie wird auf methodologische Arbeiten Lewins wie die "Denkweisen" (1931) sowie "Theorie und Experiment" (1927) verwiesen. Erstmalig gilt die Berücksichtigung von Topologie und Feldkräften explizit als unerlä~lich - ohne Preisgabe des S_ystemmodells. Dieses öffnet sich gleichsam der systematischen Berücksichtigung von Umfeldfaktoren. Dabei wird der Rahmen der "theoretischen Sphäre " von 1926 keineswegs gesprengt (vgl. S. 90t). Vielmehr lä~t sich einmal mehr eine Variierung der o.a. theoretischen Basisaussage (a) nebst Nebenbedingung (b) zwecks Fundierung der zentralen experimentellen Realisstionen heranziehen: Wenn die Erreichung des Zieles einer handlungsmä~igen Vomahme ausbleibt bzw. stark erschwert wird, akkumuliert Spannung sukzessive und teilt sich anderen inneren Teilsystemen mit (b).
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Wobei im vorliegenden Fall Austauschbeziehungen zum Umfeld hinzukommen. Danach handelt es sich auch hier um eine theoriegeleitete Programmuntersuchung. Zwecks experimenteller Realisierung des einer handlungsmi~igen Vomahme korrespondierenden Spannungssystems sowie zunehmender Spannungsakkumulierung erhalten die Vpn unlösbare bzw. schwer lösbare Aufgaben (Ring· und Blumenversuch). Aus detaillierten Einzelfallbeschreibungen des Verhaltens beim Versuch der Lösung der genannten Aufgaben lassen sich unterschiedliche Erscheinungsformen und Intensitliten des Ärgeraffekts isolieren. Der Aufstellung allgemeiner Gesetze über den Verlauf von Ärgerprozessen allerdings steht Dembo skeptisch gegenüber. Stattdessen gelingt es, den Ablauf der Ärgergeschehens aus der aktuellen Situation unter Berücksichtigung von Topologie und Feldkrliften herzuleiten. Als typisch gelten Situationen, in denen eine Innenbarriere ein angestrebtes Ziel absperrt, zudem eine Au~nbarriere den Bewegungsraum, insbesondere den aus der Situation heraus, einschränkt. Dieser Zustand gleicht einer Konfliktsituation, bestehend aus "Zielbemühungen, Abgesto~nwerden, Ansto~n an die Au~nbarriere, Zurückgeworfenwerden", begleitet vom Zustand stei-gender Spannung (S. 73). • Unter diesen Voraussetzungen baut sich Ärgeraffekt weiter auf. Zu den wichtigeren gerichteten Aktionen in dieser Phase zlihlen u.a. Aus-dem-Felde gehen in ein reales Sondergebiet oder auf die Irrealitätsebene, das irreale Erreichen des Zieles, z.B. nur in der Vorstellung sowie Ersatzhandlungen, die oft mit einer Änderung des Anspruchsniveaus verknüpft sind. Mit Ersatzhandlungen tritt erneut eine Handlungsform in den Vordergrund, die Lewin bereits 1926 klassifiziert hatte. Bemerkenswert sind Beschreibungen von Kämpfen zwischen Vp und VI. Es bietet sich an, hierin einen frühen, vielleicht sogar den Anfangspunkt der späteren sozialpsychologischen Ausrichtung Lewins zu sehen. Allerdings stehen interpersonale Interaktionen zu dieser Zeit noch im Zusammenhang mit Zerstörungen eines vorliegenden Kraftfeldes unter gleichzeitiger Entlastung von der gestellten Aufgabe. Die Wende zurück zu ihr bzw. zur eigentlichen Zielsituation wirkt steigernd auf den Affekt. Sein Ausbruch schlie~lich wird unvermeidlich, wenn kein günstiger Wandel der Situation eintritt und ein hinzutretendes Einzelgeschehen einen letzten Zusatzdruck ausübt. In der Folge kommt es zumeist zum "Durchbruch der inneren Spannung zur Motorik und einem Sprengen gewisser Barrieren im Umfeld" (S. 117). Mit dieser Durchbrechung funktionaler Grenzen geht also eine Änderung zwischen den Grenzen innerseelischer Systeme sowie zwischen diesen und der Umwelt einher. Dabei "vollzieht sich ein gewisser Ausgleich einer Spannungsdifferenz zwischen innerseelischen Systemen und dem psychischen Umfeld" (S. 108). Mithin findet die Vielfalt äu~rer Erscheinungen beim Ärgeraffekt eine einheitliche dynamische Basis, die von nur wenigen Faktoren getragen wird: die am situativen Konflikt beteiligten Kräfte führen zu Spannungserhöhung, der Lockerung von Grenzen und Spannungsausgleich folgen.
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Erweiterung des Anwendungsbereichs der theoretischen Sph/Jre: Programmuntersuchungen dritter Ordnung zu Erfolg/Mifkrfolg: Hoppe, Fajans II, Juclault Die Untersuchung von Dembo nimmt hier eine Schlüsselstellung ein, weil sie Phinomenbereiche anschneidet, insbesondere Ersatzhandlungen, Realitäts- und lrrealitätsschichten aber auch das Anspruchsniveau, die Gegenstand erst späterer Arbeiten werden. Löste schon Lewins Theorie der Vomahmehandlung molelrularere, am assoziationstheoretischen Paradigma anknüpfende Untersuchungseinheiten ab, rücken wiederum molarere Strukturen von Handlungen in den Mittelpunkt • begleitet von konzeptuellen Neuerungen wie insbesondere dem Anspruchsniveau, von dem Erfolg bzw. Mif}erfolg mitbedingt werden. Vermittelt über Klassen von Zielen, hängen letztere dynamisch mit Personmerkmalen zusammen. Deren Einführung zwingt allerdings nicht zu einer Änderung des Systemmodells von 1926. Dessen Flexibilität erlaubt, seinen Begriffiichkeiten die konzeptuellen Neuerungen zuzuordnen: so wird das Anspruchsniveau einem relativ gesonderten Spannungssystem koordiniert, übergreifende Zielstrukturen umfassenderen Spannungssystemen. Damit erfolgt gleichzeitig eine Übertragung der theoretisch spezifizierten Relationen auf die zugeordneten neugeschaffenen Konzepte. Insofern wäre weniger von einer Änderung der Theorie als von einer Etweiterung ihres Anwendungsbereichs zu sprechen. Untersuchungen, die in diesen fallen und zudem auf vorgängigen experimentellen Befunden forschungspragmatisch fundiert sind, werden zu ihrer Kenntlichmachung als Programmuntersuchungen dritter Ordnung bezeichnet. Abweichend von der Publikationschronologie besitzt die Dembosche Untersuchung eine Schlüsselstellung vor allem für die zuvor erschienene Untersuchung von Hoppe. In einer Anmerkung beifit es dort: "Einige der im folgenden erörterten Eigentümlichkeiten des Anspruchsniveaus und seiner Verschiebungen sind bereits in der in Kürze an gleicher Stelle erscheinenden Untersuchung von Dembo ••. zu Tage getreten" (Hoppe, 1931, S. 17). Bei Dembo wird in einer Anmerkung darauf hingewiesen, dap die Arbeit von Hoppe "im Anschlup an unsere Ergebnisse" entstanden sei. Dennoch erscheint gerade die Arbeit von Hoppe, mit der wir zu den restlichen elf Untersuchungen übergehen, nicht zuletzt deshalb Anregungen für weitere Experimente geliefert zu haben, weil dort das Konzept ErfolgMif}erfolg gegenüber dem der Sättigung beträchtlich an heuristischer Fruchtbarkeit gewinnt. Hoppes "Erfolg und Mif}erfolg" knüpft zunächst nach einem Hinweis auf die allgemeine Relevanz der Thematik an die Karstensehe Beobachtung an, dafl erfolgreiche Handlungen nicht immer mit Lust, sondern durchaus auch mit Unlust verbunden waren. Sie wurden nicht länger wiederholt, erschienen insoweit "psychisch" gesättigt. Um die "ziemlich komplizierte(n) Verhältnisse" nach Sättigung zu klären, werden zielbestimmte gröfkre Handlungsstrukturen ins Auge gefaflt, "für deren Verlauf Erfolgs- und Mif}erfolgserlebnisse von entscheidender Bedeutung waren" (1931, S. 8).
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Die heuristische Fruchtbarkeit der neu konzipierten Begriffe läfJt sich in der Untersuchung von Hoppe an einem breiten Spektrum von Handlungen bewähren. Vor allem zeigt sich, dafJ Erfolg und MifJerfolg vom Anspruchsniveau abhängig sind, in dem subjektive Zielsetzungen und Leistungserwartungen zusammenlaufen, die sich u.a. am AufgabeMiveau, d.h. dem Schwierigkeitsgrad einer Handlung orientieren. Ein zentrales Ergebnis bilden GesetzmäfJigkeiten des Verschiebens des Anspruchsniveaus - z.B. nach Erfolg Erhöhung, nach MifJerfolg Senkung oder aus dem Felde gehen. Voll verständlich werden diese allerdings erst dann, wenn, neben dem einem Anspruchsniveau entsprechenden Realziel, übergreifende Zielstrukturen, welche das Gesamtverhalt~n leiten, hinzugezogen werden. Diese sog. Idealziele sind weniger variabel als Realziele, können aber nach mehreren Erfolgen oder MifJerfolgeo dadurch einen höheren Realitätsgrad erlangen, dafJ sich ihnen die tatsächlich gezeigten Leistungen nähern oder davon entfernen. Auf dyoamisch-explikativer Ebene ist- wie oben gesagt -eine Einzelhandlung, die vom Spannungssystem ihres Anspruchsniveaus abhängt, in das umfassendere Spannungssystem des Idealzieles eingebettet. Um Verschiebungen des Anspruchsniveaus möglichst vollständig zu verstehen, sind darüber hinaus umfassendere Ziele der Person zu beachten, die mit derem Ich-Niveau, d.h. SelbstbewufJtsein, zusammenhängen. Dessen generelle Tendenz, möglichst hoch zu sein, lenkt - wenn auch indirekt - die Dynamik des Anspruchsniveaus in diese Richtung. Die Berücksichtigung interindividueller Unterschiede endlich offenbart, dafJ ein Individuum seine Leistungsfähigkeit sehr wohl zu kalkulieren weifJ und demgemäfJ eine Schwierigkeitszone einrichtet, iMerhalb deren überhaupt für das eigene Ich relevante Leistungen auftreten. An die fast einer Pilotstudie gleichkommenden Arbeit von Hoppe schliefJen die Untersuchungen von Fajans (1933b) und Jucknat (1938) unmittelbar an. Die Ausgangsfrage von Fajans, wie sich Erfolg und MifJerfolg bei Kindem unterschiedlichen Alters auswirken, drängt sich auf, nachdem Hoppe nur Ert\'achsene ausgewählt und dort enge Beziehungen zum SelbstbewufJtsein gefunden hatte. Zusammenfassend kann Fajans nach ihren an Säuglingen und Kleinkindem vorgenommenen Erhebungen festhalten, dafJ Erfolg sich in Alttivierung zu ausdauernderer Zuwendung, MifJerfolg sich in Passivierung, Einschüchterung bzw. Abnahme von Zuwendung äufJert, starke interindividuelle Differenzen vorliegen und schliefJiich aufJerhalb der Zone der eigenen Leistungsfähigkeit Erfolgs- bzw. MifJerfolgserlebnisse vorkommen. Die Arbeit von Jucknat ist mit denen von Hoppe und Fajans weiterführend in eine Reihe zu stellen, weil damit - auf Hoppe direkt Bezug nehmend - eine experimentelle Bedingung variiert wird, die vordem konstant gehalten wurde und überdies exaktere Quantifizierung ungleich stärkeres Gewicht erhält. Jucknat will die Hoppesehen Verschiebungsgesetze anband andersartiger nachfolgender Handlungen, d.h. Zielverschiebungen an verschiedeneo Handlungs formen, prüfen wobei Erfolg und MifJerfolg direkt durch Darbietung lösbarer bzw. unlösbarer Aufgaben kontrolliert und quantifiziert werden. Der Nachweis der
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Übertragung eines Anspruchsniveaus auf verschiedene Aufgabenreihen gelingt. Kausaldynamisch wird Übertragung äquivalent gesetzt einem Zusammenschlu~ verschiedener Handlun~bereiche zu einem Gesamtbereich, dem wiederum ein umfassenderes Spannungssystem entspricht.
'J7reoriegeleitete Programmuntersuchungen dritter Ordnung zu Ersatzhandlung,lrrealitiltsund Realitiltsschichten Wenn sich die einer handlungsmä~igen Vornahme entsprechende Spannung dynamisch durch Erreichung eines Handlungszieles zum Ausgleich bringen lä~t, hätte eine Theorie hierüber u.a. zu klären, welcher Art eine solche Handlung zu sein hat, d.h. welche Handlungstypen dafür in Betracht kommen und ob alle Handlungen im gleichen Ausma~ zu Spannungsreduktion führen. Diesen Problemkreis hat Lewin im Rahmen der Diskussion von Ersatzhandlungen zwar gelegentlich unter Hinweis auf Lösung innerer Spannung durch Ersatzerledigung (z.B. 1926, S. 349) angeschnitten, aber letztlich nur ldassifikatorisch und damit theoretisch unbefriedigend behandelt (1926, S. 365 ff). Noch auf dem Hamburger Kongre~ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie des Jahres 1931 stellt er fest, "(es) fehlt an einer dynamischen Theorie des Ersatzes" und unternimmt, mit der Theorieskizze "Ersatzhandlung und Ersatzbefriedigung" Abhilfe zu schaffen. Interessanterweise gleicht ihre Struktur der der "theoretischen Sphäre" von 1926. Einmal mehr werden nämlich Ergebnisseexperimenteller Untersuchungen, die teils wenig später teils erst nach Jahren als Publikation erscheinen- vgl. Dembo, 1931; Ussner, 1931; Mahler, 1933 und Sliosberg, 1934- in die theoretischen Ausführungen einbezogen. Deren Kern lä~ sich wie folgt umrei~n: ein. bestimmtes Ziel verursacht durch Induktion ein psychologisches Feld, welches wiederum anderen Dingen, die sich auf irgendeine Weise als Mittel zum Ziel eignen, einen "abgeleite-, ten" Aufforderungscharakter verleiht. Gleichzeitig verleiht das Feld auch dem Ziel ähnli-: eben Dingen einen entsprechenden Aufforderungscharakter, so da~ Ersatzziele entstehen. Auf der Dynamikebene innerseeliscfier Systeme entspricht die Aussonderung eines Ersatzzieles der Abspaltung eines Sondersystems, das mit dem urspünglichen "ein mehr oder weniger enges dynamisches Ganzes bildet" (Lewin, 1932, S. 384). Gleiches gilt für das Mittel bzw. die Handlung selbst. Ersatz ist demnach immer dann gegeben, wenn das jeweilige Surrogat aus dem System seines Originals ftie~t. In Ansehung der theoretischen Sphäre von 1926 stellt diese Ersatztheorie wiederum eine Erweiterung von deren Anwendungsbereich dar, indem einzelnen Begriffen der Theorie neue Konzepte zugeordnet werden, wie z.B. dem Term Sondersystem Ersatzziel und -handlung. Damit erfolgt zugleich eine Übertragung der vorgängig spezifizierten Relationen. Dieser theoretische Hintergrund allein reicht allerdings zur Ableitung der wesentlichen experimentellen Realisstionen der jetzt folgenden Arbeiten nicht hin. Verschiedentlich wird für darin angestellte Operationalisierungen auf Konzepte zurückgegriffen, welche im
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Rahmen anderer Experimente eingeführt wurden, z.B. Realitäts- und lrrealitätsschichten, worauf der Dembosche Prioritätsanspruch bereits vermerkt wurde. Da also auch im vorliegenden Zusammenhang bei der Fundierung von Experimenten theoretische und forschungspragmatische Faktoren zusammentlief'en, haben wir es wieder mit Programmuntersuchun· gen dritter Ordnung zu tun. Ussner (1933) konzentriert sich auf die Frage des Ersatzwertes einer Ersatzhandlung. Versuchstechnisch werden unerledigte Handlungen hergestellt, wobei die Störungshandlung gleichzeitig eine mögliche Ersatzhandlung darstellt. Die Ergebnisse zeigen, daf} Wiederaufnahme unterbleibt, sofern Grund- und Störungshandlung einander ähnlich sind. Ihr Ersatzwert ist abhängig "vom Grad der inhaltlichen Verwandtschaft" zwischen den beiden Handlungen sowie der Schwierigkeit einer Handlung (1933, S. 243). Unter sonst gleichen Bedingungen liefert eine schwierigere Handlung den gröf}eren Ersatzwert. Die Untersuchung von Mahler (1933) erfolgt - einer Anmerkung nach - im Anschluf} an die von Ussner. Speziell zielt sie auf den Ersatzwert von Handlungen, die nicht auf der Ebene realer Tatsachen, sondern auf der sog. lrrealitätsebene angesiedelt sind, auf der unbeschränktes Können möglich erscheint. Dynamisch ist diese Ebene gekennzeichnet durch ein flüssigeres und weicheres Medium als das der Realitätsebene. Folgerichtig werden Ersatzhandlungen mit verschiedenem Realitätsgrad hergestellt: Zauberdenken, Reden und Handeln. Versuchstechnisch greift man auf unterbrochene Handlungen zurück, die der Fragestellung gemäf} mit ErsatzbeeRdigungen unterschiedlichen Realitätsgrades abgeschlossen werden. Es ergibt sich, daf} Handeln einen höheren Ersatzwert hat als Reden. Jedoch ist zu beachten, ob das Ziel einer Grundhandlung mit der Ersatzerledigung erreicht wurde. Ist dies der Fall, tritt sehr viel häutiger Entspannung ein. Die aufgewiesenen Zusammenhänge gelten allerdings nicht unabhängig vom Aufgabentypus. So liefert etwa Zauberdenken für Problemaufgaben keine Entspannung, bleibt also ohne Ersatzwert. Verlangt eine Aufgabe das Lösen eines Problems in Verbindung mit dem Produzieren eines sichtbaren werkartigen Gebildes, besitzen weder Reden noch Denken Ersatzwert, sondem lediglich Handeln. Sliosberg (1934) rückt die Wirkung von Ersatz in die entwicklungspsychologische Perspektive. Da sich bekanntlich beim Kind die Trennung von Gedanke und Wirklichkeit, Realität und Irrealität, Ernst und Spiel erst allmählich ausbildet, fragt Sliosberg, ob und wie beim Kinde ein Gegenstand als Ersatz angenommen wird, der in Wirklichkeit jedoch vom • ursprünglichen Gegenstand völlig verschieden ist. Versuchstechnisch läf}t sich diese Pro· blemlage derart umsetzen, daf} ein Kind, nachdem es vom VI Schokolade erhalten und diese zu essen begonnen hat, gebeten wird, diese wieder wegzulegen und stattdessen ein Kinehen aus Pappe bekommt. Nach Variation des Typs der Situation, in der der Ersatzgegenstand offeriert wird, des Bedürfniszustandes des Kindes sowie Art des Gegenstandes stellt Sliosberg fest: während in sog. Ernstsituationen kein Ersatz auftritt, werden dieselben Ersatzob· jekte in Spielsituationen ohne weiteres als Ersatz akzeptiert. Als entscheidend für Ersetzbarkeil eines Gegenstandes erweist sich dessen Festgelegtheil und weniger die des ursprüngli·
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eben. Liegt aktuell ein starkes Bedürfnis vor, zeigt sich das ihm adäquate Objekt weitaus schwerer ersetzbar als nach Befriedigung des Bedürfnisses. Explikativ kommen kaum das Systemmodell, sondern vielmehr in der aktuellen Situation bestehende Feldkräfte unter Einbezug eines nach Realitätsgraden geschichteten Lebensraumes mit unterschiedlichen Differenzierungsgraden zur Anwendung. Dabei gilt die Spielsituation aus dynamischer Sicht als lockerer und flüssiger als die Ernstsituation, wodurch sie Ähnlichkeit mit irrealen Schichten erhält, die von Brown (1933) zum Gegenstand einer eigenen Untersuchung gemacht werden. Anknüpfungspunkte der eher grundsätzlich ausgerichteten Studie "Über die dynamischen Eigenschaften der Realitäts- und lrrealitätsschichten" von Brown sind einerseits Resultate von Hoppe bezüglich Real- und Idealziel sowie Dembo bezüglich des Realitätsgrades von Handlungen. Andererseits wird rekurriert auf die Lewinsehe Arbeit Zur psychologischen Siullltion von Lohn undStrafe (193lb}, in der Schichten der Person und Umwelt verschiedene Realitätsgrade erhalten. Brown interessiert vor allem die Frage, ob es zulässig i!lt, Irrealität auf der dynamischen Ebene als ein weicheres, flüssigeres Medium zu kenn· zeichnen und welche Konsequenzen sich daraus hinsichtlich eines gespannten Systems ergeben. Anband von Behaltensprüfungen nach verschiedenen Zeitabständen läflt sich zunächst eine geringere Bevorzugung realer Handlungen zeigen. Mit zunehmendem zeitlichen Abstand jedoch sinkt das Erinnern irrealer Handlungen stark ab. Brown meint, sowohl den Nachweis für schwerere Selbstentspannung bei höheren Realitätsgraden als auch für geringere dynamische Festigkeit irrealer Schichten erbracht zu haben.
Miszellen: die Untersuchungen von Voigt, Forerund Schwarz 1,11 Experimentelles Forschen mufl für Lewin ohne Zweifel auf einer Theorie fuj:\en. In der Forschungspraxis jedoch sieht Lewin die Gefahr, da~ sich die "Brücke zwischen dem theoretischen, abstrakten Ansatz und der konkreten Wirklichkeit des experimentellen Einzelfalles" nicht immer ganz schlagen läflt (Lewin, 1926a, S. 297). Um nun den Flufl der Forschungsarbeit nicht zu unterbrechen, kann deshalb erforderlich sein, beim Konkreten anzusetzen. Auch dabei "aber kommt es immer darauf an", die "Spannung zur Theorie und dem theoretischen Vorwärtsschreiten auch im Experimentieren in jedem Moment aufrechtzuerhalten •..• (Lewin, 1926a, S. 297). Unter den "Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie" tinden sich einige, in denen einerseits eine Fülle experimenteller Tatsachen vorhanden, deren "Spannung zur Theorie" von 1926 andererseits vergleichsweise schwach ausgeprägt ist. Faktenschaffendes Realisationsmittel der Arbeit von Voigt (1932) "Über die Richtungspräzision einer Fernhandlung", ist eine Lichtpistole, mit der sich verhältnismäj:\ig leicht Genauigkeit der Schiej:\richtung (Fehlerwinkel) und Treffergenauigkeit selbst über gröj:\ere Entfernungen in Abhängigkeit von der Struktur des Handlungsfeldes analysieren 105
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Jassen. Ein systematischer Anschtup des empirischen Materials an den Strang der bisherigen Arbeiten erfolgt nicht, was sich auch in den Uteraturhinweisen dokumentiert. Möglicherweise handelt es sich um eine Fragestellung, die mit Lewins wahrnehmungspsychologischen Arbeiten der Jahre 1923 und 1925 zusammenhängt. Dabei ist Lewinjeweils von konkreten, bislang weitgehend unerklärten Phänomenen ausgegangen, für die er einen Erklärungsansatz suchte (z.B. Aufrechtsehen eines auf dem Kopf stehenden Musters, 1923, sowie Mittelpunktsverschiebungenbeim Haploskopieren von kleinen Spielkarten, 1925). Weshalb die Arbeit von Voigt vor diesem Hintergrund dennoch in die "Untersuchungen zur Handlungsund Affektpsychologie" aufgenommen worden ist, wäre durch ergänzendes Sichten einschlägiger Quellen noch weiter zu klären. Die Arbeit von Forer (1934) stellt eine Art Nachfolgeuntersuchung zur Überlegenheit des Bebaltens sinnvoller gröperer Einheiten gegenüber kleineren dar. Ihre Datenerhebung folgt weitgehend der ganzheitlichen Methode des LesenJemens nach Decroly. In ihrem explikativen Teil, für den sich u.a. gestaltpsychologische Theoreme nutzbar machen lassen, wird Lewins Unterscheidung von Realität und Irrealität mittels Graden dynamischer Festigkeit in seinem Artikel im Handbuch von Murebison herangezogen. Ihre Anwendung auf das vorliegende Versuchsmaterial gelingt über die These, dap Bedeutung und Inhalt von Worten mehr oder weniger real sein kann. Einen einzigartigen Fall bildet offenbar die Untersuchung von Schwarz (1927; 1933) Ober RIJclcftJlligkeit bei UmgewiJhnung. Ihr Beginn reicht bis Ende 1923 zurück, ihr zweiter Teil erscheint 1933 "infolge verschiedener Umstände", wie es in einer Anmerkung heipt, sechs Jahre nach dem ersten. Der Erklärungsansatz dieser intensiven und extensiven Untersuchung unterscheidet sich kaum von dem anderer hinsichtlich der Berücksichtigung gestaltpsychologischer Theoreme, dynamischer Faktoren, Feldkräften, Quasibedürfnissen, Aufforderungscharakteren u.ä.m. Ihre Daten - zu deren Erhebung ein Apparat konstruiert wurde, in den durch einen Trichter eine per Hand eingeworfene Kugel läuft, die nach Hebeldruck unter einer Auslaufrinne mit der Hand wieder einzufangen ist und sich weiter zum Legen eines Musters verwenden läPt- zeichnen sich jedoch im Vergleich mit denen der anderen Arbeiten der Reihe durch Lebensfeme aus. Sie verweisen damit auf die erste Lewinsehe Forschungsphase bis Anfang der zwanziger Jahre, in der er mit sinnlosen Silben an einem mit dem Assoziationsgesetz konkurrieren,den Erklärungsansatz arbeitete (s. Brauns, 1990). Das ist wahrscheinlich ein Grund dafür, da~ Lewin diese Arbeit 1929 (S. 168) im Zusammenhang mit dem Einflu~ von Handlungsganzheilen auf fehlerhafte Teilhandlungen anführt. 1935, also bereits in den USA nach theoretischer Umakzentuierung in einer weiteren Forschungsphase begriffen, wird sie im Rahmen einer von ihm selbst entworfenen Systematik für die Berliner Untersuchungsreihe unter Verschiedenes eingereiht.
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Schlussbemerkung Zusammenfassend kann - nachdem alle zwanzig Untersuchungen des Berliner Experimentalprogramms angesprochen worden sind - hinsichtlich ihrer Geneseordnung festgestellt werden: die rein zeitliche Publikationschronologie bietet für das Zusammenspiel theoretischer und forschungspragmatischer Faktoren bei der Fundierung der Experimente lediglich äu~rliche Anhaltspunkte, die allerdings nicht völlig au~r acht bleiben dürfen, wie anband der Arbeiten von Dembo und Hoppe deutlich wird. Da Lewin selbst der Untersuchungsreihe eine Konzeption für experimentelle psychologische Forschung voranstellt, war diese zunächst in den Mittelpunkt zu rücken. In einer Art von Selbstanwendung wird sie als propulsives Prinzip dieser Darstellung aller Einzeluntersuchungen des Berliner Experimentalprogramms verwandt. Es lie~ sich zeigen, da~ sich die Untersuchungen insgesamt zu einem theoriegeleiteten Experimentalprogramm verbinden. Dabei ist ihre Theoriegeleitetheil im ei~iiieii-aanäch Zii sj:lezifiZieren, inWieweit ·Ünmittelbare Ableitung zentraler experimenteller Realisationen aus theoretischen Aussagen vorliegt. Das ist bei den Untersuchungen von Zeigarnik, Karsten, Ovsiankina, Birenbaum und Dembo der Fall. Werden neben einer derartigen theoretischen Fundierung eher forschungspragmatische Faktoren wie z.B. anderweitige experimentelle Befunde herangezogen, waren die entsprechenden Untersuchungen als theoriegeleitete Programmuntersuchungen zwei!«:r..Q~~!l.~~&~ kennzeichnen. Kommen bei der Fundierung von Experimenten theoretische Aussagen, die ihrerseits eine Erweiterung des Anwendungsbereichs der Theorie durch Zuordnung neuer Konzepte zum ursprünglichen theoretischen Korpus darstellen, mit anderweitigen experimentellen Resultaten zusammen, ist von Programmuntersuchungen ~-~~t~!_Q.:d.m!.ng die Rede. Au~rhalb unseres genetischen Ordnungsversuchs blieben schlie~lich jene Untersuchungen, deren wesentliche Realisationsmittel von der ursprünglichen theoretischen Sphäre kaum erfallt werden. Wenn sich das hier letztlich abzeichnende Gesamtbild nicht allein infolge der herausgehobenen forschungspragmatischen Faktoren etwas anders strukturiert als eine stärker von systematischen Aspekten ausgehende Zusammenfassung der Untersuchungsreihe, die Lewin 1935 in den USA vornimmt, dann dürfte das vor allem daran liegen, da~ er zu dieser Zeit wohl am Anfang einerumakzentuierenden theoretischen Orientierung steht. Kurz verdeutlichen lä~t sich diese Umakzentuierung durch Gegenüberstellung explikativer Basisaussagen: 1926 hatte Lewin formuliert, "allemal (sind) gewisse seelische Energien, die in der Regel auf einen Willens- oder Bedürfnisdruck zurückgehen, also gespannte seelische Systeme die notwendige Voraussetzung dafür, ob überhaupt das psychische Geschehen- auf welchem Wege immer- abläuft" (S. 311). Und wenig später: "die enge Verbindung" zwischen "Wahmehmungfeld und Geschehensablauf ... darf ... nicht vergessen lassen, da~ die den Geschehensablauf beherrschenden Kräfte wirkungslos bleiben resp. gar nicht auftreten,
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Horii·P~er BrtiUIIS
wenn keine seelischen Energien vorhanden sind, wenn keine Verbindung zu gespannten seelischen Systemen besteht, die das Geschehen in Gang halten" (S. 317). 1929 spricht l..ewin sogar von "der Wirkung der Vornahme auf das Entstehen gewisser realer seelischer Spannunguysteme" (S. 170) und interpretiert das von Zeigarnik nachgewiesene bessere Behalten unbeendeter Handlungen als Auswirkung "eines wirklichen Spannungssystems auch in anderer Richtung, z.B. auf dem Gebiet des Gedächtnisses" (S. 172). Es sei jedoch betont, daf' die theoretische Sphäre von 1926, von der hier auszugehen war, ontologische Implikationen oder gar Hypostasierungen nicht enthält. Die Grundbegriffe System, Spannung, Energie beipielsweise umschreiben keine reduktionistischen Vorgaben, sondern können nach Lewins Auffassung "als physikalische Analogien ..• häufig ohne Schaden zur Verdeutlichung herangezogen werden" (1926a, S. 313). Gemeint ist also ledig· lieh eine begriffliche Zuordnung von Psychischem zu Physischem, die l..ewin übrigens in einer Frühschrift aus dem Jahre 1911 (S. 85) vertritt, dort aber noch nicht niher bestimmt hat. 1935 erzeugt für Lewin die Frage, warum eine bestimmte Person (P) in einem bestimmten Zustand und in einer bestimmten Situation (E) genau dieses Verhalten (B) zeige, das Problem "to represent the behavior ( event ) as a function of the momentary total situation (B =f (PE))" (S. 241). Diese Allgemeinaussage schickt er seiner systematischen Zusammenfassung auch des Berliner Experimentalprogramms voraus. Die ins Amerikanische übersetzten Ausschnitte aus den theoretischen Vorarbeiten von 1926 indessen erschei· nen in einem separaten Kapitel -wobei der ursprünglich von l..ewin benutzte Begriff "Seele" sich zu "mind" wandelt- und stehen bis auf einen aus dem Original übernommenen Verweis ohne wechselseitige Bezugnahme neben den experimentellen Befunden (vergl. 1935, Kap. 2).
Dank der wohl in erster Linie für den amerikanischen Leser verfaf'ten Übersicht (Lewin, 1935) wissen wir auch von weiteren Berliner Arbeiten und ihren ersten Ergebnissen, die sich in Vorbereitung zur Publikation in der "Psychologischen Forschung" befinden. Sie werden dort aber nicht mehr erscheinen. Eine unheilvolle Geschichte hat den weiteren Ausbau des Berliner Experimentalprogramms verhindert.
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Lewin als Arbeitspsychologe Eberhard Ulich In der Einführung zum zweiten Band der Kurt-Lewin-Werkausgabe bemerkte Metraux, man könne in einem übertragenen Sinne von "drei Lewins" sprechen: "dem fast unbekannten; dem in einigen kleinen Kreisen recht gut bekannten; und dem vornehmlich in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit als bekannt angenommenen, jedoch trivialisierten Lewin" (Metraux, 1983, S. 12). Da die Beiträge von Kurt Lewin zur Arbeitspsychologie zwar grundlegend, im Sinne von Metraux aber entweder "fast unbekannt" oder allenfalls "in kleinen Kreisen" bekannt sind, wird Lewin als Arbeitspsychologe hier vergleichsweise ausführlich selbst zu Wort kommen. Dabei wird einerseits deutlich, dap sich Lewin schon sehr früh und über Jahrzehnte hinweg sporadisch immer wieder mit menschlicher Arbeitstätigkeit befasst hat. Andererseits wird aber auch erkennbar, dap ein früheres Aufnehmen seiner konzeptionellen, inhaltlichen und methodischen Anregungen der Arbeitspsychologie einen erheblichen Nutzen gebracht hätte. SchliePiich bestätigt sich auch in diesem Fall, "wie (zumindest) unrentabel es sein kann, ältere Fragestellungen von Rang zu übersehen" (Witte, 1976, S. 26). Lewin als Arbeitspsychologe: dazu finden sich im folgenden sechs Anmerkungen.
Die "verschollene" Untersuchung: Arbeit in der Landwirtschaft In seinem Buch über Leben und Werk von Kurt Lewin berichtet Marrow (1969) über eine frühe Arbeit, in der sich Kurt Lewin (1919) mit der Rolle des Landarbeiters beschäftigt habe. In der deutschen Ausgabe (Marrow, 1977) vermerkte der Übersetzer, diese Arbeit sei nicht nachweisbar. Tatsächlich ist sie in der Zeitschrift für angewandte Psychologie (Lewin, 1919) erschienen. Lewin hat darin die Arbeit in der Landwirtschaft mit der in der Fabrik verglichen und Unterschiede in bezug auf Arbeitsteilung und Spezialisierung hervorgehoben. Bei der Landarbeit werde der Mensch vollständiger beansprucht. Die Vielfalt der Anforderungen und der zu ihrer Bewältigung erforderlichen Arbeitsverfahren habe zur Folge, dap sie durch Eignungstests ungleich schwieriger zu erfassen seien als die für die arbeitsteilige Fabrikarbeit erforderlichen Fertigkeiten.
"Es erscheint daher angebracht, bei der Rationalisierung der Landwirtschaft auf dem umgekehrten Wege wie die Industrie vorzugehen: nämlich die psycho-physiologischen Rationalisierungsarbeiten zunächst auf eine Verbesserung der Betriebsmittel und -methoden einzustellen und eine Klärung der Frage der persönlichen Eignung nur als Nebenergebnis anzustreben" (Lewin, 1919, S. 401).
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Eberhord Ulich
Im übrigen sei dem Einsatz neuer Maschinen, vor allem aber der fortschreitenden Mechanisierung mehr Beachtung zu schenken. Dabei komme es auch auf die Entwicklung der Maschinen an und darauf, wie sie zu warten sind und wie sie muskelphysiologischen Anforderungen entsprechen. Auch die Beziehung des Werkzeugs zum Material, für dessen Bearbeitung es benutzt wird, sei bedeutsam. Die effizientesten Werkzeuge seien jene, die sowohl den Anforderungen und Bedürfnissen ihrer Benutzer als auch dem bearbeiteten Material entsprechen. SchlieJnich hat Lewin schon in dieser Arbeit ein methodisches Vorgehen zur Analyse von Tätigkeitsabläufen und Werkzeuggebrauch vorgeschlagen. Das hier skizzierte Vorgehen entspricht recht weitgehend dem Konzept eines partizipativen Beobachtungsinterviews. wie es heutzutage als unabdingbarer Bestandteil psychologischer Arbeits- bzw. Tätigkeitsanalysen gilt.
Die Sozialisierung des Taylorsystems: Arbeit in der Fabrik In der weitgehend in Vergessenheit geratenen Arbeit Die Sozialisierung des Taylorsystems - erschienen in der von Karl Korsch herausgegebenen Schriftenreihe Praktischer Sozialismus - beschäftigte sich Lewin (1920) mit der .~rage, "wie vom Standpunkt des gerechten Gemeinschaftslebens, vom Standpunkt des Sozialismus aus, zu den Methoden und Zielen der angewandten Psychologie prinzipiell Stellung zu nehmen ist" (S. 5). Im ersten Abschnitt dieser Arbeit weist Lewin darauf hin, die angewandte Psychologie könne sich "eben so gut der gesellschaftlichen Klassenstruktur einfügen wie dazu dienen, diese zu sprengen" (a.a.O.). Wie alle Technik, sei sie Mittel, das von sich aus keine Zwecke setzt. Im dritten Abschnitt über "Arbeit und Beruf als Produktion und als Konsumption" zeichnet Lewin zwei Gesichter der Arbeit. "Arbeit ist einmal Mühe, Last, Kraftaufwand. Wer nicht durch Renten oder Herrschaft oder Uebe versorgt ist, muss notgedrungen arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Arbeit ist unentbehrliche Voraussetzung zum Leben, aber sie ist selbst noch nicht wirkliches Leben. Sie ist nichts als ein Mittel, ein Ding ohne eigenen Lebenswert, das Gewicht bat nur, weil es die Möglichkeit zum Leben schafft, und zu bejahen ist nur, sofern es solche schafft .... Darum Arbeit so kurz und so bequem wie möglich! Also ökonomischste Gestaltung des Arbeitsprozesses. Aller Fortschritt in Arbeitsdingen gehe auf Erleichterung der Arbeitsmühe und Erhöhung ihrer Leistungsquote, sein Ziel sei möglichste Befreiung vom Zwang zur Arbeit durch Herabdrücken ihrer zeitlichen Ausdehnung und ihres Gewichtes den anderen Lebensdingen gegenüber auf ein Minimum ....
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Demgegenüber das andere Gesicht der Arbeit: Die Arbeit ist dem Menschen unentbehrlich in ganz anderem Sinne. Nicht weil die Notdurft des Lebens sie erzwingt, sondern weil das Leben ohne Arbeit hohl und halb ist .... Dieses Bedürfnis nach Arbeit •.. beruht nicht auf blof'er Gewohnheit zu arbeiten, sondern gründet sich auf den 'Lebenswert' der Arbeit .... Weil die Arbeit selbst Leben ist, darum will man auch alle Kräfte des Lebens an sie heranbringen und in ihr auswirken können. Darum will man die Arbeit reich und weit, vielgestaltig und nicht lcrüppelhaft beengt .... Sie hemme die persönliche Entwicklungsmöglichkeit nicht, sondern bringe sie zur vollen Entfaltung. Der Fortschritt der Arbeitsweise gehe also nicht auf möglichste Verkürzung der Arbeitszeit, sondern auf Steigerung des Lebenswertes der Arbeit, mache sie reicher und menschenwürdiger" (Lewin, 1920, S. 11 ff.). Im fünften Abschnitt mit der bemerkenswerten Überschrift" Dersozialistische Ausgleich bei der Psychologisierung der Arbeitsmethoden" wird die Überlegung, dafi die angewandte Psychologie von sich aus keine Ziele setze, noch einmal aufgenommen. Es komme also darauf an, ihr die "richtige Aufgabe" zuzuweisen und zu kontrollieren, ob sie dieser Zuweisung dann auch nachkommt (S. 18). Bei der Einführung von Veränderungen sei insbesondere darauf zu achten, dafi die psychotechnischen Verbesserungen sowohl die Produktivität als auch den Lebenswert der Arbeit erhöhen. In diesem Zusammenhang bezieht Lewin auch unzweideutig Stellung zum Taylorismus. "Es kommt vor, dafi eine bestimmte Veränderung der Arbeitsweise zwar eine wirtschaftliche Verbesserung bedeutet, aber zugleich eine Verschlechterung des Lebenswertes der Arbeit. Es ist hier vor allem an jene Ausgestaltung zu denken, die man mit dem Schlagwort 'Taylorismus' zu bezeichnen pflegt. Darunter versteht man rücksichtslose Ausbeutung des Einzelnen im Dienste der Produktion mit der Folge raschen Alterns, Aufpeitschen des Arbeiters zu intensivster Anspannung mit allen zu Gebote stehenden Mitteln, Entwürdigung der Arbeit durch ins Extrem getriebene Arbeitsteilung ohne Rücksicht auf die Seele des Arbeitenden, kurz einen 'Verbrauch' des Arbeiters im Dienste der Produktion gernäss den für Maschinen geltenden Abnutzungs- und Amortisationsberechnungen ...• Eine solche 'Verbesserung' ist schon rein volkswirtschaftlich als Rückschritt zu bewerten, als Raubbau, vorteilhaft allenfalls vom Standpunkt des einzelnen Unternehmers.... Der Taylorismus im angegebenen Sinne ist eine Methode, die sozialistisch auch dann nicht zu rechtfertigen ist, wenn an Stelle des individuellen Unternehmers die an einer hohen Produktion interessierte Gemeinschaft tritt ... " (Lewin, 1920, S. 17 f.).
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Lewin fordert darüber hinaus, auchjene wirtschaftlichen Verbesserungen zu unterlassen, die "den Konsumptionswert der Arbeit wesentlich herabdrücken", ohne zu medizinisch nachweisbaren Schädigungen zu führen. Für ihn ist klar, dafi die "Arbeitskonsumenten" darüber mitzubestimmen haben, "ob eine Veränderung des Arbeitsprozesses einzuführen ist oder nicht" (S. 19). In diesem Zusammenhang weist er auf das Mitbestimmungsrecht der Arbei· ter- bzw. Betriebsräte hin und darauf, dafi sich psychotechnisch begründete Veränderungen von Arbeitsprozessen selbst ohne derartige Sicherungen "nicht über den Kopf der Arbeiter hinweg oder gar gegen ihren Willen durchführen lassen" (a.a.O.). Da es im übrigen kaum oder doch nur in langfristiger Perspektive möglich sei, alle negativ bewertete Arbeit in Arbeit mit eigenem Lebenswert zu verwandeln, sei zu überlegen, ob man die unangenehme Arbeit gleichmässig verteilen oder einen Ausgleich durch kürzere Arbeitszeit schaffen könne. Hier finden sich Ansätze zu Überlegungen, wie sie viel später von Andre Gorz (1980) u.a. differenziert und ausformuliert wurden.
Schreiben auf der Schreibmaschine: Kontext und Übungsgrad In seinen Untersuchungen zur Handlungs- undAffektpsychologk hat Kurt Lewin (1926) auf zwei für die Beurteilung von Arbeitstätigkeiten eminent wichtige Sachverhalte hingewiesen, nämlich (1) auf die Kontextabhängigkeit von Sinngehalt und Bedeutung der der Aufgabenerfüllung dienenden Handlungen und (2) auf die Bedeutung des Geübtheilsgrades für deren Struktur. Als Modell für seine Überlegungen diente ihm das Schreibmaschineschreiben. Nur wenn man einen Text in Schönschrift abschreibe, sei das Schreiben selbst die intendierte Handlung. Beim Briefschreiben dagegen hätten die Schreibbewegungen • ähnlich wie die Mundbewegungen beim Sprechen· "blofl akzessorischen Charakter. Sie sind eingebettet in ein durchaus andersartiges Geschehen, z.B. in eine Überlegung, eine Wahl von Argumenten, oder besonderen Formulierungen" (S. 303). Die motorische Komponente stelle dabei "ein unselbständiges Moment" dar. "Entscheidend ist, dafi es mit der Einbettung der Handlung in die umfassendere Handlungsganzheit sinnlos wird, den betreffenden Schreibprozell als isolierten Vorgang aus sich heraus verstehen zu wollen. Er wird zum unselbständigen Moment eines Geschehens, das nur vom Ganzen her aufgeklärt werden kann" (a.a.O. ). Auch die unterschiedliche Geübtheil spielt in diesem Zusammenhang eine bedeutsame Rolle. SchliejJlich sei das Schreiben einer geübten Maschinenschreiberin nicht etwa ein gleichartiger, nur eben stärker geübter, Vorgang wie das Schreiben einer Anfängerin. Vielmehr handle es sich dabei um psychologisch ganz verschiedenartige Vorgänge.
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"Das Schreiben der Anfängerio stellt im wesentlichen ein Suchen nach den einzelnen Buchstaben dar. Ein derartiger Orientierungsproze~ lä~t sich üben. Man kann Übung im Suchen bekommen. Es wäre jedoch völlig verkehrt, die Handlungen der geübten Schreibmaschinistin als ein derartiges geübtes Suchen charakterisieren zu wollen. Gewiss mu~ auch sie die einzelnen Tasten anschlagen. Aber selbst wenn man daraus theoretisch folgern wollte, da~ immerhin irgendein Suchproze~ stattfinden müsse (in Wirklichkeit kennt die geübte Schreibmaschinistin ihre Maschine so gut, da~ sie nicht mehr zu suchen braucht), so ist dieser Vorgang hier jedenfalls zu einem völlig unselbständigen Moment in einem Gesamtgeschehen geworden, dessen Struktur von ganz anderen, hier nicht näher zu erörternden Fakten beherrscht wird. Diesen Gesamtproze~ kann man so wenig als ein Suchen charakterisieren, wie etwa das Schreiben der Anfängerio als ein Fingerheben" (L.ewin, 1926, S. 306 f.). Mit dieser Beschreibung hat L.ewin einen Sachverhalt skizziert, der rund fünf Jahrzehnte später in der sogenannten kognitiven Psychologie, der Softwareergonomie und der Arbeitspsychologie zum Gegenstand zahlreicher Diskussionen und Forschungsbemühungen wurde. Als besondere Erkenntnis wurde dabei häufig betont, da~ es nicht die Benutzerio bzw. den Benutzer eines Bildschirmsystems gebe, sondern dafi die Art des Umgangs mit dem Sildschirmsystem von der Art der Aufgabe und dem Übungsstand der Benutzer/innen abhängig sei. Eine Unterscheidung in "Novizen", erfahrene Benutzer/innen und/oder Experten/Expertionen wird inzwischen in vielen Untersuchungen vorgenommen; die resultierenden Ergebnisse gelangen indes über den Lewinsehen Erkenntnisstand von 1926 häufig kaum hinaus.
Anmerkungen zum Thenul Belastung und Beanspruchung Im Unterschied zu manchen neueren Arbeiten über Belastung, Beanspruchung und Strefi, in denen Monotonie als potentiell Strefi auslösender Zustand benannt wird, Unterscheidungen zwischen Monotonie, Sättigung, Vigilanz, Langeweile aber kaum differenziert beschrieben werden, hat l...ewin (1928) in seiner Arbeit Die Bedeutung der psychischen Silttigung fi1r einige Probleme der Psychotechnik eine - für konkrete Mafinahmen der Arbeitsgestaltung höchst relevante - differenzierte Analyse der Unterschiede zwischen Ermüdung, Monotonie und psychischer Sättigung vorgenommen. Auf fehlerhaftes Arbeiten und körperliche Ermüdung habe "der psychologische Sinn der Arbeit", der "auch bei identischer Leistung für den Arbeitenden sehr verschieden" sein kann, unmittelbare Wirkung (S. 185). Insbesondere für Sättigung gehe, dafi sie sich durch den "Übergang zu einer inhaltlich neuen Handlung so gut wie aufheben" lasse, auch wenn diese "mit denselben Muskeln ausgeführt wird" (S. 184). Im Unterschied zu Ermüdung und Monotonie sei für Sättigung charakteristisch "das Entstehen eines negativen Aufforderungscharakters, der von der Handlung wegtreibt" (a.a.O.). Von Monotonie hebe
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sich Sättigung zudem dadurch ab, dafi letztere vor allem bei Arbeitstätiglc:eiten auftrete, an denen das "Ich" der Person zentral beteiligt sei. SättigUng sei auch bei sehr abwechslunpreicher Arbeit möglich. Willkürliche Anstrengung mit dem Ziel, den Sättigungszustand zu überwinden, beschleunige den Sättigungsprozefi. ln Zusammenhang mit der Diskussion des Sättigungsphänomens wird in dieser Arbeit von Kurt Lewin bereits auch ein Prozefi beschrieben, den wir heute als "Burnout" bezeichnen. Dabei geht es um "die besondere Sättigungsempfindlichkeit ich-naher Beschäftigungen". "Gewisse pädagogische oder fürsorgerische Berufe z.B. führen auffallender Weise gerade dann, wenn sie ursprünglich von den Betreffenden wegen ihrer engen Beziehung zum Menschlichen und zur eigenen Person gewählt wurden, gar nicht selten zu einer besonders frühzeitigen Erschöpfung des Berufilwillens" (Lewin, 1928, S. 186). ln der gleichen Arbeit finden sich schliefilich auch differenzierte Hinweise auf die Notwendiglc:eit der Unterscheidung zwischen Oberflächenstruktur und Tiefenstruktur menschlicher Handlungen. Für Sittigunpprozesse etwa habe diese Unterscheidung zwischen Oberflächen- und Tiefenschichten menschlichen Handeins "unmittelbar reale Bedeutung".
Untersuchungen in der Textilindustrie: ArbeiJsonalysen mit arbeitsgeskllterischen Zielen Ein hervorragendes Beispiel für konzeptionell klar begründete, methodisch sorgtlltige und differenzierte Arbeitsuntersuchungen mit arbeitsgestalterischen Zielen lieferten Lewin & Rupp (1928) mit ihren Untersuchungen zur Textilindustrie. Die Verknüpfung theoretischer Konzepte mit einer quantitativen und qualitativen Analyse der Arbeitstätigkeit und der Mensch-Maschine-Interaktion sowie dem, auf den Ergebnissen der Analyse aufbauenden, Vorschlag für die Entwicklung eines Anlernverfahrens kann noch immer als vorbildlich bezeichnet werden. Weil die - vermutlich von Lewin eingebrachten - grundsätzlichen Überlegungen zur Durchführung von Arbeitsuntersuchungen auch heute höchst aktuell sind, sollen sie hier ausführlicher wiedergegeben werden. "Geht man an die Arbeitsaufnahme in der Absicht, die Arbeit eventuell umzugestalten, so wird man sich, wie überhaupt bei jedem tieferen Eindringen in den Arbeitsprozefi, nicht mit einer blofi äufieren Beschreibung begnügen können, sondern womöglich die wesentlichsten Eigenheiten ihrer Struktur, insbesondere auch ihres dynamischen Aufbaues mit erfassen müssen. Die Feststellung, was für Arten von Arbeitsprozessen als Teile innerhalb des ganzen Arbeitsvorganges vorkommen, genügt für eine solche Beschreibung durchaus nicht. Der Arbeitsprozefi stellt einen Gesamtgesche118
hensverlauf dar, ein Geschehensganzes von bestimmter Geschehensstruktur. Es ist also von ~ter Wichtigkeit, nicht nur festzustellen, was für Teilprozesse Oberhaupt vorkommen, sondern wie sie im ganzen gelagert sind. Zeigen doch die Ergebnisse der theoretischen Psychologie, da~. was ein solcher Arbeitsteil psychologisch für das betreffende Individuum bedeutet, primär abhängt von dem Handlungsganzen, in dem er als unselbständigerTeil auftritt" (S. Sl). "Wenn man den Arbeitsproze~ in seinen dynamischen Beziehungen adäquat erfas· sen will, so genOgt also nicht die Feststellung, welche Arten von Teilprozessen in dem Arbeitsgang vorkommen, wie häufig und mit welcher durchschnittlichen Dauer sie auftreten u.ä.m. Aber auch die Feststellung, wie sich die Handlungen der Arbeiterin in ihrem wirklichen zeitlichen Ablauf zum Gesamtproze~ zusammenfOgen, ist nicht ausreichend. Es genügt z.B. nicht zu konstatieren: Jetzt hat die Arbeiterin einen Faden geknOpft, das hat so und solange gedauert; dann ist sie zum nächsten gerissenen Faden gegangen und hat ihn gekniipft, das dauert so und solange; dann wiederum hat sie so und solange eine Strähne aufgelegt. Denn die Länge dieser Arbeiten kann nicht unabhängig davon sein, ob dieser Faden der einzige gerissene Faden ist, so da~ die Arbeiterin sich ruhig und frei fühlen kann, weil die Maschine im ganzen in Schwung ist, oder ob 213 der Spindeln mit gerissenen Fäden stehen und die Arbeiterin unter diesem ausgeprägten, aus der Situation kommenden Druck hastig zu arbeiten anfängt. Man wird nicht erwarten dOrfen, da~ in diesem Falle die GOte und Geschwindigkeit der Leistung die gleiche sein wird, und wird umgekehrt auch den einzelnen Zeitwert je nach der Gesamtsituation psychologisch verschieden zu werten haben. Es ist also gerade auch für die psychologische Analyse notwendig, Mensch und Maschine in ihrem spezifischen Zusammenwirken als dynamische Einheit zu betrach· 'ten, wobei die Maschine im wesentlichen die Rolle einer sich lebendig verändernden Situation hat, in die der Arbeiter nicht lediglich von au~n auf Grund von Vomahmen und Absichten selbstherrlich eingreift, sondern innerhalb der der Arbeiter steht, und von der aus Anreize und psychische Kräfte ausgeprägtester Art in bestimmter Rich· tung auf den Arbeiter einwirken" (Lewin & Rupp, 1928, S. 52). Es komme hinzu, da~ Ober die momentan gegebene Situation hinaus ein grö~rer zeitlicher Geschehensverlauf berücksichtigt werden müsse. Schlie~lich sei es etwa beim Fadenri~ keineswegs gleichgültig, ob es sich dabei um einen Strähn handelt, der besonders häufig rei~t oder um einen, der sich in dieser Hinsicht noch nie bemerkbar gemacht hat. Daraus resultiere z.B. die Frage, ob es für die beschäftigte Person zweckmä~ig sei, sich bei gleich· zeitigem Reissen mehrerer Strähne den häufig "auffallenden" jeweils zuerst zuzuwenden oder die bisher unauffälligen zuerst zu behandeln.
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"Ist zwischen verschiedenen momentan gleichennajkn in Frage kommenden Arbeiten zu wählen, so steht die Fülle der Möglichkeiten der Arbeiterin nicht als eine abstrakte Denkaufgabe gegenüber, sondern als ein konkretes Kriftefeld, das sie gleichzeitig nach verschiedenen Richtungen hinzieht, obschon sie doch immer nur eine Handlung tun kann" (Lewin & Rupp, 1928, S. 52). Für Lewin und Rupp ist klar, dafi • wie schon früher von Lewin betont • zur Erfassung solcher Verhaltenstendenzen quantitative Tätigkeitsablaufanalysen der Ergänzung durch Beobachtungsinterviews bedürfen. Ein Hinweis auf das allfällige Erfordernis von teilnehmenden Beobachtungen im Arbeitskontext findet sich in der im nächsten Abschnitt dieses Beitrages erwähnten Arbeit (Lewin, 1944).
Partizipation, Selbstregukltion und Aktionsforschung ln ihrem Bericht über Industrielle Demokratie wiesen Emery & Thorsrud (1982, 18 f.) darauf hin, dafi das norwegische Programm der Industriellen Demokratie an die Tradition anknüpfte, "die Kurt Lewin vor 1933 in Berlin begründet hat und die 1950-1960 in den USA am Institute for Social Research der University ofMichigan weiterentwickelt wurde". Allein aufgrunddieser Tatsache mufi das Ergebnis der Analyse von van Elleren (1990, S. 9, s. a. in diesem Band), Lewins emanzipatorische Perspektive habe sich in Amerika zu einer Perspek· tive mit starkem "pro-management bias" gewandelt, überraschen. Zwar spricht auch Lück (1990) vom "Amerikaner" Lewin, der vorbehaltlos sowohl für das amerikanische Verteidigungsministerium als auch beratend für die Industrie tätig geworden sei. "Das Ergebnis der Beratertätigkeit für die Industrie war jedoch nicht nur einfache Auftragsforschung, sondern ein sehr differenziertes System von Forschung, Anwendung und Training, das erst Jahrzehnte später in der Bundesrepublik unter der Bezeichnung Aktions- oder Handlungsforschung bekannt werden sollte... • (Lück, 1990, S. 9). Tatsächlich kann kaum überraschen, dafi die Möglichkeit, in einer industriellen Organisation • der Harwood Manufacturing Corporation - mitzuarbeiten, Lewin neue Perspektiven eröffnete. Wer sich jemals ernsthaft an Aktionsforschung beteiligen konnte, weifi dies aus eigenem Erleben. Nicht zuletzt sind es die dort gewonnenen Erfahrungen, die dazu führten, daf} das von Kurt Lewin gegründete Research Center for Group Dynamics am Massachusetts Institute of.Technology mit dem Londoner Tavistock Institute of Human Rekltions eine Partnerschaft einging, die in der Gründung der Zeitschrift Human Relations ihren Ausdruck fand (vgl. Marrow, 19n, S. 239 f.).lm ersten Jahrgang dieser Zeitschrift wurden denn auch Lewins Arbeiten Frontiers in Group Dynamics (1947) veröffentlicht (s. a. Back, in diesem Band).
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Lewill als Arbeitspsychologe
Die feldtheoretischen Ansätze Lewins und seine Überlegungen über die Notwendigkeit einer Aktionsforschung haben die Arbeiten des Tavistock-lnstituts ebenso nachhaltig geprägt wie manche Ansätze zu einer Humanisierung der Arbeit in westlichen lndustrieländem. Viele Sozialwissenschaftler, die an derartigen Konzepten mitgewirkt haben, scheinen sich über deren Herkunft allerdings kaum im klaren zu sein. Fs scheint auch wenig bekannt zu sein, da~ Lewin selbst während etwa acht Jahren mit der Harwood Manufacturing Corporation zusammenarbeitete und vor allem auch die in diesem Unternehmen von Bavelas und French durchgeführten Studien stimulierte und mit seinem Rat begleitete. Sein Biograph Marrow, der damals bei Harwood arbeitete, berichtet, wie sich so Lewins Konzepte einer Aktionsforschung in der Industrie entwickelten. "Diese Harwood-Studien sind geeignet zu illustrieren, wie die Methoden Lewins dazu beitrugen, die Aufmerksamkeit des industriellen Managements von mechanisch-technischen Verfahren auf sozialpsychologische Begriffe zu lenken. Das gro~ Interesse, das in den letzten Jahren der Humanisierung der industriellen Arbeitswelt entgegengebracht wurde, geht in gro~m Masse darauf zurück, da~ Lewin so viel Nachdruck auf die Dynamik von Arbeitsgruppen legte" (Marrow, 1977, S. 175). Für Lewins Beiträge zur Erforschung industrieller Gruppenarbeit ist eine Erkenntnis grundlegend, die bis heute - auch innerhalb der Arbeits- und Organisationspsychologie - keineswegs genügend reflektiert wird. Nach Lewin (1944; 1982, S. 230) weist nämlich "die Tatsache, da~ eine Fabrik Monate hindurch in der Produktion nur geringfügig schwankt, auf ein wichtiges theoretisches Problem hin". Die Erklärung, da~ "gr~e soziale Einheiten von einer Menge starker Faktoren beeinflu~t werden", die auch grössere Schwankungen ausgleichen, sei keineswegs genügend. Vielmehr sei die Stetigkeit der Produktion das Ergebnis von Prozessen der Selbstregulation. Selbstregulierende Prozesse führten aber nicht nur zu einem Gleichgewicht des individuellen Organismus, sondern seien auch für "natürliche Gruppen" charakteristisch. "Die Kräftekonstellation, die das Gruppenleben auf einem bestimmten quasistationären Gleichgewicht hält ..., kann, anders gesagt, dieses Niveau trotz Störungen aufrechterhalten" (Lewin, 1982, S. 230). Im übrigen gelte für das Experimentieren mit natürlichen Gruppen, da~ eine "Einmischung in die Ziele der Organisation" nicht erlaubt sei (Lewin, 1982, S. 231). Nur durch eine aktive Mitarbeit der Organisation könne der Forscher die Legitimation gewinnen, experimentelle Veränderungen durchzuflihren. Aufgrund eigener erfolgreicher Zusammenarbeit mit der Harwood Manufacturing Corporation (vgl. dazu Marrow, 1977) gelang es Lewin, das Management dieses Unternehmens für die Durchführung einer Reihe von Studien über industrielle Gruppen zu gewinnen, deren Durchführung von Bavelas übernommen wurde. ln einer der Studien sollte die von Lewin formulierte Hypothese geprüft werden, Motivation allein genüge nicht, um Verände-
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rungen zu bewirken. Vielmehr bedürfe es eines Bindegliedes zwischen Motivation und Handlung. Das ausschlaggebende Bindeglied sei die gemeinsame Entscheidung über die Veriinderung. •Das scheint wenigstens teilweise eine Erkläruttg für die sonst paradoxe Tatsache abzugeben, da~ der Entscheidungsvorgang von nur wenigen Minuten Dauer in der Lage ist, das Verhalten auf viele Monate hinaus zu beeinflussen. Die Entscheidung verbindet die Motivation mit der Handlung, und sie scheint gleichzeitig eine Verfestigungswirkung auszuüben, die teils durch die Tendenz des Individuums, zu 'seinen Entscheidungen zu stehen', und teils durch das 'Bekenntnis zur Gruppe' bedingt ist" (Lewin, 1982, S. 282 f.). Allerdings sei es nicht korrekt, die Dauerhaftigkeit der Veränderung ausschlie~lich dem Verfestigungseffekt der Entscheidung zuzuschreiben. "Umstrukturierungen des sozialen Feldes" seien dabei ebenso zu bedenken wie die "Kanalisierung sozialer Prozesse" (a.a.O.). Die von Lewin angeregten und zunächst von Bavelas, spiter dann von French bei Harwood durchgeführten Experimente sind in der Uteratur vielfach beschrieben bzw. zitiert worden. Einen knappen und gut nachvollziehbaren Einblick vermittelt die Darstellung von
Marrow. "Bavelas begann damit, da~ er mehrmals wöchentlich Treffen von 30 Minuten Dauer mit einer kleinen Gruppe von Arbeitern abhielt, die hohe Produktionsleistungen erzielten. Die Atmosphäre war informell und zwanglos. Jedermann wurde ermutigt, die Schwierigkeiten zu diskutieren, die er für den Fall voraussah, da~ die Gruppe den Wunsch haben sollte, die Tagesproduktion zu erhöhen .•• Die Gruppe wurde dann aufgefordert, über die Frage abzustimmen, ob sie ihre eigene tägliche Leistung steigern wolle. Jeder Arbeiter entschied für sich selbst, aber dies innerhalb des verstärkenden Kontextes des Gruppenrahmens. Die Gruppe entschied sich, diese Leistung von dem zuvor schon hohen Stand von 75 Einheiten auf 87 Einheiten auszudehnen, ein Niveau, das niemals zuvor erreicht worden war. Sie entschied, das Ziel innerhalb von fünfTagen zu erreichen- und erreichte es. Später erhöhte die Gruppe ihr Ziel auf 90 Einheiten, erreichte es, und behielt es spiter für die Dauer von 5 Monaten bei, während der die anderen Gruppen in der Fabrik keine signifikante Leistungssteigerung erkennen Iiessen" (Marrow, 1977, S. 167 f.). Bavelas prüfte dann die von l..ewin geäu~rte Vermutung, da~ das Ergebnis einer Gruppendiskussion nicht die gleiche Wirkung habe wie das einer Gruppenentscheidung. Zu diesem Zweck führte er im gleichen Unternehmen mit zwei Gruppen qualifizierter Arbeiter eine Reihe von Diskussionen über die Frage, wie die Produktivität verbessert werden könne,
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durch. Daraus resultierte nur eine geringfügige Leistungsverbesserung. "Dies schien zu bestätigen, dafl die Bedingung, die der Handlung vorausgehen muss, die Entscheidung ist, und dafl die Diskussion alleine nicht genügt" (Marrow, 1977, S. 168). Die Tatsache, dafl die Hypothese Lewins über die Entscheidung als Bindeglied zwischen Motivation und Handlung keineswegs nur bei industriellen Produktionsleistungen sondern auch bei Ernihrungsgewohnheiten untersucht wurde, deutet eher auf ein grundsätzliches Interesse an Prozessen der Selbstregulation und Partizipation in Gruppen hin als auf einen 'pro-management bias'. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch Lewins erweiterte methodologische Position. Für das Studium natürlicher Gruppen könne die Psychologie von der Kulturanthropologie viel lernen. "Allmählich geben wir die Idee auf, dap die Antwort auf einem Fragebogen oder in einem Interview der Ausdruck für Tatsachen ist. Langsam lernen wir sie als Reaktionen auf Situationen aufzufassen, die teils durch die Frage, teils durch die allgemeine Situation dieses Individuums bestimmt werden" (Lewin, 1982, S. 227). Deshalb müsse man lernen, Fragebogen eher wie projektive Verfahren zu handhab4;n. Schliefllich seien soziale Probleme am besten zu verstehen, wenn man schon die Analyse gemeinsam mit denen durchflihre, deren Probleme Gegenstand der Analyse seien. In diesem Sinne ist auch jenes Vorgehen der Aktionsforschung, das "Betroffene zu Beteiligten" machen will und davon ausgeht, dafl nur so Problemlösung und Erkenntnisfortschritt gieichzeitig erreicht werden können, durch die Arbeiten von Kurt Lewin begründet worden. Manche "Aktionsforscher" scheinen sich allerdings über ihre methodische Konzeption weit weniger Gedanken zu machen, als Lewin dies getan hat. Seine Forderung nach einer "wirklichen Theorie des Betragens und des lnterviewens, die mehr bietet als ein paar technische Regeln" deutet an, worum es hier geht.
Ergibrzende Anmerlcungen Neben den hier erwähnten Publikationen tinden sich auch in anderen Arbeiten von Kurt Lewin und seinen Schülerinnen und Schülern bemerkenswerte Beiträge zur Arbeitspsychologie, die als solche kaum erkannt oder nur ungenügend fruchtbar gemacht wurden. So wies Georges Friedmann (1959, S. 67) darauf hin, dafl die unter dem Einfluss von Lewin entstandenen Untersuchungen über unvollendete Handlungen "von den Industriepsychologen kaum beachtet wurden, obwohl sie unserer Ansicht nach von entscheideoder Bedeutung für das Studium menschlicher Arbeit sind ...".
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Ähnliches gilt für das von Lew in entwickelte Konzept des Anspruchsniveaus und dessen Veränderung nach psychologischem Erfolg bzw. MijJerfolg. Ungenügend beachtet blieb auch die Tatsache, daß Argyris (1964) das für seine Theorie zentrale Konzept des psychologischen Erfolgs von Lewin übernommen hat (vgl. Greif, 1983). Häufiger erwähnt wird hingegen die Tatsache, daß die Grundelemente des, im Rahmen der Motivationsdiskussion auch in neuererZeitviel beachteten, Erwartungs-mal-Wert-Modells von Lewin (1938)- und Totman (1932)- entwickelt wurden. Für Anliegen der Arbeitsgestaltung kaum beachtet wurde wiederum die Annahme Lewins, daß die Stärke der Valenz mit zunehmender psychologischer Distanz zum Ziel abnimmt. Implizit kommt dieser Annahme in den neueren, arbeitspsychologisch begründeten Gestaltungskonzepten allerdings eine erhebliche Bedeutung zu. Damit wird deutlich: eine sorgfältige Aufarbeitung des Werkes von Kurt Lew in aus arbeitspsychologischer Perspektive läßt noch manche Anregung erwarten. Und: obwohl Lewinsich nur sporadisch explizit mit Arbeitspsychologie beschäftigt hat, hätte eine sorgfaltige Kenntnisnahme seiner diesbezüglichen Arbeiten uns mancherlei Umwege erspart. Schließlich: faszinierend sich vorzustellen, wie die Arbeitspsychologie sich entwickelt hätte, wc:nn Lewin sich ihr vollumfänglich zugewandt und sich selbst als Arbeitspsychologe verstanden hätte.
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Lewin als Arbeilspsyclrolop
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Sozialpolitische Konzeptionen in Lewins Arbeitspsychologie Mel von Elteren ln modernen Industriegesellschaften - gleich welcher wirtschaftlichen und politischen Richtung, versuchen alle Unternehmensstrategien und Führungutile auf die Bedeutung und den Wert der Arbeit sowie die Einstellung der Arbeitnehmer zu ihrer Arbeit, Einflu~ zu nehmen. Dies geschieht über die Vereinbarung von Arbeitsbedingungen in Arbeitsverträgen, durch Festlegung von Arbeits- und Organisationsabläufen, durch Aufsichtssysteme und Arbeitnehmervertretungen. ln diesem Zusammenhang bilden die psychosozialen Arbeitswissenschaften eine weitere wichtige Einftu~gröfie, insbesondere weil sie spezielle lntetpretationsansitze und damit verbundene Praktiken anbieten (Rose, 1988). Dieses Kapitel konzentriert sich auf die spezielle Variante der Arbeitspsychologie, welche Kurt Lewin zu Beginn der 20er Jahre in Deutschland zu entwickeln begonnen hat und zu welcher er wiederum in den späten 30em während seiner amerikanischen Industrieuntersuchungen zurückkehrte. Die Hauptfragen, die zur Behandlung anstehen, sind diese: 1. Enthilt Lewins Ansatz einen angemessenen theoretischen Rahmen für die Analyse der Problematik des Arbeitsprozesses? 2. Diente der Ansatz vorwiegend den Interessen des Managements? Es wird zunächst ein Überblick über Lewins Arbeiten in diesem Feld gegeben - sowohl aus seiner Berliner Zeit als auch aus seinen Jahren in Amerika. Eine kritische Betrachtung seiner Aktionsforschung soll folgen. Zusätzlich sollen Verbesserungen des Lewinsehen Ansatzes überlegt werden. Lewins frOhe Arbeiten zur Angewandlen Psychologie
John, Eckardt & Hiebsch (1989) haben einen kurzen, aber aufschlu~reichen Überblick über Lewins Arbeiten im Bereich der sogewandten Sozialpsychologie während seiner Berliner Jahre gegeben. Zunächst beschäftigen sie sich mit dem Aufsatz Die Sozialisierung des Taylorsystems, mit dem Untertitel "Eine grundsitzliehe Untersuchung zur Arbeits- und Beru&psychologie" (Lewin, 1920); diesen AufSatz schrieb Lewin kurz nach dem Scheitern der Revolution in Deutschland. (Der Haupttitel ist insofern irreführend, als die Anwendung der Psychologie insbesondere auf die Verbesserung der Arbeitsgestaltung und der Personalauslese erörtert wird und weniger der Taylorismus.) Er wurde 1920 als Band 4 in der Reihe Praktischer Sozialismus von Lewins Freund herausgegeben, dem Marxistischen Philosophen Karl Korsch, der diese Reihe ausdrücklich als einen Beitrag zur Aufklärung in der Tradition der englischen Fabian Society betrachtete (Buckmiller, 1973). Lewins Aufsatz pa~te thematisch recht gut in die Reihe, welche sich mit Fragen der Sozialisierung, der
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Berufslenkung und der Begabungsförderung befa~te, die auch eine bedeutsame Roll~ im politischen Denken des Herausgebers spielten (Korsch, 1980, Bd. 1, S. 510). Dies war also die besondere politische, wirtschaftliche und ideengeschichtliche Tradition, in welche sich Lewins Aufsatz einfügte. In der Weimarer Republik gab es heftige öffentliche Kontroversen über die Verfahren zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität wie sie die Psychotechnik und der Taylorismus entworfen hatten. Zudem gab es verschiedene politische Diskussionen über Demokratie und gesellschaftlichen Wandel, an denen Lewin starken Anteil nahm (Marrow, 1969, S. 1St). Tatsichlieh enthält dieser Aufsatz Lewins politischen Standpunkt in der öffentlichen Auseinandersetzung. In dieser Zeit war er - was seine sozialpolitischen Ideen anbelangte - ein entschiedener Anhänger der Unken; darin war er wesentlich beeinflu~t durch Karl Korsch (G.taumann, 1982, S. 95; van Elteren, 1989, 1990a) und durch die damaligen linken Sozialdemokraten. In DU! SoziolisU!rung de:s Taylor:sy:stem:s benutzt Lewin Begriffe, die eindeutig im politisch-ökonomischen Denken vetwurzelt sind, besonders Begriffe wie" Konsum" und "Produktion" von Arbeit sowie "Sozialisation". In diesem Zusammenhang verweist er ausdrücklich auf den ersten Band der genannten Reihe, nämlich Karl Korschs Aufsatz mit dem programmatischen Titel Wa:s hei~t SozißlisU!rung? (Korsch, 1919).1n seiner Definition des Begriffs "Sozialisation" betont Korsch die Gleichwertigkeit von Produktion und Konsum als ein zentrales Problem der sozialistischen Wirtschaftstheorie. Als gutes Beispiel eines Übergangs von einer kapitalistischen Privatwirtschaft zu einer sozialistischen Gemeinwirtschaft erschien ihm die Sozialisierung von einzelnen lndustrieunternehmen, die genossenschaftlich von den Arbeitern selbst geleitet werden - wie etwa Carl- Zeiss in Jena. Er wandte sich jedoch ausdrücklich gegen eine unmittelbare Enteignung, wie sie der Spartakusbund verlangte (Korsch, 1919; John, 1986). Lewin vertrat die Auffassung, das Urteil der Arbeitnehmer selbst sollte berücksichtigt werden; sie sollten nicht nur einfache Untersuchungsobjekte sein wie im Taylorismus, sondern als Selbstbeobachter dienen (Lewin, 1920). Lewin befütwortete einen revolutionären Wandel in der Gesellschaft, der zum demokratischen Sozialismus führen sollte. Er dachte an eine Arbeitnehmerbeteiligung an wissenschaftlichen Untersuchungen und an die stärkere Beteiligung von Arbeiterrliten. Die wesentliche Aufgabe der Psychotechnik, die bis dahin vernachlässigt worden sei, sollte die Steigerung des "Konsumwerts" der Arbeit sein. Er betonte gleichzeitig die Notwendigkeit, die Arbeitsproduktivität und den Wert der Arbeit für das Leben zu erhöhen. Schon während der Produktion sollte man die Konsumbedürfnisse berücksichtigen. Um diese Ziele zu vetwirklichen, sollte man sich von dem einfachen sozialpolitischen Denken abwenden und dem sozialistischen Denken zuwenden (Lewin, 1920). Nach Marrows unpolitischer Beurteilung dieses Teils von Lewins Biographie sei dieser so optimistisch gewesen anzunehmen, die Psychologie könne dazu beitragen, "die konträren Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, Vorarbeitern und Arbeitern, Management und Fabrikarbeitern auszugleichen" (Marrow, 1977, S. 29). Es bedarfwohl
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Sozialpolilische Konzeptwnen in Lewins Arbeitspsychologie
keiner Erläuterung, da~ diese Zusammenfassung den Vorstellungen Lewins überhaupt nicht gerecht wird. Lewin betonte die zentrale Rolle der Arbeit im Leben: Arbeit habe "Lebenswen", der Sinn der gesamten menschlichen Existenz beruhe auf der Arbeitsfähigkeit des Menschen. Jede Arbeit solle den "Lebenswen" erhalten oder sogar steigern. Deshalb äu~ne sich Lewin recht kritisch über Monotonie und die weitgehende Spezialisierung, wie sie die moderne Technik und die übliche Arbeitsteilung mit dem Ziel der Leistungssteigerung mit sich brächten. Immer wenn man neue Arbeitsverfahren einführe, solle man auf die Anreicherung und Humanisierung der Arbeit achten und dabei die Bedürfnisse der Arbeiter in Betracht ziehen. Die Arbeiter selbst sollten die Gelegenheit haben, ihre Interessen wahrzunehmen, um Veränderungen bei der Arbeit zu verhindern, welche geignet wären, den Lebenswert ihrer Arbeit zu mindern. (Deshalb sei der Taylorismus selbst unter sozialisti~en Randbedingungen nicht zu rechtfertigen.) Wenn der Psychologe sich der Zusammenarbeit mit beiden Tarifpartnern versichern könnte, könnten Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammen lernen, den Lebenswen der Arbeit zu erhöhen, ohne die Kontin~ität der Produktion zu unterbrechen. Wegen seines politischen Inhalts wurde Lewins Aufsatz zuerst nur au~rhalb der Grenzen der akademischen Psychologie beachtet. Dies erkennt man an Rezensionen aus den 20er Jahren, welche sich vorzugsweise auf die Begriffe "Sozialisierung" und "Gesellschaftliche Konsequenzen des Taylorsystems" beziehen. Diesen Rezensionen kann man auch entnehmen, daß Lewins Aufsatz sehr unterschiedlich aufgenommen und bewertet wurde. Er ließ sich als ein Versuch der verstärkten Rationalisierung durch psychotechnische Methoden deuten - in Übereinstimmung mit dem Ziel der großen Industrieunternehmen in der Weimarer Republik der 20er Jahre; weiterhin konnte sein Schwerpunkt bei den sozialen Gesichtspunkten gesehen werden - im Sinne der sozialpolitischen Gedanken der sozialdemokratischen Partei. Nach John (1986) kann man den Aufsatz auch als Entwurf werten, der die Entwicklung einer marxistisch orientierten Arbeitspsychologie vorbereitet und dessen Wirkung zu dieser Zeit nicht allein auf Deutschland beschränkt ist. Dies mag man bestätigt sehen durch die Übersetzung ins Russische in der Mitte der 20er Jahre, als die Sowjetunion noch für fonschrittliehe Ideen der westlichen Sozialwissenschaften offen war, sowie durch die spätere Wiederbelebung dieser Ideen in der nach Humanisierung der Arbeit strebenden Psychologie (Hacker, 1978; s.a. Ulich, dieser Band).ln der angewandten Psychologie der 20er Jahre fanden Lewins Ideen freilich keine Berücksichtigung, da die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland hierfür sich recht ungünstig entwickelten. In den späten 20er Jahren sprach man dafür von einer "Krise der Psychotechnik." Lewins Ideen aus Die Sozialisierung des Taylorsystems bildeten allerdings den Hintergrund seines sozialen und ganzheitlichen Ansatzes für seine angewandt-psychologischen Untersuchungen. Bereits 1917 veröffentlichten Lewin und der damals einflußreiche Industriepsychologe Otto Upmann einen gemeinsamen Artikel über die beruflichen Fähig129
keiten von Schriftsetzern, welche die Ergebnisse einer Untersuchung von Lipmann zusammenfaiite, an der sich auch Lewin beteiligt hatte, soweit es ihm sein Kriegsdienst damals gestattete (Lewin & Upmann, 1917). Ein Jahr später veröffentlichte Upmann eine ausgearbeitete Darstellung dieser Untersuchung und ihrer Ergebnisse (Upmann, 1918). Es ist hier bedeutsam festzuhalten, dali bei diesen Versuchen einer angemessene Prüfung von berutlicher Fähigkeit schon die methodischen Elemente zu erkennen sind, welche sich später in Lewins Arbeit zeigen sollten. DcrA~.Sili!PPU~kt für die Prüfung der Fähigkeit zur Bedie· nung der Setzmaschine war, dali Experten unter den Schriftsetzern "Gesamtimpulse" ent· wickelt hatten, welche sie instand setzten, zunächst ganze Wörter und dann ganze Sitze zu konzipieren, anstatt Wahrnehmungseinheiten aus einzelnen Komponenten zusammenfügen und diese so einzeln auf die Maschine zu übertragen. Darin kann man einen frühen Entwurf des gestaltpsychologischen Ansatzes von Handlungsmustern sehen wie Lewin sie später in seinem Aufsatz Vorsatz, Wille und Bed/Jrfnis (Lewin, 1926) ausarbeiten sollte. In diesem Aufsatz erwähnt Lewin auch das gleiche Beispiel von erfahrenen und unerfahrenen Webern. Das ist auch ein erstes Beispiel wie Lewin Befunde aus der psychotechnischen Forschung zur Entwicklung eines allgemeinen theoretischen Rahmens für seine experimentellen Untersuchungen benutzt. Noch eingehender versucht sich Lewin mit arbeitspsychologischen Problemen in seiner Studie über den Landarbeiter zu beschäftigen (Lewin, 1919). Im Vergleich mit der Arbeit in der Industrie ist die Feldarbeit weniger spezialisiert und weniger festgelegt. In der Landwirtschaft ist die gesamte Person gefordert. Die benötigten Fähigkeiten können nicht so leicht mit Eignungstests erfalit werden wie die Fertigkeiten des Industriearbeiters. Lewin richtete seine Aufmerksamkeit auch auf mögliche Verbesserungen von Werkzeugen und Arbeitsverfahren. Wenn neue Landwirtschaftmaschinen eingeführt werden und die biuerli· che Arbeit weiter mechanisiert wird, sollte man sich um die bestmögliche Arbeitsgestaltung bemühen, wobei die psychologischen Eigenschaften (Möglichkeiten und Grenzen) des Arbeiters zu berücksichtigen sind. Bevor also noch Lewin seinen Aufsatz über die Soziali· sierung des Taylorsystems schrieb, hatte er praktische Erfahrungen auf dem Gebiet der augewandten Psychologie und hatte dazu auch eine Veröffentlichung vorgelegt. In den 20er Jahren sollte er seine praxisorientierten Forschungen fortsetzen • zusätzlich zu seinen umfingliehen theoretischen und experimentellen Arbeiten. Von 1923 bis 1925 beteiligte sich Lewin an zwei umfangreichen Industrieuntersuchungen und zwar in einer Tapetenfabrik in Berlin und in einer Weberei in Schlesien (Lewin, 1923; Lewin & Rupp, 1928; Lewin, 1928). In diesen Untersuchungen wandte er sich praktischen Problemen am Arbeitsplatz zu. In dem ersten Artikel beschäftigte er sich vorzugsweise mit Fragen der Wahrnehmungspsychologie, aber in den anderen Artikeln setzte er sich eingehend mit den Begriffen der Sättigung, des Handlungsraumes und der psychischen Kräfte auseinander. Dabei ergibt sich eine unmittelbare Verbindung zu seinen späteren Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie. Er betrachtete nicht nur 130
Sozilllpolitische KOIIZepli(men in Lewin.r Arbe~
die subjektiven inneren Zustände der Arbeiter, sondern auch die Arbeitssituation in ihren weitergehenden sozialen Zusammenhingen. Zum Beispiel bezeichnete Lcwin Lohnerhöhungen und nicht nur Produktionssteigerungen als wichtiges Erfolgskriterium psychologischer Bemühungen. Es entspricht Lewins (1920) programmatischen Absichten, wenn man in diesen Forschungen das Anliegen hervorhebt, die Arbeit angenehmer zu gestalten, d.h. die Aufgabe zu vereinfachen, um dem Arbeiter zu ermöglichen, sie leichter zu bewältigen; das ist ein eindeutiger Versuch, der subjektiven Erfahrung von Arbeitern Rechnung zu tragen und demokratische Verfahren der Berufsauslese zu finden. Obwohl diese Untersuchungen sehr arbeitnehmerfreundlich sind, werden Arbeitnehmervertreter weder in den Betrieben noch in den politischen Organisationen (wie etwa in Arbeiterriten oder Gewerkschaften) an diesen Untersuchungen beteiligt; auch wird Konsum und Produktion nicht aus übergreifenden gesellschaftlichen Perspektive betrachtet wie in Lewins Entwurfvon 1920. Wie l..ewin den Begriff des Lebensraums in die Arbeitswelt einführte, wird deutlich in seinem Kapitel "Ufe Situationsand momentary situations• in Lewins Buch Principles ofTopological Psychology (1936a), dessen deutsche Fassung Lcwin bereits 1932 abgeschlossen hatte. Darin gibt er ein anschauliches Beispiel einer Arbeiterin am Webstuhl in einer gropen verlärmten Fabrik; er gibt eine phänomenologische Beschreibung ihrer augenblicklichen subjektiven Erfahrung und ihrer psychischen Situation. Au~Jerdem beschreibt er einen inneren Konflikt dieser Frau: "A woman stands at the Ioom in a big noisy factory, next to the last in the eighth row. A thread is broken. She is about to stop the machine to see what has happened. It is shortly before the lunch hour. She has accomplished very little during the moming. She is annoyed. She has been married for three years. For a year and a half, her busband has been unemployed. The two-year old child has been seriously ill, but today he seems somewhat better. She and her busband have been quarelling more and more oflen recently. They bad a quarret this moming. Her husband's parents have suggested that she send the child to them in the country. The woman is undecided what to do about it" (Lewin, 1936a, S. 22f). Es verdient besonders hervorgehoben zu werden, wie Lewin die gesamte soziale Wirklich-
keit in seine Überlegungen einbezieht und wie er diese in seine theoretische Konzeption zu integrieren versucht. Man kann auch daraus schliepen, da~ er sich bereits in seiner Berliner Zeit sozialpsychologischen Problemen zugewandt hatte und diese unmittelbar in seine Forschungen zur angewandten Psychologie einbezog.
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In der zweiten Periode seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten im Jahre 1933, wandte sich Lewin erneut den Problemen der Arbeit zu. 1939 wurde er von Alfred Marrow (seinem späteren Biographen) eingeladen, wichtige Probleme mit der Belegschaft der Harwood Manufacturing Corporatwn zu diskutieren; es handelte sich um eine Fabrik in einer ländlichen Gemeinde in Virginia, welche Schlafanzüge herstellte und in der Marrow damals leitender Angestellter war. Damit begann eine Zusammenarbeit, die acht Jahre lang dauerte. Die Betriebsleitung versuchte 300 ungelernte Arbeiter aus den Berggebieten von Virginia zu trainieren, um dem hohen Produktionsstandard der Industriegebiete von Nordamerika zu genügen. Obwohl die Anzulernenden - meistens Frauen ohne Industrieerfahrung- hoch motiviert waren, blieb ihr Arbeitstempo niedrig und ihr Aussto~ war unbefriedigend. Zudem war die Fluktuation au~rordentlich hoch. Der Betrieb hatte alle bekannten Anreizsysteme ausprobiert, um die Produktion zu erhöhen. Lewin schlug eine Reihe von Verfahren zur Behebung der anstehenden Probleme vor, welche die Betriebsleitung sämtlich übernahm. Diese Vorschläge beruhten auf den folgenden Regeln: (1) Kein Druck auf die individuellen Beschäftigten; (2) Ma~nahmen nur für kleine Gruppen von Arbeitern und nicht für Einzelarbeiter; (3) die .Gruppen überzeugen, da~ die vorgegebenen Arbeitsziele erreichbar sind. Weil zunächst zu wenige Arbeiter den Anforderungen des Betriebs entsprachen, wurden zusätzlich 60 erfahrene Arbeiter von einer 70 km entfernten Fabrik in der Harwood Manufacturing Corporation eingestellt. Diese andere Fal)rik war geschlossen worden, aber die übernommenen Arbeiter hatten sich bereits dort bewährt und erfüllten auch bald die Anforderungen an ihrem neuen Arbeitsplatz. Nach und nach verbesserten auch die älteren Angestellten ihre Leistung, und das Betriebsziel, welches zunächst unerreichbar schien, wurde verwirklicht. Lewins Ansatz schien wirklich praktikabel. Lewin konnte die Leitung von Harwood von der Wichtigkeit eines Forschungsprogramms in ihrer Fabrik überzeugen. Auf Lewins Rat wurde Alex Bavelas- damals an der Universität von lowa tätig - beauftragt, eine Reihe von Kleingruppenversuchen zu planen und durchzuführen, die menschliche Faktoren bei der Betriebsleitung aufklären sollten. Anfang der 40er Jahre begann Bavelas mit einer Zahl von Pilotversuchen zur Aktionsforschung in der Industrie. Der erste sollte feststellen, was geschah, wenn man den Arbeitern einen grö~eren Einflu~ auf ihre Leistung zubilligte und ihnen Gelegenheit gab, sich ihre eigenen Arbeitsziele zu setzen (Marrow, 1969, S. 143). Bavelas hielt halbstündige Sitzungen ab, zu denen er mehrmals in der Woche kleine Gruppen von leistungsfähigen Mitarbeitern versammelte. In einer ungezwungenen Atmosphäre und ohne Druck wurde jedes Gruppenmitglied ermutigt, die Schwierigkeiten zu erörtern, die sich ergaben, wenn eine Gruppe ihren täglichen Aussto~ steigern wollte. Die Vorzüge und Nachteile jedes vorgeschlagenen Verfahrens wurden erörtert. Die Leitung war bereit, die empfohlenen Veränderungen durchzuführen. Dann mu~te jede Gruppe über die Steigerung des täglichen Aussto~es abstimmen. Jeder Arbeiter entschied für sich selbst, aber er tat es öffentlich, eingebettet in den bekräfti-
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\ genden Zusammenhang seiner Gruppe (Marrow, 1969, S. 144). Tatsichlieh liep sich auf diese Weise ein wesentlicher Anstieg der Produktivitit erzeugen. Dieser hielt auch fünf Monate lang an, während andere Gruppen in der Fabrik keine wesentliche Verinderung in der gleichen Zeit zeigten. Diese Studie war stark beeinfluPt von den Experimenten über Nahrunpgewohnheiten, in welchen Lewin während des zweiten Weltkriegs Hausfrauen zu überzeugen versucht hatte, auch unbeliebte, aber nahrhafte Fleischsorten wie Herz. Nieren und Hirn auf den Tisch zu bringen. Lewin hatte geschlossen, dap eine direkte Vortrapmethode bedeutend weniger wirksam war als ein Entscheidungsproze~ in einer Gruppe, in welcher die Hausfrauen - unterstützt durch einen Gruppenführer und einen Experten - angehalten wurden, die Entscheidungen auszuführen, an deren Zustandekommen sie selbst beteiligt gewesen waren. Lewin erklirte diesesErgebis mit einem Effekt des "Festnagelns", der teilweise auf die Verpflichtung des individuellen Gruppenmitglieds zurückging, zu seiner Entscheidung zu stehen, und teilweise auf Loyalität zu der Gruppe. So bewirkte der Entschlup eine Verbindung von Motivation zur Handlung (Lewin, 1943a; Marrow, 1969, S. 91, S. 144). Anregungen für Bavelas' Studie kamen auch teilweise von den bekannten Arbeiten über verschiedene Führungsstile (autoritir, demokratisch und /oissezfaire) sowie über die entsprechenden Gruppenatmosphiren, die von 1938 bis 1942 an der lowa Child Welfare Research Swtion von Lewin, Lippitt und White (Lewin u.a., 1939; Lippitt, 1939, 1940; Lippitt & White, 1960) durchgeführt wurden. Diese Experimente sollten zeigen, da~ die Leistung von Gruppen unter demokratischer Führung immer der Leistung von Gruppen mit anderen Führunpstilen überlegen war. Deshalb wurde auch in der Industriesituation groper Wert darauf gelegt, mittleren Führungskriften schnell und einfach demokratische Führungsqualititen zu vermitteln (Bavelas & Lewin, 1942). In einem anderen Experiment liep Bavelas eine kleine Gruppe von Arbeitern ihre St1Jndenleistung und ihre Tagesleistung selbst festlegen; sie waren bei dieser Festlegung frei, solange sich ihre Leistung oberhalb eines vorgegebenen Minimums bewegte. Dies betrachtete man als einen Weg zu einem besseren "Selbstmanagement" (Marrow, 1969, S. 145). Auch in diesem Experiment fand Bavelas einen starken Anstieg der Leistung in der experimentellen Gruppe, während die Leistung in einer Kontrollgruppe sich nicht verinderte. Mit der Studie von Lippitt und White über autoritäre und demokratische Führunpstile als Vorbild, ermutigte Lewin French zu einem neuen Forschungsprogramm über Führungsqualitäten, an welchen Betriebsleiter aus allen Hierarchieebenen teilnehmen sollten. Bevorzugt wurden praktische Methoden wie Rollenspiel, Soziodrama, Problemlösen in der Gruppe und andere Aktionsforschungstechniken. Das allgemeine Ziel dieses Traininpexperiments war, die Betriebsleiter mit wirksameren Methoden auszustatten, um Kooperation zu gewinnen, Vertrauen aufzubauen, die Stimmung zu verbessern und mit Disziplinproblemen bei den Untergebenen umzugehen. Beim Training dieser Betriebsleiter wurde die Praxis der Selbstprüfung, der Rückmeldung, der Offenheit, des Aufbaus von Vertrauen und 133
des Problemlösens in Gruppen verwendet; diese sollten später feste Bestandteile des Programms des Sensitivitätstrainings werden, wie dieses von 1947 an in den National Training Laboratories in Bethel, Maine, entwickelt wurde (Marrow, 1969, S. 146, S. 210f; Back, 1972). Es gab noeh weitere Programme. Eines zielte auf die Veränderung von Stereotypen - und zwar bezüglich der Qualifikation von Frauen über 30 - im Personalwesen, welches im wesentlichen aus einem Lehrgang bestand, in dem die Spitzenmanager selbst "wissenschaftliche Tatsachen" ausfindig machen sollten (French & Marrow, 1945). Zudem versuchte French eines der schwierigsten Leitungsprobleme von Harwood während der Jahre der Zusammenarbeit mit Lewin anzugehen: den Widerstand der Produktionsarbeiter gegenüber Veränderungen von Arbeitsverfahren. Nach Ergebnissen von Interviews wurde dieser Widerstand in erster Unie als Motivationsproblem dargestellt. Die Forscher betrachteten Mitbestimmungsmethoden als die Lösung für das Problem, Widerstand gegen Veränderungen zu überwinden. Erst im Herbst 1947, nach Lewins frühem Tod im Februar desselben Jahres, gab sich die günstige Gelegenheit, ein entsprechendes Experiment zur Arbeitsplatzgestaltung durchzuführen. Die Untersuchung, die mit Hilfe des Personalchefs Lester Coch durchgeführt wurde, umfafke drei verschiedene Anen von Veränderungen; sie gestatteten einen unterschiedlichen Anteil von Arbeitnehmermitbestimmung bei der Festlegung von Einzelheiten der neuen Arbeitsaufgaben. Die Ergebnisse der Untersuchung sollten zeigen, da(' "the rate of recovery is directly proportional to the amount of participation and that the rates of tumover and aggression are inversely proportional to the amount of participation" (French & Coch, 1948). Die Befunde dieser Harwood Studien sollten den Ausgangspunkt für eine ganze Reihe von Vergleichsstudien bilden, die nach 1947 in gro~em Umfang von dem Survey Research Center (SRC) of the Institute of Social Research at the Universily of Michigan durchgeführt wurden. (Nach Lewins Tod übersiedelte "sein" Research Center for Group Dynamics am Massachusetts Institute ofTechnology (MIT), das bei den Harwood Studien mitgearbeitet hatte, an die Universität von Michigan.) Die Ergebnisse dieser Studien waren recht unterschiedlich und nicht so eindeutig wie die Harwood Studien (M. Rose, 1988, S. 173-175). Aber es gab methodische Fortschritte: Die Untersuchungen, die auf der Mikroebene der Organisationen begonnen hatten, verlagerten sich allmählich auf die Mesoebene der Arbeitnehmer-Management-Beziehungen (Tannenbaum, 1968).
Gloube an die Demokratie und doch eine monipulative Tendenz In seinem Ansatz zur Aktionsforschung zielte Lewin auf die Integration von theoretischen und empirischen (vorwiegend experimentellen) Untersuchungen einerseits und unmittelbaren Anwendungen andererseits. In diesem Bemühen wurde er bestärkt durch seinen leidenschaftlichen Glauben an die Demokratie, welcher sich stark auf seine Erfahrungen während
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Sozislpolilisclw Konuptiollen inLewinsA~
der turbulenten Jahre der Weimarer Republik stützte. In Lewins Handlungsforschung sollte Demokratie das vorrangige Ziel, einen ethischen Wert, eine wissenschaftliche Wahrheit und eine psychologische Möglichkeit darstellen (Lewin, 1948; M. Lewin, 1987; John u.a., 1989). Doch wie llijit sich dies vereinbaren mit der Bewertung einiger Kritiker (M. Rose, 1988, S. 175), daji Lewins angewandte Psychologie • zumindest während seiner Jahre in Amerika - eine starke manipulative Tendenz an den Tag legte? (In diesem Zusammenhang soll das Adjektiv "manipulativ" wirklich eine negative Bedeutung besitzen.) Dieser offensichtliche Widerspruch löst sich auf, wenn man bedenkt, daf' Lewin bald nach seiner Ankunft in Amerika sich entschieden der dortigen Tradition einer psychosozialen Interventionspraxis anschlof', welche Graebner als "Democratic Social Engineering" (DSE) bezeichnet hat. Er bestimmt diesen Ansatz als "a method of social control utilizing the small group discussion, leadership, and participation ofthe objects of control" (Graebner, 1986, S. 137). Und er betrachtet ausgerechnet den deutschen Emigranten Lewin als "a prominent proponent of this quintessentially American form of social control• (S. 138). Der Ansatz des DSE war weder eindeutig autoritär noch antiautoritär. Er lief' sich sowohl als eine Form der sozialen Kontrolle verstehen als auch als eine Variante von Demokratie. So fand er Anklang bei den Rechten und den Unken, den Konservativen und den liberalen und insgesamt bei einer Nation wie der amerikanischen, die sich gegenüber Autorität grundsitzlieh ambivalent verhielt. Es drückten sich darin gleichzeitig die amerikanischen Freiheitsideen aus und das Prinzip der gesellschaftlichen Ordnung. "Democratic social engineering" entstand im 19. Jahrhundert als Antwort auf die neue Massengesellschaft und die wachsenden sozialen Probleme, die sich im Zusammenhang mit Industrialisierung und Urbanisierung ergaben. Seine intellektuellen Wurzeln lagen in den Sozialwissenschaften der Jahrhundertwende (vorzugsweise Psychologie und Soziologie), der pragmatischen Philosophie und der fortschrittlichen Erziehungswissenschaft (vgl. Miller & O'Leary, 1989). ln einem Buch des amerikanischen Sozialpsychologen H. A. Overstreet lnjluencing Humon Behavior (1925) finden diese Ideen einen deutlichen Ausdruck und ebenso das Hauptziel, nämlich die intelligente Kontrolle des sozialen Prozesses. Nach Graebner wurde DSE zueJSt in Sonntagsschulen und Jugendgruppen wie dem YMCA praktiziert; ebenso wurde es in zwei weiteren Bereichen angewandt, in den W~hn siedlungen für Bezieher niedriger Einkommen und in den Schulen. Dabei ging es der Portschrittsbewegung darum, Klassenkonflikte zu vermeiden, die neuen Immigranten zu integrieren und Auswüchse des industriellen Kapitalismus zu verhindern. DSE war besonders einfluf'reich zwischen 1917 und 1947. Graebner veranschaulicht seine Darstellung durch drei Fallstudien: die Vorarbeiterbewegung von Dayton, Ohio, aus dem Jahre 1917, die GoldenAge Clubs, 1940 in Cleveland gegründete Seniorenvereinigungen und die frühe Familienarbeit des Kinderarztes Benjamin Spock. Für unser Thema ist gerade die erste Fallstudie höchst bedeutsam. Sie beschreibt eine psychosoziale Intervention zur Verlinderung der Einstellung von Vorarbeitern, die sich damals zunehmend der Gewerkschaft anschlos· 135
sen; sie sollten davon übeaeugt werden, dap ihre "nal&rliche Treuepflicht" dem Kapital -gehörte und nicht ihren Arbeitskollegen (s. Graebner, 1946, S. 139-141). Innerhalb der Industriesoziologie in den Vereinigten Staaten erkennt man von 1920 an eine ihnliehe Tendenz. Ihr politisches Ziel war die demokratische Selbstkontrolle der industriellen Gesellschaft; dies wurde "soziale Kontrolle" genannt. In der frühen Industriesoziologie wurde dies als Ausdehnung der demokratischen Mitwirkung in industriellen Organisationen gesehen sowie in den Gemeinden, in denen sie angesiedelt waren (ein vorzügliches Beispiel ist die Erhebung von Pittsburgh, die erste umfassende Erhebung in einem städtischen Gebiet, die in den Vereinigten Staaten durchgefühn wurde und zwar in den Jahren 1907 bis 1908). In den 20er Jahren entwickelte freilich die Chicago School of Sociology eine eigene Fassung der "sozialen Kontrolle", welche den politischen Anspruch der Vorkriegssoziologie zugunsten einer professionellen Wissenschaft zurückdrängte, aber einen ganzheitlichen Ansatz beibehielt, bei dem freilich die industrielle Dynamik schwer vernachlässigt wurde. Später verwarf wiederum das Harvard Department of Sociology den Ganzheitsanspruch der Chicago Studien zur menschlichen Ökologie, aber behielt sowohl das praktische als auch das theoretische Interesse an einer Professionalisierung bei. So schränkten sich die Hauptvenreter der wissenschaftlichen Industriesoziologie der 40er und SOer Jahre doppelt ein, indem sie Professionalisierung an die Stelle von Parteinahme setzten und Spezialisierung anstelle von Ganzheitlichkeit. Zwei bedeutsame Folgen dieser Entwicklung wareh die Vernachlässigung von bestimmten Anen von Industrieforschung und die Entpolitisierung des Begriffs der sozialen Kontrolle (Cohen, 1983). Wesentlich für DSE ist, dap es der Gruppenentscheidung ein Ziel vorgibt. Es unterstellt ein Autoritätssystem, das im Prinzip effektiv und doch demokratisch ist. Die Hauptvenreter der DSE wurden von der Sozialpsychologie angezogen (freilich nicht im geringsten von der Lewinsehen Variante), weil diese Richtung die Annahme bestätigte, Gruppenprozesse bildeten ideale Verfahren für eine soziale Reform und böten gleichzeitig die Möglichkeit der sozialen Kontrolle in einer demokratischen Kultur.Jn dieser Hinsicht ist Nicolas Roses Bewenung zuzustimmen, die Lewinsehe Sozialpsychologie sei Teil einer umfassenderen sozialpsychologischen Tradition, die sich als eine "Wissenschaft von der Demokratie" verstehe: ein Verbund von theoretischem Wissen, professionellen Interventionspraktiken und Argumentationsfiguren, die sich auf Demokratie als ein Verfahren zur• Organisation, Ausübung und Legitimierung politischer Macht bezögen. So werde willkürliche Autorität ersetzt durch eine Autorität, welche eine rationale d.h. sozialwissenschaftliche Rec,.tfenigung erfahre (N. Rose, 1988, 1989, 1990). In diesem Zusammenhang ist es von Bedeutung, dap Gordon Allpon in seinem Vorwon zu Lewins ausgewählten Schriften zur Gruppendynamik desSen auffallende Verwandtschaft zur Arbeit Deweys herausstellt:
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"Dewey is the outstandlog philosophical exponent of democracy. Lewin its OUtstaoding psychological exponent. More clearly than anyone else has he shown us in c:oncrete, operational terms what it means to be democratic Ieader, and to create a democraticgroup structure" (AIIport in Lewin, 1948, S. XI). In ihren kritischen Kommentaren zu Graebners Aufsatz wenden sich Lippitt (1986) und Miriam Lewin (1987) entschieden gegen die Kennzeichnung von Lewins Aktionsforschung als "democratic social engineering" (mit seiner negativen Nebenbedeutung als Manipulation). Ich stimme ihrer allgemeinen Argumentation nicht zu, die im wesentlichen auf die Stellungnahme hinausläuft, da~ LewinS Ideen und Interventionspraktiken in Wirklichkeit grundlegend demokratisch waren. Miriam Lewin beruft sich da aufverschiedene Veröffentlichungen und auf Einzelheiten aus dem Leben ihres Vaters. Zudem weist sie darauf hin, da~ der Begriff Demokratie in verschiedenen sozialen Zusammenhängen eine unterschiedliche Bedeutung hat. Da es Unterschiede in Rang, Status und Macht gäbe, seien völlig egalitire Beziehungen zwischen Führern und Gruppenmitgliedern in besonderen Bereichen wie der Familie, bei der Erziehung oder in der Wirtschaft weder möglich noch wünschenswert. Ich glaube, in Graebners Urteil steckt ein gro~r wahrer Kern, zumindest was die Harwood Studien anbelangt. Betrachtet man die verschiedenen Experimente niiber, so wird deutlich, da~ in jedem Einzelfall die Leitung ein Ziel vorgegeben hat, welches sowohl die Forscher als auch die Gruppenführer übernommen haben. Das Prinzip 3 aus Lewins Empfehlungen an die Firmenleitung: "Versuchen Sie der Gruppe das Gefühl zu vermitteln, da~ die Anforderungen zu schaffen sind" setzt eine Übernahme des Standpunkts der Firmenleitung voraus. Da~ die zunächst eingestellten Arbeiter ihre Leistung verbesserten, ist sehr wahrscheinlich auch der hohen Arbeitslosenquote in der Gemeinde zuzuschreiben und der belastenden Konkurrenzsituation, welche dadurch entstand, da~ neue Arbeiter von au~r halb die Arbeitsplätze übernahmen, die sonst den selbständigen Arbeitern zugefallen wären. Zumindest hatten die örtlichen Behörden dagegen protestiert, Arbeitsplätze an Auswärtige zu vergeben; aber sie wurden überredet, es auf einen Versuch ankommen zu lassen (Marrow, 1969, S. 142t). Unter diesen Umstinden mag die Arbeitschance für die Auswärtigen deren Anspruchsniveau gehoben haben. Ein anderes Unternehmen waren die von Bavelas veranstalteten Diskussionen mit den besten Arbeitern, die sich mit den Schwierigkeiten beschäftigten, die sich ergaben, wenn die ganze Gruppe ihre tägliche Produktion steigern sollte; wiederum wurde die Produktionssteigerung als Ausgan~unkt unwidersprochen hingenommen. In den sogenannten "Selfmanagement"- Experimenten war der Entscheidungsspielraum durch die Betriebsleitung eindeutig vorgegeben. Selbstverständlich entspricht das den Bedingungen in einer solchen industriellen Situation; doch man darf diesen Umstand auch nicht vernachlässigen.
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Lewin selbst hat das Grundprinzip in Bavelas' Interventionsstudien wie folgt zusammengefaf't: "The realistic demands of production have to be satisfied in a way which conforms with the nature ofthe group dynamics" (Lewin, 1944, 1948, S. 137t). Mögliche andere EiDS<:hränkungen in den technischen und organisatorischen Strukturen werden nicht anerkannt. Darin mag man auch die Auffassung erkennen, es gäbe eine völlige Überein· stimmung über das genaue Wesen dieser Gruppendynamik; doch eine solche Einmütigkeit hat es nicht gegeben und gibt es bis heute nicht. Au~rdem mag diese Dynamik historischen Wandlungen unterworfen sein; deshalb köimen Verallgemeinerungen recht problematisch werden. Das Experiment von French and Coch zur Überwindung von Widerstand gegen Änderungen zeigte vielleicht am offensten die Voreingenommenheit zugunsten der Betriebs· Ieitung. Die Widerstände gegen die Einführung von neuen Arbeitsmethoden "bedingt" durch sozioökonomische Wettbewerbsbedingungen, technischen Fortschritt oder Verbrauchernachfrage wurden vorzugsweise als Motivationsprobleme aufgefaf't. Die Forscher begaben sich wirklich in die Gefahr, gesellschaftliche Probleme auf psychologische zu reduzieren; dies geschah z.B., indem sie eine Beteiligung der Arbeiter an der Planung neuer technischer und organisatorischer Strukturen nicht vorsahen oder geeignete gewerkschaftliche Vertre· tungen nicht in Betracht zogen. Die Arbeitnehmer l!;onnten lediglich Einzelheiten der "vorgeschlagenen" (sie) neuen Arbeitsaufgaben bestimmen, die im wesentlichen von der Betriebsleitung bereits festgesetzt waren. Die starke Voreingenommenheit zugunsten der Betriebsleitung ersieht man auch der Charakterisierung der nicht partizipierenden Kontroll· gruppen mit ihrer stark abnehmenden Arbeitsmoral. Neben einer auffallenden Feindseligkeit gegenüber den Vorgesetzten und Arbeitsverzögerungen wurde ihnen "Beschwerden bei der Gewerkschaft und ... andere Formen von aggressiven Verhalten" zugeschrieben (Marrow, 1969, s. 150). Überdies kennzeichnet diese Studien eine zu starke Betonung unangemessener Wahrnehmungen der "objektiven Arbeitssituation" durch die Betroffenen; strukturelle Probleme in der Arbeitssituation, besonders Machtunterschiede, wurden demgegenüber vernachlässigt. ln erster Unie wollte man die Tätigkeit durch Veränderung der Wahmeh· mung beeinflussen (Lewin,1948, S. 139). Unter besonderen Umstinden sollte jedoch meiner Meinung nach Aktionsforschung auch einen ernsthaften Versuch unternehmen, Machtunter· schiede in der Arbeitssituation zu vermindern und auch andere strukturelle Einschrinkun· . gen zu beheben. Um ein Problem den Betroffenen vorzustellen, wurde das folgende Prinzip herangezogen: "The reality is presented correctly but (only) those aspects are brought into the fore which are linked with the psychological situation of the person in question and are helpful in bringing about favorable permanent motivation" (Lewin, 1948, S. 134).
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Natürlich ist so eine pragmatische Strategie sehr wirkungsvoll, um dem Handelnden ein "klareres" Bild zu vermitteln, so wie der Handlungsforscher dieses wünscht; sie birgt jedoch die Risiken eines einseitigen manipulativen Einsatzes in sich. Es gibt keine verllil\liche _Sicherung gegen einen Mil\brauch dieser Technik, die letztlich dem Handelnden seine Zustimmung abnötigt und ihn der Autorität seines Vorgesetzten unteawirft. Ein noch grundlegenderer Mangel der ganzen Versuchsreihe war die Beschränkung der Interpretation aufeine enge "Soziologie und Sozialpsychologie der Fabrik", welche sich auf. die Mikrogesellschaft des Arbeitsplatzes konzentrierte. Fast völlig vernachlässigt wurde der gröl\ere einschlägige Kontext mit seinen sozialen Konflikten. Das ist umso bemerkenswerter, als in den späten ~r Jahren, als Lewin seine Zusammenarbeit mit der Haawood Manufacturing Corporation begann, er zugab, die Industrie sei eine "heftig umstrittene Sache in den Vereinigten Staaten" (Marrow, 1969, S. 41). Obwohl in den 40er Jahren die Auseinandersetzungen in der Industrie abflauten, bitte man eawarten können, da~\ Lewin und seine Mitarbeiter ein stärkeres Interesse an der Industriekultur im ganzen entwickelt bitten. U.a. erhält man nicht genügend Auskunft über die regionalen Umstände. Aus anderen Quellen wissen wir jedoch, da~\ kurz nach den VeiSuchen zur Gruppenentscheidung die Arbeiter wegen einer Auseinandersetzung mit der Betriebsleitung in den Streik traten. Die Gruppen, die einem erfolgreichen "Änderungstraining" unteaworfen worden waren, stellten sich als ebenso gewerkschaftsfreundlich heraus wie ihre Arbeitskollegen, obwohl die angewandte Interventionsstrategie gerade dies hatte verhindem sollen (M. Rose, 1988, S. 172). Aus der Sicht der Betriebsleitung von Haawood war das eine uneawartete Entwicklung, welche einer weiteren Erklärung bedarf. Last but not least möchte ich betonen, da~\ diese Studien, obwohl sie gewöhnlich nicht als Teil der klassischen Human Relations-Tradition angesehen werden, doch auffallende Parallelen zu den Ansätzen von Elton Mayo und seinen Mitarbeitern aufweisen; auch in der Terminologie gibt es Übereinstimmungen mit Roethlisberger und Dickson (1939). Zu dieser Zeit lernten die Anhänger Lewins die Ziele kennen, die Mayo in seinen sehr populären Büchern über Humtln Relations verbreitete (Mayo, 1933, 1945). Sie glaubten, da~\ Führer (Manager) die Arbeitermitbestimmung als informelle Organisationsform durch Mitteilungen beeinflussen konnten, um eine gute Gruppenatmosphäre (Betriebsklima) zu erzeugen und damit die Betriebszufriedenheit (Integration) mit dem Leben in der Gruppe (dem sozialen System) zu steigern sowie gleichzeitig die Leistung zu verbessern (M. Rose, 1988, s. 171).
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Dk Notwendigkeit einer besseren Theork ftJr die IHmolcratiskrung in tkr lndustrk
Die Bedeutung demokratischer Ideen in Experimenten zur Arbeitnehmerbeteiligung wie den frühen von Lewin durchgeführten mufl weiter abgeklärt werden. Organisationen haben verschiedene Bereiche, in denen die Demokratie unterschiedlich weit fortschreiten kann. Natürlich kann man sich hier nicht politischer Wertungen enthalten, die sich in der Bestimmung von Demokratie niederschlagen. Dazu sei der folgende Ausgan~punkt gewählt: ln welchem Umfang bildet~!'e Organisation ein Entscheidungssystem, in welchem die Betroffenen mittelbar und unmittelbar • d.h. selbst oder durch Vertreter • bei der Formulierung und Ausführung der Betriebspolitik mitwirken können? Wieweit können die Betroffenen Funktionäre und Betriebsleitung auswählen? Wieweit gilt ein Mehrheitswahlrecht? Zusätzlich würde ein solches System die Verantwortlichkeit von Funktionären und Betriebsleitern verlangen, die Legitimation von opponierenden Meinungen sowie individuelle Rechte und Minderheitenschutz (Edelstein & Warner, 1979). Arbeitnehmermitbestimmung umfafh einen weiten Bereich von möglichen demokratischen Praktiken, beginnend bei der Unterrichtung der Arbeitnehmer, in der Mitwirkung an der Betriebsleitung. industrieller Demokratie oder Einftuflnahme von Arbeitnehmern. Der Grad der Arbeitnehmermitbestimmung kann mindestens in dreierlei Hinsicht näher bestimmt werden: {1) Als Einftufl, den Arbeitnehmer bezüglich jeder einzelnen Entscheidung haben, (2) als Festlegung der Angelegenheiten, in welchen eine Mitbestimmung gewährt wird und (3) als Hierarchieebene, auf welcher ein Arbeitnehmereintlufl ausgeübt werden kann (Bernstein, 1976, S. 492). Dachterund Wilpeil {1978, S. 3) konzentrieren sich dabei auf vier Gegebenheiten: (1) die zugrundeliegende Sozialtheorie, (2) die Merkmale des Beteiligungssystems, (3) die Grenzen des wirksamen Umfeldes, (4) die Ergebnisse der Mitwirkung. Weitere Beispiele eines theoretischen Rahmens liegen vor oder werden gerade entwickelt. Auf jeden Fall dürfte klar sein, dafl man angemessenere theoretische Rahmenvorstellungen benötigt als Lewin diese in seinen Unter· suchungen in der amerikanischen Industrie hatte. Einen vergleichenden Überblick über Experimente zur Demokratisierung in der Industrie und zur Arbeitnehmermitbestimmung in elf Ländern in Westeuropa und Israel während der 70er und der beginnenden 80er Jahre gibt Warner (IDE International Research Group, 1976, 1979, 1981). In allen Studien ist deren Rolle innerhalb des Betriebes definiert, ebenso wie ihr soziopolitischer Kontext (Warner, 1984, S. 63ff.). Diesem Überblick kann man entnehmen, dafl es viel mehr Möglichkeiten bezüglich der industriellen Demokratisierung und der Arbeitnehmermitbestimmung gibt als Miriam Lewin in ihrer Auseinandersetzung mit Graebner annimmt. Die Frage stellt sich, ob die Unterschiede in der Auffassung von politischer Demokratie und der Definition von Demokratie in einer nichtstaatlichen Institution wie in einem Arbeitsbetrieb so grofl sein müssen, wie sie anzunehmen scheint (M. Lewin, 1987, S. 125). Legt man starke Informations- und Mitbestimmungsrechte
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SozialpoliliscM KOIIZepliOMtt in Lewin.r ~
der Arbeitnehmer zugrunde, so umfafiten die H_amood..Experimente nur sehr bescheidene Formen von Arbeitnehmerbeteiligung; sie waren alle nur auf die unmittelbare Arbeitssituation bezogen. Auf der anderen Seite möchte ich mir Miriam Lewins Gesichtspunkt zu eigen machen, dafi man nicht seine Zuflucht zu einem offen undemokratischen Führungsstil nehmen sollte, wenn ein echter demokratischer Entscheidungsprozefi in einem bestimmten Gebiet nicht möglich ist wie z.B. in der Familienbeziehung zwischen Eltern und Kindern; man sollte nicht so tun, als sei die autoritäre Führung die einzige Alternative zur demokratischen Willensbildung wie Graebner (1986, S. 131f, 150f) meint. Um bei diesem Fall zu bleiben: Eltern können sich auch für einen Stil entscheiden, den Baumrind •autoritativ" genannt hat. Bei diesem Erziehungsstil spielen die rationale Überlegung und die Argumentation eine zentrale Rolle. Verhaltensregeln und Normen werden den betroffenen Kindem in einem zweiseitigen Kommunikationsprozefi übermittelt; die Ehern begegnen ihnen dabei mit einer Kombination von Entschiedenheit und emotionaler Unterstützung. Die Versuche des Kindes, sich einen freien Raum zum Ausarbeiten seiner eigenen Impulse oder Bevorzugungen zu schaffen, werden positiv bewertet, jedoch nicht immer zugelassen. Wenn die Meinungen von Eltern und Kindern auseinandergeheo, dann zwingen die Eltern das Kind durch starke Einflüsse sowie durch Lohn und Strafe, sich ihrer Autorität zu unterwerfen (Baumrind, 1966, 1973). Dies mag man als eine besondere Spielart der demokratischen Führung in dem Kontext der Familie betrachten. ResUmee
Sieht man in der Emanzipation ein vorrangiges Ziel der Sozialwissenschaften (s. den Überblick bei van Elteren, 1990b), dann mufi man bei der Aktionsforschung Lewins in der Industrie während der späten 30er und der 40er Jahre wesentliche Mängel feststellen. Folgt man den allgemeinen Prinzipien von Lewins Sozialpsychologie, liegt der Schwerpunkt auf der Untersuchung von Individuen, in diesem Fall Arbeitern, sowie in ihren Interaktionen und Kommunikationen, soweit diese von ihrer unmittelbaren mikrosozialen Umgebung bestimmt sind: es handelt sich da um die Mikrogesellschaft des Arbeitsplatzes. Die unzureichende theoretische Ausrichtung - die übrigens auch ein Merkmal der vorherrschenden psychologischen Sozialpsychologie ist (s. die grundsätzliche Kritik von Israel, 1979) - verstellte den Weg zu anderen Anal.yseebenen und anderen einschlägigen Disziplinen, insbesondere der Arbeitssoziologie und der Geschichte der Arbeitgeber - Arbeitnehmer - Beziehungen. Eine integrative Perspektive auf eine wirkliche Sozialpsychologie im Schnittpunkt von Soziologie, Psychologie und Sozialgeschichte fehlt weiterhin. Deshalb sollte Lewins Maxime "nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie" ernster genommen werden als dies in der Arbeits- und Organisationspsychologie gewöhnlich der Fall ist.
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Den Harwood Studien fehlte ein breiterer Kontext; u.a. wurden die ArbeitgeberArbeitnehmer-Beziehungen, die soziale Struktur sowie die Gemeinde- und Landeskultur vernachlässigt oder sogar ganz auper acht gelassen. Die Interventionspraktiken waren nicht so durchdacht, dap ein tieferes Verständnis der tatsächlichen soziopsychologischen Prozesse erreicht werden konnte. In dieser Aktionsforschung fand auch so etwas wie eine "Bändigung" der Arbeiter statt - was freilich eher unbeabsichtigt war. Dies geschah, weil die Mitbestimmungsmethoden aus der Tradition des Democratic Social Engineering abgeleitet waren, der sich Lewin kurz nach seiner Ankunft in den USA verschrieb. John, Eckardt und Hiebsch (1989, S. 167f.) unterschätzen die Bedeutung des f:.ewinschen -~i_nn.u~,p_wß.qd~!-~, wenn sie seine frühe Ausrichtung im Bereich der Arbeitspsychologie, die ja auch die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Umstrukturierung anerkennt, mit der politischen und gesellschaftlichen Orientierung seiner späteren Arbeiten in diesem Bereich vergleichen (vgl. auch Ulich, dieser Band). Meiner Ansicht nach betonen sie zu sehr die Kontinuität in Lewins politischer Grundauffassung. Es stimmt, wenn John u.a. (1989, S. 168) schreiben, Lewins spätere Sozialpsychologie habe politische Aspekte enthalten, welche freilich nicht ausdrücklich in seiner Arbeit von 1920 Erwähnung gefunden bitten. Aber diese politischen Aspekte betrafen humanistische Fortschrittsideen des Uberalismus; sie kündigten Unterstützung für demokratische Krifte an, die den Autbau einer "besseren.Welt" wollten -wie Heim (1978) dies als politische Tendenz von Lewins Werk beschreibt. Nur so weit wird man mit einigem gbten Willen eine gewisse Kontinuität der Absichten in Lewins intellektueller EiltWicklung erkennen. Diese Ideen wurden von einem gropen Teil der zeitgenössischen amerikanischen Sozialwissenschaftler geteilt; sie fanden einen sehr deutlichen Ausdruck in der sozialen Bewegung des Planned Social Change, an der sich seit den späten 40er Jahren zahlreiche Anhinger Lewins beteiligten (Bennis, Benne & Chin, 1961). Die Arbeitsprobleme, aufwelche sich die ~_?rschuos konzentrierte, wurden durch das Topmanasem~ bestimmt. Entscheidungen der Arbeiter wurden nur innerhalb der engen Grenzen der technischen und organisatorischen Bedingungen gestattet und wesentliche Ziele waren durch die Betriebsleitung vorgegeben. Dies erklärt auch, warum seit den 80er Jahren, als die Gewerkschaften in den USA diesen Problemen mehr Beachtung schenkten, die Techniken der Gruppendiskussion und der Entscheidungstindung in kleinen Gruppen innerhalb der Industrie zunehmend kritisch beurteilt wurden (Parker, 1985). Innerhalb einer neueren Richtung der lndustriesoziologie, dem sogenannten Labour frocess 6/lnoecl!JLPA), werden solche Einschränkungen und Zielsetzungen nicht einfach vorgegeben (wie dies eine technologische Ausrichtung fordern würde); diese werden vielmehr im Rahmen sozialpolitischer Prozesse in dem industriellen Unternehmen einer~ unterzogen, welche diese und andere wesentliche &n!Jooneptep des Arbeitspr~~!:. gemacht werden. Als ~usgangspunkt nimmt dieser Ansatz die strategischen Aktionen der beteiligten Parteien innerhalb und auperhalb der Arbeitsorganisationen. In diesem Sinne J!etracbtet man dep brbei"&?latz als eine politische Arena, in welcher einander zuwiderlau-
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SozUIIpolitiscM Konzeptionen in Lewins ArN~
fende Strategien von unterschiedlichen Parteien verfolgt werden. Der LPA bringt diese Aktionen und ihre Ergebnisse auch in die besonderen,siaJehichtlichen Zusammef!!!j~..1#• in welche sie eingebettet sind (Littler, 1982). Dies stimmt durchaus überein mit der These von Hiebschund Vorwerg (1979, S. 35), dafJ - genau genommen- gesellschaftliche Phänomene durch die Psychologie überhaupt nicht erkllirt werden können. Psychologische\ und sozialpsychologische Anslitze bieten keinen annehmbaren Ersatz für eine angemessene (d.h. völlig integrative) sozialwissenschaftliche Erklärung der untersuchten Arbeitsprozesse. Der Ansatz des LPA wurzelt im nichtdOgnt!tischen marxistischen Denkenj darin erhält der Vorgang der ".Produktionsübereinkunft" (Burawoy, 1979), den Betriebsleitung und Arbeiterschaft in einem komplexen und nicht selten konflikt· und risikoreichen Austausch von Geben und Nehmen gestalten, die notwendige Aufmerksamkeit. Ein solcher theoretischer Rahmen dürfte für die Untersuchung besonderer Probleme in der Industrie angemessener sein als die frühe von Lewin begründete Tradition. _.J
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Kurt Lewin und seine Berliner Schlilerinnen Helga Sprung Fragt man nach Lewins Berliner Schülern der 20er und frühen 30er Jahre dieses Jahrhunderts, so flillt auf, dap es meist Schülerinnen waren. Das ist schon deshalb erstaunlich, weil das Studium von Frauen an deutschen Universitäten erst seit relativ kurzer Zeit möglich war. Blicken wir zurück: Im Jahre 1901 hatte als erstes deutsches Land Baden seine Universität für Frauen geöffnet, Bayern folgte 1903, Würtemberg 1904, Sachsen und Thüringen 1906 und Preupen 1908. Weibliche Studenten aber blieben lange Zeit eine Minorität (vgl. z.B. Meyers Lexikon 1926). Auch nach dem ersten Weltkrieg, in der Weimarer Republik, war das Hochschulstudium für Frauen noch keineswep eine Selbstverständlichkeit, und oftmals wurde es sogar noch absichtlich erschwert. Trotzdem waren an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität zwischen 1923 und 1933 bereits ca 18% der Studierenden Frauen (Bock & Jank 1990, S.47; vgl. auch Verein Feministische Wissenschaft Schweiz 1988). Mein Lehrer Kurt Gottschaldt berichtete uns einmal in einer seiner Vorlesungen in den fünfziger Jahren aus seiner Studentenzeit in den zwanziger Jahren in Berlin. In Erinnerung ist mir u.a. geblieben, dap das Frauenstudium damals noch keineswep allgemein von allen Professoren akzeptiert wurde. Gottschaldt erzählte uns, dap er noch Hochschullehrer kennengelernt habe, die erst dann mit ihrer Vorlesung begannen, wenn die anwesenden Frauen den Hörsaal verlassen hatten. Frauenstudium in dieser Zeit bot demnach noch eine Fülle von Minoritätenproblemen. In Anbetracht dieser Tatsache ist es erfreulich und zugleich verwunderlich, dap in dieser Zeit bei Kurt Lewin von 16 der von mir bisher identifiZierten Schüler 11 Schülerinnen waren. Diese frühen Beobachtungen, die bis in meine Studentinnenzeit reichten, waren für mich der Anlap, einmal zu hinterfragen, worin die Gründe dafür zu suchen sein können. Mit anderen Worten, das thematische und soziale Umfeld am Berliner Psychologischen Institut etwas näher auszuleuchten, in dem dies möglich war. Insbesondere aber reizte es mich danach zu fragen, welche Eigenschaften auf seiten Kurt Lewins und welche Eigenschaften aufseitenseiner zahlreichen Doktorandinnen die Voraussetzungen für die beute noch anerkannten wissenschaftlichen Leistungen seiner Berliner Doktorandinnen bildeten.
Lewins Berliner SchUlerinnen - Falaen und Vermutungen Bevor wir im einzelnen den vielfältigen Fragen nachgeben, die sich aus der Tatsache ergeben, dap Lewin in seiner Berliner Zeit so erstaunlich viele akademische Schülerinnen hatte, möchte ich zunächst einmal darstellen, wer nach meinen bisherigen Recherchen und
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meinem benutzten Kriterium zu diesen Schülerinnen gereebnet werden kann. Es sind dies die seiner Studentinnen und Mitarbeiterinnen, die mit eigenen wissenschaftlieben Qualifizierungsarbeiten in publizierter Form hervorgetreten sind. Im nachfolgenden haben ich sie in chronologischer Reibenfolge namentlich und mit dem Titel der unter l..ewin angefertigten wissenschaftlieben Arbeiten aufgeführt: 1. Bluma Zeigarnik (1927): Das Bebalten erledigter und unerledigter Handlungen. 2. Anitra Karsten (1928): Psychische Sättigung. 3. Maria Ovsiankina (1928): Die Wiederaufnahme unterbrochener Handlungen. 4. Gita Birenbaum (1930): Das Vergeskn einer Vornahme. 5. Tarnara Dembo (1931): Der Ärger als dynamisches Problem. 6. Wera Mabler (1933): Ersatzbandlungen verschiedenen Realitätsgrades. 7. Käte Ussner (1933): Die Entspannung von Bedürfnissen durch Ersatzhandlungen. 8. Sara Fajans (1933): Die Bedeutung der Entfernung für die Stärke eines Aufforderungscharakters beim Säugling und Kleinkind. 9. Sarab Sliosberg(1934): Zur Dynamik des Ersatzes in Spiel- und Ernstsituationen. 10. Sara Forer (1934): Eine Untersuchung zur Lese-Lern-Methode Decrolys. 11. Margarete Jucknat (1937): Anspruchsniveau und Selbstbewu~in. Bevor ich zu meinen Ausführungen im einzelnen komme, möchte ich noch eine Vorbemerkung zur historiographischen Quellenbasis machen. Ich werde mich in meinen Ausführungen - zusätzlich zu bereits publizierten Quellen - vor allem auf neu aufgefundene Archivalien stützen. Dabei handelt es sich vor allem um die von seinen Schülerinnen selbst verfa~ ten Lebensläufe sowie um die Gutachten zu ihren Dissertationen. Weiterhin habe ich ein unveröffentlichtes, ausführliches Interview mit Bluma Zeigamik ausgewertet, das Vera Kempe, eine psychologiegeschichtlich interessierte Kollegin, auf Anregung von Lotbar Sprung kurz vor Bluma Zeigamiks Tode im Jahre 1986 in ihrer Moskauer Wohnung mit ihr führte. Schlie~lich stand mir noch eine biographische Skizze über Kurt Lewin aus dem Nachla~ von Margarete Jucknat zur Verfügung. Durch diese spezifische Quellenlage ist es auch mit begründet, warum ich mich in meiner Darstellung auf die Berliner Zeit beschränke und nicht die Zeit in den USA mit einbeziehe. Dies können die amerikanischen Kolleginnen und Kollegen vielleichter "vor Ort" realisieren. Mir ist beispielsweise bekannt, da~ im Archiv für die Geschichte der Amerikanischen Psychologie an der Universität in Akron, Ohio, im Nachla~ von Alfred Marrow, ein reiches Material für eine vergleichbare Studie in den USA liegt.
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Das Klima im Umfeld Beginnen wir mit unserer ersten Frage nach dem "thematischen" und nach dem "sozialen" Umfeld am Berliner Institut, in dem Kurt Lewin in Berlin wirkte. Das Berliner Psychologische Institut war in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts eines der gröflten und leistun~fähi~ten in der Welt. Es entwickelte sich in dieser Zeit zum Zentrum der Berliner Schule der Gestaltpsychologie. Eine sehr maflgebliche Aufbauarbeit hatte dafOr in den Jahren von 1894 bis 1921 Carl Stumpf geleistet. Im Jahre 1921 Obergab Carl Stumpf die Leitung des Instituts an Wolfgang Köhler, der sie eh~ Jahr später auch de jure Obernahm. Damit begann eine Entwicklungsphase der Psychologie an der Berliner Universität, die man in der psychologischen Historiographie als •Berliner Schule der Gestaltpsychologie" zu bezeichnen pflegt. Ihre wesentlichsten Vertreter waren bekanntlich Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka. Aber auch so bedeutende Männer wie Erleb Moritz von Hornbostel oder Hans Rupp wirkten in dieser Zeit am Institut und - nicht zu vergessen Kurt Lewin (Sprung & Sprung, 1987). Die inzwischen publizierten autobiographischen Arbeiten von Mitarbeitern des Berliner Instituts der zwanziger und frOhen dreilliger Jahre hier wäre vor allem auf die Erinnerungen von Wolfgang Metzger und Richard Meili zu verweisen - vermitteln das Bild eines wissenschaftlich äuflerst produktiven Instituts. Auch das Arbeitsklima mull beneidenswert angenehm und förderlich gewesen sein (vgl. z.B. Metzger, 1970; 1972; Meili, 1972). Auch die bisher leider noch unveröffentlichten Briefe von und an Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Lewin, die im "WertheimerArchiv" in Boulder (USA) lagern, dokumentieren ein eindrucksvolles Bild von der Weite der Gedankenkreise, von der Weltoffenheit und vom mitten im geistigen Leben der Zeit Stehen der mallgeblichen Vertreter der Berliner Schule der Gestaltpsychologie. In den Erinnerungen von Bluma Zeigarnik aus dem Jahre 1986 spiegelt sich die Atmosphäre und der Geist des Instituts der zwanziger Jahre wie folgt: "Als ich damals nach Berlin kam, suchte ich die Psychologie in der Literatur. Aber allmählich merkte ich, dall dieses ganze Hochdeutsch und Mittelhochdeutsch nicht das Richtige war. Dannhörteich eine Vorlesung von Wertheimer. Hinterher bin ich zu ihm hingegangen und habe gesagt: 'Die Gestaltpsychologie gefällt mir sehr', worauf Wertheimer antwortete: 'Mir auch'. Und dann hörte ich Vorlesungen von Lewin. Das war dann das, was ich gesucht hatte" (Zeigarnik 1986, S.3). Und an anderer Stelle heiflt es bei Bluma Zeigarnik in ihren Erinnerungen:
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Help SJII'IIIII
"Nicht umsonst hat Metzger sein Buch 'Das Verlorene Paradies' überschrieben. Es herrschte wirklich ein wunderbares Klima. Die Atmosphäre war sehr demokratisch. Es gab keine Distanz zwischen Professoren und Studenten. Natürlich wurde am Berliner Institut eine harte Auswahl getroffen. Es blieben nur gute Studenten. So gab es dann z.B. Seminare, an denen Professoren und Studenten der höheren Studienjahre auf gleichberechtigter Basis teilnahmen. Ich war oft bei Wertheimer zu Hause. Wertheimer war ein sehr angenehmer, warmherziger und ernsthafter Mensch. Wenn man mit ihm sprach, spürte man nicht, daJ' man einen Professor vor sich hatte. Er hatte die Art, Studenten, selbst wenn sie etwas Dummes sagten, sehr aufmerksam zuzuhören und dann so zu antworten, daJ' man den Eindruck gewinnen muJ'te, man hätte etwas sehr Kluges gesagt" (Zeigamik, 1986, S. 2). Und an anderer Stelle heiJ't es weiter: "Köhler war ... etwas distanzierter, ich war auch nie bei ihm zu Hause. Am demokratischsten war Lewin. (...) Lewin hatte die Eigenschaft, hinter jeder Alltäglichkeit das Wissenschaftliche zu sehen" (Zeigarnik, 1986, S. 3). Soviel zum geistigen Klima und zum sozialen Umfeld am Berliner Psychologischen Institut in diesen Jahren.
Zur PersiJnlichuit der SchUlerinnen und zur PerslJnlic~it Lewins Was waren das für Studentinnen, die bei Lewin studierten bzw. bei ihm promovierten? Bereits bei einer ersten Analyse ihrer selbst verfaJ'ten Lebensläufe, die den Promotionsunterlagen beigefügt wurden, fällt auf, da~ es sich bei ihnen um hochmotivierte Studentinnen handelte, die die neuen Bildungsmöglichkeiten für Frauen in der Weimarer Republik in Deutschland nutzen wollten. Es waren selbständige junge Frauen, die einen selbstbestimmten Weg gehen wollten. Wie aus den Unterlagen weiterhin ersichtlich wird, führte ihr schulischer Entwicklungsweg in der Regel nicht gradlinig, sondern zumeist auf Umwegen zur Hochschulreife. Nicht wenige von ihnen waren Auslandsstudentinnen, die in Deutschland zunächst zusätzliche Prüfungen ablegen mu~ten, um zum Studium bzw. zu den Examen überhaupt zugelassen zu werden. In der Tabelle auf der folgenden Seite haben wir einige diesbezügliche Angaben über diese Schülerinnen zusammengestellt. Nicht wenige unter Lewins Schülerinnen waren Jüdinnen. Im Falle der Förderung dieser speziellen Gruppe jüdischer Studentinnen durch Kurt Lewin könnte "jüdische Solidarität" bzw. "Solidarität gegenüber Minoritäten• mit im Spiel gewesen sein. Hier wäre daran zu erinnern, da~ Lew in aus Mogilno in der damaligen preu~ischen Provinz Posen stammte, in der als Minoritäten u.a. Polen und Juden lebten. Diese Gruppe seiner Schülerinnen hatte im damaligen deutschen Universitätssystem doppelte oder sogar dreifache Schwierigkeiten zu überwinden, wollte sie eine hinreichende Akzeptanz im akademischen Bereich erzielen, denn sie waren Ausländerinnen, Jüdinnen und Frauen.
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Tab. 1: Herkunft und Studiengang von neun Schülerinnen Lewins (nach Strobelt, 1984). Name, Gebunsjahr u. -ort Doktordiplomjahr
Zusatzprüfungen
Studienorte
Studienflicher
Ditlomprüfung als Le rerin der deutschen Sprache im Ausland
THDanzig Friedr. Wilhelms· Universität Berlin
Allfc. Wissenschaften, Phi osophie, Psychologie, Kunstgeschichte, Geschichte
1902 Baku (Rußland) 1931
Erginzung.'lbriifung für die Preu ische Oberrealschule; Latein
Polytech. lnst. Petragrad Friedr. Wilhelms· Universität Bin.
Elektromechanik, Physik, Mathematik Nationalökonomie, Psychologie, Philosophie, Kunstgeschichte
Forer
Erginzung.~prüfung
1909 Jerusalem ralästina) 193
f. Ausländer in
Universität Heidelberg Berlin
Psychologie, Philosophie, Botanik, Zoologie
BirenboUM
1903 Kowno (Rußland) Trotz Rigorosum nicht promoviert Dembo
Juc/cnQt
Deutsch, Latein, Geschichte, Erdkunde
1904 Gumbinnen (Deutschland) 1936
Staatl. Lehrerexa· Friedr. Wilhelms· men, Abschlußprüfg. Universität Lehrerfonbildung. Berlin verkützte Reifeprüfung (Realgymnasium)
Psychologie, Philosophie, Ge.'IChichte. Physiologie
Kflrsten
Deutsch
Fricdr. Wilhelms· Universität Berlin Abo(Turku)
Uteraturwissenschaft, Psychologie, Soziologie, Wirtschaftswissenschaft
Friedr. Wilhelms· Universität Berlin
Uteratur·, Kunst· u. S&rachwissenschaft, P ilosophie, Psychologie, Physiologie
1902 Abo (Turku) (Finnland) 1927 Lissner
1905 Berlin 1933
ErginzunJ!IIPrüfung Freiburg Latein Marburg. Berlin 1921·1926: Studienunter· brechung
Philosophie, Psychologie, Physiologie, Kunstgeschichte
Ergänzung~~prüfung Friedr. Wilhelms· in Deutsch, Latein, Universität Bin. Mathematik, Physik Pestalozzi-Fröbel· haus Berlin
Philosophie Psychologie, Mathematik, Physik, Gasthörerin: Kinder· girtnerinnenseminar
Zeigflrnilc
Ergänzung~~prüfung
1900 Pllenai (ütauen) 1927
in Deutsch, Geschichte, Geographie
Vorlesungen(?) Philosophie, Psychologie. Geschichte, Physik
Mflhler
1899 Hamburg 1933
Sliosberg
1906 Grodno (Polen) 1934
Fakultät d. huma· nitären Wissensch. d. Ut. höheren Kurse (Kowno) Friedr. Wilhelms· Universität Bin.
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Warum neigten so viele Studentinneo dazu, mit Lewin zusammen zu arbeiten? Ein Gesichtspunkt, der einen gewissen Erklärungswert besitzt, war offenbar Lewins persönlich!? Art, .wissenschaftliche Arbeiten anzuleiten und zu betreuen. Sie war einerseits dadurclt gekennzeichnet, dap er einen hohen Grad an Kollegialität und Gleichberechtigung in das Verhiiltnis einbrachte und andererseits eine hohe Selbständigkeit beim Doktoranden wünschte, voraussetzte und erlaubte (Marrow, 19n, S.S1 und 59). Geistige Selbstlindigkeit als ein essentieller Faktor erfolgreicher wissenschaftlicher Arbeit von Frauen wird von Ulla Fölsing (1990) anband der Biographien von Nobelpreistrigerinnen eindringlich nachgewiesen. Zur Illustration sei dies mit autobiographischen Aussagen Anitra Karstensaus dem Jahre 1979 belegt {Karsten, 1979). So spricht sie dort einerseits davon, dap sie seit ihrer Kindheit eine hohe Akzeptanz gewohnt war, weil sie diese bereits in ihrer Familie erlebt hatte. Sie spricht andererseits davon, dap sie immer eine hohe Selbständigkeit gewohnt war, weil diese in ihrer Heimat Finnland traditionell von Frauen gefordert wurde. SchliefJlich sollte in diesem Zusammenhang noch ein weiterer Gesichtspunkt genannt werden, der einen "Sog-Effekt" auf weibliche Schüler ausgeübt haben könnte. Es war dies der Inhalt der Lewinsehen Psychologie. Sie bestand in dieser Zeit bereits aus einer sehr biotischen wissenschaftlichen Psychologiekonzeption, in Form seiner lebensnah realisierten "Handlungs- und Affektpsychologie" (vgl. dazu z.B. Lewin, 1926, sowie Brauns in diesem Band). Dies war offenbar eine Psychologie, die Frauen anzog, die ihnen lag. Sie kam ihnen wahrscheinlich in ihrer mehr ganzheitlichen Herangehensweise an psychologische Probleme offenbar sehr entgegen. Lewins Fragestellungen und Untersuchungsparadigmen aus dieser Zeit bestechen noch heute durch ihre gelungene Verbindung von Alltagsund Laborsituation. Sie überzeugten und überzeugen durch ihre ökologischer Validität, wie man diese Eigenschaft seiner Methodik spiiter neoneo sollte. SchliefJlich ist nach Persönlichkeitseigenschaften Lewins zu fragen, die so kreativitätsfördernd auf seine Studentinned wirkten. Eine Anwort gibt bereits Alfred Marrow im Jahre 1977 in seinem bekannten Werk (Marrow, 1977). Danach war für Lewin ein ausgesprochen "kooperativer Lebensstil" und eine besonders ausgepriigte "kooperative Kreativität" (Marrow, 1977, S.246 und 251, s.a. Back dieser Band) charakteristisch. In Marrows Aufzeichnungen der Aussagen Lewinseher Mitarbeiter, Studenten und Freunden tauchen immer wieder Formulierungen auf, wonach er ein fröhlicher, sympathischer und unkomplizierter Mensch gewesen war. Hedda Korsch gibt einige Skizzen aus Lewins Studentenzeit: "Kurt schien sich gut anzupassen•. "Ein natürlicher und guter Kamerad". "Ganz gleich in welchem Kreis, er war immer beliebt. Er war lustig und tanzte gern und war der ideale Gefährte für Wocheneodwanderungen" (zitiert nach Marrow, 1977, S. 20f). Nach Marrows Aussagen war Kurt Lewin ein Mensch, der andere kreative Menschen anzog und begeisterte (Marrow, 1977, S.244). Nach Angaben von Bluma Zeigamik, die sie in einem Interview mit Jaroschewskij machte, war Lew in sehr enthusiastisch (Jaroschewskij, 1989, S. 109). In
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seiner wissenschaftlichen Arbeit besa~ er Mut und Originalität und es gelang ihm, auf so komplexen psychologischen Arbeitsgebieten, wie denen der Handlung, Motivation, Gefühle, Affekte und dem des Willens, neuartige Ideen zu entwickeln und mit lebensnahen Paradigmen, e~ri~ntell angemessen umzusetzen. Da~ er in diesem Arbeitsproze~ Frauen besonders gut motivieren konnte, dürfte schlie~lich noch seiner Einstellung gegenüber Frauen geschuldet sein, der seines "positiven Frauenbildes". Man gewinnt den Eindruck,da~ es durch Gleichberechtigung, Achtung und Respekt vor dem Anderen gekennzeichnet war, wie es z.B. auch in den Erinnerungen von Hedda Korsch an den jungen Lewin zum Ausdruck kommt: Er "war der ideale Gefihrte für Wochenendwanderungen, an denen wir lange Diskussionen über die Demoltratisierung Deutschlands und die Befreiung der Frau von den Fesseln der Konvention führten" (zitiert nach Marrow, 1977, 8.21). Diese gleichberechtigte Haltung Frauen gegenüber ist wahrscheinlich ma~geblich durch das sehr positive Verhältnis Lewins zu seiner Mutter entstanden, über das Margarete Jucknat berichtet (Jucknat, o.J.). Die daraus resultierende Akzeptanz gegenüber Frauen, deren selbstverständliche Anerkennung als geistige Partnerinnen, dürfte für seine Schülerinnen eine weitere essentiell förderliche Bedingung ihrer kreativen Leistungen gewesen sein. . Motivierend und kreativitätsförderlich dürften schlie~lich auch die Kommunikationsformen mit seinen Schülerinnen gewesen sein. Marrow hat in seinem Buch eindrucksvolle Schilderungen gesammelt, die wir in diesem Rahmen nicht wiederholen wollen. Wir wollen Marrows Schilderungen allerdings einige hinzufügen, die aus neuen Dokumenten stammen. In dem bereits erwähnten Interview mit Bluma Zeigamik aus dem Jahre 1986 in Moskau heij:k es beispielsweise: "Am demokratischsten war Lewin. Wir waren oft mit ihm im Schwedischen Cafe. Am meisten liebte er Kaffee und Käsekuchen. Er nahm uns auch oft mit auf seine Segeljacht ..•. ". "Lew in hatte die Eigenschaft, hinter jeder Alltäglichkeit das Wissenschaftliche zu sehen .... ". "Ob in dem Laden, auf der Jacht oder (auf der Fahrt, H.S.) nach Harnburg - Lew in nahm immer seine Schüler mit. Aber es ging immer um die Wissenschaft .... ". "Lewin war sehr menschlich. Und diese Menschlichkeit schätzte er auch an Luria und Wygotzlti. In diesem Punkt waren sich die gr~n Gelehrten ähnlich" (Zeigamik, 1986, 8.3/4).
Zur Resonanz der Dissertationen Wie einleitend unter den neuen Quellen aufgeführt, haben wir auch die Gutachten zu den Dissertationen seiner Schülerinnen ausgewertet, die im Berliner Universitätsarchiv lagern. Wie hat Lewin die Dissertationen seiner Doktorandinnen selbst eingeschätzt? Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang die Zusammenfassung aus dem Gutachten über eine Arbeit zitiert. Es handelt sich dabei um die Dissertation von Tarnara Dembo zum Thema unter dem Titel: "Der Ärger als dynamisches Problem". Lewin führt darin resümierend aus: 155
H~lp SJ111111g
"Die vorliegende Arbeit bedeutet ein erstes Eindringen des Experiments in ein sehr umfassendes und bedeutsames Problemgebiet. Dembo hat es verstanden, unter der Fiille der Einzelfakten die dynamisch entscheidenden Fragen aufzusuchen. Der Fortschritt der Methode ist sehr wesentlich. Die Arbeit ist lebendig geschrieben und zeigt im Begrifflichen eine grosse Schärfe. Ich schlage das Prädikat 'valde laudabile' vor" (Lewin, 1930). Fragen wir weiterhin nach der Resonanz der Arbeiten aus dem Arbeitskreis Lewins, den diese im Kreis seiner Kollegen am Berliner Psychologischen Institut der zwanziger und friihen dreiJUger Jahre fanden. Auch in diesem Falle wollen wir als Quellen die Gutachten iiber die Dissertationen der Lewinsehen Schiilerinnen auswerten. Als Beispiele sei aus zwei Gutachten zitiert, die Wolfgang Köhler schrieb. Über die Dissertation von Bluma Zeigarnik heiiJt es bei Wolfgang Köhler am l.Juli 1927: "Ich könnte an der ganzen Arbeit höchstens aussetzen, dass der Entwurf spezieller dynamischer Vorstellungen zur Deutung der Ergebnisse hier und da vielleicht eine etwas schnell arbeitende Phantasie verrät. Doch die kann ja kaum schaden, wenn sie produktiv wirkt und ihre Erzeugnisse fast ausnahmslos sofort strenger experimenteller Priifung unterworfen werden wie hier. Die Untersuchung von Frau Z. steht aber jedenfalls 'weit iiber dem, was man sich sonst unter einer Dissertation vorstellt; ihre weitere Auswirkung ist noch nicht zu iibersehen.lch halte sie fiir eine der besten psychologischen Arbeiten, die iiberhaupt seit einer Reihe von Jahren gemacht wurden, und schlage daher vor, sie fiir ein 'opus eximium' zu erklären" (Köhler, 1927). '- Ein weiteres Beispiel stammt aus Köhlers gutachterliehen Stellungnahme zur Arbeit von Gita Birenbaum, die iiber das Thema "Zum Vergessen einer Vornahme" eine Dissertationsschrift verfaiJt hatte. Am 31. Januar 1930 faiJt Wolfgang Köhler seine Stellungnahme dariiber zusammen: "Dem sachlichen Gehalt nach und im ganzen halte ich diese Untersuchung fiir eine der besten, die mir während der letzten Jahre überhaupt bekannt geworden sind. Sie hat bereits eine ganze Anzahl neuer Fragestellungen angeregt. So kann ich unbedenklich das Prädikat 'valde laudabile' vorschlagen" (Köhler, 1930). Zum AbschluiJ sei zur Nachwirkung der Arbeiten Lewinseher Schiilerinnen noch ein anderer methodischer Ansatz herangezogen, der der Analyse von Zitaten in der Fachliteratur. In einer Zitationsanalyse der "Zeitschrift fiir Psychologie", die Lydia Lange im Jahre 1990 (Lange, im Druck) vorlegte, zeigte sich, daiJ die Arbeiten von Bluma Zeigamik, Tarnara Dembo, Maria Ovsiankina und von Anitra Karsten im Zeitraum von 1954 bis 1961 im
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Zusammenhang mit der EIWähnung von Kurt Lewin, am hiufigsten mitgenannt wurden. Lewin war in dieser Zeit der • nach Gottschaldt • am zweithäufigsten zitierte Autor in der "Zeitschrift für Psychologie". Das war allerdings die Zeit, in der Kurt Gottschaldt der Herausgeber der "Zeitschrift für Psychologie" war. Gottschaldt war ein Schüler Köhlers, der Lewins Arbeiten gut kannte und schätzte.
Lewins "Erfolgsmode/1" • Restunee und Ausblick Die Tatsache, da~ sich zu Kurt Lewin in seiner Berliner Zeit als Schüler vor allem Schülerinnen hingezogen fühlten, und daji diese weiblichen Doktoranden unter seiner Anleitung so beachtliche Leistungen vollbrachten, führe ich vor allem auf folgende Bedingungen zurück, die ich allerdings nicht als Rangreihe verstanden wissen möchte: ·• ~ 1. Auf Lewins heuristisch produktives Konzept einer wissenschaftlichen Handlungs- und Affektpsychologie, die eine hohe Alltagsnihe und Praxisrelevanz besaji. 2. Auf Lewins ökologisch hoch valide Paradigmen, mit denen er die empirischen Untersuchungen in lebensnahen Experimenten durchführen konnte. 3. Auf Lewins demokratischen Führungsstil, der mit einer hohen Akzeptanz und SelbstständigkeitseiWartung den Schillerinnen gegenüber gepaart war. 4. Auf seine Förderung durch Forderung, wobei er vorlebte, was er von anderen verlangte. 5. Auf Lewins positives Frauenbild, das von Gleichberechtigung und durch geistige Part· nerschaft geprägt war. 6. Auf die hohe Studien-, Bildungs- und Arbeitsmotivation seiner Doktorandinnen, die sich alle schon vor der Zusammenarbeit mit Lewin durch ihre mehr oder weniger schwierigen Bildungswege als beharrlich und nachhaltig eiWiesen hatten. ~· i Gerade solche Bedingungen, wie sie Lewin seinen Schülerinnen bot, sind nach meinem Verständnis allgemeinere Voraussetzungen, unter denen es Frauen leichter gelingt, in der Wissenschaft kreativ zu werden. Insbesondere kommt das durch Akzeptanz und Gleichberechtigung bestimmte soziale Klima in Kurt Lewins Forschungsgruppe dem Be· dürfnis vieler Frauen nach partnerschaftliehen Arbeitsformen entgegen (Wagner, 1985). Das Problem "Frauen in der Wissenschaft" ist noch heute- trotz hoher Studentionenzahlen - in einem nicht geringen Majie noch immer als Minorititsproblem aufzufassen. Nicht wenige Frauen in der Wissenschaft fühlen sich bis zum heutigen Tage in einem gewissen Ausmajie noch immer in einer "Au~nseiter"· bzw. in einer "Pioniersituation•, wie es 1985 lna Wagner formulierte. Eine andere Autorin, Myriam Salzmann, hat im selben Jahr diese nicht selten anzutreffende schwierige Rollensituation weiblicher Wissenschaftler noch zugespitzter formuliert und sie mit "Fremdarbeiterinnen" verglichen (Salzmann, 1985). Nach meinen Erfahrungen bedürfen Frauen in wissenschaftlichen Arbeitsgruppen in einem stirkeren Majie als Männer eines günstigen sozialen Klimas, um sich wissenschaftlich entfalten und kreativ werden zu können. Sie bedürfen einer stärkeren sozialen Unterstützung 157
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zur Festigung ihres Selbstbildes als Wissenschaftlerin. Das gruppendynamische Modell "Lewin und seine Berliner Schülerinnen" scheint mir daher ein gelungenes Beispiel einer kreativen und frauenförderlichen wissenschaftlichen Arbeitsgruppe gewesen zu sein, von dem man auch nach einem Zeitabstand von etwa sechzig Jahren vieles lernen kann.
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Helgll Sprru~g
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Sergej Eisenstein und Kurt Lewin Oksana Bulgakowa Sergej Eisenstein war einer der ersten Filmregisseure, der in der Psychologie Anregungen für seine Kunstästhetik und seine künstlerische Praxis suchte. Kurt Lewin wiederum war einer der ersten Psychologen, die den Film als Forschungsmittel benutzten, da der Film nach seiner Auffassung am besten das sichtbare Verhalten erfa~e. Sergej Eisenstein interessierte sich für alle Richtungen innerhalb der modernen Psychologie. Berlin, wo er zwischen Ende August 1929 und Ende Januar 1930 bis auf kurze Unterbrechungen fast ein halbes Jahr verbrachte, bot ihm reiche Gelegenheit für unmittelbare Kontakte zu einigen bedeutenden Vertreternzweier verschiedener Schulen -der Psychoanalyse und der Gestaltpsychologie.
Begegnungen in Berlin Im Oktober 1929 hielt Eisenstein einen Vortrag in dem Berliner Institut für Psychoanalyse. Das 1bema des Vortrags lautete •Ausdrucksbewegung". (Im Moskauer Eisenstein-Archiv ist ein Zettel mit Thesen erhalten geblieben). Es läf't sich nicht mehr feststellen, wie dieser Vortrag aufgenommen wurde. Es gab darüber hinaus die Einladung zu einem Vortrag im Psychologischen Institut der Universität. Wolfgang Köhler, der lnstitutsdirektor, schrieb Eisenstein in einem Brief vom 24. 1. 1930 an die Adresse Berlin, Lutherstraf'e 7-8: "Sehr verehrter Herr Eisensteint Herr Kollege Lewin hat mich darauf aufmerksam gemacht, daf' Sie durch Ihre künstlerische Tätigkeit auf das Studium des psychologischen Ausdrucksproblems geführt worden sind und auf diesem Gebiet Beobachtungen und Gedanken von grof'er Bedeutung gesammelt haben. Ich lege den ~n Wert darauf, daf' die Lehrer und Schüler des psychologischen Instituts in Berlin Anregungen der mannigfaltigen Art erfahren, insbesondere auch solche, die von ganz anderen Tätigkeitsgebieten herkommen. So würden wir uns also zum gröf'ten Dank verpflichten, wenn Sie es ermöglichen könnten, innerhalb der nächsten Wochen, womöglich vor dem 1. März, über dieses Gebiet zu berichten .••• Da Eisenstein bereits am 28. Januar Berlin verlassen hatte, ist zu bezweifeln, daf' er die Vortrapeinladung tatsächlich annehmen konnte. (Im übrigen ist das Archiv des damaligen Psychologischen Instituts weitgehend vernichtet, und auch im Merseburger Staatsarchiv fanden sich keine diesbezüglichen Unterlagen.) Es kam jedoch zu einer Begegnung zwischen Eisenstein, Köhler und Lewin, die in Eisensteins Tagebüchern vermerkt ist. So steht
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dort geschrieben: "22. Januar, 14. Uhr - Professor Köhler und Lewin" (vgl. Leyda 8t Voynov, 1982). Amselben Tag (am Vormittag) besuchte Eisenstein (zusammen mit lvor Montagu) das Institut von Magnus Hirschfeld. Seton (1960, S. 134) meint, Eisenstein habe sich als Patient dorthin begeben. Köhlers Brief wurde übrigens in einem Exemplar von Köhlers Buch The Gestalt Psychology von 1929 in Eisensteins Bibliothek aufbewahrt. (Von Kurt Lewin steht dort Dü Entwiclclung der experimentellen Willenspsychologü .) Psychoanalyse war damals unter akademischen Psychologen verpönt; die Kreise hatten miteinander keinen Kontakt. Der Name Freud war im Psychologischen Institut tabu, erinnerte sich ein damaliger Aspirant. Doch das Interesse Kurt Lewins für die Psychoanalyse war bekannt (s.a. Lück 8t Rechtien, 1989). Es ist nicht bekannt, ob Lewin bei dem Vortrag Eisensteins im Psychoanalytischen Institut anwesend war; auf jeden Fall hatte er Kenntnis von Eisensteins Theorie der Ausdrucksbewegung und veranla!Jte Köhler zur Einladung Eiseosteins an die Universität. Das geht aus seinem Brief an Eisenstein vom 3.Dezember 1929 nach London hervor: "lieber Herr Eisensteint Herzlichen Dank für Ihre Grüsse aus Paris. Natürlich habe ich noch sehr an Ihre Lektion gedacht. Sie wissen doch, dass mir Ihre Ausdruckstheorie wichtiger ist, als die sämtlicher Psychologen. Ich habe schon mit Köhler beratschlagt, wie wir die Einladung an Sie bewerkstelligen. Es wird bestimmt möglich sein und sobald Sie hier sind, verabreden wir das Wie .... " (ZGALI (Zentralny Gossudarstwenny archiv literatury i iskusstwa I Zentrales Staatsarchiv für Literatur und Kunst], Fond 1923, op. 1, ed. chr.1908,1. 1). Eisenstein hat diesen Brief am 17.12.1929 in Paris beantwortet). Alexander Luria sandte am 17.2.1930 einen beschwörenden Brief an Eisenstein nach Paris, um ihn in seiner Absicht zu bestärken, die Berliner Vorlesung an der Universität zu wiederholen: "... Es ist gewi!J wunderbar, da!J es mit der Einladung an die Berliner Universität so gut klappte. Sie müssen den Vortrag unbedingt halten. Erstens, weil es sehr interessante I..Cute sind •.•, und zweitens ist das eine nie dagewesene Ehre für einen russischen Gelehrten" (ZGALI, Fond 1923, op. 1, ed. ehr. 1932,1. 66). Lewins Interesse hatte noch einen anderen Hintergrund. 1923/24 entstanden seine ersten Filme, in denen er die Kamera als Hilfsmittel psychologischer Forschung einzusetzen versuchte (Lück, 1985). Er erforschte darin Ausdruck, Affekte, Handlungen und Bewegunpverläufe bei Kindern. In diesen Filmen habe er den Grundstein für seine Feldtheorie gelegt, meint Lewins russische Assistentin Bluma Zeigamik in einem Interview (Lück, 1984). Graumann schreibt 1981 (S. 7) im Vorwort der von ihm herausgegebenen KurtLewin-Werke: "Der sowjetische Psychologe Luria war von Lewins Filmen so angetan, dajJ
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er ihn'mit dem RegisseurS. Eisenstein zusammenbrachte und selber den Plan faf'te, in Moskau ein psychologisches Laboratorium zu gründen, das eng mit der dortigen Staatlichen Filmakademie zusammenarbeiten würde. • Das bezieht sich auf die Begegnung von Lewin und Luria im Februar 1933 in Moskau. Doch zu der Bekanntschaft Lewins mit Eisenstein war es bereits früher gekommen, und zwar 1929 in Berlin. Bluma Wulfowna Zeigamik erinnerte sich sogar daran, daf' Eisenstein sich in Berlin einige Filme von Lewin angesehen habe, z.B. "Hanna setzt sich auf den Stein". Sie selbst habe während der Vorführung neben ihm gesessen. Bluma Zeigarnik erzlihlte, daf' Eisenstein auch bei Lewins Aufnahmen zugegen war (wahrscheinlich zum Film "Das Kind und die Welt"), und Lewin habe sich bei ihm fachmännischen Rat eingeholt {Interview mit Bluma Zeigarnik im September 1987 in Moskau). Es sei in diesem Zusammenhang daran erinnert, daf' Köhler ebenfalls Erfahrungen mit Filmen gesammelt hatte. Köhler verbrachte die Zeit des ersten Weltkrieges auf der Anthropoidenstation in Teneriffa und widmete sich dort seinen später berühmt gewordenen Intelligenzuntersuchungen an Schimpansen {Köhler, 1921). Das Verhalten seiner Tiere hat er dabei in Filmen dokumentierte, die erhalten geblieben sind. Während Eisensteins Verhältnis zur Psychoanalyse seit langem die Biographen beschiftigt (was allerdings niemanden von ihnen zu einer systematischen Dokumentation bewog), wurde seine Beziehung zu den Gestaltpsychologen bis jetzt nicht beachtet. Der kurze Briefwechsel zwischen Eisenstein und Lewin ist noch nicht veröffentlicht - ebenso wenig wie der zwischen l.Airia und Lewin. Das Treffen kam vermutlich Ober Luria zustande. Dieser lernte Lewin 1925 kennen, trafihn nochmals 1927. Eisenstein und Luria lernten sich wahrscheinlich 1925/26 kennen. Noch vor Eisensteins Abreise nach Europa/Amerika faf'ten sie den Plan für eine gemeinsame Forschungsarbeit. Luria stattete Eisenstein auch mit Empfehlungen für seinen deutschen Kollegen aus. Im Herbst 1929 weilte er in den USA und schickte von dort aus zwei Briefe nach Berlin an Eisenstein und an Lewin, um die Begegnung zwischen den beiden zu vermitteln. DerJ Brief an Lewin war vom 20.9.1929 datiert und lautete: "üeber Doktor Lewin! Ich sende Ihnen hiermit einen Brief an Eisenstein, Sie werden ihn in der Kinoabteilung der Sowjethandelsvertretung (Undenstr.) finden. Falls er nicht da ist, werden Sie dort seine Adresse bekommen. Suchen Sie ihn auf, das Gesprich mit ihm wird Ihnen sehr interessant sein" (im Original deutsch). Im Briefan Eisenstein vom 24.10.1929 hief' es u.a.:
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"Ueber Sergej Michailowitsch, ich schreiben Ihnen auf Gutglück und hoffe, ~ mein Brief Sie in Berlin erreicht. Mein Freund, Professor am Berliner Psychologischeil Institut, wird ihn Ihnen übergeben. Ich habe viel mit ihm in Amerika gesprochen, er hat ein starkes Interesse an Ihrer 'Spirale' gezeigt. Er erforscht speziell die Bewegung des Menschen unter dem Einßufi der Kräfte, die von ihm und von der Umgebung ausgehen. Es gelang ihm auch, etwas experimentell zu finden, was Ihre Vermutungen stark bekräftigt. Ich bin sicher, dap er Sie aufierordentlich interessieren wird genauso wie Sie ihn. Bitten Sie ihn darum, dafi er Ihnen Ausschnitte aus seinen Filmen zeigt, wo er die experimentell hervorgerufene Bewegung eines Kindes im Kreis aufgenommen hat(!)••••• (ZGALI, Fond 1923, op.1, ed. ehr. 1932, I. 3). Die im Brief erwähnte "Spirale" bezieht sich auf Experimente zur Bewegung im Kreis im Hypnosezustand, die Eisenstein und Luria am 13.12.1928 in Moskau mit Hilfe des Hypnotiseurs Kanabich durchgeführt hatten. Übrigens traf Eisenstein 1934 in Moskau mit einem weiteren Vertreter der Gestalttheorie zusammen, mit Kurt Koffka. K.offka nahm damals an Lurias Mittelasienexpedition teil. Interessanterweise befafite sich Eisenstein nicht eingehend mit der Hauptdomäne der Gestaltpsychologie, nämlich der visuellen Wahrnehmung und dem Denken. Vielmehr war die Ausdrucksbewegung das Thema, welches sich der gröfiten gemeinsamen Aufmerksamkeit erfreute. Dadurch wurde Lewin zu Eisensteins wichtigstem Gesprächspartner unter den Gestaltpsychologen.
Eisensteins Ausdruckstheorie
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Die Vorstellung von der Ausdrucksbewegung-alsErscheinungsbild einer emotionalen Regung in der Motorik - war sehr wichtig für vemchiedene TheateiSChulen seit Anfang des Jahrhunderts. Sie gewann eine starke Bedeutung für die Entwicklung der frühen deutschen Filmtheorie. Um das Konzept der Ausdrucksbewegung formiert sich die Filmtheorie von Sela Balazs (19~4/1982). Hugo Münsterberg, einer der ersten Psychologen, der sich mit Filmtheorie befallt hat, untersuchte in seinem 1916 in New York eiSChieoen Buch The Film. A Psychologicol Study, wie der Film die Bewegung zum ästhetischen Erlebnis macht. (Möglicherweise haben die aktuellen Debatten zur Filmtheorie auch Lewin Impulse gegeben.) Die nach Rufiland gelangenden zeitgenössischen Ideen über die Ausdrucksbewegung waren stark durch deutsche Autoren geprägt. 1922 hatte der sowjetische Regisseur Wsewolod Meyerhold seinem Schüler Eisenstein die Aufgabe gestellt, für die in Vorbereitung befindliche Theaterenzyklopädie einen Aufsatz zum Thema "Ausdrucksbewegung• zu schreiben. Eisenstein, der sich als gebürtiger Balte in der russischen Sprache nicht sicher fühlte, bat seinen Freund Sergej Tretjakow, ihm beim Verfassen des Textes zu helfen. Er sammelte Material, besuchte das Ton-Piasso-Studio beim Moskauer Theater Proletkult, das
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nach dem System von Dalcroze arbeitete; vermutlich nahm er wlhrend Meyerholds RegieLehrgängen an den Vorlesungen Nikolai Bernsteins teil. Im Sommer 1923 schrieb er zusammen mit Tretjakow seine erste theoretische Arbeit Die Ausdruclcsbewegung. (Sie ist bis heute im Russischen nicht erschienen, nur 1979 gekiirzt in Englisch, in einer New Yorker Zeitschrift.) Obwohl die Ideen Eisensteins von einer anderen Schule herstammen, lassen sich erstaunliche Übereinstimmungen zwischen den Auffassungen des Theater-und Filmregisseurs, der nach der expressiven Bühnenbewegung sucht, und den Ansichten eines psychologischen Verhaltensforschers entdecken. Eisenstein vermochte, die Vorleistungen verschiedener psychologischer Richtungen zu integrieren sowie rückwirkend die verschiedenen Richtungen für sein System zu interessieren, wie seine Berliner Vorlesung zeigte. In seinem ersten Aufsatz "Ausdrucksbewegung" stützt er sich auf die geisteswissenschaftliche Psychologie von Ludwig Klages. Auf ihn s~t er "zufällig" - über Bode, der ab 1921 an der Deutschen Filmschule Miinchen unterrichtete und sich selbst auf die Lehre von Klages berief (Bode, 1922). Eisensteins Aufsatz von 1923 ist eigentlich eine Bode-Synopse; vielleicht hat er ihn deshalb nicht veröffentlicht. Im Originallas Eisenstein Klages (1923) erst später. Die revidierte Fassung seiner Theorie der Ausdrucksbewegung erschien 1924 als Aufsatz unter dem Titel Monwge der Filnulttraktionen (Eisenstein, 1988, S. 31-43). Ab diesem Zeitpunkt bezeichnet er seine Ausdruckstheorie als seine eigene Entdeckung (Tagebuchnotiz vom 30.9.1946, in Eisenstein, 1966, S. 751). Eisenstein versucht die "störenden" metaphysischen Begriffe "Seele, Geist, Wille" (die er als zu "schopenhauerisch" empfindet) durch Pawlowsche Begriffe (bedingte und unbedingte Reflexe, Hemmung) zu ersetzen. Warum war Klages' Theorie für Eisenstein so anziehend und wichtig? Klages· verstand (wie auch die Reflexologen, von denen sich die sowjetischen Künstler maflgeblich beeinfluflt fühlten) die Bewegung als objektive Erscheinung des Inneren. Über die materiellen Körpervorgänge nähme man die Seele wahr. So stellte Klages einen Zusammenhang zwischen Subjektivem und Objektivem, zwischen Körper und Seele her. Klages beginnt mit der Beschreibung des Carpenter-Effekts. Im persönlichen Umgang würden Erlebnisse auf Grund des Ausdrucksgehalts von wahrgenommenen Körpervorgingen übertragbar. Klages hebt sich damit von der "Einfühlungstheorie" von Theodor Upps (1906) ab, dereine unmittelbare Gefühlsübertragung annimmt. Der Ausgangspunkt für Klages wird das von dem englischen Arzt Carpenter 1874 erstmalig beschriebene ideo-motorische Phänomen: Das Sehen einer Bewegung (im schwiicherem Mafle das Vorstellen einer Bewegung) löse die Tendenz zur Ausführung dieser Bewegung aus (vgl. Lotze, 1852, S. 293). Eisenstein war von dieser Aussage begeistert, da er darin die "materielle" Grundlage seiner Wirkungstheo.Ii.~_erblickte. Diese Theorie postulierte im Kern folgendes: Nicht der Schauspieler solle erleben, sondern der Zuschauer. Der Schauspieler soll eine Bewegung vollführen, die den Zuschauer "ansteckt" und in ihm die gewünschte Emotion auslöst. Auf diesen beiden Grundslitzen bauten Kuleschow (Naturstschschik-Schule) und Eisenstein ihr System auf. 165
Eiseostein brachte zusätzlich noch Ideen von William James (vgl. etwa James, 1909, S. 371-428) in seine Theorie ein. James meinte, Körpervorginge seien Ursachen von Gefühlsedebnissen. Davon grenzte sich Klages ab. Klages sah in der Beziehung von Seele und Körper keine kausale Verbindung. Der Köiper tritt lediglich als Zeichen der Seele auf. Jede Ausdrucksbewegung verwirklicht den Gehalt einer seelischen Regung und tritt als gegenstAndliehe Verwirklichung der dem Erleben innewohnenden Antriebsform in Erscheinung. Die BeZiehung zwischen Gehalt und Form, Nichtmateriellem und Materiellem, Zeichen und Bezeichnetem sollte Eisenstein die nächsten fünf Jahre brennend interessieren - am Zusammenhang von photographischer Abbildung und Bedeutung und auf der Suche nach gOitigen Filmzeichen. Das spannendste Moment in dem Konzept Klages bildete fiir Eisenstein die Analyse der Ausdrucksbewegung. Gerade das erklärte er später zum Kern seiner "Bi-Mechanik". Material aller Bewegungen, meinte Klages. seien die Triebbewegungen; sie seien die eigentlichen Ausdrucksbewegungen, die den Inhalt des Triebes zum Ausdruck bringen. Die anderen Bewegungen, die Willensbewegungen, seien entstanden unter Beteiligung des Willens, der Hemmung, die die Ausdrucksbewegung modifizieren. Also realisieren sich die meisten Bewegungen als Konflikt von zwei Kräften, Trieb und Wille, wobei letzterer vom Bewu~t sein gesteuert werde. Hier wiederum modifiziert Eisenstein die Klagessche Lehre. Er erklärt zur Ausdrucksbewegung (anders als Klages) jene Bewegung, die sich als Konflikt zwischen Triebiu~tung und hemmender Kraft des Willens realisiert. Nun winl verständlich, warum Bode für Eisenstein so attraktiv war. Eisenstein stellte ihn den anderen Bewegungsschulen gegenüber, der von Delsartes oder Jacques-Dalcroze, die in Ru~land damals viele Anhänger hatten. Eisenstein wandte sich Bode zu, da es diesem nicht um ästhetische oder ekstatische Erscheinungen ging (wie Tanz), nicht um Willensbewegung (wie Sport), sondern um die Ausdrucksbewegung, die beide Kräfte - Trieb und Wille - einschlie~ und das Moment des Konflikts wie das Moment des Zusammenspiels der Kräfte enthält. Bode lie~ Entspannung trainieren, da sie den Widerstand des Körpers gegen die Triebbewegungen löse, und er riet, die Anspannung zu stärken, um das Vermögen zu entwickeln, bewu~t die Bewegung durch Widerstand zu lenken. Bode schien für Eisenstein um sp wichtiger zu sein, da er - anders als Delsartes - keine Bewegungsschablone anbot, keinen Katalog gestischer Zeichen, die zu trainieren wären, sondern ein System, nach dem eine physiologisch "ansteckende" Bewegung gesChaffen wenlen könnte. Das Modell berücksichtigt den für Eisenstein so wertvollen Antagonismus von Trieb und Willen, Körper und Seele oder, wie er es in seinem Aufsatz nennt, Reflex und Hemmung. Ausgehend von diesem Antagonismus baute Eisenstein sein System aus. Bode setzte sich nicht das Ziel, eine Theaterbewegung zu begründen. Gerade das tat Eisenstein: Man müsse die Theaterbewegung bewu~t organisieren, d.h. das Moment des Kampfes der Kräfte herauszustellen wissen.
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Um etwa beim Eintreten auf die Bühne bemerkt zu werden, braucht man nur eine kleine Bewegung in die entgegengesetzte Richtung zu vollführen, damit das Moment des Eintretens betont wird. In diesem alten "Kniff" erblickte Eiseostein eine tiefe psychologische Begründung: Gerade die Gegenbewegung ist die Materialisierung des Konflikts zwischen Trieb und Willen, Reflex und Hemmung, Unbewujitem und Bewujitsein. Die Bewegung zielt nicht auf eine ästhetische Reaktion (mu~ nicht als "schön" empfunden werden), sondern auf eine physiologische: sie soll im Zuschauer jene Muskelanspannung bewirten, die eine Tendenz zur Ausführung der Bewegung zeitigen (s.a. Eiseostein, 1988, S. 32t). Am 17. Juni 1925 schreibt Eisenstein (1985, S. 30-36) eine Berichtigung zur Darstellung seiner Theorie durch Alexander Belenson und erklärt, daji er sich an das Moskauer Hirnforschungsinstitut wenden wird, um von ihm beobachtete Gesetzmijiigkeiten experimentell überprüfen zu lassen. Möglicherweise wandte sich Eisenstein 1925 tatsichlieh an das Hirnforschungsinstitut und lernte dort Luria kennen. Während seiner Bekanntschaft mit Eisenstein arbeitet Luria an der Willeosforschung. Eisenstein nahm an einer Reihe von Experimenten in dessen Laboratorium am Hirnforschungsinstitut teil, die Luria später in seinem (bisher nur auf Englisch veröffentlichten) Buch The Nature of Human Conflicts zusammenfajite. In Moskau arbeitete Eiseostein nach seiner Rückkehr aus Übersee noch eine Zeit lang mit Marr, Luria und Wygotski an dem gemeinsamen Projekt zur Psychologie der Kunst, das bereits Ende der zwanziger Jahre ios Auge gefajit worden war. Doch Marr und Wygotski starben, bevor das Projekt ausgereift war. Daraus überliefert ist lediglich Eisensteins Manuskript Methode. Lewins Handlungspsychologie und Probleme der Darstellung im Film
Innerhalb der Berliner gestaltpsychologischen Schule untersuchte Lewin ein eigenständiges Gebiet, nämlich Wille, Affekt und Handlung in ganzheitlicher Betrachtungsweise. Eine Einzelerscheinung bekommt danach einen Sinn erst durch ihre Zugehörigkeit zu einem übergeordnetem Ganzem. Das Ganze besteht aus der Person mit ihrer Binnendifferenzierung · und ihrem Umfeld. Lewin analysierte die Handlung und führte zu deren Erklärung den Begriff der Systemspannung ein. Der Ablauf der Handlung und die Richtung des Geschehens würden durch die Kräfte des psychischen ·Feldes bestimmt. Das Verhalten einer Person und die Feldkräfte stellte Lewin (1936) mit Hilfe eines mathematischen Ansatzes dar, der Topologie. Die Absicht Lewins, die Gesetzmäjiigkeiten des psychischen Geschehens exakt festzuhalten, sie topologisch zu beschreiben, faszinierte Eisenstein. Seine eigene Neigung zur analytischen Geometrie, mit deren Hilfe er einige Gesetzmijiigkeiten der Form darzustellen versuchte, stand Lewins Methode nahe. In Eisensteins Untersuchungen zum Autbau der Elisabethanischen und spanischen Dramen (in dem Manuskript Methode) klingt die
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Lewinsehe Theorie an: das System wird aus dem Gleichgewicht gebracht, und es strebt danach, diesen Zustand wiederherzustellen. Eisenstein benutzt dabei später auch den Begriff des Vektors. In seinem Aufsatz Kindlicher Ausdruck kommt Lewin Eisens~eins Konzept der theatralischen Ausdrucksbewegung sehr nahe. "Die gleichzeitige Zugehörigkeit zu verschiedenen seelischen Schichten- bzw. Systemen- ist die generelle Eige~chaft des Ausdrucks überhaupt." Dabei- so Lewin-müsse man Ausdruck als einen unselbständigen Teil-eines umfassenden psychischen Geschehensablaufes auffassen (Lewin, 1927; diesen Aufsatz schickte Luria Eisenstein nach Paris (vgl. seinen Briefvom 8.2.1930; ZGALI, a.a.O.,I. 2]). Lewin charakterisiert diese Prozesse in seinen Begriffen: Aufforderungscharakter, Valenz, Quasi-Bedürfnisse, Feld, Spannungsystem. Doch der Grundgedanke, Ausdruck sei von verschiedenen Schichten geprägt, die gegeneinander und miteinander in Beziehung treten sowie gleichzeitig von mehreren Faktoren abhängen, entSprach dem Grundsatz Eisensteins. Den Film benutzte Lewin als Hilfsmittel zur wissenschaftlichen Forschung und Demonstration, da er sichtbare Abläufe, Ausdrucksgeschehen und Bewegungsstörungen festhalte. (Die Filme von Kurt Lewin sind erhalten; Helmut E. Lück von der Fernuniversität Hagen hat sie inzwischen auf Videoband übertragen.) Der Spielfilm, meinte er, ziele darauf, gewisse psychologische Prozesse für den Zuschauer sichtbar zu machen. Psychologischer Film untersuche, wie weit die psychologischen Prozesse in Erscheinung treten. Hier könne man häufigjene psychischen Kräfte aufzeigen, die zur Fehlhandlung führten (Lewin, 1932). Aber Eisenstein erlebte wohl bei der Vorführung der Filme eine noch viel gröpere und angenehme Überraschung. Die Gegenbewegung, die in Meyerholds Biomechanik und Eisensteins Bimechanik so bewundert wurde, war nicht als psychologisch motiviert angesehen, eher als eine ästhetische Willkür, als avantgardistischer Einfall verstanden. Eisenstein entdeckt diesen biomechanischen Einfall in den kurzen Filmen Lewins wieder - und dieser Experimentalpsychologe erklärt ihm anband dieser biomechanischen Bewegungen seine neue psychologische Feldtheorie. Ein achtzehn Monate altes Kind versucht, sich auf einen Stein zu setzen. Die Szene beschreibt Lewins Biograph Marrow (19n, S. 75f.) folgendermapen: "Hanna war sich nicht sicher, dap sie beim Hinsetzen auf den richtigen Fleck kommen werde, wenn sie ihre Augen von dem Stein abwendete. Um sich hinzusetzen, war sie genötigt, dem Stein ihre Rückseite zuzuwenden. Beim Versuch, dies zu tun, ohne ihre Augen von dem Stein abzuwenden, umkreiste sie ihn viele Male. Manchmal wurde sie durch etwas abgelenkt, und sie wich von ihrem kleinen Kreis ab. Die Schwierigkeiten, denen sie auf ihrem Weg begegnete, waren zahlreich und mannigfaltig, aber schlieflIich erreichte sie es mit offensichtlicher Befriedigung, indem sie ihren Kopfzwischen ihre Beine steckte und sich nach hinten, auf den Stein, fallen lief)."
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Lewin wies darauf hin, da~ das kleine Kind, um sein Ziel zu erreichen, sich herumdrehen Dadurch erhielt seine Bewegung eine Richtung, die der Feldkraft entgegengesetzt war. Die positive Valenz in Richtung auf den Stein war so stark, da~ es dem Kind schwer fiel, sich in einer der Feldkraft entgegengesetzten Richtung zu bewegen. So machte es energische, aber erfolglose Bewegungen in Richtung der Valenz. Mit seinen 18 Monaten konnte das Kind das Feld noch nicht umstrukturieren, so da~ es eine allgemeine Bewegung vom Zielfort als die bio~ erste Phase einer allgemeinen Bewegung auf das Ziel hin hätte wahrnehmen können". (Die Beschreibung des Films ist hier insofern nicht ganz korrekt, als die Lösung nicht Hanna, sondern dem anderen Kind, Hans, einfiillt). Ohne das zu ahnen, hielt Lewin hier eine der klassischen Etüden der Biomechanik fest. Die Filme Lewins und sein VerslindDis des Ausdrucks bestitigten Eisenstein, da~ das von ihm bevorzugte biomechanische Prinzip- der Kampf der Motive -auch von der experimentellen Psychologie - und obendrein mit den Mitteln des Films - nachgewiesen wurde. Die Ausdrucksbewegung, wie Eisenstein sie beschrieb, könnte in der Lewinsehen Terminologie als Konfliktsituation beschrieben werden, in der eine positive und eine negative Valenz miteinander kollidieren. (An dem Artikel, in dem Lewin diesen Sachverhalt darlegt, arbeitete er 1929; der Text erschien 1931 in englischer Sprache.) Die gestaltpsychologische Schule stattete Eisenstein darüber hinaus mit einem wichtigen Begriff aus, der zur Vervollständigung seines Kunstmodells beitrug: dem Begriff des geschlossenen Systems. Ein geschlossenes System ist dadurch bestimmt, da~ alle Teile derart in funktioneller Abhängigkeit zueinander stehen, da~ der Zustand an einer Stelle des Systems den Zustand an allen übrigen Stellen des Systems wesentlich mitbestimme; die Veränderung des Zustandes an einer Stelle ziehe dann die Veränderung des ganzen Systems nach sich. Eisenstein übertrug dieses Verstindnis auf das Kunstwerk, das er als System auffa~te und mit dem Begriff der Struktur zu beschreiben versuchte. Spätestens 1938/39, in den Aufsätzen Ober den Bau der Dinge und Nochmals aber den Bau der Dinge (Eisenstein, 1964, S. 37-71, 234-250), wird diese konzeptionelle Gemeinsamkeit offenkundig. Die Berliner Begegnung zwischen Eisenstein und Lewin war also ein glücklicher Umstand, der diese beiden Experimentatoren, die auf ihren beiden Gebieten völlig unkonventionelle Wege gingen, zusammenführte. mu~te.
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"Aber das Schicksal des einzelnen Juden ist wohl immer ... nicht nur ein persönliches Schicksal gewesen•: Kurt Lewin - ein deutschjüdischer Psychologe Helmut E. LIJc/c Natürlich ist bekannt, da~ Kurt Lewin deutscher Jude war, als solcher zur Emigration gezwungen wurde und nach seiner Emigration in die USA mit jüdischen Organisationen zusammenarbeitete. Jedoch ist der Grad der jüdischen Identität Lewins möglicherweise bislang unterschätzt worden. Hierfür sprechen verschiedene Fakten. So wird in der psychologischen Fachdiskussion das wissenschaftliche Wert eher vom Forscher losgelöst betrachtet, so da~ bei der Diskussion von Theorien, Methoden und Forschungsergebnissen die Umstände der Entstehung der wissenschaftlichen Leistungen wenig bedacht werden. Dies gilt auch für Kurt Lewin. Einige Autoren haben der jüdischen Identität Lewins nur eine relativ geringe Bedeutung beigemessen. Schlie~lich sind Lewins angewandt-psychologische Arbeiten, die sich spezifisch mit jüdischer Erziehung, Selbstha~ von Juden usw. befassen, im Vergleich zu seinen theoretischen und experimentellen Arbeiten weniger beachtet und zitiert worden. Naheliegend ist die weitere Frage, ob Lewins Theorien spezifisch jüdische Züge äufweisen. Während in den letzten Jahren bezüglich der Psychoanalyse entsprechende Diskussionen geführt wurden (vgl. Robert, 1977; Heenen-Wolff, 1987) und z.B. auf die Ähnlichkeit von Alfred Adlers Individualpsychologie mit der jüdischen Religionsphilosophie hingewiesen wurde (Wullstein-I..eissner, 1982), ist die Frage nach der spezifisch-jüdischen Denktradition in der Psychologie und erst recht in der Feldtheorie noch unerforscht. Vielleicht ist eine solche Suche nach jüdischen Elementen in psychologischen Theorien deutsch-jüdischer Psychologen wie Wertheimer, Stern und I..ewin auch zu spitzfindig, weil gerade intellektuelle Juden im deutschen Sprachbereich sehr assimiliert waren. Sie arbeiteten Seite an Seite mit nicht-jüdischen Kolleginnen und Kollegen und stellten ihre Theorien und Untersuchungsergebnisse der ganzen scientific community zur Verfügung. Und trotzdem können jüdisch-kulturelle Spezifika zu finden sein, die selbst den Autoren verborgen geblieben sind. Sensibel für unbewu~te Tendenzen hatte Sigmund Freud die Entwicklung seiner Psychoanalyse schon in Verbindung mit seinem eigenen Judentum gesehen und angenommen, jüdisches Denken sei freier von Mystik und offener für analytische Betrachtungen.
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Helmut E. LDd:
Die Beschäftigung mit Kurt Lewin als Angehörigem der ethnischen und konfessionellen Gruppe der Juden in Deutschland stellt, so gesehen, vielleicht nicht nur einen Beitrag zur Biographie Lewins, sondern vielleicht auch zum besseren Verständnis von Lewins Werk dar. Es sei jedoch gestattet, in diesem Referat die biographischen Aspekte stärker hervorzuheben. ZumJutkntum in Deutschland
Wenn man von "Juden" spricht, sollte man weder an eine spezifische ethnische Gruppe noch an eine Religionsgemeinschaft mit spezifischen Regeln (Speisegesetze, Sabbatheiligung usw.) denken, da solche eng gefa~ten Definitionen dem rassistisch begründeten Antisemitismus gerade im Deutschen Reich nicht gerecht werden. Charakteristisch für deutsche Juden war, da~ sie seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts durch Aldculturation ein sikularisiertes Judentum praktizierten, bei dem an die Stelle orthodoxer Religionsausübung die "Schätze klassischer deutscher Philosophie und Dichtung" traten (Grab, 1988). Beispielhaft li~t sich hier einfügen, da~ der Gro~vater des Psychologen William Stern eine jüdische Reformgemeinde begründet hatte. Günther Anders, der Sohn von William Stern schrieb, sein Urgro~vater und dessen Freunde hätten sich einen Tempel erbaut, wo sie, statt den Kantor seinen orientalisch-monodischen Gesang singen zu lassen, "vierstimmige Choräle anstimmten, die in jeder protestantischen Kirche bitten erklingen können" (Anders, 1984, S. 241t).
Diese und auch die weniger akkulturierten Juden empfanden sich selbst in der Regel zunächst als Deutsche und erst in zweiter Unie als Angehörige der jüdischen Konfession; in einer unglaublich kurzen Zeit hatten die deutschen Juden den Sprung von einer benachteiligten Randgruppe in die Mittelschicht und in Zentren der Bildung, Wissenschaft und Kultur geschafft. Trotzdem erreichte diese breitere Schicht von deutschen Juden nicht die vollständige Gleichstellung zu den christlichen Deutschen, weder nach dem Preu~ischen Judenedikt von 1812, noch nach dem Paulskirchenbeschlu~ von 1848, noch nach 1871, als die Gleichberechtigung der Juden in der Verfassung des neuen Deutschen Reiches ~erankert wurde. Die konservative christliche Oberschicht hielt Juden immer noch von höheren Positionen in Justiz, Militär, Diplomatie und Wissenschaft fern. Den Juden selbst gelang es nicht, die zugestandenen Rechte auch einzuklagen und durchzusetzen. Dafür gab es verschiedene Gründe. Das berechtigte Bestreben vieler Juden nach dieser Befreiung aus dem Ghetto-Leben, als gleichberechtigt anerkannt zu werden, wirkte sich vermutlich im Hinblick auf das Ziel der Gleichstellung als religiöse Minderheit ungünstig aus. Überhaupt waren die Juden eine in Herkunft, Sprache, Schicht und Glauben recht heterogene Gruppe, die nur sehr schwer nach au~n geschlossen auftreten konnte.
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Die Beendigung dieser Ghettosituation im 19. Jahrhunden brachte für den einzelnen Juden zwar die Befreiung von Barrieren mit sich, sie fühne in fast paradoxer Weise aber zu ~~eQ.. Nach seiner Emigration in die USA hat Lewio diesen historischen Sachverhalt topologisch-psychologisch analysiert und überzeugend herausgestellt, dafJ mit der Vermischung der jüdischen und nichtjüdischen Gruppen "der Jude vergleichsweise öfter als Einzelner dem Druck gegen die Juden gegenüberzustehen" hatte (Lewin, 1953, S. 217), was zu Gruppenwechsel, zu Konflikten und zu der für Juden als typisch angesehenen Ruhelosigkeit fühne. Der Einwand einiger Kritiker, die Feldtheorie sei a-historisch wird übrigens durch Arbeiten wie diese überzeugend widerlegt. (Die von Lewin erwihnte Ruhelosigkeit traf - nebenbei bemerkt - auch auf ihn selbst zu. Wir können überhaupt vermuten, dap Lewins Ausführungen zum Judentum stets auch als Versuche des Verfassers verstanden werden können, die eigene Biographie und Persönlichkeit besser zu verstehen.) Um die Jahrhundenwende war ein nennenswerter Teil der deutschen Juden ausgesprochenJ.caisenreu, wobei diese Haltung gewip nicht nur Opportunismus war. In diese Zeit hinein wurde Kun Lewin geboren. Lewins Kindheil und Jugend in deutsch-jUdischer Tradition
Lewin kam am 9.9.1890 in Mogilno, damals Preussische Provinz Posen, als Sohn eines jüdischen Kaufmanns zur Welt. In dem seiner Dissenation angefügten Lebenslauf bezeichnet Kun Lewinsich selbst als "jildischer Konfession" und gibt den Beruf seines Vaters Leopold als "Gutsbesitzer und Kaufmann• an. Um das Gymnasium besuchen zu können, wohnte Lewin später bei einer Familie in Posen. Die Familie Lewin siedelte 1905 nach Berlin über. Dieser Umzug ist durchaus typisch für Juden dieser Zeit. Um 1850 war noch 20% der Stadt Posen jüdisch (Eibogen, 1935, S. 268). 1900 hatte die ganze Provinz Posen nur noch 35 000 Juden, die Berliner Gemeinde zihlte dagegen 106 000 Seelen (Eibogen, 1935, S. 301). Die Flucht aus dem wirtschaftlich weniger entwickelten Osten in die aufstrebenden GrofJstidte, insbesondere nach Bedin, hielt in der ganzen zweiten Hilfte des letzten Jahrhunderts an. Diese Abwande· rungindie anonymere Groflstadt mufJ z.T. als Resultat des kleinstädtischen Antisemitismus angesehen werden. Diesen Antisemitismus zur Zeit seiner Kindheit beschrieb Lewin später so: "Meine Eltern gehörten zu den wenigen Juden, die Landwirtschaft besessen haben, und ich weip daher, wie nicht nur bei den Rittergutsbesitzern, sondern auch bei den Bauern der Umgebung ein hundertprozentiger gröbster Antisemitismus die selbstverständliche und absolut feste Grundhaltung war"(Lewin, 1933/1981, S. 53).
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Wie weit der junge Lewin der jüdischen Glaubens- und Denktradition angehörte, ist schwer zu beurteilen, da selbst Familienmitglieder und engste Freunde diesbezüglich unterschiedlicher Auffassung waren. Kurt Lewin besuchte die jüdische Religionsschule und nahm am Bar-Mitzvah-Ritual teil. (So war Hebräisch für Kurt Lewin neben Latein, Griechisch, Englisch und Französisch die fünfte Fremdsprache.) Marrow erginzt: "Diese jüdische Ausrichtung hinderte die Familie nicht daran, Weihnachten zu feiern" (Marrow, 1977, S. 19). Diese Aussage ist in dieser allgemeinen Form etwas mipverständlich, sie geht vermutlich auf einen Hinweis von Gertrud Weiss-Lewin zum Buchmanuskript von Marrow zurück. Dort heipt es: "We know that later, in Berlin, the older Lewins celebrated Christmas, not as a religious festival, but as a gift occasion, 'for the sake of the children or grand children'. They liked kind and friendly ceremonies and were not much concemed in pre-Hitler days with ideologies" (Briefvon Gertrud Weiss-Lewin vom 4. Juli 1967 an Alfred Marrow. Archives ofthe History of American Psychology, The University of Akron, Kurt Lewin Collection, Box M947, Folder 39). Eine Nichte Kurt Lewins erinnerte sich, dap in der Familie Lewin nicht Jiddisch, sondern nur Deutsch gesprochen wurde. Lewins Vater Leopold habe aber "wunderbar Hebräisch" · gesprochen und gelesen. Die Familie habe Seder und Chanukka gefeiert, sich aber nicht an koschere Küche gehalten. Seder (hebr. "Ordnung") bezeichnet die häusliche religiöse Feier an den beiden ersten Abenden des Passah, gefeiert am ersten Vollmond des Frühlings mit Rezitation der Pessach-Haggada und Festmahl. Chanukka soll an die Weihe des von Judas Makkabius 165 vor Chr. erneuerten Tempels erinnern. Es ist ein freudiger Gedenktag, bzw. eine ganze Woche, die u. a. durch Anzünden von lichtem begangen wird. Von dem achtarmigen Menora-Leuchter wird jeden Tag eine weitere Kerze angezündet. Da dieses Fest in die Zeit November/Dezember fällt, wird es heute durch Verteilen von Geschenken vielfach als Gegenstück zum christlichen Weihnachtsfest begangen. (Die erwähnte Nichte, von der die obigen Aussagen stammen, ist Suzanne Putzerath, die Tochter von Kurt Lewins Schwester Hertha Putzeralb geb. Lewin. Die Äuperungen wurden in einem Schreiben vom 8. Mai 1984 von Miriam Lewin an Robert Kleiner mitgeteilt [handschriftliche Notiz auf der Kopie eines Briefes an Ralph White, Archives of the History of American Psychology, Akron, Folder Kurt Lewin].) Nach dem Besuch der höheren Schule (Kaiserin Augusta Gymnasium von Herbst 1905 bis zum Abitur Februar 1909) studierte Lewin ab April1909 in Freiburg Medizin, um Landarzt zu werden. Nach Schwierigkeiten mit dem Anatomiekurs entwickelte Lewin Inter· esse an Biologie, studierte im Wintersemester 1909/1910 Biologie in München, ab April 1910 studierte Lewin in Berlin Philosophie und Wissenschaftstheorie. (Diese Angaben hat Gertrud Weiss-Lewin offensichtlich dem noch erhaltenen Studienbuch von Kurt Lewin entnommen. An anderen Stellen finden sich abweichende Angaben. So heipt es in Lewins
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handschriftlichem Lebenslauf, den er anlli,Siich seines HabilitatioosverfahreDS verfalke: "Er hat 11 Semester studiert (09-14), davon 3 Semester Medizin, die übrigen Philosophie, und zwar je 1 Semester in Freiburg i. Br. und München und 9 Semester in Berlin" (Archiv der Humboldt-Universitlit). Da Lewin sowohl im Lebenslauf zu seiner Dissertation als auch zum Habilitationsverfahren Jonas Cohn und Wilhelm Waldeyer zu seinen Lebrem zählt. können wir annehmen, da,S Lewin schon in Freiburg philosophische und noch in Berlin medizinische Vorlesungen hörte. Lewin besuchte drei Lehrveranstaltungen von Ernst Cassirer, drei von Riebt, 14 von Stumpf und "eine ganze Reihe" von Rupp (M. Lewin, 1990, S. 3t].) Lewin promovierte bei Carl Stumpf und schlug schlie,Siich eine akademische Lautbahn ein. Für den Sohn eines Landwirts mag dies überraschen. Doch war eine akademische Ausbildung gerade in jüdischen Familien nicht ungewöhnlich. Norbert Wiener hat in seinen Lebenserinnerungen über jüdische Familientraditionen geschrieben: "Ein junger Gelehrter galt immer als gute Partie für die Tochter eines reichen Kaufmanns. Biologisch entstand dadurch eine Situation, die sich schroff von der des Christen unterschied. Der Gelehrte des christlichen Abendlandes trat in den Dienst der Kirche und blieb in der Regel kinderlos. Dagegen war der jüdische Gelehrte sehr oft in der Lage, eine grofSe Familie zu emlihren. So wurde durch die biologischen Gewohnheiten der Christen alles, was an Erbanlagen für den Gelehrtenberufvorhanden war, herausgezüchtet, während bei Juden biologisch die Tendenz bestand, diese Eigenschaften hineinzuzüchten" (Wiener 1956, zitiert nach 1965, s. 9). Man mu,S gewifl nicht Wiencrs lamarckistisch anmutenden Gedankengingen folgen, um zu erkennen, dafl eine akademische Ausbildung in jüdischen Familien vielleicht noch mehr geschätzt war als in christlichen. Lewin erklärte den hohen Anteil der Juden unter deutschen Wissenschaftlern so: "Auch Juden sind durch ihre Geschichte in gewisse Berufe gedrängt worden. Dafl diese in Deutschland in hohem Mafle geistige Berufe sind, Berufe, die etwas 'in der Luft hingen', hingt zweifellos damit zusammen, dafl sehr viele Berufe den Juden tatsächlich verschlossen waren und dafl jemand, dem man immer wieder den Boden unter den Füflen wegzieht, schliefllich lernen mufl, sich in geistigeren Regionen anzusiedeln. Aber diese relativ starke Vertretung z.B. in der deutschen Wissenschaft hat ja nicht aufjüdischen 'Machtpositioneo' beruht, sondern aufbesonderersachlicher Befähigung" (Lewin, 1981, S. 53). Der Anteil der Juden unter den Kriegsfreiwilligen des Ersten Weltkriegs war - entgegen anderslautender antisemitischer Propaganda - überdurchschnittlich. Die Bereitschaft, gerade als Jude freiwillig in den Krieg zu ziehen und so den Patriotismus für das deutsche Kaiserreich unter Beweis zu stellen, mag mitgespielt haben. Lewin erinnerte sich später: "Bei Beginn des Krieges konnte man einen Augenblick lang denken, dafl das deutsche Volk im
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Gefühl des gemeinsamen Schicksals sich wirklich eines anderen besonnen hatte. In der Kreuzzeitung und in anderen Rechtsblättern konnte man lesen, daj:i jetzt, wo die Juden sich ebenso wie die anderen als Kriegsfreiwillige meldeten, man mit einer prinzipiellen Wandlung in der Frage des Antisemitismus rechnen könne" (Lewin, 1981, S. 53). Dann aber muj:ite Lewin selbst als Kriegsfreiwilliger bei der Artillerie heftigste Antisemitismen unter Soldaten erleben. "Ich glaube, kein schlechter Soldat gewesen zu sein, habe eine lange Kette schweniter Schlachten mitgemacht, bin schon als Unteroffizier im Regimentsbefehl gelobt worden, habe als Vizewachtmeister in Flandem nach Verlust aller Offiziere die Batterie in der Feuerstellung geführt und bin doch erst sehr spät, erst als der Mangel an Offizieren auj:ierordentlich groj:i war, Offizier geworden. Meine Mutter hat ihre drei Söhne und ihren Schwiegersohn im Felde gehabt. Mein jüngster Bruder, ein richtiger Landwirt und Sportsmann, hat sich als Unteroffizier von den reitenden Jägern zu den Fliegern gemeldet .•• n (Lewin, 1981, s. 53). Da das Fliegercorps besonders antisemitisch war, wurde Lewins Bruder Fritz trotz bestandener Prüfung nicht genommen. Kurze Zeit später ist dieser Bruder Lewins gefallen. Im Jahr 1933 eriMerte sich Kurt Lewin: "Er war Maschinengewehrführer und ist, nachdem schon alle seine Leute geflohen waren, bei dem Maschinengewehr geblieben, bis er aus wenigen Metern Entfernung erschossen wurde. Sein Tod ist wie ein Symbol des Ringens der deutschen Juden in Deutschland ('trotz alledem'), aber mich dünkt es heute zweifelhaft, ob bei der Qualität der politischen Moral Deutschlands ein solches Ringen einen Sinn hat und den Tod · eines solchen Jungen wert ist" (Lewin, 1981, S. 55). 12 000 deutsch-jüdische Soldaten liej:ien ihr Leben für ein Vaterland, in dem sie als Menschen niederen Ranges galten (vgl. Grab, 1988, S. 6).
Antisemitismus, Nationalsozialismus und erzwungene Emigration Nach dem Ersten Weltkrieg hatte das Judentum in Deutschland eine Rechtsposition erreicht, die es faktisch nie zuvor hatte. Es gab nicht nur die formale Gleichstellung, sondern es gab erstmals jüdische Politiker in führenden Positionen (Hugo Preuj:i, Otto Landsberg, Wallher Rathen;~u), Juden in Wirtschaft und Wissenschaft, Kultur und Kunst. In Wirklichkeit war dies aber für das Judentum insgesamt nur ein scheinbarer Erfolg. Mit dem Kriegsende verschärfte sich der Antisemitismus im Deutschen Reich in auftllliger Weise. Hatte im Kaiserreich die konservative Oberschicht zwar Antisemitismus geduldet, so hatte sie doch
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solch brutale Auswüchse verhindert, wie sie nun in der Weimarer Republik möglich waren. l..ewin beschreibt diese Verlinderung so: "Nach dem Kriege hat mit dem gröfk:ren Einflu~ der Arbeiterschaft, in der der Antisemitismus keine wesentliche Rolle spielte, eine freiere Atmosphiire geherrscht. Aber zugleich ist vom ersten Tage an der politische Kampf in sehr hohem Grade mit anti·semitischen Schlagworten geführt worden (Judenregierung usw.) und man hat jahrelang einen systematischen Verleumdungsfeldzug gegen die deutschen Juden geführt" (Lewin, 1981, s. 55). Vor allem die 1918 gegründete Deutsche Demokratische Partei, der viele liberale Juden angehörten, wurde von Antisemiten als "Judenschutztruppe" verhöhnt. Lewin hatte 1932/33 eine Gastprofessur an der Stanford University in Palo Alto, Kalifornien, und erfuhr wiihrend seiner Rückreise von den USA über Japan irgendwo in der Transsibirischen Eisenbahn von der Machtergreifung Hitlers. Genauere Informationen erhielt er erst bei einem Zwischenaufenthalt in Moskau. Die l..ewin-Schülerin Bluma Zeigarnilt erinnerte sich spiiter: "Im Jahre 1933 machte Lewin auf der Durchreise, aus Japan kommend, Station in Moskau, wo er einige Wochen blieb( ...) l..ewin war viel mit Wygotskij zusammen, besuchte ihn zu Hause. Lew in machte sich grope Sorgen. ( ...) Er eilte nach Berlin, um • mit seiner Familie zu emigrieren. Noch aus Moskau rief er Köhler an, der ihm sagte: 'Kommen Sie, und wir reisen ab.' Unsere Psychologen (A. R. Luria, A. A. Smirnow) luden l..ewin ein, in der Sowjetunion zu bleiben, um so mehr, als er sich den Kommunisten verbunden fühlte. Doch er entschied sich dafür, zusammen mit den anderen Gestaltpsychologen in die USA zu emigrieren" (nach Jaroschewskij, 1989, S. 109f). Die Tragweite der nationalsozialistischen Machtergreifung erkannte Lewin sogleich - im Gegensatz zu einigen anderen jüdischen Psychologen, wie z.B. dem Ehepaar Stern, mit dem l..ewin gut bekannt war (vgl. Lück, im Druck). Schon am 28. April1933 erschien. in der Deutschen Allgemeinen Zeitung Köhlers Aufsatz "Gespräche in Deutschland". Mit diesem Aufsatz setzte sich Köhler mutig, aber in diplomatischen Formulierungen für Juden in Deutschland ein, indem er besonders auf Leistungen jüdischer Wissenschaftler, wie Nobelpreistriger James Franck, verwies. Dieser Aufsatz trug Köhler Anerkennung ein (vgl. Henle, 1978). Über 120 Zuschriften erhielt Köhler, die Hilfte der Briefe stammte von Juden, die Köhler z.T. emphatisch für seine Haltung dankten (vgl. Jaeger, 1989). Köhler fand mit seiner Haltung weder in der Öffent-
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lichkeit, noch in der Hochschule noch in der Deutschen Gesellschaft für Psychologie Unterstiilzung. so da~ sein Aufsatz leider nicht als "lnitiierung von Widerstand" (Jaeger) gelten
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Am 20. Mai 1933 reagiert Kurt Lewin in einem au~rgewöhnlich langen und persönlichen Brief an Köhler auf dessen Aufsatz. (Dieser Brief wurde vermutlich nie abgeschickt, 1979 im Nachla~ Lewins gefunden und 1981 veröffentlicht; diesem Brief ist auch das Zitat im Titel dieses Kapitels entnommen.) l..ewili ist stolz darauf, "einen jener ganz wenigen Menschen zu meinen Freunden zählen zu dürfen, die eine solche Gesinnung gezeigt haben und eine solche Tat gewagt haben" (S. 51). Dann begründet l..ewin seinen Plan der Emigration, indem er ungewöhnlich ausführlich auf die Geschichte des Judentums, den derzeitigen Antisemitismus usw. eingeht. Metraux und Willig (1981) haben richtig darauf hingewiesen, da~ dieser Brief Fragestellungen aufwirft, die in der Emigration zu Lewins wissenschaftlichen Problemen werden sollten: die Auswirkungen autoritärer und demokrati· scher FOhrung und Erziehung. sozialer Druck, Anpassung und Selbstha~ von Juden. So weist dieser Brief programmatische Züge für den zweiten Teil der wissenschaftlichen Biographie Lewins auf. Hitlers diskriminierende Ma~nahmen gegen kriegsversehrte jOdische Beamte hatten den Protest von Reichspräsident Generalfeldmarschall Hindenburg ausgelöst. Als Zugeständnis an den nationalen Schirmherr Hindenburg wurden nun Frontldimpferparagraphen nicht' nur in das sog. Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, sondern auch in die ersten nachfolgenden Gesetze aufgenommen, mit denen Juden in Deutschland diskriminiert und in die Emigration gezwungen wurden. Kurze Zeit hatte sich l..ewin vielleicht Hoffnungen gemacht, von der nationalsozialistischen Rassengesetzgebung verschont zu bleiben, da er als Kriegsfreiwilliger gedient hatte, verwundet wurde und mit dem Eiserru;n Kreuz ausgezeichnet worden war. Am 14.7.1933 ist l..ewin in den Haag und schreibt seinem Schüler und Freund Donald K. Adams: " ... Ich bin wieder in Deutschland gewesen. Ich habe als Kriegsteilnehmer juristisch meine Rechte, Vorlesungen zu halten, behalten. Trotzdem scheint es ganz unmöglich zu sein, in Deutschland auf die Dauer zu bleiben. Ich habe dieses Semester auch nicht gelesen.(...) Leider besteht nicht die geringste Aussicht, dass sich in absehbarer Zeit irgend etwas etwas (sie) ändert.( ...) Wertheimerist nicht mehr im Amt und wird nicht mehr wieder zugelassen werden ... • Akten der Humboldt-Universitit belegen, d~ auch l..ewin nicht von den Rassengesetzen verschont wurde. Vom "Reichsarchiv, Zweigstelle Spandau" wird für Lewin eine Bescheinigung über seine Verwundung am 26.8.1918 ausgestellt. Diese Bescheinigung ist nicht datiert, es ist aber zu vermuten, da~ l..ewin selbst die Ausstellung dieser Bescheinigung 180·
veranlapt hat. Weiterhin wird mit Datum vom 22. April vom Verwaltungsdirektor der Universitit Berlin der Eingang eines mit dem 21. April1933 datierten Schreibens bestitigt, das der Einreichung der Militär-Dienstbescheinigung "Für Herrn Prof. Dr. Kurt Lewin" beigelegen hat. Auf diesem Schreiben ist mit Datum vom 26.4. ein Bleistiftvennerk eingetragen: "Prof. Lewin ist zur Zt. noch beurl. (Japan). Fragebogen." SchliePlich wird mit dem Datum vom 7. Juli 1933 vom Verwaltungsdirektor der Universitit Berlin der Eingang des von Kurt Lewin ausgefüllten Fragebogens zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns vom 7. April 1933 bestitigt (persönliche Mitteilung von Prof. Dr. Lotbar Sprung, Humboldt-Universitit, vom 24.7.1985 an den Verfasser). In diesem Fragebogen bezeichnet sich Lewin als jüdischer Konfession und gibt für beide Eltern und alle vier Gropeltern als Konfession "jüdisch" an. Lewin gibt ferner an, keiner politischen Partei angehört zu haben. (Ich danke Herrn Dr. Ulrich Jahnke, Humboldt-Universitit Berlin, für die Überlassung ei~r Kopie dieses Fragebogens.) Lewins Entscheidung, noch im August 1933 Deutschland zu verlassen, gibt einen Hinweis darauf, wie richtig Lewin die Gefahr des NS-Regimes für sich und seine Familie einschätzte. Er hatte die Rückreise von den USA über Japan und Russland allein unternommen; Lewins Frau und kleine Tochter Miriam wohnten zu dieser Zeit bei Familie Fritz und Grace Heider in Northhampton. Heider schreibt über Lewin: "Er war einer derjenigen, die die Schrift an der Wand sahen; er telegraphierte aus Moskau an uns und an einige andere befreundete Psychologen, ob wir eine Anstellung für ihn wüpten; zur Erklärung seiner Anfrage setzte er den durchsichtig verschlüsselten Satz hinzu, 'Gertiland jetzt unmöglich'. Er hatte schon vorher in einem Brief, den er noch in Sibirien aufgegeben hatte, mit klarem Blick für die Zukunft geschrieben: 'Der Gedanke an die Auswanderung ist schwerer zu ertragen, als ich je gedacht hätte.• Miriam Lewin (1990, S. 12) nennt weitere Fakten, die den Ausschlag für die Emigration gegeben haben sollen: In Sagan, der Heimatstadt von Gertrud Weiss-Lewin war ein jüdi· scher Arzt zu Tode geprügelt worden und ein arischer Arzt hatte sich nur widerwillig bereit erklärt, Frau Weiss-Lewin zu behandeln. Auch hätten Lewins ausländische Studenten ihn davon überzeugt, dap er emigrieren müsse. Noch nach Lewins Emigration, nämlich am 20. September 1933, stellt der Verwaltungsdirektor bei der Friedrich-Wilhelms-Universität beim Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung einen Antrag auf Genehmigung der Weiterbeschäftigung von Lewin, da die Beschäftigungszeit im März 1934 abläuft. Der Institutsdirektor Wolfgang Köhler empfiehlt die Verlängerung der Beschäftigungszeit "ganz ohne Reserve und auf das Wärmste" mit dem Hinweis auf Lewins Kriegsdienst und beantragt zugleich Beurlaubung unter Belassung der Bezüge, da an Lewin "soeben von einer amerikanischen Universität eine ehrenvolle Einladung (...) ergangen ist". Köhlers Begründung für die Verllingerung der Weiterbeschäf181
Hebruu E. LQd:
tigung von Lewin wird durch diese Einladung natürlich erleichtert: Es entstehen keine Kosten für die Universitit. Trotzdem argumentiert Köhler ausladend, führt Lewins Dienst als Kriegsfreiwilliger an, lobt Lewins wissenschaftliche und persönliche Qualitäten überschwenglich. (Dieses Dokument verdankt der Autor ebenfalls Dr. Ulrich Jahnke, HumboldtUniversitit Berlin.) Mit einer heute seltsam anmutenden Argumentationsakrobatik nimmt Köhler auf Lewins Judentum Bezug: "Es könnte immerhin der Fall eintreten, dap das Rassemoment zu Schwierigkeiten führt, wenn Herr Lewin bei Übungen des Instituts mit Studierenden zu tun bekommt, die von seiner Teilnahme am Kriege nichts wissen und überdies seinen untadeligen Charakter noch nicht kennen. Sind solche Schwierigkeiten erst einmal eingetreten, dann wäre es gewip nicht leicht, Herrn Lewin in seiner Stellung zu halten. Im nächsten Jahr dürfte eine solche Gefahr kaum mehr bestehen." Kann dieser letzte Satz vielleicht so interpretiert werden, dap Köhler annahm, der Spuk des Nationalsozialismus sei 1934 vorüber? l..ewin emigriert im August 1933 und findet eine Stelle an der Comell University in lthaka, eine an sich für die Psychologie weniger bedeutende Hochschule, an der Lewin durch Stiftungsmittel jedoch akzeptable Forschungsmöglichkeiten hat. Mitte Juli 1934 verläPt l..ewin lthaka und fährt "für ein paar Tage" nach Deutschland, dann nach Palästina, dann nach England und wieder nach Deutschland, um seine Emigration zu klären und um mit dem Springer-Verlag zu verhandeln. Ungetähr am 15. September will er mit Frau und Kindem in den USA zurück sein (Brief an Donald K. Adams vom 7. Juni 1934. Archives of the History of American Psychology, Collection Donald Adams, Folder Kurt Lewin 111).
Die HebriJische Universilät Es ist weniger bekannt, dap l..ewin nicht nur in der UdSSR und in den USA gute Chancen zur Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Laufbahn hatte, sondern auch 1933/34 für l..ewin eine Professor für Psychologie an der Hebräischen Universität vorgesehen war (vgl. Lück & Rechtien, 1989). Zu den Aktivitäten des neu gegründeten Staates Palästina gehörte die Gründung der Hebräischen Universitit. Zum Kuratorium (Board ofTrustees) der Universität gehörten bedeutende jüdische Wissenschaftler verschiedener Länder, so z.B. in den Jahren 1925 und 1926 kein geringerer als Sigmund Freud; und so war es natürlich, dap sich die Hochschulleitung in Fragen der Stellenbesetzung in der medizinischen Fakultät an ihn wandte. Dr. Max Eitington, "einer von Freuds engsten Freunden" (Jones, 1969, S. 332), erwies sich seit seiner erzwungenen Emigration im September 1933 in Palästina als treibende Kraft der Psychoanalyse und wurde von dem Kanzler der Hochschule, Dr. Magnes, im
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Herbst 1933 um ein Memorandum zur Bedeutung der Psychoanalyse für den Ausbau der Universität gebeten. Mit Schreiben vom 16. Oktober schlug Eitington die Einrichtung einer Medizinischen Professur für Psychoanalyse vor· wobei er sich selbst sicher gute Chancen ausrechnen konnte, da er Arzt war, seit 1908 zum engsten Kreis um Freud gehörte und in Berlin die psychoanalytische Poliklinik begründet, geleitet und lange Zeit finanziert hatte. In einem Schreiben vom 17. November 1933 wendet sich Freud an Magnes, um ihm seinen Schüler Eitington zu empfehlen (vgl. Rosenbaum, 1954). Eitington plane die Errichtung einer Psychoanalytischen Gesellschaft sowie die Schaffung von psychoanalyti· sehen Ausbildungsmöglichkeiten in Palästina. Eine Zusammenarbeit zwischen der Universität und Eitington sehe er, Freud, als persönliche Befriedigung an. Magnes antwortet Freud am 27. November, daji bei den Planungsgremien die Auffassung vorherrsche, die Einrichtung eines psychoanalytischen Lehrstuhls vor Einrichtung eines psychologischen Lehrstuhls sei verfrüht. Die Universität ziehe daher die Einrichtung einer Psychologieprofessur in Erwägung und denke bei der Suche nach geeigneten Bewerbern an "Professor Kurt Lewin aus Berlin". Schliejilich bittet Magnes Freud um seine Meinung zu dieser allgemeinen Frage. Freud antwortet unverzüglich mit Datum vom 5. Dezember 1933 (Freud, 1960, S. 411): "Eine Nötigung, den Unterricht in der Psychologie mit der Tradition der akademischen Psychologie zu beginnen, besteht nicht. Im Gegenteile, alle Anwendungen der Psychologie auf Medizin und Geisteswissenschaften gehen von der tiefgreifenden Psychoanalyse aus, während sich die akademische Psychologie als steril erwiesen hat. Ich sehe keine Veranlassung anzunehmen, daji Professor KurtLewinder Mann sein wird, die Synthese von Psychoanalyse und Psychologie durchzuführen. Unter diesen Umständen bedeutet der Vorsatz, einen Lehrstuhl für Psychologie einzurichten, eine wenig verhüllte Ablehnung der Psychoanalyse, und die Universität von Jerusalem würde dem Beispiel der anderen offiziellen Lehranstalten gefolgt sein. Es tut dann wohl, daran zu denken, daji Dr. Eitington entschlossen ist, die Pflege der Psychoanalyse in Palästina auch unabhängig von der Universität zu betreiben." Freuds Ablehnung erfolgte offenkundig in Unkenntnis der Tatsache, daji Lew in neben Stern zu den wenigen akademischen Psychologen zählte, die sich intensiv und differenziert mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt haben (vgl. Lück & Rechtien, 1989). Am 22. Dezember dankt Magnes für Freuds Brief und berichtet, daji nunmehr eine Kommission eingesetzt worden sei, die Freuds wichtige Stellungnahmen und Eitingtons Unterlagen prüfen werde. Er selbst hoffe, daji dieses Gremium die Einrichtung der Psychoanalyse an der Hebriiischen Universität befürworte.
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He,_, E. Likk
Das von Magnes erwähnte Gremium war das Survey CommiJtee, das dem Board of Governors der Universität im Jahr 1934 vertraulich einen ausführlichen Ausbau- und Stellenbesetzunpplan vorlegte. Interessanterweise wird hier Kurt Lewin nicht für die Medizinische Fakultät, sondern für das Department ofEducation in Vorschlag gebracht. Absatz 271 lautet: "Wir müssen noch erginzen, da~ ein wichtiger Bestandteil bei der Errichtung des Departments of Education ziemlich gesichert scheint, nimlich, ein angesehener Psychologe in der Person von Professor Kurt Lewin von Berlin. Professor Lewin ist unter Fachleuten gut bekannt wegen seiner angesehenen Arbeiten zur Kinderpsychologie. Wir hoffen sehr, da~ es dem Board of Govemom gelingt, die notwendigen Mittel für die Ernennung, die ihm bereits angeboten wurde, sicherzustellen" (Report of the Survey CommiJtee, S.83). An spiteren Stellen in diesem Bericht wird deutlich, da~ der Begründer der Feldtheorie von seiten der Universität in Jerusalem in Erwägung gezogen wurde, weil Lewin auch zu den deutschen vertriebenen Akademikern zihle. Im Rahmen der Ma~nahmen zur Unterstiitzung verfolgter deutscher Akademiker empfiehlt das Gremium im Absatz 100 (S. 220), da~ entweder eine Professur in Physiologie, Psychologie oder Neuere Geschichte mit einem Jahresgehalt von 400 Pfund p.a. eingerichtet werden solle. Aus dem Protokoll der Sitzung des Board ofGovernors vom 13.-16.8. 1934 geht hervor, da~ dieses Gremium dem Vorschlag, Lewin zu berufen, im Rahmen seines Germon Refugee Plan gefolgt ist (Tagesordnunppunkt 6., S. 12). Bekannterma~n hat Lewin nie an der Hebriischen Universität gearbeitet,' obwohl er daran au~rordentlich interessiert war. Lewin bemiihte sich noch von den USA aus, besonders intensiv während der auf zwei Jahre befristeten Tätigkeit an der Cornell Universität, aber auch noch spiter, um eine Psychologieprofessur an der Hebriischen Universität.ln New York gab es ein (gewi~ von Lewin initiiertes) Vorbereitunpkomitee zur Einrichtung eines Psychologischen Instituts an der Hebriischen Universität. Die genaue Bezeichnung war: "Psychologicallnstitute of the Hebrew University, Jerusalem, Palestine, American Committee". (Lewin verwendete zumindest im Jahr 1935 Briefpapier dieser Einrichtung. Das Briefpapier nennt Dr. A.S.W. Rosenbach als Chairman, Alfred J. Marrow als Sekretär, sowie 19 Persönlichkeiten, die dem Sponsors Committee angehörten, unter ihnen Fachwissenschaftler wie Edward G. Boring, John Dewey, William McDougall, Edward L. Thomdike und Lewis M. Terman, aber auch einige andere einflu~reiche Persönlichkeiten wie Mrs. Henry Morgenthau, Jr. und Mrs. Franldin D. Roosevelt.) Lewins erste Frau, Maria Lewin geb. Landsberg, war mit ihren beiden Kindern nach Palästina emigriert; Lewin besuchte sie - den Angaben von Gertrud Weiss-Lewin zufolge (G. Lewin, 1967) - in den Jahren 1934 und 1936 und verhandelte während dieser Aufenthalte mit der Hebriischen Universität. Sein Buch Principles ofTopologicol Psychology widmete Lew in der Hebräischen Universität, wo "so hoffe ich - neue produktive Gemeinschaften entstehen werden" (aus dem Vorwort, verfa~t im Mai 1936). Miriam L.ewin, die Tochter Kurt Lewins, hat sich an Äu~rungen ihrer Mutter erinnert, da~ Kurt
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Kurt Lewill - ein deulsch-jlldischcr Psychologe
Lewin eine Stelle an der Hebräischen Universität angeboten wurde; die Aussicht auf For· schungsförderung sei jedoch zu unbefriedigend gewesen. Vermutlich nur zum SpaiJ habe man Lew in gesagt, die Mittel seien dort so knapp, dafJ sich zwei Professoren einen Schreibtisch teilen mü~Jten. Lewin habe sich natürlich leicht selbst einen Schreibtisch zimmern können, und die Bedingungen seien vielleicht auch nicht ganz so schlecht gewesen, doch habe es wohl zu viel Mühe gekostet, um ein psychologisches Forschungsinstitut zu etablieren (Briefvon Miriam Lewin vom 22. November 1989 an den Verfasser). Lewins AssUnilotion in den USA
Lewins Emigration 1933 fällt ziemlich genau in die Mitte seines wissenschaftlichen Schaffens. Bei einer quantitativen Analyse der Publikationen im Vergleich mit anderen Emigranten wie David Katz oder Wolfgang Köhler ist uns aufgefallen (Lück & Clever, 1990), dafJ Lewin sich vollständig auf den neuen Kulturkreis eingestellt hat. So gibt es im Gegensatz zu anderen Emigranten nach 1933 nur noch englischsprachige Publikationen. Inhaltlich betrachtet bleibt Lewin bei entwicklungspsychologischen Fragestellungen, es findet zusätzlich in den USA die bekannte Hinwendung zur Sozialpsychologie, zur Gruppendynamik und Aktionsforschung statt (s. Back, dieser Band). Lewins Arbeiten in den USA werden gegenüber seinen früheren Publikationen in Deutschland auffällig politischer. Gewij} waren auch Lewins frühe Arbeiten, z.B. zur Kriegslandschaft und zur Sozialisierung des Taylorsystems alles andere als unpolitisch, doch ergreift Lewin nach seiner Emigration deutlicher Partei. Dieses Phinomen einer Politisie· rung nach erzwungener Emigration ist nicht untypisch, es ist auch bei Schriftstellern im Exil zu finden. Genannt seien nur Thomas Mann, Bertolt Brecht und Uon Feuchtwanger. Doch lebten diese Schriftsteller wirklich im Exil, d.h. sie sprachen und schrieben nach wie vor deutsch und nahmen durchweg an, der nationalsozialistische Spuk dauere nicht lange, so daj} sie bald in das Land ihrer Muttersprache zurückkehren könnten. Am Rande sei erwähnt, daj} Lewin mit einigen dieser Emigranten Kontakt hatte. Durch seine Freunde Karl und Hedda Korsch (zum Verhältnis Lewin·Korsch vgl. van EUeren, 1990) hatte Lewin z.B. Bert Brecht kennengelernt, der bei Lewin zu Gast war (Tagebucheintragung Bert Brecht; den Hinweis auf diese Begegnung verdanke ich Herrn Mattbias John, Jena). Lewin scheint aber nicht nur im Vergleich zu Schriftstellern und anderen Künstlern, sondern auch zu Wissenschaftlern eine frühzeitigere und stärkere Integration in die amerikaDisehe Kultur vollzogen zu haben als viele andere Emigranten. Ein Gespräch zwi· schen Alfred Marrow und Hedda Korsch läj}t ahnen, daj} diese Integration zwar Lewins Erfolge begünstigte, dafJ es aber auch Personen gab, die diese Entwicklung nicht angemessen fanden. In diesem Interview, das Marrow für die Lewin-Biographie durchgeführt, aber dort nicht veröffentlicht hat, hiep es:
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Dr. Marrow: And your busband and Kurt still disagreed on political methology ... Dr. Korsch: No, not reaJiy then. Then they still agreed. They began to disagree when we feit that Kurt became too good an American (...) their disagreements began only in this country when we feit that Kurt adopted so to say too much, from my husband's point of view -- we didn't think anybody could be too anti-Oerman, but we feit that the policy of this country didn't justify endorsing it completely, because we feit there was a great deal of Iack of freedom of thought and discussion. Dr. Marrow: Weil now looking back on it, at Kurt's point ofview, do you think that he was over-compensating bis hatred of what Germany became was such as to color hisviews? Dr. Korsch: I have never thought about it in this way but I think that one could.probably say so. l've never thought about it in this way.l perhaps looked at it more as bis generaJ trustingness. Now he was here; he immediately put bimself and all bis strength at the disposal ofthe United States (...)My feelingwas more that it was bis way of giving bimself so totally without reservations and without much discrimination, so to say. (Archives ofthe History of American Psychology, Altron, Fotder Kurt Lewin.) Von den USA aus kann Lewin verschiedenen Emigranten helfen, Einreiseerlaubnis und Arbeit zu finden. Auch Lewins Bruder Egon kann 1940 oder 1941 mit Kurt Lewins Hilfe emigrieren. Lewins Mutter ist mit ihrer Schwester nach Holland gezogen und fühlt sich dort sicher; schliejllich erwirbt sie ein kubanisches Visum. Lewin bemüht sich um Ausreisepapiere, schickt $ 2600 nach Kuba und sucht Fürsprache bei Freunden. Aufschlujlreich ist ein Brief vom 5. Dezember 1941 an Alfred J. Marrow, in dem Lewin um Marrows Hilfe bittet: "I am in great trouble with the affidavit for my mother. We have sent something like $ 2600 to Cuba ( ...) I know that people over sixty are sent wholesale from Berlin to Poland, and that is only a question of time before they will do the same thing with other countries". Schliejllich mujl er erfahren, dajl seine Mutter deportiert und in einem Konzentrationslager ermordet wurde.
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Kun Lewill - ein deuuch-jtklildwr hyehologe
Lewins Arbeiten IJber die Ghettosituation, jUdische Er~hung und Selbsthofi von Juden
Mindestens sechs; z.T. längere Arbeiten von Lewin befassen sich direkt mit Fragen des Judentums. es sind dies - Psychosoziologische Probleme einer Minderheitengruppe (1935) -Angesichts von Gefahr (1939) - Die Erziehung des jüdischen Kindes (1940) - Selbsthafi unter Juden (1941) -Jüdische Erziehung und Realität (1944) -Psychologische Probleme bei der jüdischen Erziehung (1947) Der erste Beitrag wurde bereits erwähnt, er behandelt die Situation von Juden nach Auflösung der Ghettos. Die fünfweiteren Arbeiten erschienen in spezifischjüdischen Zeitschriften und waren daher an amerikanisch-jüdische Leser gerichtet. Die ersten vier Beiträge finden sich in dem von Gertrud Weiss-Lewin herausgegebenen Sammelband Resolving Social Conflicts (1948), bereits 1953 in deutscher Sprache unter dem Titel Die LiJsung sozialer Konflilcte erschienen. Mindestens die beiden letztgenannten Arbeiten sind von Lewin als Vorträge gehalten worden. Indirekt befassen sich natürlich viele weitere Arbeiten mit Fragen der jüdischen Minorität, der politischen Führungsstile, der Re-Demokratisierung des kurz vor dem Zusammenbruch stehenden Nazi-Deutschland usw. Lewin setzt sich für eine jüdische Erziehung ein, die an der Realität orientiert ist. So lehnt er es ab, wenn Eltern ihren Kindern aus Rücksichtnahme verheimlichen, dafi sie Juden sind. Lew in präsentiert Befragungsergebnisse · (1947), die zeigen, dafi die jungen zionistischen Juden in den USA positivere Identifikationen mit dem Judentum (und interessanterweise auch geringeren Leidensdruck unter Antisemitismus) aufweisen als junge nicht-zionistische Juden. Obwohl sich diese Beiträge durchweg an Nicht-Psychologen wenden, benutzt Lewin die Gelegenheit, um Konfliktsituationen feldtheoretisch zu verdeutlichen, eigene Forschungsergebnisse zu präsentieren und Aktionsforschungsprogramme zu fordern. Die Darstellung ist aber meist so anschaulich, dafl sie vermutlich schon damals von Laien verstanden wurde. Zumindest die späteren Arbeiten Lewins zum Judentum sind aus Lewins direkter Zusammenarbeit mit jüdischen Organisationen entsprungen (s. Ash, dieser Band, Back, dieser Band). So konnte Lewin den Kongrefi Amerikanischer Juden (AJC) zur Einrichtung der Commission ofCommunity lnterre/otions (CCI) bewegen. (Hierüber hat Marrow, 1969, deutsch 1977, ausführlich berichtet, Kap. 18ft). Die von Lewin und seinen Mitarbeitern entwickelte Aktionsforschung ist zum überwiegenden Teil aus der sozialpädagogischen Arbeit der CCI hervorgegangen, da Lewin verantwortungsvolle soziale Intervention, Forschung und Training als drei gleichberechtigte Säulen der Aktionsforschung ansah. Im Jahr 187
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1945 bezog die CCI in New York Ecke SO. Straf'e Ecke Broadway ein DachgeschoJl, das von Lewins Freund Marcel Breuer vorbildlich gestaltet wurde; jenem Bauhaus-Architekten Marcel Breuer (1902-1981), der schon Lewins Wohnhaus in Berlin ausgestaltet hatte und wie Lewin 1933 aus Berlin in die Emigration gezwungen worden war. Natürlich war diese kleine Gruppe von Sozialpädagogen und Forschern der CCI bei einem derartigen selbstgesetzten Programm überfordert. Hinzu kamen finanzielle Schwierigkeiten. Aber die Idee der Aktionsforschung fand Verbreitung- in der Bundesrepublik erst 25 Jahre spiter. Als Motto der von Lewin initiierten CCI schlug Lewin Worte des hebräischen Weisen Rabbi Hillel vor (Marrow, 19n, S. 212). Lewin bezog diese Worte ganz unmittelbar auf seine Aktionsforschungsprojekte. Ich neige dazu, sie in gleicher Weise auf Lewins Feldtheorie und Lewins Leben, seine Rastlosigkeit, seine Bereitschaft, sich uneingeschränkt für die Demokratie, die Psychologie und für das Judentum einzusetzen, zu beziehen. Rabbi Hillel schrieb:
Wenn ich nicht fUr mich bin, wer wird dann ftJr mich sein? Wenn ich alleine fUr mich bin, was bin ich dann? Und wenn nicht jetzt, wann dann?
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Kurt Lewin in lowa
Schon vor seiner Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland prägte Kurt Lewin die später berühmte Formel, nach der eine PeJSon als Funktion eines Spannungsverhältnisses von Verhalten und Umwelt zu begreifell~J. Im folgenden möchte ich diese Fo~el-~~-f ckr~~ ·u~beberseibiit ämieiid;~ und das Thema Kontinuität und Wandel in der wissenschaftlichen Biographie Kurt Lewins unterveränderten Umweltbedingungen während seiner Tätigkeit an der Universität Iowa (von 1935 bis 1943) anband von z. T. noch nicht erschlossenen Archivquellen untersuchen. Diese Fragestellung hat eine weitere, über das allein Biographische hinausgehende Relevanz. Neuerdings ist in der Wissenschaftsforschung viel von "local knowledge" die Rede. Dieser ursprünglich von dem Ethnologen und Kulturtheoretiker Clifford Geertz (1985) geprägte Begriffumfallt jetzt alles, was die Mikrokultur des Wissenschaftsbetriebes auf der Ebene des arbeitenden Labors oder eines Instituts ausmacht • die Apparate, die vorgegebenen Zielsetzungen und vor Ort vorherrschenden Arbeitsstile, sowie die Art und Weise der Zusammenarbeit der Mitarbeiter-Teams. Die Forscher, die anband dieses Begrif· fes versucht haben, der Wissenschaftspraxis als sozialer Konstruktion näher zu kommen, pflegen jedoch allzu häufig die weiteren Zusammenhänge, in denen diese Mikrokulturen sich entwickeln, nicht oder nicht hinreichend zu berücksichtigen. Ich denke dabei vor allem an die Unterstützungsquellen der jeweiligen Arbeiten sowie deren Beziehungen zu gesellschaftlichen Problematiken und Diskursen. Anband des im folgenden erörteten Beispiels soll gezeigt werden, dajl die Strukturen der "Mikro- und der Makroebene" • d.h., die Strukturen von Wissenschaft als sozialer Konstruktion einerseits und die durchaus variablen Verhältnisse dieser Strukturen zu gesamtgesellschaftlichen Kontexten andererseits erforscht werden können und sollen • und zwar sowohl einzeln als auch in ihren Beziehungen zuein· ander. Auf die Geschichte Kurt Lewins in Iowa angewandt, lautet die Forschungsfrage wie folgt: inwiefern kann Psychologie als "local knowledge" aufgefallt werden; oder, was passiert, wenn ein Forscher wie Kurt Lewin, der bekanntlieb eine um ihn zentrierte wissenschaftliche Mikrokultur zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Berlin bis 1933 autbauen konnte, in eine andere, auf der Makro- und der Mikroebene anders struk· turierte Wissenschaftswelt hineinkommt?
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Milcheil G. Ash
Zur Vorgeschichte
Wie kam Kurt Lew in in die Maisfelder des Mittleren Westens der USA? Zur Beantwortung dieser Frage gilt es, zwei miteinander verwobene Aspekte herauszustreichen, die Bedeutung der kinderpsychologischen Arbeiten Lewins und die Rolle der Rockefeller-Stiftungen. ln den USA vor seiner Emigration wurde Kurt Lewin weder als Wissenschaftstheoretiker noch als Experimentalpsychologe oder als Persönlichkeitstheoretiker, sondern als Entwicklungspsychologe rezipiert. Den Auftakt hierzu bildete sein Aufsehen erregender Auftritt beim Internationalen Kongre~ für Psychologie an der Yale-Universität im Jahre 1929, wo er zum ersten Mal den später berühmten Film über die Lernprozesse eines kleinen Mädchens vorführte (Lewin, 1929). Wie Gordon Allport später meinte, "to some American psychologists this ingenious film was decisive in forcing a revision of their own theories of the nature of intellectual behavior and of learning" (AIIport, 1968, p. 368). Seine Ideen auf diesem Gebiet fanden bald als interessante Alternative zum Behaviorismus Anerkennung. Die eingangs erwähnte Formel, da~ eine Person als eine Funktion von Verhalten und Umwelt beschrieben werden könnte, stellte er sogar zum ersten Mal in amerikanischer Sprache auf, und zwar in einem Kapitel des im Jahre 1931 von Clark Murebison herausgegebenen Handbuchs für Kinderpsychologie (Lewin, 1931a; vgl. Lewin, 1935, p. 73). Im selben Jahr erhielt er auf Initiative Lewis Termans eine Gastprofessur an der Universität Stanford. Zwar fragte Terman zunächst vorsichtig bei Edwin Borlog in Harvard nach, ob Lewin jüdischer Abstammung sei, doch schien Borings bejahende Antwort kein Hindernis zu sein. Terman berichtete später, er sei höchst zufrieden mit seinem Gast, der sowohl fachlich als auch menschlich einen positiven Eindruck gemacht habe (Sokal, 1984). Lewins aufgeschlossene Persönlichkeit war ein wichtiger Faktor bei seiner Aufnahme in das amerikanische Wissenschaftssystem. Ebenso wichtig war allerdings die Aufmerksamkeit der Rockefeller-Stiftungen. Die Mitarbeiter der Laura Speilman Rockefeiler Memorial Fonds (LSRM) hatten schon Mitte der 20er Jahre ein Arbeitsprogramm auf dem Gebiet der menschlichen Entwicklung aufgestellt, mit der Absicht, Material für ein ganzheitlich-biologisches Erziehungsmodell zu gewinnen (siehe hierzu Samelson, 1985). Lawrence K. Frank, einer der leitenden Mitarbeiter der LSRM, hatte Kurt Lewio schon 1928 bei einem Besuch in Berlin kennengelernt (Frank, 1966). Dieser Kontakt sollte für die Karriere Lewins in den USA von entscheidender Bedeutung sein. Schon im Mai 1933 bekam Lewin ein Angebot der Corneii-Universität auf eine Gastprofessor. Dieses vom Kurt-Koffka-Freund und Kollegen Robert M. Ogden in Zusammenarbeit u. a. mit Lawrence K. Frank bewirkte Angebot (Henle, 1984) nahm er an, obwohl er als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg vom im April1933 verkündeten sogenannten "Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums• nominell ausgenommen war und sein Vorgesetzter Wolfgang Köhler ihn am Berliner Psychologischen Institut behalten wollte 194.
(Ash. 1985, p. 122). Offensichtlich erkannte er schon damals die Gefahr für die in Deutschland verbleibenden Juden. So schrieb er in einem mit dem 20. Mai 1933 datierten, an Wolfgang Köhler gerichteten, damals jedoch nicht abgeschickten Brief:
"Die tatsächliche Entrechtung der Juden aber hat nicht abgenommen, sondern wird jeden Tag weiter ausgebaut und wird zweifellos, sei es in der gegenwärtigen ruhigen Weise, sei es in weiteren Schüben, in der den Deutschen eigentümlichen schematischen Weise restlos durchgeführt werden .... Der Jude jedenfalls kann innerhalb Deutschlands nicht hoffen, eine Änderung herbeizuführen, auch nicht eine Änderung durch Kampf. Ich kann mir gegenwärtig nicht vorstellen, wie mim als Jude ein Leben in Deutschland führen soll, das auch nur den primitivsten Anforderungen an Wahrhaftigkeit genügt" (Lewin, 1981, S. 55-56). Zwei Jahre lang arbeitete Lew in mit der Unterstützung des New Yorker Emergency Committeefoi' DiSpläeed Foreign ScholDrs und der RockefeUer-Stiftung über die Eilgewohnheiten von Kindem an der Hauswirtschaftshochschule (School of Home Economics) der Comell- ) Universität, b~ er im Jahre 1935 eine Fom:bun&S§tel!e an der_f.c,>~.!IJJ~!!ttion für Kin- · derW"oiiifiilirt (Iowa Child Welfare Research Station, im folgenden ICWRS) ~~·Uni~eiSität · ~Dort blieb er bis 1944, also neun Jahre lang, bis er zum Direktor des von ihm gegründeten ~~~~~~m für Gruppendynamik (Research Center for Group Dynamics) am Massachusetts Institute 'ol'Techßotogy wurde. Tn der einschlägigen Uteratur (z.B. Mandler u. Mandler, 1969; Coser, 1984) werden diese Stellen etwas herablassend, zuweilen sogar als Diskriminierung gegen Lewin bewertet, da sich keine von ihnen an einem "richtigen" Psychology Department befand. Dabei wird aber übersehen, dajl gerade diese beiden Institutionen durch ihre Zugehörigkeit zum oben genannten Forschungsprogramm der Laura Speilman Roclcefeller Fonds (LSRM) zu den bestdotierten psychologischen Forschungseinrichtungen der USA gehörten. An beiden Orten, aber vor allem in Iowa, hatte Lewin Anschlujl an gesellschaftlich wichtige Forschungsprobleme und Zugang zu universitären Einrichtungen, wie z.B. Laborschulen, sowie aujleruniversitiren Institutionen, in denen er Daten sammeln und Versuchspersonen gewinnen konnte. Aujlerdem waren Doktoranden und Mitarbeiter vorhanden, die sich für seine Projekte engagierten und sich auch ausschlieflIich damit befassen konnten, ohne nebenher noch den Vorlesungs- und Verwaltungsbetrieb mit aufrecht erhalten zu müssen. Während Lawrence K. Frank nur indirekt an der Berufung Lewins nach Cornell beteiligt war, so nahm er die Fäden bei seiner Versetzung nach lowa selbst in der Hand. Im Januar 1935 veranstaltete Frank eine kleine Tagung zum Thema "Persönlichkeitsentwicklung unter dem Zeichen der Gestaltpsychologie" in Princeton; unter den Anwesenden waren Lewin, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Max Wertheimer sowie amerikaDisehe Psychologen wie Gordon Allport, Gardner und Lois Murphy, Barbara Burks, Norman Maier- und
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auch George Stoddard, Leiter der ICWRS. Aus den Tagebuchnotizen Franies geht hervor, dafl eine sehr interessante Auseinandersetzung u.a. zwischen l..ewin und den Begründern der Gestalttheorie vonstatten ging, worauf hier nicht eingegangen wird. Offenbar machte l..ewin auf Stoddard einen hervorragenden Eindruck, denn am 4.2.1935, also nur einen Monat später, schrieb Frank an Ogden in Comell, dafl Stoddard l..ewin für ein Jahr nach lowa einladen wolle. Dazu kommentierte er: "I think it would be a very desirable arrangement, since the lowa station could provide l..ewin with exceptional facilities, equipment and personnet and a body of graduale students. I personally hope that he can stay in this country Ionger because ofthe value of bis work for child research" (Frank, 1935). Bemerkenswert ist, dafll..ewin weiterhin als Kinderpsychologe, nicht als Persönlichkeitsoder Sozialpsychologe identifiziert wurde. Die letzte Bemerkung Franies war eine Anspielung auf das etwa gleichzeitig eintreffende formelle Angebot der Hebräischen Universitit in Jerusalem an l..ewin, welches schon ein Jahr zuvor lanciert worden war (vgl. hierzu Lück & Rechtien, 1989, sowie Lück, in diesem Band). Als überzeugter Zionist neigte l..ewin. dazu, das Angebot anzunehmen, er zögerte jedoch wegen der kaum bzw. gar nicht vorhandenen Forschungsmöglichkeiten in Palästina. 'Die Möglichkeit, da~ l..ewin sich zur Annahme dieses Angebots doch entschliejkn würde, und der Wunsch, ihn in den USA zu behalten, zieht sich wie ein konstanter Grundton durch die Unterlagen der RockefeUer-Stiftungen hindurch. Schon im März 1935 beantragte Stoddard als eine Antwort auf das Jerusalemer Angebot Gelder von den für emigrierte Wissenschaftler aufgestellten Fonds der Stiftung, um ein zweites Jahr in lowa zu ermöglichen. Gleichzeitig gelang es ihm mit der Hilfe von Frank, aus anderen RockefellerFonds ein Stipendium für Tamara Dembo, die schon in Comell und in Berlin mit l..ewin zusammengearbeitet hatte, sowie für eine weitere Assistentenstelle zu erhalten. Erster Inhaber dieser zweiten Stelle war Roger Barker (Barker, 1979).
Die Rahmenbedingungen in /owa Die ICWRS wurde durch ein Gesetz des Parlaments im Bundestaat lowa im Jahre 1917 gegründet. Ihr Mandat belief sich auf die Untersuchung und Erhaltung der Entwicklung normaler Kinder, sowie auf die Verbreitung der Untersuchungsergebnisse und die Ausbildung von Fachkräften auf diesem Gebiet (Stoddard, 1938, p. 1}. Die Begrenzung der Aufgabe auf sogenannte "normale" Kinder deutet auf einen Versuch hin, Konflikte mit der Medizin, vor allem der Psychiatrie und den Leitern von staatlichen und privaten Anstalten für geistig behh\derte Kinder zu vermeiden. Ansonsten fällt neben dieser Einschränkung des Arbeitsgebietes auf, da~ die Station von vomherein das Recht auf die eigenstindige
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Veröffentlichung ihrer Ergebnisse sowie auf eioe eigenstindige, vom Psychology Department der Universität prinzipiell unabhängige Ausbildung ihrer Doktoranden und Mitarbeiter erhielt. Daraus entstand u.a. eine Veröffentlichungsreihe, die_!!!l.l!!_r,:!~ of{~-~~s;,. C}Jj/d_Jlfdfare, in der später die ~!!~f~~!'J~~~~~!I.fass~ns~~ ..der bedeutendsten Studien der Y;win-GmPPJ:...i!tl9.~t!. erschienen sind. In den 20er und 30er Jahren wurde die Station zunächst bekannt durch die Studien ihres ersten Direktors Bird T. Baldwin und seiner Mitarbeiter über kindliche Entwicklungsprozesse mittels anthropometrischer Messungen. Von weitaus gröfJerer Bedeutung waren aber die Untersuchungen von Stoddard, der die Leitung im Jahre 1928 übernahm, und seinen Mitarbeitern Harold Skeels und Beth Weilman (z.B. Wellman, 1933-1934; Skeels u.a., 1938). Diese wiesen die Auswirkung veränderter Umweltbedingungen auf die IQ-TestErgebnisse von vermeintlich geistig behinderten Kindem nach und sorgten damit nicht nur in der Fachwelt für gropen Aufruhr. Diese Möglichkeit, Kinder in ihrer Entwicklung durch eine konstruktive Veränderung ihrer Lebensbedingungen positiv beeinflussen zu können, strich Stoddard bei jeder Gelegenheit heraus. In seinem Bericht über das zweite Jahnehnt der Stationstiitigkeit im Jahre 1938 schrieb er beispielsweise, da~ sich das Institut zwar in erster Unie der Grundlagenforschung widme, die unabhängig von den Bedürfnissen staatlicher Einrichtungen konzipiert sei, da~ damit aber anwendungsorientierte Forschungen nicht prinzipiell ausgeschlossen seien: "For the purpose of implementing various procedures believed to be helpful in child development, we undertake projects that are engineering in type" (Stoddard,1938, pp. 17 f.). Mit diesen Worten drückt Stoddard die Doktrin einer Bewegung aus, die in der USamerikanischen Geschichtsschreibung mit der im iieÜtigen Europa vieileicht etwas befremdend wirkenden Bezeichnung "Progressive Movement" gekennzeichnet wird. Dieser Terminus beschreibt nicht d~.Pr!>g@~~- e}_ner bestimmten politischen Partei, sondern das in vielen Teilen dergebildeten Mittelschichten damals hoch2!~-~~.).c:Jt:~l ~iner Ratiopalisieru~~-~~~!~ch._~t'ts,~!.d..I!H!ll_durch den gezielten Einsatz von Expertenwissen. Die von GiilödlägenfÖrschung von den unmittelbaren Stoddard betonte bewu~te Trennung Bedürfnissen der staatlichen Wohlfahrtseinrichtungen diente der Legitimierung dieses Einsatzes über den Umweg der vermeintlichen "Objektivität" der Wissenschaft. Als Verkörperung gerade dieses progressivistischen Ideals erfreute sich die ICWRS seit 1928 einer reichlichen Unterstützung durch die Fonds der LSRM, und zwar in einer Höhe von durchschnittlich über 90 000 Dollar im Jahr - zwei- bis dreimal so viel, wie sie vom Bundesstaat lowa erhielt, und unvergleichbar mehr, als man sich damals in Europa jemals bitte erträumen können. (Diese und die folgenden Zahlenangaben stammen aus Unterlagen der ICWRS im Universitätsarchiv der Universität lowa.) Die Zuwendungen der LSRM-Fonds (bzw. nach 1930 des General Education Boards der Rockefeller-Stiftung) waren allerdings von vomherein auf eine Laufzeit von zehn Jahren begrenzt, und deren Gesamtsumme wurde gerade im Jahre 1935, dem Jahr, in dem Lewin nach lowa kam, von
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15 000 auf 39 000 Dollar gekürzt. Die Einladung Lewins nach Iowa mit Geldern aus anderen Fonds der Rockefeller-Stiftung stellte vom Gesichtspunkt Stoddards aus gesehen u.a. einen unter vielen Versuchen dar, die RockefeUer-Unterstützungtrotz der schon eingeplanten Kürzungen weiterhin zu erhalten. Doch im Laufe des Lewinsehen Aufenthalts entstand zwischen ihm und seinem Vorgesetzten offensichtlich ein Verhältnis gegenseitigen Respekts, das über eine blojk Zweckdienlichkeil hinausging. Denn als die für Lewin und seine Mitarbeiter gedachten Rockefeller-Stipendien im Jahre 1939 endgültig ausliefen und die Harvard-Universität Lewin mit einer Gastprofessur zu g~n schien, antwortete Stoddard, der inzwischen als Nachfolger des Psychologen Carl Seashore zum Dekan des Graduate Colleges gewählt worden war, mit der Übernahme Lewins als "full prof~r· in den permanenten Stab der ICWRS und mit Fellowships für Tamara Dembo sowie für einen weiteren Mitarbeiter. Das Professorengehalt sollte von nun an aus dem Universitäts-Budget bestritten werden, "for we want you here" (Stoddard, 1939). Die Bedeutung dieser Aussage kann man vielleicht daran messen, da~ der Präsident der Universität sich zur selben Zeit gegen einen in einer Kleinstadtzeitungveröffentlichten Angriff auf die vermeintliche Überzahl von "Jews from the East at the university" wehren mu~te (Gilmore,1939). In Iowa war der Antisemitismus wie andernorts in den USA durchaus vorhanden; dennoch wollte man Lewin an der Universität behalten.
-
D~ Lewin-Gruppe
in /owa -Fortpflanzung einer Mikrolcultur?
Als Lewin seine Berufung nach Iowa annahm, wollte er wissen, ob es sich lohnen würde, die Filme und Filmapparate, die er zum Teil aus Berlin hatte retten können und die er in Comell in seinen Untersuchungen über die E~gewohnheiten von Kindem schon eingesetzt hatte, auch nach Iowa mitzubringen. Stoddard versicherte ihm, dafJ die Station für Filmuntersuchungen in jeder Hinsicht bestens ausgestattet sei. Und in der Tat konnte Lewin vor allem in Untersuchungen über "autoritäre" und "4emokratische" Führungsstile, von denen noch wei;~~~;~-dieRede ~~~ ~i;:d, di~ Medi~~ \Vi~ku~Ssstark einsetzen. Aber noch wichtiger für die Frage der Kontinuität einer wissenschaftlichen Mikrokultur ist die Arbeitsweise, die für die Forschergruppe um Lewin in Berlin charakteristisch war. Konnte diese auch in lowa rekonstruiert bzw. von neuem wieder aufgebaut werden? Das Stichwort hierfür hiefJ "die Quasselstrippe" - das war die Bezeichnung für die Gruppe, die sich regelmä~ig aber mit ständig wechselnder Besetzung im "Schwedensehen Cafe" am Berliner Schlo~platz gegenüber dem Psychologischen Institut zum intensiven Plaudern über alle möglichen Alltagsfragen und wissenschaftliche Probleme traf. Wie eine der ersten Studentinnen aus dieser Gruppe, Anitra Karsten, in einem Interview berichtete, war die Zusammenarbeit mit Lewin in Berlin "eine einzige lange Diskussion" gewesen (Karsten, 1978; vgl. Karsten, 1979). Allein die Tatsache, da~ sich das Wort "Quasselstrippe" in den
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Beschreibungen der amerikanischen Studenten Lewins immer wieder findet, besagt schon für sich genommen, da~ zumindest ~re~!l.Y..
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Erst spiter, nach weiteren Interaktionen zwischen Lewin, Lippitt und Robert White, entstand die Kategorie der sogenannten "laissez faire"-Arbeitsgruppe, die praktisch ohne Führung war (Lewin. Uppitt & White, 1939, pp. 271 f.). Wie Cartwright resumiert. "the impact of Uppitt cannot be overemphasized. His rote was very important. Uppitt bad a tremendous influence on Lewin to get him interested in groups specifically" (nach Patnoe, 1988, p. 31). Lewin hatte schon 1931 die Bedeutung der "sozialen Atmosphire" einer Schule für die Erziehunparbeit hervorgehoben (Lewin, 1982). Wie Kurt Danziger (1990) neuerdings gezeigt hat, war die Arbeitsweise der Berliner Gruppe um ihn von Anfang an durch die Berücksichtigung der Interaktion zwischen Versuchsperson und Versuchsleiter gekennzeichnet. Auch das Prinzip, da~ das psy~b.QlQgi.~h.ct.I;.X.~ri~e!l~ l~bellSn~~~-~i!!Jil!:lß, steht ga~.~~ ~~~g..detF-OISChuAgen_Y.'!ins. Doch vor 1933 (bzw. 1935) war die bevorzugte soziale Einheit im Lewinsehen Experiment grö~tenteils eine Dyade - also eine aus zwei anstau aus mehreren Menschen bestehende Gruppe. Erst in Iowa fing Lewin an, mit_grö~ ren Gß.l~~-~!:!ß~~~~ ~.~l!~C:..J!~i.!:!tl}; Damit ~heint erwiesen, da~ jedenfalls ein bedeutender Aspekt der Lewinseben Arbeitsweise ~ Erge~er Emi!e·ation zu betrachten ist. Diese Feststellung ist jedoch folgendermassen einzuschränken. Erstens war das Zentrale an der 1\!'_beitsweise Lewins seine Gruppendynamik - die gegenseitige Abhingigkeit seiner Denkcia~ .... . ...und.. Forscliüngsleisiung -. . ........... der.seißetMi't8J.j;ii;~;· ...... -...................... _____ . ..... . 'di'eses cb~rakteristiiCum offensiebtlieb auch in Iowa wieder zum Leben gebracht wurde, stellt eine wichtige Dimension von ~tJ,tgegenüber der Berliner Zeit dar. Zweitens sollte darauf hingewiesen werden, d~ die Lewin-Gruppe nur eine kleine Arbeitseinheit neben den anderen, meist ~ren Abteilungen an der ICWRS war. Dorwin Cartwright berichtet, da~ man sieb dort mitunter etwas isoliert vorkam (Patnoe, 1988, p. 33). Obwohl die Iowaner durchaus bereit waren, gelegentlich auf bestimmte für sie relevanten Lewinsehen Arbeiten, z.B. die Berliner Studien von Sara Fajans (1933) über den Umgang von Kleinkindem mit Erfolg und Mi~r folg, Bezug zu nehmen (vgl. Updegraff, Keister, Heiliger u.a., 1937; Keister, 1943), hatte der besondere Arbeitsstil der Gruppe um Lew in anscheinend wenig Einflu~ auf die Arbeitsweise der anderen Forschungsgruppen der Station. ·
·von
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Die Lewinsehe Theorie und die Forschungen in Jowa Aus der Vielfalt der Themen Lewinsehen Denkens und Forschens während der Iowa-Jahre traten vier mit besonderer Stärke hervor (für eine Liste der in lowa entstandenen Forschungsarbeiten siebe Marrow, 1969, pp. 262-266): (1) Die Topalogische Psychologie brachte Lewin im Jahre 1936 zum ersten Mal in Buchform heraus, beschrieb sie aber selbst als Ergebnis eines sehr langsamen Wachstumsprozesses, der "more than ten years ago• begonnen hatte (Lewin, 1936, vii).
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(2) Das Thema Frustration and Regression lief} sich zwar aus den Berliner Arbeiten zur Handlungs- und Affektspsychologie ableiten, erfuhr in lowa jedoch gewisse Wandlungen in -'.· der Methodik seiner Behandlung. (3) Überlegungen über nationale bzw. kulturelle Erziehungsstile standen mit den eben . ~ besprochenen gruppenpsychologischen Untersuchungen in engem Zusammenhang. , I (4) Gedanken über die Probleme von Minderheiten stellen die ersten explizit soziolpsycho- \ logischenArbeiten Lewins dar. ___ ____.} Die interessantesten Mischungen aus Kontinuität und Wandel im theoretischen Denken und methodologischen Vorgehen Lewins sind ohne Zweifel in den Arbeiten über Erzie~e und zur Thematik "Frustration und Regression" zu beobachten. In einem ...--·-··· . -·~~---·····---~ ...... -·· . Aufsatz aus dem Jahre 1936- also gerade zur Zeit seines Gesprächs mit Uppitt- warf Lewin erstmals das Thema "kulturelle.Un~~-~.J:ai~~ in der Erzieh~:~ng" auf. Der Titel lautet im Original "Some PsychO::Söciological Differen~betweeii.the United States and Germany" (Nachdruck in Lewin, 1948). Es liegt nahe, für die Hinwendung Lewins zu diesem Thema biographische Ursachen anzunehmen: es waren nur drei Jahren nach seiner Emigration vergangen, und seine Kinder kamen allmählich ins Schulalter. Doch seine Einbettung in eine Forschungsanstalt für Kinder, deren Mitarbeiter sich hauptberuflich mit Fragen der Erziehung beschäftigten, hat sicherlich mit dazu beigetragen. Die theoretische Arbeitsweise, gekennzeichnet vor allem durch die flexible Verwendung von Metaphern und Analogien aus den Naturwissenschaften, hatte sich Lewin schon in Berlin zu eigen gemacht. In diesem Fall versuchte er, mit Hilfe einer Metapher aus der gestaltpsychologischen Wahrnehmungsforschung die "allgemeine k_!.a]!!l!.~l.le 1\JmQ!!pb.!~- re".~ine~ ~n4.e.t.al.s einen "Grund" zu begreifen, von dem sich der jeweilige Erziehungsstil ~-i~ eine Wahrnehmungsfigur abhebtÜ...e~in, p. 4). Ausdleser-·Pe-rspektfve-säll-er·· "die Reichweite freier~wegung" analog zum physikalischen Begriff des Freiheitsgrades ai; '!f~~GIJI~dcharakteli~tikum" ~on Erziehu.n~Y.~~'!l.~l!~~-!1. (a.a.ö:;j,: 6): -Sölciie.Ubefle~· · - gungen ermöglichten es ihm, auch im sogenannten "demokratischen" Erziehungsstil der USA differenzierte Strukturen zu erkennen und zugleich auch anzumerken, wie sehr amerikanische Lehrerinnen und Lehrer an vorgegebenen Mustern und Lehrplänen festhielten. Paradoxerweise würden am~ri!t_anische Kinder nach Lewin gerade so zum eigenständigen . . .... -··--------------~aJI~eh~ in einem h~terogenei:'_~?.~!!I!.~.~Y.~t~".! erzosc:!!.t_ während im vergleichsweise homoge~en Sozialsystem Deutschlands Rigidität und Gehorsam verlangt würden. . Aus diese~ und ähnlichen ~!;t~nken - und, wie ~~~h~t. ~us Gesprlichen Lewins mit Lippitt- en~tanden die berühmten Arbeiten über "demokratische" und "autoritäre". GruppenstruktUt:ell(Lewin, Uppitt & White, 1939). Wie Lewin und Lippitt ihre ailgemeine methodologische Zielsetzung in einem vorläufigen Bericht formulierten, versuchten sie experimentelle Situationen herzustellen, in denen nicht nur wie in früheren sozialpsychologischen Forschungen vorrangig die Beziehungen von Individuen zur Gruppe, sondern auch ein Gruppenleben sich frei entfalten und damit "the total group behavior, its structure
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Mildtell G. Ash
1and development" untersucht werden konnte (l..ewin & Uppitt, 1938, p. 292). Dies erinnert an die schon vor seiner Emigration aufgestellte Unterscheidung Lewins (1931b) zwischen einer "aristotelischen" und einer "galileischen" Denk· und Forschungsweise in der Psychologie. Hervorzuheben dabei ist sein Insistieren auf die approximative Konstruktion idealty· piseher Person-Umwelt-Beziehungen im Labor, um somit die dynamischen Strukturen solcher Verhaltenssituationen gleichsam phänomenologisch hervortreten zu lassen. Diese Prozedur verstand er als analog zu der von Galilei, der aus von ihm entworfenen idealtypi· sehen Situationen das Gesetz des freien Falls deduzierte. Insofern ist eine Dimension der Kontinuität zu erblicken, da l..ewin diese "galileische" Arbeitsweise auf die Erforschung von Gruppendynamiken zu übertragen versuchte. Doch schon im ersten Bericht bedienten sich Lewin und Lippitt (a.a.O.) eines gerade zu jener Zeit in den USA modisch werdenden Methodenvokabulars, indem sie von einer "operationalen" Definition der zu untersuchenden Verhaltensstile sprachen. In der 'l._:h:r ,_ "autoritären" Gruppe wurden nämlich nicht nur die Aufgabe, sondern auch die Regeln ihrer ·t.,. t-,..; · Ausführung vom Gruppenleiter vorgegeben, während in der "demokratischen" Gruppe der ·· 'c Leiter als beratender "Facilitator" der von der Gruppe getroffenen Entscheidungen fungierte (für eine tabellarische Aufstellung der Charakteristika dieser beiden Gruppen sowie auch des später eingeführten, sogenannten "laissez-faire"-Stils vgl. Lippitt & White, 1943, p. 487). Darüber hinaus legte man Wert auf die Erhebung qualitativer wie auch quantitativer Daten. Neben Einschätzungen des Spannun~niveaus bzw. der Ich· oder Wir-Zentrierung in den verschiedenen Situationen, wurde aus den stenografischen Versuchsprotokollen auch die Häufigkeit bestimmter Verhaltensweisen, z.B. Konkurrenz, Feindseligkeiten oder das Suchen nach "Sündenböcken" zahlenmäpig ermittelt. Auch in Berlin hatten die Forscher der Gruppe um Lewin quantitative und qualitative Beobachtungen miteinander verwoben. Trotzdem läpt sich hier der Anfang einer Wandlung im methodologischen Vorgehen Lewins konstatieren, die sich aus der Zusammenarbeit mit Amerikanern ergab. Noch ldarer zeigt sich dies in den Untersuchungen zum Thema ".FJ1lstratiQn und -~~gt:~n" (Zusammenfassung in Barker, Dembo & Lewin, 1943). Auf einer Ebene setzt diese Arbeit das in Berlin begonnene Forschun~rogramm fort, indem die Untersuchungen zur Handlun~- und Affektspsychologie mit entwicldun~psychologischen Fragestellungen zusammengeführt werden sollten. In ihrer Monographie Der Ärger als dynomisches Problem hatte Dembo (1931) die Flucht in kindliche Fantasien als eine mögliche Antwort auf frustrierende Situationen bei Erwachsenen besprochen. l..ewin selbst hatte das Thema in seinen Schriften über kindliches Verhalten weni~tens indirekt zur Sprache gebracht, indem er z.B. beschrieb, wie Kleinkinder in Konfliktsituationen versuchen, noch "ldeiner" zu werden und sich dabei in eine foetus-äholiche Stellung begeben (Lewin, 1935, p. 94). Überhaupt war Lewin der Begriff der Regression wohl vor allem aus seiner schon vor 1933 erfolgten Rezeption der Psychoanalyse geläufig (vgl. Lück & Rechtien, 1989).
202.
Als es zur systematischen Untersuch\.mg ~~'_Themas in Jowa kam, machte sich jedoch der Orts· Ünd- KÜiiuiWectiSer d~~h;~s bemerkb~~-- s~-~pricht"d~;Text nicht von "Handlungs· und Affektpsychologie", sondern von "behavior theory". Viel wichtiger noch als eine solche terminologische Anpassung war das Instrument, das als eine Art diagnosti· sehe MeiJiatte zum Nachweis der behaupteten Regression verwendet wurde. Dabei war die Handschrift von Roger Barker, der die Handhabung von Intelligenztests und verwandten MeiJtechniken in Stanford gelernt hatte (Barker, 1979), nicht zu verkennen. Konstruiert wurde ein zweidimensionales Koordinatensystem, bei dem man das durch IQ-Messungen festgestellte "Mental Age" der Kinder mit den Ergebnissen einer eigens für diese Untersuchung entworfenen, siebenpunktigen "Konstrulctivitätsskalierung" korrelierte. Diese bestand aus Ratings der beobachteten Spieleinheiten nach ihrer Reichhaltigkeit und Originalität. Erreichten die "Konstrulctivitäts"-Ratings in den Frustrationssituationen nicht die Höhe der Ratings für Kinder gleichen "Mental Age" im freien Spiel, so sprach man von Regression (Barker, Dembo & l..ewin, 1943, pp. 452-453). Die Berliner Gruppe um l..ewin hatte keine Vorbehalte gegen quantitative Argu· m_ente. Beispielsweise wurde in der klassischen Untersuchung Bluma Zeigarniks (1927) über das Behalten unerledigter Aufgaben das Vorhandensein dieses Phänomens quantitativ nachgewiesen. Aber in den Iowa-Untersuchungen über "Frustration und Regression" wurde eine statistische lnferenz von genau der Sorte, die l..ewin (1931b) früher als "aristotelisch" kritisiert hatte, zur Stütze der Zuverlässigkeit und Validitit des Ergebnisses. Vielleicht ging das deshalb an, weil das quantitative Argument mit einer eingehenden, durch topologische Skizzen ergänzten Phänomenologie des zu messenden Verhaltenstypus kombiniert wurde und man deshalb meinen konnte, daiJ die statistische Beweisführung im Rahmen einer "galileischen" Arbeitsweise erfolgt sei. Auf jedem Fall zeigt sich hier, wie nicht nur im allgemeinen Arbeitsstil der Iowa-Gruppe, sondern auch in der Methodik und in der argumentativen Konstruktion ein komplexes Zusammenspiel von Kontinuität und Wandel, von in Deutschland und in den USA entstandenen Wissenschaftskulturen zustande kam. Am allerfrühesten zeigte sich die Wandlung im Denken Lewins nach seiner Emi· gration in seinen Arbeiten zum Minderhe"it~nprob"iem:··s-choii-f§35\veitete er in einem Aufsatz mit dem Titel "Socio-Psychological Problems of a Minority Group" (Nachdruck in i948)""den &grirf"
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Da8-;armei"nes-wi5seßs auch seine erste, jiSch betite.lt~ A~l~· Hierbei wie in seinen Arbeiten uoer Erziehungsstile verwendete l..ewio naturwissenschaftliche Metaphern, diesmal allerdings aus der Zellbiologie. Demoach
e_!&i.~t.§ich die_~~t':_lati~!l e~~~~ -~inde~it • l.ewin schreibt hier nur über die Juden •~ Permeabilität der jeweilige~ _Grenze zwischen ihr und der Mehrheit. Gerade die assimilierten Juden cks 19. und 20. Jahrhu~derts- oder die~Öigeii;·die..slcn·äSSrmiliereo wollten, haben es bei der Persönlichkeitsstrukturierung also besonders schwierig, da ihr Grenzgingerturn ein Zugehörigkeitsgefühl weder zur einen noch zur anderen Gruppe aufkommen liflt. Sieht 203
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Mitclwll G. Ash
J..ewin hier die Lösung dieses Problems noch seiner z!Qnistischen Überzeugung gemäp im Aufbau eines jüdischen Nationalstaates, so wird 1939l~inem Aufsatz When Facing Dongerangesichts des herannahenden Krieges und vor allem der zunehmenden Verfolgung auch der sogenannten "Halb-" und "Vierteljuden" sowie der eigenen Familie im Dritten Reich die Frage zum ersten Mal grundsitzlieh vom gesellschaftlichen Standpunkt und nicht von dem des Individuums aus gesehen: "The Jewish problern is a social problem" (Lewin, 1948, p. 162). In einer Reihe von teils populiren Schriften wie z.B. Bringing up the Jewish Child (Nachdruck in Lewin, 1948, pp. 169-185) schligt er daraufhin in den 40er Jahren Mapnahmen zur aktiven Stirkung des "Wir-Gefühls" von Juden auch in Amerika durch bewupte jüdische - allerdings nicht unbedingt religiöse - Erziehung vor. Dap solche VorschlAge nicht die Bindung der Juden an die US-amerikanische Gesellschaft schwichen würden, kann er aber nur deshalb glauben, weil er zuvor schon einen vermeintlich amerika---. nischen Stil der Erziehung zur Heterogenität ausgemacht hat. Im theoretischen Denken sowie im methodologischen Vorgehen Lewins wurde die ) Verarbeitung seines eigenen Schicksals als Emigrant zur Basis einer nicht unbeachtlichen 1 J Entwicklung seiner Theorie und seiner Forschungspraxis. Damit wird die Frage nach der . Kontinuität Lewinsehen Denkens (s. a. Schönpflug, dieser Band) aufs Neue gestellt und zugleich eine neue Grundlage für ihre Beantwortung geschaffen. Unter Verweis auf die Früharbeiten J..ewins, z. B. Zur SoziJJiisrerung des Taylorsystems (J..ewin, 1920), meint CariFriedrich Graumann, dap Lewins Denken auch aufgrund seiner Eigendynamik unweigerlich ~r Sozialpsyc~~o~~ hinführen müp~ (Graumaon, 1982; vgl. hierzu van Elteren, 1990). Die-~nvorgetragene Skizze mag aber helfen zu verstehen, wie und vielleicht z. T. auch weshalb eine Entwicklung, die in der Eigendynamik seiner Theorie vorhanden war, gerade zu jener Zeit dieses Ausmap annahm und in diese Richtung führte.
Schluss Betrachten wir die Rolle der lowa-Jahre in der wissenschaftlichen Biographie Kurt Lewins, so wurde ihm diese Zeit zum Sprungbrett in eine ganz amerikanische Karriere. Wie viele der anderen Mitarbeiter der ICWRS fing er zunichst mit einer bescheidenen, keineswegs ~i.cherten Stelle ao, die wir auf Deutsch ohne Anachronismus als eine "Drittmittelstelle" bezeichnen können. Diese verwendete er als Bas_is für ein~. weitreichende Organisationsti· tigkeit. Schot). in Come!l hatte er angefangen~-ait~mative Diskussionsgruppen auPerhalb der ---....:;__ ••·•········•·· bestehenden psychologischen Gesellschaften zu organisieren, beispielsweise die Topology Group ab 1935, deren Zusammenkünfte auch z. T. durch die Rockefeller-Stiftung, z. T. dÜ~~h-dl~-~j, l936 von Lawrence K. Frank geleitete Josiah-Macey-Stiftung finanziert wurden. In der Iowa-Zeit kam eine noch wichtigere Gruppe, die "Society for the Psychologic~l Study ofSociallssues", hinzu, deren Mitbegr.i,i~! ~~nd deren Vorsitzender er 1941 wurde. Von dieser vielschichtigen institutionellen Basis aus weitete sich seine For•
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schun~titigkeit zusehends in Richtl,lngder.an~andte~ &m.lllps~cJiol~e aus. Angefan.gen mit privat finanzierten industriepsychologischen Projekten Ende dedOer Jahre, ging diese Ausweitung über die Moralforschung fiir die US-Armee im Zweiten Weltkrieg und sogenannte "Community Research"-Projekte zur Erfo,JSChung von Vorurteilen im Auftrag jüdischer Gruppen in New Yorlc bis hin zur Begründung des Research Centers für Gruppendynamik am MIT im Jahre 1944 (niheres hierzu in Marrow, 1969; s. a. Back, dieser Band). So nahm Lewin das damals im Entstehen begriffene Netz von privater, öffentlicher und semiprivater Forschunpförderung in den Sozialwissenschaften der USA voll in Anspruch. Dabei kam ihm die oben skizzierte ~ammenwirkun~-~i~he~ ~ine.r .in ~rlin entwickelten Denk- und Forschungs\Vei~ und d,er se..iner amerikanischen Mitarbeiter in Iowa zuiniiZe~ Oie in de~_~t!:Jd!~Q.Ü.~t~J!i!~!!P~!Üe erstmals erprobten Forschunpmethc:Ktiken wurden in den späteren lowa-Jahren auf Arbeiten über di~- E!!bDI~J~..Y.Q.Q Erwachsenen in verschiedenen Situation übertragen. Das Interessante daran in diesem ~mn:ienh~gist de~·o;ti;;i~;-~~ cieii~iii.lö
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zungen um eine gewerkschaftliche Vertretung der Arbeiter nicht eher als ein praktisch gemeinter Vermittlungsversuch anzusehen ist. Auperdem wlre die Frage zu stellen, die Lewin sich immer wieder gestellt hat, ob und wie allgemeine theoretische Formulierungen, wie z.B. die Forderung~~~!~_ ~j~r ~!I.PlCib9.1~~ d.ie von einer gesamtgesellschaftli~!!en . Formierung'de$ Menschen aus~ht, in konkrete Forschungen zu übersetzen sind. --··· - ··-·-·· ·-- Je~iiS"SOi~her Krlti~-;;-bi;ibt festzustellen, da~ die feldtheoretischen ~~n,lt~_n Lewins zu Erzi~~91l&S~ Y~ ..M.~'!'!~~heitsprob)~lll~.a.sowie zur Grup~lldY.I!!!_I!lik im allgemeinen die Entw~kluns..~.!..!!!'!.~~ri~~~i~h~~-~..X~~()I
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Die Anfänge der Gruppendynamik am Massachusetts Institute of Techno/ogy (MIT) Kurt W. Bac/c AJs Kun Lewin im Jahre 1945 an das Massachusetts Institute ofTechnology (MIT) berufen )c wurde, um dondas Forschunpzentrum für Gruppendynamik zu gründen, bedeutete dies für ihn mehr als einen einfachen Stellenwechsel. In den knappen zwei Jahren seiner donigen Tätigkeit vollbrachte er eine ungeheure Leistung. Fast könnte man vermuten, die Vorahnung seines Todes habe ihn zur Vollendung und Sicherung seines Werkes getrieben. WAhrend dieser Zeit legte er den Grundstein für eine neue Wissenschaft, baute er ein Forschungs- und Lehrinstitut (mit einer einschlägigen Zeitschrift) auf, versuchte er seine wissenschaftlichen Theorien in eine endgültige Form zu bringen, organisiene er weltweite Unternehmungen zur Bekämpfung von Vorurteilen sowie zur Beseitigung von Gruppenkontlikten, und er betrieb noch andere Anwendungen seiner Theorien. Dieser Aufsatz soll die Arbeit dieser Jahre unter drei Gesichtspunkten betrachten: Der erste Gesichtspunkt ist die Rolle, die diese Arbeit in Lewins Biographie spielt; sie zeigt ihn als den kreativen Auf}enseiter, welcher er Zeit seines Lebens gewesen war, und in dessen Le~n· Edolge und Sc~lerlgkeiten nicht voneinander zu trennen sind. Der zweite Gesichtspunkt ist der wissenschaftssoziologische; die Gruppendynamik kann als Beispielsfall für die Be~~u-~gerner n~~ll~~~~aftlich~n Schule_gelten. Die Arbeit Lewins.i5t aber drltten auch unter dem Gesichtspunkt der Gruppendynamik selbst zu betrachten; sie selbst stellte eine Anwendung seiner eigenen Theorie dar.
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Drei Gesichtspunkte: Lewin als Aupenseiter, wissenschaftssoziologische Bedingungen und die Gruppendynamik als Anwendungs/aU ihrer eigenen Theorie Zunächst zur Rolle Lewins als Auf}enseiter. Den gesamten Lebenslauf Lewins kann man als den eines Auf}enseiters beschreiben. Er war Jude im Wilhelminischen Preuf}en, als Berliner Bürger aus Posen zugewandert, ein Medizinstudent, der Psychologieprofessor werden woll-/\ te, Immigrant in Amerika, mit wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die zur Hilfte auf deutsch und zur Hälfte auf englisch erschienen. Er erlebte oft grof}e Konflikte; sie gaben ihm jedoch die Gelegenheit, die Welt von verschiedenen Standpunkten aus zu sehen. Die Diese Untersuchung wurde durch das "Duke University Research Couocil" geförden. Brigitte Neary ist für ihre Unterstützung zu danken.
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KunW.Back
Randslindigkeit kennzeichnete auch sein Leben als Wissenschaftler. Der philosophischpsychologische Rollenkonflikt (s. Metraux, dieser Band) brachte Lewin in Schwierigkeiten bei seinem ersten Habilitationsversuch in Berlin. Seine bahnbrechende Arbeit über den Begriff der Genese (s. Lang, dieser Band) wurde von Philosophen begrü~t, aber von Psychologen nur widerwillig angenommen. Seine Ra~t~llung i~ ~r Psychologie ~ht sich durch das gesamte berufliche Leben Lewins. Nur die berufliche Selbständigkeit und eine neue wissenschaftliche Orientierung konnte ihn aus der Stellung eines Au~nseiters befreien. Die Position des Au~nseiters spielt schon lange eine wichtige Rolle in der Soziologie (Stonequist, 1937). Dogan und Pahre (1990) führen Lewin als Beispiel (li~_A:u~n: seiters in den ~ll.IJ!i~oscbaften.an. dessen Randslindigkeit geradezu zur Voraussetzung ~-~~~.atOMkraftwi~ Inmitten seiner Faehkotiegen kann ein WisseßSChäftier'siCh . IeichtTrit Mittelpunkt sei~r Disziplin einkapseln. Dann ist eine Bewegung zur Peripherie nötig, um neue Fruchtbarkeit zu entfalten. Lewin ist dafür nicht der einzige anzuführende Beispielfall (Dogan & Pahre, 1990, S.67). · Wissenschaftssoziologisch ist folgendes voranzuschicken: Der Soziologe Edward Shits (1970) hat die Bedingungen für Erfolge einerneuen Fachrichtung analysiert. Er sah als grundlegende Bedingung die lostitutionalisierung des Faches, ausgedrückt in den folgenden Einzelleistungen: Die Anerkennung als akademisches Hauptfach; die Gelegenheit zur Veröffentlichung von Forschungsergebnissen, und zwar in Zeitschriften, die der entsprechenden Richtung gewidmet sind; Anteil an der traditionell gegebenen Förderung finanzieller, logistischer und verwaltun~technischer Art und entsprechend die Unabhängigkeit von dem Privatvermögen der Wissenschaftler; sichere und bezahlte Positionen für Lehre und Forschung; vorhandene Nachfrage für die Arbeitsergebnisse. Die Voraussetzungen hierfür bot Lewins Berufung an das MIT. Sie bot ihm Gelegenheit, seine diesbezüglichen Vorstellungen zu verwirklichen und ein neues Fachgebiet zu erschlie~n. Drittens ist auf die Dynamik des Zentrums für Gruppendynamik selbst einzugehen. Die Geschichte des Zentrums ist auch ein Anwendungsbeispiel der Theorie der Gruppendynamik. Qie..G~ppe~ynami~-be~~ndel_!_die St~~~.l-~-~~~~~~!~~.m.f.:~.~i~ sind autonom, aber sie beeinflussen sich gegenseitig. Die Gruppendynamik besteht auf der Realiilii des sozialen Feldes; aberdj~_f..!.~se bieibt, wie ~t:_r E;in~e.lne auf dl.e <J.ruppe. zu·· wirken vermag. Dieses Thema, das Begriffe wie "Führung", "Macht" und "Einfluß~ einscliJießi,' isi bedeutsam für Lewins theoretische Begiüitd~ng der ·~pj,endynamik und für seine praktische Leitung des Zentrums. Zum Teil stellte die Leitung des Zentrums eine bewu~e Anwendung der Theorie und Methodologie der Gruppendynamik dar. Theoretische und methodologische Prinzipien der Gruppendynamik spiegeln sich auch in der Geschichte des Zentrums wider. Diese Widerspiegelung erkennt man noch heute an den ungelösten Problemen der Gruppendynamik sowie an der historischen Entwicklung des Zentrums.
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Von den Gesichtspunkten der Lewinsehen Biographie, der Wissenschaftssoziologie sowie der Gruppendynamik aus können wir nunmehr LewiDS Titigkeit an seinem Institut am MIT betrachten, seine Beschäftigung mit der Theorie und Praxis der Gruppendynamik sowie den Alltagsbetrieb des Zentrums.
Die InstitutiOn Bevor Lewin nach Boston an das MIT ging, wirkte er an der Staatsuniversität in lowa. Dort wurde er zu einer in den ganzen Vereinigten Staaten bekannten Figur in der Psychologie. Seine bahnbrechenden Forschungen und seine theoretischen Erörterungen, die zusammen seine Stellung in der amerikanischen Psychologie festigten, liefkn "lowa" und "!..o.E9.lQ.ai.sche Psychol()gie" sozusagen zu Schlachtrufen unter den Psychologiestudenten werden, welclie de~ herrschenden Behaviori!>mll$ Z!1 einseitig fanden und welche die Anwendung der PSychOlogie auf die Probleme der realen Welt vermi~ten. l~wa erstrahlte t'ÜrSi~·;i;-eii1 ~elbaienesl,äiadies.
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In lowa selbst war die Situation allerdings weniger ideal. Zwar hatte Lewin eine gewisse Selbständigkeit erreicht, hatte seine eigenen Aufgaben und eigenen Mittel, er hatte seine Studenten und Mitarbeiter. Aber in seiner Arbeit war er doch auf die Duldung ~~r etablierten Fächer an~wiesen (s. Ash, dieser Band). Die Direktören der beiden ·dort ma~ge bendeninsiit~te kame~ ~on der Yale-Schule des Behaviorismus. Es waren K.enneth Spence im Institut für Psychologie und Robert Sears in der Child Welfare Research Station. Lewin hatte seine Stelle in der Child Welfare Research Station, und er blieb sowohl hier als auch im Psychologischen Institut ein Au~nseiter, und dies führte zu manchen unliebsamen Spannungen. Lewins Interessen gingen weit über den Horizont der Kindererziehung hinaus, welche die Hauptaufgabe der Child Welfare Station bildete. Die Experimente über das Gruppenklima wiesen in eine ganz neue Richtung, obwohl sie mit Kindem unternommen wurden. Lewin wurde während der Kriegszeit als Sachverständiger in vielen Fragen angefordert und erreichte als Gutachter einen hervorragenden Ruf. Aber diese Auszeichnung trug wiederum zu Spannungen in seinem Heimatinstitut bei. Aus allen diesen Gründen su~ nach ~er selbständigeren Stellung, wo er eine eigene wissenschaftliche Richtung gründen
"kO-;iite: . .
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Mit diesem Ziel vor Augen begann er mit verschiedenen Universitäten zu verhandeln; dabei erlebte er Enttiiuschungen und Erfolge. Zuerst verhandelte er mit Horace Kallen von der New School for Social Research in New York, der in ihm einen intellektuellen Nachfolger Max Wertheimcrs sah und folglich als befähigt, die Tradition der Gestaltpsychologie fortzusetzen. Aber unter dem Einftu~ von Wolfgang Köhler, der Lewin anders beurteilte, scheiterte dieser Versuch. Selbst von Gestaltpsychologen wurde Lewin nur als Au~nseiter angesehen und entsprechend abgelehnt (Marrow, 1969).
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Die Suche endete am ~!T, einer führenden Technischen Hochschule. !J.s ~~~~ eines Instituts i:D_de.~ Abt~ilung.((!! Natil)_nalökoJ!~~-i~- ~~-~LSomlwi.~..w;b.t.f!~p konnte -l:.ewin SOwohl Studienginge wie aucliiehrveranstaltungen planen, sich sein Lehrpersonal und seine Studenten aussuchen sowie allgemein die Ausrichtung von f.4?rscJlu.ng..uod.Le.bre be~i~men. Der Entscheidung nach MIT zu gehen, lagen verschiedene Erwägungen zugrunde. Auf jeden Fall ist es verführerisch, darüber zu spekulieren, da~ dort die Umstände gerade für einen Au~nseiter günstig waren und somit aus einer Not eine Tugend wurde. Theorien über Au~nseiter betonen ja immer wieder: die schwache Stellung des Au~nsei· ters kann leicht zur Stärke umschlagen. D~ man Lewin die Anerkennung als ma~gebender Vertreter der Gestaltpsychologie verweigerte, gab ihm Gelegenheit, seine eigene "Schule" in Amerika zu gründen, was den als Gestaltpsychologen Anerkannten • Wertheimer, Köhler und Koffka ·nicht möglich gewesen war (Ash, 1985). Das MIT gewährte l..ewin die Grundlage für den Aufbau einer neuen Wissenschaft. Es bot ihm die notwendige akademische Organisation, finanzielle Unterstützung und eine weitreichende Unabhängigkeit bei seiner Arbeit. ln vieler Hinsicht war er auch hier wieder Au~nseiter und wieder half ihm diese Rolle, indem sie ihm Selbständigkeit abverlangte und seine Kreativität anspornte. Au~rdem förderte die Stellung der Sozialwissenschaften am MIT Lewins Möglichkeiten. Wie bei der Ausrichtung einer Technischen Hochschule nicht anders zu erwarten, waren die SozialwisseßSChaft~n. ~~.111~ter die. fsychologie, hie_r nur am Rande vertreten. Das Studienprogramm für Nationalökonomie und Sozialwissenschaften, in welches l..ewin eingegliedert war, diente kaum als Hauptfach. Die Abteilung, welche es anbot, beteiligte sich grö~tenteils nur am Grundstudium für Studenten anderer Fachrichtungen, die Leistungen in den Geistes- oder Sozialwissenschaften nachweisen mu~ten. Diese Forderung entsprach der offiziellen Einsicht, da~ die technische Bildung durch Einseitigkeit gefährdet war. Praktisch gesehen, empfanden die Studenten die geistes- und sozialwissenschaftliehen Studien als eine Entlastung zwischen den schwierigen Kursen, die ihrer technischen Ausbildung dienten. Eine wirkliche erzieherische Rolle spielten die Sozialwissenschaften im Doktorandenstudium. Neben dem allgemeinen Programm der Abteilung gab es zwei spezielle Schwerpunkte, Betriebspsychologie und Gruppendynamik; die beiden letzteren waren verhiltnismä~ig neue Einrichtungen. Davon war Gruppendynamik wiederum der neueste und am stärksten abgesetzte Schwerpunkt, selbst räumlich von den anderen Zweigen der Abteilung abgesondert. Die Einrichtung eines Instituts für Gruppendynamik am MIT war teilweise eine Gewissensentscheidung der Universititsleitung. Das MIT hatte in den letzten Jahren so viel zu Krieg und Rüstung beigetragen; jetzt sollte ein Stück Forschung und Lehre dem Leben im Frieden zugute kommen. Daraus läflt sich wiederum schlie~n. da~ diese technische Hochschule eine humanistisch-soziale Richtung für wichtig hielt, sie aber immer noch als einen Fremdkörper betrachtete.
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Anfllnge der Gruppendynamik 11111 MIISSllduuelu IIUtitfM ofTedutolofy
Den Hauptzielen einer technischen Hochschule ziemlich wenig dienlich, war das Zentrum für Gruppendynamik notwendigerweise selbständiger als andere Abteilungen. Es bot einen eigenen Studienplan, der zur Promotion in Gruppenpsychologie führte, das einzige Doktorat auf diesem Gebiet. Das Institut veranstaltete Kurse in Lewinseher Psychologie, experimenteller Sozialpsychologie, Gruppendynamik und den damit verbundenen angewandten Gebieten. Andere einschlägige Kurse hatte das MIT nur wenige. Solche konnten jedoch an der nahegelegenen Harvard-UniveJSität belegt werden, und die meisten Studenten nutzten diese Gelegenheit. Psychologiestudenten hatten jedoch sowohl in Harvard als auch am MIT Seltenheitswert. Auch sie nahmen wieder eine AufJenseiteJStellung ein. die ihnen allerdings das Gefühl einer besonderen Auszeichnung verlieh. Um eine neue Wissenschaftsrichtung auszubauen, war es nötig, innerhalb des Zentrums eine Gruppe mit starkem Zusammenhalt zu bilden, und Lewin durfte seine Mitarbeiter und Studenten peiSÖnlich aussuchen. Als LehrpeJSOnal wählte er fast nur seine eigenen frilheren Doktoranden: Leon Festinger, Dorwin Cartwright, Ron Lippitt und Jack French. Mari an Radke hatte schon in Iowa mit ihm gearbeitet. Trotz verschiedener individueller Ansichten waren sie in der Lage, eine einheitliche Feldtheorie zu vertreten. An Studi· enanwirtern hatte er eine grofJe Auswahl, denn mit den zurückkehrenden Kriegsteilnehmern stand eine grofJe Zahl von Kandidaten veJSchiedener Jahrgänge zur Verfügung. Einige seiner Studenten meldeten sich nur normal an der UniveJSität an, andere waren durch direkte oder indirekte Kontakte mit Lewins Freunden vermittelt oder waren von Organisationen empfohlen, mit denen er in Verbindung stand. Es gibt Anekdoten über Studenten, die er nach einem hastigen Frühstück aufgefordert haben soll, nach MIT zu kommen. Der eJSte Studienjahrgang war verhältnismäiUg klein, ungefähr ein Dutzend. Aber diese Gruppe entwickelte grofJen Einflu~ auf die zukilnftige Sozialpsychologie. So gaben fast 40 Jahre später im Jahre 1982 229 Mitglieder der Society for Experimental Social Psychology (SESP) in einer Umfrage die drei einflu~reichsten Sozialpsychologen an. Unter den sechs Kandidaten mit den meisten Stimmen waren Lewin selbst mit 70%, ein Mitglied des Lehrstabs, Festinger, mit 79% und zwei Studenten, Kelley und Schachter, mit 30% bzw. 11% (Lewicki, 1982). Eine weitere Bedingung aus Shils oben angeführter Liste ist die finanzielle Sicherheit. Für Lewin ergab sich diese teilweise durch die Etatisierung der Lehrkräfte im Haushalt der Universität. Zusätzlich war es ihm wichtig. Einnahmequellen au~Jerhalb der Hochschule zu finden, um Forschung und Anwendungen auf seine ihm eigene Weise betreiben zu können. Die Förderung von aufJen eröffnete ihm wiederum verschiedene Wege zur Bewährung der Gruppendynamik. Eine Stiftung. die Field FOUIUkltion, die allgemeine Studien über sozialen Wandel förderte, garantierte eine Grundfinanzierung für das Zentrum. Ergiebigere Quellen flossen für zwei Anwendungen der Gruppendynamik: Konflikte zwischen Gruppen und das Funktionieren von Gruppen. Die Commission for Communily lnte"ellltions (CCI) des amerikanisch-jüdischen Kongresses hatte schon seit einigen Jahren Forschungen über 215
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Antisemitismus und damit verwandte Probleme betrieben. Lewin überredete die leitenden Mitarbeiter (unter ihnen manche alten Freunde), das Hauptzentrum der Forschung nach MIT zu verlegen. Durch diese Regelung hatte das Zentrum eigenes Personal, das unmittelbar CCI-Studien betrieb und gleichzeitig die Forschung im Zentrum verstirkte. Das Forschungsprojekt über Gruppenprozesse erhielt finanzielle Zuschüsse von dem Office ofNava/ Research (ONR), welches sich der Sozialwissenschaften während des Übergangs von Militär- zu Zivilforschung angenommen hatte. Die Studien aus diesem Programm steuerten allgemeine Prinzipien zur Struktur und Funktion von Gruppen an. Diese Quellen unterstützten sich auch gegenseitig. Ein gutes Beispiel ist der Anfang des Sensitivity Trainings. Das erste Seminar, vom CCI unterstützt, in welchem diese Technik entdeckt wurde, war nur für Beamte, deren Arbeit sich auf die Minderung von rassischen und ethnischen Konflikten bezog. Im Laufe des Seminars wurden Prinzipien entwickelt, die im allgemeinen auf das Lernen von Gruppen anwendbar waren, besonders das Feedback über Gruppenprozesse. Im Anschluj:\ daran wurde im kommenden Jahr ein von dem ONR finanziertes Seminar geplant, von dem die gesamte neue Richtung der augewandten Gruppenpsychologie ihren Anfang nahm. Auj:\er diesen gröfkren Finanzierungsquellen existierten auch kleinere Fonds. Ursprünglich speziellen Problemen gewidmet, gaben sie immer wieder Anstöj:\e zur Entdeckung allgemeiner Prinzipien. Ich selbst begann meine Arbeit am Zentrum mit einer Studie, die von einer Stahlfirma finanziert wurde; sie sollte die Vor- und Nachteile von Häusern aus Fertigbauteilen erkunden. Auch aus diesem Forschungsauftrag ergab sich eine längere Studie über Gruppenstruktur, Kohärenz und Kommunikation. Auf diese Weise muj:\te das Zentrum seinen Bestand rechtfertigen, indem es immer neue Ideen verbreitete und die Nachfrage nach seinen Diensten befriedigte. Nach Shils sollen dies die krönenden Bedingungen bei der Begründung einer neuen Wissenschaft sein. Offenbar sah Lewin die Verhältnisse gleichfalls in diesem Lichte und unternahm einen weiteren Schritt zur Formalisierung. indem er eine Zeitschrift gründete. Dies konnte das Zentrum allerdings allein nicht leisten und sicherte sich deshalb die Unterstützung des ihnlieh gesonnenen Tavistock-lnstituts in London. Dieser Verbindung entsprang die Zeitschrift Human Relations. Die eine Hälfte ihrer Beiträge kam vom MIT, die andere von Tavistock. Lewin schrieb für die beiden ersten Ausgaben programmatische Artikel, die unter dem gemeinsamen Titel Frontiers in Group Dynamics die Grundlage einer allgemeinen Feldtheorie bilden sollten. Andere Artikel beschrieben beispielhaft empirische Studien des Zentrums. Einige Artikel waren theoretischer Natur. Ein besonderes Verdienst der Zeitschrift war es, methodische Neuerungen einzuführen, deren Veröffentlichung in traditionellen Zeitschriften mit Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre, wie z.B. einige Studien über Gerüchte. Die Beiträge aus dem Tavistock-lnstitut waren mehr den Methoden aus der
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augewandten Sozialforschung sowie der klinischen Forschung gewidmet. Sie pa~ten jedoch gut zu Lewins Theorie. Human Relations sollte das Organ eines neuen Menschenbildes werden, des Bildes vom Menschen in seiner Gruppe.
Das Gebiet der Gruppendynamilc Zunächst könnte man sich fragen, warum Lewin, sobald er seine Unabhängigkeit gefunden hatte und seine eigenen Ideen verwirldi,c.~e~_kQOQte, plötzlich ei~ neue Richtung einschlug und von der individ11ei.i~n P.~Y.~~C)Iogl~ zur Sozialpsycholo"~ .~herging. Nach einiger Überlegung wird jedoch klar, da~ Grupfiendynäinik kein;-völlige N~~~höpfung war; vielmehr entsprang sie den mannigfaltigen Aspekten von Lewins bisherigem Werk als logische Folge. Die Zusammenhinge sind diese: a) Lewins ursprüngliches theoretisches Interesse lag in der Wissenschaftstheorie, wo er- im Gegensatz zu dem positivistischen Programm von der Einheit der Wissenschaften - betonte, da~ jede Wissenschaft ihre eigenen Begriffe und Methoden habe. In diesem Sinne bildet die Gruppendynamik keinen Zweig der Psychologie, d.h. sie ist keine Sozialpsychologie. b) Lewins Topologie bezieht sich ihrer Natur nach eher auf Gruppen als auf Individuen. Begriffe wie Grenzen, Spezialisierung, Innen und Au~n, Richtung und Schichtung bezogen \-. sich ursprünglich auf die Gruppe und werden nur hilfsweise auf die Betrachtung der individuellen Psyche übertragen. Bezogen auf Gruppen konnte die topologische und dynamische Psychologie schnelle Fortschritte erzielen. c) Gruppenexperimente- vielleicht die einftu~reichste Neuerung- hatten ihre Vorläufer in Lewins Arbeit in lowa, vor allem in seinen Untersuchungen zum Klima in autokratischen .'\ '· ~nd demokratischen (jruppen. Die Erfahrungen mit dieser Methode wurden nunmehr im Laboratorium systematisch ausgewertet. d) Lewin wollte seit jeher seine wissenschaftliche Arbeit angewandt sehen: "Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie." Unter den sozialen Verhältnissen der Nachkriegszeit schienen viele Probleme durch die betroffenen Gruppen selbst lösbar. Es waren Lewins eigene Überzeugungen, die ihn zur augewandten Gruppendynamik führten; in jener optimistischen Zeit weckten sie auch bei anderen Hoffnung. Man kann daher behaupten, da~ Lewins psychologische Theorie von Anfang-an eine soziale Theorie war, die die Person nach dem ~!Jst~r .~er Gesclls<:haft-~. Die verschiedenen Systemelnnerbän)~j~~~ Pemo~-sind leichter zu verstehen, wenn mansie als verschiedene Sektoren einer Gesellschaft begreift und Konstrukte wie Differenzierung und Durchlässigkeit, Grenzen und ihre Stärken, Nachbarschaft und Distanz, Konflikt und Kompromip, Macht und EinfluP als Analoga sozialer Verhältnisse im Bereich des Individuellen auffapt. Als Lewin dann sein Interesse auf Gruppen konzentrierte, führte er die Konstrukte auf ihre ursprüngliche soziale Bedeutung zurück.
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Diese Erwägungen sind natürlich im nachhinein plausibler, als sie damals erschienen. Lewin selbst verzichtete nicht auf die Betrachtung des Individuums, als er zur Untersuchung von Gruppen überging. In der Theorie führte dies zu Schwierigkeiten. Denn die einzelne Person wird von Feldkräften innerhalb der Gruppe getrieben. Von dieser Konstellation aus sah und beschrieb Lewin dann die Vorgänge innerhalb des Einzelnen. So ist ein Gruppenziel als Anziehungspunkt im Kraftfeld der Gruppe zu sehen und zugleich als Spannungsfeld innerhalb der Personen, aus denen die Gruppe besteht. Die Spannung zwischen dem Individuum und der Gruppe konnte sich als schöpferische Energie ausdrücken und zur Entdeckung neuer Wege führen. Diese parallelen Prozesse stehen in einem Zusam~ menhang, der aber keine Ausarbeitung erfuhr. Obwohl das Verhältnis zwischen dem Individuellen und dem Sozialen eines der Hauptprobleme der Sozialpsychologie ist, wurde aus der Diskussion im allgemeinen eine Haarspalterei, welche die theoretische Entwicklung oft zum Erstarren brachte (Back, 1990). Anscheinend hoffte Lewin, die Ausbildung der nächsten Studentengenerationen würden die Klärung der theoretischen Probleme weiter voranbringen. Er plante ein Handbuch der Feld· theorie, mit Anwendungsbeispielen, Standardproblemen - insgesamt eine Didaktik für das Zentrum. Die beiden letzten Artikel, die er zur Zeit seines Todes verfaJ)te und die dann in Human Relations veröffentlicht wurden (Lewin, 1947), versuchten jedenfalls Grundbegriffe der Gruppendynamik festzulegen. Die frage, was eigentlich das Feld ausmacht. und ob man das Individuelle ganz vernachlässigen kann, beeinfluJ)te auch die empirische Forschung im Zentrum für Gruppen· dynamik. Dies gewann Bedeutung für die Behandlung von Persönlichkeitsunterschieden. Die extreme Auffassung, Individuen als austauschbare Punkte zu sehen, führte zu einer Art von EXperimenten, die mit austauschbaren Versuchspersonen ausgeführt wurden und nur die situativen experimentellen Bedingungen in Rechnung stellten, d.h. keine anderen Variablen berücksichtigten. Je differenzierter die einzelne Person betrachtet wurde, umso mehr kamen klinische Ansichten zum Tragen. Aus dieser Spannung entwickelten sich dann verschiedene Forschungen und Anwendungen. Die experimentelle Sozialpsychologie, die im Labor betrieben wurde, beruhte auf der extremen Ansicht, jede Person stelle lediglich einen Punkt dar. Diese Ansicht hatte die Einführung extremer Experimentalbedingungen zur Folge, die angeblich alle Unterschiede zwischen Individuen auszugleichen vermochten. Aufgrund ihrer sensationellen Ergebnisse wurden diese Experimente sehr bekannt. Allerdings zeichnete sie auch eine gewisse Selbstgenügsamkeit aus; sie brachten schliej}lich nur weitere Experimente hervor. Das andere Extrem zeigte sich in vielen anderen Forschungsprojekten. Sie versuchten, die Interaktionen in Gruppen als Ausflup der Persönlichkeit ihrer Teilnehmer zu erklären. Diese Studien begannen vielversprechend, endeten jedoch oft mit Mij}erfolgen. Wie dem auch gewesen sein mag, sie eröffneten neue Wege für die Beobachtung von Gruppen und für den Einsatz von Gruppenexperimenten bei der Persönlichkeitsforschung. So kann man schon in den 218
Anfingen der Forschung zur Gruppendynamik Aufsehen erregende Erfolge und Schwierigkeiten feststellen, die gleichwohl den Zugang zu verschiedenen Wissenschaftszweigen bahnten. Anwendungen
Weitere Spannungen zeigten sich in der Frage der Anwendung. Ist Gruppendynamik eine in der Theorie verankerte Wissenschaft (die zur Anwendung geeignet ist) oder ist sie eine Art von Sozialarbeit? Anders ausgedrilckt: Wirkt Gruppendynamik auf Gruppen ein und benutzt sie Gruppen, um Individuen zu verlindern oder um Eintlu~ auf die gesamte Gesellschaft zu gewinnen? Diese Fragen konnten später zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen Perspektiven entweder bejaht oder verneint werden. Lewin konnte sich allerdings diese verschiedenen Tendenzen zu eigen machen, ohne sich in Widersprüche zu verwickeln. Dies erwies sich klar in der Geschichte des Sensitivity Trainings, welches als ganzer Zweig der angewandten Gruppendynamik entsprang. Das Sensitivity Training stellte die einßu~reicma oder.zumindest die auffiilligste Anwendung der Gr:uppendynMli~ ~~r~ _Darin drückten sich die verschied~~~t~~- l~t~~~n zur Anwendung und folglich auch die Interessen der finanziellen Förderer aus. Allgemeine Prinzipien dieser Art von Gruppendynamik wurden in dem Seminar für Gruppenkonflikt im Jahre 1946 entwickelt. Darautbin fand im folgenden Jahr 1947 in Sethel das erste Seminar statt, welches der ganzen Bewegung seinen Namen gab. Lewin starb während der Vorbereitungen, aber dieses erste Seminar spiegelt noch seinen unmittelbaren Eintlu~ wider. Das erklärte Ziel war, Gruppen als Gruppen, d.h. als soziale Einheiten, zu untersuchen. Als Ergebnis wollte man verschiedene Gruppen verstehen können und nicht die spe- 1 ziellen Probleme der Individuen in den Gruppen lösen. Dazu wurden als Seminarteilnehmer Vertreter verschiedener Berufszweige ausgewählt. Sie kamen aus der Industrie, der staatlichen Verwaltung, aus Verblinden, aus der sozialen Fürsorge und aus anderen einschlägigen Gebieten. Der Schwerpunkt der Diskussionen lag soweit wie möglich auf der Gruppe selbst mit dem Ergebnis, da~ aus den letzten Sitzungen geradezu eine religiöse Erfahrung wurde, eine persönliche Apotheose. Zum Ausgleich gab es Sitzungen zur Besprechung persönlicher Probleme, bei denen auch auf individuelle Eigenarten eingegangen wurde. Die Trennung dieser beiden Schwerpunkte, Gruppe und Individuum, herrschte auch in der Forschung vor. Eine ungeheure Menge von Daten wurde gesammelt, teilweise über Gruppenstruktur und -proze~ und teilweise in Form von intensiven Persönlichkeitsstudien. Eine erste Sammlung (Bradford & Benne, 1948) zeugte von dieser Spaltung. Einige Beiträge behandelten den allgemeinen Gruppenprozell und andere befaf}ten sich mit der Persönlichkeit der Gruppenführer.
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Bekanntlich führte im Verlauf der weiteren Entwicklung des Sensitivity Trainings (der T-Gruppen) diese Trennung zu zwei Strängen, einem Strang mit Training zur effektiven Gruppenarbeit, einem anderen zur Selbstrealisierung in Encounter-Gruppen. Seide Stränge konnten sich im allgemeinen aufLewin berufen; man kann jedoch nur M~J.lllJß.vnaen anstellen, welche Richtung er selbst eingeschlagen hätte (Back, 1972).
Die FUhrung des Zentrums flir Gruppendytunnik Die verschiedenen Richtungen, die Lewin in sich selbst vereinigte, fanden sich im Leben des Zentrums wieder. Das Bild zeugte von einem gesunden Durcheinander und war vielleicht selbst ein Beispiel von Gruppendynamik im wirklichen Leben. Jede Lehrkraft vertrat eine andere Richtung. angefangen von Festingers strenger Methodologie bis zu Lippitts Glaube an die Stärke der Gruppe; die anderen lagen dazwischen. Nach dem Tode Lewins kamen diese Unterschiede stärker zum Vorschein, bis sie zu einer gewissen Zersplitterung führten. Trotzdem verhielt sich das Zentrum als Einheit, als über den Weggang von MIT verhandelt wurde. Geschlossen übersiedelte es nach Michigan - ein seltener Fall in der Geschichte der Universitäten und ein Zeugnis von Lewins bleibendem Eintluft Die Übersiedlung war nötig geworden, weil die Leitung des MIT das Zentrum ohne Lewin nicht mehr attraktiv fand. Jedoch wurde seine Idee eines unabhängigen Zentrums für Gruppendynamik von'seinen Nachfolgern mit Erfolg verteidigt. Das Zentrum bat Lewin überlebt und ist noch heute tätig. Viele der theoretischen Ansätze Lewins sind in Zweifel gezogen worden (Graumann, dieser Band). Wie weit die Aufrechterhaltung dieser Ansätze von Lewins persönlichem Eintlu~ abhängig war, und wie weit deren Verblassen mit seinem frühen Tod zusammenhing. ist eine kaum mehr zu beantwortende Frage. Jedenfalls zeugt die Stellung Lewins gegenüber dem Zentrum von dem ungelösten Problem des Individuums gegenüber der Gruppe. Aber sicher war die erste Zeit am MIT sehr produktiv in Forschung und Leb~. Nach allgemeiner Einschätzung und persönlicher Erfahrung war die Situation einzigartig. Manche Kollegen suchen immer noch nach dem Schlüssel des Erfolges, den Lewin in so kurzer Zeit erzielt hatte (Patnoe, 1988). Viele Faktoren trugen dazu bei, wie z.B. die geschichtliche Situation und ihr Zusammenhang mit dem Zustand der Psychologie. Ohne Zweifel gab Lewins Führung dem Zentrum eine ganz besondere Atmosphäre. Dabei war sicherlich Lewins eigentümliche Mischung von Demokratie und Autokratie ein wichtiger Beitrag. Er wu~te im gro~n und ganzen, worauf er hinaus wollte, war jedoch neuen Ideen aller Art gegenüber offen und konnte selbst die scheinbar ausgefallensten Ideen seinen Zielen anpassen. Auf diese Weise konnte er die vielen Fäden, die das gesamte Zentrum durchliefen, zu einem gemeinsamen Band vereinigen und das Zentrum zu einer (yn_~iQnie~ rende Einheit gestalten.
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Wenn man auf die schöpferischen Jahre Lewins am MIT zurückblickt. wird einem das Gefühl'unkontrollierter Energie vermittelt, die in alle möglichen Richtungen ausstrahlt. Dies ist tatsächlich der Eindruck:, der mir in Erinnerung geblieben ist und den die Erinnerung in mir weckt. Ein typischer Beleg für diese ausstrahlende Energie sind die anseheiaend .mühelosen Übergänge zwischen den verschiedenen Bereichen des Zentrums. Forschung, Studium und Anwendung waren immer miteinander verbunden. Die Bemerkung eines Studenten konnte der Ursprung einer neuen lbeorie werden, aus einem Übungskurs konnte eine n~ue Forschungstechnik entstehen, ein Seminar stellte sich als ein Experiment heraus. Dies brachte allerdings auch Schwierigkeiten mit sich. Manchmal wujke man nicht, ob eine Rede wirklich so gemeint war oder ob sie einen Teil eines Experiments darstellte - was eine milde Paranoia nach sich zog. Oder es kam die Frage auf, ob nicht das gesamte Zentrum eine T-Gruppe war oder sein sollte. Vielleicht war das Zentrum mehr ein Beispiel einer besonders hervorgehobenen Gruppe, und die Beziehungen zwischen Arbeitsverhalten und persönlichem Verhalten, zwischen Individuum und Gruppe waren intellektuelle und alltägliche Probleme, die noch immer unJösbar scheinen.
Ein RUckblick Trotz allen Glanzes dieser Periode mufl man zugeben, dafl die Gruppendynamik ihr Versprechen, eine neue Kultur auszubilden, nicht erreicht hat. Es ist nicht einmal sicher, ob sie eine selbständige Wissenschaft geworden ist und ob die Feldtheorie eine gängige Theorie in der Psychologie darstellt. Die Mehrdeutigkelten des gesamten Gebietes sind noch nicht aufgelöst, und die verschiedenen Richtungen, die sich schon am MIT zeigten, sind nun stark ausgeprägt. Lewins Eintlufl als Leiter der "Quasselstrippe", als Entdecker neuer Prinzipien in den unwahrscheinlichsten Situationen, als Feuerkopf, zu tollkühnen Entwürfen für neue Untersuchungen fähig, war einmalig und wurde mit der Begründung der Gruppendynamik: zu einer historischen Tatsache. Eindrücke aus dieser Zeit sind von dauerndem Wert, besonders die unübersehbare Offenheit gegenüber neuen Problemen, ausgedrückt in dem Spruch: "Probieren wir es!" Nach einem solchen Ausspruch wurde sofort ausprobiert - durch Rollenspiel, in einem am nächsten Tag sogleich ausgeführten Experiment, mit gezeichneten Schemata und Theorien, die einem im ganzen Zentrum auf Schiefertafeln und improvisierten Plakaten entgegenka· men. Vielleicht verlor die Sozialpsychologie ihren Elan, als ethische Probleme und Fragen der sozialen Bedeutsamkelt sich zwischen Idee und Auswertung stellten - wie Festinger (1980) es behauptete. Die schwerfällige Organisation, die heute oft notwendig ist, erlaubt dem kreativen Auflenseiter wenig Spielraum. War es nun Lewins Persönlichkeit, die Situation am MIT oder der Zeitgeist: Wir können uns Lewin am MIT und die dortige Atmosphäre zum Vorbild nehmen und sollten häufiger einfach sagen: "Probieren wir es!"
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Lewin 1990 Carl Friedrich Graumann "Lewin 1990" hei~t, Kurt Lewin aus der Perspektive von heute zu würdigen. Zugleich soll die Art solcher Retrospektive reflektiert werden. Das Problem, das sich mir in den Jahren der Beschäftigung mit Lewins Lebenswerk aufdrängte, ist die folgende Diskrepanz: Einerseits wird Lewin hoch gepriesen und geehrt als einer der Gro~en, der einflu~reichsten Psychologen des Jahrhunderts (in eine Reihe gestellt mit Freud und Piaget, sogar mit Marx und Darwin, so von Stivers & Wheelan, 1986), zumindest aber als Be.~~~r d:~~-~J~!!~ mentellen Kleingruppenforsch_!~.& wenn nicht als "Pionier" der neueren ~opitJy~~..~al psycliölögie: lst die heutige Lewiii:Re:ieption, also.au~erhalb historischer {köö-:yiexte, eher bescheiden, wenn man die Frage stellt: Wo werden die Theorien und Konstrukte Lewins heute als noch aktuell angesehen und benutzt?
Andererseits
Das imaginiire Pantheon, Tradition und Rezeption Wiederholt begingen wir dieses Jahr die lOOjlihrige Wiederkehr von Ereignissen, die für die Gegenwart als bedeutsam gelten: 1890 -das Jahr, in dem Wilhelm 11. Bismarck entlie~, Deutsch-Ost (Afrika) deutsches Schutzgebiet und Helgoland gegen Sansibar getauscht wurde. Davon wurde in allen Medien berichtet, und es sind Bezüge zur Gegenwart hergestellt worden, auch wenn heute niemand den Kanzler entlassen, Inseln tauschen oder Kolonien erwerben kann. Das Feuilleton erinnerte im Jahre 1990 an die 100jlihrige Wiederkehr der Geburtstage von Franz Werfe!, Frank Thiess, Kasimir Edschmid und Agatha Christie und an die Todestage von Vincent van Gogh, cesar Franck und Heinrich Schliemann. Gedeokausstellungen. -aufführungen, Retrospektiven wurden inszeniert. Aber auch die verhiltnismä~ig kleine Gemeinschaft der Wissenschaftler unter den Psychologen hat 1990 gefeiert: vor allem deren anglophone Teilmenge die 100jlihrige Wiederkehr des Erscheinens von William James' Principks of Psychology, während sich die kleinere Gruppe der frankophonen Psychologen des Erscheinens der Gesetze der Imitation von Gabriet Tarde erinnerte, oder eben die gröfkre Gemeinde der Psychologen, die -
Überblicksreferat beim 37. Kongre~ der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Kiel 1990; erstmals gedruckt in Band 2 (S. 205-214) des Kongre~richts (Göttingen: Hogrefe). Wir danken Prof. Dr. Dieter Frey, dem Herausgeber des Kongre~berichts, für seine Zustimmung, den Text in diesem Band erneut wiederzugeben. Für die Zitations-und andere bibliographische Analysen ist der Autor Andrea Cersovslcy, Sibylle Grabowski und Jürgen Klüpfel zu Dank verpflichtet.
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Carl FrÜ!drich Grt11111UU11f
wie Anfang September in New Brunswick- eine dreitägige Lewin-Konferenz abhielt, oderwie Ende September in Kiel - die Deutsche Gesellschaft für Psychologie Lewin einen ganzen Tag widmete. Ähnlich haben wir - immer an runden Jahrestagen - Fechner und Wundt, Ebbinghaus und Wertheimer, Geburtsjahre oder Todesjahre, Erscheinungs- wie Gründungsjahre gefeiert und werden dies auch weiter tun. Die Fragen, die man sich angesichts dieser von Wissenschaftlern begangenen Rituale als Wissenschaftssoziologe oder auch als Sozialpsychologe stellen kann, sind vor allem zwei: (1) Wen feiern wir? (2) Warum feiern wir? Man könnte noch eine dritte sich aufdrängende Frage hinzufügen, doch sie ergibt sich eigentlich aus den beiden ersten und klingt auf'erdem noch ernüchternder, nämlich (3) Was tun wir zwischen den Feiertagen? Also was tun wir Psychologen in unserem Forschungsalltag mit Wundt und James, Ebbinghaus und Wertheimer? Meine Frage lautet tatsächlich: Was fangen wir mit Lewin an? Doch darüber später. Die erste Frage (Wen feiern wir?) stellt sich; denn in der über 100jährigen Geschichte unserer Wissenschaft gab es schliePiich lausende von Psychologen, von denen sehr viele zu ihren Lebzeiten "ausgewiesen" waren als Gelehrte, Forscher, Lehrer, von denen viele nur lokal erinnert werden, international aber unbekannt oder vergessen sind. Nach einem noch genauer zu bestimmenden Prinzip oder Standard der Selektion sind es nur wenige, die posthum in das imaginäre Pantheon der Psychologie erhoben werden. Man könnte sieb die Frage, wer aus der Masse von Wissenschaftlern herausgehoben und nach Walhalla versetzt wird, leicht machen mit einer "operationalen Definition": die, deren runde Geburtstage von der scientific community begangen werden. Aber ernsthaft kann man die erste Frage nur beantworten, wenn man die Antwort auf die zweite Frage kennt: Warum begehen wir solche Gedächtnisrituale? Was ist die Funktion dieser Gedächtnis- und Erinnerungs-Zeremonien und -Bände? Folgen wir der funktionalistischen Historiographie der letzten 20 bis 30 Jahre, die das, was wir Geschichtsschreibung nennen, als eine perspektivische Konstruktion aus oft rein präsentischen Interessen auffapt, dann dient auch die Versetzung ins Pantheon je gegenwärtigen Zwecken, vor allem identifizierender und legitimierender Art. Kurz gesagt, da oft genug dargestellt (vgl. Agassi, 1963; Graumann, 1983): Die Wissenschaftlergemeinde, deren "Federführer" ihre Historiker, Lehrbuchautoren und K.ongrepredner sind, erhebt diejenigen ihrer Verstorbenen ins imaginäre Pantheon, mit denen sie sich identifizieren bzw. die sie für ihre soziale, d.h. hier wissenschaftliche, Identität nutzen möchte. So entstehen sog. Wegbereiter, Pioniere und Gründerväter. So wird Wundt und nicht Dilthey zum "Vater" einer sich als experimentelle Wissenschaft verstehenden Allgemeinen Psychologie, wird ein Mensch namens TripJett und nicht LeBon oder Tarde der Wegbereiter der (sich als experimentell verstehenden) Sozialpsychologie, und so wird Kurt Lew in und nicht G. H. Mead der Begründer der neueren Sozialpsychologie.
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Die Anrufung dieser Väter, mit denen man über deren Söhne alias Schiller, Eilbischüler quasi genealogisch verbunden ist, dient - so meinen jedenfalls einige kritische Historiographen - letztlich der Legitimierung der eigenen Forschung, die durch die Berufung auf solche Viter, gern auch als "Klassiker" stilisiert, selbst an Reputation gewinnen m&hte. Man mu~ allerdings sorg~~am darauf achten und deutlich machen, womit genau man sich identifizieren möchte, sonst verkehrt sich die legitimierende Funktion leicht ins Gegenteil. Nur der Wundt der Physiologischen Psychologie ist für den Experimentalpsychologen "Vaterfigur", weder der der ViJ/kerpsychologie noch der Philosoph Wundt, der die Psychologie nie als Einzelwissenschaft aus der Philosophie entlassen wollte. Auch Lewin ist so ein sorgsamer Unterscheidung bedürftiger "Pionier". Das wird unmittelbar deutlich, wenn man sieht, welche unterschiedlichen und geradezu unverträglichen Richtungen sich aufihn (mehr oder minder zu Recht) berufen; als da sind die experimentellen Kleingruppenforscher und die Praktiker der ~~lb5t~!fah_t:'!~& und der ."~~i_c:>ns{9J.Sch.ung, z.T. auch noch unter dem gemeinsamen Namen "Gruppeo.
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Traditionen oder RezeptionsstrAnge geben sollte, liegt das dann daran, da~ Lewin der Psychologie so viele verschiedene Impulse gegeben hat, die alle weitergewirkt bitten? Oder ist es eher so, da~ das oeuvre Lewins aus unterschiedlichen prisentischen Interessen unterschiedlich interprellen und nur in diesem "interessienen• Sinne rezipien wurde? Was heipt überhaupt "Tradition• und "Rezeption"? Meinen wir die Weitergabe und Aufnahme von Wissen, Überzeugungen, Denkweisen und Gepflogenheiten, die bei allen Simplifikationen, Anreicherongen und Ve~?.errungen doch etwas Identisches beibehalten? Oder ist Tradition die retrospektive und retroabive Legitimation zeitgenössischen Handelns? Schlie~lich gibt es aber auch einen Rezeptionsbegriff, der sehr gegenwarts-, wenn nicht zukunftsbezogen ist: Rezeption als die aktive und aktuelle Auseinandersetzung mit Überliefenem, etwa im Sinne des Aneignungsbegriffs der "historischen Schule". Es Ist diese lebende Rezeption, für die es eigentlich unwichtig ist, ob der, mit dem man sich auseinandersetzt, selbst noch lebt, an der ich die Wirksamkeit Lewins 1990 bestimmen möchte. Kurz gesagt: Der "historische" Lewin hat seinen festen Platz im Pantheon der Psychologie, in den Geschichtsbüchern und den historischen Passagen von Lehrbüchern, und deshalb ist er auch : gut für runde Jahrestage und ihre Riten. Wie !~~-~~-e.~t. ~ ~it ~~DI: ~~~~~!B~n Lewin? --~
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Dk Lewin-Rezeption Im folgenden konzentrieren wir uns auf die Frage nach der gegenwinigen Lewin-Rezeption, also nicht die der SOer und 60er Jahre, die lediglich kontrastierend angesprochen werden mu~. sondern der 80er und, soweit absehbar, der 90er Jahre. Schwerpunktmi~ig wlihlte ich das Feld der Sozialpsychologie, nicht weil es mir besonders venraut ist, sondern weil hier schirfer als anderswo die Konturen auseinandenreten zwischen dem "historischen" und dem "aktuellen" Lewin. Sozialpsychologie ist schlie~Iich der Bereich, für den "The Lewin tradition" (Patnoe, 1988) und "The Lewin legacy" (Stivers & Wheelan, 1986) behauptet werden und führende Venreter die Auffassung venraten und venreten, da~ die heutige Sozialpsychologie nicht wlire, was sie ist, ohne den EinftujJ Lewins. Gerade weil dies nicht kontrovers zu sein scheint, sei die Frage gestellt, wie "Lewinisch" die gegenwinige Sozialpsychologie ist. Dazu gibt die einschligige Literatur zwei Antwonen: die explizite, die Lewins EinflujJ ausdrücklich ~!tr~iJ?t und beuneilt, und die implizite, die si"ch.ilili.H:ü"t'e von Zitadoiisiii<Jex~ÄD~ly~en und anderen quantitativen Methoden aus der Literatur gewinnen li~t. Dabei ergibt die implizite Antwon eine grö~re Eindeutigkeit als die explizite, die ambivalent bleibt, was einige Beispiele belegen mögen. (1) Für ein eher begrenztes Gebiet der Sozialpsychologie schreibt Hare (1985, S. 42): "Für diejenigen, die in der .~JlliPJM.lndyn8JDiSC~_!l_:_ Ir~~t!on ;arbeiten~ .iS.~ Lewins Werk immer noch eine bedeutende Quelle der Einsicht und Inspiration." (2) Für die Sozialpsychologie in den USA behauptet Schellenberg (1978, S. 6): "Die zeitgenössische Sozialpsycl}ologie in den USA ist durch Lewin und seine Schüler stirker beein226
ftujJt worden als durch irgendeine andere vergleichbare Gruppe." (3) Für die genannte amerikanische Psychologie urteilt Patnoe (1988, S. 2): "Einer der einftu!Jreichsten und kreativsten Denker in der amerikanischen Psychologie - Kurt Lewin.• (4) SchliejJiich behaupten, weit über Psychologie und Wissenschaft hinausgehend, die Herausgeber des "Lewin Legacy", Stivers & Wheelan (1986, S. 6): "Kurt Lewin hat das moderne Leben so nachhaltig beeinftu!Jt wie John Dewey, Marx, Darwin oder Freud." Weitere, wenn auch nicht so starke, aber ihnlieh positive Einschiazungen Lewins bzw. seines Werks lassen sich leicht auffinden. Aber ich formuliere bewu!Jt "bzw.", denn die uneingeschrllnlctesten Lobpreisungen, die man in der Uteratur findet und auch persönlich hören konnte, beziehen sich auf Lewins Persiinlichkeit und auf die •Atmosph/Jre• (ein Lewinseher Terminus), die er zu verbreiten verstand. Selbst seine Lewinianer haben sich hierauf konzentriert, wenn nicht beschrAnkt. Charakteristisch für diese Art der Wertschitzung zwei Beispiele: Al Pepitone (in Patnoe, 1988, S.88): "Der Einftu!J des Lewinschen Denkstils ist, glaube ich, sehr tiefgehend gewesen, aber er ist schwer zu definieren. Es ist eben ein Stil, und Stile haben kaum Prinzipien." Oder, wie es mit einem anderen Lewinsehen Ausdruck Patnoe (1988, S.5) als Resümee aus zwanzig Interviews mit Lewinianem formuliert: "Auch wenn die meisten Graduate Students über wenig direkten Kontakt mit Lewin selbst berichten, so hatte doch die inspirierende Atmosphäre, die er schuf, einen starken Eindruck auf sie gemacht. • Auch Festinger, als Schüler und Mitarbeiter Lewins oft befragt, verwies immer wieder auf Lewins Persönlichkeit und wissenschaftlichen Arbeitsstil (Festinger, 1980). Solche Aussagen spiegeln ein Lewinsches methodologisches Postulat wider: Um eine Person (ein Verhalten) zu verstehen, mujJ man die Gesamtsituation kennen. Erinnert man sich zudem, dajJ Kurt Lewin selbst die Gegenwart anderer, mit denen er reden konnte, für sein eigenes Denken suchte, dann zeigt sich, dajJ zumindest ein wesentlicher Teil dessen, was man "Einftu!J" oder "Rezeption" nennt, wohl sehr stark situativ und interalclionol war. Wenn das stimmt, dann versteht man auch besser, warum ein ganz wesentlicher Teil des Einftusses von Kurt Lewin so rasch nach seinem Tode nachliejJ. Es ist zwar so, dajJ wesentliche Teile der Lewinsehen Theorie und Forschung einer griisseren Fachöffentlichkeit erst MCh seinem Tode 1947 bekannt wurden, vor allem durch die beiden Anthologien von 1948 und 1951 (Lewin, 1948, 1951). Erst hierdurch erfuhr die seienlifte communily das Wesentliche über Feldlheorie, Topologische Psychologie, Gruppendytuunilc und über A/aionsforschung. Hinzu kam weithin sichtbare Sekundirliteratur, wie Cartwright (1959) und M. Deutsch (1968), die ihrerseits wieder eine bis heute nachweisbare Tertiirliteratur, vor allem in Gestalt von Lehrbüchern, nach sich zog. SchliejJiich sollte man für eine anhaltende positive Rezeption Lewins zwei wichtige Binde der 80er Jahre nennen, Dirnlieh Festingers Retrospections (Festinger, 1980), ein Buch, das von der MIT-Gruppe gestaltet wurde, und das schon genannte von Patnoe (1988), wiederum mit Überlebenden der MIT-Gruppe bzw. über sie geschrieben. Nun ist es richtig.
227
dal' beide Werke die "Lewin Tradition" darstellen und wertschätzen. Aber ein Leser, der in ihnen das von Lewin benutzte und weitergegebene theoretische, konzeptuelle und methodologische Rüstzeug sucht, der sucht vergebens. Stattdessen findet er, teils unter dem Titel "Lewin-Tradition" ein Forschungsprogramm wieder, das vielleicht eher noch durch die Namen Festinger, Scbacbter und Kelley als durch Lewin markien werden kann. Aber "Lewin" zu sagen und "Festinger" zu meinen, wird beiden nicht gerecht. Was aber ist aus Lewin geworden, dem Protagonisten der Feldtheorie, der Topo/ogischen Psychologie, was aus der gali/eischen Denkweise? Auch hierzu vorweg einige explizite Stellungnahmen der letzten Dekade: (1) In der Einführung zu Band I der KLW kommentien dessen Herausgeber A. Metraux (1984, s. 19f): "•.. wenn in der einschlägigen Uteratur von der bistorisehen Bedeutung Lewins so oft die Rede ist, gereicht es ibm ohne Zweifel zur Ehre. Doch wenn jene, die ihm diese Bedeutung zuschreiben, eben die Tatsachen ignorieren, dank derer er zum Bahnbrecher wurde, minden dies seine Rolle in der modernen Psychologie zwar nicht, sondern einzig und allein die Verehrung selbst, mit der seine Nachfolger ihre eigenen Lücken zu verdecken suchen." (2) In der Zusammenfassung seiner Retrospektive auf die MIT-Tradition meinte Festinger (1980, S. 24) in bezugauf Lewinsehe Begriffe:" ... seit mindestens zwei Jahrzehnten ist die sozialpsychologische Uteratur faktisch frei vfn Hinweisen auf die Lewinsehen Begriffe und Termini." Das bezieht sich also auf die 60er und 70er Jahre, und tatsächlich hatte schon M. Deutsch seine 65seitige Darstellung der Feldtheorie mit dem kritischen Hinweis beschlossen, dafl man nicht sagen könne, die Feldtheorie hätte noch "much current vitality". Noch könne man behaupten, daP die für Lewin spezifischen theoretischen Konstrukte, seine strukturellen und dynamischen Konzepte für die gegenwärtige sozialpsychologische FÖrschuÖg von.Bedeutung-;ieß-(i>t;u~b. 1968, s~ 478). · ...___ _ Wir haben, durch derartige skeptische Kommentare von Lewln-Schülern angeregt, uns deshalb genauer angeschaut, was von den ß.egriffen, die Lewin wichtig waren und die seinen Ansatz charakterisieren, noch lebc;~ig ist (;.j~ nicht nur intiistorischen Textsorten ~orkommt). Hierzu ein paar Daten: Nach 1973 existierenden Social Science Citation Index (Abb. 1 auf der folgenden Seite) halten sieb Lewln-Zitationen auf einem relativ gleichbleibenden, niedrigen Niveau. Dafl die Gesamtreferenzen auf Lewin mit ca. 150-200 pro Jahr einen niedrigen Wert darstellen, der eher abnimmt, macht der in Abb. 2d (aufS. 231) wiedergegebene Anstieg der in den Psychological Abstracts erfapaen Publikationen deutlich, die heute etwa das Zehnfache der Zeit vor vierzig Jahren betragen.
dem seii
228
Sozialpsychologische Zeitschriften
Insgesamt
~ r-------------------------------------~~0
insgesamt
20
200
15
150
10
100
5
50
1974
1976
1978
1980
1982
1984
1986
1988
1990
Abb. 1: Lewin-Zitate 1973-1989 (aus Social Science Otation Index) Perlman (1984) hat zwischen 1977 und 1981 sieben sozialpsychologische Lehrbücher und die Advances ausgewertet, um die SO berühmtesten Sozialpsychologen zu ennitteln. In der (von Elaine Hatfield/Walster, H.H. Kelley, L. Festinger und Ellen Berscheid angeführten) Liste findet sich auch Lew in auf Platz 36. Optimismus ist auch hier nicht angesagt: Gerade Lehrbücher bringen gerne historische Einleitungen. Darin muj3, sollen sie etwas taugen, Lewin vorkommen. So viel über die Zitationshäufigkeit von Kurt Lewin selbst. Wie sieht es mit seinen Theorien aus? Wir haben für Jahrfünfte ab 1935 die Häufigkeit der Referenzen nach dem Sachwortregister der Psychological Abstracts berechnet für "Feldtheorie", "Topologische Psychologie" und für "Aktionsforschung" (Abb. 2a auf der folgenden Seite). Die Kurve für "Feldtheorie" scheint gut interpretierbar mit dem Gipfel in den frühen sechziger Jahren; aber auch hier darf man nicht verkennen, daj3 es sich nur um 14 Titel in fünf Jahren handelt. Die Lebenskurve des Sachworts "Topologische Psychologie" ist schwach ausgeprigt; sie verschwindet in den frühen Sechzigern, als die Feldtheorie ihren Höhepunkt erreichte. Die seit 1950 registrierte Aktionsforschung wirkt etwas stärker und langlebiger als die Topologie.
229
Ct1rl Fri«Jrich Grt1umt11111
16--------------------------------------~ 14
•
Field Theory
12
•
Action Research
•
Topology
10
8 6 4
2 o~~---L--~--~~~~~~--~~~~--~
bis 34 35/9 40/4 45!9 50/4 5519
~0/4
65/9 70/4 75/9 80/4 85/9
Abb. 2a: Häufigkeit der Referenz auf die Lewinsehen Begriffe "Feldtheorie", "Topologie", "Alctionsforschung"
80
60
40
20
o~~--~--~--~--._~---L--~--~~--~
bis 34 35/9 40/4 4519 50/4 55/9 60/4 65/9 70/4 75/9 80/4 85/9
Abb. 2b: Häufigkeit ~r Referenz auf den Lewinsehen Begriff"Anspruchsniveau" 230
Lewilel990
722
7
32
26
45-49 50-54 55-59 60-64 65-69 70-74 75-79 Abb. 2c: Häufigkeit der Referenz auf den Lewinsehen Begriff "Gruppendynamik"
41.583
1945 1950
1955 1960
1965
1970 1975
1980 1985
Abb. 2d: Von den Psychological Abstracts insgesamt aufgenommene Titel
231
1989
C"" Fri«lridd Grt111111t11t11
Aber mit zwei Nennungen im letzten Jahrfünft erscheint auch sie als eine qllllntit4 negligeabk. Da wir uns der Problematik von Zitationsanalysen und Schlagwortstatistiken bewufJt sind, biete ich diese Kurven nur als Bestätigung dessen, was Experten explizit gesagt haben (vgl. hierzu auch Metzger (1975], Sader (1975] oder Heckhausen (1989, S. 33D. Auf der Suche nach dem lebendigen Lewin sind wir allerdings an einigen Stellen auch filndig geworden, wenngleich in sehr unterschiedlicher Weise. Hierfür nur zwei Beispiele. Da ist einmal unter den Lewinsehen Konstrukten und den von ihm eröffneten Forschungsfeldern eines von beachtlicher Kontinuität, das ~~~f~~~~~i~ea~ (AN) (Abb. 2b aufS. 230). Ab 1934 ist es auf der Forschungsagenda geblieben, und zwar im Sinne von Hoppes Dissertation (Hoppe, 1931). Auch hier darf man die vermit~~!nde und multipliziere!14e .Rolle. vonLeon F.estinger nicht übersehen, dessen eigene erste Publikationen (Anfang der vierziger Jahre) über das AN gingen. Während man hier eine echte Lewinsehe Forschungstradition feststellen kann, läfJt sich das gleiche nicht sagen in bezugauf ein anderes "Lewinianum", das man zumindest gerne mit Lewin assoziiert: die Gruppendynamüc (Abb. 2c aufS. 231). Von seinen ersten Erwähnungen 1945 hielt sich dieses Thema bis in die Sechziger, als es plötzlich explodierte • wohl aufgrund einer Herausgeber-Entscheidung, in den Abstraels künftig alle Kleingruppenforschung unter diesem Mantelstichwort zu subsumieren, ohne dafJ sie noch Bezug zu Lewin hatte. Anzumerken bleibt, dafJ die Referenzen auf die Lewin-Specifika (Gruppenat-
'!l~P~!C~~ima, Führun~til) sich schwerpunktmäfJig w~erl~~~.!!~~- von der.~i;t'ij;Sy ctiologie zur Pädagogischen Uiia'Kiinisclle.n Psychologie, zur Pädagogik und Psychothera....., . ....... . pie. ScbliefJiich - und dies ist ein wiederum anders gelagerter Fall - fanden wir eine unübersehbare Lewinsehe Spur im späteren Werk von Heinz Heckhausen. Es handelt sich um die Lewin-Ach-Kontroverse, die anläfJiich des in der KLW wiedererscheinenden Aufsatzes ~~l. Wille 1md BediJr/nu v.on 1926 reaktualisiert und im Zusammenhang mit Heckhausens Wiederbelebung der Willenspsychologie fortgesetzt wurde. Heckhausen sieht, verkürzt gesagt, neben dem Verdienst Lewins, die Intentionen als Quasi-Bedürfnisse handlungsmotivational bestimmt zu haben, auch einen schwerwiegenden, weil folgeträchtigen Nachteil: Durch die Zuordnung zum Motivationssystem habe Lewin die ursprüngliche Achsehe Unterscheidung vom Wollen und Motivation (Ach, 1910) nivelliert. Diese Nivellierung habe die Entwicklung einer Willenspsychologie behindert. Wer heute Willenspsychologie betreibe, müsse hinter 1926 zurückgehen (Heckbausen, 1987). (Allerdings bat Lewin, worauf mich Gollwitzer dankenswerterweise aufmerksam machte, die ihm angelastete Hoqaegenisierung von Motivation und Volition in seiner Arbeit von 1944 (Lewin et al., 1944] wieder differenziert.) Ohne in dieser Kontroverse der späten 80er Jahre Partei zu er greifen, sollte man erkennen können, dafJ ein noch so kritisierter Lewin beute ein präsenter und nicht nur historischer Lewin ist. -----~
~
232
Der galileische Ansatz Man kann die Frage nach der Prisenz Lewins auch so formulieren: Was ist 1990 aus dem Übergang von der aristotelischen zur galileischen Denkweise geworden? Aus einer Denkweise, die Lewin selbst in der Psychologie zu realisieren suchte, und für die er 1931 erste Anzeichen entdeckte? Ist inzwischen dieser Übergang vollzogen? Sind wir noch darin? Oder haben wir ihn noch vor uns, falls wir ihn nach 60 Jahren Oberhaupt noch wollen? Alle drei Auffassungen werden interessanterweise vertreten. 1969 sagt Sehendei "das galileische Zeitalter in der Psychologie" voraus, wenn auch nur in einem begrenzten Bereich. 1981 bezweifelt A. Metraux im ersten Band der KLW, dap die aristotelische Denkweise der Vergangenheit angehöre, und soeben hat Wicklund Beispiele für typisch aristotelische Denkweisen in der Differentiellen und Sozialpsychologie gegeben. Auf der anderen Seite hat N. Bischof 1980 die Auffassung vertreten, dap das galileische Forschungsprogramm in den letzten Jahrzehnten geradezu einen Triumphzug angetreten, alle anderen Ideen niedergewalzt und die besten Köpfe der Psychologie erobert habe (Bischof, 1981, S. 21). Wie läpt sich dieser eklatante Widerspruch erklären? Die zeitgenössische Psychologie: hier noch weitgehend aristotelisch, hier im Überinap galileisch? War Lewin so undeutlich oder ist es die zeitgenössische Psychologie? Oder liegen Beurteilungsfehler vor? Auf einen Urteilsbias Bischofs mup ich aufmerksam machen. ~ilr ihn ist galileisch wesentlich das, ~~~in. die Homogenisierung genannt hat, die Konzeption einer einllei~-:. ~~~henWelt wie die der. Ph.ysik, indeiefn Geseti.die Bahnen der Sterne, den Fall der Steine und den Flug der Vögel erklärt. TatsAchlich erhoffte sich Lewin eine solche Vereinheitlichung der Psychologie (wie der Sozialwissenschaften), wobei er so untetschiedliche Ansätze im Auge hatte wie die Gestalttheorie, die Psychoanalyse und, wenigstens prinzipiell, den Behaviorismus (an dem ihn allerdings das Vertrauen auf die statistisch gesicherte Regelmäpigkeit störte, für ihn ein aristotelisches Relikt). Nun kannte 1980 Bischof Skinner, der von Lewin 1930 noch nicht in Betracht gezogen werden konnte. Skinner war in der Tat der prototypische Homogenisierer, der im Grunde mit einem Prinzip und ohne Statistik menschliches und tierisches Verhalten zu erklären suchte. Wenn aber nun Skinner der typische Vertreter einer galileischen Denkweise war, was ist dann mit Kurt Lewin gewesen? Ich denke, man kann so nicht fragen, weil man so auch nicht argumentieren darf; denn die galileische Denkweise erschöpft sich nicht im Homogenisieren. Geht man denn zu weit, wenn man die Feldtheorie als Lewins eigene Realisation der galileischen Denkweise ansieht? Gewip ist sie durch Homogenität charakterisierbar. Aber nicht minder wichtig ist das Feld, in dem Kräfte wirken, Spann~ngen herrschen, und wo vor allem das Prinzip der Interdependenz herrscht. Das psychologische Ereignis, ob intra- oder interpersonal, wird als Resultante der Wec~lwirltung gleichzeitiger Faktoren einer konkreten Situation verstanden. Nimmt man diese methodologische Berücksichtigung
-
233
der sog. "Gesamtsituation• (cum grano salis) als Realisation oder auch nur Approximation des galileischen Ansatzes, dann waren sicher die Behavioristen, von Totman abgesehen,
keine "Galileer•. Aber nun haben wir ja die "kognitive Wende" gehabt und ziehen es vor, in terminis der computational metaphor, das Mentale als. Informationsverarbeitung zu denken. Ist die Konzentration auf hypothetische Strukturen und Prozesse innerhalb eines lnformationsverarbeitung.uystems, in dem die Gesamtsituation höchstens als ihre Repräsentation zur Geltung kommt, nicht wieder aristotelisch im Sinne Lewins, trotzder auch hier unverkennbaren Homogenisierung? Zumindest fehlt das völlig, was Lewin mit seinem Feldansatz zu fassen suchte, doch nie völlig zu integrieren vermochte und erst spät in seinem (in Konkurrenz mit Brunswik entwickelten) ö~o~!C~atz..l!l!f den Weg brachte, aber nicht mehr zu Ende führen konnte: die Berücksichtigung der als Randbedingungen konzipierten Umweltkräfte, die auf den Lebensraum einwirken, ohne notwendig von der Person repräsentiert werden - ~~d··.;~~--.;üjit~·kÖ;seqÜente.iWeise, geradezu "Lewin" mit "Skinner" ergänzend, die Wirkungen der Person auf ihre Umwelt, deren sie sich nicht bewu~t zu sein braucht, hinzunehmen. Erst das erglibe den konsequent zu Ende gedachten galileischen Ansatz, zu dem Lewin auf dem Weg war und die heutige Psychologie immer noch unterwegs ist. Kurt Lewin starb zu friih, um die sich selbst gestellte Aufgabe zu vollenden. Nur wenn man das sog. Lewin-Vermächtnisals durch Lewins Tod unterbrochene Tätigkeit und als unerledigte Aufgabe versteht, kann man ihrer Dynamik teilhaftig werden und versuchen, die noch vorhandenen "aristotelischen" Begrenzungen der Psychologie zu überwinden (Graumann, 1986). Das würde Lewin selbst seinen historischen Platz im Pantheon belassen, ihn aber für die aktuelle wissenschaftliche Tätigkeit lebendig erhalten.
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' 236·
Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. Mitchell G. Ash University of lowa, Department of History lowa City, lowa 52242, USA Prof. Dr. Kurt W. Back Duke University, Department of Sociology Durham, NC 27706, USA Dr. Horst-Peter Brauns Institut für Psychologie der Freien Universität Berlin Habelschwerdter Allee 45 W-1000 Berlin 33, Deutschland Dr. Oksana Bulgakowa Lebuser Str. 13 0-1017 Berlin, Deutschland Prof. Dr. Met van Eheren Faculteit der Sociale Wetenschappen S-146 Katholieke Universiteit Brabant Postbus 90153 NL-5000 LE Tilburg, Niederlande Prof. Dr. Cari-Friedrich Graumann Psychologisches Institut Universität Heidelberg Hauptstr. 47-51 W-6900 Heidelberg, Deutschland Prof. Dr. Alfred Lang Psychologisches Institut der Universität Bern Laupenstr. 49 CH-3008 Bern, Schweiz
237
Dipl. Psych. Uwe Unke Landjlger Str. 4 0-1170 Berlin, Deutschland Prof. Dr. Helmut E. Lück Arbeitsbereich Psychologie, Schwerpunkt: Psychologie sozialer Prozesse Fernuniversität Postfach 940 W-5800 Hagen, Deutschland Dr. Alexandre Metraux Heidelberger Str.62 W-6915 Dossenheim, Deutschland Prof. Dr. Wolfgang Schönpflug Institut für Psychologie der Freien Universität Berlin Habelschwerdter Allee 45 W-1000 Berlin 33, Deutschland Dr. Helga Sprung Institut für Philosophie Bereich Wissenschaftsphilosophie Otto-Nuschke-Str. 10-11 0-1086 Berlin, Deutschland Prof. Dr. Lotbar Sprung Interdisziplinäres Institut für Wissenschaftsphilosophie und Humanontogenetik Humboldt-Universität Berlin Am Kupfergraben 5 0-1086 Berlin, Deutschland Prof. Dr. Eberhard Ulich Institut für Arbeitspsychologie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich Nelienstr. 11 CH-8092 Zürich, Schweiz
238
Personenregister ~dudden,15,23
Adler, 173 Agassi,224 Allport, 136, 137, 194, 195 Anders, 174 Argyris, 124 Ash,19,187,195,213,214
Brentano, 87 Breuer, 188 Broofenbrenner, 77 Brown, lOS Brunswik, 60, 73, 234 Buckmiller, 127 Bulgakowa, 17,23 Bunge,81 Burawoy, 143 Burlcs, 195
Back, 17, 19, 20, 23, 46, 48, 51, 120, 134, 154,185,187,205,218,220,225 Bal87S, 164
Campbell, 72, 73 Carpenter, 165 Cartwright, 19, 199, 200, 215, 225-227
Abt,2S Ach, 22, 58, 232 Adams, 46, 65, 180, 182
Cassire~l5,22,35,39,40,70,77,79,177
Baldwin, 197 Barker, 196,202,203 Bartlett, SS Baumrind, 141 Bavelas, 19, 121, 122, 132, 133, 137, 138, 205 Belenson, 167 Benne, 142,219 Bennis, 142 ""Bernstein, 140, 165 Berscheid, 229 Bierbrauer, 15 Birenbaum, 71, 77, 88, 93, 97, 98, 107, 150, 156 Bischof, 233 Bismarclc, 223 · Bock, 149 Bode,165,166 Borg, 73 Boring, 184, 194 Bradford, 219 Brauns, 16-18,22,23,87,106,154 Brecht, 183
239
Chaselon, 73 Chin, 142 Christie, 223 aausewitz, 88 aever, 185 Coch, 134, 138 Cohen, 136 Cohn, 177 Coser, 195 Dachter, 140 Dalcroze, 165, 166 Danziger, 24, 200 Darwio, 223, 227 Delsartes, 166 Dembo, 71, 77, 88, 93,99-101, 103-105, 107,150,155,156,196,198,199,~
203 Descartes, 35 Dessoir,21 Deutsch. 19,227,228
Gilmore, 198 Gogh, v., 223 Gollwitzer, 232 Gorz, 116 Gottschaldt, 149, 157 Grab, 174, 178 Graebner, 135-137, 140, 141,205 Graumann, 15, 26, 60, 70, 89, 128, 162. 204,220,224,234 Greif, 124 Gutjahr, 73
~ey, 136,184,227 Dictson, 139 Dilthey, 212. 224 Dogan, 212 Driesch, 32 Düker, 22
Ebbinghaus, 224 Eckardt, 127, 142 Edelstein, 140 Edschmid, 223 Ehrenfels, v ., 40, 79 Eisenstein, 17, 23, 161-169 Eitington, 182, 183 Elbogen, 175 Elk:ana, 37 Elteren, v., 17, 19, 79, 120, 128, 141, 185,204,205 Emery, 120 Erdmann, 15, 32. 33
Haberlandt, 32 Hacker, 77, 129 Haller,49 Hare,226 Hatfield, 229 Heck:hausen, 232 Heenen-Wolff, 173 Heidebrink:, 69 Heider, 15, 22, 23, 32. 46, 181 Heigi-Evers, 25 Heiliger, 200 Heim, 142 Helle, 49 Henle, 179, 194 Hennig, 73 Hiebsch,127, 142,143 Hillel, 188 Hindenburg, 180 Hirschfeld, 162 Hitler, 29, 176, 179, 180 Hoppe,101,102,105,107,232 Hombostel, v., 151 Hull, 206 Husserl, 35
F~ans,98,99, 102,150,200 Fechner, 224 Festinger, 19, 215, 220, 221, 225, 227-229, 232 Feuch~ange~ 185 Forer, 106, 150 Fölsing, 154 Franck:, 179, 223 Frank:, 194, 195, 196, 199, 204 Freeman,87 French, 19,121,122,133,134,138,215 Freud, 13, 14, 18, 87, 88, 162, 173, 182. 183,223,227 Freund, 98 Friedmann, 123
\
Israel, 141
Galilei, 202 Geertz, 193
240
laeger, 179 lahnke, 181, 182 lames,166,223,224 Jank, 149 l~bews~j,154,179
lohn, 127·129, 135, 142, 183, 185 Iones, 13, 18, 182 Jucknat, 102, 150, 155 Kallen,213 Kamins~. 77 Kanabich, 164 Kant, 35,49 Karsten, 77, 93, 97-99, 101, 107, 150, 154, 156, 198 Katz, 185 Keister, 200 Kelley,19,215,228,229 Kempe, 150 Klages, 165, 166 Kleiner, 176 l(offka, 78,87, 151,164,194,195,214 l(orsch, H., 185 l(orscb, K., 114, 127, 128, 154, 155, 185, 186 l(öhler, 17, 18, 22·24, 35, 76, 87, 88, 151, 152. 156, 161-163, 179, 181, 182, 185, 194,195,213,214 l{riz, 69 Kuleschow, 165 l(ülpe, 18, 33 Landsberg, 178 Lang, 16,32,36,46,47,48,53,60,212 Lange,156 Laurikainen, 43 Lavoisier, 59 leBon,224 Lewicki, 215 lewin, E., 186
241
Lewin, F., 178 Lewin, G. 87,184 Lewin, L., 175,176 Lewin, Maria, 184 Lewin, Miriam, 135, 137, 140, 141, 176, 181,184,185,205 Leyda, 162 Uenen, 73 Unke, 16, 70 Upmann,129,130 Lippitt, 19, 133, 137, 197, 199-202, 205,215,218,220 Upps, 165 Ussner, 103, 104, 150 Littler, 143 Lotze, 165 Luria, 155, 162-164, 167, 168, 179 Lück, 13, 18, 69, 72. 75, 79, 120, 162. 168,179,182,183,185,196,202 Macey,204 Mach, 49 Magnes, 182·184 Mahler, 103, 104, 150 Maier, 195 Mandler, G., 195 Mandler, J.M., 195 Mann, 185 Marr,167 Marrow, 15, 17, 21, 65, 75, 113, 121·123, 128, 132-134, 137-139, 150, 154, 155, 168,176,184-188,200,205,213 Marx, 223, 227 Mayo, 139 McDougall, 184 Mead,224 Meili, 151 Menon, 30 Metzger, 15, 81, 151, 152, 232
Rickert, 15 Riebt, 15, 35, 88, 177 Robert, 171 Roethlisberger, 139 Roosevelt, 184 Rose, M., 127, 134, 135, 139 Rose, N., 136 Rosenbach, 184 Rosenbaum, 183 Rosenthal, 79, 81 Rubens, 32 Rudinger, 73 Rupp, 16,89,118-120,130,151,177
Meyer, 149 Meyerhold, 164, 168 Metraux, 16, 17, 40, 46, 49, 113, 180, 212,228,233 Miller, 135 Montagu, 162 Morgenthau, 184 Müller, 22, 73 Münsterberg, 164 Murchison, 106, 194 Murphy, 0., 195 Murphy, L, 195 Newton, 37
Sader, 232 Salzmann, 157 Samelson, 194 Schachter, 19,215, 225, 228 Scheidt, v., 13 Schellenberg, 226 Schendel, 233 Scherer, 75 Schliemann, 223 Schmidt, 77 Schönpftug, 77,204 Schöpf, 87 Schwarz, 73, 105, 106 Sears, 213 Seashore, 198 Setz, 33 Seton, 162 Shakow,87 Shils,212,215,216 Simmel, 49, 57 Skeels, 197 Skinner, 233, 234 Sliosberg, 88, 103, 104, 150 Smirnow, 179 Sokal, 194
Ogden,18, 194,196 O'Leary, 135 Overstreet, 135 Ovsiankina, 93, 95, 97, 98, 107, 150, 156 Pahre, 212 Parker, 14~ Pasteur, 31 Patnoe, 15, 199, 200, 220, 225-227 Pawlow, 165 Peirce, 53 Pepitone, 19, 25, 227 Perlman, 229 Petzold, 73 Piaget, 199, 223 Preu~. 178 Putzerath, H., 176 Putzerath, S., 176
I
Radke, 215 Rathenau, 178 Rechtien, 18, 75, 162, 182, 183, 196, 202 Reichenbach, 35 Remarque, 21
242
Wagner, 157 Waldeyer, 177 Walster, 229 Warner, 140 Watson, 18 Weiss-Lewin, 176, 181, 184, 187 Weizsäcker, v., 53 Wellman, 197 Werfe!, 223 Wertheimer, 23, 76, 87, 151, 152, 173, 180,195,213,214,224 Wertsch,53 Wheelan, 25, 223, 226, 227 Whewell, 36, 37 White, 133, 176, 200-202 Wicklund, 233 Wiener, 177 Wilhelm II, 223 Willig, 180 Wilpert, 140 Witte, 113 Wullstein-Leissner, 173 Wundt,30,37,224,225 Wygotskij, 53, 155, 167, 179
Spellman, 194, 195 Spence.24,213 Spock, 135 Springer, 16, 32 Sprung, H., 17, 69, 70, 72, 73, 79, 151, 199 Sprung, L., 16, 69, 70, 73, 79, 150, 151, 181 Stadler, 49 Stanley, 72, 73 Stern, 173, 174, 179, 183 Stivers, 25, 223, 226, 227 Stoddard, 196-198, 206 Stonequist, 212 Strobelt, 153 Stumpf, 15, 22, 23, 32, 33, 36, 46, 87-89, 151, 177 Sydow, 73 Tannenbaum, 134 Tarde, 223, 224 Terman, 184, 194 Thibaut, 19 Thiess, 223 Thorndike, 184 Thorsrud, 120 Tolman, 14, 124, 206, 234 Traxel, 78 Tretjakow, 164 Triplett, 224 Troeltsch, 32
Zeigarnik, 88, 93, 95, 98, 107, 108, 150-152, 154-156,162,163,179,203 Zimmermann, 73
Ulich, 17, 129, 142 Updegraff, 200 Voigt, 89, 105, 106 Volkov, 13 Vorwerg, 143 Voynov, 162
243
BEITRAGE. ZUR GESCHICHTE DER PSYCHOLOGIE Herausgegeben von Helmut E. LOck Band
Waher Stalmeister/Helmut E. LOck (Hrsg.): WiHy Hellpach. Beiträge zu Werk und Bio· graphle. 1991. ·
Band 2
Moni
Band 3
Werner Deutsch (Hrsg.): Ober die verborgene Aktualität von WiUiam Stem. 1991.
Band 4
Lothat Sprung/Wolfgang Sch6npflug (Hrsg.): Zur Geschichte der Psychologie in Berlin. 1992.
Band 5
Wolfgang Sch6npftug (Hrsg.): Kurt Lewin. Person, Werk, Umfeld. Historische RekonstrUktionen und aktuelle Wertungen aus Anlaß seines hundertsten Geburtstags. 1992.
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