Katrin Ulrike Zaborowski · Michael Meier Georg Breidenstein Leistungsbewertung und Unterricht
Studien zur Schul- und ...
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Katrin Ulrike Zaborowski · Michael Meier Georg Breidenstein Leistungsbewertung und Unterricht
Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 32 Herausgegeben vom Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Katrin Ulrike Zaborowski Michael Meier Georg Breidenstein
Leistungsbewertung und Unterricht Ethnographische Studien zur Bewertungspraxis in Gymnasium und Sekundarschule
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Kapitel 2 „Die Praktiken des Schulerfolgs“, vorgelegt von Michael Meier, wurde von der Philosophischen Fakultät III der Martin-Luther-Universität als Dissertation angenommen (2010). Kapitel 3 „An den Grenzen des Leistungsprinzips“, vorgelegt von Katrin U. Zaborowski, wurde von der Philosophischen Fakultät III der Martin-Luther-Universität als Dissertation angenommen (2009). Das Forschungsprojekt „Leistungsbewertung in der Schulklasse“ wurde durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) unterstützt.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16808-1
Inhalt
Prolog: Schüler äußern sich zur Bedeutung von Noten (Theresa Bernhard/ Georg Breidenstein) .................................................... 9 1
Das Projekt Leistungsbewertung in der Schulklasse (Georg Breidenstein/ Michael Meier/ Katrin U. Zaborowski) ................... 15 1.1 Einleitung ........................................................................................... 15 1.2 Stand der Forschung zu Leistungsbewertung im Unterricht .............. 17 1.2.1 „Funktionen“ schulischer Leistungsbewertung und empirische Befunde .................................................................. 17 1.2.2 Alles unter dem „Stern der Selektion“? .................................... 21 1.2.3 Studien zum alltäglichen Vollzug schulischer Leistungsbewertung .................................................................. 23 1.3 Theorie Sozialer Praktiken ................................................................. 26 1.4 Über das methodische Vorgehen........................................................ 28 1.5 Aufbau des Buches............................................................................. 36
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Die Praktiken des Schulerfolgs (Michael Meier) ......................................................................................... 39 2.1 Einleitung ........................................................................................... 39 2.2 Über das Verhalten des erfolgreichen Schülers.................................. 43 2.2.1 Diszipliniertes und kooperatives Verhalten .............................. 46 2.2.2 Einander helfen ......................................................................... 52 2.2.3 Regeln anmahnen und außer Kraft setzen ................................ 56 2.2.4 Zusammenfassung .................................................................... 59 2.3 Die Herstellung von Unterrichtsorientierung ..................................... 60 2.3.1 Stundeneröffnungen.................................................................. 60 2.3.2 Arbeitsanweisungen.................................................................. 64 2.3.3 Nutzung der Unterrichtszeit...................................................... 68 2.3.4 Prüfungsankündigungen und Prüfungsvorbereitungen ............. 71 2.3.5 Zusammenfassung .................................................................... 75
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Inhalt
2.4 Schülerleistungen bewerten und benoten ........................................... 76 2.4.1 Die alltägliche Leistungsbewertung ......................................... 76 2.4.2 Die Hervorbringung sehr guter Schüler .................................... 84 2.4.3 Die Legitimierung der Note .................................................... 103 2.4.4 Kulanz-Praktiken .................................................................... 113 2.4.5 Die Aufrechterhaltung des Images vom guten Schüler .......... 122 2.4.6 Zusammenfassung .................................................................. 125 2.5 Beobachtungen im Längsschnitt ...................................................... 127 2.5.1 Rückgaben und Zeugnisausgabe fünfte Klasse....................... 130 2.5.2 Rückgaben und Zeugnisausgabe siebte Klasse ....................... 141 2.5.3 Die Privatisierung der Leistung .............................................. 153 2.6 Guter Unterricht? – Ein Resümee .................................................... 159 3
An den Grenzen des Leistungsprinzips (Katrin U. Zaborowski) ............................................................................ 163 3.1 Einleitung ......................................................................................... 163 3.1.1 Fragestellung .......................................................................... 163 3.1.2 Die Sekundarschule in Sachsen-Anhalt .................................. 165 3.1.3 Feld und Feldzugang .............................................................. 170 3.1.4 Die Rolle der Ethnographin im Feld ....................................... 173 3.1.5 Zum Aufbau der Sekundarschulstudie.................................... 174 3.2 Zwischen Wohlverhalten und Leistungsethik. Bedingungen des Lernens und Lehrens an der Sekundarschule ................................... 174 3.2.1 Versuche der Konstitution von Leistungsorientierung – Applaus für gute Noten........................................................... 177 3.2.2 Zum Umgang mit Verhaltensnoten im Unterricht .................. 188 3.2.3 Disziplinierung, Materialität und Hausaufgabenheft .............. 194 3.2.4 Die Pflichten der Sekundarschüler ......................................... 209 3.2.5 Zwischenfazit ......................................................................... 212 3.3 Praktiken der Leistungserhebung und -bewertung ........................... 214 3.3.1 Transparenz und Rahmung von Leistungssituationen ............ 215 3.3.2 Situationen der Leistungsrückmeldung .................................. 221 3.3.3 Zeugnisnotenbesprechungen .................................................. 226 3.3.4 Die Verhandlung von Zensuren im Lehrerkollegium – Die Klassenkonferenz ............................................................. 232 3.3.5 Zeugnisausgaben zwischen Feierlichkeit und Moralisierung . 235 3.3.6 Zwischenfazit ......................................................................... 245
Inhalt
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3.4 Leistung und Leistungsvermögen an der Sekundarschule – Fallportraits ausgewählter Schülerinnen und Schüler ...................... 247 3.4.1 Manuel – Streben nach Schulerfolg ........................................ 248 3.4.2 Hans – Das Problem des nicht ausgeschöpften Leistungsvermögens ............................................................... 256 3.4.3 Elisabeth – Die überraschend gute Fünferkandidatin ............. 262 3.4.4 Thomas – Ein hoffnungsloser Fall? ........................................ 273 3.4.5 Fallübergreifende Überlegungen ............................................ 284 3.5 Exkurs: Leistung und Leistungsbewertung an der Hauptschule ...... 288 3.5.1 Einleitung ............................................................................... 288 3.5.2 Beobachtungen im Unterricht ................................................. 291 3.5.3 Die Reglementierung des Schülerverhaltens .......................... 295 3.5.4 Die Verhandlung von pädagogischen Aufgaben .................... 298 3.5.5 Die Zeugnisausgabe................................................................ 301 3.5.6 Zusammenfassung .................................................................. 315 3.6 An den Grenzen des Leistungsprinzips – oder: Die interaktive Hervorbringung des ‚schlechten‘ Schülers .............. 317 4
Unterrichtsinteraktion und implizite Leistungsbewertung (Georg Breidenstein/ Theresa Bernhard) ................................................ 321 4.1 Die Zurechnung von ‚Leistungen‘ zu Personen ............................... 323 4.1.1 Schüleräußerungen als Klärung von Sachverhalten ............... 323 4.1.2 Schüleräußerungen als Leistung von Personen ...................... 326 4.1.3 Konkurrieren um den richtigen Beitrag .................................. 328 4.1.4 Die Entwicklung von Kriterien der Kritik anhand exemplarischer Schülerarbeiten .............................................. 329 4.2 Positionierungen von Personen im Klassengefüge........................... 331 4.2.1 Einzelne Schüler als Strukturgeber für den Unterrichtsablauf .................................................................... 331 4.2.2 Zuschreibungen von Positionen im Klassengefüge an einzelne Schüler...................................................................... 332 4.2.3 Stellvertretende Leistungen .................................................... 334 4.3 Der öffentliche Tadel ....................................................................... 337 4.4 Zusammenfassung ............................................................................ 341
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Inhalt
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Zusammenfassende und vergleichende Betrachtungen (Georg Breidenstein)................................................................................ 345 5.1 Zur Quantität der Notenproduktion, oder: je mehr desto besser?..... 346 5.2 Ein Strukturproblem schulischer Leistungsbewertung: Die Legitimierung der Noten ........................................................... 350 5.3 Das Gegenstück: Die Individualisierung der Leistungsbewertung .. 352 5.4 Die Entlastung der Lehrperson ......................................................... 354 5.5 Die Öffentlichkeit der Schulklasse als Kontext: Leistungsbewertung und pädagogische Ambition............................ 356 5.6 Die Handhabung der Notengebung an Gymnasium und Sekundarschule im Vergleich: Zur Schulformspezifik der Leistungsbewertung ......................................................................... 358 5.7 Noten als (letztes) Mittel im Kampf um die Anerkennung des Schulischen ...................................................................................... 363
Prolog: Schüler äußern sich zur Bedeutung von Noten Theresa Bernhard, Georg Breidenstein
Interviewer: Hermann1: Interviewer: Hermann:
Erzähl mal ein bisschen (.) wie ist denn das so mit den Noten. Das kann schön und scheiße sein. (lacht) Das kann schön und scheiße sein. (..) Aha. Ja weil wenn man ’ne gute Note kriegt das ist dann schön und wenn man ’ne schlechte Note kriegt dann ist es doof. Interviewer: Hm. (..) Das hört sich so an als hättest du schon gute und schlechte Noten gekriegt. Hermann: Ja. Interviewer: Als würdest du alles kennen. (21) Magst da ein bisschen drüber erzählen (.) über die Noten? Hermann: Na ich wüsste jetzt nicht was.2 [Hermann, Gymnasium]
Die Passage aus einem Interview mit einem elfjährigen Schüler ist symptomatisch: Was soll man auch „erzählen“ über Noten? Jeder weiß, was Noten sind und wie sie funktionieren. Dass es „schön“ ist gute Noten zu bekommen und „doof“, schlechte Noten zu kriegen, erscheint tatsächlich zu banal, als dass es noch weiter auszuführen wäre. Hermann verfügt zwar über Erfahrungen mit Noten, aber es handelt sich um Erfahrungen, die allgemein bekannt und geläufig sind und die sich als wenig erzählenswert darstellen. Der – gut gemeinte – offene Erzählimpuls des Interviewers läuft deshalb ins Leere. Eine ähnliche Sprachlosigkeit in Bezug auf Noten wie bei Hermann findet sich auch bei Manuel, auch wenn dieser durchaus versucht, die Bedeutung von Noten zu erläutern:
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Alle im Buch verwendeten Eigennamen sind pseudonymisiert. Die Regeln der Verschriftlichung der Interviews finden sich im Anhang.
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Interviewer: Manuel:
Und ähm wie wichtig sind denn Noten für dich? (atmet schwer aus) Noten sind mittelwichtig eigentlich für mich und sie gehen ja zum größten Teil auf mich zu weil Noten sind ja sehr wichtig für die Schulnoten und (.) auf dein Zeugnis müssen ja auch gute Noten stehen denn du musst ja auch eine gute Arbeit bekommen und den Abschluss und deswegen finde ich auch Noten sehr wichtig (.) Sie geben dir [eigentlich] den Mut dann wieder wenn vielleicht ma ’ne schlechte Zensur wieder hast und dann wieder mal ’ne gute. Und so finde ich das eigentlich besser. Noten sind (.) sehr gut würd ich sagen (..) auch für mich in der Hinsicht. [Manuel, Sekundarschule]
Interessant ist zunächst der Versuch Manuels die Bedeutsamkeit von Noten mit „mittelwichtig“ zu taxieren: Dieses Kunstwort dürfte dem Versuch geschuldet sein, sowohl eine zu starke Identifikation mit Noten als auch die Negierung ihrer Relevanz zu vermeiden. In Manuels Ausführungen zur Bedeutung von Noten kommen dann allerdings sehr allgemeine und abstrakte Begründungsfiguren zum Tragen: das Zeugnis als solches, der Abschluss, die Chance auf eine „gute Arbeit“. Manuel wechselt für diese Erläuterungen von der ersten in die zweite Person („du musst …“), auch darin kommt der Charakter der verallgemeinerten Bedeutung zum Ausdruck, auch wenn er in seinem letzten Satz wieder in die erste Person wechselt („auch für mich in der Hinsicht“) und damit zurückkehrt auf die Ebene persönlicher Bedeutsamkeit. Wir haben im Rahmen des Forschungsprojektes zum Alltag schulischer Leistungsbewertung, das dieser Publikation zugrunde liegt und das noch genauer vorzustellen sein wird (Kap. 1), eine ganze Reihe von Schülerinnen und Schülern nach der Bedeutung von Noten gefragt – in der vielleicht etwas naiven Annahme auf diesem Wege die subjektiven Deutungen und Konzepte von Schülern in Bezug auf schulische Leistungsbewertung in Erfahrung bringen zu können. Es stellte sich jedoch heraus, dass alle Schülerinnen und Schüler sich schwer taten mit unserer Frage nach der Bedeutung von Noten und alle in ähnlicher Weise pauschal, knapp und stereotyp antworteten. Schauen wir uns ein weiteres Beispiel an: Interviewer: Christian:
Okay. (.) Wie wichtig sind denn Noten für dich? Wichtig (.) denn ohne Noten kann man ja nicht ins nächste Jahr versetzt werden. Interviewer: (lacht) Christian: Daher braucht man Noten. [Christian, Sekundarschule]
Im Lachen des Interviewers kommt die Verblüffung über eine Logik zum Ausdruck, die die Notwendigkeit von Noten aus der Berechtigung in die nächste Jahrgangsstufe aufzurücken ableitet, die ja allenfalls durch schlechte Noten eingeschränkt wird und ohne Noten kaum in Frage stünde. Noten werden letztlich,
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wie auch schon in Manuels erstem Formulierungsversuch, durch den Rekurs auf Noten begründet: Man braucht Noten, um etwas zu verhindern (das Sitzenbleiben), was es ohne Noten gar nicht gäbe. Aber es gibt auch andere Varianten, wie die Bedeutung von Noten begründet werden kann. Hans nennt die Reaktion seiner Eltern auf seine Noten als Verstärker der Relevanz von Noten: Hans:
(...) und wenn ich manchmal gute Noten schreibe da bekomm ich auch (.) Geld. Interviewer: Hm-mhm. Hm-mhm. Freun sich deine Eltern darüber? //Mhm// Ja. (...) Und über Noten äh äh redet ihr äh wie wie is das jetzt beispielsweise bei schlechten Noten wenn du jetzt ’ne schlechtere Note bekommst? Hans: Bekomm ich manchmal (.) Ärger. [Hans, Sekundarschule]
So ähnlich ist es bei Susanne: Interviewer:
Und wie ist das dann so, wenn wenn du so ne Arbeit zurück kriegst? (..) °So°. Susanne: Na ja, wenn’s ne gute ist, freut sich meine Mama auch mit drüber, wenn nich so, naja. Interviewer: Hm. Und du selber? Susanne: Freu mich eigentlich auch drüber [gute Noten]. Interviewer: Mhm. (.) Und ehm, was ist wenn die wenn die Arbeit jetzt nicht so gut war? Susanne: Naja meistens krieg ich dann irgendwie (.) n bisschen weniger Taschengeld oder //hm// °irgend ne Strafe°. [Susanne, Gymnasium]
In etlichen Familien scheint es das Bestreben zu geben, die Wirkung von Noten zu verstärken: durch die Belohnung guter Noten und/oder die Sanktionierung schlechter Noten. Schulnoten werden so zwar zu einem zentralen Element in der Eltern-Kind-Beziehung, aber jenseits dieser vermittelten, sekundären Bedeutsamkeit von Noten bleibt eine eigenartige Leerstelle. Robert wird, nachdem er auch die Freude seiner Mutter als Motiv angeführt hat, nach der Bedeutung gefragt, die Noten für ihn persönlich haben. Interviewer:
Hm. (..) (holt hörbar tief Luft) (..) Kannst du das noch ’n bisschen beschreiben, wie wichtig dir Noten sind? Robert: (…) Also (…) meine Mutti, die (.) wird sich auch sehr freu’n //Mhm// und schenkt mir manchmal auch was dafür //Schön// (…) mh (.) Interviewer: Und isses dir für dich selber auch sehr wichtig? Robert: Die Noten? //Mhm// Ja. //Mhm// die kommen ja auf’s Halbjahreszeugnis. [Robert, Sekundarschule]
Auch Robert greift in seiner Verlegenheit, etwas beschreiben zu sollen, das so selbstverständlich ist, dass es keiner Begründung bedarf, zu einer ähnlich redun-
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danten Figur wie Christian: Die Bedeutsamkeit von Noten resultiert daraus, dass sie „auf’s Zeugnis kommen“! Kommen wir schließlich noch einmal auf Hermann zurück, der an einer anderen Stelle des Interviews einen Standpunkt der Kritik gegenüber Noten vertritt: Hermann: Interviewer: Hermann:
Ich find Noten nicht unbedingt brauchbar. Find’st Noten nicht brauchbar. Nicht unbedingt. Ich find, man kann ja auch ein anderes Urteil geben, es muss ja nich ein schriftliches (..) früher haben wir auf dem Zeugnis vom Klassenlehrer immer ’ne Bewertung insgesamt gekriegt, indem er mit allen anderen Lehrern gesprochen hat. Also das fand ich besser. Interviewer: Das findest du besser, hm. Was muss man denn eigentlich machen für gute Noten? Hermann: Lernen und aufmerksam sein in der Schule. Und sich dafür interessieren. Also ich glaub, wenn man das Fach hasst, hat man auch keine Lust, sich dafür hin zu setzen. Und zu lernen. Interviewer: Dann klappt’s auch nicht mit den guten Noten, wenn man kein Interesse hat. Wie wichtig sind dir denn Noten? Hermann: Also eigentlich ziemlich sehr wichtig. Interviewer: Warum? Hermann: Na, weil sie ziemlich wichtig sind, ob ich später ’nen guten Job kriege oder ob ich sitzen bleibe oder so. [Hermann, Gymnasium]
Hermann rekurriert auf Erfahrungen mit schulischer Leistungsbewertung ohne Noten, die er „besser“ fand und die ihn zu dem, im Kontext der übrigen Interviews überraschenden, Urteil veranlasst, Noten für „nicht unbedingt brauchbar“ zu halten. Aber diese Einstellung und die persönliche Erfahrung führen nicht etwa zu einer Infragestellung der Relevanz von Noten: Als er wenig später gefragt wird, warum Noten „wichtig“ sind, verweist er auf Versetzungsentscheidungen und die Aussichten auf einen guten Job. Hermann formuliert also eine ambivalente Haltung gegenüber Noten, indem er diese einerseits für „nicht unbedingt brauchbar“ als Urteil des Lehrers über seine Leistungen hält, aber andererseits als „ziemlich wichtig“ erachtet mit Blick auf Selektionsentscheidungen innerhalb der Schule (Versetzung) und hinsichtlich von Karriereoptionen nach der Schule. Mit einer solchen Haltung befindet Hermann sich in bester Gesellschaft: Nahezu der gesamte schulpädagogische Diskurs zu schulischer Leistungsbewertung ist von genau dieser Überzeugung gekennzeichnet, dass Zensuren zwar eigentlich für eine pädagogisch sinnvolle Leistungsrückmeldung nicht brauchbar sind, dass sie aber unvermeidlich seien im Rahmen der so genannten „Selektionsfunktion“ der Schule. – Wir werden das noch genauer diskutieren (in Kap. 1). Zunächst gilt es über die verschiedenen Interviewausschnitte hinweg festzuhalten, dass das Reden über Noten von einer eigentümlichen Sprachlosigkeit gekennzeichnet ist. Die Frage nach der Bedeutung von Noten stellt die Schü-
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lerinnen und Schüler vor das Problem, etwas erläutern zu sollen, was ihnen noch nie erläuterungsbedürftig erschienen war. Die Relevanz von Noten ist viel zu selbstverständlich gegeben, als dass sie expliziert werden könnte. So kommt es zu nahezu tautologischen Bestimmungen, dass Noten wichtig sind, weil sie auf Zeugnissen stehen oder über die Versetzung entscheiden. Die andere Form der Generierung der Bedeutung von Noten findet sich in den Berichten über die Reaktionen von Eltern auf Noten (in anderen Interviews sind es die Großeltern), die zum Teil auch standardisiert sind und bestimmte Noten in konkrete Gratifikationen (Geldbeträge) bzw. Sanktionen (Computerverbot, Hausarrest) überführen. Die konkrete, gegenwärtige Bedeutung von Zensuren, jenseits externer Gratifikation oder weit in der Zukunft liegender Karriereversprechen, bleibt in den Interviews mit den Schülerinnen und Schülern eine Leerstelle. Das Mittel des Interviews scheint hier an eine systematische Grenze zu stoßen. Die Bedeutung der Noten ruht zu tief in der selbstverständlichen Gegebenheit des Alltagswissens, als dass die Beteiligten darüber auskunftsfähig wären. Die Bedeutung der Noten stellt für die Teilnehmer der Praxis schulischer Leistungsbewertung keine Frage und kein Problem dar, deshalb kann sie im Interview kaum thematisiert werden. Dennoch muss man sich als unbefangener Beobachter fragen, was es denn mit dieser ungeheuren Relevanz der schulischen Zensur auf sich hat, die in deutschen Schulen so sehr in das Zentrum des alltäglichen Unterrichtsgeschehens rückt und so allgegenwärtig und unhintergehbar erscheint, dass nach ihrer Bedeutung kaum noch gefragt werden kann. Wenn man Abstand gewinnt von der Selbstverständlichkeit, mit der das Alltagswissen (und z. T. auch der wissenschaftliche Diskurs) die Zensurengebung ausstattet, wird Sinn und Bedeutung dieser Praxis, die Schülerantworten mit Zahlen bewertet und im Laufe eines Schuljahres Hunderte solcher Zahlen hervorbringt, eigenartig und rätselhaft. Erst aus diesem Abstand heraus lässt sich nach der konkreten Bedeutung von Zensuren im Unterrichtsalltag fragen, lässt sich die Eigenlogik und Dynamik des alltäglichen Geschehens rund um die Zensurengebung in den Blick nehmen (vgl. Breidenstein 2006). Den Abstand zum Alltagswissen gewinnt man – auch wenn dies paradox klingen mag – indem man so nah wie möglich heran geht an den alltäglichen Vollzug selbst. Man muss den alltäglichen Vollzug schulischer Leistungsbewertung gewissermaßen unter die Lupe legen (oder in Zeitlupe betrachten), um eine neue und analytische Perspektive darauf zu gewinnen. Darum soll es in der vorliegenden Untersuchung gehen. Wenn die Methode des Interviews in der Implizitheit des Alltagswissens ihre Grenze findet, wird die Beobachtung und Analyse der alltäglichen Praxis selbst erforderlich. Wir fragen in diesem Buch nach der Generierung der Bedeutung der Noten in der Praxis der Leistungsbewertung selbst und rekurrieren methodisch auf die teilnehmende Beobachtung und die
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Prolog: Schüler äußern sich zur Bedeutung von Noten
Audioaufzeichnung des schulalltäglichen Geschehens rund um die Notengebung. Die Interviews mit den Schülerinnen und Schülern spielen durchaus auch noch eine Rolle, vor allem im Rahmen von Fallportraits (Kap. 3.4), wenn es um die spezifische und subjektive Haltung gegenüber Noten geht, aber im Zentrum der folgenden Analysen steht die Beobachtung der Rituale und Inszenierungen, die sich im Unterrichtsalltag um schulische Leistungsbewertung ranken. Wir fragen nach den routinierten Formaten und den Details ihrer Praktizierung im alltäglichen Vollzug schulischer Leistungsbewertung, um der Bedeutung der Zensuren auf die Spur zu kommen.
1 Das Projekt Leistungsbewertung in der Schulklasse Georg Breidenstein, Michael Meier, Katrin U. Zaborowski
1.1 Einleitung Die vorliegende Monographie präsentiert ethnographische Analysen zur Praxis der Leistungsbewertung und Zensurengebung, welche im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projektes „Leistungsbewertung in der Schulklasse – Eine ethnographische Untersuchung zur Performanz schulischer Selektion“ entstanden sind. Ziel des Forschungsprojektes, das von Mai 2005 bis April 2010 am Zentrum für Schul- und Bildungsforschung der MartinLuther-Universität Halle-Wittenberg durchgeführt wurde3, war es, Praktiken der Leistungsbewertung im Unterrichtsalltag zu beobachten und hinsichtlich ihrer Bedeutung für den schulischen Alltag und den sozialen Kontext der Schulklasse zu untersuchen4. Gegenstand der Beobachtung waren die alltäglichen Situationen schulischer Leistungsbewertung wie Tests, Klassenarbeiten und mündliche Prüfungen – aber auch die nahezu permanent mitlaufende Bewertung von Schüleräußerungen im Unterrichtsgespräch. Wir haben über viele Stunden, Wochen und Monate am Unterricht in verschiedenen Schulen in Ost- und Westdeutschland teilgenommen und die Details des alltäglichen Vollzugs schulischer Leistungsbewertung notiert, Details, die uns zunehmend fasziniert haben, die zum Teil durchaus skurril wirken, nicht selten allerdings auch schockierend. Ein erstes Ziel des vorliegenden Bandes liegt in der Dokumentation der alltäglichen Praxis der Leistungsbewertung, einer Praxis, die zwar allen, die in Deutschland zur Schule gegangen sind, aus jahrelanger eigener Erfahrung bekannt sein dürfte, zu der gleichwohl noch kaum detaillierte Beschreibungen vorliegen. Im Sinne der Dokumentation zitieren wir
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Das Projekt war Teil des Projektverbunds „Mikroprozesse schulischer Selektion bei Kindern und Jugendlichen“ am Zentrum für Schul- und Bildungsforschung. Aktuelle Ergebnisse aus den beiden anderen Projekten finden sich unter anderem in Kramer u. a. 2009 sowie Krüger u. a. 2008. Wir danken den studentischen Hilfskräften des Projektes: Olaf Janke, Mathias Müller, Henning Hues, Anna Roch, Conrad Kunze, Viola Strassburg, Lina Ellsiepen, Jan Schönfeld und Theresa Bernhard.
K. U. Zaborowski et al., Leistungsbewertung und Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93218-7_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Das Projekt Leistungsbewertung in der Schulklasse
im Rahmen der ethnographischen Studien ausführlich aus unseren Beobachtungsprotokollen und den Abschriften der Audiomitschnitte aus dem Unterricht. Ein darüber hinaus gehendes Ziel der ethnographischen Studien liegt in der systematisierenden Analyse der Praxis schulischer Leistungsbewertung. Bei dieser Analyse, darin bestand eine der Ausgangsüberlegungen des Forschungsprojektes, war die geläufige Erklärung für die den Schulalltag durchdringende Persistenz der Leistungsbewertung, die in der viel zitierten „Selektionsfunktion“ der Schule gesucht wird, zunächst zu vermeiden bzw. einzuklammern. Denn mit dieser „Erklärung“ glaubt man vorschnell verstanden zu haben, was sich bei genauerer Betrachtung keineswegs vollständig dieser Erklärung fügt. Einer der Ausgangspunkte des Projektes lag in Beobachtungen zur unterrichtsalltäglichen Handhabung und Kommunikation von Zensuren in einem Forschungsprojekt zur Ethnographie des Schülerhandelns.5 Dort sind wir im Zuge der ethnographischen Analysen auf ein Phänomen gestoßen, das wir als das „Eigenleben der Zensuren“ beschrieben haben (Breidenstein 2006). Damit ist die Verselbständigung der Schulnoten im Unterrichtalltag gegenüber den „Funktionen“, die ihnen zugeschrieben werden, angesprochen. Das alltägliche Prozessieren der Schulnoten, all die Rituale, Inszenierungen und Dramen, die sich darum ranken, sind kaum durch die viel zitierten „gesellschaftlichen“ oder „pädagogischen“ Aufgaben der Zensuren zu erklären. Die ungebrochene und unübersehbare Bedeutung, die den Zensuren im Schul- und Unterrichtsalltag zukommt, ist in der alltäglichen Praxis der Leistungsbewertung selbst zu suchen. Um zu verstehen, was hier vor sich geht, muss man also die Praktiken, die sich im Unterrichtsalltag um die Leistungsbewertung ranken, in den Blick nehmen. Diese Ausgangsüberlegung des Projektes, dessen Ergebnisse hier vorgelegt werden, ist im Folgenden kurz zu erläutern und in Auseinandersetzung mit der vorliegenden Forschung zu schulischer Leistungsbewertung zu diskutieren.
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DFG-Projekt „Jugendkultur in der Unterrichtssituation“ von 2001-2005 unter der Leitung von Georg Breidenstein und der Mitarbeit von Hedda Bennewitz und Michael Meier am Zentrum für Schul- und Bildungsforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
1.2 Stand der Forschung zu Leistungsbewertung im Unterricht
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1.2 Stand der Forschung zu Leistungsbewertung im Unterricht Wir wollen im Folgenden nicht den Forschungsstand zur Zensurengebung als solchen referieren, zu dem einige sinnvolle Überblicksdarstellungen vorliegen (vgl. Weinert 2001, Beutel 2005, Sacher 2004, Brügelmann u. a. 2006), sondern möchten einerseits zusammenfassen und pointieren, was man empirisch über schulische Leistungsbewertung weiß, und andererseits die im Forschungsprojekt gewählte praxeologische Perspektive auf Leistungsbewertung und die Prozessierung schulischer Zensuren begründen. 1.2.1 „Funktionen“ schulischer Leistungsbewertung und empirische Befunde Bezeichnenderweise beginnen fast alle Ausführungen zu schulischer Leistungsbewertung mit der Erläuterung der so genannten „Funktionen der Leistungsbewertung“ (z. B. Ziegenspeck 1999; Beutel/Vollstädt 2000; Tent 2006). Unterschieden werden in der Regel die Bereiche der „gesellschaftlichen“ und der „pädagogischen“ Funktionen. Mit der „gesellschaftlichen Funktion“ ist die Selektions- und Allokationsfunktion angesprochen, die die Schule für die Gesellschaft erfülle; hier geht es um die Sortierung der nachwachsenden Generation nach Leistung (die „Selektionsfunktion“ der Schule) und deren Verteilung auf die unterschiedlichen gesellschaftlichen und beruflichen Positionen (ihre „Allokationsfunktion“, vgl. Fend 1981). Mit der „pädagogischen“ Funktion sind die Aufgaben der Rückmeldung, Beratung und Motivierung bezogen auf schulische Lernprozesse gemeint. Erstaunlich wenig diskutiert wird, dass die „pädagogische“ und die „gesellschaftliche“ Funktion der Zensuren in ein deutliches Spannungsverhältnis geraten können und beide für die Praxis der Notengebung ganz unterschiedliche Bezugssysteme bilden (vgl. Tillmann/Vollstädt 2000: 35). Die zitierten funktionalen Bestimmungen sind theoretischer Art und deutlich zu trennen von Ergebnissen empirischer Forschung – sie bestimmen allerdings die Art der Fragen, die an die Praxis der Zensurengebung gestellt werden. Den beiden großen Funktionsbereichen, die der Schulzensur zugesprochen werden, dem „gesellschaftlichen“ und dem „pädagogischen“, lassen sich auch zwei voneinander relativ unabhängige Forschungslinien zuordnen, die nach dem diagnostischen Wert bzw. dem pädagogischen Nutzen der Zensur fragen. Mit Blick auf die „gesellschaftliche“, die Selektions- und Allokationsfunktion von Schule, ist vor allem nach dem diagnostischen Wert der Schulzensur zu fragen: Wie präzise sind Zensuren als Ausdruck von Leistungsunterschieden? Wie ‚gerecht‘ ist also die Verteilung von Chancen nach Zensuren? Im Kontext dieser Forschungstradition werden erteilte Zensuren konfrontiert mit standardi-
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1 Das Projekt Leistungsbewertung in der Schulklasse
sierten Leistungstests, denen zugetraut wird, dass sie Schülerkompetenzen „objektiv“ (unverzerrt) und „valide“ (i. S. des Curriculums oder anderweitig definierter Standards) zu messen imstande sind. Die Befunde dieser Forschung sind eindeutig und stabil seit dem viel zitierten Titel von der „Fragwürdigkeit der Zensurengebung“ (Ingenkamp 1977): Nachgewiesen wurde dort und seitdem wiederholt, dass Zensuren zwar im Kontext der einzelnen Schulklasse ziemlich realistisch die gemessenen Leistungsunterschiede ausdrücken, aber schon über verschiedene Schulklassen hinweg als Vergleichsmaßstab nicht funktionieren – geschweige denn über Schulen oder Schulformen hinweg (vgl. Ziegenspeck 1999, Schrader/Helmke 2001, Tent 2006). Auch im Rahmen der PISA-Studie ist das Problem der Vergleichbarkeit von Noten hinsichtlich unterschiedlicher Bildungsgänge heraus gearbeitet und ein daraus resultierendes „ernsthaftes Problem der Verteilungsgerechtigkeit“ angesprochen worden (Baumert u. a. 2003: 70). Von den drei in Frage kommenden Bezugsnormen für die Zensurengebung, der individuellen, der sachlichen und der sozialen scheint die soziale Bezugsnorm, der Vergleich mit der Bezugsgruppe, die Praxis der Notengebung eindeutig zu dominieren (vgl. Rheinberg 2001): Der Maßstab, an dem die Ermittlung der Zensur ausgerichtet wird, besteht im Wesentlichen aus den Leistungen der anderen Mitglieder der Schulklasse. Festhalten lässt sich, dass Zensuren keineswegs ‚gerecht‘ sind mit Blick auf die Vergleichbarkeit von Leistungen über verschiedene Klassen oder Schulen hinweg. Wenn man von der „pädagogischen“ Funktion der Zensurengebung ausgeht, muss man nach der Wirkung von Zensuren auf Schüler fragen: Wie werden Noten verarbeitet und welchen Beitrag zur Motivation von Lernprozessen leisten sie? Die Pädagogische Psychologie weist einen relativ gut ausgebauten Forschungsstand zur Attribuierung schulischen Erfolgs bzw. Misserfolgs durch Schüler auf (vgl. Möller/Jerusalem 1997, Möller 2001). Es lassen sich verschiedene Attributionsmuster unterscheiden: So erweist sich die internale Attribuierung von Erfolgen und die Externalisierung von Misserfolgen (Zufall, mangelnde Anstrengung etc.) als selbstwertdienlich, während die Zurechnung von Misserfolgen auf die eigenen Fähigkeiten als problematisch anzusehen ist (vgl. Möller/Köller 1996, Möller/Jerusalem 1997). Aufschlussreich sind auch Hinweise zu geschlechtsspezifischen Unterschieden in Attributionsmustern: bei Mädchen finden sich ungünstigere Attribuierungen als bei Jungen (vgl. auch Horstkemper 1987). Es gibt außerdem bedeutsame Hinweise auf Bezugsgruppeneffekte in der Attribution der eigenen Leistung durch Schülerinnen und Schüler. Diese lassen sich insbesondere bei Klassenwechslern nachweisen, bei denen die neue Vergleichsgruppe zu Veränderungen in der Selbsteinschätzung führt (Jerusalem 1997). Jerusalem und Schwarzer (1991) verfolgen in einer Längsschnittstudie die
1.2 Stand der Forschung zu Leistungsbewertung im Unterricht
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Entwicklung des Selbstkonzepts nach dem Wechsel in die weiterführende Schule. Während das Selbstwertgefühl der Gymnasiasten direkt nach dem Übergang erwartungsgemäß deutlich über dem der Hauptschüler lag, näherte sich die mittlere Ausprägung des Selbstkonzeptes sehr schnell an, so dass der Schulformunterschied dann keine Rolle mehr spielte. Die Autoren schließen daraus: „Die Schüler verankern ihre Selbstbewertung nur an der Leistungsverteilung innerhalb einer eng begrenzten und leicht überschaubaren Gruppe von Mitschülern“ (ebd.: 121). Diese Bezugs- und Vergleichsgruppe wird durch die Schulklasse gebildet, denn die Mitglieder einer Schulklasse sind diejenigen, die alltäglich aneinander gemessen und miteinander verglichen werden. Die Schülerforschung berichtet hier also ähnlich wie die Forschung zur Zensurengebung die alles überragende Dominanz der Schulklasse als sozialer Bezugsnorm (vgl. auch Petillon 1987: 98ff.). Wie gestalten sich aber die langfristigen Auswirkungen von schulischer Leistungsbewertung auf Jugendliche? Dazu gibt es den interessanten Befund aus den Längsschnittstudien von Fend (1997: 259f.), dass das Selbstwertgefühl insgesamt (die „generalisierte Selbstakzeptanz“) nicht von schulischen Leistungsbewertungen betroffen ist: Es korreliert nur schwach oder gar nicht mit dem in Noten ausgedrückten Leistungsstatus und der Zusammenhang zwischen „Leistungsstatus“ und „Ich-Stärke“ nimmt zwischen dem sechsten und zehnten Schuljahr noch ab. Wie Fend (1997: 262) bilanziert, „ist der Weg von der konkreten Leistungsbeurteilung zur generalisierten Selbsteinschätzung lang und über viele Verteidigungs- und Erklärungsmechanismen vermittelt“ (vgl. auch Pekrun 1994, Ulich 2001). Zusammenfassend kann man festhalten, dass Zensuren offenbar auch zur Motivierung von Lernanstrengungen wenig beitragen, jedenfalls nicht auf längere Sicht (vgl. auch Valtin 2002). Die beiden Linien zusammengenommen kommt man zu äußerst skeptischen Einschätzungen, was die strukturellen Möglichkeiten der Schulnote betrifft, die ihr zugedachten (allerdings in sich widersprüchlichen) Aufgaben zu erfüllen. Brügelmann u. a. (2006: IV) fassen in einer Expertise für den Grundschulverband ihr Urteil zu der Frage, ob Noten nützlich und nötig seien, wie folgt zusammen: „Ziffernnoten sind immer noch die häufigste Form formeller Leistungsbewertung in der Schule. Aber die Forschung zeigt seit langem: Noten sind nicht in der behaupteten Weise für das Lernen nützlich und sie sind erst recht nicht nötig. Sie betonen einseitig die Bewertungsfunktion – können aber auch diese wegen ihrer mangelnden Aussagekraft, Vergleichbarkeit und Objektivität nicht angemessen erfüllen. Es gibt deshalb keinen Grund auf ihnen zu beharren, zumal sie darüber hinaus etliche unerwünschte Nebenwirkungen haben.“ Eine solche Position bleibt zwar nicht unwidersprochen (vgl. z. B. Hermann 2005), aber sie kann doch überzeugende empirische Evidenz für sich beanspruchen.
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Eine zunehmend massiv vorgetragene Kritik an der Zensur als Instrument der Leistungsbewertung scheint jedoch wenig Einfluss auf die Bildungspolitik zu entwickeln. Die gesetzlichen Regelungen zur Leistungsbewertung sind zwar in den einzelnen Bundesländern durchaus in Bewegung (vgl. Bohl 2003), doch die Bedeutung der Ziffernnote bleibt dabei unangefochten und wird sogar in der Tendenz noch ausgeweitet, insofern mehrere Länder (u. a. Sachsen-Anhalt) die übergreifende Bewertung des Sozial- und Lernverhaltens in Form einer Zensur (wieder) eingeführt haben oder etwa die Schullaufbahnempfehlung der Grundschule verbindlich gemacht und an die erreichten Zensuren gebunden haben (in Sachsen-Anhalt zum Schuljahr 2005/06). Noten erfahren auch bei den am schulischen Alltag Beteiligten (Schüler, Eltern, Lehrer) relativ ungebrochene Zustimmung. Allerdings werden in einer differenzierten Befragung von Kanders u. a. (2004) Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland deutlich: Während etwa die Aussage „Zumindest in den ersten drei Jahren der Grundschule kann auf Zensuren verzichtet werden“ im Westen eine knappe Mehrheit von 51% findet, stimmen im Osten nur 26% zu. Von den beteiligten Teilgruppen scheinen die Schüler den Noten am wenigsten kritisch gegenüber zu stehen, wie die Hamburger LeiHS-Studie ausweist: „Auch ein relativ reformfreudiges Klima unter den Lehrenden der Gesamtschule hat auf die deutliche Befürwortung der Noten seitens der Schüler(innen) nur wenig Einfluss. Anders formuliert: Die Schüler(innen) aller Sekundarschulformen sind die entschiedensten Verfechter der Zensuren“ (Jachmann 2003: 234). Man muss wohl die Frage stellen, was eigentlich den Reiz und die Attraktivität der Zensuren für die Beteiligten, einschließlich der Schüler, ausmacht. Zensuren sind so alltäglich und so selbstverständlich, dass zumindest Schüler und Schülerinnen ihre Bedeutung kaum explizieren können oder nur sehr formelhafte Begründungen für die Notwendigkeit und Bedeutsamkeit von Noten anbringen können, wie wir anhand der eingangs zitierten Interviews feststellen konnten. Lehrerinnen und Lehrer könnten die Frage nach der Bedeutung von Noten vermutlich etwas elaborierter beantworten, aber auch da ist zu vermuten, dass sie sich vorrangig auf die beiden angesprochenen Funktionsbereiche der Zensurengebung berufen würden, die auch die schulpädagogische Literatur dominieren: dass die Schule die Schüler für die Gesellschaft nach Leistung sortieren müsse – oder: (vielleicht etwas näher am Schulalltag) dass Zensuren notwendig seien, damit Schüler überhaupt lernen („ohne Noten tun die ja nichts“).
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1.2.2 Alles unter dem „Stern der Selektion“? Nun ist das Theorem von der Selektionsfunktion der Schule noch etwas genauer zu diskutieren, denn es fungiert als fast alle Lager übergreifende Erklärung, dass schulische Leistungsbewertung in Form von Noten unvermeidlich sei, auch wenn aus pädagogischer Sicht vielleicht einiges dagegen spreche. Man sei ja dazu gezwungen, denn das sei ja die „gesellschaftliche Funktion“ von Schule. Die Beschreibung der Selektionsfunktion der Schule stammt aus der strukturfunktionalistischen Tradition (Parsons 1959) und ist über die „Theorie der Schule“ von Helmut Fend (1981) in den Kanon des schulpädagogischen Wissens eingewandert. Die Bestimmung, dass die Schule in moderner Gesellschaft die entscheidende Instanz sei, um dem meritokratischen Prinzip Geltung zu verschaffen, ist kaum von der Hand zu weisen – wenig gefragt wird aber, ob diese Aufgabe tatsächlich die beobachtbare Praxis schulischer Leistungsbewertung erklärt. Das Theorem von der ungeliebten aber notwendigen Selektionsfunktion der Schule gilt heute so unhinterfragt, dass auch qualitative Studien, die offen und explorativ an schulische Wirklichkeit heranzugehen beanspruchen, es als theoretische Voraussetzung in ihre Untersuchungsanlage so einbauen, dass es wiederum nur bestätigt werden kann. Ein aktuelles Beispiel ist die Studie von Streckeisen, Hänzi und Hungerbühler (2007), die „Deutungsmuster von Lehrkräften zu einem beruflichen Dilemma“ erforschen. Es lohnt sich, die Annahmen und Vorgehensweise dieser Studie exemplarisch etwas genauer zu betrachten, weil sich daran das Problem des Theorems von dem Dilemma zwischen „Fördern und Auslesen“ (so der Titel der Monographie) verdeutlichen lässt. Die Studie arbeitet mittels narrativer Interviews und Objektiver Hermeneutik durchaus aufschlussreich fünf verschiedene Deutungsmuster von Lehrkräften zu dem angesprochenen „Dilemma“ heraus. Und doch sind die Grundannahmen der Studie zu hinterfragen. Das fängt beim ersten Satz des Buches an: „Dass sich die Schule als gesellschaftliche Institution zwischen den beiden Polen des ‚Förderns‘ und ‚Auslesens‘ bewegt, gehört zum tradierten Wissenskorpus von Bildungssoziologie und Schulforschung. Diese strukturfunktionalistisch inspirierte Sichtweise hat zudem längst in Alltagstheorien diffundiert und findet sich auch in Schriften für die Lehrerinnen und Lehrerfortbildung wieder. Die Schule – dies ist die Auffassung – hat nicht allein den pädagogischen Auftrag, jede Schülerin und jeden Schüler individuell zu fördern, sie ist auch dem Prinzip der Auslese verpflichtet.“ (Streckeisen u. a. 2007: 1)
Im Folgenden stellt die Studie aber die angesprochene „Tradition“ bzw. „Alltagstheorie“ nicht etwa in Frage, sondern sie macht sich genau diese Auffassung zu eigen. Sie spricht vom „Selektionsauftrag“ der Lehrperson und geht so weit, die allgegenwärtige Wirkmacht dieses Auftrages zu behaupten: „Der gesamte
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schulische Alltag, jedes zustimmende Lächeln und jedes kritische Stirnrunzeln der Lehrperson stehen unter dem Stern der Selektion.“ (ebd.: 12) Um die Selektionsaufgabe der Lehrperson in den Blick zu rücken explizieren Streckeisen u. a. ihre Annahmen: „Die Lehrperson handelt stets im Rahmen eines Berechtigungswesens, das Selektion impliziert. Neben die diskontinuierlich auftretenden Selektionsentscheide tritt also die Selektion als Damoklesschwert, das kontinuierlich seinen Schatten auf den Schulalltag wirft. (…) Der gesamte schulische Alltag steht im Schatten von Selektionsprozessen.“ (ebd.: 42) Die Annahme von der durchgreifenden, alles überformenden Wirkung des „Selektionsauftrages“ der Schule prägt nicht nur die Interpretation des Lehrerhandelns bzw. der dazugehörigen Deutungsmuster, sondern bereits die Fragerichtung und Erhebung, so dass man zweifeln muss, ob man mit derart massiven Vorgaben noch die Deutungen der Interviewpartner selbst erheben kann, oder man diese nicht von vorneherein unter Legitimationsdruck setzt. Zu fragen ist aber vor allem, woher diese Überzeugung rührt, dass die schulische Praxis ihrem Selektionsauftrag nicht entrinnen könne. Die Studie nennt die Quelle dieser Überzeugung: Es ist die „klassische, strukturfunktionalistisch und professionssoziologisch ausgerichtete Lehrerforschung“ (ebd.: 11). Die Autorinnen zitieren als weiteren Kronzeugen ihrer Auffassung Niklas Luhmann, der so unterschiedliche Dinge wie die folgenden als „Selektionsentscheidungen“ bezeichne: „Lob und Tadel (Kopfnicken/Kopfschütteln, Kommentierung einer Antwort im Unterricht), ferner Zensuren, Versetzungen/Nicht-Versetzungen, Zulassung oder Nicht-Zulassung zu Kursen oder Schulsystemen, schließlich Abschlüsse von Kursen oder Ausbildungsgängen oder Schul-/Hochschulkarriere im ganzen“ (ebd. 43). Spätestens jetzt wird das Problem des Theorems vom „Selektionsauftrag“ der Schule bzw. der Lehrpersonen deutlich. Denn Luhmann steht zwar in der Tradition des Parson´schen Strukturfunktionalismus, entwickelt dann aber eine soziologische Systemtheorie, die mit der Annahme der funktionalen Ableitung von Aufgaben gesellschaftlicher (Teil-)Systeme aus der „Gesellschaft“ bricht und die Funktionslogik sozialer Systeme aus deren Eigenlogik heraus (aus dem jeweiligen „Code“ des Operierens) zu bestimmen sucht (vgl. Luhmann 1984). Unter den Prämissen der Theorie sozialer Systeme wäre „Selektion“, also die Sortierung der Schüler in „bessere“ und „schlechtere“, eine Praxis, die das Erziehungssystem nicht für die „Gesellschaft“ erledigt, sondern die zunächst einmal ausschließlich die Form der Kommunikation innerhalb des Erziehungssystems kennzeichnet.6 Das hieße: Die Schule prozessiert die angesprochenen vielfachen und vielfältigen Selektionsent6
Auch wenn sich diese Folgerung in dieser Deutlichkeit bei Luhmann (2002) nicht findet, muss sie u. E. in der Konsequenz systemtheoretischen Denkens so gedacht werden.
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scheide keineswegs „im Auftrag“, sondern im Vollzug ihrer eigenen Logik. Die Schule sortiert die Schüler nach Leistung für die Schule. Selektionsentscheidungen betreffen – empirisch – fast immer Optionen, Schwellen und „Karrieren“ innerhalb des Erziehungssystems: Die Versetzung in die nächste Jahrgangsstufe, die Schullaufbahnentscheidung nach der vierten Klasse, die Einteilung in verschiedene Kurse und Niveaustufen und schließlich die Berechtigung für das Studium an einer Hochschule bzw. der Zugang zu bestimmten Studiengängen. Das Abitur berechtigt zu nichts anderem als zum Verbleib im Bildungssystem und die konkrete Abiturnote entscheidet über nichts anderes als über die Studienwahloptionen. – Alle anderen „Abnehmer“ des Schulsystems habe eigene und zusätzliche Kriterien und zunehmend auch eigene Prüfungen und Verfahren der Auswahl. Ein Verdacht drängt sich auf: Könnte es sein, dass die Schule (und die Schultheorie) so gerne und eilfertig den „Selektionsauftrag“ zitiert, den sie für „die Gesellschaft“ zu erfüllen habe, um jenes alltägliche Geschäft der Sortierung von Schülern zu legitimieren, das vor allem ihr ureigenstes Geschäft ist – das die schulische Interaktion viel mehr kennzeichnet als eine (wo auch immer angesiedelte) „gesellschaftliche“ Zuweisung? Die Pädagogen (und ihre Theoretiker) würden diesem Verdacht zufolge ihr Gewissen beruhigen, indem sie sich einen „gesellschaftlichen Auftrag“ zuschreiben, der das pädagogisch so leidvolle Geschäft der Zensurengebung erforderlich mache. Zu den theoretischen Zweifeln treten methodologische Überlegungen: So scheint es für eine Forschung, die sich für die Praxis der Selektion im Schulalltag interessiert, ratsam, das Theorem vom „Selektionsauftrag“ der Schule und der Lehrerschaft beiseite zu legen, um nach Motiven für die alltägliche Selektion innerhalb der Schule fragen zu können. Die Annahme eines ebenso fernen wie vagen „Sterns der Selektion“ trägt wenig bei zur Analyse des konkreten Selektionsgeschehens vor Ort, stattdessen ist danach zu fragen, welche Funktionen die alltäglichen selektiven Praktiken (und zwar tatsächlich vom Kopfschütteln über die Zensur bis hin zur Versetzungsentscheidung) für die Unterrichtskommunikation, für die pädagogische Praxis selbst, erfüllen. 1.2.3 Studien zum alltäglichen Vollzug schulischer Leistungsbewertung Wir fragen also abschließend nach Studien, die den Alltag schulischer Leistungsbewertung als solchen in den Blick nehmen. Hier ist der Befund überraschend, dass wir trotz der ausgebreiteten und differenzierten Forschung zum diagnostischen Wert der Zensuren und zu sozialpsychologischen Effekten in der Lehrer-Schüler-Interaktion sehr wenig wissen über die konkrete Praxis der No-
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tengebung, über die Art und Weise wie Zensuren ermittelt, festgelegt und kommuniziert werden. Es gibt allerdings einige wenige qualitative Studien, denen erste Hinweise zu entnehmen sind und die wir kurz ansprechen wollen. Herbert Kalthoff (1997) hat sich im Rahmen seiner Ethnographie deutscher Internatsschulen auch mit dem alltäglichen Funktionieren der Notengebung als Teil der Berufspraxis und Berufskultur von Lehrern beschäftigt. Kalthoff hat Lehrer bei der heimischen Korrektur von Klassenarbeiten und bei der mündlichen Abiturprüfung beobachten können. Er beschreibt die Festsetzung von Noten als „Verteilungsarbeit“ (Kalthoff 1996: 115), die sich auf die konkrete Schülergruppe und deren Sortierung bezieht. In der Analyse der Verhandlungen über die Punktzahl in der Abiturkommission zeigt Kalthoff, wie die Lehrpersonen in die schulischen Urteile immer selbst mit involviert sind: Es steht immer auch ihr Unterricht zur Bewertung. Der Autor schlägt demzufolge vor, die „normativ angelegte Idee der Leistungsmessung der Schüler – wie sie die Bewertungsforschung dominiert – in die Idee eines panoptischen Systems der Fremd- und Selbstbeobachtung zu verschieben“ (Kalthoff 1996: 121). Auch Ewald Terhart (2000), der Ergebnisse eines DFG-Projektes zu Selektionsentscheidungen als Teil des Lehrerhandelns zusammenfasst, beschreibt diese als „Konstruktion im Kontext“: Die Untersuchung von Lehrerinterviews zeige, dass „Berufsalltag und Berufskultur ... in harmonischer Eintracht darauf ausgerichtet (sind), dass der nicht präzise regulierte Prozess des Zensierens nicht zu kontinuierlichen Konflikten führt“ (Terhart 2000: 46). Lüders (2001) berichtet von einem überraschend geringen Anteil der Lehrer (11%), die sich bei der Übernahme einer Klasse über die Benotung der Schüler durch ihre Vorgänger informieren, und interpretiert dies als Hinweis auf den Charakter der Schulnote als eines „höchstpersönlichen Fachurteils“ (ebd.: 225), dem kein übergreifender (pädagogisch-didaktisch zu nutzender) Wert zukommt. Ein zentrales Ergebnis der Studie von Terhart u. a. (1999: 274) lautet: „In der beruflichen Praxis scheint ein ‚Zurechtkommen’ mit dem Beurteilen, ein ‚vor sich selbst Geradestehen können’ sowie schließlich auch ein Interesse an möglichst wenig Konflikten mit Kollegen, Schulleitung und Eltern eine wichtige Rolle zu spielen.“ Das Beurteilen stellt für die meisten ‚einsozialisierten’ Lehrkräfte keine psychische, sondern allenfalls eine zeitliche Belastung dar (vgl. ebd.). Allerdings heben die Autoren auch hervor, dass vielen Lehrkräften die „strukturellen Implikationen und Folgen dieser Beurteilungspraxis“ (ebd.: 277) nicht klar sind. Ein interessantes (und seltenes) Beispiel für das Potential einer praxeologischen Analyse des Alltages der Zensurengebung stellt eine Studie von Verkuyten (2000) zum Verlauf einer Zeugniskonferenz dar. Die Studie zeigt aus ethnomethodologischer Perspektive, welche interaktive ‚Arbeit‘ geleistet wird, um die vergebenen Zensuren als objektiv und gerechtfertigt (accountable) zu etablieren.
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Während sich gute Noten als unproblematisch erweisen, bedürfen schlechte Noten einer „Erklärung“. Diese situativen Erklärungen richten sich immer auf die betreffenden Schüler, und zwar entweder auf mangelnde Begabung oder auf mangelnde Anstrengung, die Praxis der Leistungsbewertung selbst wird dabei entthematisiert. „Accounts were given in which versions of reality were constructed, making the methods of teaching, interpretation and assessment invisible“ (Verkuyten 2000: 469). Die Erwägung möglicher Interventionen richtet sich im Diskurs der Lehrer nur auf Schülerleistungen, die vorher (!) auf mangelnde Anstrengung zurückgeführt worden waren. Dabei richten sich die Praktiken der Zeugniskonferenz ausschließlich darauf, Zensuren „verantwortbar“ (accountable) zu machen, nicht darauf, Schülerleistungen zu verstehen. Hinweise zu den Zusammenhängen zwischen Unterricht und Leistungsbewertung auf der Mikroebene des Unterrichts liefern u. a. Arbeiten, die sich an der Bildungssoziologie von Bernstein (1990, 1996) orientieren. Dieser Ansatz betont die Konstruiertheit von Leistungsbewertung im und durch den Unterricht. Das Erkenntnisinteresse von Gellert und Hümmer (2008) z. B. zielt auf die Beantwortung der Frage, über welche Praktiken Schüler im Unterricht verfügen müssen, um als leistungsstark zu gelten. Zentral ist dabei die Beherrschung der „Erkennungsregel“ (ebd.: 291), das heißt den Status und die Rahmung unterrichtlichen Diskurses entschlüsseln zu können, sowie dann angemessen zu reagieren: „Können die Schüler diesen Lehrererwartungen entsprechen, so beherrschen sie die Realisationsregel.“ (ebd.: 292) Bezogen auf den von ihnen analysierten Mathematikunterricht betonen Gellert und Hümmer die hohe Relevanz der Rahmung von Unterricht durch die Lehrenden sowie der Decodierung der diskursiven Regeln durch die Schüler für die Beurteilung ihrer Leistungen. In die gleiche Richtung geht auch die Argumentation von Torrance und Pryor (2008). Sie schlussfolgern abschließend aus ihren Analysen, „assessment is not an activity that can be done to (Hervorhebung im Original) children, but is accomplished by means of social interaction in which the practices of the participants have a critical effect on the outcome” (ebd.: 236). In der Analyse mündlicher Bewertungssituationen im Unterricht zeigt wiederum Kalthoff (2000), wie Lehrer aufgrund der Zuweisung unterschiedlich schwerer Fragen und Aufgaben Leistungspositionierungen konstruieren: „Die Kodierung von Lehrerfrage und Schülertyp verfestigt Zuständigkeiten und den Notenbereich von Schülern; sie ist aber auch eine Möglichkeit, Schüler in einer Weise am Unterricht zu beteiligen, durch die sie richtige Antworten formulieren können.“ (ebd.: 442) Dabei kann von einer „Beharrungstendenz“ gesprochen werden, die darauf hinausläuft, „eine einmal etablierte Schülerverteilung durch richtige oder falsche Antworten zu bestätigen“ (ebd.).
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Filer und Pollard (2000) diskutieren den Einfluss unterschiedlicher Kontexte für die Schülerbewertung und berichten, dass wechselnde Lehrer ganz unterschiedliche Einschätzungen eines Schülers und seiner Leistungen haben. Sie schlussfolgern, dass die konkrete Interpretation und Bewertung des Verhaltens und der Arbeit von Schülern durch Lehrer ein Bestandteil jenes Unterrichtskontextes darstellt, den diese Lehrer selbst gestalten. Sie fordern, „achievement outcomes should be seen as the joint achievements of teachers and pupils rather than as attributes attaching to particular children” (154). Wir halten also fest: Hinsichtlich der Notengebung als Teil der beruflichen Praxis von Lehrern und des unterrichtlichen Alltags gibt es erste empirische Untersuchungen, die die Entscheidung über Zensuren in ihrem Kontext untersuchen. Schon diese wenigen empirischen Beobachtungen weisen auf die Eigenlogik des lokalen Kontextes hin. Es deutet sich in diesen Arbeiten an, dass die Praxis der Notengebung im schulischen Alltag ganz eigenen Regeln und Relevanzen folgt und keinesfalls in den eingangs zitierten „Funktionen“ der Zensurengebung aufgeht. 1.3 Theorie Sozialer Praktiken Die Praxis schulischer Leistungsbewertung in ihrer Eigenlogik zu untersuchen erfordert die Entfaltung einer spezifischen Perspektive auf das schulalltägliche Geschehen der Leistungsbewertung, die sich als „praxistheoretische Perspektive“ kennzeichnen lässt. Der entscheidende methodologische Schritt besteht darin, soziale Praktiken als einen Untersuchungsgegenstand sui generis zu etablieren, das heißt soziale Praktiken nicht als abgeleitet aus Motiven, Orientierungen oder Deutungen der Akteure zu begreifen, sondern als eine eigenständige soziale Realität zu begreifen, die in ihrem Vollzug zwar menschliche Akteure involviert, aber als relativ unabhängig von den konkret handelnden Personen begriffen wird, dabei aber durchaus von den Bedingungen und Spezifika des lokalen Kontextes geprägt ist. Es geht um eine sozialtheoretische Perspektive, die gewissermaßen zwischen der Abstraktion von Strukturtheorie und der Akteurszentrierung von Handlungstheorien angesiedelt ist. Nur mit einer solchen analytischen Einstellung bekommt man die Details jener Routinen, Prozeduren, Rituale und Inszenierungen in den Blick, aus denen sich die alltägliche Praxis schulischer Leistungsbewertung zusammensetzt und die den Gegenstand unserer Untersuchung bilden soll. Wir wollen deshalb in aller Kürze unser Verständnis von sozialer Praxis erläutern. Seit einigen Jahren lassen sich verschiedene Bemühungen um die Konturierung und Profilierung einer dezidiert „praxeologischen“ Perspektive beobachten,
1.3 Theorie Sozialer Praktiken
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die für unser Projekt als grundlagentheoretische Bestimmungen zum Gegenstandsbereich der Untersuchung relevant sind. Zu nennen sind hier der von Schatzki u. a. (2001) proklamierte „practice turn in contemporary theory“, die Konzeptualisierung einer „Theorie sozialer Praktiken“ (Reckwitz 2000; Hörning 2001) oder die Auffassung von „Kultur als Praxis“ (Hörning/Reuter 2004). Dabei geht es darum, unterschiedliche Quellen einer sozialwissenschaftlichen Kulturtheorie – genannt werden u. a. Bourdieu und Giddens, Wittgenstein und Heidegger, die Ethnomethodologie, Foucault und Deleuze sowie die Cultural Studies –, so zu akzentuieren, dass gemeinsame sozialtheoretische Annahmen erkennbar werden. In praxeologischen Ansätzen wird ein wechselseitiges Konstitutionsverhältnis zwischen kognitiven Wissensordnungen und sozialen Praktiken postuliert. Die Wissensordnungen stellen aus Sicht dieser Ansätze den Erfahrungs- und Erwartungshorizont dar, vor dem die Akteure einerseits sich selbst und die sie umgebende Welt wahrnehmen, interpretieren, deuten, andererseits in ihrem Handlungsvollzug ‚Welt’ sind und somit symbolische Ordnung (re-)produzieren. Erst in den sozialen Praktiken, und damit in den Prozessen der Sinnzuschreibung der Akteure, werden diese Wissensordnungen sichtbar und existieren auch nur insoweit. Damit unterscheiden sich praxistheoretische von mentalistischen Konzepten innerhalb der Kulturtheorien: Nicht das „Mentale“, d. h. „Bewusstsein“ oder „Geist“, sondern die alltäglichen Praktiken bilden den Ort, die kleinste Einheit des Sozialen. Der Begriff der Praktik umfasst dabei sowohl diskursive wie nichtdiskursive Handlungsvollzüge. Mit dem Bezug auf Praktiken wird vor allem die Materialität des Geschehens betont. Körper und Dinge (Artefakte) geraten als „Partizipanden des Tuns“ (Hirschauer 2004) in den Fokus der Beobachtung und Analyse (vgl. hierzu auch Hörning 2001). Der Akteur wird in praxeologischer Perspektive als Träger der Praktiken, nicht als ihr Urheber betrachtet. Das Handeln oder Tun der Akteure wird nicht in erster Linie als intendiert, interesse- oder normgeleitet gesehen, sondern vor allem als wissensbasiert. Insofern fragen wir auch weniger nach den Motiven oder Absichten der beteiligten Personen als nach ihrem Tun und nach dem Wissen, das in dieses Tun eingeht. Dabei handelt es sich aber nicht um reflexives, sondern um praktisches, implizites Wissen (knowing-how-Wissen bzw. tacit knowledge). Für die Forschungspraxis bedeutet dies: Die Teilnehmer der Praxis können ihr Tun nicht explizieren und erläutern (oder nur geringe Teile davon), so dass das Mittel des Interviews an Grenzen stößt (vgl. den Prolog zu diesem Buch) und man auf die Beobachtung der Praktiken selbst verwiesen ist. Das Kernstück einer praxeologischen Analyse ist immer die Beobachtung und Beschreibung der Praktiken in ihrem lokalen Kontext.
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1 Das Projekt Leistungsbewertung in der Schulklasse
Beobachtbare Praktiken lassen sich dann einer fruchtbaren Analyse zuführen, wenn man nach ihrer impliziten Logik fragt. Eine Heuristik, die von einer spezifischen Logik der Praktiken bzw. einer konkreten sozialen Praxis ausgeht, hebt damit auf den historisch und kulturell kontingenten Charakter des praktischen Wissens ab. Damit ist gemeint, dass keine überdauernden, universalen Wissensstrukturen, sondern vielmehr lokale Wissensformen analysiert werden sollen. Dies verweist auf ein Denken in Feldern, dem die Annahme zugrundeliegt, „dass in der sozialen Welt nicht einzelne diskrete ‚soziale Praktiken‘ isoliert vorkommen, vielmehr bildet die soziale Welt lose gekoppelte Komplexe von Praktiken (…)“ (Reckwitz 2003: 295), wobei der Feld-Begriff solche Praktik-Komplexe bezeichnen soll. Als ‚Felder‘ werden hier z. B. institutionelle und organisationelle Zusammenhänge, sozialräumliche Formationen oder kulturelle Lebensstile angesehen. Die zu analysierende ‚Logik der Praxis’ ist eng an einen solchermaßen verstanden Feld-Begriff gekoppelt, denn dieser erlaubt die vielgestaltigen und komplexen Wechselwirkungen zwischen sozialem Kontext und beobachtbaren Praktiken, zwischen Lokalität und den lokalen Wissensformen in den Blick zu nehmen. Das so verstandene „Feld“ schulischer Leistungsbewertung, das den Kontext für die beobachtbaren Praktiken der Leistungsbewertung bildet, ist in der konkreten Unterrichtssituation und in den an die Leistungsbewertung gekoppelten situativen Arrangements zu sehen. 1.4 Über das methodische Vorgehen Um die Eigenlogik des lokalen Kontextes von Leistungsbewertung, das heißt die mit der Notengebung verbundenen sozialen Praktiken zu untersuchen und ihre implizite Logik zu erschließen, bedarf es der gezielten Beobachtung dieser Praxis, einer Beobachtung, die zwar unmittelbar an der Situation teilnimmt, jedoch nicht in die Praxis selbst involviert ist. Wie diese Untersuchung der Unterrichtspraktiken konkret realisiert wurde, wird im Folgenden dargestellt. Wir sehen unser methodisches Vorgehen in der Tradition einer ethnographischen Schul- und Unterrichtsforschung, wie sie im anglo-amerikanischen Raum seit Jahrzehnten etabliert ist und inzwischen auch in Deutschland eine zentrale Forschungsstrategie darstellt (vgl. Breidenstein 2008). „Ethnographie“ ist nicht im engeren Sinn als „Methode“ zu verstehen, sondern als „eine opportunistische und feldspezifische Erkenntnisstrategie“ (Amann/Hirschauer 1997: 20). Dies ist durchaus voraussetzungsreich und kann auf die Feldforscher verunsichernd wirken. Ball (1990) vergleicht die Herausforderung ethnographischen Vorgehens mit „einer Kombination aus Star Trek und Mission Impossible“ und fasst zusammen: „Ethnography involves risk, uncertainty, and discomfort.“ (S. 157) Die
1.4 Über das methodische Vorgehen
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beim Eintritt ins Feld entstehende Verunsicherung des Ethnographen über die spezifischen Regeln und Normen, z. B. das dort angemessene Verhalten, ist geradezu erwünscht, da durch sie der Fokus auf die jeweiligen Spezifika des Feldes gelenkt wird (vgl. Amann/Hirschauer 1997: 19). Die aktive Teilnahme im Feld sowie die Auseinandersetzung mit dem Feld beinhalten ein zentrales Erkenntnispotential der ethnographischen Forschung. Gerade die eigene Erfahrung der Forscher im Feld unterscheidet die Ethnographie von allen anderen Forschungsmethoden. Das Forschungsfeld und die Untersuchungsanlage Den Schwerpunkt der ethnographischen Untersuchung sollten zwei Klassen in kontrastierenden Schulen bilden. In Sachsen-Anhalt ist dies am ehesten über die Schulformen Gymnasium und Sekundarschule zu realisieren7. Die Sekundarschule vereinigt Haupt- und Realschule unter einem Dach, wobei die Schüler in Klasse fünf und sechs gemeinsam und ab der siebten Klasse getrennt nach unterschiedlichen Lehrplänen unterrichtet werden. Allerdings sollten die Schulen hinsichtlich sozialer Rahmenbedingungen vergleichbar sein, um die Unterschiede der Praktiken mit Blick auf die Schulformspezifik diskutieren zu können. Sie sollten also in einem ähnlichen Umfeld liegen, ihre Schülerschaft aus denselben oder vergleichbaren Stadtteilen rekrutieren und keine extremen Positionen hinsichtlich schulischer Selektivität repräsentieren (wie etwa eigene Aufnahmeprüfungen). So können neben der Herausarbeitung schulspezifischer Besonderheiten der Bewertungspraxis im schulübergreifenden Vergleich allgemeine Prinzipien schulischer Selektion aufgezeigt werden. Um mögliche Effekte schulischer Leistungsbewertung auf die soziale Strukturierung der Schulklasse untersuchen zu können, wählten wir Klassen der fünften Jahrgangsstufe, da hier die Zusammensetzung der Schülerinnen und Schüler im neuen Klassenverband nach dem Übergang in die weiterführende Schule stattfindet. Für die Hauptuntersuchung in Sachsen-Anhalt wählten wir je eine fünfte Klasse aus dem Gymnasium und eine fünfte Sekundarschulklasse aus, denen jeweils ein Beobachter schwerpunktmäßig zugeordnet war. Für ergänzende Beobachtungen in Westdeutschland kamen ein Gymnasium und eine Hauptschule in Niedersachsen hinzu. Die niedersächsische Hauptschule schien die Problematik negativer Selektion betreffend am ehesten mit der Sekundarschule in SachsenAnhalt vergleichbar. Insgesamt wurden über einen Zeitraum von drei Jahren (2005-2008) Daten in vier Schulklassen erhoben und zwei Schulklassen von Beginn der fünften Klasse bis zum Halbjahr der siebten Klasse begleitet. 7
Als dritte Schulform gibt es in Sachsen-Anhalt Gesamtschulen, die jedoch im Forschungsprojekt nicht beobachtet wurden.
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1 Das Projjekt Leistungsbew wertung in der Scchulklasse
Abbilddung 1: Der Foorschungsprozzess im Projek kt „Leistungsbbewertung in der Schulkklasse“
1.4 Über das methodische Vorgehen
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Der Feldzugang Die ausgewählten Schulen liegen in sozial gemischten Wohnvierteln und beziehen ihre Schülerschaft aus großen Einzugsgebieten der Stadt. Es handelt sich in beiden Fällen um Halbtagsschulen, die allerdings jeweils über eine Schulkantine verfügen und im Rahmen freiwilliger Angebote Nachmittagsbetreuung anbieten. Weder das Gymnasium noch die Sekundarschule richten sich an eine spezifische Schülerschaft. Am Gymnasium ergab sich die Auswahl der Klasse aus der Bereitschaft einer Klassenlehrerin, ihren Unterricht für das Forschungsvorhaben zu öffnen. An der Sekundarschule gab es nur eine fünfte Klasse, deren Klassenlehrerin sich ebenfalls bereit erklärte. Da sich das Forschungsprojekt auch für den Prozess der Konstituierung einer neu zusammengestellten Schulklasse interessierte, strebte es einen frühzeitigen Einstieg ins Feld an, der möglichst bereits mit dem ersten Schultag beginnen sollte. Dies ließ sich allerdings nicht ganz umsetzen, da es beiden Klassenlehrerinnen wichtig war, die ersten Wochen allein mit ihren neuen fünften Klassen zu verbringen. Der Einstieg ins Feld fand im Fall des Gymnasiums Mitte und an der Sekundarschule Ende September statt. Die Forscher wurden freundlich begrüßt; die meisten Schüler und Schülerinnen und der überwiegende Teil des Lehrerkollegiums reagierten neugierig und offen auf die Ethnographen. Mit den Lehrerinnen und Lehrern wurde vereinbart, dass die Ethnographen ihren Unterrichtsbesuch im Vorfeld ankündigen würden, wobei sich für die Sekundarschule ein spontaner Modus der Unterrichtsbesuche herausbildete. Nach der Etablierung der Teilnehmenden Beobachtung als solcher war es möglich, auch weitere Forscher ins Feld einzuführen (z. B. studentische Hilfskräfte). Teilnehmende Beobachtung im Feld der Schulklasse Die Feldaufenthalte wurden in sechs Erhebungsphasen realisiert, welche jeweils zwischen zwei Wochen und zweieinhalb Monaten dauerten. In diesem Zeitraum beobachteten wir in der Regel an mindestens zwei Tagen pro Woche jeweils zwei bis drei Unterrichtsstunden. Im Zeitraum der ersten Erhebungsphase waren wir bestrebt, möglichst Unterricht in allen Fächern zu beobachten. Das Fach Deutsch wurde nach anfänglichen Versuchen jedoch an beiden Schulen nicht weiter besucht, da beide Deutschlehrerinnen der Ethnographie skeptisch gegenüber standen und die Beobachtungssituation insgesamt zu angespannt war, um sie gewinnbringend fortzusetzen. Darüber hinaus sind die Fächer Sport, Ethik und Werken (an der Sekundarschule) nicht einbezogen worden, da diese Fächer am Gymnasium im Parallelklassenverband unterrichtet wurden und sich auch an der Sekundarschule nicht zur Beobachtung anboten. Ab der zweiten Erhebungs-
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phase richteten sich das analytische Interesse des Projektes und einhergehend auch die Beobachtungstätigkeiten vornehmlich auf die Fächer Mathematik, Kunst, Englisch, Biologie und Geschichte. Dieser Fokussierung lagen erste Auswertungen und der Eindruck zugrunde, dass die Praktiken der Leistungsbewertung in diesen Fächern am stärksten kontrastierten. Im Fach Mathematik wurde Noten vorwiegend mittels ‚harter Kriterien‘ (Auszählen von Punkteständen, Berechnung von Noten anhand von Tabellen) legitimiert, im Kunstunterricht hingegen wurden die Noten vor allem durch das fachmännische Urteil der Lehrperson verbürgt. In den Fächern Biologie, Geographie und Geschichte konnten wir wie im Mathematikunterricht Auszählungs- und Berechnungspraktiken beobachten, aber auch, dass vor allem mündliche Noten unter Einbezug von und Absicherung durch Mitschüler erteilt wurden. Mit der Auswahl der Fächer war es möglich, eine große Bandbreite an Praktiken zu sehen und die Entwicklungen innerhalb dieser Fächer über die Erhebungsphasen hinweg zu verfolgen. Neben der Auswahl der Fächer war die Beobachtung weiter zu fokussieren, da man als Beobachter im Unterricht beständig vor dem Problem steht, dass man keine 25 Personen zur gleichen Zeit beobachten kann. Angesichts des Umstandes, dass eine Unterrichtssituation eine (Über-) Fülle von Ereignissen enthält, war eine Auswahl zu treffen, welche Personen, Ereignisse oder Praktiken zu beobachten und zu beschreiben sind. Dabei nutzten wir zwei sich ergänzende Beobachtungsstrategien: Die erste Strategie richtete sich auf Szenen, in denen es um Leistungsbewertungen, Rückgabe von Tests, mündliche Prüfungen usw. geht. Eine solche Szene ist durch einen thematischen Mittelpunkt (z. B. die Rückgabe einer Klassenarbeit) und ein Set an Praktiken gekennzeichnet (Ankündigung, Aushändigung, Kommentierung, usf.), die sie konstituieren. Die zweite Beobachtungsstrategie zielte auf den Schüler bzw. die Schülerin als Akteur. Dabei verfolgten wir über eine ganze Unterrichtsstunde hinweg die Aktivitäten einzelner Schülerinnen. Diese Strategie ermöglichte es, eine spezifische Perspektive auf das Unterrichtsgeschehen zu gewinnen: Der Schüler strukturiert durch sein Handeln das Geschehen im Klassenzimmer und misst durch seine Art der Bezugnahme den Phänomenen im Klassenzimmer Bedeutungen zu. Das, worauf der Schüler sich bezieht, ist das relevante Ereignis im Unterricht. Meist waren es durch Lehrer dominierte Situationen wie z. B. das Unterrichtsgespräch, daneben führten die Schüler jedoch auch Seitengespräche oder lasen heimlich ein Buch unter dem Tisch. Der Vorteil dieser schülerorientierten Beobachtungsstrategie ist vor allem darin zu sehen, dass man durch sie auf Phänomene stößt, denen man zuvor wenig oder keine Beachtung schenkte; der große Wert der Beobachtungsstrategie liegt in ihrem Potential, als offene und dennoch nicht willkürliche Strategie Beobachtungslücken zu schließen.
1.4 Über das methodische Vorgehen
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Alles in allem kann gesagt werden, dass es uns gelungen ist, in beiden Klassen als teilnehmende Beobachter zugelassen zu werden. Das heißt, wir konnten aus unmittelbarer Nähe die Praktiken der Teilnehmer beobachten und bekamen auf Nachfrage Unverstandenes erklärt. Schwieriger gestaltete sich allerdings die räumliche Gestaltung der Beobachtungen. So war es im Rahmen der gymnasialen Ethnographie schwierig, alle Schülerinnen und Schüler gleichmäßig und ausgewogen zu beobachten, da eine feststehende Sitzordnung es erschwerte, verschiedene Sitzplätze im Klassenraum zu beziehen. So hatten wir krankheitsbedingte Lücken zu nutzen oder bestimmte Fachräume aufzusuchen, um eine halbwegs ausgewogene Beobachtung aller Schüler zu realisieren. Diese Schwierigkeiten traten an der Sekundarschule weniger auf, dort meist mehrere Sitzplätze für die Beobachtung zur Auswahl standen. Die Möglichkeiten und Grenzen der Datenerhebung ergeben sich unmittelbar aus dem situativen und praktischen Gelingen des Feldaufenthaltes. Denn nur dann, wenn der Forscher in seiner Rolle als teilnehmender Beobachter wirklich anerkannt und etabliert ist, ist es ihm möglich, ‚ungeniert‘ zu beobachten, also seinen Blick zu fixieren, beständig mitzuschreiben und Nachfragen an die Akteure des Feldes zu stellen. Dabei hatten wir immer die konkrete, sich beständig wandelnde Forschungssituation zu berücksichtigen und unsere Beobachtungstätigkeiten hierauf einzustellen. Es galt also ein situatives Gespür zu entwickeln, welche Formen von Beobachtung in bestimmten Situationen angewandt werden können und welche besser zu unterbleiben haben. In der Unterrichtssituation konnte in aller Regel fokussiert beobachtetet und mitgeschrieben werden. Auch das Einsetzen von Audioaufzeichnungsgeräten stellte für Schüler wie Lehrer kein Problem dar. Darüber hinaus öffneten die meisten Lehrerinnen und Lehrer ihren Unterricht auch mehreren Ethnographen, so dass wir die Unterrichtssituation aus verschiedenen Perspektiven rekonstruieren konnten. In den Pausensituationen verzichteten wir auf Zettel und Stift, da dies die informellere und beweglichere Situation der Pause über Gebühr strapaziert hätte. Infolgedessen veränderte sich auch der Modus der Datenerhebung: Die Ethnographen führten in den Pausen informelle Gespräche mit den Schülerinnen und Schülern aber auch den Lehrerinnen. Sie ließen sich unverstandene Beobachtungen erklären und notierten die wichtigsten Sachverhalte zu Beginn der sich anschließenden Unterrichtsstunde oder aus dem Gedächtnis zu Hause. Ferner ist es uns darüber hinaus gelungen, Zutritt zu Zeugniskonferenzen zu erlangen. Im Rahmen dieser Konferenzen war es uns erlaubt, handschriftliche Notizen anzufertigen. Neben der Protokollierung bzw. Aufzeichnung des Unterrichtsgeschehens haben wir auch andere Daten gesammelt: Dokumente wie z. B. Arbeitsblätter, aber auch Fotografien von Plakaten, Klassenarbeiten oder Tafelbildern. Zum Ende der zweiten Erhebungsphase haben wir mit jeweils acht ausgewählten Schülerinnen und Schülern
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1 Das Projekt Leistungsbewertung in der Schulklasse
pro Klasse Interviews geführt. Die Auswahl der Schüler erfolgte nach der Prämisse, einerseits ein möglichst vielfältiges Spektrum an Haltungen gegenüber dem Geschehen der Leistungsbewertung, und andererseits Positionen innerhalb der Leistungshierarchie der jeweiligen Klasse abzubilden. Im Rahmen der Interviews sind die Schüler zu ihren Einstellungen zu Schule, Noten, ihren Mitschülern, Hausaufgaben usf. befragt worden. Beschreiben und Dokumentieren Ethnographisches Forschen ist während aller Phasen des Forschungsprozesses durch intensive Schreibarbeit gekennzeichnet; sie beginnt mit der ersten Beobachtung im Feld.8 Dabei ist die Verschriftlichung von Beobachtungen kein bloßes ‚Aufzeichnen‘ beobachteter Situationen, sondern selbst schon Deutung und Interpretation: „Aufschreiben ist stets ein selektiver Akt des Zur-SpracheBringens von Erfahrung, der zugleich eine Verschriftlichung (oder: Codierung) von Phänomenen ist, die zuvor keine Texte waren. Aufschreiben macht aus Erfahrungen Daten, die selbst zum Gegenstand und Ausgangspunkt weiterer Erfahrungen gemacht werden können.“ (Amann/Hirschauer 1997: 30) Dem Ethnographen kommt also im Feld eine besondere Rolle zu, er fungiert selbst als „Erhebungsinstrument“ (vgl. ebd., auch Ball 1990: 157), gerade auch dort, wo technische Aufnahmegeräte Begrenzungen aufweisen – im ‚Erleben‘ und ‚Mitempfinden‘ der Situation. Im Zuge unserer Dokumentationsarbeit haben sich zwei Hauptvarianten des ethnographischen Protokollierens herausgebildet. Zielte das ethnographische Protokoll auf Beschreibungen von mündlichen Prüfungen, die Abbildung von Lehrerinnenmonologen, die Rückgabe von Klassenarbeiten oder andere Situationen, in denen viel (und schnell) gesprochen wird, dann bildet die Audioaufzeichnung das Gerüst der Beschreibung. Dem Transkript werden dann diejenigen Feldnotizen und/ oder Erinnerungen hinzugefügt, welche durch die Audioaufzeichnung nicht erfasst werden, wie zum Beispiel mimische und gestische Kommentare der Schüler. Galt die Beschreibung allerdings einer Schülerin, die an einem Kunstwerk arbeitet, eine Klassenarbeit schrieb oder Mathematikaufgaben rechnete, dann stellten vorwiegend unsere Feldnotizen die Basis für das ethnographische Protokoll dar. Die ‚Vernachlässigung‘ der Audiodaten ist einerseits logische Folge des Umstandes, dass ein Tonband solche stillen Tätigkeiten nicht zu fassen vermag, andererseits sind solche Situationen des Bemühens, der Freude am Gelingen bzw. des Ärgers am Misslingen durch eine angemessene
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Vgl. zum methodischen Vorgehen v. a. Hammersley und Atkinson (2008) und Emmerson, Fretz und Shaw (2003), die unserer Einschätzung nach die derzeit ergiebigsten Einführungen in ethnographisches Forschen darstellen.
1.4 Über das methodische Vorgehen
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Sprache auch im Hinblick auf „sozial leise“ Phänomene abzubilden (vgl. Meier 2004). Daten auswerten und die Entwicklung ethnographischer Studien Die Datenauswertung orientierte sich an Vorgehensweisen der Grounded Theory (vgl. Strauss 1987, Strauss/Corbin 1996, Strübing 2004). Ein wichtiger erster Schritt besteht im „offenen Kodieren“, welches auf die analytische Erschließung der Daten abzielt. Im Zuge des in-vivo-Kodierens werden Kodes und Begriffe direkt an den Daten entwickelt. Dabei werden Begrifflichkeiten des Feldes genutzt, um angemessene Kategorien für das beobachtete Geschehen zu finden und zugleich bereits entwickelte Begrifflichkeiten am Material geprüft. Zunächst wurde also das Datenmaterial durchgearbeitet, um mit kurzen und prägnanten Kodes interessante Situationen zu markieren. Im Zuge des Kodierens sind wir auf besonders aufschlussreiche und zunächst befremdliche oder gar ‚unverständliche‘ Protokollstellen gestoßen. Diesen Szenen ist gemein, dass sie über einen hohen Grad an Anschaulichkeit, Facettenreichtum oder hohe Symbolhaltigkeit verfügten; diese sind dann in Projektsitzungen sequenzanalytisch auf ihre prozessuale Entfaltung hin untersucht worden. „Die Sequenzanalyse ist die Methodisierung der Idee einer sich im Interaktionsvollzug reproduzierenden sozialen Ordnung.“ (Bergmann 1985: 313) Hier geht es darum, „die von den Interagierenden in ihrem Handeln hervorgebrachte soziale Ordnung in ihrer realen Prozesshaftigkeit zu bestimmen“ (ebd.). Dabei wird die Situation Satz für Satz auf ihre Vollzugslogik hin befragt: Was geschieht hier? Welche Struktur wird erkennbar? Für welche handlungspraktischen Probleme stellt die in den Praktiken hergestellte Ordnung eine Lösung dar? (siehe auch Bergmann 2004: 533, Krummheuer/Naujok 1999: 68ff.) Mit der Fokussierung zentraler Praktiken schulischer Leistungsbewertung rückten exemplarische Beschreibungen dieser Praktiken in den Mittelpunkt der gemeinsamen Interpretationsarbeit. Diese ausgewählten Protokollstellen zeichnen sich wiederum durch einen möglichst hohen Grad an Detaillierung und durch eine möglichst umfassende Beschreibung der fokussierten Praktiken aus. Nach Abschluss der ersten Feinanalyse einer Szene wurde im Datenmaterial nach Kontrastfällen gesucht, die ebenfalls sequenzanalytisch auf ihre Struktur und Prozesslogik untersucht wurden. Durch diese Kontrastierung war es möglich, markante Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten von Situationen herauszuarbeiten und im Hinblick auf ihre Verallgemeinerbarkeit zu diskutieren. Ein weiteres Mittel der Auswertung war das Schreiben kurzer Texte zu einem Thema oder einer Theorie – „Memos“. Dabei handelt es sich weniger um bereits ausgefeilte Analysen als vielmehr um eine erste Formulierung von Gedanken und Auseinandersetzung mit Themen, die sich zum Teil
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1 Das Projekt Leistungsbewertung in der Schulklasse
direkt aus der Beobachtung im Feld, bei der späteren Lektüre der Feldprotokolle, der Kodierung etc. ergeben (vgl. Emmerson/Fretz/Shaw 2003). Diese Memos geben einerseits Hinweise für fokussiertere Beobachtungen, andererseits bilden sie die Grundlage tiefer gehender Analysen. Die Herausforderung des Schreibprozesses liegt insgesamt betrachtet darin, das Wesentliche eines Feldes abzubilden und theoretisch pointiert herauszuarbeiten, ohne sich dabei in der Vielfalt der Phänomene oder in Nebensächlichkeiten zu verlieren. Die Komplexität ist so zu reduzieren, dass Konturen und Merkmale der beobachteten Praxis erkennbar werden. 1.5 Aufbau des Buches Die vorliegende Monographie ist in vier große Kapitel untergliedert für die jeweils unterschiedliche Autoren verantwortlich zeichnen. Die Kapitel zwei und drei stellen in sich geschlossene ethnographische Studien dar, die auch einzeln gelesen werden können.9 Die Brisanz der Analysen zum Alltag schulischer Leistungsbewertung liegt aber unserer Einschätzung nach in der Kontrastierung der Beobachtungen von Gymnasium und Sekundarschule. Die gemeinsame Publikation der beiden ethnographischen Studien soll die vergleichende Lektüre und die unmittelbare Reflexion der sich zeigenden Kontraste ermöglichen. In Kapitel zwei „Die Praktiken des Schulerfolgs“ beschreibt Michael Meier wie in einer gymnasialen Schulklasse durch die Kooperation aller Beteiligten Schulerfolg im Sinne guter Noten für (fast) alle Schülerinnen und Schüler der Klasse hergestellt wird. Kontrastierend dazu beschreibt Katrin Zaborowski in Kapitel drei „An den Grenzen des Leistungsprinzips“ einen gänzlich anderen Umgang mit der Leistungsthematik an der Sekundarschule, einer kombinierten Schulform, die Realschulzweig und Hauptschulzweig umfasst. Die hier beobachteten Praktiken zielen nicht primär auf Schulerfolg, sondern auf die Regulierung des Schülerverhaltens, welche in letzter Konsequenz die Hervorbringung ‚schlechter‘ Schüler begünstigt. In Kapitel vier „Unterrichtsinteraktion und implizite Leistungsbewertung“ untersuchen Georg Breidenstein und Theresa Bernhard jene Formen impliziter und expliziter Bewertung von Schüleräußerungen, die nicht in Form von Zensuren kodiert werden, sondern die alltägliche Unterrichtsführung steuern. Das abschließende fünfte Kapitel greift Ergebnisse aus den Einzelstudien auf und diskutiert übergreifende Aspekte des Alltags schulischer Leistungsbewertung. 9
Zugleich handelt es sich um überarbeitete Fassungen der Dissertationen von Michael Meier und Katrin U. Zaborowski.
1.5 Aufbau des Buches
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Zum Entstehen dieses Buches haben viele Personen beigetragen. Wir danken den Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern der beteiligten Klassen. Ohne ihre Bereitschaft, sich über Wochen und Monate beobachten zu lassen, wäre die vorliegende Studie nicht möglich gewesen. Wir danken der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) für die Finanzierung des zugrunde liegenden Forschungsprojektes und allen Kolleginnen und Kollegen am Zentrum für Schulund Bildungsforschung (ZSB) und darüber hinaus für Diskussionen und Rückmeldungen. Lina Ellsiepen und Christin Menzel danken wir für ihre Unterstützung bei der Korrektur und Formatierung des Manuskriptes.
2 Die Praktiken des Schulerfolgs Michael Meier
2.1 Einleitung Gymnasium. Zeugniskonferenz fünfte Klasse. Als nächstes stellt die Klassenlehrerin Frau Sommer fest, dass kein Schüler versetzungsgefährdet sei. Alles in allem sei das Bild der Klasse ein sehr positives, das man hier sehen könne. Es gäbe zehn Jungen und 16 Mädchen in dieser Klasse, und die Bilanz sei wirklich positiv. Alle Schüler dieser Klasse hätten die neuen Anforderungen an dieser Schule erfüllt. Sie wären fleißig, machten die Hausaufgaben und wären zu Anstrengungen bereit. Dies alles zeige, dass sich die Schüler gut an dieser Schule eingewöhnt hätten. [...] Es handele sich insgesamt um eine Klasse, die spitze ist, fährt Frau Sommer fort. Die Klasse selbst lasse sich nicht wirklich in ein Spitzenfeld und in ein Mittelfeld unterteilen. 26 Schüler mal zehn benotete Fächer mache insgesamt 260 Zeugnisnoten, rechnet Frau Sommer vor. Davon wären 74 Einsen und 133 Zweien, was hieße, dass über 80% aller Noten Einsen oder Zweien wären. [...] Mit der Frage, ob es seitens der Fachlehrer Bemerkungen gebe, schließt Frau Sommer ihre Ausführungen. Die Kunstlehrerin Frau Gründel ergreift das Wort: Die Klasse möge bitte so bleiben wie sie ist, „aber einige dürften auch noch ein bisschen besser werden.“ Frau Sommer entgegnet, dass fast keine Steigerung mehr möglich sei. Ob denn die Elternvertreter etwas anzumerken hätten? – Kopfschütteln. [...] Nun ergreift Frau Nalinski das Wort: Sie arbeiten alle sehr gut mit. Sie seien eifrig. Sie machten gut mit und wären interessiert. Die anderen Klassen, sie unterrichte ja alle fünf fünften Klassen, wären auch gut, aber diese besonders. Die Deutschlehrerin Frau Lehmann pflichtet bei: Sie wären sehr diszipliniert. Das sei sehr wichtig. Man könne pünktlich anfangen. Sie würden mitarbeiten und sich Gedanken machen. Das seien alles sehr gute Voraussetzungen, um zu arbeiten. Ja, ergänzt Frau Sommer, sogar die sechste Stunde in Mathe meistern sie. Frau Lehmann zieht einen Trumpf: Sogar freitags in der fünften und sechsten Stunde würde Deutsch gut laufen! Frau Sommer blickt nun zu den Schülervertretern und fragt sie, ob sie noch was sagen wollen. Alle drei schütteln den Kopf. Frau Sommer stellt fest, dass die Zeugniskonferenz ordnungsgemäß verlaufen sei. Dann fragt sie die Schulleitung, ob sie noch etwas dazu zu sagen habe. „So ein Zensurenbild“, sagt die stellvertretende Schulleitung, habe sie lange nicht mehr gesehen. „Es soll so bleiben!“ Damit schließt die Zeugniskonferenz.
80% Einsen und Zweien! – Angesichts dieses Erfolges scheinen die Lehrerinnen der Klasse beinahe sprachlos zu sein. An die Stelle einer Rückschau, kritischer Betrachtungen oder pädagogischer Handlungsempfehlungen tritt in dieser Zeugniskonferenz ein Staccato sich überbietenden Lobes. Die abschließenden Worte K. U. Zaborowski et al., Leistungsbewertung und Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93218-7_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Die Praktiken des Schulerfolgs
„Es soll so bleiben!“ markieren allerdings einen ungewissen Zustand: Die Zukunft bleibt offen und die Schülerinnen und Schüler müssen nach wie vor viel dafür tun, dass die Noten so gut bleiben. Die Schüler haben sich auch weiterhin zu bewähren. Ihre unterschwellige Skepsis mag in dem Umstand gründen, dass die Übergangsphase von der Grundschule zum Gymnasium in aller Regel ein Prozess ist, in dem die Schülerinnen und Schüler mit einer „Nachselektion“ (Nittel 1992: 257) zu rechnen haben. „Im Durchschnitt kommt es in der fünften Klasse zu einer Notenverschlechterung um etwa eine halbe Note und im weiteren Verlauf der Schullaufbahn zu einer Verschlechterung um eine weitere halbe Note“ (Koch 2004: 556). Angesichts eines erwartbaren Leistungsabfalles und einer neuen Differenzierung der Schülerinnen und Schüler in ,gute‘ und ,schlechte‘ stellen 80% Einsen und Zweien in einer fünften Gymnasialklasse ein außergewöhnliches Phänomen dar – es bildet den Ausgangspunkt und den Gegenstand der vorliegenden Studie. Es wird danach gefragt werden, was das ‚Geheimnis‘ dieser Klasse ist. Wie kann es sein, dass 80% der Schülerinnen und Schüler sehr gute oder gute Noten erwerben? Wie wird Schulerfolg praktisch hergestellt? Welche Probleme stellen sich den Schülerinnen und Schülern? Welche Probleme haben die Lehrerinnen und Lehrer zu bearbeiten? Was sind die Praktiken des Schulerfolges? Der Fokus der Studie liegt auf Praktiken von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern, die Schulerfolg hervorbringen. Konkret wird gezeigt, wie schulische Leistung und gute Noten als interaktive Konstruktion durch Praktiken hervorgebracht werden. Im Zeitraum der fünften und sechsten Klasse waren die Leistungen der Gymnasialklasse überdurchschnittlich gut, zum Zeitpunkt der siebten Jahrgangsstufe ist allerdings ein Abfall der Leistungen zu verzeichnen. Somit wird für die Analyse der interaktiven Hervorbringung von Schulerfolg vorwiegend auf Datenmaterial der fünften und sechsten Jahrgangsstufe zurückgegriffen. Im Kapitel 2.5 „Beobachtungen im Längsschnitt“ werden Praktiken, die mit dieser Entwicklung in Zusammenhang stehen, beschrieben und analysiert. Damit rekonstruiert die Studie sowohl die Praktiken des Schulerfolgs als auch diejenigen der leistungsmäßigen Normalisierung. Der Aufbau dieser Studie gliedert sich in sechs Teile. In der Einleitung werden die Fragestellung der Studie sowie kursorisch der Forschungsstand dargestellt. Das Kapitel 2.2 führt am Beispiel des Schülerverhaltens in die Welt der Gymnasialklasse ein. Das Kapitel 2.3 behandelt die Praktiken der Unterrichtsorientierung. Diese dienen dazu, den Schülerinnen und Schülern im Unterricht aber auch im Vorfeld von Prüfungssituationen deutlich werden zu lassen, was die an sie gestellten Aufgaben sind. Im folgenden Kapitel (2.4) stehen schließlich Situationen der Leistungsbewertung im Zentrum. Thematisiert werden die Alltäglichkeit von Leistungsbewertungen, Praktiken der Hervorbringung guter
2.1 Einleitung
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Schüler, Praktiken der Notenlegitimierung, der Kulanz und positiver ImageErzeugungen. Das Kapitel 2.5 untersucht am Beispiel von Noten- und Zeugnisausgaben den Wandel der Praktiken von der fünften zur siebten Klasse. Im Rahmen der Studie werden Schulnoten als der Indikator für Schulerfolg angesehen (vgl. hierzu auch: Helsper/Hummrich 2005: 313, Rodax/Spitz 1978: 76), nicht zuletzt deshalb weil für die Teilnehmer des Forschungsfeldes – also Schüler, Eltern und Lehrer – Noten das Kriterium für Schulerfolg sind. Im Rahmen dieser Arbeit wird also dann von Schulerfolg (bzw. schulisch erfolgreich) die Rede sein, wenn Schülerinnen und Schüler gute Noten bekommen. Die hier verwandte Definition des Begriffs Schulerfolg ist insofern angemessen, da die Untersuchung nicht nur einzelne schulisch erfolgreiche Schülerinnen und Schüler fokussiert, sondern die Praktiken einer ganzen, besonders leistungsstarken Gymnasialklasse in den Blick nimmt. Wesentlich für diese Untersuchung ist die Tatsache, dass die Schülerinnen und Schüler dieser Klasse, gemessen am Kriterium der Noten, überdurchschnittlich erfolgreich sind und dass die signifikanten Anderen – Eltern und Lehrer – diese Deutung teilen. Diese Studie wird sich also nicht mit der Frage beschäftigen, ob die Schülerinnen und Schüler dieser Gymnasialklasse wirklich so gut sind, wie es durch die Noten nahegelegt wird, sondern wie sich der Unterricht dieser erfolgreichen Schulklasse gestaltet und welche Praktiken sie nutzen, um zu überdurchschnittlich guten Noten zu kommen. Also: Was sind das für Praktiken, die diese Schüler so erfolgreich machen? Wie stellen sich die Praktiken auf der Ebene des Sozialverhaltens dar? Wie beziehen sich die Schüler auf den Unterricht? Wie gehen sie mit Leistungsbewertungen um? Welche Bedeutung haben gute Noten für diese Schüler? Was machen die Schüler bei schulischem Misserfolg? Was tun die Lehrerinnen und Lehrer? Und: Wie gestaltet sich das Zusammenspiel von Lehrern und Schülern? Mit der vorliegenden Studie wird ein Beitrag zur Aufklärung eines äußerst komplexen und vielschichtigen Phänomens geleistet. Bedingungen bzw. begünstigende Faktoren des Schulerfolgs werden seit geraumer Zeit erforscht und diskutiert, aber die Ebene des Verhaltens schulisch erfolgreicher Schüler im Unterricht ist – zumindest im deutschsprachigen Raum – bisher nicht systematisch untersucht worden. Zunächst einmal liegt das Ziel der Studie darin, Schulerfolg auf der Ebene von Unterrichtspraktiken zu beschreiben und zu analysieren. Hierbei liegt der Fokus auf dem Zusammenhang von Unterricht, Schulerfolg und Peerkultur. Ziel der Studie ist nicht, isolierte Variablen zu untersuchen und ihre Beziehungen zu diskutieren (so wie es vor allem in der psychologisch orientierten Forschung seit geraumer Zeit geschieht), sondern ein zusammenhängendes Bild vom Handeln schulisch erfolgreicher Schülerinnen und Schüler und ihrer Lehrerinnen und Lehrer zu präsentieren.
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2 Die Praktiken des Schulerfolgs
Die Disziplinen Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaften forschen seit über 80 Jahren zu den Bedingungen des Schulerfolges. Der Stand der Forschung ist von einer großen Breite und Ausführlichkeit, aber auch von einer teilweise widersprüchlichen Befundlage gekennzeichnet. Dass bis zum heutigen Tage keine umfassende oder einheitliche Theorie des Schulerfolges vorgelegt wurde (vgl. Sauer 2001: 546, Helmke/Weinert 1997, Kühn 1983: 13), demonstriert anschaulich die Komplexität des Phänomens Schulerfolg. Die primären Linien der Diskussion gründen einerseits in einer soziologisch und andererseits in einer psychologisch orientierten Forschungsperspektive. Rodax und Spitz (1982) berichten von schichtspezifischen Forschungen zum Schulerfolg seit 1917 (ebd.: 30f.), und Jencks et al. (1973) vermerken, dass ebenfalls seit 1917 mittels testpsychologischer Verfahren die US-Armee Intelligenz und Leistung ihrer Rekruten ermittelte, um von diesen Ergebnissen ausgehend die weitere Ausbildung, wie zum Beispiel die Eröffnung einer Offizierslaufbahn, abhängig zu machen (ebd.: 99). Während die erste Forschungslinie vor allem soziale Umweltfaktoren wie Schichtzugehörigkeit als wesentlichen Faktor für schulischen Erfolg betonte, fokussierte die zweite Forschungslinie (die Vererbung von) Persönlichkeitsvariablen wie Intelligenz, Motivation oder Willen. Ab den 1930er-Jahren kam es zu einer Serie von Zwillingsstudien, welche die Frage des Einflusses auf die Persönlichkeitsentwicklung durch Anlage- oder Umweltbedingungen untersuchten. Diese Studien deuteten die „Unterschiede des Schulerfolgs explizit oder implizit nicht selten als Folge genetischer Unterschiede der Begabung“ (Rodax/Spitz 1982: 25). Die Forschungen der 1960er- und 1970erJahre haben die Dominanz der eher psychologisch orientierten Anlage-Theorien relativiert und den Einfluss der sozialen Umwelt auf schulische Leistungen bestätigt (vgl. Czerwenka et al. 1990: 96). Nach Helmke/Schrader (2001) ist der wichtigste Prädiktor für Schulerfolg die Intelligenz. Die mittleren Korrelationen von Intelligenz und Schulerfolg liegen zwischen r =.50 und r =.60 (vgl. dies.: 82; Kühn 1983: 18ff.). Andererseits weisen Sauer und Gamsjäger (1996: 275) darauf hin, dass die Interkorrelation von Schichtzugehörigkeit und Intelligenz bei r =.40 liegt. Das bedeutet, dass die Intelligenz einer Schülerin bzw. eines Schülers nicht unabhängig von der Schichtzugehörigkeit und ihren materiellen Ressourcen ist (vgl. auch Rolff 1997: 184f., 186). Die Forschungslage kann dahingehend zusammengefasst werden, dass Schulerfolg am besten durch die Variable Intelligenz prognostiziert werden kann, wobei diese Variable von sozialen Einflüssen wie der Schichtzugehörigkeit, dem Milieu oder der schulischen und außerschulischen Umwelt abhängig ist. Heller (1995a: 984ff; 1995b: 985) fasst die wichtigsten Prädiktoren für Schulleistungsprognosen wie folgt zusammen:
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„1. Schülerpersönlichkeit 1.1 Vorwissen/Leistungsstand 1.2 Kognitive Fähigkeitsmerkmale 1.3 Nichtkognitive Merkmale 2. Soziale Lernumwelt 2.1 Schule 2.2 Familie (Eltern) 2.3 Peergroup“
Im Unterschied zu diesen Forschungsansätzen der Psychologie und Soziologie wird mit dieser Studie an eine Forschungstradition der interaktionistischen und ethnographischen Unterrichtsforschung angeknüpft und auf Praktiken des Schulerfolges fokussiert. Studien, die sich explizit mit den Praktiken des Schulerfolgs beschäftigen, gibt es im deutschsprachigen Raum nicht. Ferner sind „Studien, die sich mit dem Zusammenhang von subkultureller Einbindung und Schulerfolg befassen, [...] seit den 1980er-Jahren in Deutschland kaum weitergeführt worden und besitzen einen eher singulären Status“ (Helsper/Hummrich 2005: 130). Die vorliegende Studie greift die Linie ethnographischer und peerkultureller Forschung auf und fragt, durch welche Praktiken Schülerinnen und Schüler (in Kooperation mit Lehrern) Schulerfolg herstellen. Es geht im Folgenden also um die interaktive, soziale Konstruktion von Schulerfolg durch Praktiken. 2.2 Über das Verhalten des erfolgreichen Schülers Der Zugang zum Feld wurde im Rahmen von Besichtigungen mehrerer Gymnasien und Sekundarschulen hergestellt. Die Kontaktaufnahme zur ostdeutschen Gymnasialklasse gestaltete sich erstaunlich unproblematisch. Kurz vor den Sommerferien im Jahr 2005 suchten Katrin Zaborowski und ich unangekündigt Schulen einer ostdeutschen Großstadt auf, die vom Einzugsgebiet und von ihrem Schulprofil für unser Forschungsvorhaben interessant sein könnten. Wir besichtigten mehrere Schulen und kamen teilweise mit Lehrerinnen und Lehrern ins Gespräch. In dem Gymnasium, welches wir später für die Forschung auswählten, trafen wir auf die Schulleiterin Frau Müller. Wir erklärten ihr den Grund unseres Aufenthaltes und stellten ihr ad hoc unser Forschungsinteresse vor. Frau Müller signalisierte grundsätzlich Bereitschaft, uns Zugang zu einer fünften Klasse zu gewähren, aber dies müsse noch mit ihren Kolleginnen und Kollegen besprochen werden. Im Rahmen eines weiteren Treffens (diesmal unter Federführung von Georg Breidenstein) erörterten wir in einem etwas größeren Rahmen unser Forschungsvorhaben. Schlussendlich bekamen wir die Erlaubnis zur Forschung durch die Schulleitung und das Schulamt erteilt. Die Zustimmung der Eltern war ebenfalls unproblematisch und sie willigten – mit einer Ausnahme – schriftlich
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2 Die Praktiken des Schulerfolgs
in die Teilnahme am Forschungsvorhaben ein. Die Auswahl der Klasse ergab sich durch die Bereitschaft einer Klassenlehrerin, ihren Unterricht für das Forschungsvorhaben zu öffnen. Das Gymnasium liegt in einem ein wenig verschlafenen Wohnviertel einer ostdeutschen Großstadt. Große Teile des Stadtgebietes gehören zum Einzugsgebiet der Schule, wobei sich die Schülerschaft überwiegend aus einem bildungsbürgerlichen Akademiker-Milieu zu rekrutieren scheint. Viele Schülerinnen und Schüler der Klasse besuchten vor ihrem Übertritt an das Gymnasium eine reformpädagogisch orientierte Grundschule. Das Gros der Klasse lernt ein Musikinstrument oder ist künstlerisch interessiert. Der Kleidungsstil der Schüler kann im Beobachtungszeitraum 2005-2007 als lässig-funktional (z. B. TrekkingKlamotten) bezeichnet werden. Dieser Stil scheint nicht nur für die Schülerinnen und Schüler der Klasse kennzeichnend zu sein, sondern auch auf die meisten Kinder der Schule zuzutreffen. Auf dem Pausenhof sieht man gelegentlich Kleidungsstile, welche eher einer linksalternativen Jugendkultur zugerechnet werden können. Der Schulkomplex, der in der funktionalen Plattenbau-Architektur der 1970er-Jahre konzipiert ist (Modell Erfurt), besteht aus mehreren Gebäuden und einer großen Schulkantine. Nachmittags bietet die Schule zahlreiche Arbeitsgruppen auf freiwilliger Basis an. Durch die Nutzung dieser Angebote kann der Schulbesuch bis weit in den Nachmittag ausgedehnt werden, so dass eine beinahe ganztägige pädagogische Betreuung durch die Lehrerinnen und Lehrer gegeben ist. Alles in allem scheint das Angebot und das Profil dieser Schule für die Schülerinnen und Schüler ebenso wie für die Eltern sehr attraktiv zu sein, so dass es zu hohen Anmeldezahlen kommt. Am 12. November 2005 betrete ich das Schulgebäude, um mit der Beobachtung der Gymnasialklasse zu beginnen. Auf dem Flur treffe ich zum ersten Mal auf Schülerinnen und Schüler des Gymnasiums: Ich betrete das Gebäude und verliere mich ein wenig in den Schülermassen, die sich in der Pause durch die Flure drücken. Erstaunlich geglückt erscheint mir die Auswahl der Jahrgänge zu sein. (Nur die Unterstufe und Abiturientia sind in diesem Schulgebäude untergebracht). Die Schüler quetschen sich auf den Treppen und in den Fluren aneinander vorbei, was ruhig und ‚sachlich‘ geschieht. Es gibt kein Geschubse, keine Hektik oder ausladende Selbstdarstellungen.
Die Ruhe und Ordnung, mit der sich die Schülerinnen und Schüler im Treppenhaus aneinander vorbei zu bewegen wissen, erstaunt mich vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen, die ich im Rahmen einer Ethnographie einer Gesamtschule gewonnen habe. Im Portal des Schulgebäudes steht ein Schaukasten, in welchem Gebote und Verbote in Form von Verkehrsschildern ausgestellt sind. Diese sind vermutlich von einer fünften oder sechsten Klasse angefertigt worden. Auf ihnen ist zu lesen: „Nicht rumschreien“; „Nicht stehlen“, „Nicht rumkommandieren“,
2.2 Über das Verhalten des erfolgreichen Schülers
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„Küssen verboten“, „Keine anderen ausschließen“, „Keine Kaugummis unter die Bank kleben“, „Keine Briefe im Unterricht verschicken“, „Keine Regeln brechen“, „Nicht die Wände beschmieren“, „Nicht kippeln“, „Prügeln verboten“, „Fahren verboten“ [das Verbotsschild zeigt Inline-Skates], „Schlafen in der Schule verboten“, „Gewalt verboten“, „Randale verboten“, „Keine Hänselei“. Ein Plakat richtet sich auch an die Lehrer: „Kuscheln (auch für Lehrer) verboten“. Kurze Zeit später betrete ich den Klassenraum und begrüße Frau Sommer. Ich stelle mich den Schülerinnen und Schülern vor und setze mich auf den einen der beiden freien Plätze im Klassenraum: Frau Sommer beginnt den Unterricht. Ich lasse meinen Blick über die Kinder schweifen, um mich zu orientieren und um ein Gefühl für die Klasse zu entwickeln. Die Schüler erscheinen mir so jung und klein und brav. Das wird eine Herausforderung, diese feinen Unterschiede auszuleuchten, mir ‚pastellierendes Schreiben‘ anzueignen! Mein Blick verliert sich im Flächigen. Er ist unfokussiert, da er die feinen Unterschiede und Zeichen nicht zu deuten weiß. Meine Beobachterposition (hinten rechts) ist ungünstig. Ich sehe Hinterköpfe aber nur wenige Gesichter. Und hören kann ich die Schüler kaum. Wenn sie an ihren Tischen mal kurz wispern, dann ist es dieses die Köpfe zusammensteckende Kinderwispern.
Bereits die erste Beobachtung konfrontiert mich mit einem Phänomen, das für meine Auseinandersetzung mit der Klasse im Rahmen meiner Untersuchung bestimmend sein wird. Diese Wahrnehmung nehme ich mir zum Anlass, mir ‚pastellierendes Schreiben‘ aufzuerlegen, um die feinen Unterschiede ihres Verhaltens überhaupt sehen und beschreiben zu können. Die Homogenität und ‚Dezentheit‘ des Schülerhandelns stellen sich als ein Beobachtungsproblem dar. Meine Aufgabe als Ethnograph ist es, Schülerverhalten zu beobachten, und ich benötige für diese Beobachtungen ‚gut lesbares‘ und individuell zurechenbares Schülerhandeln. Wie soll ich den Umgang der Schülerinnen und Schüler mit Situationen der Leistungsbewertung beschreiben, wenn ich ‚kaum etwas sehe‘? Die Kinder sprechen – wenn überhaupt – nur sehr leise und kurz miteinander, sie verhalten sich sehr brav und einförmig. – Wie soll ich unterschiedliche Schülerpersönlichkeiten und ihren Umgang mit Unterrichtssituationen beschreiben, wenn sich alle Schüler einförmig und diszipliniert verhalten? Ich bin zwar anwesend, aber ich bin noch lange nicht ‚drin‘ im Feld. Dieses Verhalten, das Lehrerinnen und Lehrer möglicherweise als ‚optimale Bedingungen‘ für gelingenden Unterricht bezeichnen würden, stellt für einen Ethnographen eine große Herausforderung dar. Doch was ist dieses ‚brave‘ Verhalten? Und was lässt sich an diesem Verhalten über Praktiken des Schulerfolgs erfahren? – Es gilt den Blick auszudifferenzieren und die Praktiken der Kinder genauer kennen zu lernen.
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2.2.1 Diszipliniertes und kooperatives Verhalten Natürlich sind die Schülerinnen und Schüler nicht in jeder Unterrichtsstunde absolut diszipliniert und kooperativ. Aber in aller Regel zeigen sie sich aufmerksam und folgsam. Ihr Benehmen ist gesittet und sie gehen pfleglich mit ihren Arbeitsmaterialien um. Und auch noch am Ende eines langen Schultages halten sie die Unterrichtsdisziplin aufrecht. Alles in allem zeichnet sich das Verhalten der Schülerinnen und Schüler dadurch aus, dass sie in besonders deutlicher Weise in ihrer Rolle als Schüler agieren und durchaus an das von Böhme (2000) beschriebene Schülerideal eines „gemeinschaftsorientierten Leistungsasketen“ (ebd.: 82) erinnern, dessen Gegenmodell das der „hedonistischen Erlebnishaftigkeit“ (ebd.: 83) darstellt. Kramer (2002) beschreibt diesen Schülertyp als einen, der die Grundschulzeit erfolgreich bewältigt hat und aus der „Konfrontation von Selbst und Schule“ nun ein Schülertyp hervorgegangen sei, der bereit ist, die „von der Schule [...] geforderte Aufmerksamkeit“ (253) aufzubringen, weitestgehend „außerschulische Einflüsse als ‚Störgrößen‘ des Lernprozesses ausschaltet“ (ebd.) und über eine „habituelle Nähe zur Schule“ (ders.: 236) verfügt. Kein Schüler der Klasse wird als Streber etikettiert. Helsper und Hummrich (2008: 55) sehen eine Erklärung darin, dass angesichts eines bildungsambitionierten und kulturorientierten Herkunftsmilieus peerkulturelle Sanktionen ausbleiben. Es ließe sich mit Blick auf die Klasse allerdings auch argumentieren, dass die Peerkultur die (sehr) guten Leistungen nicht sanktionieren muss, da im Zeitraum der fünften und sechsten Klasse alle Schülerinnen und Schüler sehr gute oder wenigstens gute Schüler sind. So gern Lehrerinnen und Lehrer möglicherweise ein Schülerverhalten haben, welches von diesen Kennzeichen bestimmt ist, stellt es für einen Ethnographen eine Herausforderung dar, da sich die Schülerinnen und Schüler jenseits ihrer Rolle als Schüler weitgehend unauffällig verhalten. Bennewitz (2004) hatte im Rahmen ihrer Gymnasialethnographie viel Zeit in vertrauensbildende Maßnahmen und methodisches Geschick aufzubringen, um das Hinterbühnengeschehen der Gymnasiastinnen Helena und Fabienne erforschen zu können. Dass derart braves Verhalten schwierig zu beobachten und noch schwieriger zu beschreiben ist, liegt daran, dass es ‚sozial leise‘ ist (vgl. Meier 2004). Es ist ein Verhalten, das im Kontext des Unterrichts keine besondere Beobachtung auf sich zieht, wie z. B. die Kommentierung eines Ereignisses mit einem gelangweilten Blick. Zu den Kennzeichen ihres Verhaltens gehören routinierte Praktiken des Unterrichtsgeschäftes wie Melden, lautes und deutliches Sprechen und so fort: Die Lehrerin Frau Wehner eröffnet die Stunde mit: „Bitte Aufstehen.“ – Alle (außer mir) stehen auf. Frau Wehner: „So, meine liebe Fünf-F. Ich wünsche Euch einen wunderschönen Tag.“ Dann lächelt Frau Wehner herzerwärmend in die Klasse: „So, jetzt dürft ihr euch wieder setzen.“ Die Kinder setzen sich.
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Das Verhalten der Schüler ist durch einen hohen Grad an (An-) Passung an das vom Lehrer vorgegebene Unterrichtsgeschehen bestimmt. Schüler wie Lehrer kooperieren eng; sie arbeiten gemeinsam an der gleichen Sache. Das heißt wiederum, diese Schüler stören durch ihre Praktiken den Unterricht nicht, sie ärgern ihre Mitschüler nicht, sie fallen durch keine Albernheiten auf, dafür nehmen sie engagiert am Unterricht teil. Sie lernen, melden sich, fragen (meist) kluge Dinge, passen fein auf und verhalten sich ansonsten nett und höflich. Eine kleine Auswahl: (1) Die Englischlehrerin baut eine Bühne auf – gleich geht es los mit den Präsentationen. Augenblicklich gewinnt die Körperhaltung von Rebekka F. und Paula an Körperspannung. Die Oberkörper richten sich auf, der Hintern rutscht nach vorn auf den Stuhl, die Hände liegen ‚brav‘ auf dem Tisch. (2) Die Lehrerin kommt vorbei, guckt zu Elsa herunter und sagt: „Das machst Du aber gründlich. Richtig!“ Carmen dreht sich um und guckt, wie es Elsa hat. (3) Geschichtsunterricht. Ein Video über das Leben der Neandertaler läuft. Die Mädels vor und hinter Hermann schreiben fleißig mit. Greta schreibt das Arbeitsblatt fast komplett voll. Einiges hat sie mit orangem und grünem Marker hervorgehoben. Johanna schreibt auch fleißig mit. (4) Die Aufgaben werden durchgegangen, was ziemlich unspektakulär ist, da der Junge an der Tafel – bis auf eine – alle richtig gemacht hat und auch die Kinder alle richtig lösen konnten. Ein kleiner Höhepunkt stellte sich ein, als ein blondes Mädchen das Ergebnis 4,13 als „Vierkommadreizehn“ vorliest. Frau Sommer korrigiert sie und sagt, dass es „vier-Komma-eins-drei“ gesprochen wird – aber das wäre „nicht so schlimm“, das hätten sie ja auch noch nicht gehabt, beschwichtigt sie sofort das kleine Mädchen.
Das Schülerverhalten lässt sich hinsichtlich verschiedener Praktiken unterscheiden: Unmittelbar vor dem Unterrichtsbeginn setzen sich die Schüler auf ihre Plätze. Sie legen die Unterrichtsmaterialien, welche sie für die anstehende Unterrichtsstunde benötigen, sauber ‚auf Kante‘. Sie fahren ihre Lautstärke herunter und warten darauf, dass der Lehrer mit dem Unterricht beginnt. Wenn es mit dem Unterricht los geht bzw. wenn wichtige Unterrichtsabschnitte beginnen, richten sich die Schüler körperlich zum Unterricht. Das heißt, sie setzen sich aufrecht, legen ihre Hände auf den Tisch, rutschen sich auf ihrem Stuhl zurecht und blicken nach vorn zum Lehrer. Die Schülerinnen und Schüler stellen also eigenständig und unaufgefordert Unterrichtsbereitschaft her und signalisieren dies durch Gestik und Mimik. Auf der Ebene des Sozialverhaltens kann vermerkt werden, dass sich die Schülerinnen und Schüler gegenseitig helfen, sei es bei kleinen Missgeschicken, welche sie gemeinschaftlich und äußerst koordiniert beheben, oder auch bei Fragen und Problemen mit dem Unterrichtsgegenstand. Ferner zeigen die Szenen, dass die Schülerinnen und Schüler auf der Ebene des Unterrichts vorbildli-
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ches Arbeiten bzw. gute Produkte zur eigenen Orientierung benutzen. Arbeitsblätter werden nicht ausgefüllt, sondern von vielen Schülerinnen und Schülern ‚fast komplett voll‘ geschrieben und wichtige Begriffe markiert. Die Schülerinnen und Schüler verfolgen aufmerksam den Unterricht und signalisieren (durch Melden) Bereitschaft, am Unterricht mitzuwirken, auch wenn sie über eine gesamte Unterrichtsstunde hinweg von der Lehrperson nicht dran genommen werden. Der Ausspruch „nicht so schlimm“ (Szene 4) verweist darauf, dass die Lehrerin glaubt, dass eine Verbesserung für eine Schülerin dieser Klasse ein Problem sein könnte, auch wenn sie den in Rede stehen Stoff „noch nicht gehabt hätten“. Alles in allem kann resümiert werden, dass sich das Verhalten der Schüler auf die Dimensionen der Unterrichtsordnung, des sozialen Miteinanders und des Unterrichtsengagements bezieht. Während zwei Bereiche des Verhaltens mit dem Unterricht verknüpft sind (Unterrichtsordnung herstellen, Unterrichtsengagement zeigen), gilt ein Bereich dem freundlichen Umgang der Schüler untereinander. Man hilft sich, nicht zuletzt, damit schnell wieder zum Unterricht zurückgekehrt werden kann. Die Lehrerinnen und Lehrer fordern ihrerseits kooperatives und leistungsorientiertes Verhalten von ihren Schülern ein. Selbst geringfügige Abweichungen werden von der Lehrperson gerügt: (1) Ein Junge fragt, ob die Niere was mit Uran zu tun habe. – „Nein“, entgegnet ihm die Lehrerin, „Uran sei ein Metall und keine Flüssigkeit“. Einige Kinder lachen im Raum – dies wird allerdings sofort von Frau Stern gerügt: „Wir lachen nicht über eine Schülerfrage!“ (2) Carmen meldet sich und kommt dran, sie antwortet: „Kleinstlebewesen.“ Aber das genügt Frau Stern nicht. „Algen“, weiß sie zu ergänzen. – „Hm.“ – „Plankton“, kommt es von einem Jungen. – „Hast du schon wieder auf der nächsten Seite nachgeguckt, Du Pfiffikus?!“, ‚lobtadelt‘ die Lehrerin den Jungen. (3) Nun soll das Buch zum Thema Fischfang aufgeschlagen werden. Klaus-Maria meldet sich und er kommt auch dran. „Welche Seite?“, fragt er unbedacht. – „Wer nach der Seite fragt, da werde ich ganz böse. Wir kennen uns im Lehrbuch aus!“ donnert es von vorn zurück. „Oh“, sagt ein erschrockener Klaus-Maria und verstummt. (4) „Welche Gruppen unterscheiden wir der Ernährung nach?“, fragt die Lehrerin. Carmen meldet sich sofort. Ich weiß nicht genau was oder ob überhaupt etwas vorgefallen ist, jedenfalls richtet Frau Stern folgenden Kommentar in die Menge: „Wer nicht weiß wo wir sind, der weiß was passiert, der muss abschreiben.“ (5) Thessa meldet sich. Moritz tuschelt hinten. Sofort fragt die Lehrerin: „Moritz. (.) Frage?“. – „Ne.“ – „Dann rede nicht.“ (6) Hermann vor uns hat sich hinter jedes Ohr einen Filzstift gesteckt. Vermutlich hat er auch noch breit dazu gegrinst, jedenfalls wird er scharf von der Englischlehrerin angefahren: „Do you think you are funny? Mach das runter. Wir brauchen keine Klassenclown.“ Hermann nimmt die Stifte hinter seinen Ohren weg.
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Diesen Protokollstellen ist gemeinsam, dass in ihnen zentrale Regeln der Unterrichtsordnung thematisiert werden. Sie lauten: (1) Du sollst (auch) über (vermeintlich ‚blöde‘) Schülerfragen nicht lachen. (2) Du sollst nicht vorlernen. (3) Du sollst wissen, welche Buchseite zuletzt im Unterricht behandelt wurde. (4) Du sollst aufpassen. (5) Du sollst im Unterricht nicht reden. Wenn du etwas nicht verstanden hast, darfst du leise deinen Nachbarn danach fragen. (6) Du darfst im Unterricht nicht herumalbern. Wenn diese Regeln verletzt werden, reagiert die Lehrerin sofort mit einem (mehr oder minder) kleinem Tadel. Im Fach „Lernen lernen“ werden die Regeln in der fünften Klasse sogar explizit behandelt: André blättert in seinem Hausaufgabenheft. Moritz breitet derweilen die Stifte seines Etuis vor sich aus. Die Aufgabenstellung der Lehrerin besteht darin, die Gesprächsregeln zu wiederholen, die sie das letzte Mal besprochen hatten. Ihr Etui sollen sie schließen, der Federmappen-TÜV käme später. Sie sollen ihren Hefter hervornehmen. Moritz ordnet dennoch seine Stifte. Hans-Peter kommt dran, er liest die erste Regel vor: „Ein Schüler soll sich melden, wenn er das Wort haben möchte.“ Dann kommen andere Kinder dran: „Achte auf die Meinung anderer wie auf deine eigene.“ „Bleibe beim Thema.“ „Ruf nicht rein, wenn Du nicht dran bist.“ „Höre gut zu, wenn jemand redet.“ „Beachte die Reihenfolge der Wortmeldungen.“ […] Nun kommt André dran: „Wende dich beim Vorlesen den Schülern zu.“ Nun ist Laura dran, sie sagt es auswendig vor: „Sprich in der Gruppe laut und in der Klasse leise.“ Vereinzeltes Lachen. Sofort sagt Laura: „Oh!“ Frau Sommer assistiert zeitgleich: „Du hast dich versprochen.“ Laura verbessert sich: „Natürlich heißt es: Sprich in der Gruppe leise und in der Klasse laut.“ [...] „Ab nächster Stunde wollen wir das bepunkten, bewerten. Aber das Wichtigste ist, dass wir sie uns merken!“, resümiert Frau Sommer und fährt fort, dass sie jetzt den Federmappen-TÜV macht, wenn sie arbeiten würden.
Der Protokollauszug behandelt die Sprechregeln des Schülers, welche als Hausaufgaben aufzuschreiben waren. Diese Regeln werden von der Lehrerin im Unterricht abgefragt. Die Behandlung dieses Themas geschieht ernst und ohne Ironisierung. Der Tonfall macht deutlich, dass Lehrer wie Schüler die Schülertugenden als wichtig und annehmbar ansehen. Etwas skurril wirkt die Ankündigung der Lehrerin, dass diese Regeln in der nächsten Stunde Gegenstand eines Tests seien werden. Dies ist insofern bemerkenswert, als dass dem Test hierbei die Funktion zugewiesen wird, das Lernen der Regeln sicher zu stellen und als gelernt zu dokumentieren. Die Szene schließt – dies ist im Protokollausschnitt angedeutet – mit dem so genannten „Federmappen-TÜV“. Diese Besonderheit soll kurz erläutert werden. Die Lehrerin prüft, ob die Schülerinnen und Schüler auch über die benötigten Gegenstände verfügen, um den gymnasialen Unterricht erfolgreich bestreiten zu können. Benötigt werden zwei Füller, ein Radiergummi, ein Kugelschreiber, ein Lineal, zwei Bleistifte, ein Klebestift, ein Spitzer, eine Schere, mehrere Patronen, ein Textmarker und mehrere Buntstifte. Beide Füller müssen funktionstüchtig sein, da der Wechsel einer Patrone unter Umständen – z. B. im Rahmen einer Testsituation – zu viel Zeit benötigen würde. Nur wenn alle Gegenstände vorge-
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zeigt werden können, gilt der „Federmappen-TÜV“ als bestanden. Somit kann zusammenfassend gesagt werden, dass neben dem Wissen um Regeln, die eingeübt und sogar im Test abgefragt werden, auch das Vorhandensein einer definierten materialen Ausstattung Gegenstand des Unterrichtsdiskurses ist. Das Verhalten hat nicht nur eine unterrichtsbezogene Seite, sondern gilt auch dem Umgang der Schülerinnen und Schüler miteinander. Auch diejenigen Schülerinnen und Schüler, die man nicht so mag, werden in aller Regel freundlich behandelt. Man hält zwar eine gewisse Distanz, aber man ärgert sie nicht vorsätzlich oder grenzt sie gezielt aus. Anfang der sechsten Klasse kam es mal zu Reibereien unter den Jungen, welche in einer Rauferei mit Nasenbluten ihren Höhepunkt fand. Aber abgesehen von diesem vergleichsweise dramatischen Ereignis, welcher von den meisten Schülerinnen und Schülern als bedauerlicher Tiefpunkt beschrieben wird, ist das Klassenklima davon bestimmt, dass man Kontakt zu seinen Mitschülern hält. Gegen Ende der sechsten Klasse gestaltet sich die Situation wie folgt: Ich sitze im Kunstunterricht. Trotz eines anderen Klassenraums komt mir die Sitzordnung sehr vertraut vor. Ich beobachte die Schüler, ob und inwiefern sie Kontakt miteinander aufnehmen. Mir fällt auf, dass die Sitznachbarn regelmäßig miteinander sprechen. Ich fange an, Verbindungslinien zwischen den Sitznachbarn zu ziehen bzw. dort, wenn Schüler über Bänke miteinander sprechen. Ich komme aber bald darauf mit Greta, Ruben, Johanna, später dann auch mit Klaus-Maria über meine Kommunikationsskizze ins Gespräch. Zuerst male ich Linien zwischen den Kindern, die auf Auskunft von Greta und anderen miteinander befreundet sind. Das Ergebnis ist ein Beziehungsnetzwerk, in dem einige Schüler herausstechen, aber niemand ohne Beziehung dasteht. Die Grafik finde ich allerdings etwas unübersichtlich, sie sieht aufgrund der vielen Linien sehr ‚zerkrickelt‘ aus. Ich lasse mir dann von Greta bei einer zweiten Grafik helfen, die ich nach Cliquen strukturiere und von den umsitzenden Schülern validieren lasse. Greta merkt an, dass Klaus und die Moritz-André-Moritz-Gruppe nur manchmal etwas miteinander zu tun hätten. Das Ergebnis sieht dann so aus:
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Abbildung 2: Cliquenstruktur Die Grafik zeigt, dass jede Schülerin und jeder Schüler Kontakt zu anderen Schülern unterhält. Hans-Peter ist der einzige Schüler, der zu keiner Clique gehört. Dennoch unterhält er Kontakt zur Jungengruppe Ruben-Klaus-HermannFriedemann. Auch Hermann gehört zu dieser Gruppe, wobei er von Greta in Klammern gesetzt wird. Damit will Greta ausdrücken, dass Hermann manchmal zur Clique gehöre, aber manchmal eher sein eigenes Ding mache. Greta wiederum verortet sich in der Kristin-Carmen-Tamara-Clique, aber sie gehöre auch nicht so ganz eng dazu, deshalb die gepunktete Linie. Diese abgestufte Mitgliedschaft weist sie auch Christiane und Dolores in ihren Cliquen zu. Auffällig ist weiterhin, dass es Cliquen gibt, die keine Beziehungen zu anderen Cliquen unterhalten. Thessa, Susanne und Christiane bleiben ebenso unter sich wie Moritz A., André und Moritz B. Diese Strukturierung der Klasse in Cliquen bleibt über den Zeitraum der sechsten Klasse relativ stabil, wobei es Pausenaktivitäten gibt, die diese Cliquenstrukturierung regelmäßig unterlaufen. So hat sich in der sechsten Klasse die Gewohnheit herausgebildet, bei Wind und Wetter in jeder großen Pause Tischtennis-Rundlauf zu spielen. Zu dieser Tischtennis-Gruppe gehören Klaus-Maria, Friedemann, Carmen, Kristin, Ruben, Tamara, Hermann, Greta und Hans-Peter. Aber gelegentlich spielen auch andere Kinder der Klasse mit.
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Die Tischtennis-Runde nimmt jede Schülerin und jeden Schüler der Klasse auf, sofern sie bzw. er eine Tischtenniskelle oder ein Buch in der Hand hält. Eine weitere Praxis, die den freundschaftlichen und integrativen Umgang der Schülerinnen und Schüler miteinander zum Ausdruck bringt, ist die Angewohnheit der Klassensprecherin Carmen, jeder Schülerin und jedem Schüler sofort „Gesundheit“ zu wünschen, der niest. Diese Praxis nahm in den sogenannten Erkältungszeiten bisweilen etwas skurrile Züge an, wenn Carmen zwanzig Mal in einer Unterrichtsstunde „Gesundheit“ sagte. Carmens ‚Wünsch-Praxis‘ wurde von den Lehrern kommentarlos toleriert und der Klasse wäre ein einmaliges und integratives Element verloren gegangen, wenn Carmen ihre Praxis eingestellt hätte. Alles in allem kann der Umgang der Schülerinnen und Schüler miteinander als freundlich und integrativ bezeichnet werden. Das Klassenklima zum Zeitpunkt der fünften und sechsten Klasse war außerordentlich gut. Krappmann (2006) weist darauf hin, dass die Peerkultur einen entscheidenden Einfluss auf das Lernverhalten der Kinder hat, denn es mache einen Unterschied, „ob sie entspannt im Unterricht sitzen oder ständig auf der Hut sind, weil sie Attacken und Demütigungen [durch ihre Mitschüler, M.M.] erwarten, ob sie dort mit der Sicherung ihrer sozialen Existenz beschäftigt sind oder Aufmerksamkeit für andere Themen frei haben“ (Krappmann 2006: 219f., zitiert nach Opp/Teichmann 2008: 20). Handelt es sich hierbei um das Phänomen, welches Opp/Teichmann (2008) und Unger (2008) als eine Variante der „positiven Peerkultur“ bezeichnen, die nicht von Coolness, übertriebener Selbstdarstellung und Ausgrenzung bestimmt ist, sondern in der ein freundlicher und annehmender Umgangston herrscht? Die Anpassung des Verhaltens an die Schulkultur richtet sich auf die Dimensionen der Einhaltung schulaffirmativer Regeln, eines wohlanständigen Umgangs und des Vorhandenseins des richtigen Materials. Die hier skizzierte Unterrichtskultur stellt sicher, dass schnell und zügig mit dem Unterricht begonnen werden kann, dass dieser weitestgehend von außerschulischen Bezügen freigehalten wird, dass die Schüler funktionsfähiges Arbeitsmaterial vorliegen haben und dass sich kein Schüler im Klassenraum ausgegrenzt fühlen muss. Diese Praktiken stellen eine wesentliche Rahmenbedingung für gelingende Unterrichtsprozesse dar. 2.2.2 Einander helfen Greta schraubt ihren Füller auf, irgendwas stimmt nicht, dabei kleckert sie auf den Tisch, was sie pikiert kund tut. Moritz springt auf, zückt ein Papiertaschentuch und wischt die Flecken weg. Das, was an Spuren noch übrig ist, killert eine hilfsbereite Carmen weg.
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Die Beobachtungen zeigen, dass die Praxis des sich Helfens ein alltägliches Phänomen ist, das sich unauffällig in den Unterrichtsalltag einfügt und ebenso schnell wieder verschwindet, wie es aufgetaucht ist. Manche Hilfen dienen dazu, kleine Malheurs zu beseitigen, andere richten sich auf eine kurze Verständnisfrage. Manchmal diskutieren die Schüler den Unterricht oder befragen die Richtigkeit ihres Arbeitsergebnisses. Gelegentlich bitten sie ihre Mitschüler um Gegenstände, die sie für ihre Arbeit benötigen (z. B. Stifte, Scheren, Kleber, Locher, etc.), wenn sie momentan nicht über diese verfügen. Die wechselseitige Hilfe im Unterricht ist von den Lehrern erwünscht. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass die Lehrperson Gespräche unter Schülern zumeist toleriert, sofern sie sich leise in den Unterricht einfügen. Wenn allerdings eine Schülerin oder ein Schüler zu laut mit ihrem oder seinem Nachbarn flüstert, dann wird sie oder er mit den Worten angesprochen, ob denn „etwas unklar“ sei. Wenn der Schüler antwortet, dass „alles klar“ wäre, gesteht er ein Fehlverhalten ein. Hat er allerdings eine Frage vorzubringen, unterbricht die Lehrerin den laufenden Unterrichtsprozess zugunsten der Klärung der Frage bzw. des Problems. Am Beispiel dieses Umgangs der Lehrerin mit flüsternden Schülerinnen und Schülern lässt sich ablesen, dass Gespräche unter Schülern zum Zwecke der Hilfe durchaus erwünscht sind, sofern sie eine gewisse Intensität und Dauer nicht überschreiten. Auffällig unauffällig ist, dass die Hilfen unter Sitznachbarn so alltäglich und selbstverständlich sind, dass sie häufig nicht einmal mehr erbeten werden: Ein benötigter Stift wird genommen, ein eigenes Ergebnis mit dem Ergebnis des Nachbarn verglichen oder eine Frage ins Ohr geflüstert. Hilfeleistungen zwischen Schülern verschiedenen Geschlechts gestalten sich allerdings etwas gesitteter und etwas weniger selbstverständlich: Ein Stift wird nicht einfach genommen, sondern es wird höflich danach gefragt. Es gibt verschiedene Formen der Hilfe, die im Folgenden dargestellt werden: Friedemann ist ein besonders interessierter und guter Schüler. Er ist mit den schlechteren Schülern der Klasse (befriedigender Notendurchschnitt) befreundet. Der folgende Interviewauszug beleuchtet Varianten der Hilfe: Friedemann:
Interviewer: Friedemann:
Weil hier in Englisch sind die meisten (.) meine Freunde wie Moritz oder Hermann oder so dann nicht so gut (.) die schaffen das eigentlich sozusagen nicht (.) Hermann, der hat sich schon verbessert und Moritz auch. Pooo. Mit denen muss man sozusagen üben (.) damit die… das tue ich auch. Du übst mit denen? Ja, in den Pausen. Wenn wir nach der Pause ne Kurzkontrolle schreiben oder so. Ne Arbeit oder so. (.) Also wenn wir Zeit haben dann versuch ich das auch.
Die Freundschaftsbeziehungen zu Moritz und Hermann scheinen Friedemann regelrecht dazu zu verpflichten, mit ihnen zu üben. Die Praktiken des Helfens
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gestalten sich in der Pausensituation vermutlich ähnlich einer Lehrer-SchülerBeziehung: Friedemann fragt, Moritz und Hermann antworten, Friedemann bestätigt oder korrigiert. Die asymmetrische Situation muss im Rahmen der Freundschaft eingebunden und bewältigt werden. Bei Greta stellt sich die Praxis des Helfens anders dar, da sie nicht im Rahmen von Freundschaftsbeziehung stattfindet. Interviewer: Greta:
Ja. Und hast du das Gefühl, dass du oft anderen Kindern helfen musst? Wenn die Fragen haben, zu Hausaufgaben, zum Beispiel? Die rufen mich meist immer an oder so, und dann fragen die mich immer, und dann muss ich das halt auch sagen, was ich da habe, da frag ich immer erst, was die haben, und dann sag ich, genau das Gleiche habe ich auch, und dann sagen sie, okay, dann ist ja gut, und dann legen sie wieder auf.
Greta beschreibt ihre Hilfe vor allem als Praxis des telefonischen Austausches der richtigen Hausarbeitsergebnisse. Der Modus der Hilfe ist hier derjenige eines Tausches. In der Beschreibung von Greta bekommt man nur dann Hilfe in Form der richtigen Lösung, wenn man zuvor mit seiner Lösung den Preis für diese Hilfe bezahlt hat. Bemerkenswert an dieser Praxis ist, dass die Schülerinnen – Gretas Einschätzung nach – in aller Regel über dieselben, also richtigen Ergebnisse verfügen. Die Praxis stellt damit weniger eine Form der Hilfe denn eine Form der Kontrolle der Ergebnisse dar. Die Schüler können sich nun relativ sicher sein, dass ihre Ergebnisse stimmen, und das wiederum ermöglicht der Lehrperson, die Hausaufgaben zügig zu besprechen. Die Praktik des LösungenTauschens trägt somit zu einer effizienten Gestaltung des Unterrichts bei und stützt das hohe Tempo des Unterrichts (vgl. Kap. 2.3.3). Zuletzt soll noch eine Szene betrachtet werden, in welcher die Hilfe zwischen Sitznachbarn scheitert. Es geht um die beiden Schülerinnen Susanne und Carmen, die sich im Mathematikunterricht neuerdings eine Bank teilen, aber abgesehen davon äußerst wenig miteinander zu tun haben (vgl. die Grafik im Kapitel 2.2.1). Ihr Umgang miteinander ist von einem höflichen Desinteresse gekennzeichnet. Im letzten Drittel einer Mathematikstunde ereignet sich Folgendes: Carmen rechnet, Susanne stützt ihren Kopf auf ihren Arm auf. Von meiner Sitzposition vorn an der Tafel wirkt die Klasse extrem aufmerksam – nahezu durchgängig erscheint mir die Körperhaltung des fleißigen Schülers habitualisiert zu sein; eine Körperhaltung, die Interesse signalisiert. Allein Susanne fällt da etwas raus. Die Lehrerin Frau Sommer rechnet an der Tafel, Carmen im Heft. Dann fragt Carmen Susanne, ob sie das abschreiben sollen. Susanne zieht die Schultern hoch. Das war der erste Kontakt zwischen den beiden! Carmen schreibt weiter ab, rechnet, Susanne ebenso. Carmen ist fertig, sagt das auch. Die Lehrerin schlägt ihr dann andere Aufgaben zum Lösen vor. Bald darauf korrigiert sich Frau Sommer und gibt Carmen auf, Susanne zu helfen. Dies macht die Lehrerin, indem sie zuerst Susanne anspricht („Susanne, lass dir mal von Carmen helfen!“) und dann zu Carmen sagt: „Kannst mal mit gucken, [sie] hat ja Einiges verpasst.“ Carmen nimmt nun zum zweiten Mal Kontakt zu Su-
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sanne auf. Sie scheint nicht direkt begeistert zu sein ob der ‚Auszeichnung‘, helfen zu dürfen: „Sag wenn du Hilfe brauchst, ja?“ und kümmert sich dann um ihre eigenen Sachen. Dann stöhnt sie. Susanne hält ihren Körper immer noch abgewandt, rechnet. Carmen guckt kritisch an die Tafel, guckt dann zu Tom (oder in die Richtung), fängt dann an zu zeichnen. Schließlich fragt Carmen Susanne: „Kommst du klar? Oder ...?“ Derweil steht Fr. Sommer neben ihr: „Carmen, mal mit gucken. Susanne! (..) Ne du schreibst erst eine Gleichung und die löste. Du hast doch gar kein Blatt zu lösen. Du sollst doch nicht einfach da abschreiben. (…) Schreib erst eine Gleichung auf und dann löst du die.“ Dann sagt die Lehrerin zu Carmen: „Du kannst schon mal mit Nr. vier anfangen, Nr. drei“ – „Ja, ja. Okay.“ – „Ja?“ – Frau Sommer geht, Carmen stöhnt. Eine halbe Minute später fragt sie Susanne: „Kannst du das?“ Susanne flüstert unverständlich. „Guck doch mal. Das hier ist ja von der Termstruktur her eine Summe, also Plus.“ Es folgt eine ausführliche Erklärung des mathematischen Sachverhaltes durch Carmen. „Und eben immer so weiter. (..) Halbwegs verstanden?“ – Susanne: „Ähhh, jaaa.“ – „Sag wenn du Hilfe brauchst“, sagt Carmen und macht wieder ihrs.
Auf den ersten Blick scheint es in dieser Szene um eine Situation der Hilfe zu gehen. Die Frage von Carmen, ob sie das an der Tafel Stehende abschreiben sollen, ist der erste Kontakt zwischen den Schülerinnen. In diesem Ausruf – der nach ca. 30 Minuten Unterrichtsgeschehen erfolgt – kommt die Irritation und zugleich die Erwartungshaltung zum Ausdruck, dass Sitznachbarn dieser Klasse normalerweise miteinander Kontakt aufnehmen und diesen über die Unterrichtsstunde hinweg – zumindest sporadisch – pflegen. Der Auslöser der Kontaktaufnahme ist Carmens Unsicherheit bezüglich der Arbeitsanforderungen. Die Lehrerin bereitet an der Tafel etwas vor, und Carmen versucht Orientierung darüber herzustellen. Soll sie die Aufgaben jetzt abschreiben? Oder kommt das erst später dran? Carmen fragt jedenfalls Susanne, ob sie das abschreiben soll, und Susanne reagiert mit einer nicht mehr zu unterbietenden Minimalreaktion (Schultern hochziehen). Zwar beantwortet Susanne Carmens Frage, aber die Situation wird nicht für weitergehende Kommunikation genutzt. Erwartbar wäre ein kleiner Antwortsatz gewesen, wie etwa: „Nein, tut mir leid, vielleicht weiß Peter was wir machen sollen.“ Darüber hinaus wäre auch noch denkbar gewesen, sich gemeinsam zu fragen, was die Lehrerin dort schreibt und welchen Sinn das haben könnte. Kurzum, die unklare Unterrichtssituation stellt eine Möglichkeit für (legitime) Peerkontakte bereit, die von den Sitznachbarinnen nicht genutzt wird. Im Fortgang der Szene kommt es zur Situation, dass Carmen fertig wird und das auch der Lehrerin – und ihren Mitschülern – anzeigt, indem sie „fertig“ sagt. Damit setzt sie sowohl ihre (langsameren) Mitschüler aber auch die Lehrerin unter Handlungsdruck. Die Lehrerin muss reagieren, wenn sie keinen Leerlauf möchte. Frau Sommer gibt ihr neue Aufgaben, welche aber bald darauf wieder zurückgezogen werden. Denn sie scheint eine bessere Idee zu haben. Von der Sache her ist der neue Auftrag eine Ergänzung des Alten; das Auftreten der Lehrerin lässt es aber wie eine Korrektur wirken. Situativ lässt nichts darauf schließen, dass Susanne hilfsbedürftig ist. Die Lehrerin schlägt mit einer etwas unbe-
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holfenen Formulierung („lass dir ma helfen“) Carmen vor, Susanne zu helfen; sie erzeugt Hilfsbereitschaft, indem sie diese unterstellt. Doch im weiteren Verlauf der Szene wird deutlich, dass die Hilfssituation scheitert. Carmen hat wenig Lust, Susanne zu helfen – aber sie fragt dennoch drei Mal (wenn auch wenig motiviert) nach, was Susanne angesichts ihrer ‚Bemühungen‘ ablehnt. Damit ist die Pflicht abgegolten. Die Schülerinnen helfen einander nicht, vielmehr demonstrieren sie sich, der Lehrerin und auch dem Beobachter Hilfsbereitschaft. Diese Szene stellt eine Art Maximalkontrast zu der selbstverständlichen, alltäglichen Hilfe im Unterricht dar. Sie scheitert, weil die Schülerinnen keinen Draht zueinander gefunden haben. Verordnete Hilfe ist strukturell problematisch: Carmen hat nicht wirklich Hilfe angeboten, Susanne nicht eingefordert. Hilfe gelingt, wenn sie sich nicht nur auf der Ebene der Schülerrolle vollzieht, sondern wenn sie auch peerkulturell eingebettet ist (vgl. Bennewitz/Breidenstein 2004). Alles in allem kann gesagt werden, dass der Modus der Hilfe sich an drei unterschiedlichen Konzepten orientiert: Tausch, Freundschaft und Pflicht. Die alltäglichen nachbarschaftlichen Hilfen orientieren sich ebenso wie Gretas Geschäft am Modell des Tausches. Hilfe wird gewährt, sofern zu erwarten ist, dass man ebenfalls von diesen Dienstleistungen profitiert. Während Gretas Hilfe sofort mit dem Preis der eigenen Lösung zu bezahlen ist, scheinen die alltäglichen Hilfen auf der Erfahrungen zu beruhen, dass man Hilfe dieser Art gelegentlich auch benötigt und dann auch zugestanden bekommt. Doch Hilfe im Sinne eines ökonomischen Tauschgeschäfts ist latent problematisch, denn demjenigen Schüler, der nichts zu bieten hat, wird auch nicht geholfen. Die Asymmetrie der Hilfesituation steht der Symmetrie des Tauschgeschäftes gegenüber. In dieser Logik werden alle Schülerinnen und Schüler ausgeschlossen, von denen nicht profitiert werden kann. Hilfen, die sich am Konzept der Sympathie oder Freundschaft ausrichten, stehen hingegen vor der Problematik, die situative Asymmetrie der Beziehung bearbeiten zu müssen (vgl. hierzu ausführlicher: ebd.). Verordnete Hilfe im Sinne der Pflicht ist problematisch, sofern sie nicht peerkulturell eingebettet ist. 2.2.3 Regeln anmahnen und außer Kraft setzen Dieses Unterkapitel behandelt Situationen, in denen Regeln, wie man sich im Unterricht zu verhalten hat, verletzt werden. Der Lehrer ist der Wächter des Ortes und Repräsentant der Vorderbühne (vgl. Zinnecker 2001: 256ff.): Er regelt den Sprachverkehr des Unterrichts, bestimmt den Umgang mit Zeit und Material und vergibt Privilegien (vgl. ebd.: 258, Kalthoff 1997: 174ff.). Für den Erfolg von Unterricht und für die Herstellung von Schulerfolg ist die einvernehmliche
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Kooperation der Beteiligten wesentlich. Die Schülerinnen und Schüler haben sich den Erwartungen der Lehrerinnen entsprechend zu verhalten und müssen Aufgaben schnell und richtig lösen. Diese Kooperation von Schülern und Lehrern stellt den reibungslosen Ablauf des Unterrichtsgeschäfts her. Doch mitunter gelingt das harmonische Zusammenspiel nicht zuverlässig. Im Folgenden werden nun Szenen Gegenstand der Betrachtung sein, in denen es um Abweichungen oder Nachlässigkeiten geht. Was passiert, wenn die Unterrichtsordnung herausgefordert wird bzw. das kooperative Zusammenspiel der Beteiligten nicht einvernehmlich gelingt? Wie wird mit Situationen umgegangen, in denen Regeln des Unterrichts aufgehoben werden? Wie positionieren sich die Schüler zu diesen ‚Regelverstößen‘? (1) Die Lehrerin geht auf und ab. Es fällt ihr auf, dass Ruben und Rebekka ein Buch teilen. Sie fragt die beiden, wer das Buch nicht dabei hat. Ruben meldet sich. Rebekka blickt auf. Die Lehrerin öffnet das Klassenbuch, blickt hinein und sagt: „Ruben Vorsicht! Es ist das zweite Mal.“ Sie notiert das Fehlen des Buches. (2) Paula schreibt Aufgaben an die Tafel. Sie scheint Aufgabe Nr. vier nicht richtig verstanden zu haben und fragt: „Was?“ Einige (z. B. Friedemann) raunten genervt: „Fünf hoch zwei.“
Beide Szenen behandeln kleine Delikte bzw. ‚Nachlässigkeiten‘. In der ersten Szene besteht das ‚Vergehen‘ darin, dass Ruben sein Arbeitsmaterial zuhause vergessen hat und obendrein nicht von sich aus sein Verschulden bei der Lehrerin anzeigt. Da das gemeinsame Lesen im Buch aus Sicht der Lehrerin nicht die gewünschten Arbeitsbedingungen darstellt, reagiert sie auf diese Nachlässigkeit, indem sie das Vergessen durch den Eintrag ins Klassenbuch zu einem Vergehen macht und als solches dokumentiert. Die offene Warnung („Vorsicht!“) verweist auf ‚Sanktionen‘, wenn sich das Verhalten erneut wiederholen sollte. In der zweiten Szene geht die Sanktionierung eines nachlässigen Verhaltens von den Schülerinnen und Schülern aus. Paula wird von ihren Mitschülern mit einem genervten Tonfall dafür gerügt, dass sie nicht aufgepasst hat. Das Raunen markiert die Nachfrage als ‚daneben‘ – inhaltlich muss die Kritik nicht formuliert werden. Die Schüler zeigen damit deutlich an, dass Unaufmerksamkeit den Unterricht aufhält und dass dies nervt. Die nächste Szene zeigt eine Lehrerin, die durch eine Unachtsamkeit (versehentlich) eine zentrale Unterrichtsregel verletzt, die sowohl für Schüler als auch für Lehrer gilt: Die Arbeit läuft weiter, die Lehrerin läuft durch die Reihen. Plötzlich dringt ein polyphones Handyklingeln durch den Raum. Pikiert läuft Frau Schütze zu ihrer Tasche und entschuldigt sich zwei Mal für die Störung. Dann sagt sie: „Ich mach das was ihr nicht dürft!“ Ein Handy muss im Unterricht ausgestellt sein. Greta sagt darauf laut und deutlich: „Der Lehrer macht es vor und wir machen es nach!“ Derweilen hockt die Lehrerin vor ihrer Tasche und drückt an ihrem Handy herum, das sie dabei so gut
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es geht in ihrer Tasche ‚versteckt‘. Währenddessen entschuldigt sie sich noch weitere drei Male.
Offenkundig ist es der Lehrerin äußerst peinlich, dass ihr ein Missgeschick widerfahren ist, das sie bei Schülern mit einem strengen Tadel ahnden würde. Dieser Fehltritt wird von der Schülerin Greta genutzt, um die Vorbildfunktion der Lehrerin einzuklagen. Damit macht sie deutlich, dass Regeln nur dann von den Schülerinnen und Schülern akzeptiert werden, wenn sich die Lehrer als Vorbilder diesen ebenfalls unterwerfen – was sie normalerweise auch tun. Nachdem gezeigt wurde, dass kleinste Abweichungen im Unterricht sowohl durch Lehrer als auch durch Schüler sanktioniert werden und dass sich auch Lehrerinnen und Lehrer den Regeln unterordnen müssen, werden nun Szenen untersucht, in denen es um unangemessenes Verhalten geht. (1) Hermann fragt Frau Thaler, ob sie ein Taschentuch für ihn habe. Die Lehrerin macht große Augen, guckt ihn irritiert-verblüfft an, sucht dann aber in ihrer Handtasche eins. Hermann kriegt von hinten eins gereicht. Ebenfalls von hinten fällt der leise Kommentar: „Wie im Kindergarten.“ (2) Friedemann macht wohl irgendwas an seiner Nase. Von hinten höre ich jedenfalls: „Hast Du kein Taschentuch?“ Nicht auf der Höhe packe ich mein Päckchen Taschentücher aus, ziehe eins halb heraus und reiche es den Mädchen. „Nee!“, sagen die Mädchen, sie bräuchten keins, sondern Friedemann! Ich frage Friedemann, aber er braucht [angeblich] keins.
Zunächst einmal fällt auf, dass es in beiden Szenen um Jungen und ihre Nasen geht. In der ersten Szene fragt Hermann die Lehrerin nach einem Taschentuch, was die Lehrerin sichtlich irritiert und ihm Spott und Degradierung von einem Mitschüler einbringt. In der zweiten Szene scheint Friedemann sich in einer Art und Weise an (vielleicht sogar in) die Nase zu fassen, so dass ihm von zwei Mädchen ein Taschentuch zur Verwendung angemahnt wird. Während die erste Szene zeigt, dass man materiell ausgestattet sein sollte, um einen diskreten Umgang mit Körpersekreten zu pflegen, zeigt die zweite Szene, dass die Schülerinnen und Schüler auf ihr Verhalten achten und ‚gutes‘ einklagen. Nun sollen die Schüler ihre Hefter aufschlagen und den Text ab Seite 164 lesen und die Fragen an der Tafel im Heft beantworten. Friedemann fragt, was eine Disputation ist. „Das hatten wir schon letzte Stunde!“, stöhnt jemand. Die Lehrerin sagt, dass das ein wissenschaftliches Streitgespräch ist. Die Kinder lesen den Text, schreiben. Ich kann die Heizung hören.
Diese Szene zeigt, dass die Gymnasialschüler sich über ihre Mitschüler mokieren, wenn sie wichtige Vokabeln vergessen haben. Kleine ‚Delikte‘ dieser Art werden sowohl von den Schülerinnen und Schülern als auch von den Lehrerinnen und Lehrern symbolisch sanktioniert. Das Stöhnen zeigt, dass die Schüler Aufpassen einfordern, um die hohe Geschwindigkeit des Unterrichts zu stützen. An Regeln haben sich auch Lehrer in ihrer Funktion als Vorbild zu halten. Vor
2.2 Über das Verhalten des erfolgreichen Schülers
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allem die Mädchen klagen einen dezenten Umgang mit dem Nase-Schnäuzen ein, auf den man materiell wie habituell eingestellt sein muss. In klassischen Studien zur Schülerkultur (z. B. Willis 1979, Heinze 1980, Zinnecker 2001) wird Peerkultur als Gegenkultur zur Schule beschrieben (vgl. Breidenstein 2004: 924f.). Breidenstein kommt unter Rückgriff auf die aktuelleren Studien der Neuen Kindheitsforschung zu der Schlussfolgerung, dass Peerkultur „in grundlegender Weise als interaktive Erzeugung sozialer Differenzen aufgefasst werden“ (ders.: 936) kann. Im Fall der untersuchten Gymnasialklasse kann zumindest für den Zeitraum der fünften und sechsten Klasse gesagt werden, dass die Peerkultur der Schüler weder eine Gegenkultur zur Schule darstellt, noch dass diese auf die Erzeugung von Differenzen in besonderer Weise abstellt. Ganz im Gegenteil hat es vielmehr den Anschein, als orientierten sich die Praktiken der Schülerinnen und Schüler an einer kollektiv verbindlichen Norm. So drehen sich ihre Aushandlungen zentral um die Einhaltung oder Nichteinhaltung von Regeln der Peer- bzw. Unterrichtsordnung. Dies erstaunt angesichts der Befundlage von Fend (2005: 74), dass Peernormen „distanzlose Konformität mit schulischen Anforderungen“ bestrafen würden. Jedenfalls scheinen diejenigen Schülerinnen und Schüler peerkulturell noch die Oberhand zu haben, welche sich an dem Bild des idealen Schülers orientieren. 2.2.4 Zusammenfassung Wenn man nun die Befunde der Kapitel 2.2.1 – 2.2.3 betrachtet, dann scheinen die Praktiken der Schülerinnen und Schüler ein Spannungsfeld zu bearbeiten. Einerseits verhalten sich die Schülerinnen und Schüler zueinander nett und kollegial, so dass ein angenehmes Sozialklima in der Schulkasse vorherrscht, andererseits ‚norden‘ sie abweichende Schülerinnen und Schüler ein und begünstigen durch ihre Praktiken effizientes Unterrichten. Entgegen der Ergebnisse anderer Studien zur Peerkultur von Schülerinnen und Schülern handelt es sich hier um eine Kultur, die vornehmlich von schulischen Normen und Verhaltensweisen geprägt ist. Es ist keine Kultur der betonten Abgrenzung und Differenzierung, sondern der Integration und Homogenisierung. Doch auch diese Kultur ist in toto nicht als unproblematisch zu kennzeichnen. Denn wenn die Aussage von Helsper und Hummrich gilt … „Wenn positive Haltungen zu Schule, Lehrern und schulischer Leistung mit der Anerkennung durch die Peers vereinbar sind, dann entsteht ein Peermilieu, in dem besonders schulhomologe Jugendliche weniger mit der Gefahr rechnen müssen, negativ klassifiziert zu werden. Denn dann ist das Peermilieu selbst durch Schulkonvergenz gekennzeichnet.“ (Helsper/Hummrich 2008: 53)
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… sind diejenigen Schülerinnen und Schüler doppelt bedroht, denen es nicht gelingt, sich an diese Kultur anzupassen. Im Falle schlechter schulischer Leistungen laufen sie nicht nur Gefahr, durch die Institution Schule bestraft zu werden. Möglicherweise erfahren sie dann auch keine Stützung durch ihre Mitschülerinnen und Mitschüler mehr. Schulisches Scheitern ist damit doppelt bedrohlich. 2.3 Die Herstellung von Unterrichtsorientierung Orientierung ist die „Fähigkeit, sich örtlich, zeitlich und über die sonstigen realen Gegebenheiten »im Klaren« sein zu können“ (Dorsch 1994: 537). Die Beobachtung der Gymnasialklasse hat gezeigt, dass Praktiken der Orientierung für die Herstellung von Schulerfolg hochbedeutsam sind. Während das vorangegangene Kapitel seinen Fokus vornehmlich auf die Schüler-Schüler-Interaktionen legte, werden in diesem (und in dem darauf folgenden) Kapitel Lehrer-SchülerInteraktionen im Fokus stehen. Im Folgenden werden Praktiken im Rahmen von Stundeneröffnungen (Kap. 2.3.1), Arbeitsanweisungen (2.3.2), der Nutzung der Unterrichtszeit (2.3.3), Prüfungsankündigungen und Prüfungsvorbereitungen (2.3.4) betrachtet und hinsichtlich ihrer Beteiligung und Ausgestaltung durch die Schülerinnen und Schüler diskutiert. Diesen Praktiken ist gemein, dass sie dazu dienen, die Schülerinnen und Schüler im Unterricht zu orientieren – denn nur dann, wenn klar ist, was sie zu tun haben, können sie schulisch erfolgreich sein. 2.3.1 Stundeneröffnungen Aus Sicht der Didaktik sollen Stundeneröffnungen beim Schüler Fragehaltungen wecken, neugierig machen, Aufmerksamkeit auf die Unterrichtsthematik lenken, über den Ablauf der Stunde informieren, Verantwortungsbereitschaft wecken sowie eine Vernetzung zu bekanntem Wissen herstellen (vgl. Meyer 2009: 122; Greving/Paradies 2000: 17f.). Allerdings zeige sich nach Meyer in der Praxis, dass sich „eingeschliffene Stundeneröffnungen“ (ebd.: 125) anders darstellen als die Unterrichtseröffnungen von didaktisch ausgefeilten „Prüfungsstundenentwürfen“ (ebd.): „Man kann nicht warten, bis alle Schüler motiviert und bei der Sache sind; es ist schier unmöglich, sämtliche relevante Vorkenntnisse der Schüler zu ermitteln und dann auch in der Einstiegsphase zu reaktivieren, usw.“ (ebd.) Unabhängig davon, ob es sich um didaktische Idealentwürfe oder um routinierte Stundenauftakte gestandener Lehrerinnen und Lehrer handelt, kommt dem Lehrer als zentralem Akteur entscheidende Bedeutung im Ritual der Stundeneröff-
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nung zu: Er ist es, der den Unterrichtsauftakt zu gestalten hat. Wagner-Willi (2005) zeigt beispielsweise, dass „der Lehrer nach Einnahme des Pultes entscheidende rituelle Markierer der Unterrichtseröffnung setzt, wie etwa das Bimmeln mit der auf dem Pult stehenden kleinen Glocke“ (dies.: 126). In ihren weiteren Ausführungen zeigt Wagner-Willi am Wechselspiel von Lehrperson und Schülern, wie allmählich die Unterrichtsordnung hergestellt wird: zunächst über die Kommunikation mit denjenigen mit der höchsten Unterrichtsbereitschaft, dann mit den Nachzüglern (vgl. dies. 127f.). Doch wie gestaltet sich der Unterrichtsauftakt in dieser Gymnasialklasse? Es wird (für mich unbestimmbar) halblaut geflüstert: „Ist es schon soweit?“ Und: „Hat es schon geklingelt?“ Hermann stützt seinen Kopf auf, dann setzt er sich gerade hin. Er guckt nach vorn.
Die Schüler sind bereits auf ihren Plätzen, aber sie wissen nicht, ob der Unterricht schon begonnen hat oder nicht. Eine Stimme fragt ein wenig erschrocken: „Ist es schon soweit?“ – Die Zeit scheint schneller vergangen zu sein, als das Kind dachte. Ein zweites ist ebenfalls unsicher. Doch woher kommt diese Irritation? Ist die Zeit schneller als erwartet verstrichen? – Nein, denn es ist noch kein Unterricht! Aber die Schüler verhalten sich bereits so (halblautes Flüstern), als hätte der Unterricht schon begonnen. Die Schülerinnen und Schüler erkennen die Pause nicht mehr, da sie bereits die Unterrichtsordnung hergestellt haben. Damit gestaltet sich der Unterrichtsauftakt anders, als diejenigen, die Wagner-Willi im Rahmen ihrer Ethnographie rekonstruiert: Der Übergang zur Stunde findet häufig vor dem offiziellen Beginn der Unterrichtsstunde statt, und wenn er erst durch die Lehrerin initiiert wird, wird er nicht über Gebühr hinausgezögert (vgl. ebd.: 116ff.). Meyer (2009) sieht eine wesentliche Funktion des Stundenbeginns in der Disziplinierung der Schülerinnen und Schüler (ebd.: 128). Die Szene zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler sich vor Beginn der Unterrichtsstunde bereits selbst diszipliniert und Unterrichtsbereitschaft hergestellt haben. Üblicherweise beginnt eine Unterrichtsstunde in der hier beobachteten Gymnasialklasse wie folgt: Fünf Minuten vor dem offiziellen Unterrichtsbeginn holen die Schülerinnen und Schüler ihr Unterrichtsmaterial hervor und legen es ordentlich (‚auf Kante‘) auf ihren Tisch. Dann laufen die Schüler wieder durch den Klassenraum und unterhalten sich. Die Lehrerin bzw. der Lehrer betritt in der Regel ca. drei bis fünf Minuten vor dem Klingeln den Klassenraum, schreitet zum Pult, sortiert das Arbeitsmaterial oder schreibt erste Unterrichtsinhalte an die Tafel. Währenddessen sinkt nach und nach die Lautstärke im Klassenzimmer. Es klingelt und spätestens jetzt beziehen die letzten Schüler zügig ihre Plätze. Die Kinder sitzen aufrecht, der Blick ist dem Lehrer zugewandt. Dann begrüßt der Lehrer die Klasse und die Kinder grüßen zurück. Im nächsten Schritt geben die Lehrer einen
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Überblick ihrer Unterrichtsstunde, damit die Schüler wissen, was sie in den nächsten 45 Minuten zu erwarten haben. Gegen 8:00 klingelt es. Frau Sommer begrüßt die Klasse mit einem „Guten Morgen“ und erklärt den Ablauf der heutigen Stunde: Zunächst gäbe es eine Teilnote, dann würden sie sich mit der Stellentafel beschäftigen, mit „großen Zahlen“.
Die Stundeneröffnung enthält neben der Begrüßung der Schüler einen groben Überblick über das Thema (seltener: die Themen) der Unterrichtsstunde. Es wird auf die anstehenden Unterrichtsinhalte, anstehende mündliche Leistungskontrollen oder auf die Rückgabe von Tests oder Klassenarbeiten hingewiesen. Was stets ausbleibt ist ein Unterrichtseinstieg, der die Schülerinnen und Schüler für die Inhalte des Unterrichts motivieren soll. Die Form der Unterrichtseröffnung ist typisch. Mitunter ergeben sich kleinere Abweichungen: An die Tafel hat derweilen Frau Stern Folgendes hingeschrieben: Unsere Organe
Ernährung
Es ist 10:48 – also noch zwei Minuten Pause. Carmen schreibt das Tafelbild ab und unterstreicht die Worte „Unsere Organe“ und „Ernährung“ zweifach. […] 10:50. Es klingelt. Sofort beziehen die Kinder ihre Sitzplätze. Es wird sofort ruhig. An der linken Tafelseite entdecke ich noch folgende Anschrift: „Mündl. LK Atmung“. Nach kurzer Begrüßung wird Rebekka an die Tafel zur mündlichen Leistungskontrolle gerufen.
Im Gegensatz zur Mathematiklehrerin wird der Überblick über die anstehenden Stundeninhalte (Themen Organe und Ernährung, mündliche Leistungskontrolle zum Thema Atmung) schriftlich gegeben. Damit eröffnet die Lehrerin Frau Stern ihren Schülerinnen und Schülern ein kurzes Zeitfenster, sich vor Unterrichtsbeginn mit den anstehenden Themen auseinanderzusetzen. Dies ermöglicht beispielsweise den Schülerinnen und Schülern angesichts der „Mündl. LK Atmung“ noch einen schnellen Blick auf die Mitschriften zu werfen. Carmen jedenfalls scheint sich ihrer Sache sicher zu sein: Sie nutzt die Zeit bereits, um den späteren Tafelabschrieb vorzubereiten. Nach dem Klingeln begrüßt die Lehrerin die Klasse und ruft Rebekka nach vorn – aufgrund des Tafelanschriebs ist Rebekka und allen anderen Kindern klar, was nun passiert: Zuerst wird Rebekka mündlich geprüft, dann werden die Themen Organe und Ernährung besprochen werden. Frau Nalinski begrüßt die Klasse und gibt ihnen 15 Minuten für die Vorbereitung. Hans-Peter fragt, ob er seinen Test heute zurückkriegen würde. Ja – es scheint sich um seinen Erkundetest zu handeln. Die Kinder sollen nun an die Gruppenarbeit gehen.
Die knappe Formulierung des Ethnographen „gibt ihnen 15 Minuten für die Vorbereitung“ zeigt, dass allen Beteiligten (einschließlich dem Ethnographen) klar ist, was nun zu tun ist. (Die Schülerinnen und Schüler sollen eine Präsentati-
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on vorbereiten.) Nicht klar ist allerdings, ob der Erdkundetest heute zurückgegeben wird – insofern stellt sich der Stundenauftakt aus Schülersicht als unvollständig heraus. Hans-Peter fragt daher selbstbewusst nach. Fragen zur Gestaltung der Unterrichtsstunde dürfen allerdings nicht zu früh gestellt werden. Geschieht dies, laufen die Schüler Gefahr, eine verärgerte Reaktion seitens der Lehrer zu bekommen. Dies gilt in besonderer Weise, wenn sie Fragen zur Unterrichtsstunde vor dem offiziellen Unterrichtsbeginn stellen. Nichtsdestotrotz zeigt die Analyse solcher Szenen, dass sich die Lehrerin durchaus in der Pflicht sieht, ihren Schülern einen Überblick über die anstehende Stunde zu geben. Doch Fragen und Anfragen haben ihren Ort und ihre Zeit und diese werden von den Lehrern bestimmt. Das Zeitfenster für Nachfragen ist direkt nach der abgeschlossenen Stundeneröffnung. Im Gegensatz zu den Stundeneröffnungen, wie sie sich in den meisten Fächern vollziehen, kommt es im Englisch-, Musik- und Kunstunterricht häufiger zu anderen Varianten der Eröffnung. Hier weichen die Lehrerinnen vom typischen Skript ab. Im Kunstunterricht wird mitunter ein Unterrichtseinstieg gewählt, der motivieren soll, indem beispielsweise zunächst ein Holzscheit herumgereicht wird, bevor die Lehrerin darauf zu sprechen kommt, worum es heute in der Unterrichtsstunde gehen wird. Der Englisch- und Musikunterricht beginnt häufig direkt mit der Begrüßung durch ein kurzes (englisches) Lied. Danach wird meist direkt zum Unterrichtsgegenstand – z. B. den Hausaufgaben – gewechselt. Diese Stunden folgen einem bekannten Muster. Daher scheinen die Lehrerinnen sich auch nicht in der Pflicht zu sehen, zu Beginn der Stunde über den zu erwartenden Verlauf des Unterrichts aufzuklären. Die Schülerinnen und Schüler wiederum fragen auch nicht nach. An die Stelle einer ausführlichen Erläuterung tritt Routine im Umgang mit einem vertrauten Muster. Zuletzt soll noch eine Stundeneröffnung des Kunstunterrichts dargestellt werden, die für produktive Phasen des Kunstunterrichts typisch ist: Die Lehrerin kommt rein. Ich gehe vorn zum Pult und möchte der Lehrerin Frau Gründel „Guten Tag“ sagen, aber ich komme nicht an sie heran, da sie bereits von einem Pulk Schülerinnen und Schüler umringt wird. Als erste ist Carmen an der Reihe, sie zeigt Frau Gründel ihr Bild und holt sich Kritik von ihr ein. Die schwarzen Flecken rechts oben – es sind Bäume, klärt sie Carmen auf – würden „den Blick nach rechts oben ziehen“, sie solle an anderen Orten ebenfalls in dieser Art Bäume malen, damit es „ausgewogener“ wird. Ferner sei das Gras recht hübsch, aber sie solle es über das Bild entfalten, die weiße Fläche mehr ausnutzen, vor allem hinter und um den weißen Sterndrachen herum, damit dieser besser zur Geltung käme. Ansonsten sei das ein schönes Bild, lobt Frau Gründel. Andere Kinder zeigen Zeichenutensilien vor und fragen nach ihrer Verwendungsweise ... Nun bin ich dran, wir schütteln uns die Hände und ich setze mich wieder auf meinen Platz.
Für diese Variante des noch nicht eröffneten Stundenbeginns ist typisch, dass die Kinder noch vor dem Unterrichtsbeginn die Zeit nutzen, um sich Ratschläge für
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2 Die Praktiken des Schulerfolgs
ihre Arbeiten einzuholen. Die Kinder wissen, dass sie heute an ihren Kunstwerken weiterarbeiten werden. Einige Schüler haben bereits vor dem Unterrichtsbeginn ihre Kunstwerke hervorgeholt und angefangen zu zeichnen. Andere Schülerinnen und Schüler warten am Pult auf die Kunstlehrerin, der sie regelrecht mit ihren Fragen auflauern. Abgesehen von den wartenden Schülern läuft der Unterricht bereits, auch ohne expliziten Startschuss durch die Lehrerin: Viele Schüler arbeiten bereits eifrig an ihren Kunstwerken weiter. Es kommt in den praktischen Phasen des Kunstunterrichts häufig vor, dass die offizielle Unterrichtseröffnung erst nach drei bis sieben Minuten nach dem Klingeln stattfindet. Der Gestus der Stundeneröffnung ist derjenige einer Vergegenwärtigung der Aufgaben, denen die Schüler bereits nachgehen. Zusammenfassend kann für die Praktiken der Schülerinnen und Schüler der Gymnasialklasse gesagt werden, dass sie in aller Regel bereits vor dem offiziellen Stundenbeginn Unterrichtsbereitschaft herstellen. Der Stundenauftakt ist damit von der Funktion der Disziplinierung entlastet. Die Lehrperson kann nun einen orientierenden Überblick anbieten oder sogar gleich direkt nach der Begrüßung mit dem Unterricht beginnen. Seitens der Schüler gibt es zwei Kategorien von Praktiken: Die einen dienen der Disziplinierung (Aufsuchen des Sitzplatzes, ruhig werden, etc.), andere wiederum zielen darauf ab, zumindest grobe Orientierung darüber zu bekommen, was in den folgenden fünfundvierzig Minuten passieren wird. Helmke (2006) weist darauf hin, dass Unterricht auch als Angebot zu betrachten sei (ebd.: 43), und dass sein Ertrag von „seiner Nutzung“ (ebd.) durch die Schüler abhänge. Eikenbusch (2009) problematisiert ebenfalls ein Verständnis, dass die Lehrperson die alleinige Verantwortung für die Unterrichtsabläufe (und -erfolg) trage. Die Schüler seien nicht nur Betroffene der Maßnahmen des Lehrers, sondern sie sind auch Mitwirkende. Die Schülerinnen und Schüler sollten daher lernen, sich selbst „zu organisieren und zu führen“ (ders.: 8). Die Beobachtungen in der Gymnasialklasse zeigen sehr deutlich, dass die Schülerinnen und Schüler das Angebot der Lehrenden nutzen wollen und dass sie eigenständig an der Herstellung eines schnellen Unterrichtsbeginns wesentlichen Anteil haben. 2.3.2 Arbeitsanweisungen Um als Schüler erfolgreich sein zu können, muss man wissen, was zu tun ist. Die Schülerinnen und Schüler müssen die Aufgabe verstehen und sie hinsichtlich zentraler Dimensionen wie z. B. der Zeit und der benötigten Hilfsmittel erfassen. Im Folgenden werden einige Beispiele aus Unterrichtsstunden dargestellt, in
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denen es um Arbeitsanweisungen geht. Zunächst folgt ein Beispiel aus dem Geschichtsunterricht: Hr. Timm legt einen Zeichentrickfilm in den VHS-Rekorder ein. Ich sitze neben Hermann. Während der Lehrer noch am Gerät hantiert, wird das von ihm kreierte Arbeitsblatt „Der Neandertaler“ ausgeteilt. Neben einem Bild von einem Neandertaler, das ihn als klein aber „stark wie einen Schwergewichtsboxer“ ausweist, stehen auf der linken Seite Fragen, die die Schüler während des Filmguckens beantworten sollen. - Wie lebte der Neandertaler? (Stichpunkte) - Unterscheidungsmerkmale zu seinen Vorgängern! - Werkzeuge: - Aussehen: - Aufgaben: - Welche Informationen waren für dich besonders interessant?
Herr Timm teilt den Schülerinnen und Schülern vor dem Ansehen eines Videos ein Arbeitsblatt aus. Damit signalisiert der Lehrer, dass sie heute nicht einfach ein Video gucken werden, sondern dass das Betrachten des Films Zwecken des Unterrichts dient. Konkret: Die Kinder sollen Fragen beantworten und anschließend das Arbeitsblatt in ihrem Geschichtsordner abheften, so dass es später als Lernmaterial zur Verfügung steht. Da die Kinder ihrerseits keine Fragen zum Arbeitsblatt haben, scheint der Arbeitsauftrag soweit klar zu sein, auch wenn die Arbeitsanweisungen äußerst knapp formuliert sind. Schlussendlich können die ausgefüllten Blätter eingesammelt und vom Lehrer kontrolliert werden. Das zweite Beispiel behandelt ebenfalls eine schriftliche Aufgabenstellung im Erdkundeunterricht: Frau Nalinski kehrt an die Tafel zurück, sie fährt mit ihrem Anschrieb der Aufgaben fort. An der Tafel steht: - Beschreibe die Lage der Zone auf der Erde. - Welche Merkmale weist die Natur auf? (Vergleicht die Tier- und Pflanzenwelt mit unserem Lebensraum.) Greta meldet sich. Frau Nalinski hält entgegen: „Kleinen Moment, lasst mich erst einmal zu Ende schreiben!“ Sie fährt mit ihrem Anschrieb fort: - Beschreibt das Leben der Menschen in der Region! (Kleidung, Behausung, Ernährung)
Die Erdkundelehrerin schreibt die Aufgabenstellung an die Tafel, damit die Schülerinnen und Schüler sie für sich ins Heft übernehmen können. Durch das Abschreiben wird die Aufgabenstellung fixiert, so dass sie sich zu verschiedenen Zeitpunkten vergegenwärtigen lässt. Die Fixierung gibt den Schülerinnen und Schülern zudem die Möglichkeit, die Lehrerin mit ihrem Arbeitsauftrag zu konfrontieren, falls sie von den Schülern Ergebnisse einfordern sollte, welche nicht angekündigt waren. Aufschlussreich ist, dass die Schülerin Greta die Situation
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des Tafelanschriebs dazu nutzt, der Lehrerin Fragen zu stellen. Doch sie wird zurückgewiesen, da sie die Regel verletzt, dass Nachfragen erst dann gestellt werden dürfen, wenn die Lehrerin ihre Aufgabenstellung beendet hat. Durch die Zurückweisung stellt die Lehrerin ihrerseits heraus, dass sie der Ansicht ist, dass die Aufgabenstellung so präzise ist, dass sie verstanden werden kann – sofern man sie nicht vor der Beendigung unterbricht. Andererseits markiert sie, dass durchaus ein Raum für Nachfragen vorhanden ist, sofern sie im richtigen Zeitfenster gestellt werden. Fragen haben ihren Ort und voreilige Fragen verstoßen gegen effizientes Unterrichten. Auch die Mathematiklehrerin nutzt für ihre Aufgabenstellungen die Tafel. Normalerweise schreibt die Lehrerin die Aufgaben entweder selbst an die Tafel oder diktiert sie ihren Schülern ins Heft. Stehen sie nicht an der Tafel, so sind sie Arbeitsblättern oder Mathematikbüchern zu entnehmen. Ein freies Unterrichtsgespräch, so wie es in anderen Fächern häufiger geschieht, wurde nicht beobachtet. Der mathematische Diskurs dieses Unterrichts ist vornehmlich ein schriftlicher Diskurs; ein Unterrichtsgespräch bindet sich eng an die Formeln und Zeichen an der Tafel. – Eine weitere Szene aus dem Kunstunterricht: „Nun soll es um das Thema Herbst gehen“, kündigt die Lehrerin an. [...] „So, jetzt macht mal die Augen zu. So, wir malen nun ein Bild zum Thema Herbst, lasst mal den Herbst vor euren geistigen Augen entstehen. Denkt mal an Drachenformen, die man im Herbst fliegen sieht. Nicht an die Monster!“ Die Lehrerin macht nun das Licht aus. Sie geht zur tragbaren Stereoanlage und spielt eine CD ab. Es ist leichte Entspannungsmusik, netter, angenehmer Synthesizersound, mit einer einfachen Trommel unterlegt. Friedemann lehnt sich zurück, kippelt, dann wippt er den Takt mit seinen Füßen. Viele Kinder liegen auf dem Tisch, einige sitzen sehr tief, d. h. weit zurück gelehnt. Friedemann wippt den Takt der Musik. Greta und Laura sitzen aufrecht. Carmen malt mit ihrer Zeichenfeder bei geschlossenen Augen synchron zur Musik Kreise in die Luft. Dann fängt sie an, sich mit Tusche auf den Oberarm zu zeichnen. Die Musik wird allmählich – nach einer längeren sphärischen Phase – rhythmischer. Friedemann wippt unbeirrt zum Takt der Musik. Greta sitzt aufrecht, streichelt sich ihr Kinn mit den Fingern. Dann holt die Lehrerin die Kinder aus der Entspannungsübung zurück: „So, alle wieder da?! Hat jeder von Euch nachempfunden, wie der Wind im Herbst die Blätter wirbelt? Jeder von Euch soll jetzt sein Tintenfass aufstellen. Stellt es diagonal zur Hand, mit der ihr arbeitet. Möglichst weit weg.“ […] „Also, denkt ans Drachenfest, manche Drachen sind ganz weit hinten und sehr klein, denkt an die Formen, die klassische Form, auch die fliegenden Kästen, das könnt ihr alles auf euer Blatt zeichnen. Denkt daran, dass es windig aussehen soll. Malt dunkle Wolken! Macht Drachen, die die Halter im Wind schütteln!“ Hans-Peter fragt, ob ein Drache auch einen Mann hochheben darf. – „Ja, aber nicht alle!“, sagt die Lehrerin: „Aber natürlich zieht ein Drache!“ Und Frau Gründel macht jemanden nach, der schwer am Seil zu halten hat. Dann drückt sie sich gegen den starken Wind. – Friedemann blödelt mit Klaus-Maria: „Der Drache liegt unten, aber der Mann fliegt in die Luft!“ Die Lehrerin fasst die Aufgabe noch einmal zusammen: „Mir geht es um den Herbstwind, um den Sturm.“ Friedemann blödelt mit Klaus-Maria immer noch über den wegfliegenden Mann. Von vorn kommen weitere Anweisungen: „Herbst und Wind und Drachen sollen drauf sein. […] Denkt daran, die Feder zu ziehen, nie zu schieben.“ Die Musik
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läuft. „Immer ziehen, zum Körper“, fügt Frau Gründel hinzu. […]. „Lasst Euren Drachen steigen!“, ruft die Lehrerin motivierend in die Klasse. „Und denkt daran, die fliegen weit oben!“ Greta fragt etwas Unverständliches. „Denkt daran“, sagt die Lehrerin zu allen Kindern, „in der Kunst ist alles erlaubt.“
Im Gegensatz zu den präsentierten Aufgabenstellungen der Fächer Geschichte, Biologie und Mathematik stellt die Kunstlehrerin Frau Gründel die Aufgaben mündlich und unterstreicht sie durch Musik. Ihr Arbeitsauftrag ist schillernd, denn einerseits zielt die Lehrerin auf ein recht konkretes, stereotypes Bild, das sie den Schülern zur Gestaltung aufgibt: „Herbst und Wind und Drachen sollen drauf sein“ und andererseits verweist sie darauf, dass „in der Kunst […] alles erlaubt“ sei. Durch die meditationsähnlichen Techniken konkretisiert sie ihren Arbeitsauftrag: Die Musik ist sphärisch und doch rhythmisch, was bedeutet, dass der Wind keinesfalls bedrohlich ist; er ist eher spielerisch, keck, man sieht unwillkürlich orangerote und gelbe Blätter im warmen Sonnenlicht wirbeln, der Wind trägt Drachen empor, es ist windig, aber doch fröhlich und friedlich. Auch wenn die Lehrerin von „Sturm“ redet, zeigt uns die Musik weder abgedeckte Dächer, noch Hagelschäden, geschweige denn überflutete Landstriche oder zerstörte Ernten. Das Bild, das die Kinder zeichnen sollen, kann aus der Aufgabenstellung und der Musik abgeleitet werden – präzise ist es nicht. Daher fragt Hans-Peter auch nach, ob ein Drache einen Mann hochheben darf. Die Antwort der Lehrerin, die eine solche Umsetzung vermeiden will, zeigt, dass Hans-Peter ein recht gutes Gefühl dafür entwickelt hat, was die Lehrerin schlussendlich für ein Produkt von ihm haben möchte. Den Kindern ist daran gelegen, Arbeitsanweisungen möglichst präzise im Sinne der Lehrererwartung genannt zu bekommen, so dass sie nicht Gefahr laufen, aufgrund falscher Motivwahl oder anderer ‚Fehler‘ eine schlechte Note zu erhalten. Im Ganzen kann gesagt werden, dass die Lehrerinnen und Lehrer der Gymnasialklasse sehr darum bemüht sind, möglichst präzise Aufgabenstellungen zu erteilen, damit die Schülerinnen und Schüler wissen, was sie tun sollen. Die Präzision der Aufgabenstellung geht oft mit einer Verschriftlichung einher. Die Lehrer schreiben Aufgaben entweder für alle sichtbar an die Tafel (bzw. lassen sie anschreiben) oder verweisen auf Aufgaben in Arbeitsblättern und Schulbüchern. Die Schüler wiederum haben diese Aufgaben abzuschreiben. Verschriftlichte Aufgaben haben den Vorteil, dass sich die Schülerinnen und Schüler die Aufgabenstellung auch zu späterer Zeit erneut vergegenwärtigen können. Eine fixierte Aufgabenstellung muss zudem nicht neu verhandelt werden. Wenn den Schülern etwas unklar ist, dann dürfen sie im richtigen Zeitfester nachfragen. Die Nachfragen können – wie am Beispiel des Kunstunterrichts gezeigt wurde – darauf abzielen, die nicht eindeutig explizierten Vorstellungen einer Lehrerin zu eruieren, um sicher zu gehen, dass sie die Erwartungshaltung der Lehrerin auch genau treffen und keine bösen Überraschungen bei der späteren Leistungsbeur-
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teilung zu befürchten haben. Die Produktion ihrer Kunstwerke ist an Effizienz und Pragmatik orientiert, welcher sie scheinbar ohne größerem Interesse oder Neugier nachgehen. 2.3.3 Nutzung der Unterrichtszeit Interviewer: Was ist denn guter Unterricht für dich? Klaus-Maria: Heute hatten wir `ne Praktikantin in Religion, die hat die Stunde gemacht. Es sind ja im Moment viele Studenten hier, die Stunden halten wollen. Die hat die Stunde nicht optimal genutzt. Die hat uns ein Blatt gegeben mit drei Synoptikern. Wir sollten die Gemeinsamkeiten heraussuchen. Und diese Tabelle sollte geteilt werden und mit Überschriften versehen werden. Dafür hatten wir den Rest der Stunde Zeit. Sie hat uns ‘nen Arbeitsblatt gegeben, drei Aufgaben vorgelesen, und das war‘s dann. Nicht optimal die Zeit genutzt. Ich finde, bei gutem Unterricht sollte man nicht sagen, „Buch auf, selbstständig arbeiten, wir vergleichen dann“ (Interviewauszug zum Zeitpunkt der siebten Klasse)
Klaus-Maria kann keinen positiven Entwurf von ‚gutem Unterricht‘ geben; stattdessen beschreibt er ein Kriterium, das ‚guten Unterricht‘ verletzt: Keine optimale Nutzung der Unterrichtszeit. Das heißt vor allem, dass die Schülerinnen und Schüler nicht mit einer unterfordernden Aufgabe sich selbst überlassen werden. Klaus-Marias Ausführung verweist also auf eine Unterrichtskultur, die durch eine ‚gute Nutzung der Zeit‘ gekennzeichnet ist. – Es folgen Beobachtungen aus dem Biologieunterricht: Klaus-Maria sagt, dass es sich um eine Nahrungskette handele. – „Woraus besteht sie?“ – Hans-Peter antwortet: „Plankton, Wasserpflanzen, Kleinstlebewesen, kleine Fische, Raubfische.“ – „Ich behaupte einmal, ohne Wasserpflanzen keine Fische“, sagt die Lehrerin. – Carmen meldet sich, aber sie kommt nicht dran. „Ja, Wasserpflanzen machen den Sauerstoff“, weiß ein Mädchen. „Das außerdem“, pflichtet ihr Carmen bei und meldet sich tapfer weiter. Sie streckt den Arm weit nach oben, lehnt sich zurück und stützt den rechten Arm mit ihrer linken Hand (am Ellenbogen des rechten Armes). Es geht nun wieder Schlag auf Schlag. Das Unterrichtsgespräch ist zum Mitschreiben zu schnell. [...] Dann werden noch Fische gefunden, die man mit der Hand fangen kann, ich weiß nicht mehr welche. […] Es geht alles viel zu schnell für mich.
Das Tempo des Unterrichts ist häufig so hoch, dass es auch einem geübten Protokollanten nicht mehr möglich ist, den ungefähren Verlauf des Unterrichtsgespräches mit Zettel und Stift festzuhalten. Das hohe Tempo erstreckt sich mitunter über ganze Unterrichtsstunden. Es folgen einzelne Ausschnitte einer Englischstunde: „Good morning“, grüßt die Lehrerin Frau Schütze. – „Good morning“, antwortet die Klasse. Für mich unvermittelt stimmt Frau Schütze ein kurzes Lied an, das von der
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Klasse mit relativer Inbrunst gesungen wird. Es geht um die englische Begrüßungsformeln (Hello – Hello – I am fine and how are you? Im fine and how are you?) Dann ein schneller Wechsel. Die Zahlen von 1 bis 20 kommen nun dran. Das macht die Lehrerin indem sie durch die Klasse geht und die Kinder in Reihenfolge drannimmt. One-two-three … bei thirteen kurzes Stocken, ansonsten nahtlos durch. Bei zwanzig angekommen fragt sie die übrig gebliebenen Kinder, ob sie auch noch weiter [zählen] können, was sie dann auch bis (ca.) twentyfour tun. […] Dann erklärt die Lehrerin, dass „plus“ [plas] und „minus“ ['maines] das Gleiche im Deutschen wäre: plus und minus. Greta schnappt sich ihr Vokabelheft und schreibt in die Spalte für Englisch „plus“ und „minus“ und in die Spalte für Deutsch „plus“ und „minus“. So weit ich das sehe, ist sie die einzige, die das tut. Jedenfalls diktiert Frau Schütze bereits in Englisch Aufgaben, die die Kinder aufschreiben, ausrechnen und beantworten sollen. „five plus fourteen… nineteen minus eight“ Greta verpasst die ersten vier Aufgaben und steigt erst bei Nummer fünf ein. Greta wird als erste drangenommen. „Ja ich hab die ja nicht“, versucht sie zu erklären, aber die Lehrerin sagt „ah“ und schnipst mit den Fingern und nimmt sofort jemand anderes dran, der die Antwort weiß. Greta guckt derweilen ins Vokabelheft, schreibt, killert was weg. Die Lehrerin weist noch mal drauf hin, dass es bei den Worten thirteen, fifteen, und eighteen „Schwierigkeiten“ gibt. […] Dann veranlasst die Lehrerin, dass die Zahlen laut im Chor gesprochen werden. Der Chor spricht sein Zahlenlied. Am Ende sagt Frau Schütze: „Irgendwer ist ziemlich langsam. Ich gucke keinen an.“, und tut’s zielsicher und grinst dabei.
Wie die Szene zeigt, hat die Schülerin Greta mit der hohen Geschwindigkeit des Englischunterrichts regelrecht zu kämpfen. Nach dem Eröffnungslied kommt gleich ein „schneller Wechsel“. Die Lehrerin geht durch die Reihen, zeigt auf einzelne Kinder und lässt sich die gesuchte Zahl sagen. Die Aufforderung, die richtige Zahl zu sagen, verbindet sich in dieser Szene mit der unmittelbaren Anwesenheit der durch den Raum gehenden Lehrerin. Die Aufforderung bekommt dadurch einen unmittelbareren, etwas bedrohlichen Charakter. Der dritte Absatz zeigt, dass die Lehrerin Frau Schütze mit ihrem Unterricht so schnell voran schreitet, dass Greta Mühe hat, hinterher zu kommen. Als Greta sich angesichts ihres ‚Nicht-Habens‘ erklären will, gibt ihr die Lehrerin keine Zeit; sie wird einfach übergangen. Der Duktus des Unterrichts verdeutlicht, dass von den Schülern schnelles und konzentriertes Arbeiten gefordert ist. Raum für Erklärungen von Fehlern oder Entschuldigungen gibt es nicht. Der Schüler hat sich einzufügen und mitzumachen, er muss die geforderte Leistung erbringen. Wenn er sich auf das hohe Tempo nicht einlassen kann (oder will), wird er früher oder später Probleme bekommen. Er läuft Gefahr, ‚abgehängt‘ zu werden. Die Unterrichtszeit wird von den Lehrerinnen und Lehrern bis zur letzten Minute genutzt. Es kommt vor, dass den Lehrerinnen und Lehrern am Ende der Stunde geschätzte drei Minuten fehlen – manchmal werden sie aber auch früher fertig. Dann nutzen sie die restlichen Minuten für Wiederholungen und Lern-
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spielchen. Vor dem offiziellen Stundenende wird nicht in die Pause entlassen; die 45 Minuten Unterrichtszeit werden genutzt! Am Ende der Stunde – die letzten zwei Minuten sollen nicht ungenutzt verfließen – gibt es nun noch ein „kleines Gehirnjogging“. „Bücher, Hefte zu!“ Frau Stern nimmt Hans-Peter dran. Der soll ein Wirbeltier mit K nennen. Er sagt Karpfen. Sein Hintermann soll nun ein Wirbeltier mit N nennen, usf., bis Frau Stern neue Fragen stellt. Es klingelt fünf Fragen später.
Es kann abschließend gesagt werden, dass die Unterrichtsgeschwindigkeit hoch ist. Um an diesem Unterricht erfolgreich teilnehmen zu können, haben die Schülerinnen und Schüler ein hohes Maß an Selbstdisziplin aufzubringen. Aufmerksam sein, sich dem Unterricht zuwenden und immer am ‚Ball bleiben‘ stellen quasi eine Art ‚Überlebensstrategie‘ dar. Die Schüler müssen beständig etwas tun; sie sind bis auf Stillarbeitsphasen nahezu permanent herausgefordert. Es ist zu vermuten, dass die Schüler durch die ständige Herausforderung nahezu vollständig ‚gefangen genommen‘ werden, da es nur wenig Gelegenheiten für Rückzug oder kurzzeitiges Ausklinken gibt. Das Orientiert-sein-Müssen auf das Unterrichtsgeschehen nimmt sehr viel Raum ein. Zugleich geht es mit einem hohen Maß an Routine und Geschäftsmäßigkeit einher: Individuelles Bearbeiten von Aufgaben oder Interesse geleitetes Vertiefen von Unterrichtsstoff haben in den meisten Unterrichtsstunden keinen Platz. Der Preis der Geschwindigkeit ist Gleichförmigkeit. Das hohe Unterrichtstempo erinnert an einen modern geschnittenen Film, der sich durch ein schnelles Erzähltempo auszeichnet. Schnelle Schnitte und eine zügig voran schreitende Geschichte sollen beim Zuschauer Spannung erzeugen – oder wenigstens keine Langeweile aufkommen lassen. Analog dazu lässt sich angesichts des Tempos vermuten, dass der Kampf ums Nachvollziehen wenig Raum für Langeweile lässt. Die Inhalte können durchaus langweilig sein – aber es stellt sich keine Langeweile im Sinne von Leerlauf ein. Im Zeitraum der fünften und sechsten Klasse konnte ich jedenfalls kaum Anzeichen von Langeweile entdecken. Das hängt sicherlich nicht damit zusammen, dass der Unterricht an sich übermäßig spannend und interessant gewesen wäre – vielmehr scheinen die Schülerinnen und Schüler keine Zeit für Praktiken zu haben, die man für gewöhnlich mit Langeweile assoziiert. Zudem würde eine ostentative Darstellung von Langeweile auch gegen das Image vom braven und erfolgreichen Schüler verstoßen (vgl. Kapitel 2.2). – Alles in allem ist zu vermuten, dass das hohe Tempo die Schülerinnen und Schüler der Klasse beschäftigt hält und in das Geschehen einbindet. Das heißt allerdings auch, dass der Unterricht für die Schülerinnen und Schüler, die dem Unterricht gerade noch so folgen können, zu einer Gefahr wird. Denn wenn diese Schüler den Anschluss verlieren, dann dürfte der verpasste Stoff nur noch mit intensiver Nachbereitung (z. B. durch Nachhilfe) aufzuholen sein. Außerdem fordert das Unterrichtstempo be-
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ständig alle Schülerinnen und Schüler heraus: Die optimale Nutzung der Zeit nimmt den Schülerinnen und Schülern auch wichtige Erholungsphasen für ihre Regeneration. 2.3.4 Prüfungsankündigungen und Prüfungsvorbereitungen Im Rahmen der Beobachtungen im Gymnasium haben wir (bis auf eine Ausnahme) nur zwei Varianten von Prüfungen beobachtet können: regelmäßige und angekündigte. Spontan durchgeführte Tests zum Zwecke der Disziplinierung sind nicht beobachtet worden. Beinah jede Mathematikstunde zum Zeitpunkt der fünften Klasse beginnt mit einer mündlichen Leistungskontrolle. Diese Prüfungen werden nicht angekündigt, da sie regelmäßig stattfinden. Die Schüler haben sich selbstständig auf diese Prüfungen und auch auf die Durchführung dieser Prüfungen einzustellen (vgl. hierzu ausführlich Kapitel 2.4.1). Es konnte häufiger beobachtet werden, dass die Lehrerin den Schülerinnen und Schülern die Chance eingeräumt hat, ‚freiwillig‘ die Prüfung zu bestreiten. Dieses Angebot haben die Schüler auch gern angenommen, nicht zuletzt da sie den Vorteil des Gut-vorbereitet-Seins nutzen können. Ist die Prüfung bestritten, können die Schüler mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass sie in den nächsten Wochen die mündliche Prüfung nicht mehr absolvieren müssen. Die Prüfungsroutinen ermöglichen den Schülern einen strategischen Umgang mit der Prüfungssituation: Sie können sich auf die Prüfung intensiv vorbereiten, wenn zu erwarten ist, dass sie drankommen werden, und die Zügel schleifen lassen, wenn sie gerade dran waren. – Eine weitere Szene aus dem Biologieunterricht: Am Ende der Stunde kündigt Frau Stern „die Hausarbeit“ an. Ein Schülerchor ertönt: „Neeeeeeinnnn!“ – „Wer sagt nein der kriegt zwei.“ Niemand meldet sich. Frau Stern weiter: „Seite 65 Aufgabe Eins. Plus lernen der Fortpflanzung. Ihr müsst Paarung und Befruchtung können. Ihr könntet schriftlich abgefragt werden.“ – „Gibt es einen Test?“, wollen die Schüler wissen. – „Ja, es könnte sein“, wiederholt sich Frau Stern.
„Ihr könntet schriftlich abgefragt werden“ – Das klingt beinahe wie eine Drohung. Soll diese Botschaft die Schülerinnen und Schüler zum Lernen motivieren – auch wenn gar kein Test stattfindet? Oder handelt es sich – wenn man den leicht ironischen Habitus der Lehrerin berücksichtigt – um eine Ankündigung, die zwar subtil im Wortlaut aber eindeutig in der Sache ist? Die Schüler jedenfalls fordern Klarheit ein, und die Lehrerin kommt dem Wunsch der Schüler nach. Die Klasse wird allmählich (kurz vor Ende der Stunde) laut, Carmen macht ihr Etui zu, öffnet ihr HA-Heft. „Nächste Stunde gibt’s eine Kurzkontrolle ...“, das sollen sich
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die Kinder notieren, sagt Frau Stern: „Merkmale der Lebewesen und alles über Fische!“. Carmen öffnet ihr Etui, holt einen Stift heraus und schreibt mit Bleistift die Notiz ins Heft: „KK Fische, Skelett“
Im Gegensatz zur ersten Szene handelt es sich eindeutig um eine Testankündigung. Die Schüler sollen den Test ins Hausaufgabenheft eintragen. Aufschlussreich ist, wie die Schülerin Carmen die Ankündigung von Frau Stern notiert. Aus „Merkmale der Lebewesen und alles über Fische“ macht Carmen „KK Fische, Skelett“. „KK“ steht für Kurzkontrolle, „Fische“ für „alles über Fische“. Diese Teile ihrer Notiz stellen eine verknappte Form der Ankündigung dar. Irritierend ist allerdings, dass sie „Merkmale der Lebewesen“ als „Skelett“ notiert. Nicht alle Lebewesen verfügen über ein Skelett, und ein Skelett ist nicht das einzige Merkmal von Lebewesen. Warum also diese Notiz? Es ist zu vermuten, dass in den letzten Unterrichtsstunden das Thema Skelett als ein Merkmal und Unterscheidungskriterium von Lebewesen besprochen wurde. Carmen schränkt mit ihrer Übersetzung das Themengebiet auf das, was sie als Gegenstand vermutet, ein. Zwar läuft sie damit Gefahr, sich nicht in voller Breite auf den Test vorzubereiten, andererseits ermöglicht ihr diese Fokussierung, sich gezielter auf die Prüfung vorzubereiten. Carmen geht ein kalkulierbares Risiko ein, um ihre Zeitund Energiereserven optimal zu nutzen. – Eine weitere Ankündigung: „Und jetzt werde ich euch ärgern. Nächste Woche kommt ein Test. […] Ja, Kurzkontrolle darfst du auch schreiben. So, jetzt schauen wir noch mal in den Hefter und gucken, was dran kommen kann. Was haben wir gemacht? Als erstes haben wir uns vorgestellt. Das brauchen wir nicht. Ich will nicht wissen, was eure Lieblingswurst ist. Als zweites Thema hatten wir Wege, Labyrinthe und Irrgärten. Das solltet ihr wissen, was das ist und was das unterscheidet. Dann haben wir Bilder für das menschliche Leben gemacht. Ich möchte auch, dass ihr das wisst. Wir haben danach das Gleichnis vom verlorenen Sohn gemacht. Ihr solltet wissen, was ein Gleichnis ist, den Begriff solltet ihr können. Herakles brauchen wir nicht. Ich frage euch auch nicht nach eurem Lebenslauf. Ich frage euch nächste Stunde nach euren [Lebens-] Zielen, aber nicht im Test!“ Johanna schlägt ihren Hausaufgabenhefter auf und trägt für den nächsten Freitag ein: „Test Irrgarten, Labyrinth, Gleichnis.“
Auch die Religionslehrerin kündigt sehr genau an, was drankommt, aber auch was sie nicht im Test abfragen wird. Sie kodiert ihre Botschaft redundant, also doppelt, was Fehler-toleranter ist. Johanna notiert: „Test, Irrgarten, Labyrinth, Gleichnis“. Sie hat sehr genau verstanden, was drankommen wird, und was nicht drankommt, das braucht auch nicht notiert zu werden. – In der nächsten Szene geht es um eine Prüfungsvorbereitung im Mathematikunterricht: Frau Sommer begrüßt nun die Klasse, um dann sofort die Kinder aufzufordern, dass sie ihren Hefter hervorholen sollen: „Nummeriert bis zehn. Eins bis zehn. Ich frage euch jetzt einige Formeln ab, die ihr für die Klassenarbeit braucht.“ Frau Sommer dreht sich dann um, um die Aufgaben sehr schnell an die Tafel zu schreiben. Es ist derweilen mucksmäuschenstill geworden, die Kinder schreiben geschäftig mit.
2.3 Die Herstellung von Unterrichtsorientierung
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Zunächst fällt auf, dass die Lehrerin unmittelbar nach der Begrüßung zur Klassenarbeit überleitet und Formeln abfragt, die die Schülerinnen und Schüler für die Klassenarbeit benötigen. Die Schülerinnen und Schüler ihrerseits erkennen die hervorgehobene Bedeutung der Situation und notieren aufmerksam die Formeln. Sie haben nun die Chance, zu prüfen, ob sie die relevanten Formeln sicher beherrschen. Die Abfrage steht also ganz im Zeichen der anstehenden Klassenarbeit – sie stellt quasi eine Art Test für die Klassenarbeit dar. Diese Praxis ist eine Variante dessen, was man als „Teaching to the Test“ bezeichnet, wobei man in diesem Kontext treffender von ‚Testing to the Test‘ sprechen sollte. Der Vorteil dieser Praktiken ist darin zu sehen, dass „die Vertrautheit mit der Testsituation und den zu bearbeitenden Aufgabentypen zu einer Verbesserung der Testleistung führen kann“ (Böhme 2006: 10). Als Gefahr einer solchen Praxis benennt Böhme, dass damit eine „Verarmung des Unterrichts“ (ebd.) oder „eine abnehmende Motivation aufseiten der Schülerinnen und Schüler durch intensive Vorbereitung auf anstehende Leistungserhebungen“ (ebd.) einhergehe, welche vor allem in den USA beklagt worden sei. Ein weiteres Beispiel: Frau Sommer ruft Rebekka S. an die Tafe.l „Los!“, ordnet Frau Sommer an. Dies sei eine Prüfungsaufgabe, lässt Frau Sommer die Kinder wissen. ‚Hefter raus!‘ Dann fängt sie an zu diktieren. Friedemann schreibt in sein Heft. „Kubik gelesen heißt geschrieben hoch drei. Ja? (.) Hatten gestern. (.) Ja, nur Fünf. (…) Die erste ...“ – Friedemann: „Warten Sie bitte!“ – „Pssssst. Erstens Null Komma“ – Moritz: „Sie müssen warten!“ – „Null drei fünf (…) Kubikmeter (.) Hoch drei dran schreiben (..) in Kubikdezimeter.“ Es entsteht das Tafelbild: 0,0035 m² = dm³ 3l= ml 3 5,05 dm = cm³ 20,5 cm³ = mm² 300 l = hl „Hektoliter. (.) H L kurz. (.) Ihr könnt im Hefter ruhig nachgucken.“ Rebekka klappt die Tafel herum und schreibt dahinter. Frau Sommer zeichnet derweilen an die linke Tafelhälfte einen Würfel. Die Kinder suchen und kramen in ihren Heftern und auch Rebekka hinter der Tafel hat ebenfalls einen Hefter in der Hand und blättert darin. Frau Sommer lässt ihren Blick schweifen, guckt, geht dann hinter die Tafel, redet mit Rebekka und hilft ihr vermutlich auch. „So, geht los! Erste (.) André (..) Vergleich!“ André liest die Aufgabe vor und gibt die Antwort: „35 dm³“ – „ Stimmt, nächste, Klaus-Maria. “3l sind gleich 3000 ml.“ – „Richtig, nächste. (..) Tamara.“ – „500 (..) 5 Komma 0 5 Dezimeter-Kubikdezimeter sind gleich 550 cm³“ – „Nein, sondern, HansPeter.“ – „5050 cm³“ – „Richtig. (..) Vierte (..) Laura.“ – „20,5 cm³ sind (..) 20500 mm³“ – „Richtig. Und die letzte. Elsa.“ – „300 l sind gleich 3 hl.“ – „Richtig. (..) OK. Setzt dich hin. (..) Wer hatte alle fünf richtig?“ 50% der Klasse melden sich. Rebekka geht zu ihrem Platz, alle Lösungen haben ein Häkchen. „OK. Und wer hat es ohne Nachzugucken hingekriegt?“ – Klaus-Maria und Noah melden sich. „Noah? (.) KlausMaria? (..) OK. So (.) Stift weg erstmal. Wir hatten gestern ...“
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Was zeigt diese Szene? Die Lehrerin beginnt so zügig mit ihrer Anschrift, dass sogar der sehr gute Matheschüler Friedemann Schwierigkeiten hat, mitzukommen. Die Prüfungsvorbereitung ist in der Form der mündlichen Leistungskontrolle gestaltet: Die Schülerin Rebekka S. steht an der Tafel und rechnet. Nach der Lösung der Aufgaben kommt es zum Vergleich der Lösungen und die Lehrerin erhebt den Leistungsstand mittels Meldungen: „Wer hatte alle fünf richtig?“ Die halbe Klasse meldet sich. „OK. Und wer hat es ohne Nachzugucken hingekriegt?“ – Klaus-Maria und Noah melden sich.“ Die Lehrerin weiß nun, dass 50% der Schülerinnen und Schüler die Aufgaben mithilfe einer Vorlage richtig lösen konnten und dass zwei Schüler die Volumeneinheiten sogar schon gelernt haben. Die Richtigkeit ihrer Einschätzung hängt dabei von der Ehrlichkeit der Schülerinnen und Schüler ab. Wenn diese sich ‚falsch‘ melden und eine bessere Leistung als die erbrachte vortäuschen, kann die Evaluationspraxis der Lehrerin nicht funktionieren. Die Lehrerin ist auf die Ehrlichkeit ihrer Schüler angewiesen, denn ohne diese, kann sie nicht wissen, ob ihre Schüler die Aufgaben sicher bewältigen. Kurzum: Das Prozedere stellt sicher, dass der Stoff sitzt, bevor er geprüft wird. Mitunter werden sogar ganze Arbeiten regelrecht simuliert. Frau Sommer: „Das ist heute ein Test für die zentrale Klassenarbeit. Das heißt, das ist eine einstündige Klassenarbeit, die bewertet wird und bewertet werden muss. Die heutige Arbeit gilt als Kurzkontrolle. Sie dient dazu, euch zu zeigen, was abgefragt werden wird. Da gibt es Fragen zum Grundwissen, eine Frage ist Stoffgebiet Ende Vier. Oder da gibt es was, was wir noch nicht hatten. Dennoch versuchen wir – so gut es geht – die Aufgaben hinzumeistern. Die Aufgaben sind mit dem nötigen Ernst zu machen. Moritz! Achtet auf genaues Lesen.“ Laura meldet sich. – „Die Bedingungen sind bekannt“, fährt die Lehrerin fort, „den Nachbarn nicht gucken lassen, und es wird nicht gequatscht.“ […] Nach der Stunde gehe ich zu Frau Sommer. Wir reden noch ein bisschen über die Vergleichsarbeit. Der Status dieser Arbeit sei derjenige eines Testes. Sie habe eigentlich vorgehabt, die Arbeit ohne Noten zu schreiben, aber das sind ja „Schlingel“, die strengen sich ja nicht mehr richtig an, wenn sie keine Noten kriegen.
Mit diesem einstündigen Test stellt die Lehrerin Frau Sommer eine originalgetreue Simulation der anstehenden Arbeit her. Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine vom Kultusministerium herausgegebene zentrale Klassenarbeit, die im Vorjahr in allen siebten Klassen des Landes zur selben Zeit geschrieben wurde. Ein wesentliches Merkmal der zentralen Klassenarbeit liegt in der Prüfung eines breiten Stoffgebietes. Interessant ist der Hinweis der Lehrerin, wie mit noch nicht behandelten Stoffgebieten umzugehen ist – sie sind nämlich trotz ihrer Unbekanntheit „hinzumeistern“. Dieser Hinweis ist wichtig, da die Schüler üblicherweise die Abfrage noch nicht behandelten Stoffs mit dem Hinweis verweigern, dass sie das noch nicht behandelt hätten. Es kann alles in allem gesagt werden, dass die Schülerinnen und Schüler in den Situationen der Prüfungsankündigung und Prüfungsvorbereitung hinsichtlich
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des Geforderten orientiert werden: Sie wissen nun genau über Zeit, Art der Kontrolle (und damit auch Gewicht der Note) sowie über die Inhalte der Prüfung Bescheid. Die Szenen aus dem Mathematikunterricht zeigen darüber hinausgehend, dass die Schülerinnen und Schüler mitunter bis ins Detail auf Klassenarbeiten vorbereitet werden. Sie sind aufgefordert, sich in prüfungsähnlichen Situationen ohne Scheu einzubringen, damit die Lehrerin sehen kann, welcher Stoff ‚sitzt‘ und welcher noch nicht so gut beherrscht wird. Während im Rahmen von Ankündigungen der Termin und genaue Inhalt den Schülerinnen und Schülern vermittelt wird, stellen Prüfungsvorbereitungen Praktiken zum Zwecke einer günstigen Platzierung des Prüfungstermins dar. Der Erfolg der Schulklasse kann somit zu großen Teilen in den Praktiken der Prüfungsankündigungen und vorbereitungen verortet werden. 2.3.5 Zusammenfassung Nur ein Schüler, der hinsichtlich des Geforderten orientiert ist, kann ein erfolgreicher Schüler sein. Im Rahmen des Kapitels 2.3 sind verschiedene Situationen untersucht worden, in denen Schüler orientiert werden bzw. sich orientiert haben: Stundeneröffnungen, Arbeitsanweisungen, die Nutzung der Unterrichtszeit und Prüfungsankündigungen und -vorbereitungen. Ein gemeinsames Kennzeichen dieser Situationen ist es, dass sie von der Lehrerin bzw. dem Lehrer initiiert und gestaltet werden. Sie haben erheblichen Anteil an der Gestaltung eines effizienten Unterrichts. Beide Parteien, also Schüler und Lehrer, sind maßgeblich am Gelingen oder Misslingen der Unterrichtssituation beteiligt; beide stellen gemeinsam Orientierung im Unterricht her: diese ist Ergebnis lehrerinitiierter Praktiken, welche von den Schülerinnen und Schülern kooperativ mitvollzogen oder sogar vorangetrieben werden. Es wurde ferner gezeigt, dass die erfolgreichen Schülerinnen und Schüler häufig bereits vor Unterrichtsbeginn sich selbst disziplinieren und Unterrichtsbereitschaft herstellen. Sie fragen bei Unklarheit den Lehrer, was sie in der Stunde erwartet. Wenn Aufgabenstellungen nicht präzise genug formuliert sind, fragen sie in der Klasse selbstbewusst nach. Sie müssen dem hohen Tempo des Unterrichts folgen, um den Anschluss nicht zu verlieren. Sie kooperieren im Rahmen von Prüfungsankündigungen und vorbereitungen mit den Lehrerinnen und Lehrern. Sie notieren sich die Prüfungstermine und -themen und arbeiten in ‚Testing to the Test‘-Situationen fleißig mit. Alles in allem ist Schulerfolg wesentlich durch das kooperative Verhalten von Schülern und Lehrern im Unterricht gekennzeichnet, wobei den Praktiken der Orientierung hohe Bedeutung zukommt.
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2.4 Schülerleistungen bewerten und benoten In diesem Kapitel wird untersucht, wie sich Situationen der Leistungsbewertung und -benotung in dieser überdurchschnittlich leistungsstarken Gymnasialklasse gestalten. Die Analyse beginnt mit beinah alltäglichen mündlichen Leistungsbewertungen (Kap. 2.4.1). Am Beispiel von Gruppenpräsentationen in Erdkunde wird anschließend gezeigt, welche Praktiken es ermöglichen, dass alle Schülerinnen und Schüler sehr gute Noten bekommen (vgl. Kap. 2.4.2). Wie Noten als Produkt von Leistungsbewertungen legitimiert werden, wird in Kapitel 2.4.3 untersucht. Kulanz-Praktiken (Kap. 2.4.4) ermöglichen es, fehlende Quäntchen zur besseren Note zu erreichen, und Image-Praktiken (Kap. 2.4.5) sichern den Status eines Schülers als guter Schüler trotz schlechter Noten. 2.4.1 Die alltägliche Leistungsbewertung Kann es denn sein? Bevor ich mich auf meinen Platz gesetzt und mich innerlich orientiert habe, steht Hermann schon wieder an der Tafel. Mündliche Leistungskontrolle. Es geht um die Bedeutung der Farben auf der Weltkarte.
Zu Beginn unserer Feldforschung waren wir sehr erstaunt, dass beinahe an jedem Beobachtungstag eine Leistungsbewertung zu beobachten war. In den Fächern Mathematik, Geographie und Biologie wird regelmäßig ein Schüler geprüft und klassenöffentlich benotet. Die Prüfung erfolgt in aller Regel am Anfang der Stunde an der Tafel und bezieht sich auf den Stoff der zurückliegenden Unterrichtsstunden. Den nicht geprüften Schülern dient die Prüfung als Wiederholung des Unterrichtsstoffes. Sie können die sich selbst in Gedanken die Antwort geben und so ihr Wissen rekapitulieren. Eine wesentliche Funktion der Prüfung zu Beginn der Unterrichtsstunde liegt also neben der Prüfung des Schülers und der Generierung von Noten in der „übende[n] Wiederholung“ (Meyer 2009: 134) für alle: „Die mündliche Wiederholung des in der letzten Stunde Durchgenommenen ist wahrscheinlich, rein quantitativ betrachtet, die allerwichtigste Einstiegsform! Wiederholungen machen aus dem Unterricht so etwas wie einen Fortsetzungsroman (kursiv i. Orig.), bei dem ja auch jeweils eine Kurzinformation über den bisherigen Romanablauf vorausgeschickt wird.“ (ebd.)
Wie gehen die Schülerinnen und Schüler mit diesen rekapitulierenden Prüfungen um? Für gewöhnlich bestreitet die geprüfte Schülerin bzw. der geprüfte Schüler die Prüfung allein. Wenn sie oder er nicht in der Lage sein sollte, alle Antworten zu geben, melden sich die nicht geprüften Schülerinnen und Schüler. Damit wird dem Prüfling an der Tafel und der Lehrperson angezeigt, dass die gestellten
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Fragen zu beantworten und damit vom Schwierigkeitsgrad her gesehen legitim waren. Sollte es sich um mehrere Fragen handeln, die der Schüler nicht beantworten kann, dann pausiert die Prüfung oder sie wird beendet. Nun nimmt der Lehrer die sich meldenden Schüler dran, das Unterrichtsgespräch dominiert jetzt die Situation und die Prüfung tritt in den Hintergrund. Der geprüfte Schüler bleibt derweilen an der Tafel stehen und wartet so lange, bis das Unterrichtsgespräch endet, die Prüfung weitergeht oder aber die Lehrperson seine Leistung abschließend beurteilt und eine Note vergibt. Durch das Unterrichtsgespräch wird dem geprüften Schüler erneut gezeigt, dass man die Fragen der Lehrperson beantworten konnte. Die Schuld am Versagen liegt beim geprüften Schüler und ist nicht in den Fragen der Lehrperson begründet. Eine besonders ausgefeilte Variante von mündlichen Prüfungen ist im Fach Mathematik beobachtet worden. Die Prüfung ist ein äußerst komplexes Verfahren, das gleichzeitig unterschiedliche Funktionen erfüllt.10 Nach der Begrüßung der Schüler schreibt die Lehrerin Frau Sommer „mündl. LK“ an die Tafel. Mit dieser knappen Rahmung eröffnet die Lehrerin die alltägliche Prüfungssituation: Frau Sommer ruft Dolores nach vorn. Dann wird Carmen an die Tafel beordert. Carmen klappt die linke Tafelhälfte zu, schreibt „1.) 2.) 3.)“ untereinander bis „10.)“. Dolores diktiert nun die Aufgaben, die sie zuhause als Hausaufgabe vorbereitet hat. Das macht sie erstaunlich laut und deutlich, zugleich langsam genug, so dass man problemlos mitschreiben kann. Bei längeren Formeln wiederholt Dolores diese ungefragt. Frau Sommer gibt den Startschuss: „So, ihr habt jetzt drei bis vier Minuten, los geht’s!“ Carmen klappt die Tafel um, verschwindet dahinter und beginnt zu rechnen. Die Klasse ebenfalls. Derweil prüft die Lehrerin Dolores Rechnungen. Nun startet die Lehrerin die Korrektur: „So Tamara und Klaus-Maria tauschen die Hefte aus!“ KlausMaria steht auf und geht zu Tamara, gibt ihr sein Heft und bekommt ihres dafür, dann geht er zurück. Derweilen wird die Tafel umgeklappt.
Es ist verblüffend, wie routiniert und eigenständig die Schüler nach vier Wochen Unterricht die Testsituation mittragen und gestalten. Die Rolle der Lehrerin beschränkt sich vornehmlich darauf, die mündliche Leistungskontrolle mit dem abgekürzten Tafelanschrieb anzukündigen und dann die Aufgaben zuzuweisen. Sie bestimmt, wer die Aufgaben stellen soll, wer an der Tafel geprüft wird und welche Schüler ihre Hefte tauschen sollen. Die Schülerinnen und Schüler wiederum übernehmen die inhaltliche Ausgestaltung der Prüfung. Dass der komplexe Prüfungsablauf so schnell und routiniert bewältigt werden kann, gründet in dem von den Akteuren geteilten Wissen, über das der Ethnograph zum Beobachtungszeitpunkt noch nicht verfügt. So besteht ein beständiger Teil der Mathematik-Hausaufgaben darin, dass sich die Schüler zehn Mathematikaufgaben samt 10 Diese Unterrichtsszene wird ebenfalls in Breidenstein/Meier/Zaborowski (2008) behandelt.
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Lösungen ausdenken, die sie analog zu den Aufgaben bilden, die sie in der zurückliegenden Mathematikstunde bearbeitet haben. Am Anfang einer jeden Mathematikstunde wird ein Schüler aufgerufen, der diese Aufgaben öffentlich einem Schüler an der Tafel und allen übrigen zur Bearbeitung im Heft stellt. Während der Bearbeitungszeit prüft die Lehrerin die gestellten Aufgaben, insbesondere, ob der vortragende Schüler sie für sich selbst richtig gelöst hat. Mit dem Ende der Bearbeitungszeit bestimmt die Lehrerin zwei Schüler, die ihre Hefte tauschen und die Aufgaben des Anderen genau prüfen, so dass sie später von der Lehrerin benotet werden können: Frau Sommer nimmt den hinten links sitzenden Friedemann dran. Seine Aufgabe ist falsch. Nun kommt der Nachbar Hermann dran. Hermanns Lösung ist ebenfalls falsch. Dann kommen automatisch drei weitere Kinder in den Bankreihen davor dran – falsch, falsch und wieder falsch. „Das dauert mir jetzt zu lange!“, resümiert die Lehrerin leicht genervt: „Ich nehm’ jetzt dran!“ Nun melden sich einige Kinder. Frau Sommer nimmt André dran. Er gibt die richtige Antwort. Andere richtige Antworten folgen. Währenddessen hakt Carmen die Aufgaben an der Tafel ab bzw. korrigiert sie. Dann schreibt sie ihr Punkteverhältnis unter die Gleichungen: 7 / 10. Nun will die Lehrerin wissen, wer alles richtig hat (ca. acht Schüler melden sich), wer neun hat (ca. fünf Schüler), wer acht hat (ca. fünf Schüler), wer sieben, wer sechs, wer fünf hat. Paula neben mir hat fünf Aufgaben richtig gelöst – sie meldet sich schamhaft. Frau Sommer geht runter bis null. Jetzt will die Lehrerin von den Schülern Rückmeldungen zu den Aufgaben haben. Zwei Schülerinnen sagen, dass die Aufgaben von Dolores sehr schwer gewesen seien. Es war nicht zu schwer, entgegnet Frau Sommer, Carmen war schnell fertig. Sie gibt schlussendlich Dolores die Teilnote Eins [sie hatte wohl selbst alles richtig] und Carmen eine Drei. Und wie sieht es bei Klaus-Maria und Tamara aus? – ein und zwei Punkte, die beiden haben fast alles falsch gemacht. „Das gibt die Teilnote Fünf“, lässt die Lehrerin die beiden wissen, setzt dann aber noch hinterher, das müsst ihr aber nicht zuhause melden. Die Note werde ja noch mit zwei weiteren verrechnet, und Frau Sommer würde ihnen dann sagen, was sie dann als erste mündliche Note kriegen würden.
Auch die Korrektur erfolgt hochgradig automatisiert und ist voraussetzungsvoll. Frau Sommer bestimmt ein Kind, die Lösung zu nennen, und einen kleinen Augenblick später macht sein Sitznachbar (bzw. Vordermann) weiter. Es geht üblicherweise sehr schnell. Doch diesmal ist Sand im Getriebe, die schnelle Abarbeitung gelingt nicht. Frau Sommer muss den Modus der Korrektur wechseln, um zum gewohnten Tempo zurück zu kehren. Es gehört zu Carmens Rolle an der Tafel, ihre Aufgaben abzuhaken bzw. mit einem „f“ (für „falsch“) zu versehen und ihr Punkteverhältnis unter die Arbeit zu schreiben. Carmen hat sieben von zehn Punkten. Dieses Punkteverhältnis entspricht – dies gehört ebenfalls zum geteilten Wissensbestand der Akteure – einer Drei. Aber bevor Frau Sommer den Punktestand in eine Teilnote überführt, prüft sie, ob der Schwierigkeitsgrad der
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Arbeit angemessen war. Diese Prüfung11 ist ebenfalls ein bewährter Bestandteil der „mündl. LK“ Routinen. Denn erst wenn die Rückmeldungen der Schüler die Aufgabenstellung als angemessen qualifizieren, wird die Prüfung gültig und kann benotet werden. Eine Besonderheit der „mündl. LK“-Prüfung liegt darin, dass alle Schüler der Klasse bis zum Ende eingebunden bleiben und dass alle Schüler, die die Hauptrollen ausfüllen, Noten bekommen. Es gehört zu den Vorzügen der „mündl. LK“-Prüfung, dass in jeder Unterrichtsstunde vier Teilnoten ‚hergestellt‘ werden können, was heißt, dass sich bei vier Mathematikstunden in einer Woche bis zu 16 Teilnoten produzieren lassen, was wiederum bedeutet, dass jeder Schüler der Klasse im Zeitraum von zwei Wochen benoteter Akteur der Prüfung werden kann. In einem Zeitraum von sechs bis acht Wochen kann der Schüler in allen drei Rollen die Prüfung bestreiten. Zur Eigenart der Prüfungssituation gehört es, dass es sich bei den Ergebnissen (den Noten) gar nicht um vollwertige Noten, sondern nur um „Drittelnoten“ handelt, die noch um zwei weitere Teilnoten zu ergänzen sind, bevor sie zu ganzen Noten verrechnet werden. An dieser Szene lässt sich zeigen, dass die mündliche Leistungskontrolle verschiedene, sich ergänzende Funktionen für den Mathematikunterricht übernimmt. Einerseits erfüllt die „mündl. LK“-Situation pädagogische Funktionen wie die Wiederholung des Stoffs, die Abfrage der Hausarbeit und die Evaluation des Leistungsstandes der Klasse, andererseits werden mit diesem Verfahren aber auch ‚nichtpädagogische‘ Funktionen wie die Erzeugung von Noten in hoher Stückzahl erreicht. Möglicherweise erklärt die Summe der Funktionen, warum die mündliche Leistungskontrolle so häufig in den Mathematikstunden zu beobachten war. Dem übernächsten Kapitel (2.4.3) vorgreifend kann zudem gesagt werden, dass ein interessanter Effekt des Prüfungsverfahrens mit der Einbindung der Schüler in das Prüfungsverfahren anzunehmen ist. Denn durch die Übernahme der Prüfungsrollen und durch die inhaltliche Ausgestaltung der Prüfung eignen sich die Schüler die Prüfung an; sie wird – ob sie es wollen oder nicht – zu ihrer Prüfung. Und damit ist es dem Schüler nicht mehr möglich, die Prüfung und das Ergebnis dieser Prüfung als fies oder willkürlich zu relativieren und damit auf Abstand zu halten.12 Das geringe Gewicht der Prüfung stellt eine wei11 Im konkreten Fall kann sicherlich nicht von einer Prüfung des Verfahrens gesprochen werden, da die Lehrerin schlicht bestimmt, dass es „nicht zu schwer“ war. Hätte sie sich auf die Kritik der Schülerin eingelassen, wäre das gesamte Verfahren ungültig gewesen. 12 Mit Luhmann (1977) ist hier der Effekt „Legitimation durch Verfahren“ zu vermuten. So gäbe es die typische Erwartung, „dass das Verfahren selbst kein Wahrheitskriterium ist, aber die Richtigkeit des Entscheidens fördert“ (ders.: 11f.). Dieser soziale wie psychologische Effekt wird nach Luhmann insbesondere dadurch hervorgerufen, dass die Akteure durch die Übernahme von Verfahrensrollen am Herstellungsprozess
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tere Bedingung für die Aneignung des Prüfungsergebnisses dar. Denn die Teilnote als ‚Drittelnote‘ ist ein minimales Element in einer langen Reihe von Noten. Es ist nicht zuletzt die Lehrerin, die die Bedeutung der Teilnote begrenzt und ihren Schülern sagt, dass sie ihre Teilnote „nicht zuhause“ (also bei ihren Eltern) melden müssten, da diese Pflicht erst bei einer vollen Note bestehe. Mit dieser Begrenzung nimmt die Lehrerin allerdings nur etwas vom Gewicht der (Teil-) Note. Die Leistungsmessung als solche steht nicht in Frage. Die Verfahrensförmigkeit der Prüfung suggeriert vielmehr, dass das Prüfungsergebnis objektiv und damit gerecht erfolgt ist. Die daraus resultierende Note wird damit zu dem sachlich richtigen Ergebnis des Verfahrens erhoben. Und im Lauf des Schuljahres verliert sie beständig an Gewicht. Sie wird zu einer Zahl unter vielen, die im Weiteren nur noch als Objekt unstrittiger Rechenoperationen in Erscheinung tritt. Mit dem beinahe täglichen Verfahren der mündlichen Leistungskontrolle werden die Schülerinnen und Schüler der Gymnasialklasse folglich in eine verfahrensförmige fast schon total13 zu nennende Kultur der Bewertung eingeübt. Total ist die Leistungsmessung in zweierlei Hinsicht: Erstens geschieht sie regelmäßig in nahezu allen Fächern, und man kann sich ihr für längere Zeit kaum entziehen. Zweitens findet die Leistungsbewertung klassenöffentlich statt. Jeder Schüler und jede Schülerin weiß um die Noten der anderen und man kann von diesen auf eine schulische Leistung angesprochen werden. Die Bewertung hat zwar kein großes Gewicht, aber dafür erfolgt sie beständig. Nachlassende Leistungen werden dadurch sofort sichtbar. Lehrer und Schüler können sofort auf die veränderte Situation reagieren, noch bevor die Leistungen allzu sehr ‚abgesackt‘ sind. – Ein weiteres, eindrückliches Zeugnis der Allgegenwart von Leistungsbewertungen und Noten legt das folgende Dokument ab:
einer Entscheidung – hier der Note – beteiligt sind. Vom Anschrieb über die Berechnung bis hin zur Korrektur mit Häkchen und F’s nähert sich der geprüfte Schüler seinem Punktestand, der niemals zehn übersteigen und niemals null Punkte unterschreiten kann. Die Funktion eines Verfahrens liegt also immer auch in Konfliktbegrenzung, Neutralisierung, Schwächung und Umformung der Einstellungen der Beteiligten. 13 Den Begriff „total“ nutzen wir in Anspielung auf Goffmans Institutionenanalyse, demzufolge sich totale Institutionen durch besonders allumfassende Beobachtungen sowie Regulierung des Sozialverhaltens auszeichnen (vgl. Goffman 1973).
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Abbildung 3: Leistungsmessung im Sportunterricht Die Fotografie zeigt zehn unterschiedliche Bereiche der Leistungsmessungen im Sportunterricht, welche auf einem Laufzettel an fünf verschiedenen Messzeitpunkten ermittelt wurden.14 Die Note des Sportunterrichts wird für den Schüler ermittelt, indem zuerst aus den Werten der Spalten Mittelwerte gebildet werden, welche dann gemäß des jeweiligen Schlüssels in eine Note überführt werden. Auf diesem Wege können Noten für die Hockwende, den Japan-Test usf. bestimmt werden, welche erneut zu einer Gesamtnote verrechnet werden. Ebenso wie im Mathematikunterricht ergibt sich die Note aus einer hohen Anzahl von Messergebnissen (im Beispiel oben: 50). Folglich muss auch im Sportunterricht Leistungsermittlung ein alltägliches Phänomen sein. – Eine weitere Szene aus dem Erdkundeunterricht behandelt ebenfalls die Praxis der Notenfindung: Während die Kinder abschreiben, spricht Frau Nalinski halblaut in die Klasse: „So. Vorträge waren dann auch durch. Schauen wir noch mal, dass wir auch ja keinen vergessen haben. (2 Sekunden unverständlich) Hermann. Hermann!“ – Hermann: „Sie haben doch gesagt, ich soll ...“ – „Das ist richtig. Aber ich hab mal bei dir durchgerechnet, ich brauch noch unbedingt eine von dir. Das wäre nicht schlecht.“
Interessant ist, dass die Erdkundelehrerin Frau Nalinski im Rahmen der abgeschlossenen Gruppenvorträge prüft, ob ein Schüler „vergessen“ wurde. Im Rahmen ihrer Prüfung fällt auf, dass sie für ihren Schüler Hermann noch „unbedingt eine“ brauche und verpflichtet ihn deshalb auf einen Vortrag. Die Lehrerin weist damit auf eine Notwendigkeit hin, die sich daraus ergebe, dass sie es „durchgerechnet“ habe. Das Ergebnis dieser Rechnung scheint die Lehrerin auf die Prüfung zu verpflichten. Leider kann der Szene nicht eindeutig der Grund für die Anberaumung der Prüfung entnommen werden. Möglicherweise steht Hermann zwischen zwei Noten und er könnte durch die Prüfung seine Note verbessern. 14 Drei Messzeitpunkte sind teilweise ohne Datumsangabe. Es erstaunt allerdings, dass an einigen Tagen bis zu zehn Übungen gemessen wurden.
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Wahrscheinlicher ist hingegen, dass der Lehrerin zum Ende des Halbjahres eine Note fehlt, die sie entweder aus Gründen der Gleichberechtigung den anderen Schülern gegenüber oder aber aufgrund der Erlasslage ermitteln möchte.15 Die Pflicht ausreichend Noten zu ermitteln ergibt sich aus dem Erlass des Kultusministeriums Sachsen-Anhalt. So hat die Lehrerin pro Halbjahr eine vorgegebene Klassenarbeit in Erdkunde zu schreiben, welche 25 Prozent der Halbjahresnote ergibt, und die übrigen 75 Prozent sind durch „unterrichtsbegleitende Bewertungen“ zu ermitteln. Je nach Interpretation des Erlasses sind dies mindestens sechs bzw. neun Test-Noten pro Halbjahr.16 Bei 27 Schülern der Gymnasialklasse hätte Frau Nalinski (unter der Voraussetzung, dass sie drei Testnoten als gleichgewichtig zur Klassenarbeitsnote bestimmt) 243 Noten im Bereich der „unterrichtsbegleitenden Bewertung“ pro Halbjahr für ihre Schüler in einem Nebenfach zu ermitteln. Die Menge an Noten, die die Lehrerin im Laufe eines Schulhalbjahres herzustellen hat, führt ganz im Sinne des Kommentars zum Leistungsbewertungserlass dazu, dass „der Bewertungsschwerpunkt nicht in der punktuellen Erhebung, sondern in der kontinuierlichen unterrichtsbegleitenden Bewertung“ (Olbertz 2003: 211) liegt. Das bedeutet, dass alle Schülerinnen und Schüler des Landes sich ständigen Leistungsbewertungen ausgesetzt sehen, sofern ihre Lehrerinnen und Lehrer den Erlass konsequent anwenden. Für die Schülerinnen und Schüler ergibt sich daraus, dass sie sich beständig auf Prüfungen vorzubereiten haben. Interviewer: Was muss man denn machen für gute Noten? Klaus-Maria: Die Lehrer sagen immer, man muss zuhören, das wäre schon die halbe Miete. Interviewer: Und stimmt das? Klaus-Maria: Ja, eigentlich schon. Da haben die Lehrer recht, das beweist sich oft. Pauken muss sein, gutes Pauken. Ich hab mich mal ne Woche nicht um die Schule gekümmert, nur Hausaufgaben gemacht und sonst nur Computer gespielt. Meine Eltern haben das auch nicht kontrolliert. Und da habe ich in der Woche auf einmal drei Vieren bekommen. Und in der Woche drauf habe ich dann was gemacht, und dann hatte ich auf einmal zwei Zweien und ne Eins. 15 Vgl. „Leistungsbewertung und Beurteilung an allgemein bildenden Schulen und Schulen des Zweiten Bildungsweges der Sekundarschule I und II“ RdErl. des MK vom 1.7.2003 (SVBI. LSA: 195) geändert durch RdErl. des MK vom 1.7. 2004 (SVBI LSA: 129). 16 Die Erlasslage ist – das ist durchaus erstaunlich – recht kompliziert und infolgedessen nicht ganz eindeutig. Da „Einzelnoten aus nur zwei Tests nicht erheblicher sein [dürfen], als die Note der Klassenarbeit“ (Olbertz 2003: 211), hat die Lehrerin rechnerisch das prozentuale Gewicht einer Testnote auf einen Wert von weniger als 12,5% zu bestimmen. Die offene Frage ist allerdings: Auf wie viel weniger? Wenn die Lehrerin beispielsweise für ihren Unterricht festlegt, dass drei Testnoten das Gewicht einer Klassenarbeitsnote haben, hat sie insgesamt neun Noten im Bereich der „unterrichtsbegleitenden Bewertung“ zu ermitteln.
2.4 Schülerleistungen bewerten und benoten
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Dieser Interviewausschnitt demonstriert beispielhaft, welche Konsequenzen die nahezu alltägliche Leistungsbewertung bzw. Notengebung für die Schülerinnen und Schüler der Klasse hat: Es reicht eben für diese Schüler nicht aus, „nur Hausaufgaben“ zu machen. Vielmehr haben sie beständig neben den Hausaufgaben zu „pauken“, um den (sehr) guten Notenschnitt zu halten. Sie dürfen sich eben nicht auf das schulisch geforderte Mindestmaß (Hausaufgaben) zurückziehen, sondern müssen sich zusätzlich und zudem kontinuierlich engagieren. Dass die beinahe alltägliche Leistungsbewertung auch überwachende Funktionen hat, zeigt sich in diesem Beispiel am sofortigen Abfall der Noten. Alles in allem ist die Kultur der Gymnasialklasse von einer Allgegenwart der Leistungsbewertung gekennzeichnet. Da mich dieser Befund durchaus erstaunte17, befragte ich in der letzten Feldphase (2008) die Lehrer des Gymnasiums, warum es an dieser Schule so viele Noten gäbe. Im Rahmen eines Feldinterviews erklärte mir die Klassenlehrerin, dass es an dieser Schule – allerdings nicht in dieser Klasse – dauernd zu irgendwelchen Auseinandersetzungen mit den Eltern wegen Noten käme, was sehr anstrengend sei.18 Vor dem Hintergrund dieses abgebrochenen Erklärungsansatzes deute ich die Praxis der Notengebung als eine Antwort auf das Problem der Lehrer, ihre Noten legitimieren zu müssen. Wenn sich die Noten (und insbesondere die Endjahreszensur) aus einer Vielzahl von (Teil-)Noten zusammensetzen, verringert sich die Bereitschaft der Eltern, jede einzelne Note auf ihre Legitimität hin zu prüfen. Die Legitimation der Zeugnisnote ergibt sich aus der arithmetischen Mittelung (vgl. hierzu kritisch: Sacher 1984). Die Öffentlichkeit der Prüfungssituation stellt vor allem, wenn Schülerinnen und Schüler involviert sind, in besonderer Weise Nachvollziehbarkeit und Transparenz her.19 Die Öffentlichkeit der Prüfungen ist möglicherweise als eine Antwort der Praxis auf die Forderung des Notenerlasses, Notengebung transpa17 Die Allgegenwart von Leistungsbewertungen stellte den stärksten und augenfälligsten Kontrast dar, den ich zwischen dem ost- und westdeutschen Gymnasium feststellen konnte. Am westdeutschen Gymnasium wurden in zahlreichen Fächern die ersten Noten ‚erst‘ nach einem Vierteljahr erteilt. 18 Eine Lehrerin äußerte im Feldinterview die in persönlichen Gesprächen geronnene Überzeugung, dass die Verbeamtung der „Westkollegen“ ein wesentlicher Vorteil für die Notengebung wäre. Wenn ihre Bekannten, „Oberstudienräte“, eine Note als Beamte verkündeten, dann würden die in aller Regel nicht mehr hinterfragt werden. Sie wären quasi eine amtliche Entscheidung. 19 Natürlich können auch nicht öffentliche Leistungsbewertungen gegenüber den Schülerinnen und Schülern transparent gemacht werden. Transparenz ist nicht gleichbedeutend mit Klassenöffentlichkeit. Allerdings würden solche Praktiken eine Unterrichtsorganisation erfordern, in der es einen Zeitraum für solche Besprechungen gibt. Dass solche Praktiken nicht genutzt werden, rührt meiner Einschätzung nach daher, dass die Lehrerinnen und Lehrer der Meinung seien, dass sie ihnen zu viel Unterrichtszeit kosten (vgl. auch das Kap. 2.3.3 „Nutzung der Unterrichtszeit“).
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rent und nachvollziehbar zu gestalten, zu verstehen.20 Im Gegensatz zur mathematischen Berechnung könnten pädagogische Motive von den Eltern und Schülern leicht hinterfragt werden, da man ihnen willkürliche und intransparente Motive unterstellen könnte, wie z. B. die Bevorzugung von Schülern. Für die Lehrer bedeutet die beinahe tägliche Praxis der Leistungsbewertung, dass sie ständig Schüler auszuwählen haben, die sie prüfen müssen. Sie müssen dafür Zeit in ihrem Unterricht bereithalten, den sie am besten so nutzen, dass die Prüfung für die nicht geprüften Schüler eine Wiederholung darstellt. Eine verblüffend ökonomische Variante der Produktion von Noten zum Zwecke der Leistungsbewertung stellt die mündliche Leistungskontrolle in Mathematik dar, in der mehrere Schüler zugleich benotet werden können. Zudem stellt diese Praxis ein hochfunktionales Scharnier zwischen Hausarbeitsbesprechung, Wiederholung des Stoffes, Prüfung und Klassenevaluation dar. Somit lässt sich sagen, dass die Schülerinnen und Schüler im doppelten Wortsinn ständig mit Leistungsbewertungen zu rechnen haben: sei es, dass sie sich auf sie vorzubereiten haben, sei es, dass sie ihre Noten zu verwalten und ihr Lernen entsprechend auszurichten haben. Die Alltäglichkeit der Leistungsbewertung zwingt die Schüler dazu, jeden Tag zu lernen und „immer am Ball zu bleiben.“ Wenn sich Schüler Auszeiten vom Lernen nehmen, dann zeigt sich dies im sofortigen Abfall der Noten. Sie stehen unter ständiger Beobachtung. In Folge dessen haben diese Schüler auf der Ebene der Lernökonomie einen strategisch geschickten Umgang mit der Alltäglichkeit der Leistungsbewertung zu finden. Sie müssen im Auge behalten, wann sie wo geprüft wurden und wann sie wahrscheinlich wieder Prüfungen zu erwarten haben. 2.4.2 Die Hervorbringung sehr guter Schüler Während Kapitel 2.4.1 gezeigt hat, dass die Schülerinnen und Schüler ständig mit Prüfungen zu rechnen haben, wird dieses Kapitel demonstrieren, wie durch Prüfungs- und Unterrichtspraktiken sehr gute Leistungen in der Gymnasialklasse hervorgebracht werden. Exemplarisch wird dies an vier aufeinander folgenden Erdkunde-Unterrichtsstunden gezeigt, da an diesen Unterrichtsstunden vielfältige Praktiken und ihr komplexes Zusammenwirken untersucht werden können. Die Analyse beginnt am 4. Oktober 2005 mit der letzten Erdkundestunde, bevor die 20 Alles in allem zeigt die Gymnasialpraxis, dass Noten vornehmlich errechnet werden. Erst wenn eine Note auf Komma-Fünf steht, werden Trends für die Notenfindung berücksichtigt. Pädagogische Aspekte wie Motivation durch Notengebung oder individuelle Bezugsnormen gehen unseren Beobachtungen nach im Gymnasium nicht in die Notenfindung ein.
2.4 Schülerleistungen bewerten und benoten
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Gruppenarbeiten der Schüler präsentiert und benotet werden. Am 10. und 11. Oktober finden vier Gruppen-Schülervorträge statt, die durch die Lehrerin mit Punkten bewertet werden. Am 24. Oktober präsentieren die Gruppen ihre Plakate zum Vortrag und abschließend vergibt die Lehrerin Noten auf die Gesamtleistung der Gruppen. Die letzte Stunde vor der mündlichen Leistungsbewertung in Erdkunde 4. Oktober, fünfte Stunde. Erdkunde. Frau Nalinski ist trotz ihrer gelegentlichen Strenge bei den Schülerinnen und Schülern sehr beliebt. Sie eröffnet etwas ungeduldig den Unterricht und weist direkt nach der Begrüßung darauf hin, dass in der nächsten Erdkunde-Stunde die Gruppenvorträge „bewertet“ – also benotetet werden würden. Die Kinder werden ebenso wie in der Stunde zuvor hinsichtlich der anstehenden Prüfung orientiert (vgl. hierzu Kap. 2.3.4). Anschließend erteilt sie Arbeitsanweisungen: Die Schüler sollen sich nun zu ihren Gruppen zusammenschließen (Kalte Zone, Gemäßigte Zone, Subtropen oder Tropen) und gemeinsam an ihren Themen weiterarbeiten. Dann führt sie aus, dass sie sich einen Zusatzpunkt überlegt habe, den die Gruppen bekämen, wenn sie ordentlich und leise arbeiten würden. Mit den Worten „Manchmal fehlt nur ein halber oder ein ganzer Punkt zur Verbesserung der Note!“ stellt Frau Nalinski die Bedeutung des Zusatzpunktes heraus. Sie schiebt etwas verlegen hinterher, dass diese Bewertung vielleicht ein bisschen ungewöhnlich sei, aber gelingende Gruppenarbeit auszeichne. Nach diesem Auftakt tritt die Lehrerin an die Tafel. Links schreibt sie die Namen der Gruppen hin, rechts notiert sie die Aufgaben, die die Schüler zu erledigen haben. Die Schüler werden erneut – obwohl sie bereits seit einer Unterrichtsstunde an ihren Aufgaben arbeiten – hinsichtlich der Ziele eingewiesen (vgl. Kap. 2.3). Ich nehme an der Tischgruppe „Gemäßigte Zone“ Platz, um diese Schülerinnen und Schüler zu beobachten. Die Kinder vergewissern sich zunächst ob der anstehenden Aufgaben und winken dann die Lehrerin herbei, da sie nicht wüssten, ob sie die „Besonderheiten der Gemäßigten Zone“ machen müssten – schließlich leben sie ja in der gemäßigten Zone und die Besonderheiten wären ja eigentlich normal. Nach Klärung dieser Frage diskutieren die Schüler ihren Arbeitsstand und wie sie ihr zusammengetragenes Wissen untereinander verteilen wollen, so dass jeder in der Gruppe im Rahmen der Präsentation zu allen Bereichen auskunftsfähig sei. Die Diskussion gestaltet sich recht lebhaft, da die Lehrerin die etwas widersprüchliche Botschaft ausgegeben hat, dass nicht jeder alles haben müsste, aber doch zu allem auskunftsfähig sein sollte. Die Gruppe entscheidet sich, das zusammengetragene Wissen per Diktat an alle zu verteilen, aber es stellt sich schnell heraus, dass dies zu lange dauert und Hermann nicht
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immer mitkommt. Im weiteren Verlauf werden noch verschiedene Varianten der Wissensverteilung diskutiert (Kopieren, Tauschen & Abschreiben), aber mangels Möglichkeiten zur Realisierung verworfen. So setzt sich schließlich eine ‚abgespeckte‘ Variante des Diktates durch. Ruben nutzt hierbei eine Praktik, die man von Lehrerinnen und Lehrern unter Zeitdruck kennt: „Passt auf, ich les´ das jetzt mal vor und was ihr denkt was ihr braucht, das sollt ihr euch mitschreiben!“ Ruben liest nun das zusammengetragene Wissen vor – aber keiner aus der Gruppe schreibt mit. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da kein Schüler so schnell mitschreiben kann, geschweige denn in der Lage ist, zu entscheiden, welches von dem vorgetragenen Wissen eine Lücke in den eigenen Unterlagen darstellt. Aber der Pflicht zur Vollständigkeit ist Genüge getan. Auch wenn schlussendlich die Praxis, das zusammengetragene Wissen unter den Mitgliedern der Gruppe zu verteilen, nicht gerade erfolgsversprechend erscheint, bleibt festzuhalten, dass die Schülerinnen und Schüler mit bemerkenswerten Überlegungen und ausgeklügelten Strategien versuchen, ihr Problem zu lösen. Am Ende der Stunde ergreift die Lehrerin das Wort und sagt, dass in der nächsten Stunde jeder vorstellen wird. „Ich frage jeden aus der Gruppe!“, wiederholt sie mahnend. Die Schüler sollten kein Material vergessen, und wenn sie es doch tun, dann müssten sie es auswendig vortragen. Die Vorträge würden die ganze Stunde in Anspruch nehmen, fügt sie ergänzend hinzu. An der Tafel steht: Kalte Zone Gemäßigte Zone Subtropen Tropen
+ + +
Drei der vier Gruppen scheinen also den Zusatzpunkt erreicht zu haben. Mit der Einführung des Zusatzpunktes schafft die Lehrerin die Möglichkeit, ein unter Umständen nicht ganz optimales Abschneiden im weiteren Verlauf der Leistungsbewertung abzufedern. Dass am Ende drei der vier Gruppen diesen Zusatzpunkt vermerkt bekommen, zeigt, dass es den Schülern offensichtlich nicht besonders schwerfiel, sich diesen Zusatzpunkt zu verdienen. Gruppenprüfungen der „Kalten“ und „Gemäßigten Zone“ Am 10. Oktober eröffnet die Lehrerin kurz vor der fünften Stunde selbstbewusst den Unterricht. Sie begründet den vorzeitigen Start der Stunde damit, dass heute keine Zeit zu verlieren sei und die Schüler stellen sofort Unterrichtsbereitschaft her (vgl. Kap. 2.3.1). „So, ich hatte euch zwei Stunden zur Verfügung gegeben, die sollten auch reichen. Ich hatte darauf hingewiesen, ihr solltet euch schön miteinander absprechen. Ja?! Nicht dass das so ist, dass einer sagt in der Gruppe wäre jemand nicht einverstanden
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gewesen mit dem was da einer sagt. So, vornweg. (...) Ich hab das noch einmal zusammen getragen, damit ihr das nachvollziehen könnt, weshalb ihr diese oder jene Note bekommt. (..) Schön schauen, worauf ihr zu achten habt.“ Die Lehrerin tritt an den Overheadprojektor, macht ihn an und wirft eine Tabelle an die Projektionsfläche, wobei sie den unteren Teil der Grafik mit einem Blatt Papier abdunkelt. „In einer Gruppenarbeit ist ja wichtig die Teamarbeit… so ist richtig, okay“, sagt sie und korrigiert die Projektion an der Wand. „So ich habe pro Gruppe – ihr überlegt welche Fakten musstet ihr rauskriegen mithilfe des Buches mithilfe des Atlas, so dass es etwa für jede Gruppe in [etwa] gleich ist, das heißt ich punkte also, während ihr den Vortrag halt-haltet und hake praktisch ab und das [1 sek. Unverständl.] und das und das und das und das ist inhaltlich gekommen. Und rein inhaltlich bekommt je Punkt jede Gruppe auf 15 (..) Fakten, die sie erkennen musste pro Zone. Ja, ihr habt ja zuvor… [...] Ihr habt dazu vorgegeben bekommen die Schwerpunkte (.) Lage (.) Zeit, Natur, Besonderheiten, Klima, Niederschlag, Jahreszeiten oder so und dazu sollte dann auch das Klimadiagramm als letztes einbauen und als letztes die Menschen in der Klimazone, gibt es da was Besonderes an ihrer Lebensweise? So das ergibt 15 Punkte für jede Gruppe…“ Frau Nalinski zieht das verdunkelnde Papier ein Stück zurück. Auf der Projektionsfläche steht nun: Bewertung Gruppenarbeit Inhalt 15 Punkte Vortag 3 Punkte „Drei Punkte vergebe ich für die Art des Vortrages, d.h. klar und deutlich muss der Vortrag [sein], dass es verstanden wird, auch wenn es Fragen gibt auch reagieren können, auch ob man vielleicht nur Stichpunkte hinwirft oder schön im Satz spricht, möglichst vielleicht auch mal vom Blatt weg schaut – ist aber bei den meisten in dem Fall jetzt nicht so sehr wichtig, weil ihr euch das ja aufgeteilt habt, ja?! Es ist ja ein Unterschied ob ihr jetzt zehn Minuten sprecht zu was, oder ob jeder zwei Minuten was erzählt, oder weniger sogar noch, ja? Ihr macht das ja das erste Mal und wenn das super klappt gibt es die drei Punkte. Wooos nicht ganz so in Ordnung ist gibt’s zwei und für die die zwar sehr fleißig gearbeitet haben, aber denen es aber sehr schwer fällt es zu zeigen, zu erklären, für die gibt’s dann nur den einen Punkt. Auf das Plakat, das habt ihr ja heute noch nicht fertig zu haben... [...] So, auf das Plakat gibt es maximal drei Punkte. Drei Punkte, wenn es inhaltlich korrekt ist, ist es sauber und ordentlich. Und wenn irgendwo was fehlt oder nicht so sauber gearbeitet wurde (.) einen Punkt nur wenn es zwar richtig ist, was drauf steht aber nicht vollständig ist, nicht schön ist, auch wenn richtige Fakten dabei sind. [kurz unverständl.] So kommt ihr zusammen also auf 21 mögliche Punkte und die, das zeige ich euch gleich, ergeben dann nach Prozenten entsprechend die Note. Ihr wisst, ich habe einen Zusatzpunkt, einen möglichen verteilt. Für euch in der Klasse habe ich sie vorherige Stunde angeschrieben. Den gab’s also wenn ihr ordentlich leise gearbeitet habt, versucht auch eure Gruppenmitglieder mit einzubeziehen, ja?!, und wir haben ja den Zusatzpunkt letzte Woche schon vergeben und zwar für jede Gruppe einen. Das ist nicht in allen Klassen so, in machen Klassen haben nur zwei Gruppen das bekommen, aber bei euch hat das gut geklappt, ja? So und nun zu den Punkten die ihr insgesamt habt, dass heißt (.) hier vielleicht noch eins dazu, es gibt nicht etwa einen Minuspunkt für jemand für die äh die nicht so leise gearbeitet haben, obwohl ein zwei Mann gestört haben, es gibt nur keinen Punkt °aber keinen Minuspunkt°. So und so setzten sich dann die Noten entsprechend zusammen. Zop zop zop zop zop. So und so.“
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Frau Nalinski zieht das verdunkelnde Papier zurück und richtet die Projektionsfläche des Overheadprojektors aus. Bewertung Gruppenarbeit Inhalt 15 Punkte Vortag 3 Punkte Plakat 3 Punkte Gesamtpunkte 21 Punkte Zusatzpunkt 1 Punkt 21,0 – 20,0 19,5 – 17,0 16,5 – 14,0 23,5 – 11,0 10,5 – 5,0 4,5 – 0
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„21 und 20 Punkte gibt’s dann die 1. Das kennt ihr. Die Übersicht von Kontrollarbeiten, sind Klassenarbeiten, ja, danach habe ich mich gerichtet, ich hab da den mittleren Maßstab genommen für euch das kennt ihr denke ich mal, (.) weil es ja für euch (.) relativ schwer war mit den Materialien zu arbeiten.“ „Aber da steht 23,5 bis 11“, wendet ein Schüler ein. – „Wo ham wan wo ham wan?“ – „Hier, bei der Vier!“ – „Da hab ich mich verschrieben, 13,5. [...] Da bin ich da bin ich mit dem Zeiger, beim lustig Ausrichten, da bin ich wahrscheinlich auf die 2 statt auf die 1, das mache ich sofort wett. Jetzt noch ne Frage? So, wenn’s geht kurz fassen ich hoffe wir schaffen was.“ Greta meldet sich und kommt dran: „Können wir das, was wir im Vortrag haben auch mit auf das Plakat kleben?“ – „Selbstverständlich. Da habt ihr heute noch mal die Möglichkeit, wenn ich sage, jawoll, das und das ist besonders wichtig, dann könnt ihr noch mal überlegen, ja, bis Freitag hab ich gesagt.“ Greta unterbricht: „… alles draufmachen?!“ – „Nein, auswählen, nur das Wichtigste.“
Dieser Auszug zeigt den Aufwand, den sich die Lehrerin macht, um ihren Schülern die Prinzipien ihrer Leistungsbewertung nachvollziehbar zu gestalten (vgl. auch Kapitel 2.4.3). Zunächst fällt der ausführliche und ermunternde Tonfall auf, den die Lehrerin anschlägt, um den Schülerinnen und Schülern die Angst vor der Prüfung zu nehmen. Sie lobt die Klasse für ihre leise Gruppenarbeit und stellt sie gegenüber den anderen Klassen als vorbildlich heraus. Im Zuge dieses Lobes schenkt sie – ganz nebenbei – der Gruppe „Tropen“ ebenfalls den Zusatzpunkt für‘s leise Arbeiten, der zumindest am Ende der letzten Stunde (noch) nicht an der Tafel vermerkt war (vgl. oben). Im Gegensatz zum Bewertungsschlüssel, der durch den Leistungsbewertungserlass des Kultusministeriums für Klassenarbeiten mehr oder minder feststehend definiert ist21, hat die Lehrerin die pädagogische Freiheit, Testbereiche einschließlich der zugeordneten Punkte selbst zu 21 Vgl. „Leistungsbewertung und Beurteilung an allgemein bildenden Schulen und Schulen des Zweiten Bildungsweges der Sekundarstufen I und II“ RdErl. des MK vom 1. 7. 2003 (SVBl. LSA S. 195), geändert durch RdErl. des MK vom 1. 7. 2004 (SVBl. LSA S. 129).
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bestimmen. Die Lehrerin bezieht sich am Ende ihrer Ausführung implizit auf die Erlasslage und setzt sie als bekannt voraus, wenn sie sagt, dass die Schüler die Übersicht (der Bewertungsschlüssel für Klassenarbeiten ist gemeint) ja kennen würden. Sie habe sich an dem Bewertungsschlüssel mit dem „mittleren Maßstab“ orientiert, präzisiert sie den gewählten Schlüssel. Im Gegensatz zu der Verteilung der Punkte geht die Lehrerin davon aus, dass die Kinder diesen Schlüssel kennen und dass er nicht mehr ausführlich behandelt werden müsse. Wie viele Punkte es allerdings gibt und wie diese sich zusammensetzen, muss die Lehrerin genauer erläutern, wenn sie ihre Beurteilungspraxis nachvollziehbar gestalten will. Das tut sie auch, wobei sie aber ihre Gewichtung nicht weiter begründet – sie scheint einer Begründungspflicht enthoben zu sein. Bemerkenswert ist zudem, dass Frau Nalinski mit der Erläuterung ihrer Bewertung den Schülerinnen und Schülern – neben dem Zusatzpunkt für‘s leise arbeiten – einen weiteren Punkt gibt: Einen Punkt erhalten nämlich diejenigen Schülerinnen und Schüler, „die zwar sehr fleißig gearbeitet haben, aber denen es aber sehr schwer fällt es zu zeigen“. Das heißt, dass alle Schülerinnen und Schüler einen Punkt bereits für ihre Teilnahme an der Gruppenarbeit zugestanden bekommen. Wenn man sich den Auftakt der Stunde sowie die zurückliegende Unterrichtseinheit unter der Fragestellung vergegenwärtigt, wie durch Praktiken Schulerfolg hergestellt wird, können folgende benannt werden: Gewährung von Kulanz durch die Schaffung des Zusatzpunktes, eine klare Präsentation der Aufgabenstellung und Prüfungsmodalitäten22, Verpflichtung aller Schüler zur Produktion von Wissen, Reflexion auf den Arbeitsstand unter Berücksichtigung zeitlicher Ressourcen, verschiedene Techniken der Verteilung des erarbeiteten Wissens, Rekapitulation des Arbeitsauftrages, Darlegung der Kriterien der Leistungsbewertung sowie das „Schenken“ eines Punktes fürs Arbeiten (unabhängig vom Ausgang der Prüfung). 10. Oktober. Es sind ca. zwölf Minuten der fünften Stunde vergangen. Der Vortrag der Kalten Zone beginnt: Die „Kalte Zone“ geht nach vorn, d.h. genau genommen sind es: Carmen, Johanna, Laura, Greta und Klaus-Maria. Es gibt vorn ein kleines Hin und Her, und Johanna und Carmen setzen sich wieder. Frau Nalinski: „Da eine Mitschülerin auch die Frage hatte, können wir es auch gleich klären. Warum sitzt ihr zweie? Oder warum sitzt-geht ihr jetzt an den Platz, habt ihr entschieden, die sollen vortragen?“ – „Ja.“ – „Und ausgearbeitet haben alle zusammen?“ – „Ja.“ – „Gut, das ist wichtig.“
22 Es ist allerdings anzumerken, dass die Kriterien, die die Lehrerin unmittelbar vor der Prüfung anführt, für eine optimale Vorbereitung zu spät sind. Sie wären am Ende der letzten Unterrichtsstunde besser platziert gewesen, da dann die Schülerinnen und Schüler noch Zeit gehabt hätten, entsprechend der Kriterien zu üben bzw. ihren Vortrag entsprechend auszurichten.
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Frau Nalinski hatte in der vorangegangenen Stunde angekündigt, dass alle Schüler einer Gruppe zu allen Bereichen des Vortrags auskunftsfähig sein müssen (vgl. oben). Diese Ankündigung legt den Gedanken nahe, dass alle Vertreter der Gruppe vorn an der Tafel die Präsentation gemeinsam und gleichmäßig zu bestreiten haben. Mit diesem Auftakt, in dem zwei Mädchen die Bühne des Unterrichts betreten, um sich dann nach einem kurzen Intermezzo gleich wieder hinzusetzen, stellen die Mädchen heraus, dass sie zwar zur Gruppe gehören, aber keinen aktiven Part im Rahmen des Gruppenvortrags übernehmen möchten. Erstaunlicherweise lässt sich die Lehrerin auf die Veränderung des Vortragsskriptes ein und legitimiert obendrein das Verhalten der Schülerinnen. Die sitzenden Schülerinnen fahren nun quasi auf dem Ticket der Gruppe mit, ohne die Präsentation (bzw. nicht an zentraler Stelle) bestreiten zu müssen. Nun beginnt Klaus-Maria den Vortrag. Er liest etwas unsicher vom Blatt ab. Nach einer guten Minute ist sein Part schon wieder vorbei. Während KlausMaria vorträgt, macht sich die Lehrerin Notizen. Die Worte „bis zu 80 Minusgraden“, „Eiswüsten“, „3000 Meter Eis“, „neun Monate Winter“, „keine Pflanzen“, nur „Moose und Kräuter“, „Karibu-Herden“, „Eskimos“, „Inuit“ und „Seehunde“ fallen. Danach beginnt Greta ihren Part. Der Vortrag von Greta ist ungefähr vier Mal so lang wie derjenige von Klaus-Maria, allerdings ist er unstrukturiert und er wird von Greta schlecht vorgetragen. Manche Stellen im Vortrag geraten mitunter etwas peinlich, dann flüchtet sich Greta in unpassendes Lachen. Die Lehrerin versucht zu Beginn des Vortrags die sichtlich sehr nervöse Greta zu beruhigen, aber ihr Zuspruch scheint keine Früchte zu tragen: Greta liest stockend, wobei ihr Klaus-Maria über die Schulter schaut, er leidet mitlesender Weise mit, wenn Greta mal wieder stockt oder ein Wort falsch ausspricht, manchmal prustet er, manchmal steht er hinter ihr und guckt bedeutungsschwanger. Er schaut immer mal wieder auf ihren Zettel, schiebt seine Stirn hoch, nickt gelegentlich, leidet, flüstert ihr was ins Ohr, schlägt die Augen weit auf, hält sich die Hand vor den Mund, um sein Lachen zu verbergen. Laura steht im Gegensatz zu Klaus-Maria recht gefasst auf der anderen Seite neben Greta und lächelt tapfer in die Klasse. Man sieht, dass auch sie nicht besonders glücklich ist.
Der Vortrag geht weiter. Nun übernimmt Laura, die über den Lebensraum der „Kalten Zone“ aufklärt. Als Laura sich beim Wort Quadratkilometer verspricht, hilft ihr die Lehrerin. Anschließend geht Klaus-Maria zur Weltkarte, was die Lehrerin mit den Worten kommentiert, dass es ein „kurzer Vortrag“ war, was schade sei. Klaus-Maria zeigt ungeachtet der Kritik an einer stilisierten Weltkarte der Lehrerin die Gebiete der Kalten Zone. Frau Nalinski stellt Klaus-Maria einige Fragen zu Grönland, zum Eis, zu den Gebieten, und so fort. Damit endet der Vortrag. Die Lehrerin fordert schließlich von Greta ihr Vortragsskript ein, um zu prüfen, ob Greta einen Fakt richtig gesagt hatte.
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„SO! Zu euch! (...) Zu euch. Habt ihr Fragen, ist was nicht klar? Interessiert euch noch was zur Kalten Zone was noch nicht gesagt worden ist, eurer Meinung nach.“ Ruben: „Also ich weiß nicht mehr wie das hieß, aber die Wale, die mussten sich von irgendwas ernähren...“ – „Richtig, richtig! (.) Das war bei dir“, sagt Frau Nalinski und zeigt auf Greta: „Kannst du uns das noch mal erklären. Grill hast du gesagt.“ – Einige lange Sekunden vergehen bis Laura stellvertretend für Greta ganz leise “Plankton“ sagt. – „Aha, schon besser“, sagt die Lehrerin. – Ruben: „Krill sind kleine Krebse, die im Wasser schwimmen.“ – Die Lehrerin tadelt Greta: „Du selber hast es nicht gewusst obwohl du es verwendet hast, wichtiger Hinweis auch für später, Vorträge, verwendet nicht Begriffe von denen ihr gar nicht wisst, was das heißt. Erstens. Zwangsläufig kommt das ganz unsicher rüber. Wenn ihr Pech habt sprecht ihr das ganz falsch aus, so wie das gar nicht heißt. Und als drittens, könnte es ja sein, wie jetzt in dem Fall dass jemand nachfragt, und ihr dann feststellt, dass du es zwar gesagt hast, weil du es irgendwo gefunden hast, aber gar nicht weiß worum es geht, das ist dann ganz doll schade. Ja? Immer Nachschlagen, wenn ihr ein Wort nicht wisst und verwenden wollt, was ihr da sprecht.“ Laura guckt während des Tadels ertappt und ein bisschen traurig, sie zieht die Mundwinkel herunter und flüstert dann mit Greta, welche daraufhin tief einatmet.
Nach diesem (für diese Klasse) vergleichsweise scharfen Tadel fragt ein Junge, warum das Eis auf Island nicht schmelzen würde, da wären doch so viele Vulkane. Laura versucht zu antworten, aber Frau Nalinski übernimmt sofort für sie: Nein, das Eis schmelze nicht, aber sie würden noch eine Stunde zu Island haben, da würden sie noch einmal auf das Thema zu sprechen kommen. Greta lacht und kichert vor sich hin. Das macht sie schon eine kleine Weile, vermutlich um der öffentlichen Bloßstellung etwas entgegen zu setzen. Frau Nalinski wird es bald zu viel und sagt zu Greta: „So du setzt dich jetzt bitte mal hin! Es ist schade um deine Gruppe, denn ich muss das ja irgendwo mit registrieren.“ Klaus-Maria und Laura bleiben vorn stehen. „So jetzt mal ganz kurz von euch `ne Einschätzung. Inhaltlich das mache ich. Zur Vortragsweise, was würdet ihr da sagen?“ Ein Schüler: „Es war eigentlich gut, der Vortrag, aber es war sehr stottrich vorgetragen.“ – „Ja , von ihr muss ich sagen, die anderen beiden haben mir da...“ – „... sehr flüssig“, sagt jemand. – „Insgesamt ein recht guter Vortrag, würd‘ ich auch sagen, von der Vortragsweise bist du ein bisschen herausgestochen, gehört beim Vortrag, muss ich mal sagen, für alle dazu, dass man das zuhause auch mal durchübt, dass das nicht so stockerich gelesen wird. Ja?“ André sagt etwas Unverständliches. – „Schhhhh“, versucht die Lehrerin zu beruhigen. – „Ich hab bei Laura mal...“ – „Schhhhhh!“ – „Ich hab bei Laura mal gelacht.“ – „Jaaaa, das passiert mal, das ist kein Beinbruch. Wenn’s was Lustiges mal gibt, dass wir dann alle mal lachen müssen, aber man muss sich dann auch wieder in den Griff kriegen. Und wenn es die eigene Gruppe dann betrifft ist das natürlich dann umso schader. Ja?“
Vor dem Hintergrund der Ausführungen, die die Lehrerin zur Bewertung der Schülervorträge getätigt hat (vgl. oben), erstaunt das kooperative Zusammenspiel von Lehrerin und Schülern. So trägt die Lehrerin nicht nur die spontane Änderung des Vortragsskriptes durch die Mädchen mit, sondern sie übernimmt auch eine Frage für Laura, die sie als zu schwer (bzw. zu weit vorgreifend) markiert. Das schlechte Abschneiden und das situativ unangemessene Verhalten der Schü-
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lerin Greta bringt die Gesamtleistung der Gruppe in Gefahr. Klaus-Maria und Laura distanzieren sich bereits während des laufenden Vortrages mittels Gestik und Mimik von Greta. Damit stellen sie sich selbst als besser dar und reklamieren für sich selbst und die Gruppe ein besseres Leistungsimage (vgl. auch Kap. 2.4.5). Die Lehrerin ihrerseits rechnet die schlechte Leistung vor allem Greta zu. Parallel zu diesen Beobachtungen nimmt Olaf Jahnke als studentischer Projektmitarbeiter die Gruppe der „Gemäßigten Zone“ in den Fokus. Während das Referat der „Kalten Zone“ beginnt, trägt sich an den Tischen der „Gemäßigten Zone“ Folgendes zu: Meine Gruppe wird nun langsam aktiv, sie bereiten sich auf den weiteren Stundenverlauf vor. Initiator ist Ruben, der mit Leadership-Qualität seine Gruppenmitglieder noch einmal ‚einschwört’: schön zuhören und aufpassen, auf das Wichtige achten usw. Ich bin doch sehr überrascht, diese Professionalität im ‚Schülerjob’ bereits am Anfang von Klasse fünf beobachten zu können. [...] Für Aufregung sorgt die Äußerung eines vortragenden Mädchens, in der „Krill“ als wichtigste Nahrungsquelle der Wale bezeichnet, jedoch wie „Grill“ ausgesprochen wird – sofort breitet sich in der Klasse und auch an meinem Tisch Getuschel aus, mutmaßlich über den Versprecher. Auch André und Moritz unterhalten sich nun über ein Geschehnis auf der Bühne, doch ein scharfer Lehrerinnenblick unterbricht ihr Gespräch sofort. (Olaf Janke)
An dieser Stelle lassen sich zwei wichtige Praktiken des Schulerfolgs zeigen. Ein Schüler übernimmt die Führung der Gruppe und leitet diese an: Er ‚schwört‘ sie auf ein gemeinsames Ziel ein (ein erfolgreicher Vortrag) und warnt vor Gefahren. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, dass der Sinn der Vorträge – Schüler klären Schüler über die Klimazonen der Erde auf – durch die Vorbereitungen unterlaufen werden. Gleichsam mit dem Beobachter kann die Professionalität des Schülerjobs (vgl. Breidenstein 2006) vor allem darin vermutet werden, dass es situativ eben nicht zentral ums Zuhören, also ums Lernen unbekannter Klimazonen, geht, sondern mit Blick auf die Leistungsbewertung um die Optimierung der eigenen Präsentation. Das, was die anderen Schüler vorzutragen haben, ist von untergeordneter Bedeutung; die Rahmung Leistungsbewertung verändert die Situation des Vortrags ebenso wie diejenige der Zuhörenden.23 Die Schüler referieren für die benotende Lehrerin, und die Mitschüler nutzen die Zeit um sich vorzubereiten. Die Rahmung Prüfung aktiviert andere Praktiken als der Rahmen einer Lernsituation. Kann also ein Unterricht, in dem täglich Prüfungen stattfinden (vgl. Kap. 2.4.1) überhaupt ein guter Unterricht sein (vgl. Kap. 2.6)? Nach dem Vortrag der „Kalten Zone“ hält die „Gemäßigte Zone“ ihren Vortrag, der ebenso wie die „Kalte Zone“ nicht optimal gelingt. Am Ende der Stunde kommt die Lehrerin auf die Leistung beider Gruppen zu sprechen. Sie stellt fest, 23 Daher erstaunt es durchaus, dass die Schülerinnen und Schüler der Gruppe trotz ihrer Vorbereitungen einen Versprecher ihrer Mitschülerin registrieren, so dass sie ihn in der Bewertungsrunde als Kritik anführen können.
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dass beide Gruppen inhaltlich alle Punkte erreicht hätten und schreibt dies an die Tafel. Aber auch die Vortragsweise gehöre dazu, fährt Frau Nalinski fort, und dazu gehöre es, dass man den Vortragstext auch vorlesen könne. Auf jeden Fall müsste sie beim ersten Vortrag einen Punkt abziehen. Frau Nalinski ergänzt das Tafelbild: Kalte Z. 15 2
Gem. Z. 15
Sie habe auch Schwierigkeiten mit den ersten beiden Schülern der Gemäßigten Zone gehabt. Da müsse sie schon einen Punkt abziehen. „Ihr sollt ja auch lernen, was könnte ich verbessern“, fährt sie fort. „Waren die Schüler auch ganz hinten zu verstehen?“, fragt sie die Klasse, was ein durchwachsenes Bild ergibt. Auch die Vortragsweise gehöre zum Gelingen eines Vortrags, sagt Frau Nalinski. „Da habe es noch Reserven gegeben“, resümiert die Lehrerin, nicht ohne anschließend auf den durch ruhige Arbeit bereits erbrachten Zusatzpunkt hinzuweisen. Kalte Z. 15 2 +1
Gem. Z. 15 2 +1
Laura guckt vergnügt und auch Greta kann wieder lächeln. Frau Nalinski fährt fort: „Eine Eins ist immer noch möglich, wenn die Plakate top werden.“ Die Plakate dürften sie dann nach den Ferien einreichen. „Ist meine Bewertung nachvollziehbar?“, will Frau Nalinski wissen: „Könnt ihr sie akzeptieren?“ Dann fährt sie fort, dass die Kinder ihr Plakat in der Schule anfertigen könnten, sie würde sich um die Räume kümmern, damit sie ungestört am Nachmittag – nicht vergessen den Eltern Bescheid zu sagen – arbeiten können. „Je schneller ihr abgebt, desto schneller gibt es die Note!“, motiviert Frau Nalinski die Kinder. Es wäre ihre Entscheidung, ob es 3, 2 oder (nur) 1 Punkt auf das Plakat gäbe. Laura und Sina melden sich, wollen noch was zum Plakat-Machen wissen.
Der inhaltliche Teil der Vorträge wird von der Lehrerin nicht zur Diskussion gestellt; sie vergibt jeweils 15 Punkte, ohne diese Entscheidung vor der Klasse zu begründen. Allerdings greift sie die von den Schülern vorgebrachte Kritik auf, reformuliert sie als ihre eigene und nutzt sie als Begründung für die Vergabe von ‚nur‘ 2 von 3 Punkten im Vortragsteil. Aufschlussreich ist die Formulierung der Lehrerin, dass sie auf jeden Fall einen Punkt beim Vortrag abziehen müsse. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Lehrerin die volle Punktzahl auf den Inhalt nicht begründet, dann deutet die gewählte Formulierung auf die zugrundeliegende Logik der Bewertungspraxis hin: Nicht die Vergabe von Punkten ist begründungspflichtig, sondern die Nichtvergabe bzw. der Abzug von Punkten. Die Praxis der Leistungsbewertung scheint folglich nicht davon bestimmt zu sein, den Schülern nachzuweisen, dass sie etwas können, sondern dass sie Fehler gemacht haben und daher keine ganz so gute Note erwarten dürfen. Dies bedeutet, dass die Leistung eines Schülers als „sehr gut“ angenommen wird (vgl. Kap.
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2.4.5). Die Lehrerin sieht sich erst dann in einer Begründungsverpflichtung stehen, wenn sie Leistungen schlechter als „sehr gut“ bewerten will. Der Gruppenvortrag der „Subtropen“ und ihre Bewertung 11. Oktober 2005. Den Vortrag beginnt Rebekka, die an der Rückwand des Klassenzimmers mit dem Zeigestock die Gebiete der Subtropen zeigt. Dann kommt Laura dran, die ähnlich assoziativ und unstrukturiert wie Greta in der letzten Stunde zentrale Begrifflichkeiten aufführt. Nach einer guten Minute gibt sie das Wort ab. Die Klasse ist sehr ruhig und aufmerksam. Die Präsentation von Elsa ist verhältnismäßig gut. Nach kurzweiligen zwei Minuten kommt wieder Laura dran: Laura: „Die Jahrestemparatur-Jahrestemperatur beträgt 25 Grad Celsius.“ Sechs Sekunden Schweigen. „Das war’s?“, fragt die Lehrerin. – „Hm“ – „Von euch?“, – „Ja.“ – Frau Nalinski: „An die anderen der Gruppe: könnt ihr mehr erzählen? Habt ihr Zusatzmaterial?! So jetzt aus der Gruppe (.) von euch (.) die mitgearbeitet haben, habt ihr da noch mehr zusammen tragen können? Könnt ihr noch was erzählen über die Subtropen? (5) Über die Punkte, die ich euch vorgegeben habe, die habt ihr ja schön abgearbeitet, aber ihr habt ja sicher gemerkt, dass die anderen beiden Gruppen noch zusätzliches Material gefunden haben. (..) Habt da noch-habt da nich gemacht. Habt euch nur auf den Text beschränkt. (.) Sooo. (.) Gut.“
Im Anschluss gibt es eine kurze Besinnung der Klasse auf die Aufgabenstellung. Ein Schüler merkt an, dass die Ausführungen zur Ernährung und zur Kleidung gefehlt hätten. Rebekka weist darauf hin, dass sie die Durchschnittstemperatur einer externen Quelle entnommen habe, aber sie wird sofort von einer Mitschülerin korrigiert, dass es im Buch stünde. Der Vortrag war also nicht nur zu kurz, sondern obendrein auch noch unvollständig. „Hm, jawoll!“, bestätigt Frau Nalinski und wendet sich wieder an die Vortragenden: „Könnt ihr dazu [Ernährung, Kleidung] was sagen? Gibt’s da Unterschiede?“ – Rebekka: „Die essen nur Datteln und Bananen und eben Kokosnüsse und nicht wie wir jetzt eben (.) zu viel Fleisch wovon es überhaupt nicht soviel von gibt…“ – „Richtig. (.) Woran kann das liegen?“ – „Weil es ähm (.) nicht soviel Wasser gibt.“ – „Ja. Richtig. Jawoll.“ – Laura: „Ich wollte dazu noch was sagen. Aber das hat sie ja jetzt gesagt gehabt.“ – „Hm, hm. (..) Gut, dann wurde was angesprochen zur Bekleidung. Kleiden die sich irgendwie anders als bei uns?“ – „Ja also die ziehen sich nicht so warm an weil’s da ähm heißer ist. Die haben auch nicht so richtig, ähm, Stoff, (.) also so richtige, also so Kleider, die das alles zu nähen.“ – „Oh doch! Da sind sie mit Sicherheit ganz (..) fix dabei und geschickt darin sich da auch was [zu] schneidern…“ – „Die ziehen nur Wollpullover an“, flüstert Klaus-Maria sehr vernehmlich. Vereinzeltes Lachen. „Hast du da einen Bericht gesehen, dass in den Subtropen überwiegend Wollpullover getragen werden?“, fragt die Lehrerin rhetorisch. Allgemeines Lachen. „Dann bitte keinen Kommentar.“ Noah meldet sich, Ruben auch. „Gut. Ähhh. Wenn das heißt, die müssen sich nicht so warm anziehen. Vielleicht können wir das auf den Punkt (.) bringen. (.) Wir hatten ja gestern die gemäßigte Zone und gesagt bei uns
2.4 Schülerleistungen bewerten und benoten
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muss man sich nach den Jahreszeiten richten. Ja? Vielleicht brauchen wa ma Sommersachen, mal Wintersachen (.) im Schrank, so dass wa wechseln müssen. Äh in den Subtropen hast du gesagt ist es warm und deshalb ist das Typische ja auch, dass sie sich nicht so auf den Winter dort so einstellen müssen auch wenn es im Winter kalt und wüst-aber so genau brauchtet ihr das ja noch gar nicht rausfinden.“
Im weiteren Fortgang übernimmt die Lehrerin den Vortrag und entlässt damit die Gruppe aus ihrer Verantwortung. Nach einer kurzen Sequenz, in der die Lehrerin erläutert, dass ein wolkenloser Himmel mehr Wärmeenergie abstrahlt als ein bedeckter, wechselt sie in ein Schwätzchen über nützliche Kleidung bei hohen Temperaturen über. Greta weiß zu berichten, dass sie im Sommer in ihren warmen Federbetten sehr schwitzen würde. Die Lehrerin kehrt danach zum Thema zurück und fragt die Gruppe, ob sie noch etwas über die Subtropen herausgefunden hätten. Bettina stiftet einen kurzen Beitrag, den die Lehrerin dankbar aufgreift und dabei immer mehr in Fahrt gerät. Sie zeichnet eine Skizze an die Tafel, die den Zusammenhang von Lichteinstrahlung, Wolkendecke und Temperatur dargestellt. Noah weiß auch noch von seinem Au-pair-Mädchen aus den Subtropen zu berichten, das hier in Deutschland ganz doll gefroren habe. Auch diese Geschichte greift die Lehrerin auf, um noch ein paar Sätze zum Zusammenhang von Temperatur, Gewöhnung der Menschen an diese und ihre Kleidung zu sagen. Hieran schließt die Lehrerin ein kurzes Referat der geographischen Besonderheiten der Subtropen an, um erneut die Schüler aufzufordern, noch etwas zum Thema beizutragen, was Greta nutzt, um sich über die teilweise heftigen Temperaturschwankungen in Deutschland zu beklagen. Es schließt sich ein Unterrichtsgespräch über helle, lange Gewänder im Besonderen und über die Subtropen im Allgemeinen an. Nach weiteren Anekdoten zum Thema (wie z. B. heißer Sand und wehe Füße), schlägt ein Mädchen aus der ‚vortragenden‘ Gruppe vor, das Buch auf Seite 24 aufzuschlagen. Die Lehrerin greift die Anregung auf und bestreite im Fortgang ein Unterrichtsgespräch über das Aussehen von Wüsten, Oasen, Grundwassergewinnung, sowie die Ausbreitung von Wüsten und den Anteil, den die Menschen daran hätten. Abschließend kann für den Verlauf der Gruppenvorträge gesagt werden, dass der letzte und längste Teil des Vortrages durch mehrfache Rahmungsarbeiten gekennzeichnet ist: vom Vortragsmodus, die eine Gruppe zu verantworten muss, zum einem bisweilen assoziativ strukturierten Unterrichtsgespräch, in dem jeder mitwirken kann, und wieder zurück. Die Lehrerin verwickelt die Kinder in ein Unterrichtsgespräch über die Subtropen, wobei sie ihre Fragen zuerst an die Gruppe der „Subtropen“ richtet, und erst dann, wenn sie die Fragen nicht beantworten kann, andere Schüler der Klasse zur Beantwortung aufruft bzw. ein freies Gespräch initiiert. Bemerkenswert ist der Satz der Lehrerin am Ende des Protokollausschnittes, dass die Schüler das „so genau [...] gar nicht [he]raus]finden“ (vgl. oben) mussten. Damit ermöglicht es die Lehrerin den Vortragenden einerseits, mithilfe des Unterrichtsgespräches
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ihren Vortrag künstlich auszuweiten, andererseits begrenzt sie die Verantwortlichkeit, wenn die Gruppe der „Subtropen“ Fragen nicht beantworten kann. Die Lehrerin stellt das Gespräch, das sie mit der Gruppe und der Klasse zum Thema führt, in den Dienst einer Art freiwilligen Zusatzleistung. „Gut. Können wir damit erst mal verbleiben?! Ich denke wir haben jetzt ganz viel zusammen getragen. Ähhhhh! Ich sag gleich mal in Kurzform was zu den Einschätzungen. Inhaltlich war es bestimmt nicht auf 14 Punkte aus, weil mir ein bisschen was gefehlt hatte. Ähhh! Vielleicht könnt ihr euch kurz dazu äußern. Ich bin der Meinung es sind viele Fragen und Hinweise gekomm‘ (..), vereinzelt aus der Gruppe, besonders die beiden hier vorne, dass sehr schön geantwortet wurde, so dass vieles noch zusätzlich zusammengetragen wurde. Ich würde deshalb inhaltlich insgesamt einschließlich also der Fragen und Hinweise die gegeben wurden inhaltlich 15 Punkte geben. Ganz kurz dazu ’ne Meldung?“ Ruben: „...also hm... ich fand’s auch“ – „Kurz!“ – „Wie se vorgetragen haben des war nicht so [1 sec. unv.] die Fragen haben se dann... – „Richtig! Dadurch habenses wieder aufgeholt. Würde ich auch sagen! (.) Ja?! Ich denke das nehmen wir auf jeden Fall mit rein (.) in die Bewertung (.) denn wenn se’s nich (.) gekonnt hätten auf unsre Fragen zu antworten, auf eure Fragen zu antworten, ja?!, hätten wir auch Abzug gehabt. Deshalb werd’ ich das auf jeden Fall mit reinnehmen.“ Frau Nalinski tritt an die Tafel und schreibt 15 Punkte an.
Im Unterschied zu den vorherigen Bewertungen weicht die Lehrerin in zweifacher Hinsicht von ihrem bisher praktizierten Schema ab. Zunächst einmal stellt sie fest, dass die Gruppe „inhaltlich [...] nicht auf 14 Punkte aus“ war und stützt diese Einschätzung mit dem Hinweis, dass „ihr da ein bisschen was gefehlt“ habe. Diesen Worten zufolge müsste sich die Lehrerin für eine Bewertung des Inhalts bei 13 oder weniger Punkten entscheiden. Ferner bittet sie die Schüler, sich zum Inhalt zu äußern, womöglich um ihre Kritik zu stützen. Dann aber übergibt Frau Nalinski ihren Schülern nicht das Wort, ohne zuvor deutlich darauf hinzuweisen, dass „sehr schön geantwortet wurde“, um dann - situativ absolut erwartungswidrig - 15 Punkte für den Inhalt vorzuschlagen. Seitens der Schüler bleibt Widerspruch aus; sie tragen die Kehrtwende mit. War die Einschätzung des Inhaltes - immerhin fehlten ja die Themen Ernährung und Kleidung vor dem Lehrer-initiierten Unterrichtsgespräch vollständig - bereits eine gewagte Umdeutung der Situation, gerät die Bewertung vollends zur Posse, als die Lehrerin 3 Punkte nach einem Gespräch mit der Klasse für die Vortragsweise vergibt. Angesichts der aufwendigen Rahmungsarbeit durch die Lehrerin drängt sich der Verdacht auf, dass das Gruppenergebnis, die Eins, mittlerweile feststeht, und dass die Lehrerin durch ihre Prüf- und Diskurspraktiken bestrebt ist, die entsprechende Benotung hervorzubringen (vgl. hierzu auch Kap. 2.4.4). Den Schülern kommt es in diesem Schauspiel zu, brav mitzuspielen, was heißt, dass die Vortragenden die geschenkten Punkte bereitwillig entgegen zu nehmen haben und die Kommentatoren den Anschein einer echten Prüfung aufrecht erhalten müssen, indem sie auf Widerspruch verzichten. An die Stelle einer kritischen Bewer-
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tung tritt die Darstellung von Kritik, denn scheinbar können nur in diesem Gestus volle Zugeständnisse gemacht werden. Der Gruppenvortrag der „Tropen“ Der Gruppenvortrag der „Tropen“ verläuft ähnlich durchwachsen wie derjenige der „Subtropen“, aber dennoch bekommt die Gruppe zu guter Letzt die volle Punktzahl. Dies gelingt erneut durch ein geschicktes Zusammenspiel von Praktiken. So transformiert Frau Nalinski die Vortragssituation in ein Unterrichtsgespräch, als ein Schüler die Frage nicht beantworten kann24 und behandelt einen Fehler als Nicht-Fehler, da er durch die Gruppenmitglieder noch korrigiert werden kann. Zudem ‚übersieht‘ Frau Nalinski in der Bewertungsrunde, dass zentrale Aspekte nicht im Vortrag behandelt wurden, und unterstellt der Gruppe fälschlicherweise eine Leistung, die sie nach den Aufzeichnungen beider Beobachter nicht erbracht hat. Die abschließende Benotung der Gruppenvorträge 24. Oktober, Beginn der fünften Stunde. Nun soll es die Noten für die Gruppenarbeit geben. Doch zuvor müssen noch die Plakate der Gruppen präsentiert und mit Punkten bewertet werden. Nun treten Carmen, Klaus-Maria, Laura und Thessa nach vorne und halten zu viert das Plakat hoch. Das Plakat ist ca. 130 bis 160 cm breit und ca. 50 cm hoch. Frau Nalinski guckt auf das Plakat und fragt, ob das nicht ein bisschen viel sei, was sie dort anbieten würden. Dann: „Wer hat denn was an diesem Plakat gemacht?“ Laura antwortet, dass sie das Plakat zusammen mit ihren Eltern gemacht habe und dass … – „Moment mal!“, unterbricht sie eine irritierte Lehrerin, da müsse sie jetzt aber mal nachfragen. „Wieso ist das mit den Eltern?“, setzt sie den halbvollendeten Satz hinterher. „Wo ist die Gruppe geblieben?“ Es kommt zu einem schnellen Schlagabtausch zwischen Greta und Laura, irgendwie hatten sich die Mädchen verabredet, es gemeinsam zu machen, aber das ging dann doch irgendwie nicht, und deshalb hat Laura die Arbeit allein auf sich genommen, wobei ihr dann ihre Eltern geholfen hätten. Frau Nalinski scheint das kleine Durcheinander nicht komplett verstanden zu haben und hakt erneut nach: „War das abgesprochen? Hättest du Hilfe haben können? Ansonsten müsse sie jetzt einen Punkt abziehen.“ Laura wiederholt sich sinngemäß. „Also abgesprochen?!“, fasst Frau Nalinski die Ausführungen von Laura zusammen, was die Kinder bejahen. „Also, wer hat also was zusammengetragen?“, will die Lehrerin nun wissen. Laura geht Stück für Stück das Plakat durch und sagt, dass dies Klaus-Maria, 24 Dass dieser Wechsel so leicht möglich ist, hängt damit zusammen, dass sich sowohl eine Vortrags- als auch eine Unterrichtssituation durch ihren Vermittlungsaspekt auszeichnet. Diesen Aspekt kann die Lehrerin quasi bei Belieben nutzen, wenn sie phasenweise aus der Vortragssituation aussteigen möchte. Angesichts des Umstandes, dass der Vortrag anschließend bewertet wird, stellen diese Rahmungswechsel nicht zu unterschätzende Kulanzpraktiken dar.
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jenes Carmen, dies sie selber und dieses Thessa zusammengetragen hätten. Das Aufkleben und die Feinschrift habe sie zusammen mit ihren Eltern gemacht. Frau Nalinski: „Alles sehr schön drin, alles sehr schön sauber!“
Im weiteren Verlauf fragt die Lehrerin die Klasse, wie ihnen das Plakat gefallen würde. Aber anstelle einer kritischen Diskussion des Plakates entzündet sich ein Gespräch über die Bedeutung des Wortes Eskimo. Laura erzählt, dass ihr Vater für das Plakat eine Seite aus einem Delfinbuch herausgeschnitten habe, was allseits große Anerkennung findet. Und erneut verzichtet die Lehrerin entgegen ihrer Ankündigung auf eine kritische Diskussion des Plakates, wobei sie allerdings einen Gestus bemüht, der suggeriert, sie würde mit ihrer (sehr guten) Einschätzung eine vorausgegangene Erörterung resümieren. Besonders herausfordernd ist es für die Lehrerin, die sich scheinbar von ihrem Einserkurs nicht mehr abbringen lassen möchte, eine Gruppenleistung mit voller Punktzahl zu bewerten, die von den Eltern einer Schülerin maßgeblich gestaltet wurden. Dies gelingt ihr mit einem interessanten Kniff: Sie zieht als Bewertungskriterium nicht nur das fertige Produkt heran, sondern sie lässt vor allem die Möglichkeit der Mitarbeit gelten, sofern diese abgesprochen sei und die Inhalte gemeinsam erarbeitet würden. Die Gruppe bekommt 3 Punkte und damit ein „Sehr gut“ auf die Präsentation - ebenso wie alle anderen Gruppen schlussendlich eine „Eins“ bekommen. In anderen Bewertungsrunden zeigen sich noch weitere Praktiken, durch die Schulerfolg hergestellt wird: Die Gruppe der „Tropen“ hat nur eine halbherzige Plakatgestaltung vorzuweisen und dies führt tatsächlich zu einem „Punktabzug“. Dennoch bekommen die Kinder ihre Eins, da sie für das leise Arbeiten am 4. Oktober einen Zusatzpunkt bekommen haben. Ein weiterer, kniffliger Höhepunkt ist das Eingeständnis der „Subtropen“, dass sie ihr Plakat nicht fertig gestellt hätten. Die Lehrerin setzt bereits an, die Note „Gut“ zu erteilen, da wird sie von den Kindern unterbrochen, die sie daran erinnern, dass dies (angeblich) abgesprochen sei. Die Lehrerin räumt der Gruppe Zeit ein, das Plakat in der Stunde im Nebenraum fertig zu stellen. Ferner resümiert die Lehrerin Diskussionen, die es so nie gab - natürlich zugunsten der jeweiligen Schülergruppe. Die Analysen der klassenöffentlichen Bewertungsrunden zeigen, dass es sehr viel Wohlwollen von beiden Seiten benötigt, um angesichts eklatanter Verstöße gegen die selbst gesetzten Regeln der Leistungsbewertungen sehr gute Noten hervorzubringen. Die Lehrerin muss Verstöße in regelkonformes Verhalten umdeuten und die Schülerinnen und Schüler dürfen diese Deutungsarbeit nicht nur nicht gefährden, sondern sie müssen sie dabei auch noch aktiv unterstützen (vgl. Kap. 2.4.4). Das Kartenhaus der ‚sehr guten‘ Leistungen könnte bereits durch einen beharrlichen Einspruch eines Schülers einstürzen.
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Die antagonistischen Praktiken des Schulerfolgs Mit Blick auf die Bewertung der Gruppenvorträge kann zunächst einmal gesagt werden, dass es sich hierbei um einen recht erstaunlichen Prozess handelt: Zwei Stunden Gruppenarbeit stehen beinahe drei Stunden Schülerpräsentationen samt Leistungsbewertung gegenüber. Der Aufwand, den die Lehrerin betreibt, um ihren Schülern die Kriterien der Notengebung zu eröffnen, ist bemerkenswert. Dies geschieht vermutlich in der Hoffnung, dass die Bewertung den Schülern fair und nachvollziehbar erscheint (vgl. Kap. 2.4.3). Während die Präsentation der Bewertungskriterien den von Bohl (2004) herausgearbeiteten Kriterien zur Bewertung von Präsentationen halbwegs entsprechen (vgl. ders.: 107ff.), stellt der Ausgang der Notenfindung beinahe eine Parodie seiner Konzeption dar, da die Bewertungskriterien zwar angeführt und in Teilen auch durch die Lehrerin eingelöst werden, nachher aber alle Gruppen bzw. Schüler ungeachtet ihrer unterschiedlichen Leistungen die gleiche Note - eine Eins - bekommen. Das Ergebnis der Klasse, das kollektive „Sehr gut“, ist ein Resultat des Umstandes, dass Leistung zwischen den Interaktionsparteien im Klassenzimmer als „ein zu vereinbarendes Konstrukt“ (ders.: 30) ausgehandelt wird. Gerade der Umstand, dass die beiden Beobachter - Olaf Janke und ich - trotz distanzierten Blicks zum Zeitpunkt der Notenvergabe das Ergebnis hinsichtlich seiner Richtigkeit nicht anzweifeln, zeigt, dass die Dramaturgie des Prozesses und das Zusammenspiel der Parteien sehr gute Leistung als Effekt situativer Übereinkunft hervorbringen kann.25 Doch wie wird nun die gute Leistung und damit auch der gute Schüler hervorgebracht? Wenn man die Praktiken der Unterrichtsstunden betrachtet und auf ihre Logiken untersucht, dann lässt sich zunächst einmal feststellen, dass einige Praktiken einer anderen Logik folgen als andere. So folgt zum Beispiel eine Verpflichtung der Schülerinnen und Schüler auf Leistungsstandards einer anderen Logik und produziert andere Effekte als etwa die wohlwollende Umdeutung von erbrachten Schülerleistungen. Die Untersuchung der Praktiken hat gezeigt, dass sie sich fünf verschiedenen Gruppen zuordnen lassen. Sie können als Orientierungs-, Management-, Kontroll-, Image- und Kulanz-Praktiken bestimmt werden. Dabei ist zu betonen (und das verwundert nicht), dass manche dieser Praktiken vornehmlich von der Lehrerin dominiert werden, andere wiederum werden beinahe ausschließlich von den Schülerinnen und Schülern getragen. Für alle diese Praktiken ist kennzeichnend, dass sie im Rahmen der Gruppenpräsentationen An25 Dieser Befund ist durchaus erstaunlich, da sich die zum Teil ironische Sprache der Protokolle mit der Wahrnehmung der ‚Richtigkeit‘ der Noten widerspricht. Erst die gründliche Analyse der Protokolle hat mir deutlich werden lassen, wie groß die Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Verläufen und der ‚gefühlten Wirklichkeit‘ ist.
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wendung finden, aber sie können auch (in abgewandelten Formen) in anderen Unterrichtsstunden beobachtet werden. Zunächst einmal können zahlreiche Praktiken unter der Kategorie der Orientierung zusammengefasst werden (vgl. auch Kapitel 2.3). Diese Orientierungspraktiken spielen im Rahmen von Prüfungssituationen eine wichtige Rolle. Erst eine klare Aufgabenstellung und ein konkretes Bild von der Prüfungssituation ermöglichen es den Schülerinnen und Schülern, sich auf die Prüfungssituation ‚richtig‘ vorzubereiten.26 Diese Praktiken zielen dabei nicht nur auf die Inhalte der Präsentation, sondern auf die Art und Weise. Muss der Schüler frei reden? Darf er ablesen? Müssen alle Schüler vortragen oder dürfen sich die nicht so guten Schüler auch im Hintergrund halten? Wie flüssig, witzig, geistreich, tiefsinnig darf, sollte?, muss! der Vortrag sein? – Es gibt zahlreiche Fragen, die sich in diesem Kontext stellen können. Je konkreter die Anforderungen formuliert werden, desto präziser können sie auch erfüllt werden (vgl. auch Bohl 2004: 107f.) und desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass es wegen Leistungsbewertungen zwischen Lehrern und Schülern zu Konflikten kommt (vgl. Lütgert 2000: 51). Es ist bereits in Kapitel 2.3.2 „Arbeitsanweisungen“ angeklungen und wird im nachfolgenden Kapitel 2.4.3 auch noch ausführlich dargestellt: Die Praxis der Orientierung auf das, was zu tun ist, und die Reflexion des Geleisteten sowie das Nachvollziehbarmachen der Leistungsbewertung stellen wichtige Praktiken für die Hervorbringung guter Schüler dar, und sie sind „ein Teil des Arbeitsbündnisses zwischen dem Lehrer und den Schülern“ (Meyer 2004: 114). Es verpflichtet die Schüler auf bestimmte Leistungen, aber es zwingt auch die Lehrerinnen und Lehrer zur „Selbstkritik“ (vgl. Julius/Schmidt 1996: 78f., Otto 1996: 108f.). Einerseits hat der Lehrer sich kritisch zu befragen, ob seine gestellten Anforderungen legitim waren, und andererseits hat er sein Urteil – die Note – zu begründen. Die Funktion der Rückmeldung liegt für die Schülerinnen und Schüler darin, dass sie erfahren, was sie das nächste Mal besser machen können, aber auch, was sie nicht weiter zu verbessern brauchen. Dies sind sehr wichtige Informationen für die Schülerinnen und Schüler, die erfolgreich sein wollen. Der zweite Komplex von Praktiken, der zwar losgelöst von den Orientierungspraktiken zu diskutieren ist, aber in einem engen Zusammenhang mit diesen steht, sind Praktiken, die der Kontrolle dienen. Dabei sind nicht nur diejenigen Praktiken gemeint, die in unmittelbarem Bezug zur Leistungsbewertung stehen. Sie beziehen sich zum Beispiel auch auf die formalen Aspekte einer Prüfungssituation. Im vorliegenden Fall der Gruppenarbeit verpflichtet die Lehrerin die Schülerinnen und Schüler darauf, ihre Mitgliedschaft zu einer Gruppe und ihre Mitarbeit in dieser darzustellen. Des Weiteren prüft sie auch, welcher 26 Meyer (2004) verweist darauf, dass seit längerem empirisch belegt sei, „dass transparente Leistungserwartungen den Lernerfolg erhöhen“ (ders.: 117).
2.4 Schülerleistungen bewerten und benoten
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Schüler für welchen Teil der Plakatgestaltung verantwortlich ist. Durch die Kontrolle der Gruppenmitgliedschaft konstituiert die Lehrerin eine Gruppe, die eine gemeinsame Gruppenleistung erbringt – und dies ist die unabdingbare Voraussetzung für die Vergabe einer gemeinsamen Note.27 Ferner lässt sich die Lehrerin das Vortragsskript einer Schülerin zeigen, um es mit ihren Aufzeichnungen zu vergleichen. Diese Praktik soll den Schülern anzeigen, dass die Lehrerin um eine redliche ‚Bepunktung‘ der Vorträge bemüht ist. Das Pendant zu den Kontroll-Praktiken, welche vornehmlich von der Lehrperson strukturiert werden, stellen die Management-Praktiken auf der Schülerseite dar. Es konnte beobachtet werden, dass in den beobachteten Gruppen jeweils ein Schüler die Leitung und Organisation übernimmt. So sei beispielsweise an den Schüler Ruben erinnert, der seine Gruppe kurz vor der Prüfung auf ein gemeinsames Ziel einschwört und vor Fehlern warnt. Ferner zeigt die Analyse, dass für das erfolgreiche Bestreiten der Gruppenarbeit die Reflexion auf die Zeitressourcen, den Arbeitsstand und den zu erwartenden Aufwand unabdingbar ist. Aber auch die Praktiken der Verteilung des Wissens an die Gruppenmitglieder (Diktat, Kopieren, etc.) sowie die Korrektur von Fehlern sind ManagementPraktiken, die die Schülerinnen und Schüler für ihre Vorbereitung nutzen. Zu diesen Praktiken zähle ich auch die Strategie der Schüler, die in wenigen Minuten einen Vortrag halten müssen, nicht den aktuell sprechenden Referenten zuzuhören, sondern die Zeit für die Vorbereitung des eigenen Vortrags zu nutzen.28 Zuletzt soll noch darauf verwiesen werden, dass die Schülerinnen und Schüler sich selbst und andere kritisch beäugen und Fehler benennen. Das Sehen von Fehlern, das Benennen dieser und das Wissen um diese ist grundlegend, da sich die Schüler nur dann verbessern können, wenn sie wissen, was sie ändern sollen. Ein weiterer Komplex von Praktiken, der zur interaktiven Herausbildung des erfolgreichen Schülers beiträgt, kann mit den Begriffen „Image und Erwartungen“ beschrieben werden. Die Lehrerin stellt gegenüber den Schülerinnen und Schülern ihr Vertrauen in deren Leistungsfähigkeit heraus, welche sie beispielsweise durch die Äußerung von hohen Erwartungen unterstreicht. Dies verbindet sie mit einem generellen Zuspruch, der deutlich macht, dass sie ihre Schüler für
27 Bohl (2004) weist darauf hin, dass „die Bewertung von Teamarbeit in Form von Noten aus rechtlichen Gründen nicht einfach ist. Juristisch gesehen muss jede Bewertung auf eine individuelle Leistung zurückgeführt werden können. Dies ist aus pädagogischer Perspektive häufig unbefriedigend, weil es den kooperativen Teamgedanken wieder individualisiert und ad absurdum führt.“ (ders. 106.) 28 An dieser Stelle wird das Spannungsfeld des pädagogischen Arrangements besonders deutlich: Einerseits sollen die Schüler etwas durch die Schülervorträge lernen, andererseits erschwert aber die unmittelbar bevorstehende Prüfung den Schülern, sich zurück zu lehnen und ihren Mitschülern aufmerksam zuzuhören.
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leistungsstark hält, die auch anspruchsvolle Aufgaben lösen können. Dies hat folgende Konsequenzen29: „1. Sie (die Schüler, denen eine höhere Leistungsfähigkeit zugeschrieben wird, d. Verf.) werden häufiger aufgerufen. 2. Sie werden häufiger gelobt, selbst bei gleicher Qualität der Antworten. 3. Bei falscher oder ungenügender Antwort wiederholt der Lehrer bei ihnen häufiger die gestellte Frage, formuliert sie häufiger um, wartet länger, oder gibt häufiger zusätzliche Lösungshinweise. 4. Bei falschen Antworten werden sie seltener getadelt. 5. Bei richtigen Antworten werden sie häufiger gelobt.“ (Heckhausen 1973: 70; zitiert nach Ziegenspeck 1999: 186)
Auch die Erdkunde-Lehrerin kommt zu äußerst wohlwollenden (Um-) Interpretationen der Schülerleistungen. Andererseits werden Leistungen, welche dem Image des guten Schülers nicht gerecht werden, durch Distanzierung und Kritik bestraft: Auf Seiten der Mitschüler führt die Verletzung des Images zu sofortiger Distanzierung sowie zu deutlicher Kritik in der Rückmelderunde und partieller Ausgrenzung, ebenso spart auch die Lehrerin nicht mit Kritik. Die Szene legt die Vermutung nahe, dass sich sowohl Schüler als auch Lehrer dem Image des erfolgreichen Schülers verpflichtet fühlen und sich an diesem Image mit ihrem Verhalten orientieren.30 Schüler, die diesen Verhaltenskodex verletzen, werden sowohl durch ihre Mitschüler, als auch durch die Lehrer sanktioniert (vgl. hierzu auch Kap. 2.2.4). Die Schülerinnen und Schüler stellen performativ Trauer und Freude dar; auf Seiten der Lehrerschaft korrespondiert diese Praktik mit der Demonstration von Stolz und Ärger. Die Situation der Notenverkündung ist eine Situation, in der man durch die Darstellung angemessener Emotionen, nämlich Trauer bei schlechten und Freude bei guten Noten, das Image vom guten Schüler und seine Zugehörigkeit zu dieser Klassenkultur zum Ausdruck bringt. (vgl. hierzu Kap. 2.4.5) Die Kulanz-Praktiken, welche im folgenden Kapitel noch ausführlich behandelt werden, sind diejenigen Praktiken, mit denen die Lehrerin schlechte bzw. nicht ganz so gute Leistungen einklammert beziehungsweise verbessert. Zunächst einmal nutzt die Erdkundelehrerin einerseits Kontroll-Praktiken, um alle Schüler zur Gruppenarbeit anzuhalten, andererseits verpflichtet sie nicht alle Schülerinnen und Schüler zur Präsentation der Aufgabe an der Tafel, als sich einige Mädchen spontan hinsetzen und damit den Prüfungsablauf ändern (vgl. die Unterrichtsstunde 10. Oktober). Kulanz wird in diesem Fall durch das Verhalten der Mädchen herausgefordert - gewährt werden muss sie allerdings von der Lehrerin. Andere Kulanz-Praktiken, die die Lehrerin nutzt, um die gute Leis29 Dieser Effekt ist für die Schule unter dem Stichwort „Pygmalion-Effekt“ (eine Art selbsterfüllende Prophezeiung) Rosenthal und Jacobson (1971) erstmalig beschrieben worden. 30 Der enge Zusammenhang von Image und Verhalten ist ausführlich von Erving Goffman (2001, 1971) beschrieben worden.
2.4 Schülerleistungen bewerten und benoten
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tung der Gruppen sicherzustellen, bestehen in dem Schenken von Punkten, in der Übernahme von schweren Fragen oder ganzen Vortragssteilen, einschließlich der öffentlichen Umdeutung und Zurechnung der Lehrerleistung in eine Leistung der Gruppe. Ferner behandelt sie auch mal Fehler als Nicht-Fehler, sie unterstellt einer Gruppe eine Leistung, die gar nicht erbracht wurde, zieht ein positives Resümee einer Diskussion, die es so nie gab, oder räumt schlussendlich mehr Zeit für die Beendigung einer Arbeit ein als ursprünglich vorgesehen ist. Alle diese Praktiken, welche von der Lehrerin gestaltet werden, müssen aber auch von den Schülerinnen und Schülern mitvollzogen oder zumindest mitgetragen werden. Ein Widerspruch durch die Schüler würde den Praktiken ihre Legitimität entziehen. Der gute Schüler muss folglich wissen, in welchen Situationen er kritisch sein muss, und wann er seine Kritikfähigkeit besser im Zaum halten sollte. Doch wie lässt sich das Verhältnis von Orientierungs-, Management-, Kontroll-, Kulanz- und Imagepraktiken bestimmen? Wie bringen diese die gute Leistung respektive den guten Schüler hervor? - Zunächst einmal kann festgehalten werden, dass Praktiken der Kontrolle, wie z. B. die genaue Erfassung von Leistungen, auf etwas anderes ‚zielen‘, als Kulanz-Praktiken, wie z. B. die Umdeutung von schlechten Leistungen in gute. Sie stehen scheinbar in einem logischen Widerspruch zueinander. Dienen die einen der Totalität der Überwachung, scheinen die anderen auf Umdeutungen, Aufweichen oder Vergessen abzuzielen. Wenn man sich allerdings vergegenwärtigt, dass beide Praktiken-Komplexe Bestandteile der Erdkunde-Gruppenpräsentation sind, wird deutlich, dass diese in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen. Die Kräfte des Antagonisten zielen zwar in gegengesetzte oder unterschiedliche Richtungen, aber sie dienen beide demselben Zweck. Während die Orientierungs-, Kontroll- und Management-Praktiken auf die Herstellung von Leistungsbereitschaft ‚zielen‘, ‚kaschieren‘ die Kulanz-Praktiken (und teilweise auch die Image-Praktiken) nicht erbrachte Leistungen, Fehler und Ungereimtheiten. Die richtige Kombination dieser Praktiken-Komplexe bringt die gute Leistung und damit auch den guten Schüler hervor. 2.4.3 Die Legitimierung der Note „Transparenz, Plausibilität und Nachvollziehbarkeit sind wichtige Voraussetzungen für die Wirksamkeit einer Zensur. [...] Diese Anforderung wird nun an alle Klassenarbeiten gestellt, um den Schülerinnen und Schülern eine detailliertere Rückmeldung zu ihrem Leistungsstand zu geben.“ Kultusminister Olbertz (2003: 211)
Lehrerinnen und Lehrer sind herausgefordert, ihre Benotung zu begründen. Noten müssen fair und legitim sein - und das gilt nicht nur für Klassenarbeitsnoten.
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Ganz generell kann gesagt werden, dass sich in einer praxistheoretischen Perspektive die Situation der Notenverkündigung und Rückgabe doppelt problematisch gestaltet. Zunächst einmal müssen die erfolgten Bewertungen als objektiv ausgewiesen werden. Und wenigstens im Fall von Rückgaben sollte dafür Sorge getragen werden, dass sich die Schülerinnen und Schüler mit ihren Fehlern auseinandersetzen. Die Rückgabe von Tests und Arbeiten stellt sich für Schülerinnen und Schüler ebenso wie für Lehrer als eine „emotional belastende Situation“ (Rincke 2004: 38) dar, „in der es kaum gelingt, Schülerinnen und Schüler zu einer kreativen Rückschau auf die geleistete Arbeit anzuleiten“ (ebd.). Es scheint, als würde die Aufregung, die angesichts der Benotung besteht, die Auseinandersetzung mit der erbrachten Leistung behindern. Angesichts dieser doppelten Herausforderung stellt sich die Frage, wie sich die Verkündung von Noten sowie die Rückgabe von Tests und Klassenarbeiten in der Gymnasialklasse gestalten. Und wie wird im Klima der Aufregung die Legitimität von Noten hergestellt? Schon bei den ersten Beobachtungen der Gymnasialklasse ist uns aufgefallen, dass das Thema Nachvollziehbarkeit von Leistungsbewertungen ein zentrales Thema im Feld ist. So werden im Rahmen von Testrückgaben Fehler besprochen und Punktestände geprüft, Bewertungsschlüssel und Zensurenspiegel erörtert und vor einer mündlichen Prüfung die Anforderungen an die Leistungsbewertung erläutert oder Schüler in Prüfungen mit eingebunden. Kennzeichnend für diese Situationen ist, dass durch diese Praktiken die Notengebung für die Beteiligten nachvollziehbar gemacht wird und damit die Notengebung legitim erscheint. Im Folgenden werden an fünf Szenen aus verschiedenen Fächern zentrale Praktiken der Notenlegitimierung untersucht. (1) Die Erdkunde-Gruppenprüfung An dieser Stelle soll erneut auf die Erdkunde-Gruppenprüfung eingegangen werden, da an diesem Beispiel Praktiken des Nachvollziehbar-Machens von Leistungsbewertungen ausführlich gezeigt werden können (vgl. ausführlich Kap. 2.4.2). Um Prüfungen erfolgreich bewältigen zu können, sollten sie gut vorbereitet werden. Dazu gehört es ebenso, „Überblick über den relevanten Stoff“ (Brettschneider 2005: 49) zu geben, als auch die situativen Anforderungen der Prüfungssituation, beispielsweise einer Präsentation (vgl. Bohl 2004: 107ff.), im Vorfeld zu erläutern. In dem vorangegangenen Kapitel ist dargestellt worden, wie die Erdkundelehrerin Frau Nalinski ihren Schülerinnen und Schülern ihr Bewertungssystem unmittelbar vor der Leistungserbringung in außergewöhnlicher Ausführlichkeit darlegt. Die Lehrerin weist darauf hin, dass es sich um einen neuen Prüfungsmodus handelt, da in diesem Fall nicht die Einzel-, sondern
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die Gruppenleistung bewertet würde. Das Neue ist erklärungsbedürftig und die Lehrerin sieht ihre Aufgabe darin, Transparenz in die neue Variante einer Leistungsbewertung zu bringen. Ihrem Gestus nach handelt es sich bei dieser Prüfung um ein quasi objektives Verfahren, dessen Ergebnis, die Noten, fair und nachvollziehbar sind.31 Der Ausschnitt zeigt die Mühe, die sich die Lehrerin macht, um ihren Schülern einen Einblick in ihr Bewertungssystem zu geben. Weder der Bewertungsschlüssel noch die durch die Lehrerin vorgenommene ‚Punkte-Zuordnung‘ werden durch die Schüler befragt oder kritisiert. Die Darstellung ist gelungen - die Schüler wissen nun, was sie zu erwarten haben. Dementsprechend fallen die Nachfragen - wenn man einmal von den Fragen zur Plakatgestaltung absieht - trivial aus. Alles in allem kann gesagt werden, dass die Prüfung als eine Art Verfahren dargestellt wird und dass die Schülerinnen und Schüler durch die Art ihrer Nachfragen zeigen, dass es verstanden und akzeptiert ist. Unklar sind hingegen die Bewertungsmodalitäten der Plakate und dementsprechend nutzt eine Schülerin die Situation und stellt strategisch geschickt zahlreiche Fragen. Wenn man sich das Zusammenspiel von Schülern und der Lehrerin vergegenwärtigt, kann geschlussfolgert werden, dass beide Parteien an der Herstellung von Nachvollziehbarkeit der Leistungsbewertung arbeiten und dass einhergehend auch die Notengebung legitimiert wird. (2) Mündliche Prüfung in Biologie Fünfte Klasse. Biologieunterricht. Rebekka steht vorn an der Tafel und druckst rum, sie ist sehr leise, ich verstehe hier hinten nichts. Es dauert lange, wohl ne Minute oder so, Frau Stern lässt ihr und sich und uns allen Zeit. Stockend und leise erzählt sie was zur Fortpflanzung der Fische. D. h. eigentlich erzählt sie nicht, sondern sie antwortet mit einzelnen Begriffen auf die Fragen der Lehrerin. „Bis zu welchem Zeitpunkt spricht man von Paarung?“ – „Ejakulation.“ – „Wie finden sich die Fische? Woran erkennen die, dass die paarungsbereit sind?“ – „…Schwanzflossen ...“ - „Warum legen die so viele Eier ab?“ – „Weil so viele gefressen werden.“ – „Und warum noch?“ – Rebekka fällt kein weiterer Grund ein. Thessa meldet sich und kommt dran: „Weil viele Eier nicht befruchtet werden.“ Ein anderer Schüler, der sich auch gemeldet hat, kommt nun dran: „Weil das Wasser fliest und das Sperma an den Eiern vorbei geht…“ – „Richtig“, fasst Frau Stern zusammen, „das Wasser bewegt sich ja ständig, und viele Eier werden weggetrieben.“ Dann wendet sich die Lehrerin wieder der kleinen Rebekka zu: „Was gehört alles zu den Wirbeltieren?“ – „Vögel, Fische, Säugetiere“, weiß Rebekka richtig zu antworten. 31 Natürlich lässt sich an dieser Stelle fragen, ob die Prüfung wirklich fair und transparent ist, wenn die Lehrerin ohne Einbeziehung der Schüler die Prüfungskriterien bestimmt. Denn die Betonung der Fairness steht beispielsweise in einem leichten Spannungsverhältnis zu dem Umstand, dass zwei Gruppen die Prüfungskriterien erst unmittelbar vor der Prüfung erfahren, wohingegen die anderen beiden Gruppen mehr Zeit haben, sich gemäß der Kriterien auf die Prüfung vorzubereiten. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass sich die Lehrerin im Fortgang der Ereignisse nicht an die von ihr aufgestellten Prüfungskriterien hält (vgl. Kap. 2.4.2).
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„Okay“, sagt Frau Stern fragt die Klasse: „Wollt ihr sie ausquetschen? Zwei Fragen noch!?“ – Zunächst meldet sich niemand, dann gehen doch zwei Finger in die Höhe. Friedemann kommt dran: „Warum überlebt der Fisch nicht am Land?“ – Rebekka antwortet, dass Fische Kiemen hätten, mit denen sie an Land, also an der Luft nicht atmen können. Frau Stern fragt, ob Friedemann mit der Antwort zufrieden sei. – „Ja.“ – Ein anderer Schüler darf auch noch eine Frage stellen, die Rebekka ebenfalls richtig beantwortet. „So“, sagt die Lehrerin und fasst daraufhin die Leistung von Rebekka zusammen: Der Anfang, die Fortpflanzung der Fische wäre ja nicht so gut gewesen, die späteren Zusatzfragen hingegen seien differenziert beantwortet worden. „Welche Note würdest du dir selber geben?“ Rebekka stockt. „Ich hab da eine stehen!“ Rebekka sagt immer noch nichts. „Okay, wer ist die Klassensprecherin? Carmen! Was würdest du Rebekka geben, ganz objektiv!“ Carmen sagt zögerlich, dass sie Rebekka eine Zwei geben würde. – „Hab ich auch.“ Dann zu Rebekka: „Setz dich!“
Die mündliche Leistungsbewertung findet im Biologieunterricht in ritualisierter Form statt: Die Schülerin tritt nach vorn und muss vor der gesamten Klasse Prüfungsfragen beantworten. Für die Frage nach den Praktiken der Legitimierung von Bewertungsergebnissen ist der Einbezug der Schülerinnen und Schüler am Ende der Prüfung aufschlussreich: Durch das Abtreten des Fragenstellens an die Schüler wird suggeriert, dass die mündliche Prüfung, in der sich Rebekka befindet, eine Prüfungssituation ist, welche sich (zumindest ein Stück weit) unabhängig von den konkreten Akteuren gestaltet - und eben dadurch besondere Objektivität für sich beanspruchen kann. Diese Objektivität der Prüfung wird durch die Lehrerin darüber hinausgehend reklamiert, wenn sie die Prüfung hinsichtlich zweier Teilleistungen (Fortpflanzung, Zusatzfragen) differenziert beurteilt und die Schüler in die Notengebung mit einbezieht. Dies macht die Lehrerin im konkreten Beispiel, indem sie die Klassensprecherin darauf verpflichtet „ganz objektiv“ eine Note zu geben. Diese Aussage steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu dem Umstand, dass die Lehrerin bereits eine Note vermerkt hat. Es geht nun also nicht um einen klassenöffentlichen Diskurs über die Leistung der Schülerin, sondern die Klassensprecherin hat die ‚objektiv richtige‘ Note zu erraten, die die Lehrerin bereits eingetragen hat, und sie als richtig zu bestätigen. Durch die Übereinstimmung des Schüler- und Lehrerurteils wird die erteilte Note legitimiert. So wird die Legitimität der Noten zum einen durch die Übernahme der Prüfungsrolle durch die Schüler und zum anderen durch das Herausfinden der richtigen Note einer vermeintlich unabhängigen Schülerin situativ hergestellt. (3) Die Ratifizierung der Korrektur Wie werden Noten im Rahmen von schriftlichen Leistungen legitimiert? Es folgt eine Rückgabe eines gut ausgefallenen Mathematik-Tests:
2.4 Schülerleistungen bewerten und benoten
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Frau Sommer kündigt die Rückgabe eines Testes an. Dann liest die Lehrerin die Namen derjenigen vor, die alles richtig gemacht haben, dann diejenigen, die nur einen Fehler haben. Es geht alles wahnsinnig schnell – zu schnell für Zettel und Stift. Auf jeden Fall scheinen 2/3 der Klasse sehr gute und gute Noten zu haben. Sie hat – so meine ich – irgendwann vor Erörterung des letzten Drittels (also die Noten unter Zwei) abgebrochen. Frau Sommer spricht „ein großes Lob“ aus, das sie dann allerdings mit der Mahnung verbindet: „Ich hoffe es bleibt so“. Jetzt sollen die Schülerinnen und Schüler in die Arbeit „reingucken“, denn wenn „die Note zuhause ist“, sei sie nicht mehr zu ändern. Ein Junge und ein Mädchen teilen die Arbeiten aus, d. h. sie haben einen Stapel Zettel in der Hand. Sie gucken – sichtlich angestrengt – oben rechts auf den Zettel, um den Namen zu identifizieren, der den Urheber der Gedankengänge ausweist. Kurz unterhalb der Stelle, an der der Name hinzuschreiben war, sind mit rot die erbrachten Punkte von den möglichen Punkten ausgewiesen, und eine Zeile tiefer wird dieses Verhältnis zu einer Note zusammengefasst. Während die Kinder austeilen, erläutert Frau Sommer die Note. Dies sei eine vollwertige Note, eine volle Note, sagt sie. Das sei ein guter Start gewesen (angesichts der vielen guten Noten). Sie sollen sie sich ins Notenheft oder auf ihre Karteikarten eintragen „für zuhause“. Greta bekommt ihren Zettel. Sie liest ihn sich langsam von oben nach unten durch. Ich kann nicht erkennen, in welcher Reihenfolge der Zettel mit Blicken erfasst wird. Vermutlich nimmt sie – da die Note links oben steht – sie auch zuerst wahr. In einem Kästchen steht: 23/24 1 Greta liest noch einige Zeit ihren Test durch, dann meldet sie sich. Die umherlaufende und für Fragen bereitstehende Lehrerin kommt heran. „Was heißt das?“, fragt Greta. – „Schön!“, ist die kurze wie freudig amüsierte Antwort von Frau Sommer. Greta freut sich – aber natürlich dezent.
Der wesentliche Teil der Legitimierung der Note besteht in der kritischen Lektüre des Tests. Mit der Bemerkung, dass die Note nicht mehr zu ändern sei, wenn die „Note zuhause ist“, nimmt die Lehrerin die Schülerinnen und Schüler als Kontrolleure in die Pflicht: Den Eltern soll nach der Prüfung die fertige, gültige Note übergeben werden. Ein- und Widerspruch ist nur in diesem Zeitfenster möglich – danach gilt die Note.32 Die Schüler nutzen die Zeit um ihre Tests zu prüfen sehr gerne, denn sie haben möglicherweise einen Punkt und damit evtl. eine bessere Note zu gewinnen, aber nichts zu verlieren. Die Schüler sind von einer Lehrerin sogar explizit aufgefordert worden, nichts zu sagen, wenn sie einen Fehler übersehen hat. Das sei Glück oder Pech – je nach Standpunkt. Die Note sei nun mal gegeben und würde nur noch im Interesse der Schüler verbessert werden. Der Effekt dieser Prüfung liegt darin, dass die Schüler sich einerseits mit ihrem Test auseinandersetzen und nun nachvollziehen können, welche 32 Dieses Verfahren erinnert an formale Widerspruchsfristen von Kreditkartenunternehmen: Wenn bis zum Termin am Xy kein Widerspruch betreffend der Kontoumsätze eingelegt wurde, sind diese als rechtsverbindlich anerkannt.
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Fehler sie gemacht haben. Zugleich ratifizieren sie mit ihrer Prüfung die Note als korrektes Ergebnis. Bezeichnend ist, dass die Beschäftigung der Schüler mit der Korrektur der Lehrerin derart intensiv ist, dass sogar einzelne Worte der Lehrerin befragt werden, die nicht oder nur schlecht zu lesen sind.33 (4) Die Besprechung eines schlecht ausgefallenen Mathematik-Tests Doch wie werden Noten legitimiert, wenn ein Test schlecht ausgefallen ist? – Frau Sommer lässt einen Test austeilen und gratuliert den besten Schülern zu ihrem Test, um dann direkt mit der Besprechung einer Testaufgabe weiter zu machen: Frau Sommer steht vorn an der Tafel und sagt: „Wir gucken uns die letzte Aufgabe an ...“ Es geht nun um Aufgabe Nummer vier. Eine Schülerin wird an die Tafel gerufen. Sie rechnet an der Tafel. Andere Schüler beteiligen sich an der Tafelarbeit, indem sie sich melden und die Rechnung kommentieren. Es ist eine ruhige, entspannte Stimmung in der Klasse. Friedemann zeichnet intensiv, während die anderen Schüler sich mit der Aufgabe an der Tafel beschäftigen. Die Lehrerin zieht nun die wichtigsten Linien der geometrischen Figuren an der Tafel nach. Es geht darum, Winkel zu bestimmen. Greta wird aufgerufen. Sie tritt nach vorn an die Tafel, löst die Aufgabe, kassiert ein „Richtich!“ von der Lehrerin und geht wieder. Danach kommen Kristin und Tamara nach vorn und tragen weitere Winkel in die Zeichnung ein. Dieses Eintragen der Winkel geht so lange „bis man auf die Gesuchten kommt“. Friedemann unterbricht sein Zeichnen und meldet sich. Doch bevor er an die Tafel kommt, muss er noch einige Kinder abwarten. Dann kommt er dran, geht an die Tafel, zeichnet einen Winkel ein und – macht es falsch. Laura beugt sich sofort zu Kristin herüber – ein (vom Tonfall) interessiertes Flüstern – setzt zwischen den beiden ein. (Ich kann es zwar nicht verstehen, aber ich bin mir sicher, dass sie sich über die richtige Lösung verständigen.) Ansonsten ist absolute Ruhe im Klassenzimmer, wenn man einmal vom Rascheln der Zettel absieht. Friedemann kehrt zurück an seinen Platz – und meldet sich (trotz Niederlage) in einem fort. Außer ihm meldet sich niemand. Frau Sommer nimmt ihn aber nicht dran, sondern fragt diesen oder jenen Schüler, nach diesem oder jenen Winkel an der Tafel. Außer Friedemann meldet sich niemand, er darf dann doch noch an die Tafel und trägt einen Winkel ein. Die Lehrerin fragt nach, wie er auf diesen Winkel gekommen sei. Friedemann erklärt es. Die Lehrerin murmelt zufrieden „okay, okay...“. Friedemann dreht sich um und will sich wieder setzen. Aber die Lehrerin fragt: „Wie kommen wir zu Alpha?“ Friedemann erklärt es. Die Lehrerin sagt freudig: „Okay“. Sie nimmt nun andere Schüler dran – Friedemann soll ihre Antworten an entsprechender Stelle in die Zeichnung eintragen.
Frau Sommer ist sehr darum bemüht, die Aufgabe, die das Gros der Klasse (vermutlich) nicht gelöst hat34, an der Tafel zu lösen. Die Lehrerin bindet in die 33 Es ist natürlich denkbar, dass Greta das Wort lesen konnte und die nicht ganz saubere Handschrift dafür nutzte, das schriftliche Lob der Lehrerin noch einmal mündlich gesagt zu bekommen. 34 Da es im Test keine Einsen gab, ist die Aufgabe Nr. 4 vermutlich die Aufgabe, die kein Schüler bzw. nur sehr wenige Schüler richtig gemacht haben.
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Lösung der Aufgabe ca. zehn Schüler ein, indem sie die gesamte Aufgabe in viele Teilaufgaben zerlegt, die nun von den drangenommenen Schülern gelöst werden. Die gemeinsame Bearbeitung der Aufgabe an der Tafel erfüllt einerseits die Funktion, eine Aufgabenstellung samt Lösungsweg zu verstehen, und andererseits wird durch den Nachvollzug die Legitimität der Aufgabenstellung und Bewertung ratifiziert.35 Im Anschluss folgt eine Szene, die für eine Klassenarbeitsbesprechung typisch ist, aber auch häufiger im Rahmen von Testrückgabe beobachtet wurde. Frau Sommer: „So, Punkte wollt ihr noch wissen.“ Ein Stöhnen geht durch die Klasse. „17 Punkte gab es“, fährt die Lehrerin fort, und setzt nach: „Müsst ihr nicht aufschreiben.“ – „Doch!“, wendet eine energische Mädchenstimme ein. Frau Sommer fragt erneut nach, ob die Punktetabelle erwünscht sei. – Mehrstimmiges Ja. Die Lehrerin schreibt nun an die Tafel: 17 ab 16 ؆ 1 ab 14 ؆ 2 ab 12 ؆ 3 ab 9 ؆ 4 ab 4 ؆ 5 Elsa fragt nach, ob sie auch mal den Klassenspiegel haben könnte. Frau Sommer schreibt nun also auch den Klassenspiegel hin. 1
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„Den Durchschnitt könnt ihr selbst ausrechnen!“, sagt Frau Sommer, nachdem sie den Klassenspiegel an die Tafel geschrieben hat. Frau Sommer erörtert abschließend den Status der Noten: „Das sind ganz normale Noten. Keine Teilnoten, keine Klassenarbeitsnoten, und so weiter. (..) Unterschrift ist ja sowieso selbstverständlich.“
Interessant ist, dass zwei Mädchen darauf insistieren, sowohl den Notenschlüssel (Bewertungsschlüssel) als auch den Klassenspiegel aufzuschreiben. Ist es ihnen deshalb so wichtig, da der Test mit einem Schnitt von 3,0 vergleichsweise schlecht ausgefallen ist? Während Klassenarbeiten immer mit Notenschlüssel und Klassenspiegel ausgegeben werden, scheint dieser Automatismus für Tests nicht zu gelten. Der Bewertungsschlüssel ermöglicht es den Schülerinnen und 35 „Wenn Prüferinnen und Prüfer immer auch Geprüfte sind, dann sind die Prüflinge die Prüfer der Prüfenden.“ (Otto 1996: 109) Die Lehrerin hat folglich ihren ‚Prüfern‘, den Schülern, zu zeigen, dass ihre Prüfung in Ordnung ist.
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Schülern, den Abstand zur benachbarten Note zu bestimmen, der Zensurenspiegel wiederum ermöglicht es den Schülern, sich im Klassenkontext mit ihrer Leistung zu verorten. Durch den Bewertungsschlüssel und den Zensurenspiegel kann also eine doppelte Verortung erreicht werden: Nun kann sich der Schüler mit Blick auf die Arbeit (knappe oder volle Zwei) und mit Bezug auf seine Mitschüler (soziale Bezugsnorm) positionieren. Doch welche Funktionen nehmen diese Orientierungshilfen für die Legitimierung von Noten ein? Während der Bewertungsschlüssel es den Schülern erlaubt, die Korrektheit der Note durch Rechnung zu prüfen, hat der Klassenspiegel eine indirekt legitimierende Funktion. Nur dann, wenn ein Drittel der Klassenarbeiten mangelhaft oder schlechter ausgefallen sind, muss die Arbeit durch die Schulleitung genehmigt oder wiederholt werden, andernfalls gilt sie vom Schwierigkeitsgrad her gesehen als in Ordnung. (5) Bewertungskriterien im Kunstunterricht Bewertungen und Benotungen von Kunstwerken gelten als schwierig und die Tatsache, dass auch Kunstlehrer Noten vergeben (müssen) wird oft als eine unerfreuliche Angelegenheit angesehen (vgl. Otto/Peters 1996). Doch wie gehen Lehrerinnen und Lehrer in der Praxis mit dem Problem um, dass eine nachvollziehbare Bewertung von Kunst schwierig ist? Die Beobachtung mehrerer Kunststunden zeigt, dass die Kunstlehrerin über einige Unterrichtsstunden hinweg mehrfach Situationen verstreichen lässt, praktische Schülerarbeiten (Kunstwerke), die die Lehrerin benotet hat, im Unterricht auszugeben. Eine zeitgleiche Rückgabe aller Arbeiten unterbleibt, stattdessen gibt sie auf Anfrage von Schülern die bewerteten Arbeiten nach dem Unterricht kommentarlos zurück. Unabhängig davon, ob es sich bei diesem Verhalten um eine gezielte Strategie oder um eine Nachlässigkeit handelt, entgeht die Lehrerin damit der Verlegenheit, ihren Schülern erklären zu müssen, warum sie dieses Bild mit einem „gut“ und jenes mit einem „sehr gut“ bewertet hat. Auch wenn die Lehrerin die Ausgabe der Arbeiten vermeidet und somit der Situation entgeht, ihre Notengebung legitimieren zu müssen, hat sie ihre Schüler in die Kriterien besserer und schlechterer Kunst zu schulen. Das heißt, dass auch die Arbeiten der Schülerinnen und Schüler in irgendeiner Form bewertet werden müssen, damit sich ein Verständnis von besseren und schlechteren Arbeiten ausbilden kann. Welche Praktiken bilden also ein funktionales Äquivalent zu den bisher herausgearbeiteten Praktiken der Legitimierung? Die Beobachtungen des Kunstunterrichts zeigen, dass ausgiebige Diskurse im Unterricht über die entstehenden Kunstwerke geführt werden, die die Schüler hinsichtlich unterschiedlicher Gütekriterien sensibilisieren sollen.
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Als Einstieg in die Kunststunde dienen wieder Anmerkungen zu vier Bildern, die an der Tafel aufgehängt werden. In etwa entsprechend der Bewertungskriterien sollen die Schüler vier Fragen dazu beantworten: Wo sind die Strukturen besonders schön geraten? Was kann auf den Bildern noch verbessert werden? Welches Bild ist schön aufgeteilt, welches nicht? Welches Bild sieht am meisten nach „Drachensteigen im Herbstwind“ aus? (Olaf Janke)
An die Stelle von Punkten, die erreicht werden können oder nicht, tritt die Unterscheidung von „schön“ und „nicht so schön geraten“. Die Diskussionen der Werke vollziehen sich anhand einer ‚besser-schlechter‘ Dimension bzw. was mehr oder weniger gut gefällt. Sie können folglich als weiche Bewertungskriterien bezeichnet werden. Die Lehrerin nutzt die formalen Kriterien der Bildgestaltung (Strukturen, Bildaufbau, Bildaussagen), die sie zur Visualisierung an die Tafel schreibt, um gezielter über Vorzüge oder Nachteile eines Werkes zu sprechen, als es mit freien Interpretationen möglich wäre. Mittels dieser Kriterien können die Werke gezielter miteinander verglichen werden. Sie eröffnen neue Einblicke und Vergleichshorizonte, z. B. dass auch schön aufgebaute Bilder eine schlechte Strukturierung haben können. Neben der öffentlichen Besprechung ausgewählter Bilder nutzen die Schülerinnen und Schüler die Zeit der praktischen Arbeit, um sich von der Lehrerin bezüglich des Bildaufbaus oder der Strukturen beraten zu lassen. Dazu winken sie die Lehrerin heran und befragen sie, wie ihr Bild einzuschätzen sei.36 Aber im Gegensatz zu Prüfungen, die ein konkretes Wissen bewerten, das richtig oder falsch sein kann, bleibt die Bewertung von Kunstwerken eine Frage danach, ob die Bildaussage mehr oder weniger gelungen ist. Damit gestaltet sich die Plausibilisierung einer Leistungsbewertung in der Unterrichtssituation potenziell problematisch, da eine Lehrerin die Unterschiede zwischen einer 2- und einer 3+ kaum anhand eindeutiger Kriterien begründen kann. Olaf Janke durfte als Beobachter der Kunstlehrerin dabei zusehen, wie sie Kunstwerke benotet hat. Sie hat die Bilder unter den relevanten Kriterien jeweils neu gesichtet (Struktur, Bildaufbau, Bildaussagen) und im Sinne der sozialen Bezugsnorm in eine Reihenfolge gebracht. Dann hat sie die Bilder in Gruppen und danach nach Noten sortiert. Diesen Akt hat sie für jedes Kriterium wiederholt. Jedes Kunstwerk hat schlussendlich eine Note für jedes Kriterium bekommen. Alles in allem dauerte der Akt der Bewertung ungefähr 45 Minuten. – Es ist daher zu vermuten, dass die Lehrerin nicht zuletzt aufgrund von Zeitproblemen auf Legitimierungspraktiken verzichtet. Es ist zu vermuten, dass an 36 Es gibt durchaus einige Schüler, die die Lehrerin nicht heranrufen, um sich von ihr beraten zu lassen. Friedemann zum Beispiel zieht es vor, eigenständig seine Arbeit voranzutreiben. Da er ein recht guter Schüler in Kunst ist, scheint sein intensives Arbeiten ohne bestätigende Rückmeldung durch die Lehrerin wenig risikoreich.
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diese Stelle funktionale Äquivalente wie individuelle Beratungen im Vorfeld der Bewertung treten. Zusammenfassung Es ist gezeigt worden, dass Notenvergaben im Rahmen von Testrückgaben und mündlichen Prüfungen legitimiert werden. Diese Situationen werden zwar von den Lehrerinnen und Lehrern dominiert, aber letztlich handelt es sich um ein kooperatives Zusammenspiel beider Parteien. Es konnten verschiedene Praktiken beobachtet werden, durch die Leistungsbewertungen legitimiert werden. Einige Praktiken finden vor (die Erdkunde-Gruppenarbeit37), andere nach (Mathe-Tests, Biologie) und wiederum andere parallel zur Leistungserbringung (z. B. durch Beratung in Kunst) statt. Eine Situation, in der die Praktiken der Notenfindung und Legitimierung besonders ausgefeilt erscheinen, ist die mündliche Leistungsbewertung im Mathematikunterricht. In diesem Fach übernehmen die Schülerinnen und Schüler nahezu die gesamte Prüfung. Der Lehrerin kommt es nur noch zu, über das Verfahren zu wachen und schlussendlich die durch das Verfahren erzeugten Punkte in eine Note zu überführen. Ein Effekt der Übernahme der Prüfungsrollen liegt darin, dass die involvierten Schüler das Verfahren nicht mehr als illegitim und willkürlich erleben können, da sie selbst als Verfahrensbeteiligte an der Hervorbringung des korrekten Ergebnisses beteiligt sind (vgl. hierzu ausführlich Kap. 2.4.1). Im Gegensatz zum Fach Mathematik geht der (Pseudo-)Einbezug der Schüler in das Bewertungshandeln in anderen Fächern wie Biologie, Erdkunde oder Geschichte nicht so weit, dass die Schüler das gesamte Verfahren bestreiten. Dennoch ist die Gruppenarbeit in Erdkunde davon gekennzeichnet, dass sie sich des Gestus‘ eines Verfahrens bedient.38 Die Analyse der Prüfung im Biologieunterricht offenbart – analog zur mündlichen Leistungskontrolle in Mathematik –, dass die Schüler Teile der Prüfung übernehmen und auch bei der Notenlegitimierung mitwirken. Während Tests in Kunst ebenso wie in Mathematik behandelt werden können, ‚löst‘ die Kunstlehrerin ihr Problem, ihre Notenvergabe von Kunstwerken legitimieren zu müssen, indem sie diese Situation zur Gänze vermeidet. Abschließend bleibt festzustellen, dass es einen wesentlichen Unterschied macht, ob die Legitimierungspraktiken vor, nach oder parallel zum Akt der Leistungserbringung erfolgen. Denn die Praktiken vor bzw. parallel zur Arbeit haben 37 Genau genommen finden die Praktiken des Nachvollziehbarmachens in der ErdkundeGruppenarbeit vor und nach der Leistungsbewertung statt. 38 Dass die Lehrerin schlussendlich nicht am Verfahren festhält, ist eine wesentliche Voraussetzung für das erfolgreiche Abschneiden der Schülerinnen und Schüler.
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auch die Funktion, die Schüler zu orientieren und sie darüber aufzuklären, was es zu leisten gilt (vgl. Kap. 2.3). Während die Praktiken vor und während der Leistungserhebung nützlich für die Produktion von guten Ergebnissen ist, dient die nachträgliche Besprechung vor allem dem Nachweis, dass die Schüler die Aufgaben mit ihrem Wissen hätten lösen können. Die letzteren Praktiken dienen neben dem Aufzeigen des richtigen Lösungsweges der Legitimierung der Note als nachvollziehbares Produkt einer fairen Prüfung. 2.4.4 Kulanz-Praktiken Kulanz bezeichnet im Wirtschaftsleben ein freiwilliges Entgegenkommen zwischen Vertragsparteien nach Abschluss des Vertrages außerhalb der vertraglich vereinbarten Vertragspflichten.39 Es gibt keinen Anspruch auf diese Großzügigkeit, aber zum Zweck der Pflege guter Geschäftsbeziehungen, wird sie häufig gewährt. Im Rahmen der Schule bezeichnet Kulanz Praktiken des Entgegenkommens im Kontext von Leistungsbewertungen. Im Kapitel 2.3.4 „Prüfungsankündigungen und Prüfungsvorbereitungen“ wird beschrieben, dass die Gymnasialschülerinnen und -schüler präzise auf die zu erwartenden Inhalte vorbereitet werden.40 Neben diesen Praktiken gibt es Praktiken der Orientierung, die über eine detaillierte Ankündigung weit hinausgehen. Im Folgenden geht es um das Bestreiten einer Klassenarbeit in Kunst: Durchdachter Weise gibt Frau Gründel das zweiseitige Arbeitsblatt auch auf jeweils zwei Blättern aus, denn die Kinder sollen darauf auch etwas malen [Farben ‚ermischen‘], und so müssen die entstandenen Kleckse nicht erst trocknen vor dem Weiterarbeiten auf der Rückseite. Die Lehrerin erklärt, die Schüler sollten sich erst einmal die Aufgaben durchlesen und entstehende Fragen zur allgemeinen Klärung äußern. Das tun auch sogleich alle, inklusive Johanna. Es vergehen nun schon insgesamt zehn Minuten, noch ehe die erste Aufgabe angegangen werden kann, der NachfrageAbschnitt klingt jedoch langsam aus. Bevor mit „Keine Fragen mehr!“ das offizielle Ende der Nachfragemöglichkeit verkündet wird, gibt die Lehrerin noch einen taktischen Hinweis: Man soll doch erst die Fragen bearbeiten, auf die es die meisten Punkte gibt (also die Aufgaben zwei, fünf und zehn), den Rest könne man später ergänzen. Ungeachtet dessen beginnt Johanna bei Aufgabe eins, sie arbeitet sich von oben nach unten durch. (Olaf Janke)
39 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kulanz (Stand 5.10.2010) 40 So schreibt zum Beispiel die Mathematiklehrerin diejenigen Formeln an die Tafel, die für das erfolgreiche Bestreiten der Klassenarbeit nötig sind. Die Gymnasialschüler werden also genau darüber ins Bild gesetzt, welche Formeln sie können müssen – und einhergehend auch, welches mathematische Wissen kein Gegenstand der Prüfung sein wird. Die Schüler können nun ihre Lernstrategien hinsichtlich des Geforderten optimieren.
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Leider kann diesem Protokoll nicht entnommen werden, welche Fragen die Schülerinnen und Schüler der Lehrerin stellen. Aber unabhängig vom konkreten Inhalt der Fragen ist der großzügige Zeitrahmen, den die Lehrerin ihren Schülern für Fragen einräumt, erstaunlich, da die Aufgaben des Tests eindeutig und präzise formuliert sind. Eigentlich müsste den Schülern ‚alles klar‘ sein und sie sollten sofort mit dem Arbeiten beginnen können. Im Kontext der Analyse ist es beinah rätselhaft, wie es den Schülern gelingt, zehn Minuten lang Fragen zu zwölf Aufgaben zu entwickeln. Jedenfalls ist das Bedürfnis der Schüler groß und die Lehrerin zeigt sich großzügig. Ein wichtiges Detail ist, dass die Schülerinnen und Schüler der Arbeit entnehmen können, wie viele Punkte sie für die (richtige) Lösung der jeweiligen Aufgabe bekommen. So bringt die Nennung des Begriffs „unbunte Farbe“ einen halben Punkt, das ‚Ermischen‘ der Farben Orange, Grün und Violett drei von insgesamt 25 zu erreichenden Punkten. Der „taktische Hinweis“ der Lehrerin sollte nun alle Schülerinnen und Schüler befähigen, die Arbeit strategisch geschickt anzugehen. Es ist jedenfalls kaum vorstellbar, dass eine Lehrerin im Rahmen einer Klassenarbeit noch weitergehende Hilfe gewähren könnte, ohne den Rahmen einer Prüfungssituation vollständig zu modifizieren. (1) Frau Sommer geht das alles offensichtlich noch viel zu holprig. „Ihr müsst das doch noch üben“, stellt sie fest und verschiebt den Test von heute auf Montag. (2) Mündliche Leistungskontrolle Mathematik. „Wer möchte an die Tafel?“, fragt Frau Sommer die Kinder. Tom meldet sich, kommt aber nicht dran. Ruben darf an die Tafel. [...] Nach der Prüfung meldet sich Andrik und Frau Sommer nimmt ihn dran. „Kann ich die eingetragen haben?“, fragt er sie. – „Ja“, sagt Frau Sommer. Allen außer mir scheint klar zu sein, was hier gerade läuft. Ich gucke zu Andrik rüber, zehn von zehn steht bei ihm auf dem Papier. Frau Sommer fragt nun, wer denn zehn hat, neben Andrik meldet sich noch Annika. Dann neun (ca. vier), acht (ca. vier), sieben (ca. fünf). Etwas später kommt Frau Sommer vorbei und guckt sich noch mal ganz kurz seinen Zettel an. „Ja, alles richtig“, sagt sie und geht wieder.
Die erste Kulanz-Praktik, die die Lehrerin Frau Sommer in der ersten Szene nutzt, liegt im günstigen Platzieren von Prüfungen und Tests. Die Lehrerin merkt im Vorfeld des Tests, dass die Schülerinnen und Schüler die Übungsaufgaben, die auch Gegenstand des Tests sein würden, nicht sicher beherrschen – und verschiebt den Test. Die Lehrerin nutzt in diesem Fall eine Übung als Test für den Test, ebenso wie sie auch Tests als Test für Klassenarbeiten schreiben lässt. Erst wenn sich die Schülerinnen und Schüler in den Vorprüfungen gut bewährt haben und die Lehrerin sicher weiß, ob und wo ihre Schüler Schwächen haben, wird die eigentliche Prüfung angesetzt. Die Strategie der Platzierung folgt der Logik, die Schüler nur dann mit Noten zu prüfen, wenn gute Ergebnisse erwartbar sind. Die Tatsache, dass im gesamten Beobachtungszeitraum in allen Fächern keine unangekündigten schriftlichen Tests und Prüfungen beobachtet wurden, stützt die
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Annahme, dass die Praktik des günstigen Prüfungszeitpunkte-Findens zentral für die Herstellung des erfolgreichen Schülers ist (vgl. auch Kap. 2.3.4). Die zweite Szene zeigt eine Aufweichung des Verfahrens der mündlichen Leistungskontrolle in Mathematik, die in Kapitel 2.4.1 ausführlich beschrieben wird. Im Rahmen der alltäglichen Prüfung werden auch mal Schüler geprüft, die schlecht vorbereitet sind oder die Aufgaben nicht richtig verstanden haben, so kommt es folglich auch zu schlechten Teilnoten. Doch wie ist es möglich, das Verfahren aufrecht zu erhalten und trotzdem gute Leistungen zu produzieren? Dies erfordert das Zusammenspiel von Schülern und Lehrerin. So fragt die Lehrerin häufiger, ob jemand die Prüfung „freiwillig“ bestreiten möchte. Dies ermöglicht es den Schülerinnen und Schülern sich zurück zu halten, wenn sie mit dem zu prüfenden Stoff unvertraut sind. Aber sie haben auch die Chance, sich für eine Prüfung zu bewerben, wenn sie der Ansicht sind, dass sie sie erfolgreich bestreiten werden. Das Verfahren „mündl. LK“ sieht allerdings vor, dass sich die Schüler spätestens alle drei Wochen auf die Prüfung vorzubereiten haben, denn dann sind sie turnusgemäß dran. Eine weitere Kulanz-Praktik zeigt sich beim Schüler Andrik, der anfragt, ob das Ergebnis seines Tests, den er am Platz (wie alle anderen) bestritten hat, eingetragen werden kann. Auf Bitte Andriks modifiziert die Lehrerin die Regeln des Verfahrens. Seine Bearbeitung zählt nachträglich als Test. Diese Praxis ist allerdings nur ein einziges Mal beobachtet worden; sie stellt damit eine besondere Ausnahme dar. Punkt 8:00 macht die Lehrerin Frau Friedrich die Tür zu. Der Unterricht beginnt sofort mit der Besprechung der Hausarbeit. Die Kinder sollten das Pantoffeltierchen wiederholen. Dazu legt die Lehrerin eine Grafik vom Pantoffeltierchen auf den Polylux. Die Überschrift der Grafik lautet: Konjugation beim Pantoffeltierchen. Frau Friedrich nimmt Annika dran. Sie soll nun die Konjugation erklären. Die aufgeforderte Annika entgegnet der Lehrerin: „Keine Ahnung.“ – „Keine Ahnung, das ist ja nicht so praktisch“, erwidert die Lehrerin streng. Annika beginnt also doch, aber es scheint die Lehrerin nicht so recht zu überzeugen. Die Lehrerin guckt kritisch, hilft ihr dann an dieser oder jener Stelle. Friedemann und Bettina melden sich. Die Lehrerin zieht es scheinbar vor, nach eigener Regie Schüler dranzunehmen. [...] Ich frage mich die ganze Zeit, ob das Drannehmen und prüfen von Annika zu Beginn der Stunde eine Art mündliche Leistungskontrolle war. Nach der Stunde befrage ich diesbezüglich die Lehrerin. „Jein“, erfahre ich. Annika wäre ja nicht gut vorbereitet gewesen und deshalb hätte sie jetzt auch keine Note ermittelt, aber man hätte dies durchaus tun können.
Frau Friedrich macht also im konkreten Beispiel das Prüfungsergebnis davon abhängig, ob die Prüfung gut war oder nicht. Obwohl Annika zu Beginn der Prüfung signalisiert, dass sie vom Stoff „keine Ahnung“ habe, prüft die Lehrerin die Schülerin bis zu dem Punkt, an dem sie wirklich keine Antwort mehr geben kann. Der Status des Prüfungsgespräches bleibt die ganze Zeit uneindeutig. Ist es nun eine Prüfung oder ist es keine? Kann die Schülerin mit ihrer Auskunft, dass
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sie nicht gelernt habe, sich aus der Prüfung winden oder nicht? – Es gelingt der Schülerin offensichtlich nicht, sich der Prüfungssituation zu entziehen, aber sie hat ‚Glück‘, dass ihre Leistung nicht benotet wird. Möglicherweise soll Annika durch das öffentliche Versagen deutlich werden, dass ihre Leistungen nicht ausreichend sind und dass sie sich in Zukunft besser vorbereiten muss. Das öffentliche Versagen dient als Warnschuss – aber die schlechte Note bleibt aus. Helsper u. a. (2009) rekonstruieren im Rahmen einer Studie, die nach dem Verhältnis von Jugend, Familie und Schule fragt, eine Testsituation des Gymnasiasten Max und zeigen auf, dass zwischen der Lehrerin und dem Schüler ein pädagogisches „Ausnahmearbeitsbündnis“ (dies.: 117) zustande kommt. Dieses Bündnis sei dadurch gekennzeichnet, „dass Abstriche und Zugeständnisse innerhalb der Lehrer-Schüler-Beziehung in Kauf genommen werden, wenn es um die Aufrechterhaltung einer wenigstens minimalen Vermittlungsbeziehung geht“ (ebd.). Konkret zeigt sich das darin, dass „die Lehrerin auf eine Bloßstellung und Sanktionierung von Max [aufgrund unvollständiger Leistung im Rahmen einer Prüfung] verzichtet, obwohl dazu in der misslungenen Rechtfertigung des Schülers mehr als nur deutliche Anzeichen vorgelegen haben.“ (dies.: 114) Im Folgenden werden solche „Ausnahmearbeitsbündnisse“, wie sie Helsper et al. (2009) rekonstruiert haben, dargestellt, wobei es hierbei nicht um die Rekonstruktion dieser Bündnisse, sondern konkret um die Praktiken des Verzichtens auf Bloßstellungen und Sanktionierungen im Rahmen von Leistungsbewertungen geht. Die These ist, dass für die interaktive Hervorbringung von Schulerfolg solche Praktiken wichtig sind. Denn gute Leistungen werden nicht nur durch die Präsentation von Leistung erzeugt, sondern sie können auch durch KulanzPraktiken verbessert werden. Zwar ist es einem Lehrer nicht möglich, mittels solcher Kulanz-Praktiken aus ganz schlechten Leistungen besonders gute zu machen – aber sie können das fehlende Quäntchen zur besseren Note ermöglichen. Herr Timm: „So Leistungskontrolle! (..) Zwei Leistungskontrollen. Einmal Cäsar und einmal (.) Augustus (.) und die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der (.) entsprechenden Hochzeiten (.) ja erinnert ihr euch (.) da hatten wir noch was zusammengetragen. (..) Zu (.) Jemand freiwillig?“ Vier ewige Sekunden Pause. Niemand meldet sich. „So ihr Lieben. So langsam werden eure Endnoten auch so langsam fertig. Und ich muss jetzt ausgucken, wer hier und da noch ne Note gebrauchen kann (.) und sich entsprechend zu verbessern. So (.) deshalb suche ich jetzt auch nach diesen entsprechenden Gesichtspunkten die Leute aus. (..) Zum ersten Teil Luise Schatz.“ – „Dolores, Dolores Schatz“ verbessert Klaus-Maria. Dolores geht nach vorn, sie sieht unglücklich aus. „So. (.) Dolores (.) Cäsar. (..) Nenn uns wichtige Lebensdaten, die uns zu Cäsar einfallen. (..) Denk ans Arbeitsblatt. Wenn dir das was hilft (.) [das] leere Arbeitsblatt kannst du dir zu Hilfe nehmen und dann geht’s los. (..) Wer war Cäsar?“ – Dolores steht halbschräg zum Lehrer und spricht leise: „Cäsar war ein Kaiser ...“ Hr. Timm unterbricht: „Cäsar! (..) Nicht Augustus. Schön überlegen. (7) Wann wurde Cäsar geboren? (.) Dolores.“
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Die unangekündigte Prüfung wird mit der Notwendigkeit begründet, dass Herr Timm noch Noten für die Zeugnisse benötigt (vgl. hierzu Kap. 2.4.1). Dass er damit gegen die guten Sitten verstößt, dessen ist sich der Lehrer durchaus bewusst: Folglich setzt er zunächst auf Freiwilligkeit. Da sich aber kein Schüler bereit erklärt, die Prüfung freiwillig zu absolvieren, gerät er nun in die Verlegenheit, eine Person bestimmen zu müssen. Dies macht er nicht ohne zuvor die Chance der Verbesserung herauszustellen, wobei er die Gefahr, sich zu verschlechtern, verschweigt. Er bestimmt Dolores, welche „unglücklich“ aussehend die Prüfung antritt. Der Lehrer kann ebenso wie der Beobachter ihren Gesichtsausdruck deuten: Er hat Dolores auf dem falschen Fuß erwischt. Aber da die Prüfung bereits läuft, kann er Dolores nicht mehr auf ihren Platz schicken. Es ist also zu erwarten, dass Dolores die Prüfung nicht besonders gut bestreiten wird. Daran ist weder Dolores noch Herrn Timm gelegen. Was also tun? – Noch bevor Herr Timm Dolores die Möglichkeit gibt, die gestellte Frage zu beantworten, verweist er sie auf das leere Arbeitsblatt und gibt ihr so strukturierende Erinnerungshilfen an die Hand. – Doch wie geht es weiter? Dolores: „44 vor Chr.“ – „Nein! (…) Die andern.“ – „Hundert“, sagt eine leise Stimme. „Laut.“ – „Hundert vor Christus.“ – „Jawoll! (.) Als was wurde Cäsar geboren?“ – „Als Patrizier.“ – „Was ist'n Patrizier so?“ – „Hmmmm. Ein Adliger der ähm (.) adligen Familien.“ – „Jawoll. (.) Wie ging es weiter? (.) Pssst! (.) Cäsar. (.) Denk mal an seine Ämter, was hat er da alles erreicht?“ – „Er hat viele Länder erobert ...“ – „Ja. Was zum Beispiel?“ – „Äh.“ 18 Sekunden Schweigen. Tuscheln in der Klasse. „Dolores!“ Tom kommt dran, sagt „Rom“, lacht affektiert auf und verbessert sich, sagt „Gallien“. – „Gallien. (..) So. Gut. Welche Titel (.) hat Cäsar errungen?“ Dolores guckt ratlos auf das leere Arbeitsblatt. Nach vier Sekunden fährt Hr. Timm fort: „Kaiser war er nicht, das haben wir vorhin ja schon festgestellt, ja. (.) Aber andere wichtige Titel. Nicht? (.) Elsa.“ – „Er war ein Feldherr.“ – „Ja, weiter.“ – Ein Junge: „Diktator.“ – „Lauter, jawoll.“ – Ein anderer Junge: „Konsul.“ – „Jawoll. Das waren die richtigen Titel. Äh. (.) Wie starb Cäsar?“ – „Hm. Äh, also die Senatoren. [Hm.] Also die adligen Senatoren (.) die haben ihn erstochen weil (.) sie dachten, dass er jetzt alles erobern möchte.“ – „Alles erobern möchte, hm, aber viel wichtiger noch als dass er alles erobern möchte, warum haben sie ihn getötet?“ – Dolores: „Weil sie dachten, dass er alle tötet?“ – „Nein.“ – Ein Mädchen: „[unverstdl. 3 sek.] ... weil er regieren möchte.“ – „Regieren möchte. Aber wie möchte er regieren? Das ist ja das Entscheidende.“ Dolores steht an der Tafel und guckt bedröppelt mit heruntergezogenen Mundwinkeln. – „Als König.“ – „Jaaaa. Aber wenn man (.) Stopp mal. Ich möchte ihr ne Chance geben. Wenn man als König oder Kaiser regiert, dann (.) was muss man dann? Äh (.) abschaffen? Was muss man abschaffen. Darum ging es nämlich. (…) Wie nennt man die Ordnung, wenn man als Kaiser regiert?“ Friedemann versucht sich leise und unverständlich. „Tamara.“ – „Alleinherrschaft.“ – „Alleinherrschaft, genauer!“ – Ein Junge: „Prinzipatsherrschaft.“ – „Ja, weiter. (.) Alleinherrschaft, Prinzipat ist richtig.“ Jemand: „Monarchie“ – „Ne!“ Jemand flüstert Aristokratie. „ Monarchie im weitesten Sinne ja, aber wir hams noch genauer formuliert.“ – „Republik.“ – „Eben nicht Republik! Sondern? Ganz einfach.“ – Ein Junge: „Eine Königsherrschaft.“ – „Ja. Oder Kaiserreich. Ja. Was? Warum haben sie ihn nun ermordet? Weil?“ – „Weil er [unverständl.]“ – „Ja, weil er die Republik abschaffen will. (.) Und
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hat er das erreicht? (.) in seinem Leben?“ – „Nein.“ Friedemann ruft von hinten rein: „Aber das wollte er ja auch nicht machen.“
Dieser Ausschnitt zeigt, dass der Lehrer der Schülerin viel Zeit und Raum für die Beantwortung der Fragen zugesteht. Besonders aufschlussreich ist die Stelle, in der Herr Timm Dolores fragt: „Denk mal an die Ämter, was hat er da alles erreicht?“ Dolores antwortet ablenkend („er hat viele Länder erobert“) und Herr Timm folgt wohlwollend ihrem Weg. Er besteht nicht auf die Beantwortung seiner Frage. Auch das Motiv, warum Cäsar sterben musste („alles erobern“), ist wahrscheinlich falsch. Herr Timm kritisiert diese Antwort nicht, sondern hebt ein anderes Motiv als „viel wichtiger“ hervor. Zuletzt soll noch ein Satz des Lehrers herausgestellt werden: „Ich möchte ihr ne Chance geben. Wenn man als König oder Kaiser regiert, dann (.) was muss man dann? Äh (.) abschaffen?“ Dolores bekommt mit dieser so formulierten Frage die Antwort beinahe schon in den Mund gelegt. Gesteigert wird diese Hilfe, indem er anschließend nach der Ordnung fragt, wenn man als Kaiser oder König reagiert, und was man da abschaffen müsse. Dolores soll eigentlich Republik sagen, aber auch Monarchie wäre ‚richtig‘, schließlich hat der Lehrer zwei Fragen gestellt, auf die sie reagieren könnte. Im Grunde ist es egal, was sie sagt, Hauptsache sie nennt irgendeine Regierungsform. Doch trotz der wohlwollenden Hilfen schneidet Dolores nicht besonders gut ab. Die Prüfung geht weiter ... „So. (.) Guck dir bitte die zwei Münzen an. (.) Psssst. (.) Auf unserem Arbeitsblatt (.) und (.) sag was abgebildet ist und welche Bedeutung die Münzen haben. Ja?“ – (14 Sekunden unverständliches Gemurmel) ... Tod von Cäsar (.) also das sind ...“ – „Ja! Wer hat die geprägt diese Münze? Du hast grad gesagt nach dem Tod von Cäsar. Also? (.) Also die Mörder von Cäsar, ja? Und was ist abgebildet?“ – „Zwei Schwerter [hm] und sowas wie ne [unverständlich, wahrscheinlich: Helm]“ – „Jawoll. Und warum hat man diese Münze geprägt?“ – „Als Erinnerung?“ – „Als Erinnerung. Ja. Gut. (.) Obere Münze?“ – „[unverständl.]“ – „Wie? Ich hab dich nicht verstanden.“ – „... es erinnert an die Eroberer.“ – „Was stellt die Münze dar? Sag mal was du siehst.“ – „Ich sehe Cäsar.“ – „Jawoll!“ – „Einen Mond, einen Halbmond ...“ – „Ja!“ – „[unverständlich]“ – „Cäsars Kopfschmuck. Was siehst du da?“ – „Ein Kranz.“ – “, Was soll der (.) Kranz (.) aussagen?“ – „[unverständlich, vielleicht: Feldherr]“ – „Ein siegreicher Feldherr. (.) Ja. (.) Gut. (.) OK. (.) Wolln wa dich ma nicht weiter (.) quälen. (.) So, setzt dich mal hin.“ Dolores geht – sichtlich erleichtert – auf ihren Platz. Hr. Timm fährt fort: „So, klasse. (.) Meinung (.) zur Leistungskontrolle. (…) Elsa.“ – „Ja, also ich fand's ein bisschen unsicher.“ – „Hm.“ – „Es war ganz okay (.) bloß es war (.) man musste ihr helfen.“ – „Genau.“ – „Man musste ihr fast alles aus der Nase ziehen.“ – „Ha ha. (.) Gut. Dolores. (.) Zu den Fakten von Cäsar (.) hast du weee-nig gewusst. (.) das hab ich dann-das hast du dann mit starker Hilfe (.) heraus bekommen (.) gut war dann diese Mordgeschichte (.) die hast du dann gut wiedergegeben (.) bei den Münzen musste ich dir auch helfen (.) es ist ne knappe Drei (.) ja? (..) Drei Minus. (.) So, zweite Leistungskontrolle.“
Nachdem die Schülerin im ersten Teil der Prüfung nicht allzu viel wusste, geht der Lehrer dazu über, besonders leichte Fragen zu stellen. Ihre Aufgabe besteht
2.4 Schülerleistungen bewerten und benoten
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nun darin, zu sagen, was sie auf dem Bild einer Münze sieht. Kann der Schwierigkeitsgrad dieser Aufgabe noch unterboten werden? Das ist kaum vorstellbar. Mithilfe dieser Fragen gelingt es, dass sich Dolores deutlich verbessert. Bedeutsam ist ferner, wie Herr Timm die Bewertung der Prüfungsleistung durch die Mitschüler einleitet: „So, klasse.“ Damit signalisiert er den Schülern, dass ihre Kritik nicht allzu schlecht ausfallen darf.41 Dolores Mitschüler verhalten sich kooperativ und äußern harmlose Kritik. Jemand fand sie ein bisschen unsicher, ein anderer laviert, dass es „ganz okay“ war, obwohl man ihr „helfen“ musste. Niemand sagt, dass die Schülerin wenig wusste oder sogar falsch geantwortet hat oder dass die Fragen im zweiten Teil sehr leicht gewesen sind. Am Ende der Prüfung entzaubert Herr Timm durch eine unfreiwillige Freudsche Fehlleistung den Prüfungsverlauf: „das hab ich dann-das hast du dann mit starker Hilfe (.) heraus bekommen“. Diese Aussage deckt sich vollständig mit unserer Interpretation der Szene: Der Lehrer ist der Hauptverantwortliche der passablen Prüfungsleistung, und Dolores Part besteht ebenso (wie der ihrer Mitschüler) darin, in dem Theaterstück die ihr zugedachte Rolle zu spielen. Einen letzten Höhepunkt der Szene stellt die Begründung der Note dar. Das befriedigende Abschneiden wird mit der gut wiedergegebenen „Mordgeschichte“ begründet. Wenn man sich Dolores Leistung im Transkript vergegenwärtigt42, wird sichtbar, dass diese Begründung eine reine Verzweiflungstat ist. Neben Praktiken der Umdeutung von Leistungen sind weitere Praktiken identifiziert worden, welche helfen können, die Leistung zu verbessern. So ist im Kunstunterricht beobachtet worden, dass eine Arbeit so konzipiert wurde, dass es jedem Schüler möglich war, eine Vier zu erreichen, sofern ihm eine Zeichnung gelingt. Im Mathematikunterricht konnte durch sauberes und übersichtliches Arbeiten ein „Formpunkt“ erreicht werden, der im Fall einer Schülerin aus einer Zwei eine Eins machte. Interessant ist, dass die Lehrerin am Ende ihrer Begründung für die bessere Note darauf hinweist, dass „man natürlich Formpunkte“ abziehen könne bei einer „saumäßigen Darstellung“. Es ist nicht beobachtet worden, dass es einen Abzug wegen schlechter Schrift oder dergleichen gegeben hätte. Im Mathematikunterricht hat sich Folgendes zugetragen: Friedemann stellt fest, dass die Aufgabenstellung der Lehrerin falsch ist. Die verdutzte Lehrerin rechnet Friedemann angesichts dieser unerwarteten Leistung einen „Zusatzpunkt“ für die nächste Mathematikarbeit an. Diese Praxis kann in besonderer 41 Man könnte diese Stelle auch so interpretieren, dass Herr Timm die Klasse anspricht (So, Klasse). Diese Lesart halte ich für weniger wahrscheinlich, da Herr Timm ansonsten in der beobachteten Unterrichtsstunde die Schülerinnen und Schüler nicht als Klasse anspricht. 42 Dolores sagte, dass Cäsar von adeligen Senatoren erstochen wurde (richtig), da er „alles erobern“ wollte (wahrscheinlich falsch).
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Weise als kurios bezeichnet werden, da eine mündliche Unterrichtsleistung positiv mit einer schriftlichen Klassenarbeitsleistung verrechnet wird. – Eine weitere Szene zum Zeitpunkt der siebten Klasse: Die Physiklehrerin Frau Brecht: „So ich hab jetzt Folgendes gemacht (…) beziehungsweise werde das tun (.) ich hab die Noten jetzt erstmal eingetragen (.) so ... (..) ich habe die Noten eingetragen. Jeder kennt jetzt im Prinzip sein Ergebnis. (.) Weiß jetzt auch hoffentlich, warum das Ergebnis jetzt zustande gekommen ist (.) ich bin ja jetzt die einzelnen Experimente durchgegangen und die Ergebnisse eben vorgestellt (.) und ich würde jetzt Folgendes tun (.) ich gehe die Namenslisten von oben nach unten durch ohne die Note zu nennen und ihr sagt mir ja oder nein (.) und die Entscheidung ja oder nein beziehe ich auf das Behalten dieser Note oder das Streichen dieser Note. (.) Ich sage aber gleich dazu (.) alle die ihre Experimentnote jetzt streichen sind beim nächsten Experiment Mode mit dem Protokoll. (.) Ja?! (.) Hundertpro. (.) Das bedeutet nich dass die andern nich auch Note krieg‘n (.) weil es wird noch mehrere Protokolle geben ...“ – „Ich bin Mode“, stöhnt Ruben ironisch.
Abgesehen von dem Umstand, dass Noten ausnahmsweise nicht klassenöffentlich benannt werden, zeigt diese Szene, dass die Lehrerin den Schülern zugesteht, eine schlechte Note zu streichen. Diese Chance scheinen sie – der Rhetorik der Lehrerin – nach nur dieses eine Mal eingeräumt zu bekommen. Möglicherweise dürfen die Schüler, die diesen Dienst nicht in Anspruch nehmen, zu einem anderen Zeitpunkt eine Note streichen. Sicher können sie sich dessen nicht sein, aber sie werden es vermutlich einzuklagen wissen. Rückgabe der Vergleichsarbeit Mathematik. Frau Sommer diktiert langsam und schreibt an die Tafel: „Nummer zwei b und Nummer drei wurden als Zusatzaufgaben (je ein Punkt) angesehen! gez. Sommer (8) Ihr macht das jetzt in meinem Auftrag. Und das heutige Datum.“ Frau Sommer führt aus, dass es eine Diskussion mit den Fachlehrern gab, was zur Folge hatte, dass die Aufgaben zwei b und drei nun als Zusatzpunkte gezählt werden. Die Fachlehrer waren dafür, die Aufgaben rauszunehmen. Sie selbst wäre damit nicht so ganz einverstanden gewesen, aber man müsse es ja schließlich für alle Klassen gleich machen.
Abgesehen davon, dass sich die Mathematik-Lehrerin als Verfechterin einer strengeren Zensierung darstellt, wird nicht ersichtlich, warum die Aufgaben aus der Bewertung herausgenommen werden. Da eine Vergleichsarbeit weite Stoffgebiete prüft, die teilweise bis zur Grundschule zurückreichen, aber mitunter auch dem vermittelten Stoff vorgreifen, haben sich die Lehrer vermutlich entschieden, diejenigen Aufgaben aus der Benotung der Arbeit herauszunehmen, die in den fünften Klassen noch nicht behandelt wurden. Es zeigt jedenfalls, dass das Fachlehrer-Kollegium durchaus einen gewissen Interpretationsspielraum im Bewertungsschlüssel sieht und diesen auch nutzt, um die Noten der Schüler anzuheben.43 43 Durch die Anhebung der Note verändert sich das Ergebnis der Leistungsmessung der Vergleichsarbeit nicht.
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Angesichts der Beobachtungen kann resümierend gesagt werden, dass es zahlreiche Kulanz-Praktiken gibt, die genutzt werden, um Schulerfolg hervorzubringen. In der Prüfung werden möglichst alle Uneindeutigkeiten beseitigt, so dass Aufgaben nicht aufgrund eines Fehlverständnisses falsch beantwortet werden. Das Ausweisen der Kunstlehrerin, wie viele Punkte die Lösung einer Aufgabe wert ist, ermöglicht es, strategisch clever mit der Prüfung umzugehen. Es werden möglichst nur diejenigen Schüler geprüft, die vorbereitet sind. Missglückte Prüfungen können entweder von der Bewertung ausgenommen oder wiederholt werden. Gerade im Zusammenspiel von Lehrern und Schülern wird sichtbar, dass es verschiedene Praktiken gibt, Prüfungssituationen so zu gestalten, dass schlechte Leistungen minimiert werden. Dies gelingt durch gute Vorbereitung der Klasse (z. B. durch dezidiertes Ansagen des benötigten Stoffes), durch geschickte Gestaltung des Tests (Punkte-Gewichtung von Aufgaben, eindeutige Aufgabestellungen), durch eine geschickte Bestimmung des richtigen Prüfungszeitpunktes oder durch Wiederholung ‚verhauener‘ Prüfungen. Vielen KulanzPraktiken ist gemein, dass sie von den Lehrpersonen gewährt werden müssen, wobei die Schülerinnen und Schüler allerdings einen nicht unwesentlichen Anteil haben: Sie gelingen nur, wenn sie von den Schülern einvernehmlich mitgetragen werden. So kann man als Lehrer zwar versuchen, den Verlauf einer Prüfung zu verbessern, indem man leichte Fragen stellt, aber auch leichte Fragen müssen beantwortet werden. Zudem müssen die Schüler die positive Umdeutung eines Prüfungsverlaufes mittragen. Wenn nur ein Schüler gesagt hätte, dass Dolores wenig wusste und dass die Fragen sehr leicht gewesen waren, wäre die Note Drei nur noch schwer zu rechtfertigen gewesen. Es kommt vor, dass Kulanz von Schülerinnen und Schülern angefragt, aber von der Lehrkraft nicht gewährt wird. Das Ablehnen von Kulanz demonstriert, dass sie nicht eingeklagt oder erzwungen werden kann. Sie stellt die Ausnahme von der Regel dar und sie wird nur situativ in bestimmten Situationen angewandt. Die Schülerinnen und Schüler haben folglich ein gutes Gespür für diese Situationen zu entwickeln, in denen die Anfrage von Kulanz Erfolg versprechend erscheint und wo sie eine Anfrage besser unterlassen. Eine Krankheit stellt beispielsweise eine gute Ausgangsbasis dar, um den Wert einer Note zu relativieren – Schwänzen mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht. Damit Kulanz-Praktiken funktionieren können, müssen sie den Charakter der Ausnahme von der Regel demonstrieren. Sie dürfen das Bild von der guten Leistung nicht gefährden. Damit Kulanz-Praktiken aufrecht erhalten werden können, müssen sie auch verweigert werden.
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2.4.5 Die Aufrechterhaltung des Images vom guten Schüler Wie kann das Bild vom guten Schüler im Fall von Versagen gerettet werden? Dieses Kapitel untersucht Praktiken des Umgangs mit schlechten Leistungen. Unter dem Begriff Image fasst Goffman (1971) das Selbstbild eines Interaktionspartners, das von anderen Interaktionsteilnehmern anerkannt und in der Interaktionssituation gestützt wird. Das Image sei der soziale Schmierstoff, der Akteuren sozialer Situationen helfe, miteinander reibungslos und erwartungsstabil umzugehen. Es binde Person an Verhaltensstrategien, indem es ihnen eine Art „Persönlichkeit“ vorschreibt. Bedeutsam für das Verstehen sozialer Situationen sei, dass ihre Teilnehmer bestrebt seien, während der Interaktionssituation ihr Image stabil zu halten. Dies führt nach Goffman zu einer defensiven Orientierung im Hinblick auf die Wahrung des eigenen Images und zu einer protektiven im Hinblick auf die Wahrung des Images anderer. Im Interaktionsverlauf nähmen beide Beteiligten sowohl auf ihr Image als auch auf das des Interaktionspartners Rücksicht (vgl. Goffman 2001: 50ff.).44 Doch wie stellen sich die Praktiken der Stabilisierung des Images im Unterricht dar? Im Zentrum der folgenden Ausführungen steht die Frage, wie es den Beteiligten gelingt, das Image vom guten Schüler zu wahren und im Interaktionsablauf zu stabilisieren. Dazu werden nun einige Szenen (des gesamten Beobachtungszeitraumes) präsentiert: Biologieunterricht. Das Unterrichtsgespräch läuft weiter, es geht darum mit welchen Nahrungsmitteln man welche Fische füttern kann. „Klaus-Maria, womit würdest Du Goldfische füttern?“, fragt Frau Stern Klaus-Maria. Der Schüler laviert ein bisschen herum, es kommt nicht die gesuchte Antwort. – Die Lehrerin schließlich: „Ja richtig, KlausMaria, so wie ich Dich kenne würdest Du in die nächste Zoohandlung gehen und Fischfutter kaufen. Auch gut. Aber womit kann man denn Fische füttern?“
Der Ausschnitt zeigt, dass der Schüler sich zwar bemüht, die gesuchte Antwort zu finden, es aber nicht schafft. Dennoch fasst die Lehrerin seine Äußerungen dahingehend zusammen, dass sie ihm auf der Ebene von Bauernschläue ein cleveres Verhalten unterstellt, mit dem er das Problem praktisch (Ernährung der Fische) lösen kann, auch wenn er es theoretisch noch nicht durchdrungen hat. Dem realen Scheitern stellt die Lehrerin Bauernschläue gegenüber – das Versagen wird durch Lob kompensiert: Klaus-Maria geht als ‚cleverer Schüler‘ aus der Interaktionssituation hervor. Erdkunde. Thessa hat die Hausaufgaben nicht gemacht, da sie diese nicht verstanden habe. Die Lehrerin: „Los, schreib mal schnelle eins, zwei, drei hier hin.“ Dann fragt sie Thessa 44 Ausnahmen stellen Fälle des erzwungenen Austausches (Goffman 2003: 60ff.) dar, wie Gewalt und Nötigung.
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Stück für Stück zu den richtigen Antworten, die sie dann auch gibt. „Na bitte, haste doch verstanden!“
Auch in dieser Szene begegnet die Lehrerin Thessa, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte, sehr freundlich und aufgeschlossen. Die Lehrerin motiviert die Schülerin als erstes die Aufgaben ins Heft zu schreiben. An dieser Stelle lässt sich erkennen, dass Thessa zuhause keinen ernsthaften Versuch unternommen hat, die Hausaufgaben zu lösen. (Die erste Aufgabe wäre ansonsten im Heft ansatzweise bearbeitet gewesen.) Die Schülerin nutzt den Vorwand, es nicht verstanden zu haben, und die Lehrerin folgt ihrer ‚Erklärung‘ bereitwillig. Die Lehrerin zeigt im Fortgang der Szene, dass Thessa es „verstanden“ hat. Folglich erscheint Thessa als eine Schülerin, der es möglicherweise an Motivation, Struktur oder gar an Mut zur Lösung der Aufgabe mangelt, nicht aber an der nötigen Intelligenz. – Ein weiterer Ausschnitt aus dem Kunstunterricht: Greta meldet sich, winkt energisch und kommt dran. Einen Kreis könne man mit vielen Kreisen hervorholen, probiert sie sich im Angesicht einer wenig überzeugten Lehrerin, „einen Strich ...“, fährt sie lavierend fort, um es dann im „3-D halt“ zusammenzufassen. – „Wir haben sechs Millionen Wörter“, hilft die Lehrerin Greta, „ihr fällt das Wort nicht ein. Wer kann helfen?“
Auch dieser Unterrichtsausschnitt zeigt einen freundlichen Umgang mit nicht erbrachter Leistung. Die Freundlichkeit verblüfft umso mehr angesichts einer sich „energisch“ meldenden Greta. Ihre Performance suggeriert hohe Dringlichkeit: Sie weiß die richtige Antwort. Aber Gretas Beitrag ist zunächst unverständlich, dann unbeholfen und zuletzt geht er am Gesuchten vorbei. (Der Begriff Perspektive war gesucht.) Die Lehrerin ihrerseits unterstellt Greta aber nicht, dass sie es nicht wüsste, sondern nur, dass sie nicht auf den richtigen Begriff gekommen sei. Durch die durch die Lehrerin eingeführte Differenz von Gesagtem und Gemeintem wird Gretas Selbstinszenierung als eine es eigentlich wissende Schülerin gestützt. Die nächste Szene trägt sich im Englisch-Unterricht zu und zeigt eine Situation, in der eine Schülerin einem Mitschüler einen Fehler unterstellt. Ort der Handlung ist eine Sprachübung im Englisch-Unterricht: I am – you are – he she is ... Es geht sehr schnell. „So muss das sitzen!“, kommentiert die Lehrerin die Leistung. Kristin meldet sich und kommt dran. Kristin frage sich, so lässt sie uns wissen, ob sich Hermann vorhin nicht versprochen habe. „Hat er nicht >>I’m crazy?<<“ anstelle von >>Are you crazy?<< gesagt?“ Die Lehrerin sagt, dass sie das jetzt nicht mehr wüsste, was Hermann gesagt habe. Sie wiederholt die richtige Frage („Are you crazy?“), und durch gegenseitiges, bestätigendes Nicken zeigen sich die Lehrerin und Hermann an, dass er – wenn er schon nicht das Richtige gesagt – es zumindest gemeint habe.
Dass Kristin einen (vermeintlichen) Fehler von Hermann zur ‚Anzeige‘ bringt, zeigt exemplarisch, wie genau sich die Schülerinnen und Schüler im Unterrichts-
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alltag beobachten. Der angezeigte Fehler bedeutet nun für die Lehrerin und den betroffenen Schüler, dass sie sich hierzu verhalten müssen, da nun die Lehrerin als eine unaufmerksame Person dasteht, die einen Fehler übersehen hat, und Hermann als jemand, der einen Fehler gemacht hat. Die Lehrerin und Hermann widersprechen Kristin nicht. Hermann mag dies vielleicht nicht tun, da Kristin recht hat, möglicherweise kann er sich nicht mehr genau erinnern oder ihm fehlt schlicht der Mut, da nun Kristin in einem sehr zweifelhaften Licht stehen würde. Die Lehrerin ihrerseits mag auch keine Position beziehen und begründet dies damit, dass sie den Wortlaut von Hermann nicht mehr rekonstruieren könne. Jedenfalls zeigen sich die Lehrerin und Hermann ebenso wie den Mitschülern an, dass sie beide wissen, dass das, was Kristin sagt, richtig ist. Damit vereinigen sich alle drei Parteien in der Anerkennung des Richtigen. Eine weitere Szene aus dem Kunstunterricht: Der Arbeitsauftrag der Schüler besteht darin, eine Linie auf Reisen zu zeichnen, die verschiedene Charaktere auf ihrem Weg annimmt. Sie soll z. B. lustig, ängstlich, aggressiv oder fröhlich sein und ihre Gemütszustände sollen je nach Situation wechseln. Gretas Blatt ist schon ziemlich vollgekrickelt – jedenfalls sehe ich keine Linien, die mit Bedacht und Hintersinn entworfen worden wären. Greta meldet sich: „Frau Gründel, kommen sie mal ganz schnell.“ Die Lehrerin kommt. Greta zeigt der Lehrerin ihr Gekrickel. „Dies ist der Kopf, ein Schwanz, eine Flosse, Flügel…“, erklärt ihr Greta. – „Das hier wirkt wie ein Krokodil“, steigt Frau Gründel auf das Rorschachspielchen ein und zeigt auf eine Stelle im schwarz-weißen Gewirr.
Ein „vollgekrickeltes“ Bild ist vor dem Hintergrund der Aufgabenstellung als schlechte Umsetzung des Arbeitsauftrages zu interpretieren. Und dennoch würdigt die Lehrerin das Kunstwerk von Greta positiv. Dies gelingt der Lehrerin mit einem Wechsel der Perspektive, die im Protokoll mit ätzender Ironie als „Rorschachspielchen“ bezeichnet wird. Im Rorschach-Formdeuteversuch werden zufällige Elemente (symmetrische Tintenkleckse) betrachtet mit dem Ziel, dass sich beim Betrachter Projektionen einstellen, was heißt, dass dieser den Zufallselementen einen Sinn zuweist. Die Lehrerin abstrahiert bzw. emanzipiert sich von ihrer ursprünglichen Aufgabenstellung mit ihrer Würdigung des Werkes als Werk. Mit diesem Perspektivenwechsel rettet die Lehrerin Gretas Werk vor harter Kritik. – In der nächsten Szene geht es im Gegensatz zu den zuvorigen Szenen um schlechte Leistungen, die sich mehr oder weniger manifestiert haben. Ich gehe nach der Stunde nach vorn zur Lehrerin und wir haben noch einen kleinen Schwatz. Paula hat tatsächlich eine der drei Fünfen der Mathearbeit. Sie sei eigentlich in Mathe sehr gut, aber in Prüfungssituationen ginge bei ihr nichts mehr, erklärt mir die Lehrerin, regelrechte Prüfungsangst habe sie, sie könnte viel besser stehen.
Paula hat in diesem Schulhalbjahr bereits eine Fünf in Mathematik bekommen und die zweite Fünf kann nicht mehr als ein einmaliger Ausrutscher betrachtet
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werden. Trotz der sich wiederholenden mangelhaften Leistung gelingt es der Lehrerin, mir gegenüber die Schülerin als „eigentlich sehr gut“ auszuweisen, indem sie zwischen der Leistungsfähigkeit in schriftlichen Prüfungssituationen und der Leistung in anderen Situationen (wie z. B. dem normalem Unterricht) unterscheidet. Das Versagen der Schülerin wird auf eine psychologische Variable (Prüfungsangst) zurückgeführt, welche sie daran hindere gut zu sein. Damit konstruiert die Lehrerin einen Gegenspieler, der die Schülerin in ihrer Leistungsfähigkeit behindere. Ihr Versagen kann nun dieser ‚unheilvollen Macht‘ zugerechnet werden, welche als fremde und ungeliebte Störquelle der Schülerin quasi äußerlich bleibt. Mit dieser Konstruktion eines psychischen Gegenspielers gelingt es der Lehrerin, das Image der guten Schülerin trotz mangelhafter Prüfungsleistungen zu wahren. Alles in allem kann gesagt werden, dass die Lehrerinnen und der Lehrer die Schülerinnen und Schüler auch dann mit positiven Zuschreibungen versehen, wenn sie eine Leistung nicht oder nur fehlerhaft erbringen. Die Rettung des Images erfolgt durch Praktiken, die den Schülerinnen und Schülern trotzdem Leistungspotenzial unterstellen. Sie tauchen im Unterricht regelmäßig auf und stellen ein wesentliches Element dar. Die Lehrer unterstellen den Schülern, dass sie gut sind, und verpflichten sie damit auch, gemäß ihrem Image zu handeln. Das Beispiel Paula zeigt, dass auch bei sich manifestierenden schlechten Leistungen das Image des guten Schülers gerettet werden kann. Die Mathematik-Lehrerin ‚hebelt‘ zugunsten der Rettung des Images vom guten Schüler die (vermeintliche) Objektivität der Leistungsmessung durch die Klassenarbeit für diese Schülerin aus bzw. klammert sie ein. Das Problem, etwas nicht zu können, wird durch die Lehrerin auf eine psychologische Ebene transformiert, die trotz ungenügender Leistung das Leistungspotenzial der Schülerin unberührt lässt. Mit der Transformation geht die Therapie einher: Die Schülerin muss nicht Mathe, sondern die Prüfungssituation erfolgreich bewältigen lernen. Sie bleibt in dieser Perspektive auch weiterhin eine gute Schülerin – sie muss nur es nur lernen ihre Leistung zu zeigen. Das gute Image wird so erhalten und stabilisiert die Erwartungshaltung der Lehrerin, was bedeutet, dass sie immer noch als gute Schülerin trotz schlechter Noten adressiert werden kann. 2.4.6 Zusammenfassung Im Kapitel 2.4 „Schülerleistungen bewerten und benoten“ werden zahlreiche Praktiken schulisch erfolgreicher Schülerinnen und Schüler untersucht und es wird gezeigt, dass es eine Vielzahl von Praktiken gibt, die mit Schulerfolg in Zusammenhang stehen. In Kapitel 2.4.1 „Die alltägliche Leistungsbewertung“ ist
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herausgearbeitet worden, dass durch die tägliche Leistungsbewertung mit gering gewichteten Noten ein panoptisches System der Überwachung installiert wird (vgl. Foucault 1977: 251ff.)45. Dieses Beobachtungssystem zwingt die Schülerinnen und Schüler dazu, wenn sie erfolgreich sein wollen, zusätzlich zu der Erledigung ihrer Hausaufgaben kontinuierlich zu lernen. Eine einwöchige Auszeit vom Lernen führt zu einem sofortigen Abfall der Noten. Da das Gewicht einzelner Noten nicht besonders hoch ist, können sie schnell wieder ausgeglichen werden, sofern der Schüler zum alten Modus der Vorbereitung zurückfindet. Angesichts dieses Mechanismus ist zu vermuten, dass die Effektivität der Praktiken vor allem darin liegt, dass die Noten weniger als Elemente der Leistungsermittlung, denn als Formen beständiger Kontrolle und Anreize in Erscheinung treten. Die externe Kontrolle der Schüler durch Noten führt zu einem beständig spürbaren Leistungsdruck: Noten sind entgegenzunehmen und zu katalogisieren und das Lernverhalten ist hieran auszurichten. Damit geht die externe Kontrolle der Leistungsmessung in Praktiken der Selbst-Kontrolle über. Die erfolgreiche Schülerin bzw. der erfolgreiche Schüler ist ein Schüler, der sich dem Diktat der Überwachung unterwirft und sie zum Bestandteil seines eigenen Tuns macht (vgl. Foucault 1977: 260) Der Erfolg des schulischen Zensuren-Panoptikums (vgl. Kalthoff 1997: 127ff.) wird also nicht durch sich selbst gesichert; es benötigt dazugehörige Praktiken der Schüler, wie die Ausbildung von Praktiken der Selbstdisziplinierung, der Selbstüberwachung und der Selbstmotivation. Die Praktiken des Schulerfolgs sind folglich Praktiken von Lehrern und Schülern. Einige werden von den Lehrerinnen und Lehrern dominiert, andere wiederum – wie z. B. das Erledigen von Hausarbeiten oder das Pauken – müssen von den Schülerinnen und Schülern getragen werden. In ihren Referenzen sind sie aufeinander verwiesen. Das Pauken benötigt die Kontrolle, die OrientierungsPraktiken den Unterricht und der Nachvollzug von Leistungsbewertungen Prüfungssituationen. Im Rahmen der Kapitel 2.4.1 – 2.4.5 sind verschiedene Praktiken im Kontext von Tests und Leistungsbewertungen untersucht worden. Die zentrale theoretische Idee der konzeptionellen Verwiesenheit der Praktiken zueinander wurde in Kapitel 2.4.2 mit dem Konzept des Antagonismus entworfen. Unter antagonistischen Praktiken verstehe ich Praktiken, welche sich hinsichtlich ihrer Logiken widersprechen, aber letztlich demselben Ziel dienen: der Hervorbringung (sehr) guter Leistungen. Während die vielfältigen Praktiken der Orientierung, Kontrolle 45 „Die Wirkung der Überwachung [durch das Panopticon, MM] ist permanent, auch wenn ihre Durchführung sporadisch ist; die Perfektion der Macht vermag ihre tatsächliche Ausübung überflüssig zu machen“ (Foucault 1977: 258). Das System schulischer Überwachung benötigt mehr als das durch Architektur erzeugte Gefühl der Beobachtung – es benötigt Prüfungspraktiken (vgl. ders.: 240).
2.4 Schülerleistungen bewerten und benoten
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und des Managements die Schülerinnen und Schüler auf die Aufgaben vorbereiten, sie zur Arbeit anleiten und ihnen Möglichkeiten zur Bewältigung praktischer Probleme bereitstellen, dienen die Kulanz-Praktiken der Verschleierung schlechter Leistungen bzw. der Umdeutung fraglicher Leistungen in gute. Entscheidend scheint die zeitliche Abfolge der Praktiken zu sein: während die Orientierung und die Kontrolle die Schülerinnen und Schüler in den Arbeitsprozess einspuren, helfen die Management-Praktiken bei ihrer Bewältigung und die KulanzPraktiken ermöglichen großzügigen Nachlass. Pointiert formuliert scheint gute Leistung in dieser Perspektive vor allem ein Ergebnis von Aufgabenorientierung, Aufgabenbewältigung und weitestgehender Nachsicht bzw. Aufweichung der Bewertungskriterien zu sein. Das Kapitel 2.4.3 „Die Legitimierung der Note“ behandelte Praktiken, in denen Lehrpersonen und Schüler Leistungsbewertungen nachvollziehbar gestaltet haben. Die Praktiken konnten danach unterschieden werden, ob sie vor oder nach der Leitungsbewertung erfolgten. Während die Praktiken nach der erfolgten Leistungsbewertung vornehmlich davon bestimmt sind, die bereits erfolgte Leistungsbewertung zu rechtfertigen, haben die Praktiken vor der Leistungsbewertung die Funktion, vor allem das Handeln der Schülerinnen und Schüler auf das gewünschte Ergebnis hin zu orientieren. Das Kapitel 2.4.4 zeigt Kulanz-Praktiken, die Leistungen der Schülerinnen und Schüler verbessern oder aber helfen über gemachte Fehler hinwegzusehen. Sie stellen zwar Ausnahmen im pädagogischen Geschäft dar, sind aber mit Blick auf die Verbesserung von Noten nicht zu unterschätzen und dienen der Anhebung von Noten. Die Praktiken, die im Rahmen der Stabilisierung des Images beschrieben wurden (2.4.5), dienen der Aufrechterhaltung des Bildes vom guten Schüler trotz Leistungsversagen. Durch das Zusammenspiel all dieser Praktiken wird Schulerfolg interaktiv erzeugt. 2.5 Beobachtungen im Längsschnitt In den Kapiteln 2.2 í 2.4 wurde gezeigt, wie durch Praktiken Schulerfolg hergestellt wurde. Der Erfolg dieser Praktiken lässt sich am Untersuchungsfeld für den Zeitraum der fünften und sechsten Klasse präzise bestimmen, denn die Gymnasiasten bekamen in eben diesem Zeitfenster ausgesprochen gute Noten. Doch mit Ende des sechsten Schuljahres fallen die Noten ab í bei einigen Schülern ein wenig, bei anderen mehr. War es der Klassenlehrerin Frau Sommer zum Zeitpunkt der ersten Halbjahres-Zeugnisausgabe (fünfte Klasse) noch nicht möglich, ihre Schülerinnen und Schüler „in ein Spitzenfeld und in ein Mittelfeld“ (vgl. Kap. 2.1) zu differenzieren, gelingt dies zum Zeitpunkt des ersten Halbjahres der siebten Klasse problemlos. Was ist passiert? Warum gibt es in der siebten Klasse
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keinen kollektiven Schulerfolg mehr? Wurden die Praktiken des Schulerfolgs aufgegeben oder funktionieren sie unter den veränderten Bedingungen der siebten Klassenstufe nicht mehr? í Den aufgeworfenen Fragen werden wir im Folgenden an konkreten Unterrichtsbeobachtungen nachgehen. Da es nicht möglich ist, den breiten Strauß an Praktiken umfänglich hinsichtlich ihrer Veränderungen über den Beobachtungszeitraum zu analysieren, ist es notwendig, Entwicklungen an spezifischen und zugleich symbolisch hoch gehaltvollen Situationen festzumachen. Situationen der Notenbekanntgabe- sowie Zeugnisausgaben sind interaktiv dichte und hoch aufgeladene Situationen, die von zahlreichen Praktiken getragen werden und an denen das Verhältnis zum schulischen Leistungsprinzip untersucht werden kann. Wenn man Rückgabesituationen und Zeugnisausgaben zum Zeitpunkt der fünften Klasse (Schulerfolg) mit denjenigen der siebten Klasse (‚Normalisierung‘ des Leistungsspektrums) vergleicht, dann können Veränderungen identifiziert und beschrieben werden. Die Analyse wird hierbei vor allem nach dem Wie des Wandels fragen und zeigen, welche Bedeutung die Praktiken des Schulerfolgs hierbei einnehmen. An ausgewählten Situationen der Leistungsbewertung zum Zeitpunkt der fünften (Kap. 2.5.1) und siebten (Kap. 2.5.2) Klasse werden die Praktiken untersucht und hinsichtlich ihres Wandels diskutiert (vgl. 2.5.3). Es wird gezeigt werden, dass die Praktiken des Schulerfolgs teilweise durch andere ersetzt oder modifiziert wurden. Doch bevor in den folgenden Kapiteln der Wandel der Praktiken im Spiegel der Jahrgangsstufen nachgezeichnet wird, gilt zuvor den Deutungen der Beteiligten unserer Interesse. Wie erklären sich die Schülerinnen und Schüler sowie ihre Klassenlehrerin die Ausdifferenzierung des Leistungsspektrums? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Klasse auch gegen Ende des Beobachtungszeitraums immer noch als gute Klasse gilt, auch wenn sie ihre herausragende Stellung unter den fünf Parallelklassen eingebüßt hat. Der Umgangston ist nach wie vor höflich; es wird kein Schüler ausgegrenzt. Das Gros der Schülerinnen und Schüler zeigt sich weiterhin am Unterricht interessiert und leistungsbereit. Der Ruf der Klasse ist jedenfalls so gut, dass sie im Gegensatz zu den Parallelklassen ‚überfüllt‘ ist, da sich die Eltern der sitzengebliebenen Schüler stark dafür eingesetzt haben, dass ihre Kinder in dieser Klasse unterkommen. Erstaunlicherweise kam die Schulleitung den Elternwünschen nach, obwohl die Parallelklassen deutlich weniger Schüler zählen. Für die ‚Normalisierung‘ des Notenspektrums sieht die Klassenlehrerin vor allem zwei Umstände verantwortlich, nämlich das Einsetzen der Pubertät (insbesondere das Verschieben von Interessenlagen) und die deutlich gestiegenen Leistungsanforderungen an die Kinder.46 46 Diese Einschätzung deckt sich mit vertrauten wissenschaftlichen Positionen: Dass die schulischen Leistungen im Zeitraum der siebten Klasse nachlassen, stellt nicht zuletzt Fend (2005: 352f.) deutlich heraus. Als verantwortlich für diese Entwicklung wird vor
2.5 Beobachtungen im Längsschnitt
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Die Schüler wiederum beschreiben ihre Situation im Interview zu Beginn des zweiten Halbjahrs in der siebten Klasse wie folgt: (1) Interviewer: Hermann: Interviewer: Hermann: Interviewer: Hermann: Interviewer: Hermann:
Achso. Und um drei kommst du nach Hause. Und wie lange bist du dann noch für die Schule zu Gange? Was machst du dann, wenn du zu Hause bist? [...] Dann fahre ich gleich zum Sport. Und dann abends mache ich Hausaufgaben. Ja, du spielst dann Tennis. Und Fußball. Und Fußball? Aha. Und Klavier. Und Kon¿rmandenunterricht. Das heißt, du hast jeden Tag in der Woche noch irgend‘ ne Veranstaltung. Am Montag, am Dienstag, am Mittwoch, am Donnerstag, am Freitag, am Samstag. Ja! Und am Sonntag ist meist immer ein Spiel beim Fußball.
(2) Interviewer:
Ich hatte mich vorhin mit Hermann unterhalten, ich bin aus dem Staunen nicht raus gekommen. Er macht ja jeden Nachmittag noch tausend Sachen. Sport, Tennis, Klavier und so. Wie ist es bei dir? Es gibt ja noch tausend andere Angebote in der Schule. Machst du da irgendwas von? Klaus-Maria: Ne, also von der Schule nichts, beim Förderunterricht war ich wegen Mathe mal in der sechsten Klasse. Chor wäre ich gern gegangen, aber das wurde verlegt, und da konnte ich immer nicht. Dann spiel ich noch Gitarre und geh zum Konfi-Unterricht. [Konfirmationsunterricht] Interviewer: Mit Hermann zusammen? Klaus-Maria: Ne, der geht auf `ne andere. Ich habe nur den Montag völlig frei. Und Dienstag geht noch, da muss ich 17 Uhr los und bin dann halb sieben zu Hause. Interviewer: Und wann kommst du so nach Hause, so halb drei? Klaus-Maria: Ja, eigentlich schon. Essen tu ich hier. Interviewer: Wie geht es weiter, wenn du zu Hause bist?
allem die Pubertät (bzw. Adoleszenz) gemacht. Diese Phase gilt als diejenige der größten Schulferne, in der sich eine weit verbreitete instrumentell-strategische Haltung gegenüber Schule herauszubilden scheint (vgl. Breidenstein 2004). Nittel (1992) beschreibt die Zeitspanne zwischen dem siebten und neunten Schuljahr als eine „Reibungsfläche zwischen biographischen Prozessen und schulischen Ereignisabläufen“ (ders.: 261ff.). Diese Zeit sei von durch die „Adoleszenz bedingten Persönlichkeitsveränderungen“ (ders.: 261), einer zweiten Fremdsprache wie Latein, wachsender Komplexität der Lerninhalte, Lehrerwechsel, zunehmende Überforderung der Eltern bei schulischer Hilfe, Verschiebung des Relevanzsystems (von der Schule zu den Peers), Gewinnung von „Autonomie und Souveränität gegenüber der Erwachsenengesellschaft“ (ders.: 264) gekennzeichnet. Kurzum: Die Schule wird schwerer, die Pubertät erschwert die Lernprozesse und alternative Angebote konkurrieren mit schulischen Bildungsinhalten.
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Klaus-Maria: Wenn ich zu Hause bin, habe ich meist ne halbe Stunde. Dann muss ich wieder los zum Training. Und das dann meist so bis um 18 Uhr. Heute wäre auch noch Tauchen gewesen. Letztens hatte mich `nen Freund mitgenommen, ins Hallenbad. Das ist von 19 bis 20 Uhr. Mit Taucherflossen und so. Darauf hab ich heute keine Lust. Interviewer: Bist aber auch ganz schön ausgelastet, oder? Klaus-Maria: Ja, das sind die meisten aus unserer Klasse. Fast alle spielen Instrument oder machen Sport. Alle machen mindestens eins.
Die Unterrichtszeit hat sich zum Zeitpunkt der siebten Klasse bis in den Nachmittag ausgedehnt und nachmittägliche Bildungsinhalte konkurrieren mit schulischen Angeboten und vervollständigen die bürgerliche Erziehung der Schülerinnen und Schüler. Damit wird nicht nur die Freizeit jenseits pädagogischer Bildungsangebote zu einem knappen Gut, sondern auch die Erledigung der Hausaufgaben wird prekär. Die Schüler fertigen sie nun nach dem Abendessen oder zwischendurch in nicht verplanten Zeitfenstern an. Es ist also anzunehmen, dass die zuvor enge Verzahnung von Unterrichts- und Heimarbeitspraktiken (vgl. Kap. 2.4.6) mittlerweile gelockert ist. Doch wie stellt sich die veränderte Situation auf der Ebene des Unterrichts dar? Sind die Praktiken des Schulerfolgs identisch geblieben? Wie gehen die Kinder mit Situationen der Leistungsbewertungen und mit Noten um? í Es folgen in den nächsten Kapiteln Beobachtungen aus der fünften und siebten Klasse. 2.5.1 Rückgaben und Zeugnisausgabe fünfte Klasse Zum Zeitpunkt der fünften Klasse zeigen die Schülerinnen und Schüler meistens sehr gute oder gute Leistungen in Prüfungen und Tests. Mit der zweiten Klassenarbeit in Mathematik fängt die Klasse an, sich notenmäßig auszudifferenzieren. Allmählich ziehen nach und nach schlechte Noten in den Schulalltag ein, auch wenn sie lange Zeit noch Seltenheitswert haben. Dieser Prozess wird im weiteren Verlauf anhand markanter Situationen nachgezeichnet: Zunächst wird ein besonders gut ausgefallener Test Gegenstand der Betrachtung sein, dann folgt eine Lehrerinnenansprache angesichts einer schlecht ausgefallenen Klassenarbeit sowie eine Rückgabesituation. Den Höhepunkt und Abschluss des Kapitels bildet die Halbjahres-Zeugnisausgabe zur fünften Klasse, welche ausführlich dargestellt und analysiert wird.
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Rückgaben zum Zeitpunkt der fünften Klasse Die Mathematiklehrerin Frau Sommer gibt einen (sehr) gut ausgefallenen Test zurück:47 „SO! Ich gratuliere zur Eins ein Punkt durfte ja fehlen (.) Elsa ist nicht da (.) Johanna ist auch nicht da (.) und die auch nicht (.) ich gratuliere aber Annika zur Eins (.) [...] volle Punktzahl! Annika, klasse!“ Annika nimmt ihre Arbeit mit einem spöttischen Gesichtsausdruck entgegen. „Ich gratuliere [unverständl. Gemurmel, 8 Sek.] ich gratuliere zur Eins dem André [...] ich gratuliere der Rebekka zur vollen Punktzahl (.) klasse (.) du machst dir vorher immer so’n Kopf, Rebekka (.)“ [...] „Ruben hat auch volle Punktzahl (.) endlich!“ Ruben freut sich sichtlich. [...] „Paula hat keine volle Punktzahl (.) aber (.) ein Punkt durfte fehlen (.) was ich vorhin gesagt hatte du hattest…“ Paula unterbricht: „Sie wollten das gelten lassen weil [unverständl]“ – „Ach ja, du hattest das gesagt am Ende, stimmt am Ende. Geb’ ich dir (.) //Paula redet zeitgleich//) geb’ ich dir den Punkt noch. Ja, hattest mir gesagt. Kann mich jetzt erinnern. Aber an der Zensur ändert sich nichts, kannst null Fehler draus machen, okay? (.) Und! Kristin hat ne Eins! (.) Klasse.“ Kristin strahlt über ihr ganzes Gesicht.“ [...] „Zweien (.) für geringfügige Sachen, hat eine Aufgabe nicht gemacht (.) ein Punkt fehlt noch bei Bettina.“ Bettina schaut zufrieden. „Ne das ist falsch [unverständl., 2 Sek.] das war die von Sina.“ Sina nimmt ohne nennenswerte Reaktion ihre Arbeit entgegen und guckt sie sofort an.
Etwas befremdlich erscheint das überschwängliche, feierlich-förmliche Format, das die Lehrerin für die Rückgabe der Kurzkontrollen bemüht, und das man vielleicht eher im Kontext einer Zeugnisausgabe vermuten würde. Zuerst gratuliert die Lehrerin zu den Einsen mit voller Punktzahl, dann kommen die Einsen mit einem Fehler dran, und hiernach werden die Zweien ausgegeben. Darüber hinaus geht die Lehrerin sogar auf die aufgetretenen Fehler ein; die Schüler werden umfassend über die Ergebnisse der Kurzkontrolle in Kenntnis gesetzt. Obwohl Paula eine Eins hat, reklamiert sie sofort den angestrichenen Fehler und bekommt diesbezüglich auch Recht. Auch wenn sich an der Zensur nichts ändert, wie die Lehrerin anmerkt, darf nun Paula aus ihrer Eins eine Eins mit null Fehlern machen. Sie wird damit öffentlich zur Gruppe derjenigen gekürt, die die Kurzkontrolle am allerbesten bewältigt haben. Sowohl Paulas postwendendes Engagement als auch das Ausbleiben negativer Sanktionen seitens der Peers weisen darauf hin, dass es zu diesem Zeitpunkt einen bedeutsamen Unterschied macht, ob man eine Eins mit oder ohne volle Punktzahl bekommt. Auch dass Ruben nun endlich volle Punktzahl hat und sich sichtlich darüber freut, verdeutlicht die Differenzen, die im oberen Leistungsbereich sowohl von der Lehrerin als auch von den Schülern vollzogen werden. Es scheint, als ob durch den Rekurs auf Punktestände und Fehler diejenigen Differenzierungen in der Leistungs47 Diese Szene ist ebenfalls behandelt worden in: Breidenstein/Meier/Zaborowski (2008).
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bewertung gemacht werden können, welche durch die Noten „Sehr gut“ und „Gut“ nicht abgebildet werden können. Diese Differenzierungen im Bereich von „Kleinigkeiten“ werden durch diese Rückgabepraktiken wahrnehmbar gemacht und dadurch als bedeutsame hergestellt. Mit der Ausgabe einer vergleichsweise schlecht ausgefallenen Klassenarbeit in Mathematik, in der es sogar drei Fünfen gab, erreicht der beginnende Prozess der allmählichen Ausdifferenzierung des Notenspektrums ein neues Niveau. Die Schülerinnen und Schüler waren laut Frau Sommer regelrecht geschockt, einige Kinder haben geweint. Die Klausur wurde kurz vor den Weihnachtsferien von der Lehrerin zurückgeben. Am ersten Schultag im Neuen Jahr greift die Lehrerin das Thema „Mathematikarbeit“ erneut auf: „Ich begrüße euch alle, ich sehe, ihr seid gut ins Neue Jahr gekommen.“ Friedemann laut hinter mir: „Na ja.“ – „Wie na ja?“, fragt eine verdutzte Frau Sommer: „Wer ist nicht gut ins Neue Jahr gekommen?“ Friedemann (und vielleicht noch andere) melden sich. „Na ja, ich wünsche euch jedenfalls Alles Gute!“ – „Danke!“ – „Ich wünsche Euch, dass ihr alles was ihr euch vornehmt, eure Wünsche und Träume in Erfüllung gehen. […] Dass in der Familie alles okay ist oder bleibt, das hat jeder verdient. Ich hoffe, dass ihr die Ergebnisse der Klassenarbeiten verdaut habt. Sie sind ja nicht alle so gut ausgefallen. Ich muss euch aber auch sagen, ihr seid von der Grundschule zum Gymnasium gewechselt. Da ist nicht alles Sonnenschein. Manche haben 3 und schlechter bekommen. Das sind für euch ungewohnte Noten. Damit zurecht zu kommen ist sehr wichtig, ihr müsst lernen, das wegzustecken. Ihr müsst damit klarkommen. Das ist wichtig, das zu lernen. […] Die Halbjahreszeugnisse bekommt ihr bald. Nächste Woche ist Klassenkonferenz. Auch die gewählten (Eltern-)Vertreter dürfen dabei sein. Die Fachlehrer bekommen dort auch einen Überblick. Dann kann auch der Fachlehrer die Schüler besser verstehen, einordnen. Er selbst kennt ja den Schüler als sehr guten oder nicht ganz so guten nur in seinem Fach. Ihr sollt aber nicht erschrocken sein über die Noten (des Halbjahreszeugnisses). Ihr solltet ja vorher die eigenen Noten kennen – kennt ihr ja auch. Dass dann keiner in Ohnmacht fällt bei den Zeugnisnoten.“ – Gelächter im Klassenraum. – „Hat noch jemand eine Frage?“
Im Gegensatz zur Rückgabe des sehr gut ausgefallen Tests muss die Lehrerin die Differenzen, die die Klassenarbeit erzeugt hat, nicht verstärken, sondern begrenzen. Während es in der Testrückgabe darum ging, feine Differenzen zwischen (sehr) guten Noten zu erzeugen, versucht die Lehrerin nun, die erzeugten Unterschiede einzuebnen, indem sie als normal für ein Gymnasium dargestellt werden. Stellte die feine Differenzierung im Bereich der (sehr) guten Noten für die derart unterschiedenen Schüler kein wirkliches Problem dar, bedeutet eine ausdifferenzierte, das gesamte Notenspektrum nutzende Leistungsbewertung zumindest für diejenigen Schülerinnen und Schüler eine Bürde, die von mangelhaften Beurteilungen betroffen sind. Der Schüler habe í so die Forderung der Lehrerin í mit seinen Noten klarzukommen, sie zu „verdauen“. Das heißt, die Lehrerin fordert einen privaten, eigenverantwortlichen und diskreten Umgang mit schlechten Noten ein. Während gute Noten weiterhin im Raum der Öffentlichkeit gefeiert
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werden (können), wird der als privates Versagen deklarierte Schulmisserfolg nicht mehr im Rahmen der Gemeinschaft bearbeitet. Es ist zu vermuten, dass sich auf den Hinterbänken der Klasse lokale Deutungszirkel und Praktiken herausbilden, welche sich schul- bzw. leistungsaffirmativ ausgestalten können í aber nicht müssen. Mit der Forderung der Lehrerin ist folglich eine Sollbruchstelle zwischen Schul- und Peerkultur markiert, da die Privatisierung des Diskurses im Fall schlechter Leistungen nur um den Preis einer Entkoppelung vom schulaffirmativen Klassendiskurs zu haben ist. í Es folgt eine Szene zum Zeitpunkt der fünften Klasse, in der die Schülerinnen und Schüler eine Klassenarbeit zurück bekommen. Frau Sommer sucht die Klassenarbeiten heraus, sagt die Note der jeweiligen Schüler an und gibt dann Paula die dazugehörige Arbeit zum Austeilen. Sie sollen die Arbeit genauestens angucken, mahnt die Lehrerin. Friedemann prüft seine Arbeit sofort, als er sie bekommt. Dann schlägt er entnervt mit der Hand auf, als er einen Fehler sieht. Hermann dreht sich zu ihm herüber und zeigt auf Friedemanns Arbeit und fragt: „Darf ich mal?“ Friedemann reagiert nicht. Hermann will ihm daraufhin seine Arbeit wegziehen, aber Friedemann sagt: „Später.“ Er zählt die Punkte nach und sagt dann – als er fertig ist – halblaut zu sich „alles okay“ und reicht seine Arbeit nach vorn zu Hermann. Kristin fragt Hermann: „Was hast Du? Was hast Du?“ Hermann sagt nichts, zeigt aber die mit allen Fingern ausgestreckte Hand. Kristins mimische Reaktion auf seine Geste ist undifferenziert. Frau Sommer kommt nun noch einmal auf die besten Arbeiten zu sprechen: André und Noah, Annika, Carmen, Moritz und Kristin. Frau Sommer geht zu Kristin und hält ihre Arbeit hoch. Obwohl sie auf nicht liniertes Papier geschrieben habe, sei diese Arbeit sehr ordentlich, lobt sie.
Angesichts des Umstandes, dass die Lehrerin klassenöffentlich die Noten verkündet, bleibt unverständlich, warum Kristin dennoch von Hermann wissen will, wie seine Klassenarbeit benotet wurde. Ging die Ausgabe zu schnell? War Kristin abgelenkt? Sucht sie einen unverfänglichen Anlass um Hermann zu trösten? Eine gute Gelegenheit für Häme? í Trost wird es jedenfalls nicht gewesen sein, denn Kristin unternimmt im Fortgang der Szene keinerlei Anstalten, Hermann aufzumuntern. Die genauen Motive sind Spekulation, aber ganz grundsätzlich ist es für Schüler interessant, die Noten der anderen zu erfahren, da dieses Wissen die eigene Note in besonderer Weise ‚gewichtet‘: Die einzige Eins in einem schlechten Notenbild hebt den Wert dieser Note, eine Eins unter vielen weiteren nimmt ihr die Exklusivität. Und andersherum gilt dies auch für schlechte Noten. Eine Fünf unter vielen weiteren gilt durchaus als verzeihlich. Mit dem öffentlichMachen des Zensurenspiegels befriedigt die Lehrerin diesen Reiz, und die Suche der Schülerin nach der besten und der schlechtesten Note dient sicherlich (auch) der leistungsmäßigen Selbstverortung. Hermann jedenfalls antwortet Kristin nicht, aber er zeigt ihr (ohne Mimik) den Zahlenwert seiner Note. Das heißt, er befriedigt ihre Neugier und outet sich mit seiner Fünf. Zeigt er keine mimische und verbale Reaktion, um sich als cool darzustellen? Befriedigt er ihr Interesse,
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da er weiß, dass Kristin so lange herum fragen würde, bis sie per Ausschlussverfahren Hermann als ‚Fünfer‘ identifiziert hat? Kristin ihrerseits reagiert auf das Handzeichen von Hermann mimisch undifferenziert. Tut sie dies, da Hermann keine Emotionen darstellt? Soll dies ebenfalls eine coole Reaktion sein? Hat sie es schlicht erwartet? Würde sie Gefahr laufen, herablassend zu wirken, wenn sie Mitleid zeigen würde? í Und wieder sind die Motive Spekulation, aber sicher ist, dass Kristin situativ durch ihr gezieltes Nachfragen eine asymmetrische Situation herstellt, in der sie Hermann eine inferiore Position zuweist: Sie nimmt sich das Recht heraus, ihn mehrfach zu befragen und erwartet, dass er Rede und Antwort steht. Den Schülerinterviews, die kurz vor den Halbjahreszeugnissen der fünften Klasse entstanden sind, können Hinweise entnommen werden, wie sich solche Rückgabesituationen aus Sicht der betroffenen Schüler darstellt: Klaus-Maria Interviewer Klaus-Maria
Na, manche Schüler sind dann ein bisschen gemein ja und fragen dann immer andere und wollen wissen, wer hat die Vier gekriegt und so was. Und ähm, ich unterhalte mich auch manchmal mit ein paar Freunden über die Noten, und das ist auch nicht schlimm, finde ich.
Das Gemeine dieser Praxis scheint vor allem im ungewollten Outing zu liegen. Von dieser Praxis grenzt Klaus-Maria seine eigene, „nicht schlimme“ Praxis ab. Sich mit Freunden über die Noten zu unterhalten ist etwas anderes als die klassenöffentliche Suche nach den Vierer- oder Fünferkandidaten. Annika beschreibt die Situation so: Annika Also ich hab denen einfach gesagt, dass ich da, also dass sie zum Beispiel [unverständl.] damit aufziehn dann sag ich (.) dann zieh ich also dann zieh ich sie sozusagen auch mit (.) also wenn sie zum Beispiel mich damit aufziehn, äh du hast ja ne Vier, dann sag ich äh du hast dort ne Vier! Interviewer mhm Annika also weil sie dann (..) Interviewer Passiert das, dass ihr euch ehm, so mit Noten aufzieht? Annika Also, bei mir ham das jetzt nich so viele gemacht. Eine glaube ich mal, zwei. Aber die kenn ich schon aus der Grundschule und die kenn mich eigentlich genau, und (.) die wissen, dass ich das mache.
Annikas Wahrnehmung zufolge geht es in dieser Praxis im Wesentlichen darum, Schüler aufzuziehen. Um Häme und Spott entgehen zu können, hat sich Annika eine scheinbar recht erfolgreiche Strategie zurechtgelegt, um nicht mit schlechten Noten aufgezogen zu werden. Um ihre Strategie zur Anwendung bringen zu können, muss Annika sich einen Überblick über den Leistungsstand der Klasse erarbeiten, um im richtigen Moment kontern zu können. Damit der Konter funktioniert, muss Annika ebenso wie ihre Mitschüler die schlechten Noten herausfinden. Ihre Strategie des ‚Vergeltungsschlages‘ gründet in denselben Praktiken wie diejenige des Aufziehens: Das gemeinsame Ziel beider Praktiken ist es, das
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herausgefundene Wissen als Munition gegen die Mitschüler zu verwenden, sei es zum Zwecke des Angriffs oder nur zur Vergeltung. Neben Klaus-Maria und Annika beklagt auch Friedemann die Praxis seiner Mitschüler: Friedemann Interviewer Friedemann Interviewer Friedemann Interviewer Friedemann Interviewer Friedemann Interviewer Friedemann Interviewer Friedemann Interviewer Friedemann Interviewer Friedemann Interviewer Friedemann
Jaaa ne Note ist eigentlich (..) also mein Vati sagt eigentlich immer Noten sind sinnlos. Hm. Also weil die die (.) äh (.) weil die wie soll ich sagen (.) also (.) für mich sind sie eigentlich (.) auch (.) nicht so gut weil man wird dann auch gehänselt wenn man ne schlechte Note kriegt. Ja (.) ja. Und das ist eigentlich nicht so gut. Hm. (..) Dann wird gehänselt (.) sagst du. Ja. Wer hänselt denn? Die ne gute Note haben. Aha. Hm. Meistens. Was machen-sagen die da so (.) was machen die da? Jaaa (.) die hänseln einen nicht (.) so (.) so direkt aber die (.) ärgern einen eben damit weil man ne schlechte Note hat. Hm. Und wie wie wie mmm (.) machen die das zu ärgern? Wie ärgern die? Mit Wörtern ebend. Ja. Was sagen die denn so? Die beschimpfen einen sozusagen. Die beschimpfen einen? Was sagen sie denn da? (.) Dummkopf? Oder was sagen se? Also sozusagen (.) Dummkopf eben.
Dass Friedemann bei der Frage nach den Noten zügig auf das Thema des Umgangs seiner Mitschüler mit Noten zu sprechen kommt, unterstreicht die soziale Bedeutung dieser Praktiken. Schlechte Noten werden nach Friedemann zum Anlass genommen zu hänseln, aber er kann im Rahmen des Interviews keinerlei Belegerzählung liefern. Der Interviewer legt ihm schließlich „Dummkopf“ in den Mund, was Friedemann „sozusagen“ bestätigt. Es ist also nicht anzunehmen, dass sich die Kinder wirklich auf diese Weise beleidigen (und es ist auch nicht beobachtet worden). Vielmehr verweist diese Stelle im Interview darauf, dass die Praxis des Hänselns und Aufziehen derart subtil ist, dass es Friedemann nicht gelingt, sie besser als in Analogien zu beschreiben. Schließlich sagt er auch: „die hänseln einen nicht (.) so (.) so direkt.“ Möglicherweise ist die Szene, in der Kristin nach der Note fragt und anschließend ausdruckslos guckt (vgl. oben), genau so eine Szene, die Friedemann zu verbalisieren versucht. Man muss wahrscheinlich Betroffener der Situation sein, um die Bedeutung der feinen Nuancen in Mimik und Schweigen zu verstehen. Aber jenseits eines möglichen despek-
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tierlichen Gehaltes ist allein die Tatsache der Beobachtung durch die Mitschüler gemein48, denn nun wird der Schüler gewahr, dass er nicht nur gegen die schulischen Leistungsnormen verstoßen hat, sondern ebenso gegen die schulaffirmative Peerkultur. Schulisches Scheitern ist doppelt bedrohlich: Neben den Sanktionen, die der Schüler durch Schule und Elternhaus befürchten muss, erlebt er í wenn auch sehr subtil í eine Deklassierung durch seine Mitschüler. Er läuft Gefahr, aus der Gemeinschaft der Klasse herauszufallen. Schulische Anforderungen und peerkulturelle Orientierungen sind zum Zeitpunkt der fünften Klasse weitestgehend kongruent. Doch wie stellt sich das Verhältnis von Peerkultur und schulischer Orientierung in der Zeugnisausgabe dar, die den Höhepunkt des ersten halben Schuljahres darstellt? Das Halbjahreszeugnis fünfte Klasse Frau Sommer begrüßt die aufgeregten Schüler mit einem „guten Tag“ und ein starker Schülerchor grüßt zurück.49 Im Anschluss fragt die Lehrerin die Klasse, ob sie ein schönes Frühstück im Englischunterricht gehabt hätten. Und ob es geklappt habe, die zwei Stunden Frühstück auf Englisch zu bestreiten. Die Schüler bejahen dies. Frau Sommer fährt fort: „So, ihr könnt jetzt erst mal eure Mäppchen zu machen, ihr seid voller Erwartung, das kann ich ja auch verstehen, auf das Zeugnis, von dieser Schule, und für manche das allererste auf dem richtige Zensuren drauf stehen, aber ihr müsst euch noch ein bisschen gedulden, ihr habt ja heute schon eine Stunde früher Schluss. Die Zeugnisse gibt es in der fünften Stunde, das heißt in dieser Stunde aber nicht gleich zu Anfang. Zunächst will ich euch erst mal ein Gedicht vortragen und dann will ich von euch dazu was hören. (..) So. (.) Ich bin ich und du bist du (.) Wenn ich rede (.) hörst du zu (.) wenn du sprichst (.) dann bin ich still (.) weil ich dich verstehen will (.) wenn du fällst (.) helf‘ ich dir auf (.) und du fängst mich (.) wenn ich lauf (.) wenn du kickst steh ich im Tor (.) pfeif ich Angriff (.) schießt du vor (.) spielst du Pong dann spiel ich Ping (.) und du trommelst wenn ich sing (.) allein kann keiner diese Sachen (.) zusammen können wir viel machen (.) ich mit dir und du mit mir (.) das sind wir (..) das hat eine Schülerin geschrieben, einer sechsten Klasse! (.) Irmela Bender. (.) Was meint‘a, weshalb hab ich euch (.) ein solches Gedicht vorgelesen?” Kein Schüler meldet sich. Frau Sommer fragt, ob es denn dazu Fragen gäbe. Es gibt keine. Die Lehrerin hakt nach und mühsam tragen sich die gesuchten Antworten zusammen. Frau Sommer resümiert schlussendlich: „Also im Prinzip die sechs Schüler die sich jetzt geäußert haben (.) eins zwei drei vier (.) fünf (.) haben das richtig er48 „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt“ (Foucault 1977: 260). 49 Die hier präsentierte Szene wurde ebenfalls behandelt in: Breidenstein/Meier /Zaborowski (2007).
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kannt (.) die anderen die wollen bestimmt nicht mehr so richtig überlegen (.) oder wollen sich jetzt nicht mehr äußern (.) da steckt eigentlich dahinter (.) dass (.) nur die Klassengemeinschaft (.) es zu was bringen kann (.) dass man also (.) wenn jemand Hilfe braucht (.) auch Hilfe gibt (.) jetzt nicht nur wenn er hinfällt (.) oder so (.) sondern auch (.) wo zum Beispiel? (...) Moritz?” – „Bei den Hausaufgaben!” – „Oder wo Kristin?” – „Beim Lernen, wenn man sich Vokabeln abfragt…” –„Ja! Oder Laura?” – „Beim Malen, außerhalb der Schule…” – „Ja, richtig. So dass man dann Beistand einfach so leistet wenn einer mal in Not ist wenn’s einem ma nicht gut geht (.) wenn’s Ärger gab (.) da hilft doch manchmal schon irgendein tröstendes Wort (.) ja, oder (.) überhaupt mal Hilfe anbieten.”
Der Protokollausschnitt zeigt die vielschichtige Rahmungsarbeit, die die Lehrerin der Zeugnisausgabe voranstellt. Zunächst spricht sie ein unverfängliches Thema an (die Frühstückserlebnisse), um dann in einem beinahe feierlichen Tonfall auf die bevorstehende Zeugnisausgabe überzuleiten. Sie greift die erwartungsvolle und gespannte Situation der Schüler auf und kündigt ein Gedicht samt Diskussion an. Ein Effekt dieses Auftaktes besteht in der Verzögerung der Ausgabe und einhergehend mit einer Erhöhung der Spannung. Aber warum stellt die Lehrerin zunächst eine feierliche Stimmung her, um sie durch die Ankündigung einer Diskussion sofort zu unterminieren? Will sie auf diesem Wege sicher gehen, dass die Botschaft des Gedichtes ankommt? í Die Schüler jedenfalls lassen die Lehrerin (zunächst) ins Leere laufen. Ihre Reaktion ist verständlich: Sie erwarten eine Zeugnisausgabe und sind auf genau dieses Ereignis eingestellt. Erst als die Lehrerin auf dem Gespräch insistiert, vollziehen die Schüler den Rahmenwechsel Unterricht mit und beantworten die Fragen der Lehrerin. Die Lehrerin beschwört anschließend die Klassengemeinschaft und die kameradschaftliche Hilfe für in Not geratene Mitschüler. Dieses moralische Plädoyer steht in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis zur bevorstehenden Zeugnisausgabe. Die Beschwörung der Klassengemeinschaft erscheint angesichts der anstehenden Zeugnisausgabe wie ein Versuch, die differenzierende Leistung eines Zeugnisses im Vorfeld der Ausgabe auf der Ebene von Klassengemeinschaft zu begrenzen. í Im weiteren Fortgang kommt die Lehrerin auf den ersten Tag der Schüler an dieser Schule zu sprechen. Im Tonfall einer Beschwörung mobilisiert sie ein lang zurückliegendes Ereignis ihrer gemeinsamen Geschichte. Sie erinnert die Schüler an ihre Begrüßung in der Aula, die Gespräche im Klassenzimmer und dass sie sich damals für ihre Motive der Schulwahl interessiert habe. Frau Sommer: „Erinnert ihr euch?” – Chor: „Jaaa.” – „Den Zettel. (..) den ihr ausgefüllt habt, warum ihr hierher gehen wollt. (.) Ich hatte euch auch gefragt, ob ihr zuhause auch einen eigenen Arbeitsplatz habt und was eure Lieblingsfächer sind (.) und so weiter und so fort. (.) Ich hab die mir (.) als ich eure Zeugnisse zusammen geschrieben habe (.) und die Zensuren gesehen hab (.) da hab ich mir das alles noch mal herbei geholt (.) und hab das mal so verglichen mit dem (.) was ihr aufgeschrieben habt (.) welche Erwartungen ihr hattet (.) und was jetzt nach dem halben Jahr (.) hier herausgekommen ist (.) und ich wollte jetzt eigentlich von euch (.) dass ihr hier mal
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aufschreibt (.) jetzt nach dem halben Jahr (.) das ihr mal Bilanz zieht (.) äh (.) was euch jetzt insbesondere hier äh gefallen hat (.) was eingetroffen ist von dem (.) was ihr euch so vorgestellt habt (.) was nicht so ist wie ihr das vielleicht gedacht habt (.) das wollte ich auch wieder von euch haben.”
Frau Sommer blickt nun auf die Erwartungen der Schüler zurück, die sie an ihrem ersten Schultag im Gespräch äußerten und in einem Fragebogen schriftlich fixierten. Interessant ist, dass die Lehrerin für die Interpretation der Zeugnisse die Erwartungshaltungen der Schüler heranzieht. Damit markiert sie Distanz zur Aussagekraft eines nackten Zeugnis-Zahlenwertes und stellt das Zeugnis in einen erweiterten Deutungshorizont. In dieser Perspektive kann ein Schüler, der die Erwartung formulierte, die fünfte Gymnasialklasse (‚nur‘) bestehen zu wollen, vollauf zufrieden sein, wenn er ein mittelmäßiges Zeugnis ausgehändigt bekommt. Doch bevor die Schüler ihr Zeugnis ausgeteilt bekommen, sollen sie das Halbjahr aus ihrer Sicht bilanzieren und der Schule sowie ihrer Klasse eine Rückmeldung geben. Diese Bilanzierung geschieht in Form einer Schülerbefragung í die allerdings auf positive Rückmeldungen (mir gefällt...) begrenzt ist und bestenfalls indirekt Schlüsse auf Mängel zulässt. Damit relativiert Frau Sommer erneut die Aussagekraft des ausstehenden Zeugnisses, wenn sie im Vorfeld des Aushändigungsaktes die Schüler zur Schule befragt und sich von ihnen ein Feedback geben lässt. Nachdem die Schüler ca. zehn Minuten lang die Fragen beantwortet haben, kehrt Frau Sommer zum Thema Zeugnisse zurück, zögert aber erneut die Ausgabe heraus, um eine allgemeine Aufklärung über das Zeugnis zu geben. Die Jungen reagieren mit ironisch-ostentativem Leid. Die Lehrerin erläutert, wie viele Fächer es gibt, welche Zusatzfächer keine Noten vergeben, um dann auf die Noten ohne Fächer zu sprechen zu kommen: die sogenannten Kopfnoten. Ausführlich erklärt Frau Sommer, worüber diese Noten Auskunft geben (sollen) und wie sie zustande kommen. Ihre Ausführungen haben insgesamt einen nüchtern-erläuternden Gestus und sind auf Vollständigkeit bedacht. Nach diesen Ausführungen nennt Frau Sommer die Zahl der vergebenen Fachnoten (insgesamt 260) sowie die Zahl der vergebenen Einsen (74) und Zweien (133). Einige Schüler jubeln verhalten. Frau Sommer: „Und jeder von euch hat Einsen und Zweien in der Mehrzahl. Jeder von euch! (.) Ja?! (.) Ich war also ganz erfreut. Und die zur Klassenkonferenz da waren Johanna (.) Greta (.) Annika und Elsa haben das ja auch alles mitbekommen (.) dass die Fachlehrer euch so toll eingeschätzt hatten (.) und entsprechend sieht auch das Ergebnis aus (.) also nach dem halben Jahr die Bilanz (.) hier ziehen können (.) ist eigentlich äh ganz toll (..) es gab nur Einsen und Zweien ein paar wenige Dreien und noch weniger Vieren (..) also hoffentlich macht ihr macht weiter so (.) dass wir den einen oder anderen Wunsch (.) dann auch noch hier erfüllen können.“
Angesichts der ausgesprochen guten Zensuren erstaunt die Arbeit, die sich die Lehrerin zuvor mit den verschiedenen Rahmungen gemacht hat, die das Zeugnis
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begrenzen sollten. Jeder Schüler hat Einsen und Zweien in der Mehrzahl. Galt der ganze Vorlauf also den Schülern, die auch Dreien und Vieren auf ihrem Zeugnis bekommen? Sind dies also die Noten, die die Schüler der Klasse bereits traurig machen, ja vielleicht sogar schon in Not bringen können? Oder drückt sich hier ein ambivalent-gebrochenes Verhältnis der Lehrerin zu den Zeugnissen aus? í Anschließend erläutert Frau Sommer, was Kernfächer sind und welche Noten die Schüler auf ihrem Endjahreszeugnis mindestens haben müssen, um versetzt zu werden. Auch diese Ausführungen geschehen (analog zu den Kopfnoten) im Modus technischer Aufklärung. Kein Schüler ist von Versetzungsproblemen betroffen. Warum erläutert Frau Sommer angesichts der (sehr) guten Noten der Klasse die Versetzungsbedingungen so ausführlich? Darf sie ohne die formalen Hinweise nicht zum Akt der Aushändigung fortschreiten? „So! (.) ich will jetzt wie folgt machen (.) möchte jetzt das ihr vielleicht (.) ich hab mal versucht vielleicht (.) man kann die Sachen so beschreiben, eure Lieblingsfächer wo ich so dachte (.) das ihr euch mal vielleicht selber erratet (.) ich will das nicht in einer bestimmten Reihenfolge machen die Zeugnisse ausgeben (.) ich will ja keinen (.) der denn hier vielleicht der letzter ist hier (.) zensurenmäßig (.) obwohl es ein tolles Zeugnis ist (.) ich versuch ma vielleicht (.) erkennt ihr euch selber darin (.) in der Reihenfolge (.) ich ziehe hier jetzt einfach ein Zeugnis und sage was dazu (.) vielleicht erkennt sich der Schüler selber (.) oder auch die anderen (...) so! (.) ich sprech’ jetzt mal den Schüler selber an (.) ähmmm deine Lieblingsfächer sind wahrscheinlich Sport-Mathe (..) am meisten freust du dich auf die siebente Klasse (.) und zwar weil’s da Chemieunterricht gibt...“ Gemurmel im Klassenzimmer, zwei drei Stimmen: „Carmen.“ [...] Carmen meldet sich, etwas später dann auch André. „Wer meldet sich? (.) André meldet sich. (.) Carmen. (.) Na nicht schlecht getroffen deins hab ich André (.) komm hier.“ André steht auf und geht nach vorn. Die Lehrerin zeigt ihm an, dass er sich zur Klasse drehen soll: „André, dreh dich um.“ Lachen in der Klasse. André bekommt sein Zeugnis von Frau Sommer mit Händeschütteln überreicht: „André. Herzlichen Glückwunsch zu deinem hervorragendem Zeugnis. Du hast von den 74 Einsen 4 Stück. Fünf Zweien. (.) Eine Drei (.) aber die lässt sich verschmerzen (.) du hast deine Sache hier ganz toll gemacht (.) muss man sagen und ich hoffe du bist auch damit zufrieden (.) welche Wünsche du hast das werde ich dann ja lesen (.) ja?! Glückwunsch André.” Die Klasse klatscht sehr laut für acht Sekunden. „Die die noch kein Zeugnis haben (.) vielleicht können die sich solange gedulden. Ja?!”
Die Art und Weise, in der Frau Sommer die Zeugnisausgabe gestaltet, erstaunt. Sie versucht zunächst das Verfahren eines Spiels zu erläutern, aber ihr fehlt für das Spiel der Name ebenso wie die genaue Idee des Vollzuges. Deutlicher hingegen ist ihr, was sie nicht machen will: Sie will die Zeugnisvergabe nicht unter Leistungskriterien gestalten. Das Spiel í so scheint es í entwickelt die Lehrerin ad hoc im Vollzug. André ist der erste Schüler, der nach vorn gerufen wird, und er weiß noch nicht, wie er stehen und das Zeugnis in Empfang nehmen soll. Daher muss er von der Lehrerin noch ‚in Position‘ gedreht werden, was Lachen hervorruft. Mit dieser Positionierung eröffnet die Lehrerin das Bühnenformat der
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Zeugnisausgabe. Die Mitschüler beklatschen das Ereignis und etablieren die Ausgabe der Zeugnisse erneut als Feier. Der Effekt des vorgeschalteten Ratespielchens liegt wahrscheinlich darin, dass es die Aufmerksamkeit aller Schüler binden und auf die Personenbeschreibungen der Lehrerin í und nicht auf das Zeugnis í lenken soll. Andererseits dient die Charakterisierung des Schülers zugleich der Zuordnung zum Zeugnis. Auf diese Weise rücken í wenn auch subtil í die Persönlichkeit des Schülers und seine Zensuren zusammen. Kann eine parallele Behandlung von Personenbeschreibung und Zeugnis im Rahmen einer Zeugnisausgabe überhaupt realisiert werden? Die Lehrerin jedenfalls würdigt das Zeugnis auch als Zensurenzeugnis. Sie benennt die Anzahl der jeweils erreichten Noten, welche wiederum als Grund für Gratulation und Lob herangezogen werden. Auch die folgenden (sieben) Zeugnisse werden von Frau Sommer mittels des Ratespielchens ‚ausgelost‘. Die Schüler werden nach vorn gerufen und bekommen ihre Anzahl der Einsen und Zweien benannt. Gibt es nur eine Drei auf dem Zeugnis, wird diese von der Lehrerin klassenöffentlich als Ausrutscher betitelt. Bei der neunten Schülerin angelangt geht es auf das Ende der Stunde zu. Die Lehrerin bleibt zwar im Modus des Ratespielchens, aber sie gestaltet die Rätsel nun so leicht, dass sich die Schüler sofort erraten können. Beim 15. Schüler gibt die Lehrerin ihr Ratespielchen auf, da das Ende der Stunde unmittelbar bevorsteht. Nun ruft sie die Schüler namentlich auf und bittet sie nach vorn. Auf die Präsentation der Einsen, Zweien und Dreien verzichtet sie nun auch. Ein zusammenfassendes Lob („hervorragend“, hat sich gut geschlagen) tritt an die Stelle dezidierter Aufzählungen. Die letzte Schülerin ist Greta. „So komm hoch Greta! (.) guck mal was du dir hier für Wünsche aufgeschrieben hast (.) vielleicht lässt’s sich möglich machen und das eine oder andere erfüllen.” Greta steht vorn und fummelt an ihrer Kette nervös herum. „Du hast ja selber hohe Erwartungen an dich (.) und (.) vielleicht gelingt’s dir ein bisschen besser am Schuljahresende, (.) aber auch bei dir gibt es keinen Grund hier irgendwie (.) traurig zu sein (.) oder (.) mit irgend ’ner Note nicht so zufrieden zu sein (.) Okay?!” 6 Sek. Klatschen. Greta nimmt ihr Zeugnis – man sieht es – tapfer entgegen. Ihre Wangen sind sehr rot. Damit löst sich die Zeugnisausgabe auf.
In dieser letzten Szene kommt noch einmal das Dilemma der Zeugnisausgabe zum Ausdruck: Das Ereignis soll für alle erfreulich sein; das Format ist das einer gemeinsamen Feier. Und doch ist zu befürchten, dass das Zeugnis für einige Schüler mit Enttäuschung verbunden ist. Selbst in dieser Klasse, die insgesamt sehr gute Zensuren erhält, gibt es „Gewinner“ (das klassenbeste Zeugnis wird namentlich genannt) und „Verlierer“ – bezogen auf die Rangfolge der Schulklasse nach Leistung oder bezogen auf die eigenen Erwartungen. Eine ganze Reihe der Elemente dieser Zeugnisausgabe scheinen in dieser impliziten, latenten Problematik zu gründen: die befürchtete selektive Wirkung
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dieses ersten Zeugnisses der neuen Schule im Rahmen der Schulklasse. Die Beschwörung der Klassengemeinschaft mittels des Gedichtes, die Einbeziehung der Schülerinnen und Schüler und der Rekurs auf deren eigene Erwartungen, das pauschale Lob der Gesamtleistung der Klasse – all das dürfte durch die Sorge vor der Differenzierung und Sortierung der Schulklasse in „bessere“ und „schlechtere“ Schüler motiviert sein, wobei diese Sorge vor allem dem Umgang der Schülerinnen und Schülern gilt. Ein weiteres Dilemma der Codierung von „Leistungen“ in Zensuren wird in der Beobachtung der Zeugnisausgabe deutlich: Die Lehrerin bemüht sich, die Bedeutung der Noten zu kontextuieren und zu relativieren. Sie stellt die Zeugnisse in den Horizont der Erwartungen und Präferenzen der Schülerinnen und Schüler, sowohl im Vorfeld, als sie die jeweilige persönliche Bilanz des ersten halben Jahres erfragt, als auch im Rahmen der Aushändigung des Zeugnisses in Form des Ratespiels, das persönliche Charakteristika mit dem Zeugnis verknüpft. Die Zensur wird in diesen begleitenden Bezugnahmen in ihrer Absolutheit in gewisser Weise relativiert, zugleich bestätigen diese aber den Charakter der Zensur als ein fixiertes (und fixierendes) Ergebnis, das „nach dem halben Jahr hier herausgekommen“ sei. In diese Linie gehört auch die Aufklärung über die rechtlichen (`objektiven´) Vorgaben der Leistungsbewertung, die auch Bestandteil dieser Zeugnisausgabe ist. Das Zeugnis als das Ergebnis der Arbeit eines halben Jahres zu konstituieren und zu würdigen, stellt sich als die Bestimmung der gesamten vielschichtigen Inszenierung dieser Stunde dar: der feierlich-zeremonielle Rahmen, der Spannungsaufbau im mehrfachen Hinauszögern des eigentlichen Aktes der Aushändigung, die Würdigung der differenzierten rechtlichen Bedeutung der Zensuren in der detaillierten Aufklärung und das Bühnenformat im Nach-vorne-treten und im öffentlichen Applaus. Darin kooperieren die Beteiligten: Die Lehrerin, die Schülerinnen und Schüler (und der Beobachter) arbeiten zusammen, um die Bedeutsamkeit des Ereignisses der Zeugnisausgabe in Szene zu setzen. Alles in allem kann resümiert werden, dass sich die peerkulturellen Orientierungen der Schülerinnen und Schüler, ihre Praktiken im Umgang mit Bewertungssituationen und die schulischen Anforderungen eng miteinander verbinden. Alle Schülerinnen und Schüler sind gute Schüler í doch die Leistungsbewertung zeigt erste diskriminierende Effekte. 2.5.2 Rückgaben und Zeugnisausgabe siebte Klasse Im Unterschied zur fünften Klasse haben die die Hinterbühnen-Tätigkeiten (Zinnecker 2001, Heinze 1980) mit Ende des sechsten Schuljahres deutlich zugenommen. Das heißt, dass die Kinder nicht mehr ausschließlich mit ihren Praktiken auf den Unterricht ausgerichtet sind, sondern dass sie auch ihren eigenen
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Interessen nachgehen. Mit ihren Tätigkeiten nehmen sie sich eine kleine ‚Auszeit‘ vom Unterricht í im Unterricht. Friedemann entdeckt eine sehr kurze Kugelschreibermine als neues Spielzeug. Zunächst dreht er die Mine auf dem Tisch, dann saugt er sie mit einem Plastikröhrchen (ein zerlegter Kugelschreiber-Körper) an, dann ein, dann pustet er sie wieder heraus, wobei er einen Finger oben auf den Ausgang legt, so dass die Mine im Röhrchen bleibt. Die nächste Zeit ist er damit beschäftigt, die Mine im Röhrchen durch Saugen und Pusten hin und her zu bewegen. Annika kommuniziert per Handzeichen mit Sina. Peter, der neben Sina sitzt, macht Öhrchen über Sina, wahrscheinlich um Annika abzulenken. Klappt aber nicht, Annika verzieht keine Miene und ‚gebärdenspracht‘ weiter.
Während Friedemann Unterrichtsutensilien zweckentfremdet, um sich ein wenig neben dem Unterricht zu beschäftigen, aber vermutlich doch der Lehrerin zuhört, kommunizieren die Schülerinnen Sina und Annika ausgiebig mittels ‚Zeichensprache‘. Ihre Kommunikation orientiert sich am internationalen TaubstummenAlphabet und kann über alle Distanzen im Klassenzimmer erfolgen, sofern Sichtkontakt besteht (vgl. Breidenstein 2004b). Diese Form der Kommunikation benötigt höhere Aufmerksamkeit als die Nebenbeschäftigung von Friedemann. Die Mädchen werden vermutlich für die Zeit ihres ‚Taubstummen-Telefonates‘ dem Unterrichtsverlauf nicht wirklich gut folgen können, da die Worte der Lehrerin mit den Worten ihrer Kommunikation konkurrieren. Es ist erstaunlich, dass die Lehrerinnen und Lehrer dieses Verhalten zum Zeitpunkt der siebten Klasse in aller Regel tolerieren. Es scheint sich eine Art Gentlemans Agreement herausgebildet zu haben, das den Schülerinnen und Schülern Freiräume dieser Art zugesteht, sofern sie andere Schüler nicht allzu sehr vom Unterricht abhalten. Die Schülerinnen, die das ‚Taubstummen-Telefonat‘ betreiben, scheinen die Gesprächsdauer auch nicht über Gebühr zu strapazieren, so dass soziale Folgekosten in aller Regel ausbleiben. Sie wissen, welchen Zeitrahmen sie nicht überschreiten dürfen. Im Zeitraum der siebten Klasse hat sich allerdings eine Praxis unter den Schülerinnen herausgebildet, die von den Lehrerinnen und Lehrern sicherlich nicht mehr toleriert werden würde, wenn sie um das Ausmaß der Tätigkeiten wüssten. Hierbei handelt es sich um die Praxis des BriefbüchleinSchreibens. Diese Praxis hat eine exorbitante Dimension angenommen und kaum eine Unterrichtsstunde wurde von mir beobachtet, in der diese Praxis nicht zu sehen war. Die Schülerinnen besitzen mehrere Briefbüchlein, die sie ausschließlich mit ausgewählten Mitschülerinnen tauschen. Diese Bücher werden teilweise im Unterricht, häufiger aber noch in der Pause getauscht und während des Unterrichts gelesen und geschrieben. Kennzeichnend für diese Praktiken des Nebenengagements (Heinze 1980) ist es, dass sie die Unterrichtsordnung nicht stören und daher auch von den Lehrerinnen und Lehrern nicht wahrgenommen werden. Vom Pult aus sehen die Schülerinnen und Schüler äußerst fleißig aus, da sie
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aufrecht sitzen, immer wieder zum Pult blicken und í schreiben. Es scheint, als würden sie das Unterrichtsgeschehen intensiv verfolgen und sich an wichtigen Punkten Notizen machen. Die Praxis des Briefbüchlein-Schreibens unterläuft zwar den Sinn des Unterrichts, ohne dabei die Unterrichtsordnung in Frage zu stellen. Bennewitz fasst ihre Analysen zum ‚Zetteln‘ im Unterricht wie folgt zusammen: „Die Beurteilung dieser Praktiken entlang einer solchen Dichotomisierung (schülerkulturelle und unterrichtsfremde Aktivitäten) erweist sich als problematisch: Die Praxis des Zettelns ist insofern äußerst unterrichtsnah, als sich die ausgeführten Handlungen sehr geschickt in die bestehenden Unterrichtsbedingungen einpassen, wobei insbesondere das Arrangement des Frontalunterrichts sich als günstig erweist (Stift und Papier sind bereit zuhalten um gegebenenfalls Notizen zu machen, die eigene Beteiligung ist wenig selbstgesteuert, Pausen entstehen)“ (Bennewitz: 2009: 133).
Dass die Praxis des Briefbüchlein-Schreibens vor den Augen der Lehrerinnen und Lehrer mehr oder minder unentdeckt bleibt, liegt an der Raffinesse, mit der die Schülerinnen diese Praxis betreiben. Denn sie schreiben auch wichtige Sachverhalte í quasi parallel zur Aktivität des Briefbüchlein-Schreibens í von der Tafel ab oder nehmen sich Auszeiten, um phasenweise am Unterricht teilzunehmen. Sie wissen, dass sie sich ein paar Mal im Unterricht zu melden haben und das tun diese Schülerinnen auch. Alles in allem wirken die Briefbüchleinschreibenden Schülerinnen interessiert und fleißig, da sie auf der Ebene der Praktiken nach wie vor die erfolgreiche Schülerin darstellen. Die Praxis der Jungen kontrastiert hingegen deutlich mit derjenigen der Mädchen, da diese lieber miteinander im Unterricht reden oder flüstern, als sich zu schreiben. Diese Praktik stört nach einer kurzen Zeit; entsprechend werden die Jungen, die dies häufiger betreiben, von den Lehrerinnen und Lehrern ermahnt, leise zu sein und aufzupassen. Obwohl sie ebenso wie die Schülerinnen nur noch bedingt dem Unterricht folgen, geraten ausschließlich die Jungen in die Kritik: Ihre Praktiken unterscheiden sich kenntlich von denen einer braven Schülerin. í Doch was hat sich jenseits eines modifizierten Umgangs auf der Hinterbühne getan? Wie gehen die Schülerinnen und Schüler nun mit Situationen der Leistungsbewertung um? Ist die peerkulturelle Orientierung immer noch so eng mit den schulischen Anforderungen verbunden wie zum Zeitpunkt der fünften Klasse? Rückgaben zum Zeitpunkt der siebten Klasse Mit der Ausdifferenzierung des Notenspektrums hat sich sukzessiv die Praxis des Noten-Erfragens im Rahmen von Rückgaben geändert. Zum Zeitpunkt der siebten Klasse verneint Hermann im Interview, dass man „wirklich über Noten“ in der Klasse sprechen würde. Friedemann erzählt im Interview, dass einige
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Schüler ihre Arbeit nicht zeigen wollen, da sie eine schlechte Note hätten. Er bringt dieser Praxis durchaus Verständnis entgegen. Seiner Schilderung nach geht es im Gegensatz zu früher nun eher darum, Aufgaben zu vergleichen und Fehler zu korrigieren. Es wird daher vor allem nach guten Noten, also nach guten Arbeiten, zum Zwecke des Verbesserns gesucht. Ruben wiederum äußert im Interview, dass der „Klassenzusammenhalt viel größer“ geworden sei und dass er daher nicht mehr so nervös wäre wie zum Zeitpunkt der fünften oder sechsten Klasse, wenn er eine mündliche Leistungskontrolle an der Tafel bestreiten soll. Er wisse halt, er ... „werde jetzt nicht von allen dumm gemacht (bei einer schlechten Leistung), [...] und deswegen hat man dann auch keine Angst mehr sozusagen, irgendwas falsch zu machen.“
Auch der vergleichsweise schlechte Schüler Hermann betont im Interview den Aspekt des Austauschs der Arbeiten: „Na wenn er (der Sitznachbar) besser ist (eine besseren Note hat), dann frag ich ihn halt mal, ob er mir helfen kann.“ Die gute Note steht nun für eine Arbeit, die inhaltlich weitestgehend richtig ist. Diese Arbeiten sind zum Zwecke der Korrektur, insbesondere zum Finden von Fehlern begehrte Objekte. Die folgende Szene zeigt das Geschehen zum Zeitpunkt der siebten Klasse. Die Mathearbeiten sind ausgeteilt. Frau Sommer erläutert die Aufgaben. Friedemann geht aufmerksam durch seine Arbeit durch, vergleicht Fehler um Fehler. Während vorn an der Tafel Frau Sommer die Aufgaben der Arbeit, die erreichbaren Punkte, etc. darstellt, streichelt Sina mit einem Lineal den Rücken der vor ihr sitzenden Paula. Paula guckt mit einem verstört-ausdruckslosem Gesicht nach vorn zur Lehrerin, apathisch. Nun stützt sie ihren schwer wirkenden Kopf auf. Ob sie eine der Fünfen hat? Johanna und Laura verständigen sich per Blickkontakt. Johanna zeigt einen Finger und einen Daumen í sie hat eine Zwei. Sina ‚streichelt‘ mit dem Lineal den Rücken lang rauf und runter. Sie í man sieht es í versucht es möglichst zärtlich zu tun. Paulas Kopf ist nun heruntergefallen. Sina streichelt sie immer noch; in immer längeren Linien fährt sie den Rücken rauf und runter. [...] Sina streichelt immer noch Paula. [...] Während ich die Arbeiten von Friedemann und Carmen abfotografiere, suchen die Schüler die beiden Einsen. Friedemann fragt intensiv in der Klasse herum. André wird schnell gefunden, Tamara, Ruben und Moritz sind immer wieder im Gespräch. Gegen Ende der Besprechung fragt Frau Sommer, wer mit seiner Arbeit zufrieden sei. Ein Drittel der Klasse meldet sich. [...] Sina streichelt immer noch den Rücken von Paula. [...] Nach der Stunde gehe ich nach vorn zur Lehrerin und wir haben noch einen kleinen Schwatz. Paula hat tatsächlich eine der drei Fünfen.
Ganz im Einklang mit den Schüleräußerungen zeigen die Beobachtungen, dass nur noch die guten Arbeiten zum Zwecke des sich Vergleichens mit anderen, sehr guten Schülerinnen und Schülern, und zum Zwecke des Verbesserns gesucht werden. Eine öffentliche Suche „Wer hat die Fünfen?“ findet nicht mehr statt. Entweder scheint die Suche nach den Fünfen keinen Unterhaltungswert mehr zu bieten, oder es handelt sich um eine neue Übereinkunft, dass man dieses
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Verhalten nicht mehr praktiziert, da es jetzt nicht mehr als schicklich gilt. Zwar werden die schlechten Noten immer noch wahrgenommen, aber dies geschieht ‚halbprivat‘ im Kreis der Sitznachbarn und Freunde zum Zwecke des Tröstens und Beistand Gebens.50 Freundschaftsbeziehungen stellen für Fend (2005: 366) zentrale „Stützen für eine selbstwertschonende Verarbeitung schulischen Mißerfolgs“ dar. Sie scheinen auch in der Unterrichtssituation hoch bedeutsam zu sein. Freunde helfen offensichtlich ab dem Zeitpunkt der schlechten Nachricht. Im Unterschied zur fünften Klasse werden zwar gute Noten immer noch öffentlich gemacht und zelebriert, schlechte hingegen privatisiert. Das Leiden an schlechten Noten zeigt jedenfalls, dass nach wie vor die peerkulturelle Orientierung auf gute Leistungen weitestgehend besteht. Damit hat sich der Bruch zwischen Schul- und Peerkultur, der zum Zeitpunkt der fünften Klasse durch die Privatisierung schlechter Noten initiiert wurde (vgl. oben), noch nicht vollzogen: Trauern ist eine privatisierte und dennoch schulaffirmative Praktik. Wenn man sich vergegenwärtigt, dass sich im Zeitraum der siebten Klasse Distanz, Routine, Coolness und Abwertung schulischer Leistungen als peerkulturelle Praktiken etablieren, die auch genutzt werden, um mit Schulmisserfolg umzugehen, drängt sich die Vermutung auf, dass in diesen privatisierten Zirkeln der Hinterbühnen die schulaffirmativen Praktiken nach und nach durch schuldistanzierte und vielleicht sogar schuloppositionelle abgelöst werden. Da diese Veränderungen sich auf der Hinterbühne des Unterrichts ereignen, ist anzunehmen, dass sie sich von den Lehrerinnen und Lehrern unbemerkt vollziehen und erst dann auffallen, wenn sich Peer- und Schulkultur bereits entkoppelt haben. Jedenfalls stellt die Privatisierung des Umgangs mit schlechten Noten den Akteuren frei, wie sie sich zum schulischen Leistungsprinzip positionieren. í Abschließend wird gefragt, wie sich das Verhältnis von Peer- und Unterrichtskultur zur Halbjahreszeugnisausgabe der siebten Klasse zeigt. Das Halbjahreszeugnis siebte Klasse Ich setze mich nach hinten links auf den Platz neben Andrik í eine ungünstige Beobachterposition. Paula sieht mich kommen und meinen Blick auf ihre goldgeprägte Zeugnismappe fallen. Sie klappt die Mappe schnell zu. Es steht ein Pulk Mädchen auf der Höhe von Gretas Tisch; Greta steht daneben. Bei den Jungs gibt es eine kleine Ansammlung zwischen den Tischen von Tom und Friedemann. Es ist eine ausgelassene Stimmung im Raum wie vor jeder normalen Unterrichtsstunde. Es ist keine besondere Aufregung zu erkennen, auch kein Anflug einer feierlichen Stimmung. Nun 50 Wenn man den Blick weg vom Bedarf des Trostes hin zur Gelegenheit des Tröstens wendet, erweist sich die Situation als eine gute Gelegenheit, seine Freundschaftsbeziehung im Rahmen des Unterrichts darzustellen.
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hat sich ein Pulk Jungen bei Klaus-Maria und Anton gebildet, wobei die drei dort sitzenden Mädchen allerdings mit der Lehrerin Frau Sommer sprechen. Andrik ist nicht da. Die Kinder nehmen ihre Plätze ein, quatschen aber weiter. Paula kehrt zu ihrem Platz zurück, setzt sich hin und blättert in ihrem Zeugnis-Ordner. Ob sie schon mal die richtige Seite zum Abheften sucht? Nun kommt Johanna und setzt sich zu Paula. Die Sitzordnung scheint heute spontan verändert zu werden. Frau Sommer steht vorn und blättert in ihren Unterlagen, Johanna blättert in ihrem Zeugnisordner. Neben Friedemann (Mitte linke Bankreihe) ist noch ein Platz frei. Ich packe meine Sachen und ziehe zu Friedemann um. Dies ist eine deutlich bessere Beobachtungsposition! Johanna und Paula sitzen hinter mir. Vor mir sitzen Hans-Peter (rechts) und André R. (links). Mein Nachbar Friedemann entdeckt den Digital Voice Recorder (DVR) und spielt daran herum, spricht ins Mikrofon des DVR. Das tut er í abgesehen von einigen Unterbrechungen í die ganze Stunde über.51
Dieser Protokollausschnitt fängt die Situation des Wartens auf die Zeugnisausgabe ein und zeigt, was die Schülerinnen und Schüler in dieser Zeit tun. Sie reden miteinander und spielen í es ist eine ausgelassene Stimmung im Klassenraum. Ich erwarte eine besondere Atmosphäre im Klassenzimmer: sei es eine aufgeregte, nervöse oder feierliche Stimmung. Stattdessen finde ich aber eine Situation vor, die sich vor allem durch ihre Alltäglichkeit und Normalität auszeichnet. Das heißt, dass die Zeugnisausgabe für die Schülerinnen und Schüler keine besondere Situation (mehr) darstellt. Wenn man einmal davon absieht, dass die Schülerinnen und Schüler Zeugnismappen anstelle von Schulbüchern auf ihrem Tisch liegen haben, könnte man eine normale Unterrichtsstunde am späten Freitagvormittag (in einer siebten Klasse) erwarten. Doch im Unterschied zu einer normalen Unterrichtsstunde ist eine veränderte Sitzordnung auszumachen, die sich jetzt vor allem an Freundschaftsbeziehungen orientiert. Ferner fällt das flinke Zuklappen der Zeugnismappe auf, als ich die Szenerie betrete. Ist dies bereits als Indiz einer veränderten Befindlichkeit im Umgang mit Noten zu deuten? Kündigen sich hier erneut Privatisierungspraktiken an? Frau Sommer meldet sich zu Wort, sie wolle noch einen Vergleich zum letzten Schuljahr machen. Manche kichern. Jemand (vermutlich Friedemann) sagt ironisch mit vollem Pathos: „Was für ein Moment!“ í „In diesem Jahr habe nicht mehr jeder das Beste gegeben“, sagt Frau Sommer. Johanna und Paula hinter mir sind am Tuscheln und Kichern. Dies sei im Übrigen nicht nur ihre Meinung, fährt die Lehrerin fort, sondern das sei von den Fachlehrern zusammen getragen. Jedenfalls hätten einige noch Reserven, sie könnten mehr leisten. Friedemann kippelt während der Ansprache, dreht sich nach links und spricht mit Paula. Frau Sommer fährt fort: Sie wolle noch ein paar Punkte loswerden, die Schüler sollten mehr auf ihre Hausaufgaben achten. Das gehöre 51 Der Hauptgrund, warum auf die Transkription des Bandes verzichtet wurde, liegt darin, dass Friedemanns Monologe das Klassengespräch, sofern es angesichts des allgemeinen Trubels überhaupt verstehbar ist, überdeckt, und eine Transkription unverhältnismäßig mühselig machen würde. Eine ‚verlärmte Transkription‘ ist unter methodologischen Gesichtspunkten vielleicht interessant, ansonsten aber nahezu unbrauchbar.
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zum Lernverhalten, aber gehe auch in andere Sachen rein. Hans-Peter interessiert sich derweilen für den DVR und guckt sich das Gerät aus der Nähe an, Friedemann klopft auf den Tisch. Die Hausaufgaben sollten pünktlich, „ja sie sollten überhaupt gemacht werden“. Johanna spricht von hinten Friedemann an: „Fried! (..) Fried!“ Friedemann hört auf zu kippeln, wendet sich nun meinen Aufzeichnungen zu. Ich zeige ihm diese Stelle in meinen Notizen. Er könne sie nicht lesen, lässt er mich wissen. „Jetzt guckt Fried in meine Aufzeichnungen“, sage ich ihm. Er grinst. Frau Sommer vorn an der Tafel mahnt Zuverlässigkeit und Termine einhalten an, Hans-Peter interessiert sich derweilen mehr für das was ich tue. Tom sagt laut „aber“ und meldet sich. Von hinten sagt ein Mädchen „pssst“ zu Tom. Tom stellt seine Meldung wieder ein. Friedemann wendet sich wieder seiner Kugelschreibermine zu.
War in der Halbjahreszeugnisvergabe zur fünften Klasse noch eine enge Kooperation der Beteiligten auszumachen, kann sie nun nicht mehr als besonders eng bezeichnet werden: Der feierlichen Rahmung der Lehrerin stehen nun Praktiken gelangweilter Geschäftigkeit gegenüber. Die Formulierung, dass sich die Lehrerin zu Wort melden muss, um Gehör zu bekommen, ist in diesem Zusammenhang ebenso kurios wie von hoher Symbolkraft. So interpretiere ich als Beobachter die Eröffnung der Zeugnisausgabe als ein Ereignis, in dem die Lehrerin mit ihrem Bemühen, eine Feier zu etablieren, von Beginn an auf Widerstand stößt. Die Lehrerin beginnt ihre Ansprache mit einer Problematisierung der Schülerleistungen, aber bevor sie diese ausführen kann, kichern einige Schüler und sie erntet einen ironischen Kommentar. Das Kichern kann Ausdruck einer belustigten, peinlich berührten oder sogar einer selbst-distanzierten Befindlichkeit sein. Es kann sich auf die Lehrerin beziehen, aber es muss ihr nicht gelten. Zweifelsfrei hingegen gilt ihr der Schülerkommentar, der die Bemühungen der Lehrerin ironisiert, einen besonderen „Moment“ herzustellen. Indem der Schüler das ausspricht, was die Lehrerin herzustellen versucht, bestätigt er zwar einerseits den Versuch der Lehrerin, eine Feier zu etablieren, aber andererseits bricht er diesen durch das Bezeichnen des Momentes als besonderen Moment: Pathos verträgt keine Ironie. Mit diesem Ausspruch greift der Schüler nicht nur den Versuch der Lehrerin an, einen besonderen Moment zu etablieren, sondern ebenso ihre Absicht, auf die schlechten Schülerleistungen zu sprechen zu kommen. Frau Sommer lässt sich allerdings nicht beirren und fährt dessen ungeachtet fort und kennzeichnet ihren Erwartungshorizont: Mit der Verwendung des Superlativs (Bestes) stellt sie (nach wie vor) ihre sehr hohen Erwartungen heraus, an denen sie ihre Schülerinnen und Schüler misst. Zugleich formuliert Frau Sommer Kritik an der Klasse, da nicht mehr jeder sein Bestes gegeben habe. Damit man ihre Aussage nicht als subjektive Einzelmeinung auslegen kann, führt sie ihre Kollegen als Zeugen an und unterstreicht so ihre Generalschelte. Es erstaunt, dass sie trotz dieser Dramatisierung immer noch nicht in das Zentrum der Aufmerksamkeit rücken konnte. Mit ihren weiteren Ausführungen konterkariert sie ihre höchsten Erwartungshaltungen, wenn sie mahnt, dass überhaupt Hausaufgaben gemacht
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werden sollten. Es wird deutlich, dass die Diskrepanz zwischen dem Anspruch der Lehrerin und den zuhause-Praktiken der Schülerinnen und Schüler recht groß geworden ist (vgl. Kap. 2.4.6). í Die Ansprache scheint das Gros der Klasse nicht weiter zu beeindrucken. Die Kinder sollten Schwerpunkte setzen, sie sollten wissen, was sie machen wollten, setzt Frau Sommer ihre Ansprache fort. Dann schreibt sie die besten und schlechtesten Notenschnitte der Zeugnisse (vgl. unten) í unter Schülerstöhnen í an die Tafel: 1,3 í 3,0
6. Kl.
1,4 í 4,2
7. Kl.
Bei 4,2 geht ein „Oh!“ und ein Stöhnen durch den Raum.
Mit ihrem ersten Satz spielt die Lehrerin auf Auseinandersetzungen an, die sie mit den Schülerinnen und Schülern oder aber auch mit deren Eltern bereits geführt hat. Sie erinnert an ihre Position, dass die Schüler ihre außerschulischen Bildungsangebote wie Musikschule oder Sport zugunsten von Schule, Hausaufgaben und Lernen aufgeben sollten, wenn ihre schulischen Leistungen zu schlecht sind. Nach dieser Anspielung verobjektiviert die Lehrerin ihre Kritik in numerischer Form. Mit diesem Registerwechsel gelingt es ihr, Aufmerksamkeit bei den Schülerinnen und Schülern zu erzeugen. Doch wie ist das Stöhnen der Schüler einzuschätzen? í Das erste Stöhnen gilt dem Anschrieb der Zeugnisnotenschnitte und ist vielleicht als Kritik an der verobjektivierenden Moralisierungspraxis der Lehrerin zu deuten. Das zweite Stöhnen gilt dem Notenschnitt 4,2. Es ist ein Stöhnen des Erschreckens. Dieser Schnitt ist bekanntermaßen bedrohlich, da die Versetzung eines Schülers offenkundig gefährdet ist. Zudem ahnen die Schüler, um wen es sich handelt. Nun sucht Frau Sommer nach Gründen für den Leistungsabfall. Tom sagt: „Es wird schwerer.“ Friedemann spielt an seinem zerlegten Kugelschreiber herum. Frau Sommer bemüht den Vergleich eines Gebäudes, „dem was?“ í „das Fundament“, so ein Schüler í fehlen würde. Tom sagt (im Tonfall etwas zu laut und etwas zu provokativ): „Das stimmt.“ í „Die Klasse habe sich jedenfalls verbessert, ja, ähhhh! verschlechtert!“, korrigiert sich die Lehrerin und fährt fort: „Wenn sich das so fortsetzt in der Tendenz ... Mit 4,8 gäbe es keine Zulassung zum Abitur mehr.“ Die Verschlechterungen reichten übrigens von 0,1 im besten und 1,0 im schlechtesten Fall, fährt die Lehrerin fort. í „Das kann doch gar nicht sein!“, kommt einiger Widerspruch aus der Klasse. Friedemann spielt gelangweilt an seiner Mine herum. „Doch!“, verteidigt die Lehrerin ihre Aussage und führt als Ausnahme Bettina an, die sich von Klasse zu Klasse verbessert habe. Spontanes und ehrliches Klatschen als Zeichen der Anerkennung brandet im Klassenzimmer auf. Bettina habe sich angestrengt, fährt die Lehrerin fort. Kristin verbesserte ihre Leistung ebenfalls. Die Schüler klatschen erneut, nun wirkt es aber etwas erzwungen. Anschließend wird Friedemann gelobt, allerdings bemüht Frau Sommer solche Wendungen wie „hätte noch mehr“ und „wäre noch mehr drin gewesen“. Niemand klatscht.
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Es erstaunt, dass die Lehrerin zwar nach den Gründen für den Leistungsabfall fragt, aber offensichtlich nicht wirklich ein Interesse an einer Ursachenforschung hat. Möglicherweise ahnt sie, dass sie ein Konfliktpotenzial freisetzen würde, dessen Bearbeitung den Rahmen einer Zeugnisausgabe sprengen würde. Anstelle einer weiteren Ursachenforschung leitet sie auf die Drohkulisse Nichtzulassung zum Abitur über und versucht erneut, ihre Kritik zu verobjektivieren. Jedenfalls ist es der Lehrerin jetzt mit dieser Präsentation gelungen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Es bleibt unklar, warum die Schüler protestieren. Gilt der Einspruch dem (kleinen) Rechenfehler der Lehrerin?52 Oder ist er möglicherweise darin begründet, dass es nicht nachvollziehbar ist, ob und wie die Noten der neuen Schüler in diese Statistik eingegangen sind? Handelt es sich um eine grundsätzliche Infragestellung des Zahlenwerks? Erheben sie Einspruch, da sich einige Schüler verbessert haben? Jedenfalls vergemeinschaften sich die Schüler mit ihrem Einspruch und machen einhergehend deutlich, dass sie durchaus Wert auf einen bestimmten Notenschnitt legen. Die Lehrerin zitiert zwei Ausnahmen von der Regel und gibt damit den Einspruch erhebenden Schülerinnen und Schülern unter der Hand recht, wobei sie zugleich die von ihr getätigte Aussage bekräftigt, indem sie die zwei Ausnahmen von der Regel anführt. Mit diesem implizitem Zugeständnis leitet sie relativ geschickt einen Rahmenwechsel ein: An die Stelle einer Moralpredigt tritt nun Lob. Die Schüler ihrerseits vollziehen den Rahmenwechsel mit und spenden den beiden Schülerinnen Beifall. Da das Klatschen im ersten Fall spontan einsetzt, kann davon ausgegangen werden, dass das Gros der Schülerschaft nach wie vor gute schulische Leistungen anerkennt und würdigt. Dies gilt scheinbar vor allem für schulische Verbesserungen, denn das Klatschen für Friedemann bleibt aus. Im weiteren Verlauf der Zeugnisausgabe nimmt die Lehrerin den bereits eingeleiteten Rahmenwechsel zur Feier wieder zurück, indem sie den Stundenplan für das nächste Halbjahr diktiert. Ich stelle erschrocken fest, dass der durchschnittliche Schultag acht Unterrichtsstunden hat. Damit zögert sie die Ausgabe der Zeugnisse für ca. zehn Minuten heraus, bevor sie dann wieder zum Thema Zeugnisse zurückkehrt: „Nun wolle sie aber die Noten vorlesen“, sagt Frau Sommer. í Sofort protestieren viele Schüler: „Neeeein!“ Es formiert sich massiver Widerstand und Frau Sommer lässt von ihrem Vorhaben ab, die Noten öffentlich zu verkünden. Friedemann spielt, wippelt, wartet. Frau Sommer fährt fort, dass sie was zu den Schülern sage wolle. (Sie teilt die Zeugnisse allerdings noch nicht aus.) Als erster ist Ruben dran. Er sei durch sein Arbeitstempo „etwas behindert“, er brauche zu lange zum Ein- und Auspacken. Bei der unglücklichen Formulierung „behindert“ guckt Ruben mit weit aufgerissenen Augen, manche Mitschüler lachen. (Sie lachen aber nicht über Ruben, sondern über 52 Die Verschlechterung müsste im schlechtesten Fall sogar bei 1,2 liegen, da die Spanne von 3,0 und 4,2 1,2 und nicht 1,0 ist.
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Frau Sommers ungeschickte Wortwahl). Die anschließenden Worte nimmt er mit cooler Mine entgegen, er grinst. André hingegen beißt sich in die Hände, als ihm Frau Sommer eröffnet, dass er ein bisschen schlechter geworden sei. Bettina grinst beim Lob verlegen, Rebekka ebenso. Rebekka solle noch einmal über den Chor nachdenken (= aufhören), gibt ihr Frau Sommer noch mit auf den Weg. „Irgendwann ist es einfach zu viel.“ Elsa habe noch Reserven, was sie mit einem Grinsen und Lächeln entgegen nimmt. Rebekka grinst bei ihrem Lob. Die hinter Rebekka sitzende Kristin zeichnet ihr mit den Händen einen Heiligenschein über den Kopf. Tamara guckt zuerst ernst, dann sagt sie laut und ironisch: „Ja genau.“ (Leider habe ich keine Ahnung worauf sich das bezieht.) Auch Rebekka S. habe noch Reserven, was sie grinsend zur Kenntnis nimmt, aber dann wird sie ganz rot im Gesicht. Moritz sitzt aufrecht und hört sich konzentriert und nüchtern die Ansprache der Lehrerin an. Johanna habe ein Konzentrationsproblem, fährt die Lehrerin fort. (Ich drehe mich nicht um, um sie zu beobachten. Das wäre in der Situation unschicklich gewesen.) Klaus-Maria nimmt seine Ansprache cool kippelnd entgegen. Tom fährt derweilen Friedemann an: „Friedemann, sei doch mal leise!“ Etwas später wiederholt Tom seine Forderung an Friedemann; er sieht wirklich genervt aus. Die Lehrerin wartet, Friedemann entdeckt erneut den DVR und spricht hinein. Hermann nimmt seine Ansprache auf dem Tisch liegend zur Kenntnis. Er vergräbt sein Gesicht regelrecht in seinen Armen. Dann kommt Carmen dran. Sie nimmt ihre Ansprache lächelnd entgegen. Friedemann mokiert sich nun, dass er vergessen wurde. Frau Sommer macht aber weiter. Dann Paula. [...] Ein lauter, spitzer Schrei von Carmen geht quer durch den Klassenraum. Niemand fragt nach, was da los ist. Ich komme nicht mehr mit, überall ist es am Reden und Tun. Jemand (vermutlich Anton) ruft laut: „Silentium!“ Thessa habe zu kämpfen gehabt, sagt die Lehrerin in Anspielung auf ihre jüngst diagnostizierte Lernproblematik. Thessa liegt auf dem Tisch. Sie solle noch mal über die Musikschule nachdenken, setzt die Lehrerin hinterher. í Es sei schon geregelt (= abgesagt), erwidert Thessa. Friedemann moniert erneut: „Frau Sommer, zu mir haben sie nix gesagt.“ Sein Einwand geht unter.
Mit der Ankündigung, die Noten vorzulesen, versucht die Lehrerin zum bekannten Format der öffentlichen Noten- und Zeugnisfeier überzuleiten (vgl. Kap. 2.5.1). Sie stößt allerdings mit ihrem Vorstoß auf so starken Widerstand, dass sie ad hoc ein neues Format etablieren muss. Im Gegensatz zur Zeugnisausgabe der Klasse Fünf verzichtet sie nun auf das Erraten des Schülers anhand von Charakterisierungen und auf das öffentliche Vorlesen der Noten. An diese Stelle tritt eine persönliche Ansprache, die Lob, Tadel oder pädagogische Empfehlungen enthält. Sie ist dem Akt der Zeugnisausgabe voran gestellt, die Zeugnisse selbst werden erst später überreicht. Es mag der Improvisation geschuldet sein, dass die Lehrerin im Fall Ruben eine unglückliche Wortwahl benutzt, um Rubens Arbeitshaltung zu problematisieren. Durch das Lachen, das meinem Eindruck nach der unglücklichen Wortwahl gilt, zeigen die Schülerinnen und Schüler an, dass sie weder davon ausgehen, dass Ruben „behindert“ ist, noch das Frau Sommer dies gemeint haben könnte. Mit ihrem Lachen reparieren die Schüler den holprigen Auftakt der Lehrerin und stabilisieren damit die ‚Eröffnungsansprache‘ der Feier. Bemerkenswert ist, dass die Schülerinnen und Schüler dem weitreichenden pädagogischen Anspruch, den die Lehrerin erneut formuliert, teilweise gleichgültig, teilweise aber auch offen gegenüber stehen. Kristin ironisiert die
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schulaffirmative Haltung ihrer Mitschülerin, aber andere Schüler (Moritz, Anton) scheinen nach wie vor ein großes Interesse an der Zeugnisausgabe und an den Worten der Lehrerin zu haben. Die Reaktionen der Schülerinnen und Schüler auf die Ansprache weist darauf hin, dass einige von ihnen durch die Worte der Lehrerin berührt werden (verlegen grinsen, rot werden), andere nehmen die Ansprache eher kühl und sachlich entgegen (kippeln, nüchtern blicken). Meine Beschreibung, dass ich darauf verzichte, Johanna zu beobachten, markiert ein zentrales Problem der Situation: Es gibt nicht nur Schüler, die von der Ansprache positiv berührt werden í manchen mag diese Ansprache peinlich sein. Diese Beobachtungen deuten darauf hin, dass sich mittlerweile verschiedene Haltungen zum schulischen Leistungsprinzip auf der Hinterbühne des Unterrichts herausgebildet haben. Eine Feier für alle ist diese Zeugnisausgabe jedenfalls nicht. Daher erstaunt es nicht, dass sich allmählich die ‚Unterrichtsordnung‘ auflöst. Vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass die Worte der Lehrerin für einige Schülerinnen und Schüler durchaus persönlich berühren könnten, ist der ‚Zerfall der Ordnung‘53 höchst funktional: Es konkurrieren viele Räume um die Aufmerksamkeit (vgl. Bennewitz/Meier 2010; Breidenstein 2004a). Hat sich an dieser Stelle ein Bruch zwischen der Peer- und Schulkultur vollzogen? Der Lehrerin bietet das entstehende ‚Chaos‘ nun die Gelegenheit, Elemente des alten Formates zu reaktivieren: Sie kann nun inmitten des Trubels das Zeugnis mit Händeschütteln und einer persönlichen Ansprache überreichen und diejenigen Worte an die Schüler richten, die sie sich sonst hätte versagen müssen. Die Stunde neigt sich ihrem Ende: Dann Ruben, er hat alles Einsen und Zweien, höre ich trotz Lärm. Hans-Peter hat es ebenfalls gehört und ruft „Super, Ruben!“ quer durch den Klassenraum. Dann HansPeter. [...] Dann Dolores. Zurück gekehrt schaut sich Bettina das Zeugnis von Dolores an. Thessa verteilt nun eine Runde „Dextro“ (Dextro Energy) an die Umsitzenden: zuerst Rebekka, dann Bettina. Greta nimmt ihr Zeugnis sehr vergnügt entgegen. [...] Die Lehrerin wünscht nun „Schöne Ferien“ und die Schüler stellen die Stühle hoch. Friedemann hat noch kein Zeugnis. Er geht nach vorn. Rebekka und Sina kuscheln sich, dann werden noch Greta und andere (Dolores, Rebekka S.) mit Umarmung in die Ferien verabschiedet. Die Lehrerin kramt in ihrer Tasche und findet nach einiger Zeit Friedemanns vergessenes Zeugnis.
Das Ende der Zeugnisausgabe zeigt, wie komplex die Architektur der Situation ist: Hans-Peter zeigt mit seinem Zuruf, dass er der Lehrerin aufmerksam folgt und dass er Rubens Leistung würdigt. Der Lärm lässt hingegen darauf schließen, dass das Gros der Schüler der Zeugnisausgabe í eben so wenig wie ich es kann í 53 Im Grunde genommen ist es falsch, von einem ‚Zerfall‘ der Ordnung zu sprechen. An die Stelle einer frontalen Ordnung tritt vielmehr ein turbulentes Nebeneinander, wie man es auch aus Phasen der Frei- und Gruppenarbeit kennt. Die Ordnung löst sich nicht auf, sie wird nur um einiges komplexer.
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folgt. So wundert es nicht, dass Dolores im Gegensatz zu Ruben nicht mit Kommentaren bedacht wird. Dass sie aber nicht im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit steht, heißt allerdings nicht, dass sich niemand für ihr Zeugnis interessiert. (Bettina liest es.) Damit kann die Zeugnisausgabe als eine Situation verstanden werden, in der sich viele verschiedene Dinge in sich partiell überlappenden Räumen ereignen, welche punktuell durch das Handeln der Lehrerin synchronisiert werden, so z. B. die Beendigung der Zeugnisausgabe durch die Verabschiedung der Lehrerin. Der Umstand, dass Friedemann bei der Zeugnisausgabe vergessen wurde, unterstreicht ebenfalls das Chaotische bzw. die Komplexität der Situation. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Frau Sommer mit dieser Zeugnisausgabe eine Strategie verfolgt, die sich beinahe spiegelbildlich zur ersten Zeugnisausgabe verhält: Die Lehrerin versucht die Bedeutsamkeit und Folgenhaftigkeit der Noten hervorzuheben, um so ein Mindestmaß an Engagement sicher zu stellen. Die Moralisierung, die sich auf die Klasse und nicht auf einzelne Schüler bezieht, schlägt allerdings nicht an. Dies gelingt der Lehrerin teilweise, als sie den Notenschnitt 4,2 anschreibt und ein diffuses Bedrohungsszenario (Abiturversagen) mobilisiert. Frau Sommer richtet ihre Moralisierung an die Klasse, obwohl die Zeugnisnoten bzw. Zeugnisnotenschnitte nur einzelnen Schülern, nicht aber der ganzen Klasse, gelten. Durch die Kollektivierung des Leistungsproblems in der Zeugnisausgabe unterstreicht die Lehrerin ihre Position, dass Schulerfolg ein Klassenerfolg, also ein gemeinsam hervorgebrachter, ist. Mit dieser Mahnung tappt die Lehrerin allerdings in die Falle, dass sie mit ihrem moralischen Appell ihren Versuch, eine Feier alten Stils (vgl. Kapitel 2.5.1) zu etablieren, unterläuft. Eine Feier ist „eine Veranstaltung, bei der Menschen zusammenkommen, um in einem formellen oder einem lockeren Rahmen gemeinsam ihre Freude darüber zum Ausdruck zu bringen, dass es ein positives Geschehen, z. B. einen Erfolg, ein Jubiläum, eine bestandene Prüfung o. Ä. gibt“54. Das heißt, entweder müsste die Lehrerin ihre Freude darüber zum Ausdruck bringen, dass die meisten ihrer Schülerinnen und Schüler das Klassenziel erreicht haben, oder aber sie müsste auf die Schärfe ihres Tadels verzichten. Es bleibt allerdings in diesem Zusammenhang anzumerken, dass die Schüler trotz ihres Leistungsabfalls mehrheitlich mit der Erwartungshaltung der Lehrerin („das Beste geben“) einverstanden sind. Sie legen zumindest keinen Widerspruch ein. Es scheint, als ginge der Leistungsabfall nicht grundsätzlich mit einer Abkehr von der Leistungsorientierung einher, vielmehr haben sich unterschiedliche Haltungen (cool oder schulaffirmativ sein, etc.) zum schulischen Leistungsprinzip herausgebildet. Aber unabhängig von den jeweiligen Haltungen scheint bei den 54 Quelle: http://de.thefreedictionary.com/Feier (Stand 7.9.2009)
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meisten Schülerinnen und Schülern das starke Bedürfnis vorzuherrschen, die Zeugnisausgabe zu verlärmen und so eine Sphäre von Privatheit zu etablieren. Egal ob die Noten gut oder schlecht sind, aus Sicht der Schüler sollten sie kein öffentliches Ereignis mehr sein. Damit hat sich die gymnasiale Peerkultur vom schulischen Leistungsprinzip, das durch Notengebung verbürgt wird, teilweise entkoppelt. 2.5.3 Die Privatisierung der Leistung Die vorangegangenen Kapitel (vgl. Kap. 2.5.1 u. 2.5.2) haben gezeigt, dass sich die Praktiken der Schülerinnen und Schüler über den Beobachtungszeitraum verändert haben. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass öffentliche Inszenierungen von zumeist (sehr) guten Noten durch Praktiken der Privatisierung abgelöst wurden í dies gilt vor allem für schlechten Leistungen. Diese Veränderungen im Zeitraum der fünften bis siebten Klasse werden unter der Fragestellung diskutiert, welche Bedeutung die längsschnittlichen Beobachtungen für die Praktiken des Schulerfolges haben. Also: Was lässt sich anhand der Befunde über den Geltungsbereich der Praktiken des Schulerfolgs aussagen? Ausgangspunkt der Studie und Untersuchungsgegenstand war das erstaunliche Phänomen, dass 80% aller Zeugnisnoten dieser Klasse „Einsen“ oder „Zweien“ waren. Die Studie fragt danach, was die Schülerinnen und Schüler ebenso wie ihre Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht tun, dass so gute Noten dabei herauskommen. Während die Kapitel 2.2 – 2.4 vielfältige Praktiken aufzeigen, die Schulerfolg ermöglichen, verfolgt das Kapitel 2.5 eine längsschnittliche Perspektive und vergleicht spezifische Situationen über den gesamten Beobachtungszeitraum. Die Beobachtungen zu Beginn der Untersuchung zeigen, dass Noten Unterschiede zwischen den Schülerinnen und Schülern kaum abbilden bzw. dass durch Noten nur geringe Unterschiede zwischen den Schülern erzeugt werden. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang vor allem die Rückgabesituation eines sehr gut ausgefallenen Tests, in dem die Lehrerin die (sehr) guten Noten des Tests danach unterscheidet, ob sie mit oder ohne volle Punktzahl erreicht wurden. Doch warum bemüht die Lehrerin diese feinen Differenzierungen? í Auf diesen Punkt wird noch zurückzukommen sein. Jedenfalls zeigen spätere Beobachtungen, als sich das Leistungsspektrum allmählich ausdifferenziert und schlechte Noten in die Schulklasse allmählich einziehen, dass diese Lehrerin fortan nicht mehr auf die Punkte-Differenzierungen zurückgreift. Nun wird das gesamte Notenspektrum genutzt, um Leistungsunterschiede abzubilden. Doch damit geht ein neues Problem einher: Die so produzierten Unterschiede müssen pädagogisch in ihren sozialen Folgen begrenzt werden. Dies versucht die
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Lehrerin, indem sie schlechte Noten als normal für ein Gymnasium ausweist und fordert, dass schlechte Noten „verdaut“ werden müssen. Damit verschiebt sich die Thematisierung schlechter Leistungen auf die Hinterbühne des Unterrichts und sie etablieren sich als zentrale Orte des Umgangs mit (schlechten) Leistungsbewertungen heraus. Wurden zuvor alle guten Noten klassenöffentlich gefeiert, suchen nun die Schülerinnen und Schüler auf den Hinterbühnen nach sehr guten aber auch sehr schlechten Arbeiten. Hierbei scheint vor allem der soziale Vergleich ein zentrales Motiv zu sein, der den Status der eigenen Note besonders akzentuiert: Eine Eins unter Wenigen ist mehr wert als eine unter Vielen. Ein Effekt der Hinterbühnen-Suche ist jedenfalls darin zu sehen, dass die Mitschüler trotz der Verschiebung der Thematisierung auf die Hinterbühne mehr oder minder klassenöffentlich bloßgestellt werden. Da zu diesem Zeitpunkt die Peerkultur der Klasse mit dem schulischen Leistungsprinzip konvergiert, stellt das Aufspüren von Schülerinnen und Schülern mit schlechten Noten eine subtile Form der Ausgrenzung dar. Die Praxis, nach Noten zu fragen, gilt als „gemein“, nicht zuletzt, da der enttarnte Schüler bemerkt bzw. bemerken muss, dass er nicht nur gegen die institutionell verbürgten Norm schulischer Leistung, sondern auch gegen die peerkulturellen Norm schulisch erfolgreich zu sein verstoßen hat. Gegen Ende der sechsten Klasse differenziert sich das Leistungsspektrum aus und schlechte Noten werden alltäglich. Im Zuge dieser Entwicklung verändert sich der Umgang mit Noten erneut. Die Suche nach Vieren und Fünfen unterbleibt, man fragt nur noch nach den guten Noten zum Zwecke der Korrektur der eigenen Arbeit. Schlechte Noten werden jetzt im Kreis der Sitznachbarn thematisiert und diese Gespräche dienen vor allem der Tröstung. Gute Noten werden nun klassenöffentlich gefeiert, aber schlechte Noten auf den Hinterbühnen des Unterrichts diskret „verdaut“. Dies ist nun die Praxis der Peers. An den Halbjahres-Zeugnisausgaben lässt sich eine ähnliche Entwicklung nachzeichnen. Zum Zeitpunkt der fünften Klasse versucht die Lehrerin der Zeugnisausgabe einen feierlichen Rahmen zu geben. Der Ausgabe des Zeugnisses gehen pädagogisch-moralisierende Ansprachen voraus, welche allerdings den feierlichen Rahmen der ‚Zeremonie‘ mehrfach brechen. Dennoch gelingt es, das Format einer Feier zu etablieren, in der alle Schülerinnen und Schüler klassenöffentlich als (sehr) gute Schüler ausgezeichnet werden. Im Rahmen dieser Feier kommt vor allem dem pauschalen Lob der Klasse ein besonderes Gewicht zu. Damit die Zeugnisausgabe zu einer Erfolgsfeier für die ganze Klasse werden kann, sucht die Lehrerin selbst für das schlechteste Zeugnis anerkennende Worte. Das Format einer ‚Zeugnis-Feier‘ bleibt allerdings nicht ohne Brüche, da das Notensystem immer auch Gewinner und Verlierer produziert. Die ‚Feier‘ wird von den Schülern aktiv mitgetragen und die Lehrerin kann als Trägerin eines gemeinsamen Gruppenideals für alle Schüler sprechen. Zum Zeitpunkt der sieb-
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ten Klasse tritt die zuvor latente Strukturproblematik einer ‚Zeugnis-Feier‘ offen zutage: Die ‚Feier‘ kommt nicht mehr zustande, da die klassenöffentliche Nennung der Noten, die das Format der Feier vorsieht, auf breiten peerkulturellen Widerstand stößt. Angesichts eines ausdifferenzierten Leistungsspektrums ist dies durchaus verständlich, schließlich benötigt das Format der Feier vor allem zu Ehrende (und weniger zu Scheltende).55 Ebenso wenig gelingt es der Lehrerin, die Zeugnisausgabe unter die Überschrift Misserfolg der Klasse zu stellen, da die Schülerinnen und Schüler sie auf Ausnahmen hinweisen. Dies zeigt, dass sich die Noten letztlich gegenüber den Rahmungsversuchen der Lehrerin durchsetzen. Das eigentliche Ereignis sind die Zahlen des Zeugnisses. Es gibt nur noch Gewinner und Verlierer und folglich keine gemeinsame Feier mehr. Der schulische Erfolg ist individualisiert und privatisiert. Somit ist es folgerichtig, dass sich das Format der Zeugnisausgabe als eine Art Kompromiss gestaltet: Die Lehrerin reaktiviert das Format der Feier für sich selbst und den jeweils Angesprochenen und die Schülerinnen und Schüler ‚verlärmen‘ das Ereignis so gut es geht. Die Lehrerin kann zudem nicht mehr als Sprecherin eines gemeinsamen Gruppenideals fungieren. Die Moralisierungen der Lehrerin zeigen, dass mittlerweile eine deutliche Diskrepanz zwischen dem Idealentwurf der Lehrerin und der Praxis der Schüler besteht. Bemerkenswert ist jedenfalls, dass die Zensuren in beiden Zeugnisausgaben mit unterschiedlichen Bedeutungen aufgeladen, aber nie als objektive Instrumente der Leistungsmessung infrage gestellt werden. Obwohl es gerade am Gymnasium eine Steigerung der Leistungsanforderungen gibt, wird der Anteil, den die Schule möglicherweise am Abfall der Noten der Schüler hat, ausgeblendet. Die Schüler sind es, die die Noten zu verantworten haben und sie müssen mit ihren Noten zurecht kommen. Was kann also anhand dieser Entwicklung über die Praktiken des Schulerfolgs ausgesagt werden? Welchen Geltungsanspruch können die Analysen der Kapitel 2.1 í 2.3 reklamieren, wenn doch letztendlich schlechte Noten in die Klasse einziehen und kollektiver Schulerfolg ausbleibt? Sind die Praktiken des Schulerfolgs letztlich doch nicht so besonders erfolgreich? í Zunächst ist daran zu erinnern, dass die Analysen ihren Ausgangspunkt in der Definition von Schulerfolg als Erreichung (sehr) guter Noten haben (vgl. Kap. 2.1). Die Studie fragt danach, wie es den Beteiligten durch ihre Praktiken im Unterricht über zwei Jahre gelingt, schulisch derart erfolgreich zu sein. Die Analysen haben gezeigt, 55 Ein weiteres Beispiel sind Abiturfeiern, in denen das Erreichen der Hochschulreife gewürdigt wird. Die jeweiligen Abiturzeugnisschnitte, die Abiturienten in bessere und schlechtere unterscheiden würden, spielen im Rahmen von Abiturfeiern nur eine untergeordnete Rolle. Zwar wird häufig das beste Abitur gewürdigt, nicht aber das schlechteste mahnend herausgestellt. Eine Feier benötigt etwas zu Ehrendes, um gelingen zu können.
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wie durch ‚braves‘ Verhalten, die beständige Orientierung auf Unterrichtsinhalte und durch das Zusammenspiel von antagonistischen Praktiken sehr gute Noten produziert wurden (vgl. insb. Kap. 2.4.2). Warum also sind die Noten ab Ende der sechsten Klasse schlechter geworden? í Es ist schwierig, diese Entwicklung an wenigen Gründen festzumachen. Wenig erstaunlich ist, dass die Anforderungen, die die Institution Schule an die Beteiligten stellt, gestiegen sind (vgl. hierzu auch: Nittel 1992: 261ff). Ferner scheinen die außerschulischen Bildungsangebote immer stärker um die wenige Zeit der Teenager zu konkurrieren, die aus Sicht der Schule für Hausaufgaben und Lernen aufzubringen sind (vgl. Kap. 2.4.6). Entwicklungen, die man gemeinhin mit Pubertät assoziiert, mögen möglicherweise erklären, warum sich die Schülerinnen und Schüler stärker dem Geschehen auf der Hinterbühne zuwenden. Ein weiterer Erklärungsansatz ist im Zusammenhang mit den Praktiken der Leistungsbewertung und -beurteilung zu sehen, die ‚Schulerfolg für alle‘ verunmöglichen. Gerade am Beispiel des besonders gut ausgefallenen Tests lässt sich zeigen (vgl. Kap. 2.5.1), dass ein Testergebnis, das nicht differenziert, seinen praktischen Sinn verfehlen würde.56 Anders formuliert könnte man auch sagen, dass ein Test, der Personen nicht nach den TestKriterien diskriminiert, kein Test ist, denn Tests dienen auch dazu, Unterschiede zwischen Personen herzustellen. Ob und wie stark ein Test diskriminiert, hängt von den ausgewählten Kriterien ab í im Fall der Schule sind dies die Bezugsnormen der Notengebung. Rheinberg unterscheidet drei Bezugsnormen der Notengebung (vgl. Rheinberg 2001), wobei in diesem Zusammenhang zwei eine besondere Rolle spielen.57 Während es mit der sachlichen Bezugsnorm durchaus möglich ist, dass alle Schülerinnen und Schüler ein inhaltlich fest definiertes Ziel erreichen oder verfehlen (z. B. die Bestehensgrenze im Rahmen einer Führerscheinprüfung), stellt die soziale Bezugsnorm vor allem auf Unterschiede zwischen den getesteten Schülern ab. Hierbei orientiert sich die Leistungsbewertung typischerweise an den besten und schlechtesten Leistungen einer Klasse oder einer Schule (vgl. ebd.: 64), so dass mit hoher Wahrscheinlichkeit – vor allem wenn sie sich auf eine Schulklasse bezieht – immer gute und schlechte Zensuren durch diese Bezugsnorm hergestellt werden. Pointiert gesagt misst die soziale Bezugsnorm keine Leistung, sondern vor allem die Abstände zwischen Leistungspositionen innerhalb der jeweils untersuchten Population, also praktisch 56 „Test, (...) ein systematisches (...) Verfahren zur Bestimmung der relativen Position eines untersuchten Individuums innerhalb einer Gruppe von Individuen hinsichtlich eines oder mehrerer Merkmale“ (Fuchs-Heinritz u. a. 1995: 674). 57 Die individuelle Bezugsnorm spielt unseren Beobachtungen nach de facto keine Rolle für die schulische Zensurengebung. Überlegungen, ob ein Schüler besser oder schlechter geworden ist, tauchen für gewöhnlich nur im Kontext des „Komma-Fünf“Problems auf und haben vor allem die Funktion, den Lehrer am Schuljahresende zwischen der besseren und der schlechteren Note entscheiden zu helfen.
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innerhalb der Schulklasse oder der Schule. Die Notengebung unterliegt damit dem blinden Fleck, dass durch diese Bezugsnorm kaum Aussagen über die objektive Leistung eines Schülers möglich ist: „Das kann zu bizarren Fehlurteilen führen, die in Deutschland schon von Ingenkamp (1977) in alarmierender Weise empirisch nachgewiesen wurden: Die gleiche Leistung wird mit ‚gut‘ oder ‚mangelhaft‘ beurteilt, je nachdem, ob der Schüler in einer leistungsstarken oder leistungsschwachen Schulklasse ist.“ (ebd.)
Auch wenn wir keine Aussagen darüber tätigen können, welche Bezugsnormen die Lehrerinnen und Lehrer im Zeitraum der fünften und sechsten Klasse jeweils für ihre Leistungsbewertungen herangezogen haben, da wir die Lehrpersonen bei der Korrektur der Arbeiten nicht beobachtet haben, lässt sich theoretisch die Wahl der sozialen Bezugsnorm als Regelfall ausschließen. Dies ist bemerkenswert, schließlich stellt die soziale Bezugsnorm nach Rheinberg die „wohl am häufigsten“ (ebd.) verwendete dar. Doch mit dieser Bezugsnorm ist kollektiver Schulerfolg nicht möglich, da sich die Noten – wie gesagt – an den relativ besten bzw. schwächsten Leistungen der jeweiligen Stichprobe orientieren. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Wahl der sachlichen Bezugsnorm die Probleme, die mit Leistungsmessungen strukturell verbunden sind, uneingeschränkt lösen könnte. Denn auch eine kriteriumsbezogene Leistungsmessung erzeugt í dies zeigen die Rückgabe des (sehr) gut ausgefallenen Tests ebenso wie die HalbjahresZeugnisausgabe in der fünften Klasse (vgl. Kap. 2.5.1) í Unterschiede und somit Gewinner und Verlierer. Jedenfalls lassen unsere Beobachtungen vermuten, dass eine Leistungsbewertung, die ihre Schülerinnen und Schüler nicht irgendwann über große Teile des Notenspektrums differenziert, über längere Zeiträume nicht aufrecht erhalten werden kann. Möglicherweise setzt sich die soziale Bezugsnorm durch, da es der schulischen Bewertungspraxis an klar definierten sachlichen Bezugsnormen mangelt, vielleicht greift verspätet der gesellschaftliche Auftrag, dass die Schule ihre Schülerinnen und Schüler zu selektieren hat. Doch warum wird der kollektive Schulerfolg für die Schülerinnen und Schüler für eine bestimmte Zeit ermöglicht, wenn er institutionell nicht auf Dauer gestellt ist? Das Gymnasium stellt die Schulform mit einer positiv ausgelesenen Schülerschaft dar, das die Schülerinnen und Schüler mit dem Image betreten, ein guter Schüler zu sein. Und bezeichnenderweise halten sowohl Lehrer als auch Schüler an der Idee des guten Schülers fest, auch wenn die Noten schlechter werden. Die Beteiligten versichern sich: Schulerfolg ist mit diesen Schülern möglich! Eine generelle Befähigung wird ihnen unterstellt und sie werden auch weiterhin als gute Schüler adressiert. Die Vorstellung, dass ein kompetenter Schüler auch zwingend gute Noten haben müsse, wird durch alternative Erklärungsansätze abgelöst wird. Schulerfolg erscheint nun eher eine Frage des Fleißes, spezifischer Begabungen, Interessen, Motivation oder auch sozialer Bedin-
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gungen (wie z. B. Scheidungskind, etc.) zu sein und diese Faktoren entschuldigten vermeintlich nicht ausgenutztes Leistungspotenzial. Trotz mittelmäßiger Leistungen bewahren sich die Schülerinnen und Schüler das Image guter Schüler. Sollte es dennoch zu schulischem Scheitern kommen, da die Leistungen so schlecht sind, dass sie nicht mehr durch (Kulanz-)Praktiken behoben werden können, werden die Kinder schließlich durch Sitzenbleiben oder Abstufungen aussortiert. Damit bleibt das Gymnasium die Schule mit den erfolgreichen Schülern; es bleibt die Anstalt, die Schulerfolg wie keine andere Institution verbürgt. Dieser Befund stellt einen deutlichen Kontrast zu den Praktiken und Logiken in der Sekundarschule dar (vgl. hierzu ausführlich das Kapitel 3). Da sich früher oder später das Notenspektrum ausdifferenziert, haben die meisten Schüler früher oder später mit schlechten Noten umzugehen. Da diese nicht mehr auf der Vorderbühne des Unterrichts ‚gefeiert‘ werden können (und zudem eine kollektive Bearbeitung des schulischen Misserfolges die Effizienz des Unterrichtens vermutlich stören würde), wird der Umgang mit schlechten Leistungen auf die Hinterbühne des Unterrichts verbannt. Damit sind die Schülerinnen und Schüler herausgefordert, sich selbst in ein Verhältnis zum schulischen Leistungsprinzip zu stellen. Der Preis der Privatisierung ist allerdings darin zu sehen, dass die Lehrerin keinen Zugriff auf den peerkulturellen Modus der Bearbeitung hat. Sie kann nicht mehr wissen, ob ihre Schüler schulischen Misserfolg leistungsaffirmativ oder leistungskritisch bearbeiten. An verschiedenen Orten im Klassenzimmer können sich verschiedene Bearbeitungsstrategien herausbilden, so dass auch nicht mehr von einer einheitlichen Klassenkultur gesprochen werden kann. An diese Stelle treten lokale Deutungszentren und Bearbeitungspraktiken einzelner Gruppen oder Cliquen. Die Privatisierung schulischen Misserfolgs perforiert somit die Sollbruchstelle von Schülerkultur und schulischem Leistungsprinzip. Die Beobachtungen zum Zeitpunkt der siebten Klasse zeigen auf der Ebene von Unterrichtsbeobachtungen, dass die Peerkultur der Klasse zwar immer noch eine starke Nähe zum schulischen Leistungsprinzip hat, aber dass dieses nicht mehr ganz ungebrochen ist. So agiert beispielsweise eine Schülerin, die Hermann pädagogisch mahnt, sich endlich für gute Noten zu entscheiden (also endlich was zu tun!), in hoher Übereinstimmung mit der schulischen Leistungskultur und repräsentiert die symbolische Ordnung der Schule. Andererseits zeigen die Praktiken der Unterrichtsteilnahme deutliche Veränderungen: Während die Mädchen die schulische Ordnung äußerst geschickt mit dem Briefbüchlein-Schreiben unterlaufen, fallen die quatschenden Jungen mit ihrem Verhalten deutlich aus der schulischen Ordnung heraus. Die Einheit von Peerkultur und schulischem Leistungsbestreben ist an vielen Stellen porös geworden; die Selbstverständlichkeit des Leistungsstrebens ist nicht mehr gleichermaßen gegeben. Die Privatisierung der Leistung leitet den Bruch zwischen Peer- und Schul-
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kultur ein und unterminiert damit das kulturelle Fundament des Schulerfolgs. Dieser Bruch dürfte den ohnehin sich vollziehenden Prozess der Leistungsspreizung zusätzlich verschärfen, so dass noch schlechtere Noten und noch distanziertere Bearbeitungsformen zu erwarten sind. Wie ist also der Stellenwert dieses Kapitels mit Blick auf die Praktiken des Schulerfolgs einzuschätzen? Schulerfolg im Sinne von guten Noten kann für das Gros der Klasse nicht auf Dauer gestellt werden. Es handelt sich um ein zeitlich begrenztes Phänomen, das vor allem im Zusammenhang mit Enkulturationsprozessen in eine neue Schulform verbunden sein dürfte. Aber auch wenn die Praktiken des Schulerfolgs nur zum Zeitpunkt der fünften und sechsten Klasse in besonderer Weise zu beobachten waren, dürften sie für die praktische Herstellung von Schulerfolg schlechthin konstitutiv sein. 2.6 Guter Unterricht? – Ein Resümee Diese Studie hat mittels ethnographischer Methoden eine praxistheoretische Perspektive auf Schule und Unterricht eingenommen und danach gefragt, wie Schülerinnen und Schüler sowie ihre Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht Schulerfolg herstellen (ausführlich: Kap. 2.1 – 2.3). Die Praktiken des Schulerfolgs orientieren sich an einer spezifischen Variante von Erfolg. Es sind die Praktiken der Herstellung guter Noten. Oder anders formuliert: Es sind die Noten, die eine bestimmte Idee des Schulerfolgs begründen. Schulerfolg definiert sich in dieser Perspektive nicht in erster Linie durch den Zuwachs von Bildung, Wissen, Fertigkeiten oder des Reflexionsvermögens, sondern er besteht in der Herstellung der richtigen Produkte (im weitesten Sinne) in der richtigen Qualität zum richtigen Zeitpunkt. Es ist gezeigt worden, dass die Orientierungs-, Management- und Kontroll-Praktiken der Produktion der richtigen Produkte dienen, aber dass der Schulerfolg wesentlich durch die antagonistischen Gegenspieler der Kulanz- und Image-Praktiken hervorgebracht wird. Der Erfolg der Praktiken beruht wesentlich auf der engen Kooperation von Schülern und Lehrern, wobei sich diese Kooperation eng auf die Produktion der richtigen Produkte (Plakate, mündliche Beiträge, etc.) bezieht. Ferner kooperieren die Parteien auf der Ebene der Deutungen, z. B. dass es sich bei den Schülern auch im Falle (punktuellen) Versagens dennoch um erfolgreiche Schüler handelt. Es sind diese Praktiken, durch die die gymnasiale Schulform Schulerfolg hervorbringt. Es könnte an dieser Stelle der Eindruck entstanden sein, dass der in dieser Arbeit vorgestellte Unterricht als gut zu bezeichnen wäre – schließlich ist er ja gemessen am Kriterium der Noten ausgesprochen erfolgreich. Aus didaktischer Perspektive wäre diesbezüglich anzumerken, dass im Fall des Gymnasialunter-
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richts weder ein differenzierender Umgang mit (Leistungs-) Heterogenität, noch Praktiken der Motivierung oder Sinnstiftung auszumachen sind (vgl. Helmke 2006, 2003; Meyer 2004). Ganz im Gegenteil ist der Unterricht davon getragen, die ex- oder impliziten Erwartungshaltungen der Lehrerinnen und Lehrer zu erfüllen, um die gewünschten Produkte in der geforderten Qualität herzustellen. Effizienz und Effektivität sind Kennzeichen dieses Unterrichts. Aus einer didaktischen Perspektive wären ganz andere Fragen an den Unterricht zu stellen und die Befunde wären wahrscheinlich wenig erfreulich: Sind die Kinder in den Unterricht innerlich involviert? Wie werden die Schülerinnen und Schüler motiviert? Was lernen sie? Ist dieses Wissen für die Schüler im Kontext ihrer Lebenswelt bedeutsam? Welches Wissen wird erinnert und welches vergessen? – Der hier beschriebene Unterricht wird sich an diesen Fragen kaum messen lassen können. Die Studie zu den Praktiken des Schulerfolgs darf folglich nicht als Best Practice-Rezept für Unterrichtsentwicklung missverstanden werden. Ferner zeigen die Beobachtungen, dass sich die Noten ab spätestens der siebten Klasse normalisiert haben. Im Gegensatz zu Theorien, die den schulischen Leistungsabfall vorwiegend mit der Pubertät (z. B. Fend 2005) oder institutionellen Erschwernissen (z. B. Nittel 1992) in Verbindung bringen, vermuten wir, dass eine Leistungsbewertung die ihre Schülerinnen und Schüler nicht über große Teile des Notenspektrums differenziert, nicht über längere Zeiträume aufrecht erhalten werden kann (vgl. Kap. 2.5.3) und folglich früher oder später zu schulischem Misserfolg einiger Schüler führen muss. Parallel zur Ausdifferenzierung des Leistungsspektrums ließ sich beobachten, dass zum Zeitpunkt der fünften Klasse, als die Schüler noch sehr gut waren, kleine Leistungsunterschiede herausgestellt und größere mit klassenöffentlicher Aufmerksamkeit bedacht wurde. Zum Zeitpunkt der siebten Klasse, als die Noten sich ausdifferenziert hatten, pflegten Schüler und Lehrer Praktiken der Privatisierung und Solidarisierung. Unter dem Gesichtspunkt von Unterrichtsentwicklung ist diese Entwicklung als problematisch einzuschätzen. Denn mit der Praxis der Privatisierung ist eine Sollbruchstelle im Verhältnis von leistungsorientierter Peerkultur und schulischem Leistungsprinzip markiert: An die Stelle eines ‚klassenoffiziellen‘ und schulaffirmativen Diskurses treten lokale Deutungsgemeinschaften, welche sich weiterhin an dem schulischen Leistungsprinzip orientieren können – aber nicht müssen. Das lässt wiederum vermuten, dass eine Unterrichtsform, die zentral auf Leistungsbewertungen im Form von Noten abhebt, zwangsläufig mit dem Problem zu tun bekommt, dass sich zuvor leistungsorientierte und -bereite Schüler aus dem Unterrichtsgeschäft in die Hinterbühnen (Zinnecker 2001) zurückziehen. Notengebung bringt also nicht nur für einen Teil der Schüler schulischen Misserfolg hervor, sondern begünstigt auch das Entstehen von unterrichtsentkoppelten Peerwelten. Insofern könnte ausgerechnet das durch Noten verbürgte
2.6 Guter Unterricht? – Ein Resümee
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schulische Leistungsprinzip in Verdacht stehen, peerkulturelle Leistungskulturen zu gefährden. Im konkreten Fall der Gymnasialklasse lösen die Lehrerinnen und Lehrer das Problem der Leistungsdifferenzierung, indem man trotzdem – unabhängig von den Noten – an der Idee des guten Schülers festhält. Eine generelle Befähigung wird ihnen unterstellt und sie werden auch weiterhin als ‚gute‘ Schüler adressiert. Erst wenn die schulischen Leistungen so schlecht sind, dass sie weder durch Kulanz-Praktiken noch Umdeutungen zu ‚beheben‘ sind, werden diese Kinder schlussendlich durch Sitzenbleiben oder Abstufungen aussortiert. Damit bleibt das Gymnasium die Schule mit den erfolgreichen Schülern und bestätigt sich als diejenige Schulform, die Schulerfolg ermöglicht. Diese Befunde – soweit darf an dieser Stelle vorausgegriffen werden – unterscheiden sich deutlich von denjenigen, die Katrin Zaborowski im Rahmen ihrer Studie „An den Grenzen des Leistungsprinzips“ (vgl. das folgende Kapitel 3) herausarbeitet. Wie stellen sich die Praktiken der Schülerinnen und Schüler sowie der Lehrerinnen und Lehrer an der Sekundarschule dar? Durch welche Praktiken wird Schulerfolg hergestellt? Geht es an der Sekundarschule überhaupt um Schulerfolg?
3 An den Grenzen des Leistungsprinzips Katrin U. Zaborowski
3.1 Einleitung 3.1.1 Fragestellung Im Zentrum der vorliegenden Studie steht eine städtische Sekundarschule in Sachsen-Anhalt. Es handelt sich hier um eine Schulform mit mehreren Bildungsgängen, welche Real- und Hauptschulzweig unter einem Dach vereint und die Klassenstufen fünf bis zehn umfasst. In der fünften und sechsten Klasse werden die Schüler gemeinsam unterrichtet, ab der siebten Klasse werden sie anhand ihrer Noten dem Realschulzweig bzw. dem Hauptschulzweig der Schule zugeordnet. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Umstrukturierung des deutschen Schulwesens gewinnt die Erforschung von Schulformen mit mehreren Bildungsgängen an Bedeutung. So wird in der Diskussion um den als zunehmend problematisch angesehenen Bildungsgang „Hauptschule“ und mit Verweis auf beständig sinkende Schülerzahlen, vor allem in ländlichen Gebieten, verstärkt die Einführung von Schulen mit mehreren Bildungsgängen propagiert (vgl. Leschinsky 2008a) und in einigen Ländern bereits umgesetzt58. Die aktuelle Problematik der Hauptschule verdeutlichen Baumert, Stanat und Watermann (2006) anhand der PISA-Daten in der Beschreibung differenzieller „Lern- und Entwicklungsmilieus“ in den unterschiedlichen deutschen Schulformen. Mit Blick auf die Hauptschule stellen sie fest: „Dies ist die Schulform, deren Arbeitserfolg am stärksten durch kritische Kompositionsmerkmale beeinflusst und beeinträchtigt wird. Dies sind in der Reihenfolge ihrer Bedeutung innerhalb der Schulform: Konzentration von Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Familien, Konzentration von Repetenten, ein niedriges Leistungs- und Fähigkeitsniveau sowie ein steigender Anteil von Schülerinnen und Schülern aus belastenden Familienverhältnissen.“ (ebd.: 143f.) Die aus den beschriebenen Be58 In den Bundesländern Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt wurde bereits nach der Wiedervereinigung im Zuge der Neuorganisation des Bildungswesens auf die Einführung von getrennten Real- und Hauptschulen verzichtet und stattdessen Schulen mit mehreren Bildungsgängen eingerichtet (vgl. Leschinsky 2008b: 427). K. U. Zaborowski et al., Leistungsbewertung und Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93218-7_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 An den Grenzen des Leistungsprinzips
einträchtigungen hervorgehende strukturelle Benachteiligung einer großen Zahl von Hauptschülern (vgl. ebd.: 171) wird kritisch diskutiert (z. B. Solga/Wagner 2001). Ob jedoch allein die Zusammenführung der Bildungsgänge Hauptschule und Realschule eine Lösung der strukturellen Probleme darstellt, mit denen sich die Hauptschule aktuell konfrontiert sieht, wird von verschiedenen Seiten bezweifelt (vgl. z. B. Helsper/Wiezorek 2006, Leschinsky 2008a). Bisher ist zudem wenig über den Alltag an Schulen mit mehreren Bildungsgängen bekannt. Können sie den vielfältigen Problemen, mit denen die Schulform Hauptschule zu kämpfen hat, entgehen? Wie reagieren die Lehrenden auf soziale und familiale Problemaufschichtungen ihrer überdurchschnittlich häufig den so genannten ‚bildungsfernen’ Milieus entstammenden Schülerschaft? Welche Auswirkungen hat die negativ selektierte Schülerschaft auf den Umgang der Schule mit Leistung und Leistungsbewertung? Und wie wird die erneute Selektion der Schüler nach Klasse sechs gehandhabt? Hier setzt die vorliegende Studie mit einem mikroanalytischen Blick auf den Unterrichtsalltag an. Sie fragt nach immanenten Strukturproblemen der Schulform Sekundarschule, welche durch die detaillierte Beobachtung und Analyse alltäglicher Vollzüge herausgearbeitet werden können. Diese immanenten Strukturprobleme der Sekundarschule erwachsen auch aus ihrer Stellung im selektiven Schulsystem und sie wirken sich auf den alltäglichen Umgang mit Schülern und mit schulischer Leistung aus. Ziel ist die Beschreibung und Analyse alltäglicher schulischer Praktiken und insbesondere von Praktiken der Leistungsbewertung, deren Eigenlogik kulturanalytisch rekonstruiert werden soll, um die Bedeutung der Praktiken der Leistungsbewertung und Selektion auf der Ebene des Unterrichtsalltages aufzuklären. Auch wenn hier von einer pädagogischen Praxis an den Grenzen des Leistungsprinzips berichtet wird, so soll es nicht um die Wiederaufnahme der Diskussion der 1970er und 1980er Jahre um „Sinn und Unsinn des Leistungsprinzips in der Erziehung“ (Klafki 1974) gehen. Vielmehr zielt die vorliegende Arbeit auf die Herausarbeitung des in der beobachteten Sekundarschule verwendeten Leistungsbegriffs sowie dessen praktische Einbindung in die alltägliche Erhebung und Bewertung von Leistungen. Die Analyse leiten Fragen wie: Was meinen die Teilnehmer im Feld, wenn sie von Leistung bzw. Leistungen sprechen? Welchen Einfluss haben diese Vorstellungen auf die praktische Umsetzung in Situationen von Leistungserhebung und Leistungsbewertung? Der hier verwendete Leistungsbegriff ist also ein aus dem Feld generierter. Im Zentrum der Untersuchung steht eine Sekundarschulklasse, die vom Beginn des fünften Schuljahres bis zum Ende des sechsten Schuljahres begleitet wurde. Im Anschluss an die sechste Klasse kam es zur Fusionierung der Schule sowie zur Aufteilung der Klasse (und der Zusammenlegung mit Schülern anderer Klassen) in eine Hauptschul- und zwei Realschulklassen, welche bis zum Ende
3.1 Einleitung
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des ersten Halbjahres der siebten Klassenstufe begleitet wurden. Ein Großteil der Schülerinnen und Schüler sowie Lehrerinnen und Lehrer wurde somit über einen Zeitraum von etwa zweieinhalb Jahren hinweg beobachtet. 3.1.2 Die Sekundarschule in Sachsen-Anhalt Die Sekundarschule als Schulform mit mehreren Bildungsgängen wurde in Sachsen-Anhalt zum Schuljahr 1991/1992 als zweite weiterführende Schulform, neben dem Gymnasium, im Anschluss an die vierjährige Grundschule eingeführt. In den Klassenstufen fünf und sechs, der so genannten differenzierenden Förderstufe, werden die Schülerinnen und Schüler in gemeinsamen Klassen mit einheitlichen Unterrichtsinhalten unterrichtet. Nach Klasse sechs werden die Schülerinnen und Schüler auf der Basis ihrer Zeugnisnoten in Hauptschul- bzw. Realschulklassen aufgeteilt. Es können je nach besuchtem Schulzweig der Hauptschulabschluss, der qualifizierte Hauptschulabschluss, der Realschulabschluss sowie der erweiterte Realschulabschluss erworben werden (vgl. Kultusministerium Sachsen-Anhalt 1999). Im Folgenden soll die spezifische Problemlage dieser Schulform in SachsenAnhalt erläutert werden. Im Vordergrund stehen dabei sechs Aspekte, die genauer betrachtet werden: Die Situation nach der Umstrukturierung des Schulsystems 1991/1992, die Sekundarschule als abgewertete Schulform, die veränderte Schülerschaft und daraus resultierende Probleme, die weitere Selektion der Schülerschaft, die geringe Kontinuität der neuen Strukturen und schließlich Schulfusionen und Schulschließungen aufgrund rückläufiger Schülerzahlen. 1) Die Situation nach der Umstrukturierung des Schulsystems 1991/1992 Die Umstrukturierung des Schulsystems zum Schuljahr 1991/92 erforderte von allen Lehrerinnen und Lehrern erhebliche Neuorientierungen und Umstellungen59: „In kurzer Zeit wurde ein erheblicher Teil ihres beruflichen Alltagswissens etwa im Hinblick auf Rechte, Pflichten, Verfahrensabläufe, Verordnungen, Gesetze, Lehrpläne, Lehrbücher etc. entwertet.“ (Helsper/Krüger/Wenzel 1996: 22) Bedeutende Veränderungen betreffen auch das dem Unterrichtshandeln zu59 Ausführlicher zu den Schwierigkeiten im Zuge der strukturellen Umgestaltung des Schulwesens in Sachsen-Anhalt siehe auch Weilandt (1997), zu den ostdeutschen Ländern im Überblick Döbert/Fuchs/Weishaupt (2002), Zedler (1997). Zum Umgang der Lehrkräfte mit den veränderten Strukturen siehe Fabel-Lamla (2004) sowie Meister (2005), auch Wenzel/Meister (2001). Zur Sicht der Schüler siehe auch Grundmann/Kötters (2000).
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grunde liegende unterschiedliche Menschenbild in Ost- und Westdeutschland ebenso wie „Unterschiede im Lern- und Bildungsverständnis, im Unterrichtsverständnis sowie im Schulverständnis“ (ebd.: 23), die bearbeitet werden müssen. 2) Die Sekundarschule als abgewertete Schulform Neben diesen Veränderungen, welche die Lehrerkräfte an allen Schulformen betreffen, zeigen empirische Befunde, dass Sekundarschullehrkräfte zudem als „Verlierer“ der Neuorganisation gesehen werden können, die eine zusätzliche Abwertung der Schulform und ihrer Lehrertätigkeit erleben (vgl. Buchen 1997, Combe/Buchen 1996). Im Zuge der Einführung der neuen Schulformen entstand in der Öffentlichkeit der Eindruck, „dass es sich in der Sekundarschule nicht nur in Bezug auf die Schülerschaft, sondern auch auf die Lehrerschaft um eine Negativauslese – die ‚Übriggebliebenen’ – handelt“ (Combe/Buchen 1996: 195). Diese Einstellung zur Sekundarschule hatte neben dem Verlust der gesellschaftlichen Anerkennung der pädagogischen Arbeit der Lehrenden auch einen Autoritätsverlust innerhalb der Schule zur Folge. 3) Die veränderte Schülerschaft und daraus resultierende Probleme Besonders problematisch stellt sich für die Sekundarschullehrkräfte die veränderte Zusammensetzung der Schülerschaft dar. Aufgrund des Wechsels der Leistungsspitze an das Gymnasium lernen die Lehrpersonen an der Sekundarschule nicht mehr das gesamte Leistungsspektrum kennen und „verlieren das Gefühl dafür, die ‚Entwicklungs- Leistungsfähigkeit – der Jugendgeneration in ihrer gesamten Bandbreite’ beurteilen zu können“ (Combe/Buchen 1996: 193). Dies kann zu sehr unterschiedlichen Leistungsanforderungen an die Schüler führen, welche die Vergleichbarkeit der Lehrerurteile nicht mehr gewährleisten. Weitere Veränderungen in der Schülerschaft betreffen die größere Altersheterogenität der Lerngruppen, ein geschlechtsspezifisches Ungleichgewicht – ein deutlich höherer Anteil der Sekundarschülerschaft ist männlich í sowie den erhöhten Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (vgl. ebd.). 4) Die weitere Selektion der Schülerschaft Eine Besonderheit der Sekundarschule im Vergleich z. B. zum Gymnasium ist die weitere Selektion der Schülerinnen und Schüler innerhalb der Schule nach Klasse sechs. Diese an die Förderstufe anschließende Sortierung wird von den betroffenen Lehrenden durchaus kritisch hinterfragt. Einerseits wird die Unvereinbarkeit von Förderung und Selektion beklagt, andererseits fehlen den Leh-
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renden, insbesondere in den ersten Jahren nach der Umstrukturierung, Orientierungen hinsichtlich der Kriterien zur Unterscheidung zwischen ‚Realschülern‘ und ‚Hauptschülern‘ (vgl. ebd.: 193). Zudem bestehen häufig keine einheitlichen Maßstäbe für die Bewertung von Schülerleistungen, gerade vor dem Hintergrund einer bereits selektierten Schülerschaft. Berichtet wird einerseits das Festhalten eines Teils der Lehrerschaft an den alten ‚hohen’ Bewertungsmaßstäben, welche sich noch an einer das gesamte Leistungsspektrum umfassenden Schülerschaft der früheren Polytechnischen Oberschule60 (POS) orientieren, auf der anderen Seite hingegen das starke Absenken der Leistungsanforderungen durch andere Lehrpersonen (vgl. Buchen 1997: 192). Neben einer zusätzlichen Verunsicherung der Lehrenden in einer Phase der grundlegenden Umstrukturierung führen diese teilweise stark differierenden Bewertungsmaßstäbe zu Unterschieden in der Zuweisung zu abschlussbezogenen Klassen, welche gerade vor dem Hintergrund der Ermöglichung oder Verhinderung von Lebenschancen durch unterschiedliche Bildungsabschlüsse problematisch ist. Auch wenn sich die Bewertungsmaßstäbe in der Zwischenzeit angepasst haben, ist die Aufteilung der Schülerschaft weiterhin ein Thema für die Lehrenden, wie sich in Feldinterviews immer wieder zeigt. 5) Die geringe Kontinuität der neuen Strukturen Die Sekundarschule hat seit ihrer Einführung zum Schuljahr 1991/1992 bereits mehrere grundlegende Änderungen erfahren, die nicht nur die vermittelten Inhalte, sondern vor allem auch die Organisation des Unterrichts und die zu unterrichtende Schülerschaft betreffen. Bereits zum Schuljahr 1997/1998 wurden die erst 1991 eingeführten rechtlichen Rahmenbedingungen wieder reformiert. Auf die weiterhin vierjährige Grundschule folgte nun eine gemeinsame zweijährige Förderstufenzeit für alle Schülerinnen und Schüler eines Jahrganges. Erst danach erfolgte die Selektion auf unterschiedliche Schulformen, zum einen der Übergang zum Gymnasium, zum anderen in die Sekundarschule. Ziel dieser verbindlichen Förderstufe war das längere gemeinsame Lernen sowie die innere Differenzierung mit individuellen Entwicklungsmöglichkeiten (vgl. Bennewitz 2005: 21, Wenzel u. a. 2000). Im Zuge der Umstrukturierung wurde an der Sekundarschule die bisherige Trennung in einen Hauptschul- sowie einen Realschulbil60 Die „Polytechnische Oberschule“, die allgemeinbildende Schule im Schulsystem der DDR, umfasste die Klassenstufen eins bis zehn und führte zu einem mittleren Bildungsabschluss. Sie war eine Einheitsschule, welche i.d.R von allen schulpflichtigen Kindern eines Jahrgangs (mit der Ausnahme von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf bzw. der Schülerschaft von Spezialschulen bzw. -klassen, z. B. im Bereich Sport oder Sprachen) besucht wurde. Alle Fächer wurden im Klassenverband unterrichtet.
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dungsgang aufgehoben und durch ein System „von gemeinsamem Unterricht und äußerer Fachleistungsdifferenzierung“ (Kultusministerium Sachsen-Anhalt 1999: 3) ersetzt. Zum Schuljahr 2003/2004 kommt es zur erneuten Änderung der Strukturen. Die Schulwahlentscheidung für Gymnasium oder Sekundarschule erfolgt nun wieder nach Klasse vier. Die Schülerschaft an der Sekundarschule umfasst nicht mehr den gesamten Jahrgang und auch die Trennung in Haupt- und Realschulzweig nach Klasse sechs wird wieder eingeführt. Diese häufigen Reformen mit Änderungen in den Lehrplänen, der Unterrichtsorganisation sowie in der unterrichteten Schülerschaft stellen für die Lehrerschaft Handlungskrisen dar, die bearbeitet werden müssen und zum Teil zur Ablehnung von Veränderungs- und Entwicklungsprozessen führen. Statt zur Ausbildung neuer Handlungsroutinen führt die „‘Handlungskrise Schulreform’ bei den betroffenen Lehrerinnen und Lehrern in die Verteidigung und Bestätigung bestehender Handlungsroutinen“ (Bennewitz 2005: 188). 6) Schulfusionen und Schulschließungen aufgrund rückläufiger Schülerzahlen Zusätzlich wird der Aufbau von Handlungsroutinen durch die mit dem demographischen Wandel einhergehenden Veränderungen erschwert (vgl. Weishaupt 2002). Der massive Rückgang der Schülerzahlen im Land Sachsen-Anhalt führte in den letzten Jahren zu Schulschließungen und Schulfusionen vor allem von Sekundarschulen, in geringerem Umfang auch von Gymnasien (vgl. Schraml 2005). So wurden im Zeitraum von 1992 bis 2008 mehr als zwei Drittel der Sekundarschulen geschlossen (vgl. Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt 2008). Dadurch ergeben sich zusätzliche Belastungen für die betroffenen Lehrer und Schüler durch Ortswechsel, Erweiterung der Einzugsgebiete und den Verlust von Routinen. Vor allem aber ist es die fehlende Kontinuität innerhalb der Lehrerkollegien und Schulklassen, die insgesamt Neuorientierungen erfordert und die Schaffung gemeinsamer Orientierungen sowie einer verbindenden Schul- und Unterrichtskultur erschwert (siehe auch Meister 2009: 114f.). Zu den Auswirkungen dieses spezifischen Kontextes auf den Unterrichtsalltag von Schülerinnen und Lehrerinnen an der Sekundarschule finden sich in aktuellen Studien erste Hinweise. Busse (2009) zeigt in ihrer Studie zu „Bildungsorientierungen Jugendlicher in Familie und Schule“ die reproduktiven Kräfte im Zusammenspiel von Gemeinde, Sekundarschule und Familie auf und kommt anhand der Rekonstruktion von Interaktionen im Unterricht an der von ihr untersuchten Sekundarschule zu folgender Einschätzung bezüglich der Schulkultur: „Das ideale Arbeitsbündnis dieser Schule ist deutlich von der Zurücknahme der Sach- und Vermittlungsbezüge gekennzeichnet.“ (195)
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Sandring (2006) kann anhand von quantitativen Daten zur Lehrer-SchülerAnerkennung in Sachsen-Anhalt (vgl. Helsper u. a. 2006) signifikante Unterschiede zwischen den Schulformen aufzeigen. „Schüler an Gymnasien nehmen die vergleichsweise geringste Abwertung ihrer Person durch die Lehrer wahr, während Schüler an Sekundarschulen sich demgegenüber nicht besonders geachtet fühlen.“ (152) Für das Land Nordrhein-Westfalen weisen ihre Ergebnisse entgegengesetzte Werte in den Lehrer-Schüler-Anerkennungsbeziehungen auf. „Die größte wahrgenommene Achtung finden wir an Hauptschulen, gefolgt von den Gesamtschulen, während an Gymnasien und Realschulen vergleichsweise geringe Anerkennungswerte zu verzeichnen sind.“ (ebd.) In der qualitativen Teilstudie des Projektes gelangen Sandring/Gibson (2006) hinsichtlich der Sekundarschule zu dem Ergebnis, dass Probleme mit den Schülerinnen und Schülern entweder negiert werden oder aber aus dem Bereich der Schule ausgelagert werden. „Die Aufrechterhaltung der Unterrichtsordnung und die Vermeidung von Disziplinverstößen würden damit an erster Stelle stehen und die Distanz der Lehrer gegenüber umfassenden Bildungs- und Erziehungsaufgaben deutlich werden.“ (183) Die von ihnen rekonstruierten pädagogischen Haltungen der Lehrer verweisen unter anderem auf problematische Lehrer-SchülerBeziehungen, welche auch durch die besondere Strukturproblematik der Sekundarschule bedingt sind. Zusammenfassend formulieren sie das grundlegende Strukturproblem dieser Schulform: „Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen muss generell die Frage gestellt werden, inwiefern eine stark belastete, durch Anerkennungsdefizite gekennzeichnete, verunsicherte Lehrerschaft, die auf eine veränderte, destabilisierte Schülerschaft trifft und selbst auf Unterstützung und Stabilisierung angewiesen ist, in der Lage ist adäquat auf die Schüler einzugehen.“ (192f.) Diese Studien liefern Hinweise zu den spezifischen Problemlagen der Schulform Sekundarschule, welche auch mit den Befunden der vorliegenden Studie in Einklang stehen. Allerdings können sie nur vereinzelt Hinweise auf den praktischen Umgang mit dem grundsätzlichen Strukturproblem der negativ selektierten Schülerschaft im Unterrichtsalltag geben. In der vorliegenden Untersuchung erfolgt nun die Spezifizierung der Schulformproblematik auf der Ebene der unterrichtlichen Praktiken, vor allem im Hinblick auf ihre Bedeutung für den Umgang mit Leistung und Leistungsbewertung in der Sekundarschule. Dabei werden vermittelt über die Teilnehmende Beobachtung im Unterricht die zentralen Situationen der Thematisierung schulischer Leistung aus einer praxeologischen Perspektive untersucht.
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3.1.3 Feld und Feldzugang Auswahl der Schulen und Feldzugang Die ethnographische Untersuchung im Forschungsprojekt fokussierte auf zwei Klassen in kontrastierenden Schulen – einem Gymnasium und einer Sekundarschule. Während der formale Feldzugang zum Gymnasium problemlos verlief, gestaltete er sich im Fall der Sekundarschule komplizierter. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen ist die Schullandschaft in Sachsen-Anhalt aufgrund des starken Geburtenrückgangs in den 1990er Jahren durch Schulfusionen und Schulschließungen geprägt (siehe oben). Dies betrifft in besonders starkem Maße die Sekundarschulen, die zusätzlich durch die große Beliebtheit der Gesamtschulen mit kontinuierlich sinkenden Schülerzahlen zu kämpfen haben. In SachsenAnhalt besuchten im Schuljahr 2005/2006 etwa 45 % der Elfjährigen die Sekundarschule und 42 % das Gymnasium61. Die Entscheidung, welche Form der weiterführenden Schule ein Kind besucht, wird durch eine Empfehlung der Grundschullehrerin in der vierten Klasse bestimmt. Durch zahlreiche Schulschließungen vor und während des Erhebungszeitraums verringert sich nicht nur die Anzahl der in Frage kommenden Schulen, auch die Bereitschaft der Schulleiter zur Kooperation direkt nach einer Fusion ist aufgrund der zusätzlichen Belastung durch Organisation und Koordinierung sehr gering. Zudem war bei einigen Schulen zum Zeitpunkt der Kontaktaufnahme noch nicht abzusehen, ob im Schuljahr 2005/2006 aufgrund geringer Schülerzahlen überhaupt eine fünfte Klasse gebildet werden könnte. (Erschwerend kommt hinzu, dass im Rahmen der Lehramtsausbildung sowie durch andere, quantitative, Forschungsprojekte vielfach in den Schulen geforscht wurde und die Schulleiter zum Teil über „Überforschung“ klagen.) Zusätzlich wird die Belastung mit Lehramtsanwärtern in der zweiten Phase der universitären Lehrerbildung als weiterer Grund der Ablehnung von zusätzlicher Forschung in der Schule angeführt. So sagten die Schulleiter der ersten beiden angeschriebenen Sekundarschulen ab. Begründet wurde dies im einen Fall mit „Überforschung“, im anderen mit personellen Umbesetzungen (Schulleiterwechsel); eine prinzipielle Bereitschaft wurde signalisiert, jedoch frühestens im folgenden Schuljahr für realisierbar gehalten. Darauf änderte das Projekt die Strategie der Kontaktaufnahme. Die Schulleiter wurden nun zuerst angerufen, gefolgt von einem ausführlichen Brief und der Bitte, uns und unser Anliegen persönlich vorstellen zu dürfen. Mit dieser Strategie war das Ethnographenteam an einer dritten Schule erfolgreich. 61 Der Rest verteilt sich auf Gesamtschulen, Schulen in freier Trägerschaft sowie Sonderschulen (vgl. Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt 2006: 27ff.)
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Es folgte ein umfassendes Gespräch des Projektteams mit dem Schulleiter, welcher trotz Klagen über die schwierige Situation der Sekundarschulen in SachsenAnhalt (siehe oben), die hohe Belastung durch die Ausbildung der Referendare sowie die Umstände des aktuellen Sonderstatus62 zur Kooperation bereit war. Letztendlich lag die Entscheidung jedoch bei der künftigen Klassenlehrerin. Nachdem auch sie ihr Einverständnis gegeben hatte, fand eine Vorstellung des Projektes und der Ethnographin vor einem Teil der unterrichtenden Lehrer sowie später auch auf einem Elternabend statt. Alle Eltern willigten schriftlich in die Teilnahme ihres Kindes an der Untersuchung ein. Die Sekundarschule A Bis zum Schuljahr 2005/2006, in welchem die Beobachtungen begannen, erfolgten bereits drei Zusammenlegungen der beobachteten Sekundarschule mit anderen Schulen, jedoch immer am Standort der Schule. Während der Beobachtung erfolgt eine weitere Fusion, die dieses Mal mit einem Standortwechsel verbunden ist. So kommt es neben der Erweiterung des Einzugsbereichs der Schule zu einer hohen Fluktuation in der Lehrerschaft, die eine Identifikation mit der Schule erschwert. Gegen die Fusion und vor allem den Standortwechsel gab es starke Abneigung in der Lehrerschaft und bei den Eltern. Eine Initiative zum Standorterhalt blieb jedoch erfolglos. Zu Beginn der Beobachtungen werden um die 200 Schüler in zwölf Klassen von 21 Lehrern unterrichtet. Eintritt ins Feld Der eigentliche Feldzugang zur Schulklasse, also der tatsächliche Eintritt ins Feld, verlief ebenfalls in Etappen. Während das Projektteam einen möglichst frühen Beobachtungsstart nach Schuljahresbeginn präferiert hätte, bestand die Lehrerin auf mindestens zwei Wochen ohne Beobachtung (vgl. zu diesem Problem auch Ball 1990). Im Anschluss an diese zwei Wochen war die betreffende Lehrerin eine Woche krank, so dass sich der Eintritt ins Feld weiter verzögerte. Nach mehreren Rücksprachen wurde mit der Klassenlehrerin ein Termin für die erste Beobachtung ausgemacht, für den sich kurzfristig herausstellte, dass nur die Mädchen anwesend sein würden. Erst am nächsten Tag konnte die gesamte Klasse beobachtet werden.
62 Regulär müsste es mindestens zwei fünfte Klassen pro Schule geben, damit ab der siebten Klasse eine Aufteilung in Haupt- und Sekundarschulklassen erfolgen kann. In dieser Schule kann aber nur eine fünfte Klasse gebildet werden, was eine besondere Genehmigung erfordert.
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Zum Zeitpunkt des Feldeintritts besteht die Klasse aus 21 Schülern, 13 Jungen und acht Mädchen. Zwei Jungen und ein Mädchen haben in der Grundschule ein Schuljahr wiederholt und sind daher älter als ihre Mitschüler. Ebenfalls älter sind ein Schüler und eine Schülerin, die aufgrund von fehlenden Sprachkenntnissen (beide sind Spätaussiedler aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion) rückgestuft wurden. Zwei weitere Schüler wurden zwar in Deutschland geboren, haben aber jeweils ein Elternteil mit Migrationshintergrund. Die erste Beobachtung stellt insofern eine besondere Situation dar, als nur die acht Mädchen der Klasse sowie einer der Jungen, Manuel, in der beobachteten Stunde im Kunstunterricht anwesend sind, während die anderen Jungen an einem Fußballturnier gegen eine andere Schule teilnehmen. Die Atmosphäre in der Klasse ist entspannt, ich darf durch die Klasse gehen und mir die entstehenden Bilder anschauen. Leise Gespräche der Schülerinnen untereinander sowie mit der Ethnographin sind erlaubt. Und so erklärt mir die Lehrerin (während die Schülerinnen malen) ihr Anliegen hinsichtlich des ersten Bildes der Schülerinnen. Die Schülerinnen wiederum zeigen stolz ihre Bilder und erläutern ihre Ideen hinsichtlich der Umsetzung des Themas „Sonnenblumen“. Sie berichten Ereignisse des Vortages und stimmen weitgehend darin überein, dass Schule viel angenehmer ohne die Jungen ist (Manuel scheint nicht wirklich als Junge zu zählen oder nicht zu stören). Zusammenfassend kann der erste Tag im Feld als offene Aufnahme ins Feld beschrieben werden, sowohl durch die Klassenlehrerin als auch durch die anwesenden Schülerinnen. Beobachtungen im Feld fanden in der Folgezeit nach vorheriger Absprache mit den Lehrerinnen und in Ausnahmen auch spontan statt. Die Reaktionen auf die Beobachtung waren sehr unterschiedlich. Sie reichten von der Ablehnung der Teilnahme im Unterricht durch eine Lehrerin bis hin zur Frage, wann ich denn endlich mal in ihren Unterricht käme, durch eine andere. Die meisten Lehrerinnen zeigten sich dem Anliegen gegenüber jedoch aufgeschlossen und gewöhnten sich sehr schnell an die anwesende Beobachterin und ihr Aufnahmegerät. Auch die meisten Schülerinnen und Schüler der Klasse zeigten sich an der Person und dem Forschungsvorhaben der Ethnographin interessiert. Feldzugang Sekundarschule B Aufgrund der Fusion der Sekundarschule mit einer anderen Sekundarschule während des Beobachtungszeitraums musste ein weiterer Feldzugang geschaffen werden. Der Schulleiter dieser neuen Sekundarschule zeigte sich dem Forschungsvorhaben gegenüber ebenfalls sehr aufgeschlossen, betonte jedoch auch die große Belastung, welche die Fusion für Schulleitung wie Lehrerschaft darstellt. Eine gewisse Überzeugungsarbeit der Ethnographin musste geleistet wer-
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den, um den Schulleiter nicht nur von der hohen Bedeutung der weiterführenden Beobachtungen zu überzeugen, sondern auch zu versichern, dass die Beobachtung keineswegs zusätzlichen Aufwand von Seiten der Schule erfordere. Der Feldzugang wurde schließlich gewährt. Auch die drei Klassenlehrerinnen der siebten Klassen, auf die sich die Schüler der ursprünglichen Klasse nun verteilten, stimmten der Beobachtung zu. Die Beobachtungen in der neuen Sekundarschule fokussierten lediglich die ehemaligen Schüler der Stammklasse. 3.1.4 Die Rolle der Ethnographin im Feld Die Rolle, welche die Ethnographin im Feld einnimmt, ist strukturell im System Schule nicht vorgesehen. Zwar gibt es mehr oder weniger häufig vorkommende Rollen von Beobachterinnen im Unterricht, z. B. Studentin, Praktikantin, Referendarin, hospitierende Lehrerin, Vertreterin der Schulleitung, Elternvertreterin, externe Evaluatorin oder Universitätsangehörige bei der Betreuung von Studierenden im Praktikum. Bei all diesen Rollen sind den Teilnehmern im Feld der Zweck und das Ziel der Beobachtungen mehr oder weniger klar. Die Rolle der Ethnographin ist für die Teilnehmer weniger klar; sie stellt eine unbekannte Größe dar und muss in ihrer Bedeutung für das eigene Handeln im Unterricht erst noch eingeschätzt werden. Dabei wird ihre Rolle nicht nur von den einzelnen Teilnehmern im Feld unterschiedlich interpretiert und bewertet, sie kann auch situationsspezifisch variieren. Die Rolle der Ethnographin im Feld muss also immer wieder neu verhandelt werden, der Grad ihrer Einbindung in Aktivitäten der Teilnehmer sowie die Situationen, welche der Beobachterin zugänglich gemacht werden, werden immer neu und ad hoc entschieden. Ein zentrales Anliegen der Ethnographin war es, ihre Position für Schüler- wie Lehreranliegen offen zu halten, das heißt, sich gerade nicht auf Zugehörigkeiten festlegen zu lassen. Dazu war es nötig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Beobachterin keine Lehrerin ist, auch keine angehende Lehrerin. Versuche der Lehrerinnen, die Beobachterin über eine ‚Hilfslehrerinnen-Rolle‘ einzubinden, mussten abgewehrt werden. Diese reichten von der Aufforderung, Schülerprodukte mündlich zu bewerten, bei kurzzeitiger Abwesenheit der Lehrerin im Unterricht die Klasse zu disziplinieren bis hin zu der Idee in einer Zeugnisnotenbesprechung im Unterricht die Leistungen der Schüler einzuschätzen. Auch die Schülerinnen und Schüler mussten Formen des Umgangs mit der zusätzlichen Beobachtung finden. Was genau wird beobachtet, was macht die Beobachterin mit ihren Erkenntnissen? Nachdem jedoch deutlich wurde, dass die Beobachterin regelwidrige Praktiken der Schüler nicht an die unterrichtenden
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Lehrer berichtet, konnte ein Vertrauensverhältnis zwischen Beobachterin und Schülerinnen und Schülern aufgebaut werden, welches eingehende Beobachtungen erst ermöglichte. 3.1.5 Zum Aufbau der Sekundarschulstudie Die Analyse der mit Leistungsbewertung verbundenen Praktiken setzt bei den zugrunde liegenden Regeln des Schulalltages an, d. h. es wird danach gefragt, wodurch der Unterricht an der Sekundarschule bestimmt ist (Kapitel zwei). Hier wird zunächst die Unterrichtskultur näher beschrieben, die vor allem durch Disziplinierung und Kontrollpraktiken geprägt ist. Kapitel drei fokussiert speziell Situationen von Leistungserhebung und Leistungsbewertung im Unterrichtsalltag, wie mündliche und schriftliche Tests sowie die Rückgaben von Tests und Klassenarbeiten. Darüber hinaus werden auch aus dem Unterrichtsalltag herausgehobene Situationen wie die Besprechung der Zeugnisnoten im Unterricht, die Verhandlung von Noten in Zeugniskonferenzen sowie die ‚rituellen Höhepunkte‘ – die Zeugnisausgaben – analysiert. In Kapitel vier wird dann die Perspektive gewechselt. Die Effekte der analysierten Praktiken werden auf einzelne Fälle bzw. ‚Figuren‘ im Feld bezogen dargestellt. Die hier fokussierten Schüler und die Schülerinnen vertreten unterschiedliche Leistungspositionen und repräsentieren unterschiedliche Haltungen gegenüber der Leistungsthematik, die sich in kontrastierenden Praktiken widerspiegeln. Dabei kann aufgezeigt werden, dass in den Praktiken der Leistungsbewertung ‚Figuren‘ konstruiert werden, anhand derer zentrale Probleme von Leistungsbewertung verhandelt werden. Kapitel fünf stellt Beobachtungen in einer Hauptschulklasse in Westdeutschland vor, welche die Befunde aus den Analysen der beobachteten Sekundarschulklasse in Sachsen-Anhalt ergänzen und kontrastieren. Das abschließende sechste Kapitel fasst die Erkenntnisse der Einzelstudien zusammen und diskutiert diese mit Bezug auf die Schulform Sekundarschule sowie das Lehrerhandeln. 3.2 Zwischen Wohlverhalten und Leistungsethik. Bedingungen des Lernens und Lehrens an der Sekundarschule Kunst, Anfang Klasse fünf Im Kunstunterricht soll weiter an den Sonnenblumenbildern gearbeitet werden. Frau Köhler ist viel in der Klasse unterwegs, jetzt ist sie bei Franziska, die ihr Bild eigentlich schon fertig hatte, sich dann aber noch zu einer Änderung entschlossen hat und den Himmel sehr dunkelblau gestaltet hat. (Während des Malens hat sie mir ihre Idee erklärt: „Jetzt sieht es aus, als würde es bald regnen.“) Frau Köhler gefällt das nicht so gut, sie schlägt vor, den Hintergrund vom Bild abzuschneiden und einen neuen Hin-
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tergrund zu malen. Gesagt, getan: Während Franziska daneben sitzt und schaut, greift die Lehrerin zur Schere und schneidet einen Teil des Blattes ab. Franziska holt sich ein neues Blatt und beginnt, den Hintergrund neu zu malen. […] Ich weiß nicht genau, was Hans falsch gemacht hat, aber er muss noch einmal von vorn beginnen. „So wird das nichts!“ erklärt Frau Köhler. Sie nimmt sein Bild, knüllt es zusammen und wirft es in den Papierkorb, Hans soll sich ein neues Blatt nehmen. Er fragt etwas, das ich nicht verstehe. „Mach wie du denkst“, kommt als Antwort von der Lehrerin, dann ist sie schon beim nächsten Schüler. Hans schwatzt zwischendurch immer mal wieder mit den Leuten in der Umgebung. Nach einigen Ermahnungen schreitet Frau Köhler zur Tat: Hans muss ‚umziehen‘, da sie einfach seinen Wasserbecher mit Pinsel in die letzte Reihe stellt. Hans bleibt vorerst auf seinem Platz sitzen. Wo das Problem sei, möchte Frau Köhler wissen. Hans hat seinen Tuschkasten vergessen und bis eben den von Christian mitbenutzt. Er muss sein Hausaufgabenheft vorlegen und setzt sich dann in die letzte Reihe. Sogleich folgt die nächste Rüge von der Lehrerin: Hans hat die Wochen nicht richtig oder gar nicht beschriftet, so dass Frau Köhler die aktuelle Woche nicht sofort findet. Hans sitzt jetzt hinter mir vor einem fast leeren Blatt und kann auch nicht weiter malen, da er keine Farben hat. Er macht seine Finger nass und betupft so das Blatt. Als ich mich das nächste Mal zu ihm umdrehe, sitzt er brav vor seinem Blatt, während Christian auf dem Weg zum Waschbecken ein paar Worte mit ihm wechselt. Frau Köhler ist ungehalten: „Hans, arbeitest du bitte mal!“ „Aber ich habe doch keine Farben!“ gibt Hans etwas verzweifelt zurück. „Ach so, du hast keine Farben, hm“, sagt die Lehrerin in gedehntem Tonfall. Ich wundere mich, was hier passiert und schaue gespannt nach vorn zur Lehrerin, dann wieder zu Hans. Dieser hat plötzlich Farben auf seinem Tisch, Hermann stellt sich als freundlicher Spender der Farben heraus, Frau Köhler lobt ihn dafür und Hans bedankt sich höflich. Frau Köhler ist wieder an seinem Tisch und schimpft ein weiteres Mal über die fehlende Wochenbeschriftung, da sie ihren Eintrag noch einmal neu schreiben muss. Frau Köhler geht und Hans beginnt mit einer Sonnenblume. Während Hans malt, kommt Felix vorbei, der sein Bild bereits beendet hat. Er schaut einen Moment zu und begutachtet dann fachmännisch das entstehende Bild von Hans, wird jedoch sogleich von Frau Köhler dafür gerügt, die scheinbar diese gegenseitige Begutachtung nicht schätzt.
Dieses Beispiel entstammt einer der ersten Beobachtungen in der Sekundarschule zu Beginn der fünften Klasse. In einem Feldinterview erklärt die Lehrerin ihre Intention bezüglich der entstehenden Sonnenblumenbilder: Diese ersten Bilder sollen noch nicht zensiert werden, sondern sollen der Lehrerin einen ersten Eindruck von den Fähigkeiten der Schüler vermitteln. Gerade auch vor diesem Hintergrund irritiert das teilweise übergriffige Verhalten der Lehrerin, wenn sie zum Beispiel das Bild einer Schülerin zerschneidet, weil ihr der Hintergrund missfällt, oder das Bild eines anderen sogar komplett zerstört. Was passiert hier und welcher Logik folgt das Geschehen? Welche Relevanzsetzungen werden deutlich, wenn ein Schüler als Reaktion auf fehlende Unterrichtsmaterialien einen Eintrag in das Hausaufgabenheft erhält und am Weiterarbeiten gehindert wird? Wiederkehrende Themen wie das häufige Rügen durch die Lehrerin, der Umgang mit vergessenem Arbeitsmaterial sowie der regelmäßige Einsatz des Hausaufgabenheftes, um Verweise u. ä. einzutragen, lassen sich diesem Protokollausschnitt einer einzigen Stunde entnehmen. Aber auch andere Aspekte der tägli-
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chen Interaktion zwischen Lehrern und Schülern, wie der Umgang mit Schülerprodukten, hier den Sonnenblumenbildern, oder den von den Schülern selbst ausgehenden Angeboten gegenseitiger Hilfe oder Beurteilung, werden sichtbar. Im folgenden Kapitel soll die spezifische Unterrichtskultur an der beobachteten Sekundarschule beschrieben und analysiert werden. Wie gestaltet sich der Unterricht? Wie gehen Lehrer und Schüler miteinander um? Welche Anforderungen werden an die Schülerinnen und Schüler gestellt? Besondere Aufmerksamkeit gilt Praktiken der Einsozialisation in die Sekundarschule, das heißt der Verhandlung zentraler Verhaltens- und Leistungserwartungen. Auch wenn es sich überwiegend um von den Lehrkräften initiierte Praktiken handelt, ist auf den hohen Anteil der Schülerinnen und Schüler an deren Ausgestaltung und Aufrechterhaltung hinzuweisen. Der Unterricht in der Schule ‚passiert‘ nicht einfach, oder wird von den Lehrern für die Schüler durchgeführt, sondern alle Teilnehmer der Situation kooperieren in der Herstellung einer Interaktionsordnung, die es ermöglicht von Unterricht zu sprechen (siehe Payne 1976; Davies 1983). Ohne die Kooperation der Schülerinnen und Schüler kann kein Unterricht stattfinden, allerdings bestehen auch Asymmetrien in den Handlungsspielräumen von Lehrern und Schülern. Die folgenden Ausführungen fokussieren also nicht getrennt auf Lehrerhandeln oder Schülerhandeln, sondern auf die von Lehrern und Schülern gemeinsam getragenen Praktiken. Bei eingehender Betrachtung des Unterrichts ist eine starke Fokussierung der Lehrenden auf Bemühungen, das Verhalten der Schülerinnen und Schüler zu regulieren, auffällig. Kaum eine Stunde vergeht ohne Ermahnungen, Rügen und Eintragungen. Dies erweckt den Eindruck, dass es an dieser Schule zunächst einmal um die Einsozialisation der Schülerinnen und Schüler in die Sekundarschule geht und inhaltliche Aspekte des Unterrichts sowie Leistungen und Noten in den Hintergrund treten. Es vergeht jedoch auch kaum ein Tag, an dem keine Arbeit oder ein Test geschrieben oder zurückgegeben wird, oder aber mündliche Noten erteilt werden. Ebenso wie die unablässige Disziplinierung ist auch die Allgegenwärtigkeit von Noten und Leistungsbewertung zentraler Bestandteil des Unterrichtsalltags an der Sekundarschule. Dabei scheint ein Spannungsverhältnis zwischen Praktiken der Disziplinierung und Praktiken der Förderung sowie der Konstitution von Leistungsorientierung zu bestehen. Dem soll im Folgenden anhand zentraler Szenen des Unterrichtsalltages an der Sekundarschule nachgegangen werden. Werden in den einzelnen Abschnitten auch so unterschiedliche Situationen wie das ‚Sammeln‘ von Zensuren für den „Zensurenkönig“ (3.2.1), das „Erteilen“ von Verhaltensnoten für Mitschüler (3.2.2), die „Hausaufgabeneintragskontrolle“ (3.2.3) sowie ein Lehrermonolog anlässlich der Besprechung von Zeugnisnoten (3.2.4) fokussiert, so handelt es sich jeweils um verschiedene Aspekte der besonderen Unterrichtskultur der Se-
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kundarschule, die durch Versuche stetiger Verhaltensnormierung sowie die Aufweichung des Leistungsprinzips, beispielsweise im „Zensurenkönig“, gekennzeichnet ist. Zugleich sollen die Schüler auf Leistung verpflichtet werden. 3.2.1 Versuche der Konstitution von Leistungsorientierung – Applaus für gute Noten Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit zwei notenbezogenen Praktiken, welche ausschließlich, zumindest was Art und Weise der Ausführung betrifft, in der Sekundarschulklasse beobachtet werden konnten. Ausgangspunkt ist ein Ritual, welches zu Beginn der fünften Klasse von der Klassenlehrerin eingeführt wurde – der „Zensurenkönig“. Kurz gefasst passiert hier Folgendes: Einmal in der Woche werden einzelne Schüler auf der Basis ihrer Noten mit einem kleinen Geschenk von der Klassenlehrerin sowie einem Applaus der ganzen Klasse geehrt. Die zweite Praktik ist aus der ersten heraus entstanden – der Applaus der gesamten Klasse bei der Verkündung guter Noten in Leistungsrückmeldesituationen. Die Schüler selbst haben den Beifall für Noten auf andere Unterrichtssituationen übertragen und im Laufe der Zeit auch teilweise für andere Zwecke adaptiert. Anhand dieser beiden Praktiken werden zwei zentrale Problembereiche von Schule als solcher näher untersucht, die jedoch an der Sekundarschule zu ganz spezifischen Bearbeitungsversuchen führen: 1) Das Problem der Herstellung der Bedeutung von (guten) Noten und damit der Anerkennung von Schule schlechthin. 2) Das Verhältnis von gegenseitiger Anerkennung der Leistungen und dem Wettbewerb von Schülerinnen und Schülern im Unterricht. Im vorliegenden Kapitel werde ich folgendermaßen vorgehen: Zunächst wird die Ausgangspraktik „Zensurenkönig“ beschrieben, durch welche das Klatschen für Noten im Unterricht eingeführt wurde. Im Anschluss daran wird die Ausweitung des Beifalls durch die Schülerinnen und Schüler auf Situationen der Rückgabe von Tests und Arbeiten beschrieben. Das Klatschen in diesen Situationen entwickelt wiederum eine eigene Dynamik, einhergehend mit einer Bedeutungserweiterung für die Schüler, welche im Anschluss dargestellt wird. Abschließend werden die beschriebenen Praktiken bezüglich ihrer Funktion innerhalb der Sekundarschulklasse analysiert. Die Noten bedeutsam machen í Der „Zensurenkönig“ Den Ausgangspunkt für die vorliegende Analyse von Beifall im Unterricht bildet eine Praktik, welche kurz nach Beginn des Feldaufenthalts in der Sekundarschule, während der ersten Wochen der fünften Klasse, erstmals beobachtet werden
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konnte – der „Zensurenkönig“. In ihm verbinden sich unterschiedliche Themen wie die gegenseitige Unterstützung von Peers innerhalb der Schulklasse sowie deren Wettstreit untereinander und die Aufgabe der Herstellung der Bedeutsamkeit von Noten in der Schule. Bei letzterer handelt es sich um eine Spezifik der Sekundarschule. Am beobachteten Gymnasium gehen Lehrerinnen und Schülerinnen von vornherein davon aus, dass Noten bedeutsam sind und handeln entsprechend, so dass die Bedeutsamkeit der Noten nicht primär hergestellt werden muss. Die folgende Szene entstammt dem Fach „Lernen Lernen“, welches von der Klassenlehrerin unterrichtet wird. Das Fach dient u. a. der Einübung von schulbezogenen Kompetenzen wie Lernstrategien u. ä. Es unterscheidet sich vom „normalen“ Unterricht u. a. dadurch, dass es keine Tests und keine Noten gibt. Gleich zu Beginn der Stunde wird der „Zensurenkönig“ durchgeführt. Alles geht sehr schnell, vieles ist für die Ethnographin, die noch neu im Feld ist, unerklärlich und irritierend, aber auch ungemein spannend. „Lernen Lernen“, Anfang Klasse fünf Lehrerin: „Wir wollen gucken, wer Einser-, Zweier-, Dreierkönig wird.“ Das Zählen von je eins bis vier Einsen („Wer hat eine Eins, wer hat zwei Einsen?“) ging so schnell, dass ich mir nichts notieren konnte. In schnellem Wechsel werden die Noten abgefragt und Hände schnellen nach oben. Ich weiß gar nicht, wo ich zuerst hinschauen soll und versuche wenigstens das ‚Endergebnis‘ festzuhalten. Manuel hat fünf Einsen, Martina sogar sieben. Ich wundere mich kurz, wo sie in der letzten Woche so viele Noten bekommen haben. Martina wird der Einserkönig63 und bekommt ein kleines Präsent. Die Kinder klatschen. Dann geht es auch schon mit den Zweien weiter. Die ersten Abfragen gehen ebenfalls sehr schnell. Ein Überblick über die ganze Klasse – wer wie viele Zweien hat – ist mir nicht möglich. Robert und Manuel haben jeweils vier Zweien und sind damit beide Zweierkönig. Sie dürfen zwischen zwei Kinderriegeln oder zwei Kaugummis wählen. Die Klasse klatscht für die beiden. Dann erfolgt alles noch einmal für die Dreien. Für den Dreierkönig gibt es sogar vier Anwärter: Felix, Franzi, Sonja und Martina haben je drei Dreien. Martina verzichtet (nach Rückfrage, also Quasi-Aufforderung von Frau Köhler) zugunsten der anderen auf ein Geschenk. Die anderen bekommen ihre Preise und einen Applaus. Dann werden noch die Noten im Hausaufgabenheft abgestrichen, damit sie für das nächste Mal nicht mehr verwendet werden können.
Was passiert hier? Die Grundlage der Praktik bilden die Zensuren der Schüler, welche sie innerhalb der vergangenen Woche erhalten haben. Diese werden gezählt, ihre Häufigkeit ist wichtig. Der Schüler oder die Schülerin mit den meisten Einsen bzw. den meisten Zweien oder Dreien bekommt dafür eine Kleinigkeit von der Lehrerin überreicht. Der Stellenwert der ‚Gabe‘ bleibt unklar; handelt es sich um ein Geschenk (ohne Leistungsbezug) oder um einen Preis bzw. eine Belohnung (mit Leistungsbezug)? Welchen Stellenwert haben die Schülerleistungen im Ritual? 63 Es wird immer der Zensurenkönig gekürt, auch wenn es sich um eine Schülerin handelt.
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Wie genau funktioniert nun also der „Zensurenkönig“? Damit er überhaupt stattfinden kann, müssen einige Voraussetzungen erfüllt sein. Die Kinder müssen ihre Zensuren irgendwo sichtbar und zurechenbar aufgeschrieben haben. Dazu verwenden die Schüler eine Seite ihres Hausaufgabenheftes; die einzelnen Unterrichtsfächer sind untereinander aufgeführt, die Noten werden in einer langen Reihe daneben festgehalten. Können die Kinder bei der Angabe der Noten schummeln? Prinzipiell fällt es wohl nicht auf, wenn die eine oder andere Note dazugeschrieben wird. Jedoch gibt es in der Klasse eine grobe Vorstellung vom jeweiligen Leistungsvermögen der einzelnen Schüler í ungewöhnliche Noten fallen auf. Ebenso kommt es zu Protesten, wenn ein Schüler deutlich mehr Noten als alle anderen aufweist. Er muss dann offen legen, welche Note er wofür bekommen hat und Mitschüler sowie Lehrerin entscheiden nach Glaubwürdigkeit. Zum Abschluss der Praktik werden die Noten abgestrichen oder sogar durchgestrichen. Dies dient der Vorbereitung auf die nächste Aufführung des „Zensurenkönigs“, denn es dürfen nur die jeweils neu dazu gekommenen Noten gezählt werden. Dieses Abstreichen/ Durchstreichen wird von der Lehrerin überwacht. In gewissem Sinne werden die Noten mit diesem Akt jedoch zerstört, bzw. wertlos. Denkt man diesen Gedanken zu Ende, so könnte man schlussfolgern: Sinn und Zweck der Noten ist es, im „Zensurenkönig“ gezählt zu werden und dem Besitzer ein Geschenk und einen Applaus zu sichern! Eine Bedeutung darüber hinaus besitzen sie innerhalb der Situation nicht. „Lernen Lernen“, Klassenleiterstunde Alle Kinder sollen ihre Hausaufgabenhefte aufschlagen und ihre Einsen der letzten Woche zählen. Paul schaut weiterhin in sein Hausaufgabenheft, was Hans und Christian machen, kann ich nicht erkennen, sie schwatzen ein wenig. Jetzt wird durchgezählt: Wer hat eine Eins, zwei Einsen usw. Christian hat gar keine Eins, Paul hat zwei und Hans hat vier. Manuel hat mal wieder die meisten (7), die Überraschung ist jedoch Jens, der mit fünf Einsen auftrumpft. Die Klasse ist überrascht und würdigt die Leistung von Jens mit einem Beifall. Von Frau Köhler bekommt er Luftballons. Manuel bekommt als „König“ ebenfalls Luftballons. Franzi L und Elisabeth hinter mir mosern ein wenig: „Manuel, du musst die Einsen der letzten Woche wegstreichen!“ Manuel verteidigt sich, das hätte er gemacht. Jetzt werden die Zweien gezählt, aber es gab nur sehr wenige, abgesehen von Jens, der fünf Zweien zählt. Mehrere aus der Klasse wollen wissen, wo er so viele Noten bekommen hat, er nennt die Fächer, Werken, Ethik u. a. und ist ganz stolz. Ich vermute, dass dies nicht die Noten einer Woche sind, sondern von mindestens zwei Wochen, da Jens in der Woche vor den Ferien nicht an der Klassenleiterstunde teilgenommen hat. Bei den Dreien liegt Manuel mit einigen anderen gleichauf. Frau Köhler fragt, ob er verzichten würde, aber er hätte gern noch mehr Luftballons, allerdings fällt der Beifall für ihn sehr spärlich aus, was Frau Köhler nicht duldet: „Bitte ein kräftiger Beifall!“ Die Kinder kommen ihrer Bitte nach. […] Jetzt sollen die Zensuren im Heft abgestrichen werden, damit keiner gute Noten doppelt zählt. Frau Köhler geht durch die Reihen und kontrolliert das Abstreichen. Hans hat alles ordnungsgemäß gemacht, woraufhin Christian ihm mehrfach kräftig über den Rücken streicht: „Braves Kind, hast du fein gemacht!“
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Der gesamte „Zensurenkönig“ ist meist in etwa fünf Minuten abgehandelt. Mitunter fordert Frau Köhler die Kinder schon vor dem Beginn der Stunde (nach dem Vorklingeln) dazu auf, ihre Zensuren zu zählen, damit sie zu Stundenbeginn bereit sind. Das öffentliche Zählen geht dann auch recht schnell, ebenso das Überreichen des Preises und der Applaus. Verzögerungen ergeben sich höchstens bei Einwänden von Seiten der Schüler. Diese Einwände beziehen sich entweder auf die Art der Zensuren oder deren Anzahl. Sobald jedoch Frau Köhler von der Korrektheit überzeugt ist, geht es weiter. Der „Zensurenkönig“ findet einmal pro Woche, am Freitag, im Unterricht der Klassenlehrerin statt und stellt einen Höhepunkt der Woche dar. Allerdings geht das Ganze auch sehr schnell über die Bühne und ist damit für die Schülerinnen und Schüler nur ein sehr kurz genießbarer Höhepunkt. Einerseits schafft die Lehrerin somit die Möglichkeit für ein derartiges Ritual, andererseits wird ihm nur so viel Zeit wie unbedingt nötig ist, eingeräumt. Die Eile, mit der der „Zensurenkönig“ durchgeführt wird, ist also eine Konstante des Rituals. Dies wird auch in der nächsten Szene deutlich, die einige Wochen später beobachtet wurde. Nach der Rückgabe des Tests macht die Lehrerin übergangslos mit dem Einserkönig weiter. „So, es geht los. Zählt bitte eure Einsen zusammen. Jens, Einsen zusammenzählen!“ Jens: „Habe ich schon.“ Lehrerin: „Hast du schon, so, wer hat eine Eins, Finger hoch? (Meldung) sehr schön, wer hat zwei Einsen? Wer hat drei Einsen? Wer hat vier Einsen? Wer hat fünf Einsen? Martina! (Gemurmel) Wo se recht hat, hat se recht.“ Die Lehrerin geht zu Martina und fragt: „Zwei Spangen, würdest du dich darüber freun? Du hast ja lange Haare.“ Martina nickt schüchtern. Lehrerin: „Bitteschön. Einmal Gratulation für den Einserkönig.“ Die Kinder klatschen. „Kommen wir nun zu den Zweien. Wer hat eine Zwei? Sehr schön. Zwei Zweien? Noch besser. Wer hat drei Zweien? Prima. Vier Zweien? Wunderbar. Fünf Zweien? (vereinzelt Stöhnen, viele Kinder nehmen ihre Arme nach unten), wer hat sechs Zweien?“ Felix, Hans und Robert melden sich noch. „Sieben Zweien?“ Roberts Arm geht nach unten, er schaut ein wenig enttäuscht, die Arme von Felix und Hans bleiben oben. „Acht Zweien?“ Acht Zweien hat niemand. „Okay. So, dann machen wir das so … Dann haben wir zwei Zweierkönige.“ Die Lehrerin übergibt den beiden ihre Geschenke und fordert dann die Klasse auf: „Gratulation für den Zweierkönig!“ Es folgt Applaus der Klasse, dann geht es gleich weiter. „Dreierkönig. Zählt eure Dreien. Wer hat eine Drei? Zwei Dreien? Drei Dreien? Vier Dreien?“ Nach und nach gehen die Arme runter und bei vier Dreien ist Max ist der einzige, der sich noch meldet. „Fünf Dreien jemand? Es meldet sich niemand. Max, Gratulation!“ Die Kinder klatschen und die Lehrerin geht zu Max, er darf zwischen einem Schokoriegel und Kaugummis wählen. Max entscheidet sich für die Kaugummis. Er freut sich sichtlich, zieht die Arme durch und jubelt: „Yeah“. Lehrerin wendet sich an die Klasse: „So, okay, so umschalten auf Klassenleiterstunde.“
Das Ritual dauert insgesamt nur wenige Minuten, es ist jedoch sehr dicht und komplex. Alle Schüler werden mehr oder weniger aktiviert. Zuerst zählen die Schüler ihre Noten, dann müssen sie sich melden, später klatschen sie für ihre Mitschüler.
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Bei genauerer Betrachtung erinnert die obige Szene doch sehr stark an eine Auktion. Ähnlich wie bei einer Versteigerung erhält derjenige den „Zuschlag“, in diesem Fall Schokolade oder ein Kleinspielzeug, der das meiste bietet. Im Fall des „Zensurenkönigs“ sind es Noten. Noten haben also in diesem Ritual einen ganz realen Tauschwert. Allerdings ist dieser stark reglementiert. Chancen hat man nur, wenn man möglichst viele Noten von einer Sorte hat und da zählen auch nur Einsen, Zweien und Dreien. Noten werden hier also in ganz neuer Weise verwendet. Es geht nicht um Durchschnitte oder ein insgesamt gutes Abschneiden in der letzten Woche. In der Logik dieses Rituals ist es zum Beispiel günstiger sieben Zweien zu bekommen als fünf Zweien und zwei Einsen. Warum lobt die Lehrerin in dieser Szene die jeweilige Anzahl Zweien so deutlich, während bei den Einsen und den Dreien nur durchgezählt wird? Die Eins ist selbst schon Lob genug, die Zwei ist als erstrebenswertes und realistisches Ziel für viele zu etablieren, die Drei hingegen soll als immer noch akzeptable Note gewürdigt werden, kann aber kaum ausdrücklich gelobt werden. Es ist davon auszugehen, dass jeder Schüler mindestens einmal die Möglichkeit zu einem „Erfolgserlebnis“ (wenn auch im kleinen Rahmen) haben kann, indem er sich bei der einen oder anderen Notenabfrage melden kann. Mit ein wenig Glück hat auch jeder Schüler prinzipiell die Möglichkeit zu ‚gewinnen‘. Allerdings werden Schüler, die in vielen Fächern homogene Leistungen erbringen, strukturell bevorzugt. Insgesamt kann man jedoch sagen, das Ritual weicht das Leistungsprinzip zugunsten des Zufallsprinzips auf. Weiterhin entsteht für die Schüler und Schülerinnen eine Konkurrenzsituation, bei der die Quantität von Zensuren im Vordergrund steht. Die Logik des „Zensurenkönigs“ fördert eher die Homogenisierung der Leistungen einzelner Schüler, statt die Schülerinnen zu Leistungssteigerungen in den Fächern anzuregen. Trotz der kurzen Dauer bieten sich den Schülern einige Möglichkeiten der individuellen Ausgestaltung des Rituals. Beim Melden werden von den Schülern zwei grundlegend verschiedene Strategien angewendet, welche jedoch in ihrer Häufigkeit variieren. Die vorherrschende Strategie sieht folgendermaßen aus: Der Schüler beginnt schon bei der ersten Frage „Wer hat eine Eins?“ mit dem Melden, vorausgesetzt er hat eine Eins, und meldet sich so lange bis seine ‚Höchstzahl‘ erreicht ist. Einige Schüler bringen jedoch mehr Spannung ins Spiel: Sie warten so lange ab, bis ‚ihre‘ Anzahl abgefragt wird und melden sich dann. Somit können sie einen Überraschungseffekt erzielen. Diese Strategie wird überwiegend dann angewendet, wenn sich der Schüler aufgrund der großen Anzahl von Noten einer Sorte berechtigte Hoffnungen auf die Erlangung des Preises machen kann. Zu Beginn des Abfragens meldet sich fast die gesamte Klasse, während das Teilnehmerfeld sich im weiteren Verlauf rasch verkleinert und die Schüler ihre direkten Konkurrenten gut überblicken können. Das ‚strategische
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Melden‘ kann so einem Schüler doppelten Gewinn bringen. Zum einen ganz regulär dadurch, dass der Schüler durch die Anzahl seiner Noten der „Zensurenkönig“ wird, zum anderen kann er einem Mitschüler, der sich bereits als Gewinner wähnte, eine herbe Enttäuschung bescheren und sich an dessen Enttäuschung erfreuen. Die Mitglieder der Schulklasse sind gleichermaßen Teilnehmer und Publikum innerhalb des Rituals. Auch wenn man schwerlich die gesamte Klasse in den Blick bekommt, so ist es den Schülern doch möglich, gezielt den besten Freund oder aber einen bestimmten Konkurrenten zu fokussieren. Der ‚Gewinner‘ erhält für einige Sekunden eine Bühne und bekommt nicht nur einen Preis, sondern auch einen Applaus von der gesamten Klasse (der mal stark, mal weniger stark ausfällt). Es gibt also mehrere Gründe aus Schülersicht, sich am „Zensurenkönig“ zu erfreuen. Aber wie kommt eine Lehrerin dazu, ein derartiges Ritual einzuführen, in welchem u. a. der Schüler mit den meisten Dreien belohnt wird? Welche Funktion soll der „Zensurenkönig“ erfüllen? In der Schulform Sekundarschule findet sich ein hoher Prozentsatz Schüler, die in den vier Jahren der Grundschule überwiegend schlechte Erfahrungen mit Noten gemacht haben und in den meisten Fällen kein positives Leistungsverständnis entwickeln konnten. Auch wenn sich die Schule keineswegs in einem so genannten ‚Brennpunktgebiet‘ befindet, gelten die meisten Schüler unter den Lehrern im besten Fall als wenig leistungsorientiert, im schlimmsten Fall als „hoffnungslos“. In Feldinterviews erklärt die Lehrerin als Ziel des Rituals, die Bedeutung von Noten auf spielerische Weise zu stärken und auch den leistungsschwächeren Schülern Erfolgserlebnisse in Verbindung mit guten Noten bescheren zu wollen. Die Grundlage dieser pädagogischen Agenda bildet der Einbezug der Note ‚Drei‘ in den Bereich der guten Noten. Ähnlich einem Mantra wird die Aussage „Die Drei ist eine gute Note.“ in den einzelnen Unterrichtsstunden beständig von der Klassenlehrerin (zum Teil auch von den anderen Lehrern) wiederholt. So wird auch verständlich, dass nicht nur der „Einserkönig“ ‚gekürt‘ wird, denn dies würde eher zu Frustrationen bei einem Großteil der Schüler führen und die Motivationseffekte würden weitgehend ausbleiben. „Zweier-“ und „Dreierkönig“ bieten somit deutlich mehr Schülern die Möglichkeit auf positive Erlebnisse im Zusammenhang mit Noten. Selbst Schüler, die selten oder nie die objektiv sehr gute Note Eins erreichen, haben so die Möglichkeit, einmal pro Woche für ihre Leistungen mit Schokolade oder Spielzeug belohnt zu werden und den anerkennenden Applaus der Mitschüler zu erhalten. Gerade hier wird jedoch auch der interne Widerspruch bzw. das Problematische der Praxis deutlich. Der „Zensurenkönig“ wurde eingeführt, um die Schüler zu motivieren, um ihnen die Bedeutung der Schulnoten zu vermitteln und sie zu mehr Leistungsbereitschaft zu animieren. Innerhalb des Rituals „Zensurenkönig“
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wird jedoch gerade die Einzelleistung eines Schülers ausgeblendet. Die Leistungen, die zu den einzelnen Noten geführt haben, interessieren im Rahmen der Praktik nicht. Die Noten führen gewissermaßen ein Eigenleben (siehe Breidenstein 2006), sie stehen für etwas anderes64. Zu den auffälligen Aspekten des Rituals gehört es, dass beim „Zensurenkönig“ nicht der oder die ‚Beste‘ über einen Durchschnitt ermittelt wird í ein probates Mittel bei Zeugnisausgaben (vgl. Breidenstein/Meier/Zaborowski 2007 sowie Kap. 3.3.5) í sondern über die reine Häufigkeit von Noten in einer Notenkategorie, zum Beispiel Einsen. Der Leistungsgedanke wird somit verdreht í der Höhepunkt dieser Verdrehung ist es, dass die Noten am Ende des Rituals vernichtet werden, indem sie ab- oder auch durchgestrichen werden, und somit keine Bedeutung über das Ritual hinaus zu besitzen scheinen. Allerdings bleibt zu betonen: Das hier beschriebene Ritual scheint recht einzigartig zu sein. Es ist durchaus unüblich, im Unterricht Geschenke für Noten zu verteilen und ebenso unüblich ist es, Dreien zu belohnen. Die von mir beobachtete Klasse ist auch die einzige Klasse der ganzen Schule, in der der „Zensurenkönig“ durchgeführt wurde und die einzige Klasse, die für gute Noten im Unterricht klatscht. Es geht hier also darum, eine außergewöhnliche Geschichte zu erzählen, die dennoch, gerade in ihrer Außergewöhnlichkeit, Aufschluss über grundlegende Probleme schulischer Leistungsbewertung zu geben vermag, zum Beispiel die Aufgabe, gute Leistungen einzelner Schüler zu würdigen, ohne die anderen zu frustrieren. Andererseits dient sie der Analyse des spezifischen Umgangs der Sekundarschule mit dem Leistungsprinzip. Ausweitung des Klatschens auf Rückgabesituationen Im folgenden Abschnitt soll das eigenständige Klatschen der Schüler, das aus dem Ritual des ‚Zensurenkönigs‘ erwächst, genauer betrachtet werden. Kurz nach der Einführung des ‚Zensurenkönigs‘ durch die Klassenlehrerin tritt es auch in anderen Situationen des Unterrichts auf, genauer gesagt, in Situationen der Rückgabe von Tests und Klassenarbeiten. Dabei handelt es sich um eine selbständige Übertragung der Praktik durch die Schüler, die nicht durch die Lehrerin initiiert wurde. Ein Beispiel aus dem Biologieunterricht soll die umgewandelte Praxis (noch in der Phase der Übertragung) verdeutlichen. Biologie, Anfang Klasse fünf: Rückgabe der Kurzkontrolle In Biologie wird eine Kurzkontrolle zurückgegeben. Lehrerin: „So, Mario. Es gab einige Schüler unter euch, die haben mehr Punkte, als es insgesamt gab. Wie funktio64 Breidenstein (2006) schreibt, dass den Noten in der Schule kein Gegenwert entspricht í Noten eben keine Entlohnung im „Schülerjob“ seien. Im „Zensurenkönig“ zeigt sich hingegen der Versuch einer Entlohnung, der jedoch in sich gebrochen ist.
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niert denn so was?“ (Frage an die Klasse) Felix: „Wegen dem Zusatzpunkt.“ Lehrerin: „Genau! So, Mario hat eine Super-Eins. Das Gleiche trifft für´n Hans zu.“ Hans: „Yeah!“ (Vereinzeltes Klatschen) Lehrerin: „Ja, da könnt ihr ruhig klatschen. (Stärkerer Beifall) So, dann haben wir Einsen, die gerade, es gab 13 Punkte, die mit zwölf Punkten noch ne Eins bekommen haben. Hermann ist nicht da. Der ist krank. Schade, für den trifft das nämlich zu. Und Felix, das Gleiche. Zwölf Punkte, Eins. (Starker Beifall) Franziska, eine Zwei! (Starker Beifall) Manuel hat Pech gehabt, der hat auch eine Zwei, Manuel. Trotzdem gut. (Vereinzeltes Klatschen) Aber ich glaube-. Könnt ruhig klatschen.“ (Applaus wird etwas stärker)
Bei der Lehrerin im Beispiel handelt es sich um die Klassenlehrerin, die die Praktik des „Zensurenkönigs“ initiiert hat. In der Szene ist zu sehen, dass sie das Klatschen der Schüler in dieser Situation nicht nur duldet, sondern auch unterstützt. Sie akzeptiert also die Adaption der Schüler, möglicherweise deutet sie sie als Erfolg ihrer pädagogischen Agenda. Denn was die Schüler hier tun, ist die Zensuren direkt in der Situation der Bekanntgabe zu würdigen und somit in ihrer Bedeutung aufzuladen. Dabei bleibt offen, ob es sich stärker um einen Reflex der Schüler oder tatsächlich um aktive Einflussnahme handelt. Dass sie selbständig in einer von ihnen gewählten Situation klatschen, ist das Entscheidende. Das Klatschen bezieht sich vornehmlich auf die Zensuren selbst, eine Ausnahme ist Hans, denn hier wird, so scheint es, auch seine Freude beklatscht. Zwar ist das Klatschen noch nicht vollständig ritualisiert; die ‚Super-Eins‘ von Mario wird nicht beklatscht, obwohl die Schüler die kurze Pause im Sprachfluss der Lehrerin dafür hätten nutzen können. Erst Hans als Impulsgeber („Yeah“) und das fast gleichzeitig einsetzende spontane Klatschen einzelner Schüler wirken als Auslöser für das Ritual. Dabei ist es Hans, der durch seine Äußerung eine Bühne schafft und so Reaktionen des ‚Publikums‘, in diesem Fall das Klatschen, erleichtert. Allerdings wird nur vereinzelt geklatscht, es scheint den Schülern in der Situation noch nicht klar zu sein, ob Klatschen erlaubt ist oder es besteht kein Bedürfnis dazu. Daraufhin legitimiert die Lehrerin dieses spontane Klatschen, welches als Reaktion auf Hans´ Leistung und Freude einsetzt, und ermuntert die Kinder gleichzeitig, so dass das Ritual im Folgenden seinen Gang gehen kann. Es gibt jetzt erneut Applaus für Hans, der deutlich stärker ausfällt. Die guten Zensuren der folgenden Schüler werden ebenso mit starkem Beifall bedacht, allerdings wird nur bei Anwesenheit eines Schülers geklatscht – kein Applaus für Hermann – und erst bei Manuel gerät es ins Stocken, nicht zuletzt durch die Rahmung der Lehrerin. Da vom „Pech“ des Manuel gesprochen wird, ist ein starker Beifall nicht zu erwarten. Wir haben hier also die Rückgabe einer durchschnittlich guten Arbeit mit zum Teil sehr guten Ergebnissen. Trotzdem ermuntert die Lehrerin die Schüler auch bei der ‚verpatzten‘ Arbeit – einer Zwei für den Einserkandidaten Manuel – zu klatschen und damit die Note anzuerkennen. Es wird also die Zwei beklatscht, auch wenn sie für den Schüler selbst keinen Erfolg darstellen muss. Das Klatschen wird einerseits also selbständig auf die
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neue Situation einer Testrückgabe übertragen und mit ihm einer situativen Wertigkeit Ausdruck verliehen (Manuels Leistung ist etwas weniger beklatschenswert), andererseits wird aber auch den Lehrererwartungen entsprochen und auf Anweisung geklatscht. Die Schüler haben sich also durch die Ausweitung des Klatschens auf Testrückgabesituationen zusätzliche Möglichkeiten geschaffen, um peerkulturell aktiv zu werden. Welche Bedeutung dem selbst bestimmten Klatschen der Schüler im Unterricht zukommt, soll im Folgenden eingehender betrachtet werden. Zur Bedeutung des Klatschens für die Schüler Während also die Klassenlehrerin dem Applaus der Schüler offen gegenüber steht und ihn durchaus begrüßt, trifft dies nicht für alle in der Klasse unterrichtenden Lehrer zu. Das Klatschen der Schüler in den Rückgabesituationen ist anfangs keineswegs durchgängig etabliert, das heißt nicht gleichermaßen in allen Fächern und von allen Schülern. Zudem gibt es auch Lehrer, die durch das Klatschen irritiert werden und sich gestört fühlen. Zur Veranschaulichung ein Beispiel aus dem Mathematikunterricht. Mathematikunterricht: Rückgabe der Klassenarbeiten Lehrer: „Tja, dann die Arbeiten.“ […] „Judith, fünf í acht von 30 Punkten, Judith (.) ab der sieben gab´s eine Sechs. Christian, zwölf von 30, Fünf.“ Nacheinander gehen die Kinder nach vorn um ihre Arbeiten abzuholen. „Thomas, Vier. […] Jens, Zwei.“ Jens freut sich übers ganze Gesicht und sagt „Yeah“, mehrere Kinder beginnen spontan zu klatschen. Herr Semper zeigt wenig Verständnis und spricht in das Klatschen der Kinder hinein: „Zu ungewöhnlich is es ja bei dem ja auch nich, müsst ihr ja nicht klatschen! Tina, eine Zwei.“ Auch jetzt wird wieder geklatscht, vielleicht sogar noch lauter als bei Jens. Herr Semper sagt dieses Mal nichts dazu, sondern macht weiter. „Hermann, Fünf.“ (..) „Paul, Zwei.“ Wieder Klatschen. Christian übertreibt es ein wenig, er klatscht länger und übertriebener als die anderen. Herr Semper schüttelt den Kopf und sagt ironisch: „Sehr ungewöhnlich für Paul, ne.“ Mehrere Kinder lachen.
Bei der Rückgabe der nicht so gut ausgefallenen Arbeiten geht der Lehrer sehr sachlich und knapp vor, es gibt nur Namen und Zahlen. Die Zwei von Jens ist der erste Lichtblick in der Ausgabe der Arbeiten, nicht nur für Jens, sondern auch für die Klasse. Nach all den schlechten Noten kommt die Zwei recht überraschend und wird mit spontanem Beifall begrüßt. Der Lehrer bestreitet jedoch die Legitimität des Klatschens und relativiert so nicht nur die Leistung des Schülers, sondern er begrenzt auch die Möglichkeiten der Mitschüler, Anerkennung im Unterricht zu zeigen. Er versucht auf diese Weise die Praxis des Klatschens zu unterbinden. Dadurch scheinen sich die Schüler jedoch nicht abschrecken zu lassen, sondern klatschen bei der nächsten Zwei (für Tina) sogar noch ein wenig lauter, im Sinne eines ‚Jetzt erst recht!‘ Das Klatschen beinhaltet zwar auch die Würdigung der Leistung von Tina, ist jedoch gleichzeitig Ausdruck einer opposi-
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tionellen Allianz der Schüler, die sich subtil gegen den Lehrer richtet. Das leicht widerständige Klatschen der meisten Schüler, welches sich durchaus im Rahmen hält und gegen das nicht wirklich etwas gesagt werden kann, wird von Christian noch gesteigert und übertrieben. Auf diese Weise zeigt er seinem Mitschüler Anerkennung, hebt sich jedoch gleichzeitig aus dem Kollektiv heraus, indem er seine Opposition stärker betont. Am Schluss steht noch einmal der ironisch eingebettete Versuch des Lehrers, das Klatschen als nicht gerechtfertigt einzudämmen, ohne aber recht überzeugen zu können. Das Lachen einiger Schüler deutet ihre Komplizenschaft an, die gute Note von Paul in ihrer eigenen peerkulturell überformten Weise zu nutzen. Während die Klassenlehrerin also versucht, die Klasse auf Noten ‚einzustimmen‘ und Noten mit positiven Gefühlen aufzuladen, ist die Strategie des Mathematiklehrers geradezu entgegengesetzt, indem er die Normalität guter Leistungen betont. Nur außergewöhnliche Leistungen bieten einen Anlass zum Klatschen; am besten sollte jedoch gar nicht im Unterricht geklatscht werden, da dies den Unterrichtsablauf stört. Diese außergewöhnlichen Leistungen beziehen sich jedoch auf eine bestimmte Person und nicht auf eine absolute Note. Vor allem das ritualisierte Klatschen ist nicht erwünscht. Er empfindet dies als unpassend und sieht es als Ausdruck einer unreflektierten und inhaltsleeren Praktik. In fast zwei Jahren Beobachtung in der Klasse wehrt sich der Mathematiklehrer gegen das Klatschen und dennoch behalten es die Schüler bei. Was macht das Klatschen so attraktiv? Bei der Beantwortung dieser Frage soll es nicht darum gehen, ‚Gründe‘ für das Schüler- oder Lehrerverhalten zu finden, sondern die Funktionen der einzelnen Praktiken zu analysieren. Mit dem Klatschen wird auf mehreren Ebenen agiert. Das Klatschen an sich existiert nicht, man kann mindestens vier verschiedene Formen von Schülerklatschen unterscheiden und das, was als einheitlicher Klangteppich erscheinen mag, kann ganz verschiedene Aspekte beinhalten. Klatschen ist zum einen Ausdruck der Anerkennung der Leistung eines Schülers: spontanes Klatschen (1). Darüber hinaus muss man jedoch davon ausgehen, dass das Klatschen auch eine eingeübte Praktik ist, die reflexartig ausgeführt wird, sobald ein Schüler (objektiv) gute Noten bekommt: ritualisiertes Klatschen (2). Dabei darf man sich das Klatschen nicht als lustlos und lediglich auf Zwang beruhend vorstellen. Das Klatschen bereitet den Schülerinnen und Schülern Freude. Sie wirken zum Teil begeistert und freuen sich ebenso wie der Schüler, dem der Applaus gilt. Das Klatschen steckt an und das gemeinsame Klatschen verbindet, es vergemeinschaftet (3). Im Klatschen vergewissern sich die Mitschüler auch über die beifallswürdige Leistung. Allerdings werden die Anlässe zum Klatschen (wie die Rückgaben von Arbeiten) auch von den Schülern genutzt, um den Schulalltag abwechslungsreicher zu gestalten. Da das Klatschen eine erlaubte Praktik ist, die dem schulischen Ansatz entspricht, das heißt,
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es kann nicht wirklich untersagt werden, gute Leistungen der Mitschüler zu beklatschen, bieten sich hier Möglichkeiten zu Bewegung, zu eigenen Äußerungen sowie zur Selbstdarstellung und Opposition: oppositionelles Klatschen (4). Dies kann so weit gehen, dass bewusst die Phasen dieser relativen Freiheit ausgedehnt werden und so die eigentliche Unterrichtszeit verkürzt wird. Das ursprünglich erwünschte Handeln kann so in subversive Praktiken (Stören) umschlagen, die den Unterrichtsverlauf beeinträchtigen. Schlussfolgerungen Welche Funktionen erfüllt nun das Klatschen für gute Noten innerhalb des Unterrichts dieser Klasse? Offenbar erfüllt es für Lehrkräfte und Schüler unterschiedliche Funktionen, aber auch innerhalb der Lehrerschaft finden sich fast entgegen gesetzte Haltungen. Am Beispiel des Mathematiklehrers und der Klassenlehrerin konnte das Zusammentreffen zweier sehr unterschiedlicher Konzepte, das Klatschen betreffend, beleuchtet werden. Während die Schüler das Klatschen für eigene Zwecke nutzen und der Mathematiklehrer dem Beifall negativ gegenüber steht, deutet die Klassenlehrerin das Beklatschen guter Noten durch die Schüler als Zeichen für den Erfolg ihres pädagogischen Anliegens, die Bedeutung von Noten zu stärken. Für die Schüler scheint sich neben der Anerkennung der Leistung der Mitschüler vor allem Spaß und Selbstdarstellung mit dem Klatschen zu verbinden. Obwohl also Lehrerin und Schüler die Praxis des Klatschens gemeinsam tragen, verbinden sie nicht zwangsläufig den gleichen Sinn damit. Die Pädagogik der Lehrerin ist somit vor allem auf der Performanzebene erfolgreich; andererseits ist nicht gering zu werten, dass die Schüler gute Noten mit positiven Gefühlen verbinden und diese Gefühle gern in der Gemeinschaft ihrer Peergroup ausleben. Die schwierige Situation an der Sekundarschule, die geringen Zukunftschancen für ihre Absolventen und die bisherigen eher negativen Erfahrungen der Schüler mit Leistungsbewertung, erfordert einen besonderen Umgang der Lehrer mit Noten. Zum einen muss die Bedeutsamkeit von Noten für die Schüler hergestellt werden, zum anderen müssen die zum Teil sehr schlechten Noten in ihrer Relevanz auch relativiert werden, um die Schüler nicht zusätzlich zu entmutigen. Das Beispiel des stark kontrastierenden Umgangs mit dem Schülerklatschen sowie die geradezu konträren Lehrererwartungen in den beiden vorgestellten Szenen verweisen darauf, dass es innerhalb dieser Schule offensichtlich kein einheitliches Konzept dessen gibt, wie Schüler motiviert werden können, gute Leistungen zu erbringen und welche Anreize dafür geschaffen werden müssen. Die Lehrer versuchen das Strukturproblem von Noten auf unterschiedliche, aber in beiden Fällen gebrochene Weise zu bearbeiten, ohne es jedoch auflösen zu
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können. Es offenbart sich der Versuch eine Kultur der Anerkennung und Würdigung von Leistung pädagogisch zu inszenieren, der nicht nur am Mathematiklehrer bricht, sondern auch in sich gebrochen ist. Denn beim Versuch die leistungsschwächeren Schüler zu ermuntern, muss dazu ein ‚Trick‘ angewendet werden í das Sammeln einer Anzahl von Noten und die Belohnung der größten Menge unter Aufweichung des Leistungsprinzips (denn jede Woche die immergleichen Leistungsbesten zu belohnen würde eher kontraproduktiv auf die Schwächeren wirken). Dieser ‚Geburtsfehler‘ des Rituals wirkt so nachhaltig, dass der „Zensurenkönig“ und die mit ihm verbundenen Ziele scheitern müssen. Kehren wir noch einmal zum „Zensurenkönig“ und dem Klatschen der Schüler zurück. Was ist daraus geworden, wie lange kann man ein derartiges Ritual in der Klasse durchführen? Offenbar war eine dauerhafte Aufführung des ‚Zensurenkönigs‘ von der Lehrerin nicht vorgesehen. Er sollte den Kindern lediglich zu Beginn der Sekundarschulzeit positive Erlebnisse ermöglichen. Zum Ende der fünften Klasse werden die Regeln für den „Zensurenkönig“ verschärft. Wer wegen Fehlverhaltens, zum Beispiel vergessene Hausaufgaben oder Unterrichtsmaterialien, einen Eintrag ins Hausaufgabenheft bekommen hat, muss sich eine Note pro Eintrag abziehen. Hier wird die Verknüpfung mit anderen zentralen Themen an der Sekundarschule deutlich: die Disziplinierung der Schüler und die Herstellung von Unterrichtsbereitschaf (siehe auch Kap. 3.2.3). Diese Themen durchdringen sämtliche Situationen des Schullalltages, selbst die vom regulären Unterricht abgehobenen Situationen wie den „Zensurenkönig“. Zu Beginn der sechsten Klasse will die Lehrerin das Ritual abschaffen. Allerdings bestehen die Schüler auf der Fortführung und die Lehrerin lässt sich überzeugen. Der „Zensurenkönig“ wird weiterhin durchgeführt, allerdings nur noch jede zweite Woche, und später dann, aus Zeitgründen, noch seltener. Da nach Beendigung des sechsten Schuljahres die Schule mit einer anderen Sekundarschule fusioniert und die Klasse aufgelöst wird, entfällt damit auch das Ritual „Zensurenkönig“. 3.2.2 Zum Umgang mit Verhaltensnoten im Unterricht Seit dem Schuljahr 2003/2004 werden in Sachsen-Anhalt so genannte Verhaltensnoten für die Bereiche Lernverhalten und Sozialverhalten auf dem Zeugnis65 vermerkt. Die Einführung dieser Verhaltensnoten soll vor allem „mangelndem Miteinander“ und „Disziplinlosigkeit entgegenwirken“ (Olbertz 2003), die als mitverantwortlich für den Leistungsabbau in den Schulen betrachtet werden, aber 65 Seit dem Schuljahr 2004/2005 nur noch auf dem Halbjahreszeugnis (vgl. RdErl. des MK vom 1. 7. 2003 [SVBl. LSA S. 195], geändert durch RdErl. des MK vom 1. 7. 2004 [SVBl. LSA S. 129]).
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auch darüber hinaus Wirkungen zeitigen: „Einen sinnvollen Einsatz vorausgesetzt, können diese Noten wichtige Lerntugenden wie Anstrengungsbereitschaft, Ordnung und Unterrichtsdisziplin (über deren Mangel oder geringe Ausprägung ja viele Lehrerinnen und Lehrer klagen), gegenseitige Hilfe, Einsatz für die Klasse, Zivilcourage und soziales Engagement fördern.“ (ebd.) Dabei bleiben die Hinweise zum „sinnvollen Einsatz“ recht vage. Der Begleitbekanntmachung des Kultusministers ist der Vorschlag für einen Erhebungsbogen für das Lernverhalten und das Sozialverhalten beigefügt. Allein für das Lernverhalten enthält dieser Vorschlag 23 Bewertungskriterien in den folgenden sechs übergeordneten Kategorien: Mitarbeit, Unterrichtsdisziplin, Ordnung, Arbeitssystematik, Selbstständigkeit und Teamfähigkeit (vgl. ebd.). Die Erhebung von Verhaltensnoten unter Beachtung all dieser Kriterien für allein 20 bis 30 Schülerinnen und Schüler einer Klasse erscheint sehr zeitintensiv, gar nicht zu sprechen von der Komplexität der Beurteilungskriterien. Bohl (2003) verweist am Beispiel der Kopfnoten in Sachsen auf die Schwierigkeiten, die mit der Bewertung von derart komplexen Konstrukten verbunden sind und kommt zu dem Ergebnis: „Der Qualitätsanspruch im Hinblick auf das Entstehen der vier Kopfnoten muss zwangsläufig niedrig sein.“ (555) Darüber hinaus führt er als „problematische Konfigurationen“ der Bewertung „mangelnde Widerspruchsfreiheit“, „mangelnde Trennschärfe“ und „fehlenden Unterrichtsbezug“ (ebd.) aufgrund unterschiedlicher Bewertungsgrundlagen an. Vor allem die Zusammenfassung der einzelnen Bewertungskriterien in einer Note wird kritisiert: „Im Dienste der Ziffernnote wird das breite Kategorienspektrum zu einer Durchschnittsnote zusammengestaucht und vereinheitlicht. Die Benotung untergräbt nicht nur sämtliche wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Zensurengebung und Diagnostik, sondern weitet das vielfach konstatierte Fehlerspektrum aus.“ (ebd.) Im Folgenden soll es jedoch weniger um Für und Wider von Verhaltensnoten oder auch „Modernen Kopfnoten“ (Thomas 2001) gehen, welche auch weiterhin stark diskutiert werden und zumeist äußerst kritisch bezüglich ihrer Entstehung sowie ihrer pädagogischen Wirkungen gesehen werden (siehe z. B. Lehmann/Ziegenspeck 2000; Solzbacher 2001; Sandfuchs 2001; Grundschulverband 2009). Vielmehr soll auf die Thematisierung und Handhabung von Verhaltensnoten im Unterricht fokussiert werden. Welche Rolle spielen die Noten für Lernverhalten und Sozialverhalten im Unterrichtsalltag der Sekundarschulklasse? Die Verhaltensnoten werden an der beobachteten Schule von jedem in der Klasse unterrichtenden Fachlehrer für jeden einzelnen Schüler erteilt und von der Klassenlehrerin pro Schüler zu je einer Gesamtnote für die beiden Bereiche Sozialverhalten und Lernverhalten zusammengefasst. Während den Verhaltensnoten auch in Zeugnisausgaben Raum und Bedeutung zugemessen wird (vgl. Kap.
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3.3.5), konnte ihre Thematisierung im Unterrichtsalltag bis auf eine Ausnahme nicht beobachtet werden. Diese Stunde im Fach „Lernen Lernen“, welche kurz vor den Halbjahreszeugnissen in der fünften Klasse stattfand, soll näher betrachtet werden, da sie aufschlussreich für den Umgang mit Verhaltensnoten an der Sekundarschule ist. „Lernen Lernen“ (Klassenleiterstunde), Halbjahr Klasse fünf Stundenauftakt der Lehrerin: „Kann´s los gehen. Wir haben heute großes Programm, erstens wollen wir wieder nach dem Einser-, Zweier- und Dreierkönig gucken, zweitens möchte ich mit euch etwas besprechen zu euren Lernverhalten- und äh Sozialverhaltenszensuren, da würde ich gerne eure Einschätzung zu den einzelnen Schülern hören.“ Im Anschluss wird das Ritual des Zensurenkönigs durchgeführt. […] Nachdem der letzte Applaus für die Zensurenkönige ausgeklungen ist, geht die Lehrerin sofort zum Thema der Verhaltensnoten über. „So. Ihr wisst ja, dass ihr auf dem Zeugnis eine Zensur für das Lernverhalten und eine Zensur für das Sozialverhalten bekommt. Ich möchte mit euch darüber sprechen, ich möchte wissen, wie schätzt ihr euch selber ein, wie schätzt du die anderen ein. Ich lese zuerst mal vor, was alles in der Zensur Lernverhalten enthalten sein kann oder sollte. So, zuerst ist im Lernverhalten die Mitarbeit vorhanden, zweitens die Unterrichtsdisziplin, drittens die Ordnung, ehm viertens etwas das nennt sich Arbeitssystematik, das erklär ich euch gleich, (5) fünftens die Selbstständigkeit und zum Schluss die Teamfähigkeit, das heißt ob jemand mit anderen zusammenarbeitet äh oder zusammenarbeiten kann oder es ständig Streit wegen irgendwelcher Dinge gibt, über die man sich nicht einig wird.“ Im Anschluss folgt die genaue, aber sehr schnelle Aufzählung der insgesamt 23 Einzelkriterien für das Lernverhalten und der 16 Kriterien für das Sozialverhalten. Dann fragt die Lehrerin in die Klasse: „So, habt ihr jetzt erstmal im Großen und Ganzen verstanden, worum es geht. Paul, was kramst du denn die ganze Zeit noch rum? So.“
Eine Besprechung der Verhaltensnoten im Klassenkontext erscheint gerade auch bezüglich der Forderung nach Transparenz der Noten für die Schülerinnen und Schüler (vgl. Brahm 2006; auch Herrmann 2000) wünschenswert, da nur so eine Auseinandersetzung mit den der Beurteilung zugrunde liegenden Anforderungen an das Verhalten und gegebenenfalls eine Anpassung daran erfolgen kann. Die erste Rahmung der Lehrerin hinsichtlich der zu besprechenden Verhaltensnoten bezieht sich auf „eure Einschätzung zu den einzelnen Schülern“ und stellt somit bereits eine doppelte Einschränkung in der Thematisierung der Noten dar, als es hier nur um den Akt der Einschätzung, noch dazu der Fremdeinschätzung geht. Die zweite Rahmung ist diesbezüglich mehrdeutig, da „wie schätzt ihr euch selber ein“ durchaus als Selbsteinschätzung verstanden werden kann. Andere Aspekte der folgenden Besprechung finden zunächst keine Erwähnung. Deutlich wird in der Rahmung auch die Unsicherheit der Lehrerin bezüglich der Verbindlichkeit der Kriterien („was alles in der Zensur Lernverhalten enthalten sein kann oder sollte“). Zudem findet kein Austausch über die Kategorien und wie man sie im einzelnen bewerten kann statt; das Verständnis des „Großen und Ganzen“ wird von der Lehrerin konstatiert, ohne bis zu diesem Zeitpunkt erklärt zu haben, „worum es geht“ Schauen wir im Protokoll, wie die Besprechung weiter verläuft.
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Lehrerin: „Ich sage euch, um wen es geht und ihr überlegt mal bitte, welche Zensur ihr demjenigen äh erteilen würdet und ich mach mir mal ne Bemerkung, was ihr dazu sagt. So wir gehen alphabetisch durch. Sonja. Wie würdest du Sonjas Lernverhalten, also mit einer Zensur von Eins bis Fünf, Sechs gibt es nicht. Christian, ist jetzt noch irgendwas, dass du das immer wieder hoch kramst.“ Sie wendet sich Manuel zu, der sich meldet. „Manuel?“ Manuel: „Ich würde ihr ne Zwei geben, weil immer-“ Die Lehrerin nimmt unmittelbar nach der Nennung der Note „Zwei“ den nächsten Schüler, nämlich Hans, dran und unterbricht ihn so in seiner Begründung. Lehrerin: „Hans.“ Mit Blick auf Manuel sagt sie schnell: „Ach so“ allerdings wird Manuel nicht noch einmal das Rederecht erteilt, dies verbleibt bei Hans, der Sonja ebenfalls eine Zwei geben würde. Danach geht es weiter. Lehrerin: „Was sagen die anderen dazu? Martina?“ „Zwei.“ Lehrerin: „So, Finger hoch, wer ist noch für Zwei?“ Sie schaut kurz in die Klasse. „Okay, das ist die überwiegende Mehrheit. So, wie würdet ihr Sonjas Verhalten in der Klasse einschätzen? Mit welcher Zensur?“ So werden alphabetisch alle Schüler sehr schnell durchgegangen, das Verfahren entwickelt sich hauptsächlich zu einer Abstimmung der Klasse über die Noten („Wer ist für Drei? Wer ist für Vier?“). Nachdem alle Schüler, einige davon sehr schlecht, beurteilt wurden, erklärt die Lehrerin: „So. Ich möchte noch was zum Abschluss sagen (12) (Unruhe in der Klasse). So, es ist ganz normal, dass ihr auch unterschiedliche Meinungen (…) zu dem gleichen Schüler habt. Euren Lehrern ging das ähnlich, ja? Ihr habt ja auch verschiedene Fächer, äh, und das heißt, dass manch einer vielleicht einfach ein bisschen mehr in Erinnerung hat als andere, ja, also so, wie eure Zensuren, wie eure Einschätzungen äh, unterschiedlich war, (…) Max jetzt setz dich mal richtig schön ran und konzentrier dich, so wie eure Einschätzungen unterschiedlich warn, so ist auch ähm die Einschätzung ähm eurer Lehrer gewesen, und ähm ich hab das Ganze zusammenfassen müssen und mache dann in der Klassenkonferenz einen Vorschlag. Ja? Ähm, so, dass das kein Gag war, was wir jetzt gemacht haben, das habt ihr ja sicherlich verstanden, und ich hoffe, dass einige (..) vielleicht doch mal einen Gedanken daran verschwenden, warum deine Mitkameraden, eben deine Mitschüler, manchmal äh so positiven Eindruck und manchmal so einen verheerend negativen Eindruck haben. So, es sind noch sieben Minuten Zeit, hat jemand noch ein Mandala zum Ausmalen?“ Mehrere Schüler antworten: „Ja.“
Was passiert nun im Verlauf der Stunde? Der Beitrag der Lehrerin in der Situation besteht in der formalen Strukturierung der Besprechung, der Nennung des zu bewertenden Schülers, der Aufforderung zur Notennennung und dem Abstimmen lassen über Noten („So, Finger hoch, wer ist noch für Zwei?“). Durch die Vorgabe bestimmter Noten und das Auslassen anderer (es werden nicht für alle Schüler die Noten Eins bis Fünf abgefragt) zeigt sie implizit ihre eigene Bewertung des Verhaltens des jeweiligen Schülers, ohne dies aber weiter zu explizieren. Der Part der Schülerinnen und Schüler besteht in der öffentlichen Bewertung, das heißt Notennennung, die von der Lehrerin auch als Beschämung einzelner Mitschüler (derjenigen mit schlechten Verhaltensnoten) kommentiert wird (siehe dazu auch Kap. 3.4.4). Vor dem Hintergrund der zahlreichen Verweise auf die Schwierigkeiten Lern- und Sozialverhalten adäquat in Ziffernoten zu erfassen (z. B. Bohl 2003, siehe oben) und der zu berücksichtigenden Kategorien, für die selbst Lehrer nicht
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notwendigerweise über die entsprechende diagnostische Kompetenz bzw. adäquate Methoden der Erhebung verfügen (vgl. Brahm 2006), kann man von einer Überforderung der Schüler angesichts dieser „beträchtlichen Beurteilungsleistung“ (Arnold/Vollstädt 2001: 204) ausgehen. Diese Beurteilungsleistung wird jedoch von der Lehrerin für den Zweck der Stunde vereinfacht: „Ich sage euch, um wen es geht und ihr überlegt mal bitte, welche Zensur ihr demjenigen äh erteilen würdet.“ Es geht also nur noch um die Nennung einer Note und dieser Aufgabe kommen die Schüler in der folgenden „Besprechung“ auch nach. Diese Beschränkung der Besprechung auf die Nennung von Ziffernnoten zeigt sich bereits bei der ersten zu bewertenden Schülerin. Der Schüler Manuel erhält keinen Raum, seine Einschätzung zu begründen und sie dadurch für die bewertete Mitschülerin nachvollziehbar zu machen. Hier wird der reflexive Umgang mit Verhaltenserwartungen und somit Lern- und Anwendungsmöglichkeiten der bewerteten Kompetenzen (z. B. Kritikfähigkeit, Kommunikationsfähigkeit) verhindert. Welchem Zweck dient jedoch diese Besprechung, wenn es nicht um einen Austausch über die Anforderungen und die begründete Einschätzung des gezeigten Verhaltens geht? Die im Unterricht praktizierte Form der Bewertung enthält zwei Aspekte: 1. Schüler bewerten andere Schüler und 2. Schüler werden von anderen Schülern bewertet. Mit diesen zwei Dimensionen der Bewertung gehen ganz unterschiedliche Erfahrungen einher. Die Bewertung der Peers erfordert auch eine Berücksichtigung der sozialen Beziehungen, die man zu den einzelnen Schülern unterhält, denn obwohl die Bewertungen hinsichtlich der auf dem Zeugnis tatsächlich vermerkten Noten folgenlos bleiben, so können sie doch das Beziehungsgefüge der Peers untereinander beeinflussen. Zum anderen mag eine Bewertung des eigenen Verhaltens durch die Peers bei den einzelnen Schülern andere Effekte zeigen als eine Bewertung durch Lehrkräfte. Offenbar verfolgt die Lehrerin mit der Bewertung von Schülern durch Schüler eine pädagogische Absicht, gleichzeitig hegt sie den Verdacht, ihr Anliegen würde bei den Adressaten zu wenig Beachtung finden („dass das kein Gag war, was wir jetzt gemacht haben, das habt ihr ja sicherlich verstanden“) und deutet die Legitimierungsbedürftigkeit der Praktik an. Diese Ambivalenz verstärkt sich im weiteren Verlauf, in welchem die Lehrerin geradezu ihre eigene Agenda, die Relevanz von Fremdeinschätzungen des eigenen Verhaltens zu betonen, unterminiert – die an die Schüler gerichtete Aufforderung über die Einschätzungen nachzudenken, wird auf sehr abwertende Weise formuliert („Gedanken verschwenden“) und kann so die eingeforderte Bedeutung der Einschätzungen nicht verbürgen.
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Mit der Einführung der Verhaltensnoten war vor allem die Hoffnung auf Stärkung des Erziehungsauftrags der Schule verbunden (siehe RdErl. des MK vom 1. 7. 2003)66. Durch und mit Verhaltensnoten sollen die Schüler erzogen werden. Ob und wie dies in Schule umzusetzen ist, bleibt fraglich. Bezüglich des Umgangs mit Verhaltensnoten im Unterricht ist die analysierte Szene durchaus aufschlussreich. Dass die Erstellung von Verhaltensnoten, auf welche die Lehrerin durch den Leistungsbewertungserlass verpflichtet ist, Schwierigkeiten bereitet, wird von ihr thematisiert. In der Situation scheint sie sich dieser Aufgabe zu entziehen, indem sie sie an die Klasse überträgt. Diese Praktik des Pseudoeinbezugs in die Notenfindung bzw. das hypothetische Erteilen von Noten, ist multifunktional: Der Einbezug der gesamten Klasse beim Abstimmen über die Noten stellt den Versuch der Objektivierung von Verhalten in Form von Noten dar. Die Verhaltensnoten werden durch die Teilnehmer kommunikativ validiert und somit legitimiert. Gerade dadurch, dass die über Verhaltensnoten vermittelten Inhalte von den Schülerinnen und Schülern mitgetragen werden, können sich disziplinierende Effekte dieser Praktik einstellen. Es geht also nicht darum, wie das Schülerverhalten von der Institution bewertet wird, sondern um das Bild innerhalb der Peergroup, welches öffentlich durch die Lehrerin im institutionellen Rahmen von Unterricht moderiert wird. Darüber hinaus bleibt der Appell der Lehrerin an die Klasse ambivalent: Letztendlich werden die Schülerinnen und Schüler im Unklaren gelassen, was eigentlich Sinn und Zweck dieser Übung war. Ein zentraler Aspekt von Leistungsbewertung, welcher in der Situation offensichtlich wird, besteht in der Subjektivität der Bewertung. Bei fast allen zu bewertenden Schülern gingen die Meinungen in der Klasse über die zu erteilende Note auseinander. Da Noten im Kontext Schule jedoch auf die Illusion der Objektivität (siehe Kap. 5) angewiesen sind, muss diese erlebbare Subjektivität in der Situation bearbeitet werden. Dies versucht die Lehrerin durch ihren Rückbezug auf ähnliche Erfahrungen unterschiedlicher Bewertungen in der Lehrerschaft („ganz normal“, „verschiedene Fächer“). Allerdings übersieht die Lehrerin die Differenz, welche zwischen der Bewertung durch Lehrer und einer Bewertung durch Mitschüler besteht. Die Lehrerin versucht den Schülern die Lehrerperspektive zu vermitteln, ohne jedoch einen passenden Bezugspunkt zu finden. Ein möglicher Schluss, der aus dieser Bewertungssituation gezogen werden kann 66 Während Befürworter von ‚Verhaltensnoten‘ deren Einführung unter anderem auch mit der besseren Trennung von Fachleistungen und Verhalten begründen (z. B. Rössler 2000), so erfüllt sich diese Erwartung im Fall der beobachteten Sekundarschule nicht. Im Endeffekt fließt nun das Schülerverhalten auf zweifache Weise in die Zensuren ein. Für die Fachnote ist es nach wie vor relevant, vor allem bei Entscheidungen zwischen zwei Noten, aber auch über andere Wege beeinflusst es die erteilten Noten (siehe Kap. 3.2.3). Zusätzlich wird es in den Noten für Sozialverhalten und Arbeitsverhalten festgehalten.
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lautet: Bewertung ist subjektiv, kann aber per Mehrheitsvotum ‚objektiviert‘ werden. Zusammenfassend können drei zentrale Funktionen der Thematisierung von Verhaltensnoten in dieser Stunde herausgearbeitet werden: Erstens die Thematisierung und Erfahrung der Schwierigkeiten bei der Erteilung von Verhaltensnoten. Zweitens die Legitimierung und Objektivierung der erteilten Noten durch den (Pseudo-)Einbezug der Schüler. Und nicht zuletzt drittens die Verhaltensnoten als Mittel der Disziplinierung – ein öffentliches Tribunal über angemessenes und vor allem unangemessenes Verhalten jedes einzelnen Schülers. 3.2.3 Disziplinierung, Materialität und Hausaufgabenheft Englisch, Anfang Klasse fünf Die Lehrerin Frau Grimm möchte mit dem Unterricht beginnen. Das Workbook (ein Arbeitsheft mit vorgedruckten Aufgaben) soll aufgeschlagen werden. Frau Grimm wendet sich an Thomas, der noch nicht bereit ist: „Thomas, wir warten auf dich!“ Thomas sucht noch etwas in seinem Rucksack. Frau Grimm: „Hast du keins?“ Thomas erklärt, dass er sein Buch vergessen hat und wird dafür gerügt. Frau Grimm erklärt, er sei selbst schuld, wenn er am Ende des Schuljahres kein Englisch könne. Das liegt dann nicht an ihr, der Lehrerin, sondern daran, dass er seine Materialien nicht dabei habe. Felix, der vor Thomas sitzt, bietet an, Thomas mit in sein Buch schauen zu lassen, aber Frau Grimm meint, dies sei nicht möglich, da in das Workbook geschrieben wird. Während die anderen mit den Übungsaufgaben beginnen, muss Thomas allein auf seiner Bank sitzen bleiben und kann so nicht mitarbeiten, da er auch keine anderen Aufgaben von der Lehrerin bekommt.
Diese Lehrer-Schüler-Interaktion empfand die Beobachterin, noch ganz neu im Feld, als stark irritierend. Offenbar stellt das Fehlen des Workbooks in der Situation ein Problem dar. Den Schüler jedoch von der gemeinsamen Arbeit auszuschließen und auf diese Weise das Problem zu „lösen“, wirft Fragen nach dem Sinn dieser Anweisung auf. Gleichzeitig stellt die Lehrerin auch eine Verbindung zwischen dem fehlenden Arbeitsmaterial und (von ihr erwarteten) schlechten Leistungen des Schülers her. Nicht nur die Prognose des schlechten Abschneidens am Schuljahresende bereits nach so kurzer Zeit an der neuen Schule, gerade einmal vier Wochen nach Schulbeginn, muss erstaunen. Welchem Zweck dient die Zurückweisung der Zuständigkeit für den Schulerfolg durch die Lehrerin und die alleinige Schuldzuweisung an den Schüler? Ist dieser Umgang mit fehlendem Unterrichtsmaterial typisch für die Sekundarschule? Bereits nach kurzer Zeit im Feld konnten deutliche Unterschiede im Umgang mit fehlendem Arbeitsmaterial an den beiden im Projekt beobachteten Schulen festgestellt werden. Während am Gymnasium fehlendes Material (z. B. Bücher, Stifte, Hefter) meist gar nicht erwähnt wird, spielt es im Unterricht der Sekun-
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darschulklasse eine wichtige Rolle. Welche Funktion erfüllen die Arbeitsmaterialien für den Unterrichtsablauf in der Sekundarschulklasse? Basierend auf langfristigen Beobachtungen kann davon ausgegangen werden, dass es in dieser Klasse weniger um die Vermittlung von Inhalten geht, sondern in stärkerem Maße um die Regulierung des Schülerverhaltens. Ein zentraler Aspekt dieser Regulierung besteht in der Fokussierung auf die Arbeitsmaterialien. Was verbirgt sich hinter der Fixierung der Lehrer auf die Arbeitsmaterialien? Wofür stehen die Arbeitsmaterialien? Welche Strategien entwickeln die Schüler, um einer Strafe bei vergessenen Arbeitsmaterialien zu entgehen? Auf der Grundlage dieser Fragen wird die Bedeutung der Arbeitsmaterialien für den Unterrichtsalltag an der Sekundarschule betrachtet. Vergessene Arbeitsmaterialien und das Hausaufgabenheft Worum geht es, wenn hier von Arbeitsmaterialien gesprochen wird? Zu den Arbeitsmaterialien gehören all diejenigen Dinge, die Schülerinnen und Schüler täglich mit in die Schule bringen müssen, wie zum Beispiel Stifte und andere Schreibutensilien, Hefte, Bücher, Pinsel und Farben. Natürlich variieren die mitzubringenden Materialien je nach Stundenplan. Da die Schülerinnen und Schüler nicht jeden Tag alle Bücher und Hefte mitbringen können, muss jeden Tag neu geprüft werden, was benötigt wird. Dazu wird das Hausaufgabenheft herangezogen. Da das Hausaufgabenheft in dieser Klasse eine so wichtige Rolle spielt, soll es im Folgenden kurz beschrieben werden. Jeder Schüler der Klasse verfügt über ein Hausaufgabenheft67, ein Heft in A5 Größe mit verschiedenen Unterteilungen. Auf den ersten Seiten befindet sich der Stundenplan für das jeweilige Halbjahr, während der Hauptteil eine Art Kalendarium beinhaltet, in dem die Schulwoche auf einer Doppelseite dargestellt ist (siehe Abbildung 4). Vor Beginn einer neuen Schulwoche muss das Heft beschriftet werden, dass heißt, die Daten der Wochentage müssen eingetragen werden (erleichtert die Orientierung) und die einzelnen Tage müssen mit den jeweiligen Unterrichtsstunden versehen werden. Auf den letzten Seiten des Heftes befinden sich leere Seiten für Notizen und/ oder Vordrucke für Zensurenübersichten. 67 Das Führen eines Hausaufgabenheftes ist in Sachsen-Anhalt sogar über eine Bestimmung im so genannten Hausaufgabenerlass festgeschrieben: „2.9. Schülerinnen und Schüler der Grundschule und der Sekundarstufe I führen ein Hausaufgabenheft, in das sie die Aufgaben und Termine der Erledigung eintragen. Im Hausaufgabenheft werden auch Hinweise der Lehrkräfte an die Schülerinnen, Schüler und Erziehungsberechtigten vermerkt. Hierzu sollen die Hausaufgabenhefte regelmäßig von den Erziehungsberechtigten gegengezeichnet werden.“ vgl. „Hausaufgaben an den allgemein bildenden Schulen.“ RdErl. des MK vom 14.3.2005 - 3-83201 (SVBl. LSA S. 117).
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Abbilddung 4: Beispiiel eines Haussaufgabenheftees Die Abbbildung zeiggt ein Hausaufgabenheft mit m nur wenigeen Einträgen. Zudem fehlt die d Kennzeichhnung der Wooche, die ein nzelnen Fächeer pro Unterriichtstag sind jeedoch eingetraagen. Zu seheen ist die Erin nnerung an eine e Kurzkonttrolle in Mathem matik am Miittwoch, ein Eintrag E für die Deutschstuunde am Donnnerstag sowie für f die Matheematikstunde am a Freitag, diie Erinnerung an Berichtiguung und Unterschrift [durch die d Eltern] (veermutlich han ndelt es sich hiier um die Kuurzkontrolle voom Mittwoch)). Allle wichtigen in irgendeinerr Art schulbezzogenen Inforrmationen werrden im Hausauufgabenheft festgehalten. fe D Hausaufgaaben werden von Die v den Schüülern zu demjennigen Tag einngeschrieben, an dem sie kontrolliert k weerden; zudem gibt es Erinnerungen an Kllassenarbeitenn, Schulfeste usw. u Aber auuch die Lehrerr haben d Hausaufgaabenheft die Mööglichkeit, Miitteilungen an die Eltern deer Kinder in das einzutrragen. Hierbeii handelt es siich meist um Ermahnungenn wegen vergeessenen
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Materials oder schlechten Benehmens68. Die Eltern werden gewöhnlich durch den Klassenlehrer verpflichtet, mindestens ein Mal pro Woche in das Hausaufgabenheft ihres Kindes zu schauen und Einträge der Schule zu unterschreiben. Dies wird in der Woche darauf von den Lehrern kontrolliert. Eltern, die dieser Anweisung nicht nachkommen, werden zum Gespräch in die Schule gebeten. Folgende Funktionen hat das Hausaufgabenheft in der beobachteten Sekundarschulklasse: 1) Eintragen der Hausaufgaben, 2) Überblick über den Stundenplan des aktuellen bzw. nächsten Tages, 3) Eintragen der erhaltenen Noten, 4) Informationsmedium für die Eltern (hat mein Kind Hausaufgaben auf usw.) und 5) Kommunikationsmittel der Schule mit den Eltern. Neben dem Hausaufgabenheft der Schüler gibt es noch das Klassenbuch, welches vom Lehrer geführt wird und ebenso eine wichtige Rolle bezüglich vergessener Unterrichtsmaterialien spielt. Es dient dem Überblick über verschiedene schüler- sowie unterrichtsbezogenen Daten (z. B. unterrichtete Themengebiete oder Kurzkontrollen). Neben der Übersicht über alle erteilten Noten oder auch der Fehltage der Schüler, gibt es zusätzlich im Klassenbuch eine Seite zum Eintragen fehlender Arbeitsmaterialien oder Hausaufgaben. Diese Übersicht stellt die Grundlage für Belohnungs- bzw. Bestrafungspraktiken der einzelnen Lehrer dar (siehe unten). Grundsätzlich handelt es sich beim Erledigen der Hausaufgaben und dem Mitbringen von Unterrichtsmaterial um unterschiedliche Dinge. Allerdings wird dieser Unterschied in der beobachteten Sekundarschule sehr häufig verwischt und beides in einem Atemzug genannt. Vergessene Arbeitsmaterialien und vergessene Hausaufgaben werden auf ähnliche Art und Weise problematisiert und sollen daher auch gemeinsam betrachtet werden. Bemerkenswert am Umgang mit Hausaufgaben in der Sekundarschule ist, dass es in den meisten beobachteten Fällen überhaupt nicht um den inhaltlichen Aspekt der Hausaufgabe, sondern um das bloße Vorhandensein dieser geht. In den ersten Wochen meiner Beobachtung in der Klasse war das Hausaufgabenheft stets Bestandteil der Schüler-Lehrer-Interaktionen. Es wurden Hausaufgaben eingetragen und dieser Eintrag mittels einer speziellen Praxis, der ‚Hausaufgabeneintragskontrolle‘, kontrolliert. Die erhaltenen Zensuren werden eingetragen und einmal pro Woche für den „Zensurenkönig“ (siehe oben) gezählt. Und sollte es ausnahmsweise einmal keine Hausaufgaben oder Noten in der Stunde geben, so kommt das Heft sicher in seiner anderen Rolle zum Einsatz: Eintragungen der Lehrer für die Eltern der Kinder, meist wegen vergessenen Materials.
68 Auf meine Nachfrage, ob denn auch positive Dinge, wie z. B. Lob eingetragen werden, verneinten die Schülerinnen und Schüler bzw. meinten, sie könnten sich nicht an positive Eintragungen erinnern.
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Hausaufgaben und Arbeitsmaterialien, darauf wurde bereits hingewiesen, sind in unterschiedlicher Weise geeignet, Unterrichtsbereitschaft herzustellen. Während die Arbeitsmaterialien die materiale Basis darstellen, beziehen sich die Hausaufgaben meist auf die Unterrichtsinhalte. Bei der Kontrolle von Arbeitsmaterialien und Hausaufgaben gibt es demnach ebenso Gemeinsamkeiten wie Unterschiede. Im Fall der Hausaufgaben konnten zwei unterschiedliche Lehrerpraktiken beobachtet werden. Zum einen kann gleich zu Beginn der Stunde nachgefragt werden, wer die Hausaufgaben nicht erledigt hat. Eine zweite Variante ist das Abhaken der Aufgaben bei jedem einzelnen Schüler im Heft, ohne dabei jedoch auf die Richtigkeit zu achten. Fehlendes Arbeitsmaterial wird im Gegensatz dazu meist erst im Stundenverlauf ersichtlich. Es konnten keine spezifischen Praktiken beobachtet werden, die Vollzähligkeit des Materials zu Unterrichtsbeginn zu überprüfen. Die verschiedenen Lehrer der Klasse gehen unterschiedlich mit dem Vergessen von Arbeitsmaterialien oder Hausaufgaben um. Beim Mathematiklehrer konnte häufig ein eher pragmatischer Umgang mit fehlendem Material beobachtet werden, zum Beispiel dürfen Schüler zu zweit ein Buch benutzen, ohne dass es ausführlich vom Lehrer thematisiert wird. Allerdings trägt dieser Lehrer regelmäßig vergessenes Material in das Klassenbuch ein. In einzelnen Situationen kann das Fehlen von Hausaufgaben von ihm jedoch auch besonders streng bestraft werden (siehe dazu weiter unten). Die Kunst- und Biologielehrerin wählt, ähnlich wie die Englischlehrerin, einen (pseudo-)pädagogisch zu nennenden Ansatz im Umgang mit fehlendem Arbeitsmaterial. Die Schüler sollen begreifen, dass das Arbeitsmaterial zum Lernen und Arbeiten im Unterricht notwendig ist und zeigen ihnen die Folgen fehlender Arbeitsmaterialien praktisch vor Augen (siehe unten). Pseudo-pädagogisch deshalb, weil beide Lehrerinnen zwar ihr Handeln pädagogisch zu legitimieren versuchen, die Betrachtung der Praktiken jedoch Unstimmigkeiten aufzeigt. Einen eher autoritären Umgang mit fehlendem Material bzw. Hausaufgaben pflegt die Geschichtslehrerin, die auf Vollzähligkeit der Materialien und Vorhandensein der Hausaufgaben insistiert, ohne dies jedoch zu begründen. Je nach Unterrichtsfach und Lehrer haben die Schüler verschiedene Möglichkeiten, einem Eintrag ins Hausaufgabenheft zu entgehen. Offensichtlich unterscheiden sich die Schüler aber auch untereinander hinsichtlich ihrer Taktiken bezüglich des Arbeitsmaterials und vergessener Hausaufgaben. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen. „Lernen Lernen“, Anfang Klasse fünf Als Hausaufgabe im Fach „Lernen Lernen“, welches unter anderem dem Erlernen von Lernstrategien dient, sollten die Kinder zwei Wochen lang notieren, wofür sie am jeweiligen Tag das Hausaufgabenheft gebraucht haben. Max kann seinen Klassenleiterstunden-Hefter nicht finden, er meldet sich, um dies der Lehrerin anzuzeigen und
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muss sein Hausaufgabenheft nach vorn geben. Nun sollen die Ergebnisse von einigen vorgelesen werden. Dabei stellt sich heraus, dass auch Andere die Aufgaben nicht erledigt haben, oder aber den Hefter vergessen haben, in dem sie erledigt wurden; sie werden gerügt und ebenfalls aufgefordert, ihr Hausaufgabenheft nach vorn zu geben. Ich habe fast den Eindruck, das ist die wichtigste Funktion des Hausaufgabenheftes in dieser Klasse – vergessene Hausaufgaben bzw. Unterrichtsmaterialien einzutragen, noch vor den Hausaufgaben selbst. Nur vier Kinder haben bisher noch keinen Eintrag wegen vergessenen Unterrichtsmaterials: Steffen, Martina, Hans69 und Manuel, jedenfalls melden sich diese auf die Frage der Lehrerin hin. Jetzt findet Max seinen Hefter doch, aber der Eintrag ins Hausaufgabenheft ist bereits erfolgt70. […] Elisabeth kommt als nächste dran und hat die Aufgabe nicht gemacht, auch nicht eingeschrieben, was Frau Köhler lauter werden lässt. Das könne ja gar nicht sein, denn es gibt ja die Kontrolle, ob alle Hausaufgaben eingetragen sind. Elisabeth schaut nur. Frau Köhler schaut nun in die Klasse: „Muss ich noch mit wem anders schimpfen?“ Es meldet sich niemand. Mario neben mir versucht sein Bestes, zu verbergen, dass er seinen Hefter vergessen hat. Er schaut stattdessen aufmerksam ins Hausaufgabenheft und meldet sich häufig.
In dieser Sequenz werden die unterschiedlichen Strategien der Schüler bezüglich vergessener Arbeitsmaterialien bzw. Hausaufgaben deutlich. Max meldet sofort einen vergessenen Ordner, sucht dann weiter und findet ihn doch noch. Er musste aber sein Hausaufgabenheft schon abliefern und hat den Eintrag bereits bekommen. Elisabeth (aber auch andere) warten erst einmal ab und geben erst dann das Fehlen der Aufgabe zu, wenn sie drankommen. Mario versucht durch aktive Mitarbeit vom Fehlen der Hausaufgabe abzulenken und hat damit Erfolg. Was kann man aus diesem Beispiel ableiten? Als Schüler hat man offenbar keinen ersichtlichen Vorteil davon, ein Vergessen des Materials oder der Hausaufgaben bereits am Anfang der Stunde zu melden. Durch strategisches Verhalten wie rege Mitarbeit und ‚so tun als ob‘ – nämlich bei Fehlen eines Hefters einfach in einen anderen Hefter zu schauen – besteht jedoch die Möglichkeit, einen Eintrag ganz zu umgehen. Allerdings ist dies mit einem gewissen Aufwand verbunden, der ein Interesse an der Eintragsvermeidung voraussetzt. Zudem muss der Schüler in der Lage sein, wenn er aufgerufen wird, inhaltlich angemessene Antworten zu geben. Die von Mario angewandte Praktik ist also aufwendig und voraussetzungsreich. Der Schwierigkeitsgrad variiert je nach zu erledigender Aufgabe; im Beispiel oben war dies ohne großen Aufwand möglich. Trotzdem konnte diese Strategie nur bei Mario beobachtet werden, der zum Zeitpunkt der Beobachtung zu den leistungsstarken Schülern gezählt werden kann. Die anderen Schüler (außer Max) haben eine Strategie des Abwartens gewählt, welche die mit Abstand am
69 Zumindest Hans meldet sich hier fälschlicherweise, denn er hatte in der Kunststunde am 05.10. seinen Tuschkasten vergessen und dafür definitiv einen Eintrag bekommen. 70 Im Verlauf der Stunde klärt sich nicht, ob der Eintrag für Max wieder gestrichen wird, eine Thematisierung bleibt aus.
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häufigsten beobachtete Praktik in dieser Klasse darstellt. Sie erfordert auch den geringsten Aufwand auf Seiten der Schüler. Vergessenes Arbeitsmaterial und die Folgen Erste Beobachtung, Kunstunterricht Klasse fünf Die beim letzten Mal begonnenen Sonnenblumenbilder sollen fortgesetzt werden. Diana und Judith melden sich, sie haben ihre Malutensilien vergessen, was sollen sie jetzt tun? „Ihr gebt mir nachher mal eure Hausaufgabenhefte“, ist die Antwort der Lehrerin. Die beiden verziehen ihre Gesichter. Frau Köhler geht weiter in der Erläuterung der Aufgabe. Die Bilder seien ja schon recht weit, jetzt soll der Hintergrund dazu kommen. (Es folgt für ca. zehn Minuten Unterricht – Farben für den Hintergrund und Hintergrundgestaltung.) Jetzt soll gemalt werden; Diana und Judith melden sich erneut. Was sollen sie jetzt tun? Frau Köhler zuckt mit den Schultern, wartet eine ganze Weile, dann schaut sie in die Klasse und fragt. „Wie malt man denn ohne Utensilien?“ Elisabeth schlägt Buntstifte vor. Frau Köhler lehnt ab, „Nein, es wird weiter mit Wasserfarbe gemalt.“ Diana und Judith schauen in einer Mischung aus Zerknirschung, Genervt sein und noch etwas Anderem. Antworten fallen ihnen aber keine ein. Franziska und Tina hinter mir beraten sich: „Du kannst doch deine Farben zu denen rüber geben und wir teilen uns meine.“ Tina meldet sich und bietet genau das an. Frau Köhler wendet sich an Diana und Judith: „Habt ihr gehört, was euch die beiden anbieten?“ Sie nicken und nehmen dankend an. Frau Köhler schaut zufrieden. Sie bittet Diana und Judith um ihre Hausaufgabenhefte und schreibt etwas hinein í vermutlich erhalten sie eine Nachricht für die Eltern.
Das ist ein kurzer Auszug aus der ersten beobachteten Stunde in dieser Klasse. Zu diesem Zeitpunkt ist der Ethnographin die Praktik der Eintragungen ins Hausaufgabenheft noch unbekannt. Sie ist über das Verhalten der Lehrerin den Schülerinnen gegenüber erstaunt. Auf den ersten Hinweis zum Materialproblem reagiert die Lehrerin lediglich mit der Aufforderung zur Abgabe der Hausaufgabenhefte und damit in disziplinierender Form, denn ins Hausaufgabenheft kommt eine Mitteilung an die Eltern der Mädchen (auch wenn dies die Beobachterin zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß). Dass die Schülerinnen nicht malen können wird nicht weiter thematisiert. Sie werden für den Zeitraum des zunächst erfolgenden Unterrichts im Unklaren über ihre Situation gelassen. Beim zweiten Versuch der Mädchen, Hilfe zu erhalten, gibt die Lehrerin das Problem in leicht tadelnder Weise an die Klasse weiter, die es im Sinne der Lehrerin zu lösen vermag. Alle Kinder können an ihren Bildern weiter arbeiten. Warum diese Verzögerung bzw. Nichtthematisierung? Sollten die Schülerinnen die Konsequenzen fehlenden Materials erfahren? Oder dazu gebracht werden, sich selbständig um Ersatz zu kümmern? Sollten sie am Arbeiten gehindert werden? Die angemessene Antwort auf die Frage „Wie malt man denn ohne Utensilien?“ lautet: „Gar nicht.“ Die Position der Lehrerin bleibt hier unklar. Man kann feststellen, dass die Schülerinnen auf verschiedene Art bestraft werden. Zunächst ist da die Nichtbeachtung von Seiten der Lehrerin und somit eine Zeit der Ungewissheit für die
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Schülerinnen. Sie müssen erneut auf ihr Problem – das vergessene Material, ohne welches sie nicht arbeiten können – aufmerksam machen, um Hilfe zu bekommen. Auch dies kann, ebenso wie das Angewiesen-Sein auf die Unterstützung durch die Mitschülerinnen, als Strafe angesehen werden. Dazu kommt die schriftliche Mitteilung an die Eltern. Zum Vergleich eine Szene aus dem Gymnasium, welche einen alternativen Umgang mit fehlendem Material beschreibt. Kunstunterricht, Klasse fünf Friedemann meldet sich, schnipst: „Frau Gründel! Frau Gründel!“ Die Lehrerin läuft durch die Klasse, Friedemann schnipst in einem fort und ruft dann in die Klasse: „Ich habe keine Feder! Und keine Tusche.“ Die Lehrerin, die gerade an der Tafel steht, sagt „Ui ui ui!“ und bückt sich und guckt im Pult nach und meint: „Ich gucke nach Tusche und Feder.“ „Hat jemand eine Zeichenfeder übrig?“, fragt sie dann in die Klasse. Die Lehrerin geht zu Rebekka in die Wandreihe und unterhält sich mit ihr. Dort scheint es eine zusätzliche Feder zu geben. Ist es aber auch eine Zeichenfeder? Nein, ist es nicht. Die Lehrerin tritt nun zu Friedemann: „Du musst bitte mit Bleistift weiterzeichnen.“ (Michael Meier)
Hier gestaltet sich der Umgang mit fehlendem Material ganz unproblematisch. Der Schüler wird nicht gerügt. Stattdessen macht sich die Lehrerin selbst auf die Suche, um die benötigten Dinge aufzutreiben. Als ihre Bemühungen ohne Erfolg bleiben, wird dem Schüler erlaubt ein anderes Arbeitsmittel zu benutzen. Dies deutet auf eine andere Einstellung der Gymnasiallehrer zum ‚Vergessen‘ des Arbeitsmaterials hin. Während an der Sekundarschule die Disziplinierung im Zentrum steht und das Arbeiten des Schülers nachrangig ist oder sogar verhindert wird, scheint am Gymnasium die Ermöglichung des Weiterarbeitens eine höhere Priorität zu besitzen. Zusammengefasst kann man sagen: Fehlendes Unterrichtsmaterial stellt ein Problem in der von uns beobachteten Sekundarschulklasse dar. Oder besser: Es wird zum Problem gemacht. Worin mag die Bedeutsamkeit des Unterrichtsmaterials in der Sekundarschule liegen? í Eine Bedeutsamkeit, die offenbar weit über die praktische Durchführbarkeit von einzelnen Unterrichtstätigkeiten hinaus geht, denn wir haben ja gesehen, dass bei vergessenem Material nicht etwa pragmatische Lösungen gewählt werden, die den Fortgang des Unterrichts ermöglichen, sondern das Prinzip, dass die Schüler für die notwendigen Materialien sorgen müssen, erhält Priorität. Eine Vermutung drängt sich auf: Möglicherweise wird mit dem Unterrichtsmaterial und dem ‚Vorbereitet-Sein‘ über die Bedeutsamkeit des Unterrichts schlechthin verhandelt. Es ginge dann um das Einfordern von Anerkennung für die Relevanz schulischen Unterrichts durch die Schülerinnen und Schüler. Die Anerkennung der Bedeutsamkeit des Unterrichts (seines Ernstcharakters und seiner Sinnhaftigkeit) steht in der Sekundarschule offenbar in anderer Weise in Frage als am Gymnasium. Während sie dort vor-
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ausgesetzt wird und deshalb Probleme, die sich aus vergessenen Hausaufgaben und Arbeitsmaterialien ergeben, pragmatisch gelöst werden können, muss an der Sekundarschule die Anerkennung der Relevanz von Unterricht allererst durchgesetzt werden. Diese Befürchtung scheint zumindest das Handeln der Lehrerinnen und Lehrer an dieser Schule zu leiten. Die zentrale Praktik, die dem Vergessen von Hausaufgaben vorbeugen soll, sie aber somit auch zum permanenten Thema und Problem erhebt, besteht in der so genannten ‚Hausaufgabeneintragskontrolle‘. Beobachtet werden konnten zwei verschiedene Ausführungen dieser Praktik: Eine Möglichkeit besteht darin, dass der Lehrer durch die Reihen geht und bei allen Schülern nachschaut, ob sie die Hausaufgabe tatsächlich eingetragen haben. Dies ist bei ca. 20 Schülern relativ zeitaufwändig. Die Alternative besteht darin, pro Bankreihe (die Schüler sitzen meist in drei Reihen von Zweierbänken hintereinander) einen Schüler zu bestimmen, diese Aufgabe zu übernehmen. Dies ist schneller und mit weniger Aufwand für den Lehrer verbunden, weist aber zwei Schwachpunkte auf: 1) Die Schüler sind möglicherweise weniger achtsam und 2) niemand kontrolliert die Einträge der kontrollierenden Schüler. Die ‚Hausaufgabeneintragskontrolle‘ wurde im Laufe des ersten Halbjahres der fünften Klasse von der Klassenlehrerin eingeführt, wird jedoch auch von anderen Lehrern praktiziert und konnte auch zum Ende des sechsten Schuljahres noch beobachtet werden. Diese Praktik der Kontrolle des Eintrags der Hausaufgaben dient auch der Legitimation und Absicherung des Lehrers: Werden die Aufgaben tatsächlich nicht erledigt, so kann er den Eltern gegenüber argumentieren, seiner Pflicht nachgekommen zu sein (siehe unten). Es geht bei dieser Kontrollpraktik somit lediglich um den Eintrag der Hausaufgaben in das Hausaufgabenheft. Das Verständnis der zu erledigenden Aufgaben oder der Bezug zu den Inhalten des Unterrichts wird nicht thematisiert. Am Gymnasium tragen die Schüler ihre Hausaufgaben zwar auch ein, aber es wird ihnen selbst überlassen. Eine Praktik wie die ‚Hausaufgabeneintragskontrolle‘ konnte dort nicht beobachtet werden. Der Eintrag der Hausaufgaben scheint also am Gymnasium und an der Sekundarschule von ganz unterschiedlicher Bedeutung zu sein: Am Gymnasium erscheint der Hausaufgabeneintrag als ein Hilfsmittel für die Schüler – er beruht auf Freiwilligkeit und wer es nicht tut, braucht es entweder tatsächlich nicht oder wird die Konsequenzen in Form von vergessenen Hausaufgaben spüren. An der Sekundarschule hingegen stellt sich der Hausaufgabeneintrag als ein Hilfsmittel der Lehrer dar – er dient der Disziplinierung der Schüler und dem Nachweis, dass sie ‚es hätten wissen müssen‘. Am Gymnasium wird den Schülern die Organisation ihrer häuslichen Tätigkeiten für die Schule prinzipiell zugemutet und zugetraut, während genau dies in der Sekundarschule nicht der Fall ist und die alltäglichen Praktiken auf der Unter-
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stellung beruhen, dass den Kindern nicht nur die Techniken, sondern wohl auch die Verantwortlichkeit für ihren häuslichen Beitrag zum schulischen Lernen erst noch ‚beizubringen‘ seien. Diese Verantwortlichkeit liegt jedoch nicht nur bei den Schülern der Sekundarschulklasse. Dies zeigt sich besonders deutlich, als eine Schülerin eines Tages auch das Hausaufgabenheft vergessen hat: Lernen Lernen, Klasse fünf Judith hat weder Hefter noch Buch aufgeschlagen und kommt dran. Sie ist desorientiert, schlägt schnell das Buch auf, weiß aber nicht, was sie machen soll. Frau Köhler erkundigt sich nach Judiths Hefter, diese sagt nichts. Frau Köhler fragt nochmals nach dem Hefter. Judith hat ihn nicht dabei und wird aufgefordert, ihr Hausaufgabenheft abzugeben, welches sie aber auch nicht mit hat. Sie grinst ein wenig dümmlich (oder verlegen?), den Blick gesenkt, vor sich hin. Christian tut seine Meinung kund, Judith habe die Sachen mit Absicht vergessen. Es folgt eine kurze Ausführung zu einem anderen Thema, welches aber auch Judith betrifft, dann geht’s wieder übergangslos mit dem Unterrichtsthema weiter, Steffen soll den 3. Schritt der 5-Gang-Lesetechnik noch einmal wiederholen und kommt dieser Aufforderung nach. Offenbar überlegt Frau Köhler aber noch, wie sie weiter verfährt. Sie unterbricht das Unterrichtsgespräch ein weiteres Mal, ruft Manuel nach vorn und setzt zu einer Erklärung für die ganze Klasse an. Da sie Judith keinen Eintrag ins Hausaufgabenheft geben kann, wird Manuel ins Lehrerzimmer geschickt, um der Sekretärin mitzuteilen, sie möchte Judiths Mutter auf der Arbeit anrufen. Was Judiths Mutter mitgeteilt werden soll, schreibt sie auf einen Zettel, liest es aber gleichzeitig auch laut für alle vor: „Kein Hefter für Klassenleiterstunde. Kein Hausausaufgabenheft.“ Sie rechtfertigt sich: „Wo ichs hätte eintragen können, ja. Normal hätte ich das ja eingetragen.“ Dann geht’s weiter mit dem Stoff.
Es geschieht etwas, was die Beobachterin so nicht vermutet hätte: wegen vergessener Materialien wird die Mutter einer Schülerin angerufen! Das Ganze wirkt irgendwie forciert und auch ein wenig hilflos. Fühlt sich die Lehrerin durch Judith herausgefordert? Löst das protokollierte Grinsen Judiths einen ‚Machtkampf‘ und eine Demonstration von Lehrermacht aus? Wie wichtig ist in dieser Situation das vergessene Material? Wie wichtig ist das Hausaufgabenheft? Die Reaktion der Lehrerin kann als Überreaktion oder auch Überkorrektheit gesehen werden. Der Elternanruf stellt hier eine schnelle Problemlösung dar. Es wären jedoch auch Alternativen denkbar, zum Beispiel ein Vermerk im Klassenbuch und das Informieren der Eltern zu einem späteren Zeitpunkt, die jedoch eine Problemlösung aufschieben. Auf die gewählte Art werden mehrere Probleme gelöst: Judith wird doppelt bestraft, zum einen durch den Anruf der Mutter, zum anderen durch die öffentliche Bekanntgabe des Anrufs sowie dessen Inhalts. Darüber hinaus werden den anderen Schülern der Klasse die Folgen eines vergessenen Hausaufgabenheftes vorgeführt. Denn wäre das Vergessen des Hausaufgabenheftes in der Situation unbestraft geblieben, hätten sich möglicherweise Nachahmer gefunden – zumindest könnte dies befürchtet werden. Schließlich bietet diese Strategie durchaus Vorteile, wenn sie denn erfolgreich ist.
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Dabei ist zu fragen, worum es tatsächlich geht. Geht es wirklich nur darum, die Eltern zu informieren? Oder spielen noch andere Beweggründe eine Rolle? Aufschlussreich in dieser Hinsicht ist die folgende Szene. Im Matheunterricht kontrolliert der Lehrer zu Beginn der Stunde, ob die Schüler einen am Vortag zurückgegebenen Test berichtigt und von den Eltern unterschreiben lassen haben. Schon der erste Schüler, Thomas, hat beides vergessen. Der Lehrer scheint nicht sehr verwundert darüber zu sein. Thomas gehört zu denjenigen Schülern, die häufiger Dinge vergessen. Der Lehrer fragt nach einem Grund für das Vergessen, erhält aber nur verlegenes Grinsen und Schulterzucken. Daraufhin nimmt der Lehrer ganz ruhig sein Mobiltelefon zur Hand und ruft die Mutter des Jungen an, der er in freundlichem Ton von der Fünf des Jungen in der Kurzkontrolle berichtet. Offenbar weiß sie nicht Bescheid oder meint, sie hätte nichts im Hausaufgabenheft gelesen, Lehrer und Mutter einigen sich und das Gespräch ist beendet. Mathematikunterricht, Ende Klasse sechs Herr Semper will weiter kontrollieren. Noch bevor er zu Hans kommt, sagt dieser schon schüchtern: „Vergessen.“ Herr Semper schüttelt den Kopf und meint: „Hasts auch vergessen?“ Hans nickt, Tobias gibt einen erschrockenen Laut von sich. Herr Semper geht vor zu seinem Tisch und dreht sich zur Klasse: „Warte mal, ich geb mal nen Tipp ab, wers wieder vergessen hat.“ Er schaut in die Klasse: „Judith hats unter Garantie vergessen.“ Judith gibt zu, dass sie die Arbeit nicht vorweisen kann, meint aber, die Arbeit läge unterschrieben zu Haus auf dem Küchentisch. „So ein Zufall! Ich bin heute mal, bin heute mal großzügig mit meinen Anrufen, machen wir also mal.“ Er greift erneut zum Telefon und beginnt zu wählen, einige Kinder lachen. Max fragt: „Wird das nicht teuer?“ Herr Semper: „Das für das is- das seid ihr mir wert.“ Während er die Nummer wählt, spricht er vor sich hin und halb zur Klasse: „Immer sehr schön, die erstaunten Eltern dran zu haben.“ Dann zu Thomas: „Deine Mutter sagte auch sie weiß gar nüscht davon weil die [unverstdl.] Du schreibst Zuwenig ein.“ Jetzt hat er jemanden am Apparat: „Ja, guten Tag, hier ist Semper, A.-Schule. Sprech ich da mit Frau Berger?“ (Antwort der Mutter) „Ja, die Judith hat heute wieder mal – wenich von dem was ich verlange mit. Also es geht um die Kurzkontrolle die sie gestern zurück bekommen hat. In der sie eine Fünf hatte.“ (Antwort der Mutter) „Haben Sie gesehen?“ „Tja, nur leider seh ich hier nich das Ergebnis.“ Judith ruft nach vorn zum Lehrer: „Die liegt zu Hause aufm Tisch.“ „Jetzt sagt se, die liegt zu Hause auf'm Tisch. Hättse man lieber den Tisch mitgebracht.“ (Kinder lachen) „Aber Sie sind, Sie sind im Bilde. Gut. Also auch um um den Durchschnitt, ja also es geht ja nun wirklich dramatisch auf die Fünf zu.“ (Antwort der Mutter) „Ja. Gut. Gut, dann ist doch alles klar. Gut. Also dann nächsten Montag, hoffentlich die, die unterschriebene Kurzkontrolle.“ (Antwort der Mutter) „Ja, gut alles klar. Gut, gut. Tschüß! Ja, schönes Wochenende, tschühüß.“ Er legt auf und sagt laut und deutlich: „Ärgerlich!“
Zunächst einmal muss gesagt werden, dass es sich hierbei ganz und gar nicht um eine typische Situation in dieser Klasse handelt, auch wenn das Verhalten des Lehrers zu Beginn der Szene dies vermuten lässt. Die anwesende Beobachterin ist beim Anruf von Thomas‘ Eltern erstaunt, aber wirklich irritiert ist sie, als auch die Mutter von Judith angerufen wird. Eine ähnliche Wahrnehmung der Situation ist auch in der Klasse beobachtbar. Während man den ersten Anruf
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zwar überrascht registriert, wird er doch schnell als willkommene Unterbrechung des Unterrichtsalltags angesehen. Während des zweiten Anrufs werden die Kinder unsicherer, Blicke gehen hin und her, Freunde erkunden ob der andere alles mit hat, einige Schüler wirken deutlich erleichtert, wohl weil sie Unterschrift und Berichtigung vorweisen können. Ursprünglich mag es den Lehrern in der Klasse darum gegangen sein, die Unterrichtsfähigkeit der Schüler über die Kontrolle des Unterrichtsmaterials herzustellen und dabei auch auf die Mitarbeit der Eltern zu setzen. Die obige Szene lässt darüber jedoch Zweifel erwachsen. Hier geht es weniger um die Unterschrift und Berichtigung eines Tests als vielmehr darum, Schüler und Eltern vorzuführen. Da Thomas zu denjenigen gehört, die häufiger Materialien vergessen und zudem auch keine guten Noten erzielt, greift der Lehrer hier nicht zum Hausaufgabenheft, welches ja das übliche Kommunikationsmittel zu den Eltern darstellt, sondern gleich zum Telefon, um eine direkte Kommunikation herzustellen. Man könnte unterstellen, er wolle sichergehen, dass die Eltern auch tatsächlich informiert sind, aber es gibt noch andere Lesarten. An Thomas soll ein Exempel statuiert werden. Der Lehrer hat sicher nicht vor, in dieser Stunde alle Eltern der Kinder anzurufen, deren Tests die Unterschrift der Eltern nicht aufweisen. Vermutlich wollte er es als abschreckendes Beispiel bei Thomas belassen, allerdings wird er von Judiths Aussage geradezu provoziert, auch ihre Eltern anzurufen und ihre Aussage zu überprüfen, denn er glaubt ihr scheinbar nicht. Nun bestätigt Judiths Mutter deren Aussage und lässt des Lehrers Anliegen nichtig werden. Ein Überraschungseffekt konnte nicht erzielt werden. Um aber doch noch ‚einen Punkt landen‘ zu können, verweist der Lehrer auf den schlechten Durchschnitt der Schülerin. Aber auch darüber zeigt sich die Mutter informiert, so dass zwischen Schule und Elternhaus „alles klar ist“ und eigentlich nichts mehr hinzugefügt werden muss. Bevor der Lehrer jedoch das Gespräch beenden kann, muss er seinen Anruf rechtfertigen und so beharrt er auf der Vorlage des unterschriebenen Tests, obwohl ja die Mutter bereits persönlich über die Fünf der Tochter informiert ist. Hier handelt es sich um reines Durchpeitschen von Prinzipien. Noch einmal: Was macht das Besondere und Irritierende dieser Szene aus? Aufsehen erregend erscheint zunächst die Tatsache eines Anrufes bei den Eltern mitten in der Unterrichtssituation. Damit wird das gewöhnliche setting schulischen Unterrichts gesprengt, denn dieses setting besteht bekanntlich aus der unmittelbaren Interaktion von Lehrperson und Schülern – face-to-face! Diese Interaktion ist zeitlich und räumlich begrenzt, aber die situativ auftretenden Probleme müssen in der Situation auch gelöst werden. Im Konflikt- und Disziplinarfall werden von Lehrerseite auch außerhalb der Situation liegende Instanzen angeführt (der Direktor, die Klassenlehrerin, oder eben die Eltern), aber in der
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Regel eben als Ressourcen, die außerhalb der unmittelbaren Situation liegen. Verblüffend ist deshalb, dass und wie der Lehrer in der beschriebenen Szene die außerunterrichtliche und sogar außerschulische Instanz der Eltern in die Situation hinein holt. Verblüffen kann aber auch mit welcher Bedenkenlosigkeit der Lehrer eine Außenstehende – Judiths Mutter – zur Beteiligten und situativ Anwesenden macht, ohne dass diese gefragt würde. Judiths Mutter wird dann durchaus darauf hingewiesen, dass das Telefongespräch vor der Öffentlichkeit der Schulklasse stattfindet (indem eine parallele Bemerkung Judiths aufgegriffen wird: „jetzt sagt se“). Das macht wohl die herausgehobene Bedeutung dieser Szene aus: Dass hier die Exklusivität der Unterrichtssituation um die ‚Anwesenheit‘ einer Mutter erweitert wird und zugleich das eigentlich exklusive Elterngespräch über eine Schülerin vor der Öffentlichkeit der Schulklasse geführt wird. Was soll mit dieser Aufsehen erregenden doppelten Grenzverletzung gezeigt werden? Ist die Szene als demonstrative Ausweitung der Zuständigkeit und des Zugriff der Schule auf den häuslichen Bereich und die Eltern der Schüler zu verstehen? Leistungsbewertung und vergessene Arbeitsmaterialien Dass die Arbeitsmaterialien nicht nur auf der Ebene des alltäglichen Unterrichts bedeutsam sind, sondern darüber hinaus auch für die Noten der Schülerinnen und Schüler relevant sein können, soll im Folgenden gezeigt werden. Zunächst schauen wird auf zwei Beispiele aus dem Geschichtsunterricht. Die Lehrerin gibt in dieser Stunde die Zeugnisnoten bekannt (vgl. ausführlicher Kap. 4.3) und begründet auch das Zustandekommen dieser Noten: Lehrerin: „Tina (..) Tina Sommer, hat mir bewiesen (.) dass sie im Laufe des Schuljahres immer mal wieder zu Höchstleistungen fähich ist (.) sie hat zwar auch Fünfen dabei (.) kann aber auch denken und hat zur Klassenarbeit fleißig gelernt (.) das gab für mich den Ausschlag (.) bei einem Notendurchschnitt von Drei Komma Sechs (.) insgesamt in diesem Schuljahr ihr auch eine Drei aufm Zeugnis zu geben (.) //(einzelner Schüler, leise) Oahr// (...) außerdem bist du eine derjenigen die immer was mit hat (..) und immer Hausaufgaben macht (.) das macht auch was aus.“
Bei Tina zeigt die Lehrerin ein weites Spektrum der Leistungen auf, bevor sie ihren Durchschnitt und die Note vor der Klasse nennt. Es ist durchaus zulässig und im Ermessensspielraum der Lehrer, insgesamt aber eher unüblich, bei einem Durchschnitt von 3,6 eine Drei zu geben. Somit wird die Entscheidung begründungsbedürftig. Als würden ihre angeführten Argumente zu „Höchstleistungen“ und „Denken können“ nicht ausreichen, ergänzt die Lehrerin, dass Tina immer ihre Sachen dabei habe und die Hausaufgaben erledige. Dieses vorbildliche Verhalten hat zur Entscheidung für die bessere Note beigetragen. Noch deutlicher zeigt sich die Bedeutung (fehlender) Materialien für die Bewertung der Schulleistungen bei der Zeugnisnote von Hans.
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Jetzt ist Hans an der Reihe. Lehrerin: „Zumindestens hast du versucht dich ein wenich zu verbessern. Die Klassenarbeit is ganz daneben gegangen (.) und das is das was dir auch noch (..) recht (6) das genügt nicht und zum zweiten dass du öfters deine Hausaufgaben und Sachen nicht mithast, deswegen habe ich beschlossen beim Durchschnitt von Drei Komma Fünf dir auch die Vier zu geben (..) ich weiß du kannst mehr, aber das musste mir beweisen indem du auch immer alles mit hast, deine Hausaufgaben regelmäßig machst und nich bloß ab und zu mal zwischen Drei und Sechs schwankst sondern, konstanten Durchschnitt hast, wenn du überall Dreien hast und ab und zu ma ne Vier dabei (.) das Drei Komma Fünf und hast öfters deine Sachen mit als jetzt, und dann bin ich auch bereit dir die Drei zu geben, sonst nich.“
Der Durchschnitt von 3,5 eröffnet der Lehrerin wieder einen Bewertungsspielraum, den sie auch deutlich macht. Ihre Entscheidung für die schlechtere Note begründet sie mit dem häufigen Vergessen von Hausaufgaben und Unterrichtsmaterialien. Die Lehrerin unterstellt hier, dass der Schüler eigentlich besser sein könnte, das aber „muss er ihr beweisen“. Aber wie soll er das tun? Durch fleißiges Mitarbeiten oder das Erreichen guter Noten? Nein, zuallererst soll er alle nötigen Sachen mithaben, die Hausaufgaben erledigen und einen „konstanten Durchschnitt“ aufweisen. Abgesehen von dem fragwürdigen Argument eines konstanten Durchschnitts geht es hier um das Verhalten des Schülers, nicht um seine tatsächlich erbrachten Leistungen. Dies wird in der zweifachen Betonung des Materials als notwendiger Voraussetzung für das Erteilen der besseren Note deutlich. Aber auch in anderer Weise kann vergessenes Arbeitsmaterial die Zeugnisnote beeinflussen. Die Geschichtslehrerin hat für die Hausaufgaben folgende Regel aufgestellt: Wer drei Mal die Hausaufgaben vergessen hat erhält eine Sechs. Dies ist eine reguläre Note, die ins Klassenbuch eingetragen wird. Der Mathematiklehrer geht anders vor. Diejenigen, die im Halbjahr höchstens ein Mal die Hausaufgaben oder Unterrichtsmaterial vergessen haben erhalten dafür eine Eins, welche ebenfalls in die Gesamtnote eingeht. Wie stark Arbeitsmaterialien und Leistung an der Sekundarschule aufeinander bezogen werden, zeigt die abschließende Bemerkung des Mathematiklehrers in einer Zeugnisnotenbesprechung zum Ende der sechsten Klasse: „Aber, man kann fast sagen, die Zensur kann man hier auf die vergessenen Materialien zurückführen.“ Schlussfolgerungen Das erforderliche Unterrichtsmaterial dabei zu haben ist eine wichtige Voraussetzung für gemeinsames Arbeiten im Unterricht. Ist diese nicht gegeben, kann das Arbeiten erschwert, in extremen Fällen sogar verhindert werden. Es konnte gezeigt werden, dass an der Sekundarschule nicht nur häufiger Material vergessen wird, sondern dass dieses Vergessen auch stärker und öfter im Unterricht zum Thema gemacht wird, als dies am Gymnasium der Fall ist. Was das Verges-
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sen des Materials betrifft, so werden die Schüler durchaus unterschiedlich behandelt. Gleich ist für alle der Eintrag ins Hausaufgabenheft, darüber hinaus werden jedoch bestimmte Schüler zusätzlich bestraft: Sie können nicht mitarbeiten, werden vor der Klasse lächerlich gemacht oder ihre Eltern werden während des Unterrichts angerufen. Dabei handelt es sich überwiegend um Schüler, die einerseits häufiger Material vergessen und andererseits eher im unteren Leistungsbereich verortet werden. Hier sind die Lehrer seltener gewillt, Nachsicht zu üben. Man kann das ‚Problem‘ des vergessenen Materials auch folgendermaßen lesen: Das Unterrichtsmaterial bietet sich gerade durch seine „Materialität“ in besonderer Weise für Praktiken der Kontrolle und für Zwecke der Disziplinierung an. Es lässt sich leicht überprüfen, ob ein Schüler sein Lehrbuch oder seinen Tuschkasten dabei hat, viel besser, als zum Beispiel festzustellen, ob der Lehrstoff eines Sachgebietes verstanden wurde. Dabei ist es nicht relevant, ob das Fehlen des Materials den Unterricht behindert, sondern ein generelles Prinzip wird überprüft und zwar, wie oben bereits angedeutet, das der grundsätzlichen Anerkennung der Bedeutsamkeit des Unterrichts. Die Beobachtungen legen noch eine weitere Interpretation nahe: Hausaufgaben, Unterrichtsmaterialien und Unterschriften der Eltern – die drei ‚Obsessionen‘ der Sekundarschullehrer – haben eines gemeinsam: Sie stellen die Verbindung zwischen der Schule und dem Zuhause der Schüler dar. Die hier berichteten Praktiken der Kontrolle, der Sanktionierung und der Moralisierung des ‚Vorbereitet-Seins‘ laufen darauf hinaus, diese Verbindung zu problematisieren. Die schulischen Praktiken gehen von einigen Unterstellungen oder Prämissen aus: 1. Zuhause liegen die Voraussetzungen für die Ergebnisse schulischer Arbeit. 2. Die Autorität der Eltern (nicht diejenige der Schule) ist die grundlegendere und für das (Fehl-)Verhalten der Schüler letztlich entscheidende. 3. Die Möglichkeiten und Mittel der Schule reichen nicht hin – die Schule braucht die Mitwirkung der Eltern. Diese drei Prämissen unterliegen den schulischen Praktiken als Voraussetzungen und zugleich werden sie in den Praktiken reproduziert. Die Überzeugung von der Kontrollbedürftigkeit eines Zustandes kann wohl gleichermaßen als Voraussetzung und als Effekt von Praktiken der Kontrolle angesehen werden. Der Rekurs auf die ‚häuslichen Voraussetzungen‘ schulischen Verhaltens und schulischen Erfolgs stellt letztlich eine ambivalente Doppelbewegung dar: Die Schule externalisiert ihre Probleme, indem sie sich für nicht-zuständig erklärt, – und zugleich weitet sie ihren Zugriff und ihre Zuständigkeit auf das Elternhaus ihrer Schüler aus.
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Konkret wird das Erfordernis, sich für ‚nicht-zuständig‘ zu erklären angesichts enttäuschender Leistungen von Schülerinnen und Schülern. Hier gilt es klar zu stellen, dass keineswegs mangelhafter Unterricht und auch nicht fehlende Begabungen (denn auch darauf hätte der Unterricht sich einzustellen), sondern ausschließlich das Verhalten der betreffenden Schüler verantwortlich zu machen ist. Das für enttäuschende Leistungen verantwortlich zu machende (Fehl-)Verhalten von Schülerinnen oder Schülern dokumentiert sich am augenfälligsten in vergessenen Materialien, Hausaufgaben und Unterschriften. Hieran lässt sich allen Beteiligten, den Schülern selbst, den Mitschülern, der Beobachterin und der Lehrperson selbst zeigen, dass die Schülerin oder der Schüler ‚selbst schuld‘ ist. Dabei dienen die verschiedenen Praktiken der Lehrer auch dazu, systematisch die schlechten Schüler zu produzieren mit denen sie es, gemäß der vorherrschenden Ansicht in der Bevölkerung, in der Sekundarschule zu tun haben und weniger Versuche werden unternommen, um ‚gute‘, das heißt leistungsstarke, Schüler hervorzubringen. 3.2.4 Die Pflichten der Sekundarschüler Später (in Kapitel 3.3.3) wird sich die Analyse genauer der Besprechung von Zeugnisnoten im Unterricht zuwenden; hier geht es zunächst um die Ausführungen einer Lehrerin im Vorfeld einer solchen Zeugnisnotenbesprechung. Die Bekanntgabe bzw. Besprechung von Zeugnisnoten stellt einen besonderen Höhepunkt im Alltag einer Schulklasse dar: Im Rahmen eines spezifischen Faches wird das zurückliegende Halb- bzw. Schuljahr bilanziert. Für die letzte Geschichtsstunde am Ende der fünften Klasse ist die Besprechung der Endjahresnoten angekündigt. Die Geschichtslehrerin nutzt diese besondere Situation jedoch zunächst für eine umfassende Ansprache über Verhaltenserwartungen an die Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule, welche im Folgenden genauer betrachtet werden soll. Geschichte, Besprechung der Zeugnisnoten Ende Klasse fünf Lehrerin: „So es hat gebimmelt und jetzt bin ich dran, Felix setz dich bitte hin [ein Wort unverstdl.].“ Es wird ruhiger in der Klasse. Obwohl alle bereits nach vorn schauen, knallt die Lehrerin mit dem Zeigestock auf den ersten Schülertisch. Einige Schüler geben Laute des Erschreckens von sich, dann ist es ruhig im Raum. Lehrerin: „So dann wünsch ich alln ein wunderschön’ Guten Moorgen.“ Der Schülerchor antwortet gedehnt: „Guten Mooorgen.“ Lehrerin: „Ich freu mich über zahlreiche Anwesenheit (.) obwohl einige fehlen seh ich grade, ham die schon Urlaub? //S.: Ja.// Große Wäsche? Judith oder so? //S.: Ja.// Haushaltstach? //S: Ja. (.) Ja.// So (.) dann folgender Fahrplan is ja unsre letzte Geschichtsstunde nächste Woche sind ja Projekttage (.) und Zeugnisausgabe (..) ad eins ich möchte (.) ein wenich (.) das Schuljahr einschätzen (.) beziehungsweise euch eure Endnote sagen das mach ich allerdings bloß in der
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fünften Klasse damit ihr ungefähr die Richtung wisst (.) uund (.) ich gebe nen kleinen Ausblick was wir in Geschichte nächstes Jahr machen werden (.) denn das is ja unser Geschichtsbuch fünfte und sechste Klasse insgesamt und ich geh mal davon aus dass wir nächstes Jahr auch Geschichte zusammen haben werden. //S.: Ja.// Ja (.) so das's das erste. (..) Ich finds nicht schön (.) dass einige wieder ihre Sachen vergessen haben das is (.) ein absolutes Manko obwohl wir jetzt ein Jahr zusamm haben und dasses manchmal sicherlich schwer sein wird dass donnerstags immer abwechselnd entweder Geographie oder Geschichte sein wird oder ist (.) es is trotzdem nicht in Ordnung dass [ihr euch an den Takt nicht gewöhnt habt] und immer wieder einige ja hier antanzen und erzählen, dass se keine Sachen mithaben (.) dass se die Hausaufgaben vergessen haben und sonst irgendwas, das-darf-nicht-sein (.) es gehört zu euren Pflichten und ihr habt euch jetzt ein Jahr lang an die (.) Modalität in der Sekundarschule gewöhnt (.) es gehört zu euren Pflichten immer (.) ordentlich alles zum Unterricht mitzubringen, aufmerksam zuzuhören, Leistung zu bringen, auch zu Hause zu lesen und eure Hausaufgaben anzufertigen. (.) Das is eure Pflicht das is keine Kür. Das heißt also das kann man nicht bloß machen, das muss man sogar machen. (..) Und das is das was ihr euch merken solltet (.) ein für alle mal. Und wer das nicht sich merkt für die nächsten Schuljahre (.) der wird eventuell (.) wenner (.) Schwierich-keiten hat, und die wird er ja bekommen (.) wenner ja nich alles macht kanner ja auch nich immer topp sein (.) und dementsprechend wird er irgendwann solche Schwierichkeiten haben dass er eventuell das Klassenziel nicht erreicht. (.) Das kann man einma machen aber kein zweites Mal das Klassenziel nicht erreichen. Und wenn man das dann ein zweites Mal hat dann wars das mit der Schule. (.) Bloß ma so allgemein ihr seid jetzt noch ziemlich klein (.) jetzt habt ihr nochma die Gelegenheit (.) euch anzustrengen und nützt das auch. Meistens dann in der zehnten Klasse ich weiß nicht ob ihr dort mit irgendwelchen Leuten Kontakt habt ältere Geschwister? (..) //(unverstdl. Antworten aus der Klasse)// Nich keiner (.) der dann gesacht hat dann in der neunten oder zehnten Klasse, hach so schnell is das Schuljahr um (.) hätt ich doch man (.) und dann isses auch zu spät. So (.) eure Note //(leises, unverstdl. Geraune in der Klasse)// (..) Tina (..) Tina Sommer (.)“ Es erfolgt die Bekanntgabe der Noten für die einzelnen Schüler.
Was passiert hier im Vorfeld einer Zeugnisnotenbekanntgabe? Es kann nicht auf alle Aspekte gleichermaßen eingegangen werden, aber einige Punkte, welche für das Unterrichtsverständnis der Sekundarschule insgesamt bedeutsam sind, sollen eingehender betrachtet werden. Bereits das Drohen mit dem Zeigestock gleich zu Beginn der Stunde deutet den autoritären Umgang der Lehrerin mit den Schülerinnen und Schülern an; die Stundeneröffnung selbst ist beinahe zynisch. Über die „zahlreiche Anwesenheit“ kann man sich eigentlich nur freuen, wenn die Teilnahme freiwillig ist, was für den Schulbesuch in Deutschland nicht zutrifft. Zudem ist die Anwesenheit gar nicht so „zahlreich“, was die Lehrerin im Anschluss auch feststellt und im Weiteren die möglichen Gründe für das Fehlen einiger Schüler ebenfalls ironisiert. Ein moralisierender Monolog, wie er sich hier anschließt, ist in Situationen von Rückgaben und anderen Notenbesprechungen regelmäßig zu beobachten. Dabei kann die Situation der Zeugnisnotenbesprechung als besondere, herausgehobene Situation betrachtet werden. Die Lehrperson kann hier mit der erhöhten Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler rechnen und nutzt dies für die Thematisierung übergreifender Erwartungen.
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Zudem handelt es sich auch um ein retardierendes Element innerhalb der Inszenierung dieser Situationen, welches die eigentliche Besprechung der Noten verzögert und die Spannung (zusätzlich) steigert. Ihre „Einschätzung des Schuljahres“ beginnt die Lehrerin mit der Thematisierung eines zentralen Problems („absolutes Manko“), dem Vergessen von „Sachen“, welches die Lehrerin verurteilt und untersagt, ohne diese Absolutsetzung zu begründen. Stattdessen folgt eine Aufzählung von Pflichten der Sekundarschüler. Die erste Pflicht leitet sich offenbar aus dem Anlass der Ansprache ab. Allerdings besteht der Anteil der Schülerinnen und Schüler in Unterricht und Schule ja nicht nur aus dem Mitbringen der Unterrichtsmaterialien. Es folgt also eine Aufzählung weiterer Pflichten, da bei der ersten allein nicht stehen geblieben werden kann. Eingebettet in die schulbezogenen Voraussetzungen von Unterricht und die häuslichen Verpflichtungen für Schule ist die Verpflichtung der Schüler „Leistung zu bringen“. Im Vergleich zu den anderen genannten Pflichten wirkt dies wenig konkret und nicht in die Reihe von überwiegend einfachen Praktiken passend. Geht man von einer Aufzählung von Anforderungen auf der gleichen Ebene aus, so handelt es sich bei den „zu bringenden Leistungen“ mehr oder weniger um ein an die Schule angepasstes Verhalten, auf das man verpflichtet werden kann. Es wirkt fast so, als sollten auch die Leistungen zur Schule „mitgebracht“ werden. Wobei völlig unklar bleibt, was eigentlich mit „Leistung“ gemeint ist. Ist es die Mitarbeit im Unterricht, eine hohe Anstrengungsbereitschaft oder das Erzielen guter Noten? Die Deutung bleibt den Schülern überlassen. Möglicherweise ist der Lehrerin selbst nicht ganz klar, was genau sie eigentlich von den Schülerinnen und Schülern erwartet. Darüber hinaus betreffen die genannten Pflichten auch das Verhältnis von schulischer und häuslicher Situation. Die Pflichten der Sekundarschüler enden nicht am Schultor, sondern werden auch auf den häuslichen Bereich ausgeweitet. Die genannten Pflichten selbst scheinen in der Situation weder begründungsbedürftig noch verhandelbar; sie gelten absolut. Die mehrfache Wiederholung des Begriffs ‚Pflicht‘, seine Paraphrasierung und die sich anschließende Drohung können als Ausdruck des unbedingten Sichergehen-Wollens gedeutet werden, dass die Botschaft ankommt. Im weiteren Verlauf des Monologs entwickelt die Lehrerin ein diffuses Drohszenario, welches auf das finale Schulversagen als direkte Folge der Nichtbeachtung der Pflichten hinsteuert. Hier wird also die letzte mögliche Konsequenz aufgerufen, um Themen wie dem Mitbringen von Unterrichtsmaterial höchstmögliche Bedeutung zu verleihen. Dabei ist die Argumentation brüchig und recht konstruiert, sie scheint eher die Folge von situativen Vollzugszwängen zu sein, als auf einer vorbereiteten Idee zu basieren. In dieser „Einschätzung des Schuljahres“ geht es an keiner Stelle um im Unterricht vermittelte Inhalte oder Kompetenzen. Es gibt keine Anerkennung der
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von den Schülern gezeigten Leistungen, keine Ermunterung, stattdessen Moralisierung und Drohung. Dabei kann es durchaus als Zeichen der Hilflosigkeit der Lehrerin gedeutet werden, dass die Schüler einseitig auf Leistung verpflichtet und für ihren Schulerfolg verantwortlich gemacht werden. Diese Übertragung der Verantwortung verweist auf wenig Vertrauen in die eigenen Möglichkeiten, zur Hervorbringung guter Leistungen beizutragen. In unseren Beobachtungen der Sekundarschulklasse scheint es, als würden die Lehrerinnen und Lehrer ihren Aufgabenbereich vornehmlich in der Überwachung der Einhaltung der Pflichten bzw. im Einfordern des entsprechenden Verhaltens sowie dem Bestrafen beim Verstoß gegen die Pflichten zu sehen. Anstelle einer Kultur der Motivation und Anerkennung der Schüler und ihrer Fähigkeiten und Kenntnisse kann die Rede der Geschichtslehrerin somit als Ausdruck einer auf Anpassung an schulische Regeln ausgerichteten Unterrichtskultur in der Sekundarschule gedeutet werden, welche sich der Moralisierung und Einschüchterung der Schüler bedient. Dem Vertrauen in die Fähigkeiten der Schülerschaft am Gymnasium entspricht an der Sekundarschule ein tiefes Misstrauen in die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, vor allem jedoch in ihre Bereitschaft, sich für schulische Belange zu engagieren. 3.2.5 Zwischenfazit Betrachtet man die bisher entwickelten Analysen, so treten zwei zentrale Themenbereiche hervor, die im Unterrichtsalltag der Sekundarschule als problematisch diskutiert werden: 1) Das nicht den Lehrererwartungen entsprechende Verhalten vieler Schülerinnen und Schüler, welches sich vor allem im Vergessen von Unterrichtsmaterialien, nicht erledigten Hausaufgaben oder als Unaufmerksamkeit im Unterricht zeigt. 2) Die schlechten Leistungen (Noten) der Schülerinnen und Schüler. In den Analysen dieses Kapitels konnten anhand vielfältiger Situationen und Praktiken, die ganz unterschiedlichen Unterrichtsfächern entnommen und bei verschiedenen Lehrern beobachtet wurden, zum Teil sehr unterschiedliche Versuche herausgearbeitet werden, das Verhalten der Kinder zu normieren und Regelverstöße zu ahnden, welche alle in eine Richtung weisen – auf die Herstellung von Wohlverhalten. Darüber hinaus finden sich zwar vereinzelte Versuche der Herstellung von Leistungsorientierung, die jedoch aufgrund ihrer inneren Widersprüchlichkeit wenig erfolgsversprechend scheinen. Andererseits wird die Einforderung von „Leistung“ als zentraler Bereich von Schule thematisiert.
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Welches Verhältnis besteht zwischen Disziplinierung und Leistungseinforderung und warum wird das Vergessen von Unterrichtsmaterialien als so problematisch in der Sekundarschule thematisiert? Es geht um eine ganz grundlegende Voraussetzung von Unterricht – die Anerkennung der Bedeutung von Schule. Da die Schüler das von ihnen erwartete Verhalten nicht zeigen, steht auch die Anerkennung von Schule in Gefahr. Dieser Gefahr muss von Seiten der Lehrerschaft begegnet werden. Anstrengungen in diese Richtung können in nahezu jeder Unterrichtsstunde beobachtet werden. Zudem wird in der Schule ein starker Zusammenhang zwischen angemessenem Verhalten und guten Leistungen hergestellt, bzw. werden beide Aspekte bezüglich der Einschätzung der Schüler vermischt – der ‚gute‘ Schüler zeichnet sich vor allem durch angepasstes Verhalten (dies beinhaltet auch das Zeigen allgemeiner Leistungsbereitschaft) und erst nachgeordnet auch durch kognitive Leistungsfähigkeit aus. Gute Leistungen scheinen, wenn man den Ausführungen der Lehrpersonen folgt, ohne Wohlverhalten, wie Materialien mitbringen, aufmerksam zuhören und nicht stören, nicht möglich zu sein. Dies gilt den Lehrenden zum einen als zusätzliche Begründung, die Disziplinierungen zu verstärken, sobald sich die Leistungen eines Schülers verschlechtern. Zum anderen ermöglicht der Verweis auf die enge Verbindung von Verhalten und Schülerleistungen auch die eindeutige Zuweisung von Verantwortung für (vor allem) schlechte Leistungen der Schüler an diese selbst, denn schlechte Leistungen werden unmittelbar auf das (Fehl-)Verhalten der Schülerinnen und Schüler zurückgeführt. Die Unterrichtskultur der Sekundarschule, dies wird in den vornehmlich auf Einsozialisation der Schülerschaft zielenden Praktiken deutlich, ist durch eine Dominanz des „erziehenden Unterrichts“ gekennzeichnet. Dies wirkt wie eine Verlängerung der Grundschule in die Sekundarstufe hinein und entwirft eine Schülerschaft, welche noch immer nicht zur Institution Schule ‚passt‘. Da in dieser Perspektive erst die erfolgreiche Einsozialisation in schulisches Verhalten die Vermittlung von Inhalten ermöglicht, wird ihr umso mehr Bedeutung beigemessen, auch zu Lasten der inhaltlichen Aspekte von Schule. Während also in den Thematisierungen von Lehrern hinsichtlich der Verhaltenserwartungen an die Schüler Wohlverhalten und Leistungserbringung gleichermaßen eine Rolle spielen, scheint in der beobachtbaren Unterrichtspraxis deutlich mehr Wert auf das Wohlverhalten gelegt zu werden. Disziplinierung und Kontrollpraktiken scheinen geradezu das dominierende Strukturprinzip der Unterrichtsrealität zu sein. Während die Lehrer in der unterrichtlichen Praxis also permanent Forderungen an das Wohlverhalten der Schüler stellen und ihre Erwartungen diesbezüglich häufig explizieren, finden sich im Unterricht kaum Erklärungen oder Orientierungen, die die Schüler im Aneignen des Unterrichtsstoffes oder bezüglich der Bearbeitung und Bewältigung schulischer Aufgaben
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unterstützen. Stattdessen werden die Schülerinnen und Schüler auf das Erbringen von „Leistung“ verpflichtet, ohne dass transparent ist, worin diese besteht und was im Einzelnen zu tun ist. Insgesamt betrachtet zeigt die Analyse des Unterrichts an der Sekundarschule kaum Praktiken, welche die Hervorbringung guter Leistungen unterstützen, z. B. Praktiken der Orientierung im Rahmen von Stundeneröffnungen sowie bei Prüfungsankündigungen und Prüfungsvorbereitungen, spezifische Arbeitsanweisungen oder Hinweise zur Nutzung der Unterrichtszeit, wie sie am Gymnasium beobachtetet werden konnten (siehe Kapitel 2) und als für Schulerfolg bedeutsam herausarbeitet wurden, sondern lediglich solche, die den angepassten Schüler zu produzieren versuchen. Die in diesem Kapitel dargestellten Analysen der Unterrichtskultur der Sekundarschule deuten darauf hin, dass die Sekundarschule in ihrem Versuch, angepasste Schüler zu schaffen, nicht unerheblich zur Produktion schlechter Schülerleistungen beiträgt. Wie sich diese spezifische Unterrichtskultur auf Situationen auswirkt, in denen Leistungen der Schüler geprüft und bewertet werden, wird in Kapitel 3.3 im Fokus der Analyse stehen.
3.3 Praktiken der Leistungserhebung und -bewertung Nachdem in Kapitel 3.2 die Rahmenbedingungen des Lehrens und Lernens und damit auch von Leistungsbewertung an der Sekundarschule dargestellt wurden, fokussiert das vorliegende Kapitel Situationen der Leistungserhebung und Leistungsbewertung71. Welche Effekte hat die zentrale Stellung der Normierung des Schülerverhaltens unter Vernachlässigung der Vermittlung von Inhalten auf die Erhebung von Leistungen und deren Bewertung? Bisher ist sehr wenig über das praktische Geschehen in Leistungsmessungssowie Leistungsbewertungssituationen im Klassenzimmer bekannt, darüber, wie die Noten zustande kommen, die später addiert und nach bestimmten Vorgaben gewichtet auf Zeugnissen erscheinen, welche dann künftige Bildungswege ermöglichen oder verschließen können. Im Folgenden werden mündliche und schriftliche Tests, Rückgaben von Klassenarbeiten, Besprechungen von Zeugnisnoten und schließlich Zeugnisausgaben als Höhepunkte der schulischen Leistungsbewertung näher betrachtet und auf ihre inhärente Logik hin untersucht.
71 Teile dieses Kapitels wurden bereits in früheren Versionen publiziert (siehe Breidenstein/Meier/Zaborowski 2007, 2008).
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3.3.1 Transparenz und Rahmung von Leistungssituationen Am Beispiel von zwei Beobachtungen werden im Folgenden spezifische Merkmale der Leistungsermittlung an der Sekundarschule herausgearbeitet, die sich nicht nur deutlich von jenen am Gymnasium unterscheiden, sondern in besonderem Maße Ausdruck der Unterrichtskultur an der Sekundarschule sind. Beide Situationen wurden zu Beginn der Untersuchung in der fünften Klasse beobachtet und aufgrund der überraschenden Wendungen, die sie für Teilnehmer und Beobachterin bereithalten, ausgewählt. Die Protokolle der beobachteten Stunden beinhalten ausgeprägte Reflexionen des Geschehens durch die Ethnographin. Diese expliziert eigene Deutungen der Situation, muss jedoch einige dieser Deutungen im weiteren Verlauf korrigieren. Der „unbemerkte“ Biotest Die folgende Szene aus dem Biologieunterricht entstammt einer der ersten Beobachtungen in der Sekundarschulklasse, wenige Wochen nach Schulbeginn. Die beobachtete Situation verdeutlicht den hohen Grad der Interpretationsbedürftigkeit alltäglicher schulischer Praktiken an der Sekundarschule. Biologie Anfang Klasse fünf Lehrerin: „Wir hatten ja eine Hausaufgabe auf, nehmt ein leeres Blatt hervor.“ Ich ahne schon, was jetzt kommt. Christian, der neben mir sitzt, scheint ganz ungerührt und sucht in seinem Rucksack nach einem leeren Blatt. Lehrerin: „Rand ziehen, Name, Klasse, Datum aufschreiben. (kurze Pause) 1. Worin unterscheiden sich Friedfische und Raubfische hinsichtlich Nahrung und Körperbau?“ Christian ist noch dabei einen Rand zu ziehen und schreibt dann eifrig die erste Aufgabe auf. Dann ist er synchron mit Frau Köhler. Hinter mir sehe ich, wie Robert (er war eine Weile krank) in seinen Hefter schreibt. Ich denke mir, dass das vermutlich okay ist, denn er hat ja den Stoff noch nicht nachgearbeitet. Paul spielt an seinem Etui herum und fängt erst später an zu schreiben. Die zweite Aufgabe „Nenne zwei Beispiele“ scheint nicht klar gestellt zu sein, denn mehrere Schüler fragen nach. Frau Köhler geht durch die Reihen und erklärt es jeweils einzelnen Schülern, dann sagt sie es noch einmal zur Klasse. Man soll je zwei Fried- und Raubfische angeben.
Was geschieht in der beobachteten Situation? Der einleitende Satz der Lehrerin ist sehr knapp gehalten und voraussetzungsreich. Zunächst erscheinen die beiden Satzteile recht unverbunden und ohne einen unmittelbar erkenntlichen Sinnzusammenhang. Für die Beobachterin scheint die Situation dennoch zunächst hinreichend gerahmt zu sein, denn sie „ahnt“, dass eine Testsituation folgen wird, sicher wissen kann sie es jedoch nicht. Den Satz der Lehrerin übersetzt sie für sich in etwa so: Ihr solltet euch als Hausaufgabe den Stoff der letzten Stunden ansehen. Dieser Stoff wird heute in einem Test überprüft, nehmt ein leeres Blatt hervor. Sie ist sich jedoch der Tatsache bewusst, dass dies lediglich eine subjek-
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tive und versuchsweise Situationsdeutung unter Bezugnahme auf eigene Schulerfahrungen ist. Ob tatsächlich ein Test geschrieben wird, ist für die Beobachterin zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz klar. Der Rahmungsversuch der Lehrerin scheint damit für die Beobachterin zu diesem Zeitpunkt zwar auf den ersten Blick verständlich, andererseits jedoch auch uneindeutig bzw. unvollständig zu sein. Der Schüler Christian erfüllt die an ihn gestellte Aufgabe; er sucht nach einem Blatt und stützt damit auch die Beobachterdeutung der Situation als Testsituation. Der zweite Teil der Rahmung durch die Lehrerin zielt auf die formalen Aspekte des Arbeitsmaterials. Das Blatt selbst wird durch den Rand und die Beschriftung mit Name, Klasse und Datum auf materieller Ebene gerahmt und zugleich wird der Lehrerin im Anschluss die Identifizierung der Arbeiten nach Person, Ort und Zeit ermöglicht. Das Geschehen ist damit für die Ethnographin weitgehend als Testsituation identifiziert und die Handlungen der Schüler werden vor diesem Hintergrund gedeutet und beschrieben. Christian verhält sich erwartungsgemäß, während Robert und Paul scheinbar abweichen. Paul beginnt verspätet mit der Bearbeitung der Aufgaben und kommt somit seiner Pflicht letztlich nach. Auch das ‚abweichende‘ Verhalten von Robert wird deutend ‚aufgelöst‘. Die Ethnographin bezieht ihr Kontextwissen über Roberts vorangegangene Krankheit ein und deutet die Situation entsprechend. Die der Ethnographin als Referenzfolie für ihre Beobachtungen bzw. Handlungsdeutungen dienenden Anforderungen einer Testsituation können in der Analyse folgendermaßen umrissen werden: 1) Notwendige Voraussetzung zum Schreiben des Tests ist ein leeres Blatt, welches vom Schüler a) personalisiert und b) inhaltlich gefüllt wird. 2) Eine wichtige Anforderung (in diesem Fall) ist das (zügige) Mitschreiben der Aufgaben, da nur so die erfolgreiche Bearbeitung ermöglicht wird. 3) Schließlich gehört auch die Anforderung, Testsituationen mittels einer gewissen ‚heiligen‘ Ernsthaftigkeit Tribut zu zollen dazu, ähnlich den Ernsthaftigkeiten, die man Zeremonien und Ritualen entgegenzubringen hat. Plötzlich wird es hinter mir laut, denn Frau Köhler hat entdeckt, dass Elisabeth die ganze Zeit in ihren Hefter und nicht auf ein leeres Blatt geschrieben hat. Ob sie nicht „gerafft“ hätte, was los sei? Plötzlich fangen auch andere Kinder an, Blätter auszuheften bzw. neue, unbeschriebene Blätter hervorzuholen, so auch Robert. Frau Köhler fragt verärgert, ob sie denn nicht bemerkt hätten, dass eine Kurzkontrolle geschrieben wird. Offensichtlich nicht. Bis zu diesem Zeitpunkt ist das Wort Kurzkontrolle meines Wissens nicht gefallen.
Prüfungssituationen sind bezüglich ihrer Anforderungen an die Schüler deutlich vom ‚Unterricht‘, das heißt von Lehr-Lern-Situationen geschieden: In der Prüfung wird jede und jeder auf sich selbst und ihr oder sein persönliches Leistungsvermögen verwiesen. Die ‚Leistung‘ wird persönlich zurechenbar gemacht. Und schließlich weist die Prüfungssituation einen spezifischen ‚Ernstcharakter‘
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auf: Alle müssen sich anstrengen, alle müssen ihr ‚Bestes‘ geben. Die Prüfung muss von allen Beteiligten als solche (an-)erkannt werden – deshalb ist die Situation in die Krise geraten, als deutlich wurde, dass eine Reihe von Schülerinnen und Schülern die Rahmung verkannt hatten und nicht in dem Bewusstsein, an einer Prüfung teilzunehmen, arbeiteten. In dieser Szene der Leistungsüberprüfung ist die äußerste Verknappung der Rahmung und Ankündigung der Prüfung zu beobachten. Eingeübt und etabliert werden hier für Schule typische Verfahren. Wie gezeigt werden konnte, sind diese ausgesprochen voraussetzungsvoll; sie erfordern ein spezifisches praktisches, implizites und geteiltes Wissen Aller um ‚verstanden‘ zu werden. Mittels dieses Rekurses auf gemeinsames ‚Insiderwissen‘ werden alle zu Verantwortlichen für die Rahmung der Situation gemacht. Das (Prüfungs-)Verfahren zu erkennen heißt auch, es anzuerkennen. Wie im Beispiel ersichtlich ist, gibt es in dieser Biologiestunde zunächst keine von allen geteilte Deutung der Situation, sondern (mindestens) zwei sich deutlich unterscheidende Situationsdeutungen. Durch die Selbstbeobachtung der Ethnographin wird der Leser aufmerksam auf Rahmungsunklarheiten in der Situation, die auch für die anderen Teilnehmer im Feld bestehen können. Diese Rahmungsunklarheiten ermöglichen einen Einblick in die erforderliche Interpretationsarbeit der Teilnehmer, vermittelt über die Selbst-Beobachtung der Ethnographin. Dabei werden die Normalitätserwartungen, mit denen die Ethnographin im Feld operiert, der Analyse zugänglich. Nachdem sie unter Rückgriff auf eigene Erfahrungen sowie Beobachtung der anderen Teilnehmer im Feld (Lehrerin, Christian) die Situation als eine Test-Situation interpretiert, deutet sie auch ‚abweichende’ Handlungen einzelner Schüler innerhalb dieses Interpretationsrahmens um. Dabei handelt es sich um Deutungen, die sowohl die eigene Interpretation der Situation stützen, als auch die ‚Abweichungen‘ als Sonderfälle bestimmt, welche die Situation ebenfalls tragen. Die Möglichkeit eines Missverstehens der Rahmung und somit Verkennens der Testsituation oder die bewusste ‚Boykottierung‘ der Testsituation werden von der Beobachterin nicht in Betracht gezogen. Für Schüler kann eine uneindeutige Rahmung der Situation notenrelevante Konsequenzen nach sich ziehen. So können das Schreiben im Hefter ebenso wie Gespräche mit Nachbarn í beides ist in Lernsituationen erlaubt, in der Prüfungssituation jedoch nicht í als Betrugsversuche gewertet werden, für die die Note Sechs erteilt werden kann. Identifiziert ein Schüler die Situation nicht als Leistungsüberprüfung, so gibt er möglicherweise nicht ‚sein Bestes‘ und das Ergebnis fällt für ihn schlechter aus.
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Die Note ‚aus heiterem Himmel‘ Im folgenden Beispiel wird eine andere Form der Leistungserhebung dargestellt. Auch hier wird die anwesende Beobachterin, dieses Mal im Geschichtsunterricht, vom Verlauf der Situation überrascht. Mitten im Unterrichtsgeschehen gibt es plötzlich und unerwartet eine Note, ohne dass die Situation als Prüfung erkenntlich ist. Geschichte Anfang Klasse fünf Dann geht es auch schon weiter mit dem nächsten Thema: Was aß und trank man zur Zeit Hamurabis? Frau Neumann wird einen Text vorlesen und die Kinder sollen die Pflanzen und andere Esswaren mitschreiben. Sie beginnt, in ziemlich hoher Geschwindigkeit vorzulesen und meint dann, die Kinder sollen mitschreiben, was sie schaffen, der Rest wird später ergänzt. Steffen versucht es scheinbar gar nicht erst, Diana schreibt fleißig mit, Judith nicht, sie schaut nur und spielt mit ihrem Haar. Elisabeth schreibt auch mit, ich kann aber nicht sehen, ob sie mitkommt (sie schreibt ja sonst recht langsam), denn sie schaut komplett ausdruckslos. Plötzlich kommt in den Vortrag eine Frage der Lehrerin: „Welches Nebenprodukt haben Bienen?“ Thomas meldet sich und gibt die richtige Antwort – „Honig“. Dann schreibt er weiter. Ich finde, die Anforderungen an die Schüler sind ziemlich hoch. Sie sollen zuhören, schnell mitschreiben und zwischendurch auch noch Fragen beantworten, denn es bleibt nicht bei der einen. Irgendwann ist die Lesung oder das Diktat, was immer es war, beendet und die Lehrerin fordert Elisabeth auf, aufzuzählen, was sie mitgeschrieben hat. Elisabeth reagiert erst einmal nicht, sondern schreibt noch zu Ende. Dann beginnt sie aber. Sie spricht mit leiser, ausdrucksloser Stimme und ich bin erstaunt, wie viel sie mitgeschrieben hat. Vom Anfang hat sie fast alles aufgeschrieben, zum Ende hin wird es etwas weniger, aber insgesamt sehr viel. Nachdem Elisabeth ihre Aufzählung beendet hat, meldet sich die Lehrerin wieder zu Wort. „Sehr schön, da hast du ne ganze Menge mitgekriegt, deshalb Zwei, Elisabeth.“ Elisabeth schaut wie immer, keine Regung im Gesicht. Ich bin komplett erstaunt darüber, dass es eben eine Note gab. Das war nämlich keineswegs angekündigt. Ich kann aber weder Verwunderung über diese Notenvergabepraxis noch sonstige Reaktionen bei Elisabeth oder anderen Schülern in meinem Umfeld erkennen.
Im Gegensatz zum ersten Beispiel ist es hier die Ethnographin, die angesichts der (zumindest für sie) fehlenden Hinweise nicht auf eine Leistungssituation schließt und über die Benotung irritiert ist. Diese Irritation bezieht sich zum einen auf die fehlende Ankündigung der Überprüfung, wurde doch im Gegenteil durch die Ansage, dass fehlende Informationen am Ende ergänzt werden könnten, eine ‚Entlastung‘ formuliert von der Aufgabe, sein Bestes zu geben, wie es in Leistungssituationen üblicherweise erwartet wird. Zum anderen sind es jedoch auch die geprüften Kompetenzen – Esswaren identifizieren und schnell notieren – die zur Irritation führen. Deutlich im Gegensatz zur Beobachterin scheinen die Schüler von dieser Art der Leistungsüberprüfung nicht in dem Maße irritiert zu sein, dass sie ihre Überraschung sichtbar zeigen. Hier handelt es sich um ein Phänomen, dass die Ethnographin besonders in den ersten Wochen der Beobachtung
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regelmäßig notierte – das deutliche Ausbleiben von Reaktionen jedweder Art auf mündliche Leistungserhebung oft auch in Rückgabesituationen bei einem großen Teil der Klasse, insbesondere auch bei Elisabeth (siehe auch Kap. 3.4.3). Als nächstes soll Jens vortragen, was er mitgeschrieben hat, aber er kann nur sehr wenige Dinge nennen. „Mehr nicht?“ fragt dann Frau Neumann auch recht erstaunt. Jens schüttelt nur den Kopf. Frau Neumann: „Da hätte ich mir mehr gewünscht.“ Jens bekommt eine Vier. Er nimmt es gelassen hin. Jetzt kommt noch Paul dran, er hat viel notiert, aber nicht ganz so viel wie Elisabeth. Ähnlich sieht es auch die Lehrerin: „Das war so ein Mittelding zwischen Elisabeth und Jens, da fehlte etwas mehr. Eine Drei.“ Paul schaut nur, stützt den Kopf auf die Hände. Ich bin mir unsicher, ob diese Art, Noten zu geben, in der Klasse bereits früher praktiziert wurde, denn wenn ja, müssten die Schüler doch aufmerksamer mitschreiben. Die Reaktionen in der Klasse lassen keinen Schluss zu. Frau Neumann verweist nun noch einmal auf die Kurzkontrolle in der nächsten Stunde und erklärt, es käme alles dran, was sie zu Mesopotamien hatten.
Im Verlauf der Situation zeigt sich, dass es sich nicht um eine Einzelnote für besonders gute Mitarbeit handelt, sondern die beobachtete Praktik ein möglicherweise reguläres Verfahren zur Gewinnung von Noten ist. Irritierend bleibt auch hier die Tatsache, dass eine identische Aufgabe mehrmals öffentlich abgeprüft wird. Auch das Schülerverhalten bleibt unverständlich, wie die Ethnographin bereits in der Situation feststellt. Insgesamt scheinen die Schüler diese Art der Leistungserhebung über sich ergehen zu lassen, ohne Regung oder Aufregung zu zeigen; Zeichen einer besonderen Vorbereitung oder Anstrengung gibt es eher nicht. Dieses Verhalten könnte Ausdruck des schülerseitigen Umgangs mit derart willkürlichen und unkalkulierbaren Formen der Leistungserhebung sein. Eine Alternative dazu bestünde im fortgesetzten Bemühen, sämtliche Arbeitsaufgaben mit dem größtmöglichen Aufwand zu erledigen, da sie Gegenstand einer Prüfung werden könnten. Diese Strategie setzt zum einen eine hohe Leistungsorientierung bei den Schülern voraus und ist selbst dann bei einem Sechs-Stunden-Tag nicht dauerhaft durchzuhalten. Mit Blick auf die von der Lehrerin für die nächste Stunde angekündigte Leistungsüberprüfung ist festzustellen, dass in der Situation eine Bewertung der einzelnen Schüleraussagen hinsichtlich ihrer Richtigkeit ausbleibt, ebenso wie die von der Lehrerin ursprünglich angekündigte Möglichkeit, fehlende Angaben zum Thema zu ergänzen. So ist zu vermuten, dass zumindest ein Teil der Klasse nur teilweise über die in dieser Stunde vorgetragenen prüfungsrelevanten Inhalte verfügt und auch die sehr pauschale Ankündigung, „es käme alles dran, was sie zu Mesopotamien hatten“ kann nur schwerlich als transparente Prüfungsvorbereitung gewertet werden. Was kann dieser Beobachtung entnommen werden? Zumindest der anwesenden Ethnographin ist während der Durchführung der Aufgabe nicht deutlich, dass es sich um eine Leistungssituation handelt, da es keine für sie erkennbaren Hinweise auf eine derartige Rahmung gibt und da ihr, anders als im Biologiebei-
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spiel, diese Art der Leistungserhebung unbekannt ist. Inwieweit dies in gleichem Maße für die Schülerinnen und Schüler zutrifft, kann nicht abschließend geklärt werden. Es kann jedoch festgehalten werden, dass eindeutige Hinweise auf eine Leistungssituation fehlen und es sogar Anzeichen für eine Lernsituation gibt (nicht „geschaffte“ Inhalte können später ergänzt werden). Dies konterkariert die Wichtigkeit der Anzahl der mitzuschreibenden Informationen. In der Arbeitssituation selbst sind die Anforderungen aus Sicht der Ethnographin sehr hoch. Während die Lehrerin einen Text sehr schnell vorliest, müssen die Schüler zuhören, die relevanten Daten filtern und schnell aufschreiben, zwischendurch müssen sie den Arbeitsmodus wechseln, um zusätzlich noch Fragen der Lehrerin zu beantworten. In der anschließenden Überprüfung der Aufgabe und Notenerteilung bleiben die Bewertungskriterien sehr vage und für die Schüler nicht nachvollziehbar. Es scheint weniger um die mitgeschriebenen Inhalte selbst zu gehen, sondern um die „Menge“ (und indirekt um schnelles Mitschreiben) der gesuchten Begriffe. Sehr deutlich zeigt sich hier auch die Anwendung der sozialen Bezugsnorm der Leistungsbewertung im direkten Vergleich der drei Schüler und Schülerinnen. Welche Funktionen könnte diese Praktik der Leistungserhebung erfüllen? Eine Möglichkeit besteht in der Betonung der Ernsthaftigkeit des Unterrichts bzw. einzelner unterrichtlicher Tätigkeiten durch die anschließende Überprüfung, indem sie als prüfwürdige ‚Leistung‘ deklariert werden. Nicht zu unterschätzen ist allerdings auch der Zweck der Notenproduktion als solcher, schließlich werden hier drei Noten generiert. Das Fach Geschichte wird zum Zeitpunkt der Beobachtung in Klasse fünf mit nur 1,5 Stunden pro Woche unterrichtet, in diesem speziellen Fall liegt die letzte Geschichtsstunde durch Krankheit der Lehrerin und Feiertage bereits längere Zeit zurück. Aufgrund des geringen Zeitvolumens gibt es nur wenige Möglichkeiten der Erteilung von Noten im Rahmen „unterrichtsbegleitender Bewertungen“ gemäß Leistungsbewertungserlass72. Dieses Problem gibt es sicherlich in ähnlicher Form auch am Gymnasium, allerdings ist diese Art der unangekündigten Leistungsüberprüfung dort nur schwer vorstellbar (siehe Kap. 2.4). Denkt man sich allerdings die obige Szene mit vorheriger Ankündigung der Erteilung von Noten, so erschiene das dreimalige Prüfen der Schülermitschriften ebenso absurd. Zusammengefasst ist die Situation durch folgende Aspekte gekennzeichnet: Die fehlende Eindeutigkeit der Rahmung, recht hohe und widersprüchliche Anforderungen in der Arbeitssituation sowie unklare Bewertungskriterien als Grundlage der Noten. Diese Form der Leistungsbewertung ist in ihrer Willkür72 „Leistungsbewertung und Beurteilung an allgemein bildenden Schulen und Schulen des Zweiten Bildungsweges der Sekundarstufen I und II“, RdErl. des MK vom 1.7.2003 (SVBl. LSA S. 195), geändert durch RdErl. des MK vom 1.7.2004
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lichkeit, in der beliebige Unterrichtstätigkeiten Gegenstand einer Prüfung werden können, für die Schüler nicht kalkulierbar und bietet ihnen keinerlei Orientierung. Damit stellt dieser Umgang mit Leistungserhebung und Bewertung einen großen Kontrast zu den beobachteten Praktiken am Gymnasium dar (siehe Kap. 3.4), welche vor allem durch Transparenz der Kriterien sowie ihre starke Verfahrensförmigkeit gekennzeichnet sind. Die hier beschriebenen Praktiken können als genuiner Ausdruck der Unterrichtskultur an dieser Sekundarschule, wie sie in Kapitel 3.2 ausführlich beschrieben wurde, gedeutet werden. Den grundlegenden Rahmenbedingungen für die Erbringung guter Leistungen wie z. B. Transparenz von Leistungssituationen, d. h. ihrer Rahmung, der Aufgabenstellungen sowie der Leistungserwartung insgesamt wird an der Sekundarschule, vor allem im Vergleich mit dem Gymnasium, scheinbar wenig Relevanz eingeräumt. 3.3.2 Situationen der Leistungsrückmeldung Situationen der Leistungsrückmeldung sind im Rahmen der Erforschung von Leistungsbewertung im Unterricht von besonderem Interesse. Breidenstein (vgl. 2006: 233ff.) hat bereits die Inszenierung der Rückgabe von Tests und Klassenarbeiten in ihrer Ausprägung zwischen „barocken Predigten“ und „nüchterner Sachlichkeit“ beschrieben sowie ihre Ablaufstruktur und Dramaturgie herausgearbeitet. Ergänzend dazu verweisen unsere Beobachtungen jedoch auch auf schulformspezifische Unterschiede in der Ausgestaltung von Rückgabesituationen. So weisen die etwa 20 im Rahmen der vorliegenden Studie an der Sekundarschule beobachteten Rückgaben von Tests und Klassenarbeiten Besonderheiten auf, welche im Folgenden vor dem Hintergrund der oben beschriebenen Unterrichtskultur an der Sekundarschule herausgearbeitet werden. Zunächst erfolgt die ausführlichere Analyse einer Testrückgabe aus dem Biologieunterricht, welche wir bereits im Kontext des Schülerklatschens (Kap. 3.2.1) diskutiert haben73, die hier jedoch aus einem anderen Blickwinkel betrachtet wird. Biologie Anfang, Klasse fünf Lehrerin: „So, wir hatten in der letzten Stunde eine Kurzkontrolle geschrieben, die habe ich durchgeguckt. (Vereinzelte leise Schreckensrufe) So, hier sind zum Teil recht gute Zensuren raus gekommen, zum Teil aber auch schlechte. So, Max, Frage an dich. Das wär gerade noch ne Vier, weil du gefehlt hast, kann ich es vertreten, nee es wär ne Fünf. Ich kann aber vertreten, dir ne Vier drauf zu geben, die willste aber sicher nicht haben, oder? (Max schüttelt den Kopf.) So, pass auf. Ich hab dir drunter geschrieben, „bitte nachholen“. Du kommst dann in der nächsten Stunde damit dran. Ja. So Christian, das wär grade ne Vier, aber weil du nicht da warst, hab ich dir ne Drei 73 Diese Unterrichtsszene wird ebenfalls in Breidenstein/Meier/Zaborowski (2008) behandelt.
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gegeben. Soll ich die eintragen? Christian: „Ja.“ Hab ich schon gemacht. Ich dachte mir das, dass die Drei für dich eine gute Zensur ist. So, Mario. Es gab einige Schüler unter euch, die haben mehr Punkte, als es insgesamt gab. Wie funktioniert denn so was? (Frage an die Klasse) Felix: „Wegen dem Zusatzpunkt.“ Lehrerin: „Genau! So, Mario hat eine Super-Eins. Das Gleiche trifft für’n Hans zu.“ Hans: „Yeah!“ (Vereinzeltes Klatschen in der Klasse) Lehrerin: „Ja, da könnt ihr ruhig klatschen. (Stärkerer Beifall) So, dann haben wir Einsen, die gerade, es gab 13 Punkte, die mit zwölf Punkten noch ne Eins bekommen haben. Hermann ist nicht da. Der ist krank. Schade, für den trifft das nämlich zu. […] Manuel hat Pech gehabt, der hat auch eine Zwei, Manuel. Trotzdem gut. (Vereinzeltes Klatschen) Aber ich glaube-. Könnt ruhig klatschen. So, Jens, das war nicht gut. Elisabeth mit dir, mit deiner Leistung besser gesagt- Sonja hat eine Drei. Und eine Eins für Paul.“(Klatschen)
Die Lehrerin beginnt mit der Erinnerung an die letzte Stunde und die dort geschriebene Kurzkontrolle. Interessant ist die Formulierung „durchgucken“, die hier einen aufwändigen Prozess des Lesens, Kontrollierens, Korrigierens, Vergleichens, Bewertens und Benotens umfasst. Der Begriff des „Durchguckens“ wirkt insofern verharmlosend, als er den komplexen Prozess des Notenfindens und -vergebens auf eine schlichte Praktik reduziert. Die Aussage der Lehrerin, es gebe recht gute und schlechte Noten ist sehr allgemein gehalten und wenig spezifisch. Sie gibt lediglich Auskunft über die Spannweite der vergebenen Zensuren. Zudem wird der Eindruck erweckt, die Lehrperson sei nicht aktiv an der Entstehung der Noten beteiligt gewesen. Nicht die Lehrerin entscheidet über die konkrete Note, sondern sie schaut die Arbeiten lediglich durch und dann kommen Noten heraus aus der ‚Bewertungsmaschine’. Die Notenvergabe wird auf diese Weise anonymisiert und verobjektiviert. Vor der Rückgabe der ‚regulären‘ Arbeiten werden zunächst die Sonderfälle Max und Christian abgearbeitet. Entgegen dem vermeintlichen Automatismus betont die Lehrerin hier den Spielraum, den sie bei der Notenvergabe hat. Es ist zwar eine ‚objektive‘ Note herausgekommen, diese muss jedoch in Anbetracht der Umstände (fehlende Möglichkeit zum Nacharbeiten des Stoffes) relativiert werden, die Note wird verbessert. In beiden Fällen werden die Schüler vor die Wahl gestellt, diese relativierte Note anzunehmen oder nicht. Allerdings hat die Lehrerin bereits eine Entscheidung für die Schüler getroffen und somit ihre Einschätzung des jeweiligen Leistungsvermögens der Schüler deutlich gemacht. Nach den Sonderfällen geht es mit „Supereinsen“ weiter. Bevor diese verkündet werden, muss die Entstehung dieser „Supereinsen“ geklärt werden. Hier gibt die Lehrerin erstmals Hinweise zum Bewertungsverfahren. Mit diesen Informationen versehen können die Supereinsen von den Mitschülern angemessen gewürdigt werden. In diesem Sinne ist auch die Ermunterung zum Klatschen zu verstehen. Da Hermann nicht anwesend ist, bleibt auch der Beifall und somit die kollektive Anerkennung seiner Eins aus. Vermutlich ist eine Eins für Hermann
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nicht alltäglich, und es ist bedauerlich, dass er es nun versäumt, für seine Leistung persönlich Anerkennung zu erfahren. Pech für Manuel: Hier wird zunächst Spannung aufgebaut. Die Lehrerin lässt den Schüler und die Klasse im Unklaren über das Wesen der Zensur, die alles außer einer Eins sein könnte. In ihrer Formulierung scheint sie das Wissen um den Leistungsstand Manuels vorauszusetzen, bei der Klasse, zumindest aber bei Manuel selbst (obwohl sie ihn nicht direkt anspricht). Sinn ergibt ihre Bemerkung nur, wenn man davon ausgeht, dass Manuel als Einserkandidat in diesem Test die Note Eins knapp verpasst hat. Darauf weist die Lehrerin aber nicht explizit hin. Offenbar steht bereits nach sechs Wochen Schulzeit in einer neuen Klasse die Zuordnung von Personen zu Noten (i. S. erwartbarer Ergebnisse) fest (siehe dazu ausführlicher in Kap. 3.4). Der Beifall für Manuel fällt verhalten aus. Die vorgenommene Rahmung der Situation durch die Lehrerin tut hierbei allerdings ein Übriges, d. h. nachdem die Lehrerin schon vom Pech des Manuel gesprochen hat, ist ein donnernder Applaus nicht mehr zu erwarten. Dennoch unterstützt die Lehrerin das Klatschen auch hier, damit nicht der Eindruck entsteht, eine Zwei sei keine lobenswerte Leistung (das gilt auch für Manuel). Bei Elisabeth und auch bei Jens verzichtet die Lehrerin ganz auf die Nennung der Note. Aus ihren Kommentaren geht allerdings hervor, dass es keine guten Noten sein werden. Dass die Noten nicht nur subjektiv, sondern auch objektiv nicht gut waren, könnte durch das Auslassen der Notennennung markiert werden. Zu vermuten ist hier ein Tabu, die Noten aus dem untersten Leistungsspektrum (Fünf, Sechs) auszusprechen, obwohl sie dadurch erst Recht als schlechte Noten markiert sind (keine Note = schlechte Note). Bemerkenswert ist, wie sich die Lehrerin bei der Kommentierung von Elisabeths Leistung selbst verbessert (erst auf die Person, dann auf die Leistung bezogen) und dann den Gedanken doch nicht vollendet. Der kritische Kommentar der Lehrerin bleibt letztlich ungesagt, wird jedoch auch unausgesprochen für die meisten als ‚Unzufriedenheit’ erkennbar sein. Was ist nun der Beobachtung dieser Szene zu entnehmen? Während die Lehrerin zunächst den Eindruck vermittelt, Noten seien etwas Objektives, etwas, das aus der ‚Bewertungsmaschine‘ heraus kommt, so zeigt sie bereits beim ersten Schüler an, dass sie deutliche Benotungsspielräume hat und diese auch ausnutzt. Nicht mehr die objektive Note soll Anerkennung finden, sondern die individuelle Bedeutung der Note, bezogen auf die jeweilige Leistungserwartung. Im Vollzug der individualisierenden Notenhandhabung wird zugleich das angenommene Leistungsspektrum eines jeden Schülers sehr genau konturiert und damit konstruiert. Gerade durch die öffentliche Bekanntgabe und Relationierung wird die Note nicht nur individualisiert, sondern auch für alle anderen offensichtlich. Man könnte es als pädagogisches Projekt der Lehrerin bezeichnen, zwischen Person
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und (absoluter) Note zu differenzieren (jeder Schüler verfügt über einen individuellen Notenmaßstab). Zugleich muss man sich vergegenwärtigen, dass es den Schülern so erschwert wird, sich von den Zuschreibungen der Lehrerin zu distanzieren. Die Lehrerin versucht, den emotionalen Umgang der Kinder mit Noten zu steuern. Wer sich wann über welche Note freuen kann, bleibt nicht jedem selbst überlassen, sondern wird von der Lehrerin inszeniert. Die Freude bzw. der Ärger wird somit aus dem Privaten herausgehoben und öffentlich festgelegt. Schauen wir auf eine Testrückgabe bei einer weiteren Lehrerin der Sekundarschule. Hier finden sich zusätzliche Elemente, welche vor allem im Rahmen eher schlecht ausgefallener Arbeiten eingesetzt werden. Geschichte erstes Halbjahr Klasse fünf Frau Neumann: „So, zu unseren Kurzkontrollen. Ich muss sagen, es war (..) ganz ordentlich ausgefallen im Großen und Ganzen. Einige haben gute Leistungen gebracht, andere wiederum könnten noch mehr erreichen. Wir gehen das durch, ich teile das aus. Wir gehen durch, was jeder hätte schreiben müssen über Mesopotamien und dann fangen wir mit einem neuen Thema an. Das heißt also, ihr solltet dann in euch gehen, was hätte ich besser machen müssen, was muss ich noch lernen. Das gilt für jeden. Mit Max bin ich relativ zufrieden, aber Max kann trotzdem noch mehr. Ganz knapp an einer Zwei vorbei.“ Max: „Nein!“ Er bekommt das Blatt und schaut es sich genau an. […] „Franziska, bei dir weiß ich, du lernst immer, und das hat also auch geklappt.“ Franzi bekommt ihr Blatt, sie freut sich: „Yeah!“ Ich schaue auf ihr Blatt und sehe eine Drei und einen Kommentar: ‚Gut so!‘ […] „Sonja, das ist auch nicht so gut. Steffen, du solltest dich mehr mit der deutschen Sprache beschäftigen. Hermann, auch du musst was machen.“ […] „So, viele sind mit sich einverstanden, manche vielleicht gar nicht. Ich hatte euch vor den Ferien schon gesagt, macht was, lernt für Geschichte. Wir haben bloß immer aller (sic) zwei Wochen zwei Stunden, ansonsten eine Woche und ihr müsst euch eben davor hinsetzen und auswendig lernen. Geschichte ist ein Auswendiglernfach!“ Im Anschluss werden zügig alle Testfragen und die gesuchten Antworten im Lehrer-Schüler-Austausch genannt und Frau Neumann resümiert: „So. So schwer war das nicht, dann hätte man also von jedem eine Eins oder eine Zwei erwarten können. Wer eine Fünf oder eine Sechs geschrieben hat, ich sage es noch mal, der lernt zu wenig. Macht was! Abgerechnet wird am Schluss! Halbjahreszeugnis beziehungsweise Endjahreszeugnis.“ Sie schaut dabei bedeutungsschwer in die Klasse.
Auch in dieser Situation finden sich ähnliche Rahmungen der Situation wie im ersten Beispiel. Es wird eine breite Spanne zwischen den Noten angesprochen, die nicht sehr aussagekräftig ist. Neu ist jedoch der Appell der Lehrerin an die Schülerinnen. Noch bevor die scheinbar ganz akzeptablen Arbeiten ausgegeben werden, werden die Schüler ermahnt „in sich zu gehen“, nach Defiziten zu suchen und diese zu beheben – und zwar unabhängig von der erreichten Note. Selbst die Schülerinnen mit guten Noten dürfen sich nicht auf ihren Erfolgen ausruhen, sondern müssen stetig nach Verbesserung streben. Während der Ausgabe der Arbeit werden die meisten, überwiegend schlechten Noten, zwar nicht angesagt, jedoch von der Lehrerin öffentlich als nicht ausreichende Leistungen markiert. Ebenso wie im ersten Beispiel thematisiert auch diese Lehrerin persön-
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liche Zufriedenheit bzw. Unzufriedenheit mit den Ergebnissen, indem auf ein spezifisches Leistungsvermögen einzelner Schülerinnen referiert wird. So ist die Drei für Franziska ein gutes Ergebnis, für Max jedoch ein wenig enttäuschend. Inhaltliche Rückmeldungen zu den einzelnen Arbeiten erfolgen hingegen nicht. Da die Schüler bereits angewiesen wurden, inhaltliche Defizite selbst zu identifizieren, beschränken sich die Hinweise der Lehrerin darauf, mehr Lernzeit einzufordern. Ein Schüler wird darüber hinaus aufgefordert, seine Deutschkenntnisse zu verbessern. Es handelt sich hier um einen Schüler mit Migrationshintergrund, der erst seit kurzem in Deutschland lebt, und der lapidare Umgang der Lehrerin mit dieser Besonderheit ist symptomatisch für die Sekundarschule. Statt explizite Hilfsangebote zu unterbreiten, wird lediglich auf ein Defizit hingewiesen, dessen Behebung allein in der Verantwortung des Schülers liegt. Selbst im Fall dieser mittelmäßig bis schlecht ausgefallen Arbeit (es gibt einmal die Note Eins, jedoch keine Zwei) werden die Anforderungen von der Lehrerin als gerechtfertigt und leicht zu erfüllen beschrieben. Im deutlichen Gegensatz zu den erreichten Fünfen und Sechsen werden die Noten Eins und Zwei als „von jedem“ erwartbar gesetzt. Die Differenz zwischen erwartbarem und tatsächlichem Ergebnis wird allein im unzureichenden Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler gesehen. Dabei droht die Lehrerin mit einer „Abrechnung“ in Form der Zeugnisse, die damit zum halbjährlichen Urteil über Wohl und Wehe der Schülerexistenz erklärt werden. Schlechte Noten einzelner Schüler, vor allem aber für die gesamte Klasse schlecht ausgefallene Arbeiten, erzeugen einen Legitimationsdruck, denn es gilt herauszustellen, dass es nicht der eigene Unterricht und auch nicht die Inhalte selbst waren, die für das Ergebnis verantwortlich sind. Um die Verantwortlichkeit für schlechte Leistungen zu klären, bedient sich die Lehrerin folgender Argumentation: 1) Die Anforderungen sind niedrig. 2) Die Noten sind jedoch schlecht. Daraus wird der Schluss gezogen: 3) Die Schüler lernen nicht. Betrachtet man Tests und Klassenarbeiten als Überprüfung des im Unterricht vermittelten Wissens, so kann man hier von einer einseitigen Fokussierung auf das Lernverhalten der Schüler unter Vernachlässigung des Vermittlungshandelns sprechen. Wichtig ist nicht, ob die Schülerinnen die Inhalte verstanden haben oder ob eine Auseinandersetzung mit ihnen stattgefunden hat, sondern ein reines Auswendiglernen, gegebenenfalls auch ohne tieferes Verständnis, wird ausdrücklich eingefordert und positiv bewertet. Hier wird deutlich, dass nicht die Wissensvermittlung, sondern die beständigen Leistungsüberprüfungen (und die daraus resultierenden Zeugnisnoten) als Ziel von Unterricht gesehen werden. Darüber hinaus können die Öffentlichkeit der Leistungsrückmeldung, die Pädagogisierung der Leistungen sowie eine geringe inhaltliche Rückmeldung für die einzelnen Schüler als zentrale Elemente von Rückgabesituationen an der Sekundar-
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schule herausgearbeitet werden. Wir konnten weiterhin zeigen, dass in Situationen der Leistungsrückmeldung spezifische ‚Leistungsvermögen‘ der Schüler konstruiert und verfestigt werden, indem immer wieder ein Bezug zwischen der erreichten Leistung und einem zugeschriebenen Potential hergestellt wird. 3.3.3 Zeugnisnotenbesprechungen Zeugnisnotenbesprechungen, die Bekanntgabe der von den Schülern erreichten Noten auf dem Halbjahres- bzw. Endjahreszeugnis, konnten bei verschiedenen Lehrern an der Sekundarschule beobachtet werden, allerdings nicht bei allen. Zudem handhaben es die einzelnen Lehrer unterschiedlich, in welcher Klassenstufe Zeugnisnoten angesagt werden. Während der Mathematiklehrer im ersten Halbjahr der Klasse fünf auf eine Zeugnisnotenbesprechung mit dem Argument verzichtet, dass die „Kleinen“ die Rechnung dahinter nicht verstünden, führt die Geschichtslehrerin der fünften Klasse Zeugnisnotenbesprechungen laut Ansage im Unterricht nur in der fünften und der zehnten Klasse durch. Eine Begründung dieser Ausnahme erfolgt jedoch nicht (vgl. auch Kap. 3.2.4). Auch die Durchführung und die für die Besprechung aufgewendete Zeit unterscheiden sich je nach Lehrer und Fach. Die Zeugnisnotenbesprechungen haben an der Sekundarschule einen besonderen Stellenwert, da die Schüler hier in der Regel nicht wissen, welche Note sie auf dem Zeugnis bekommen werden, denn ihnen sind nicht alle Noten bekannt. An beiden Sekundarschulen wurden insgesamt elf Szenen von Zeugnisnotenbesprechungen bei fünf verschiedenen Lehrkräften in den Fächern Englisch, Mathematik und Geschichte beobachtet. Nachfolgend wird vor allem nach der Funktion der Praxis innerhalb des Handlungsbereiches Leistungsbewertung in der Sekundarschule gefragt. Englisch, erstes Halbjahr Klasse fünf Die Lehrerin eröffnet die Stunde: „Gut. Zu euren Noten.“ Sofort setzt Gekrame, Gestöhne und Geflüster in der Klasse ein. Frau Grimm: „Musstet ihr nen ganzes Wochenende zuhause stillsitzen? Weil einige so unruhig sind und schwatzen … So, wenn sich eure Eltern jetzt zuhause hinsetzen und sagen, was die Frau Grimm gesagt hat, stimmt gar nicht, ich habe das ganz anders ausgerechnet. Wenn ihr euch nen Euro vorstellt, und den Euro tauscht ihr in 20-Cent-Stücke. Wie viele 20-Cent-Stücke bekommt ihr für nen Euro?“ Schüler: „Fünf.“ Frau Grimm bestätigt: „Fünf. Ein son 20Cent-Stück ist eure Klassenarbeitsnote, und vier 20-Cent-Stücke sind alle Noten, die ihr sonst bei mir bekommen habt. Das sind einmal 20 % und einmal 80 %, das macht ihr aber erst in der siebten Klasse, Prozentrechnung. Das heißt, von fünf Teilen ist eins die Klassenarbeit und vier eure anderen Noten. So setzt sich das zusammen.“ Die Lehrerin beginnt nun laut Klassenbuch mit Sonja: „Gut. Sonja, was glaubst du denn, was du in diesem Halbjahr für eine Note erreicht hast?“ Sonja: „Zwei.“ Lehrerin: „Ne Zwei. Und warum glaubst du das?“ Sonja: „Weil die Klassenarbeit ist für mich nicht so gut ausgefallen. Lehrerin: „Aha. Und sonst denkst du, dass du eine Eins geschafft hättest?“ Sonja: „Ja.“ […] „Franziska F., was glaubst du?“ „Vier.“ Lehrerin: „Warum?“ Franziska: „Weil ich (..) andauernd mit Tina gequatscht habe und nicht zugehört
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hab.“ Frau Grimm: „Weil du einige Sachen versäumt hast, ja, weil du nicht zugehört hast, richtig und dich abgelenkt hast. Was hast du dir denn jetzt fürs zweite Halbjahr vorgenommen?“ Franziska: „Dass ich mehr übe also …“ Die Lehrerin wiederholt noch einmal den Dialog der beiden: „Weil ich soviel mit Tina geschwatzt habe und nicht zugehört habe. Was hast du dir vorgenommen? Dass ich mehr übe.“ Franziska korrigiert sich daraufhin: „Ähm, also das ich nicht mehr quatsche jetzt.“ Frau Grimm: „Das ist ganz wichtig! Ja! Das ist wirklich ganz wichtig, dass, wenn ich rede, du dir alles aufsaugst, was ich sage.“ […] „Franziska L.?“ Franziska: „Drei.“ Lehrerin: „Ne Drei. Warum?“ Franziska: „Weil ich immer mit Elli schwatze.“ Frau Grimm: „Aber fürs Schwatzen gebe ich doch keine Zensuren, hm. Es bekommt nur derjenige eine schlechte Note, der eine Leistungskontrolle ganz bewusst stört, das heißt, einen anderen Schüler daran hindert, ne gute Leistung zu bekommen, weil er ihn stört. Hast du schon mal so ne Sechs bekommen?“ – „Nö.“ Lehrerin: „Nö. Also?“ – „Zwei?“ Lehrerin: „Du denkst, es ist ne Zwei.“ […] Nachdem alle Schüler mit der Selbstbeurteilung fertig sind, folgt die zweite Runde der Notenbesprechung. Lehrerin: „So, liebe Sonja. Du hast bei einem Durchschnitt von 1,7 die Note Zwei. Du hast dich in meinen Augen auch realistisch eingeschätzt, ja, es fällt dir nicht allzu leicht, aber du tust sehr, sehr, sehr viel dafür und das bleibt natürlich dann bei dir im Kopf hängen, und dann kannst du immer wieder auf das, was du wirklich mal gelernt hattest, zurückgreifen, das heißt, die Zwei ist durchaus realistisch.“
Bevor die Lehrerin mit der Notenbesprechung beginnt, wird zunächst eingehend die Zusammensetzung der Zeugnisnote erläutert (inklusive Darlegung der eigenen Kompetenz, um mögliche Einsprüche der Eltern schon von vornherein abzublocken) und so den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit des eigenen Nachvollzugs gegeben. Die Zeugnisnotenbesprechung selbst ist zweigeteilt (das ist eher ungewöhnlich und wurde auch nur dieses eine Mal beobachtet). Zuerst erfolgt die Selbstbeurteilung der Schüler in Form einer Note sowie einer Begründung für diese. In einem zweiten Durchgang werden die Noten bekannt gegeben und von der Lehrerin gerahmt. Ein Anliegen dieser Besprechungen scheint in der „realistischen“ Selbsteinschätzung der Schüler zu bestehen, allerdings nur in Bezug auf die Nennung einer Note; Schwächen und Stärken im Fach werden kaum oder gar nicht thematisiert. Ein weiterer Punkt besteht in der Aufdeckung unangemessenen Verhaltens, in der Verknüpfung dieses Verhaltens mit den erreichten Noten und der Ankündigung, Besserung zu geloben í alles durch die Schüler selbst. Dabei macht die Lehrerin deutlich, welche Antworten sie von den Schülern erwartet. In Kapitel 3.2 wurde aufgezeigt, dass an der Sekundarschule das Schülerverhalten häufig mit der gezeigten Leistung verknüpft wird. In dieser Zeugnisnotenbesprechung agieren die Schülerinnen entsprechend und beziehen ihr Verhalten („Schwatzen“) in die Bewertung ein, zumal dies wie das Beispiel von Franziska F. zeigt, scheinbar erwünscht ist. Auch wenn die Lehrerin im Folgenden das ‚Missverständnis‘ aufzuklären versucht, wird den Schülern nicht deutlich gemacht, was genau in die Bewertung einfließt. Im zweiten Teil der Besprechung verknüpft die Lehrerin in ihrer Kommentierung die Begabung, Anstrengung und das jeweilige Verhalten mit den erreichten Noten und kons-
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truiert somit spezifische Leistungsvermögen. So kann der Eindruck entstehen, dass Sonja, trotz des guten Durchschnitts von 1,7, eher über ein mittleres Leistungsvermögen verfügt, dies aber mit erhöhter Leistungsbereitschaft und Anstrengung ausgleicht, also durch Fleiß eine Zwei erreicht. Schauen wir nun auf eine Geschichtsstunde in Klasse sieben, wo in ganz anderer Weise die Zeugnisnoten bekannt gegeben werden. Zeugnisnotenbesprechung Geschichte Halbjahr Klasse sieben (Realschulzweig) Im zweiten Teil der Stunde soll es um die Zeugnisnoten in Geschichte gehen. Zunächst gibt Frau Blum die Verteilung der Geschichtsnoten in der Klasse bekannt: „Drei Mal Zwei, sechs Mal Drei, leider neun Mal Vier.“ Dann möchte sie noch etwas zum Fach Geschichte sagen. Offenbar gab es in einer der letzten Stunden eine Diskussion über den Sinn von Geschichte, welche von den Schülern angestoßen wurde. Frau Blum scheint verwundert, dass einige Schüler den Sinn des Faches Geschichte anzweifeln. „Geschichte ist mein Lieblingsfach, wer mit ner Vier hier raus geht, den würde ich am liebsten einen Kopf kleiner machen.“ Sie formuliert die These, dass diejenigen, die die schlechten Noten haben, Geschichte für nicht so wichtig halten und dementsprechend weniger lernen. Denn diejenigen mit Interesse, die würden dann im Unterricht auch aufgehen und von allein und eben aus Interesse lernen. Obwohl sie auch zugesteht, dass es den einen oder anderen gibt, der sich zwar für Geschichte interessiert, aber trotzdem mit dem Fach nicht so klar kommt, aber das sieht sie wohl als Seltenheit an. Nachdem sie das ‚geklärt‘ hat, kommt sie wieder auf die Zeugnisnoten zu sprechen. Es gab ja drei Zweien, daher bittet Frau Blum jetzt die Schüler, sich zu melden, wenn sie sich zu den „Zweiern“ in Geschichte zählen. Niemand meldet sich, aber mehrere rufen Leon, jemand ruft zusätzlich noch Hans. Hans, der neben mir sitzt stimmt halblaut zu, dass Leon gut ist, er selbst schätzt sich wohl nicht auf Zwei in Geschichte. Als keine weiteren Namensnennungen kommen, wird Leon tatsächlich als einer der Gesuchten bekannt gegeben. Er ist mit einem Durchschnitt von 1,8 der Beste; von seinen Mitschülern kommen anerkennende Äußerungen und Nicken. Dann wird nach den beiden anderen gesucht. Wieder kommt Hans’ Name ins Spiel, aber der schüttelt den Kopf, auch Frau Blum meint, dass es nicht Hans ist. Sie bricht das Spiel ab und nennt die beiden Schüler selbst. Im Anschluss daran werden die Dreien und danach die Vieren bekannt geben. Nachdem alle Noten angesagt wurden, schaut die Lehrerin in die Klasse und fragt, wer mit seiner Note zufrieden ist (Hans meldet sich sofort), dann korrigiert sich die Lehrerin aber und meint, sie möchte gern folgendes wissen: „Wer denkt, dass die Note, die er bekommen hat, dem entspricht, was er hier im Unterricht gezeigt hat?“ Auch jetzt meldet sich Hans. Frau Blum zählt die sich meldenden Schüler und meint, dass es insgesamt ca. 2/3 seien. „Na, dann bin ich zufrieden.“ Dann setzt sie noch leise hinterher, dass die anderen sich eigentlich auch melden müssten, aber nicht so recht wollen.
Dieser Auszug aus einer Geschichtsstunde enthält eine Fülle an interessanten Details, die hier nicht alle in ihrer Gänze interpretiert werden sollen. Zuerst fällt die spannungsreiche Dramaturgie der Notenbekanntgabe auf. Mit der Ankündigung der Zeugnisnoten und der Nennung der Notenverteilung für die Klasse insgesamt wird Neugier geweckt, dann folgen jedoch nicht die Einzelnoten der Schüler, sondern ein Exkurs zum Fach Geschichte und der Bedeutung des Schülerinteresses. Auch durch die daran anschließende Suche nach den „Zweiern“
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tritt eine weitere Verzögerung ein, bevor schließlich die Noten für die gesamte Klasse bekannt gegeben werden. Schauen wir zunächst auf die Ausführungen der Lehrerin zum Fach Geschichte. Ein geringes Interesse am und schlechte Leistungen im Fach werden von der Lehrerin als persönliche Kränkung empfunden, die so weit geht, Schülerinnen und Schüler, die schlechte Noten erbringen, ‚köpfen‘ zu wollen. Die schlechten Noten selbst erklärt sie mit einer geringeren Bedeutsamkeit des Faches für die Schüler, im Gegenzug wird Interesse am Fach mit Lernen und implizit auch dem Erreichen guter Noten gleichgesetzt. Allerdings fasst ihre Argumentation zu kurz. Die Schüler können sehr wohl um die Bedeutung des Faches wissen und trotzdem kaum Interesse für die Inhalte aufbringen. Auch Interesse an spezifischen Gegenständen des Faches muss nicht zwangsläufig zum „Aufgehen im Unterricht“ führen. Es geht der Lehrerin nicht darum, Interesse für ein Fach herzustellen, zu motivieren, sondern der Schüler muss von sich aus Interesse aufbringen, weil es – das Fach – wichtig ist. Warum das Fach jedoch wichtig ist, wird an der Stelle nicht ausgeführt; die Lehrerin verbürgt ihre Bemerkung persönlich („mein Lieblingsfach“), aber nicht inhaltlich. Die Bezugnahme auf einen direkten Zusammenhang zwischen dem Interesse am Fach und den erreichten Noten ermöglicht es, den Unterricht selbst aus der Betrachtung herauszunehmen und auch das Lehrerhandeln nicht reflektieren zu müssen. Hier handelt es sich um eine Form der Externalisierung von Verantwortung für die schlechten Leistungen der Schüler. Die an den Exkurs anschließende Suche nach den „Zweierschülern“ ist beachtenswert, da hier das ‚übliche‘ Verfahren umgedreht wird. Wird in der Regel zu einem Schüler die erreichte Note ‚gesucht‘, so werden im vorliegenden Beispiel zu bestehenden Notengruppen die jeweiligen Schüler gesucht. Hier zeigt sich die Verfestigung von Schülerleistungen zu Kategorien. Ein „Zweier“ sein bedeutet, dass man die Note verkörpert, sie ist identitätsstiftend. Dabei geht die Lehrerin davon aus, dass sich die Schüler ohne weiteres einer Gruppe zuordnen könnten. Mehrere Aspekte können zum Ausbleiben von Meldungen in der Situation beitragen: Das Risiko, sich falsch einzuschätzen, die potentielle Peinlichkeit der Herausstellung guter Leistungen, die möglicherweise der Peerkultur entgegenläuft sowie eine tendenzielle Unfähigkeit, sich einzuschätzen. Obwohl die Schülerinnen und Schüler der Aufforderung der Lehrerin nicht nachkommen, zeigen sie sich kooperativ und wandeln den Auftrag ab in „wir schlagen jemanden für die Zweier-Gruppe vor“. Daran beteiligen sich etliche Schüler der Klasse. Das Risiko der vorschlagenden Schüler ist hier gering und verlagert sich auf die genannten Schüler. Aus einem ‚Spiel‘ mit hohem Risiko und geringer Beteiligung wird ein ‚Spiel‘ mit geringem Risiko und stärkerer Beteiligung, das einen gewissen Spaß verspricht. Dabei besteht vor allem in Bezug auf Leon, den Bes-
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ten, ein Konsens in der Klasse. Bis auf einen weiteren Vorschlag (Hans) kommt dann jedoch nichts mehr; dies kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass der Auftrag ernst genommen wird und nicht wahllos irgendwelche Schüler vorgeschlagen werden. Offenbar ist es schwierig, die zwei noch ausstehenden Schüler zu benennen. Da das ‚Spiel‘ nicht optimal läuft, wird es von der Lehrerin abgebrochen und die gesuchten Personen werden bekannt gegeben. Im Anschluss erfolgt auch die Besprechung der verbleibenden Noten. Der Abschluss der Zeugnisnotenbesprechung zeugt noch einmal von der Legitimierungsbedürftigkeit der Noten. Offenbar ist es der Lehrerin wichtig, dass nicht nur die Mehrheit in der Klasse, sondern alle Schülerinnen und Schüler die erteilten Noten als gerechtfertigt anerkennen. Komma Fünf oder: Über die Schwierigkeit Schülerleistungen zu bewerten Zeugnisnotenbesprechung Mathematik Ende Klasse fünf Dann ist Manuel an der Reihe. Er steht 1,5. In der Klasse wird es unruhiger. Jemand sagt: „Zwei“. Herr Semper fragt die Klasse: „Was wollmer ihm denn geben?“ Manuel schaut ganz unglücklich. Von verschiedenen Seiten hört man: „Zwei“ Tobias allerdings ruft „Eins“, Robert neben mir würde Manuel auch eine Eins geben. Herr Semper beendet das Reinrufen in die Klasse: „Weil der s weil der so schlecht rechnen kann, ja?“ Das finden die Schüler jetzt nicht gerade, Franzi schüttelt den Kopf und viele Kinder rufen jetzt „Nein“. Herr Semper: „Na Manuel wemmer (.) wemmer so gut is und die Vier n Ausrutscher is bekommt er noch ne Eins, ja?“ Manuel ist sichtlich erleichtert.
Die Praxis der Ermittlung von Zeugnisnoten ist üblicherweise stark mathematisiert, das heißt, in der Regel ist der Durchschnitt aus allen (gewichteten) Einzelnoten für die erteilte Note ausschlaggebend, bis „n,4“ (also z. B. 2,4) wird abgerundet, ab „n,6“ wird aufgerundet. Die Handhabung von Notendurchschnitten „n,5“ ist rechtlich74 jedoch nicht geregelt, so dass letztlich vom Lehrer selbst eine Entscheidung zu treffen ist. Dass diese Situation auch für die betreffenden Schüler belastend ist, kann man am Beispiel von Manuel sehen. Der Lehrer zögert die Bekanntgabe der Note heraus und verlängert somit Manuels Leiden. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Zeugnisnote bereits fest steht und die Frage an die Klasse eher als Pseudoeinbezug zu werten ist. Letztlich ist es der Lehrer, welcher die Entscheidung trifft. Als Begründung für die bessere Note wird die 74 Eine Ausnahme bilden die Zeugnisnoten im Fach Sport, bei denen im Fall von „n,5“ immer aufzurunden ist (siehe „Leistungsbewertung und Beurteilung an allgemein bildenden Schulen und Schulen des Zweiten Bildungsweges der Sekundarstufen I und II“, RdErl. des MK vom 1.7.2003 (SVBl. LSA S. 195), geändert durch RdErl. des MK vom 1.7.2004).
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gute Leistung Manuels hervorgehoben. Betrachtet man nun die situative Handhabung des ‚Komma Fünf-Problems‘ durch unterschiedliche Lehrerinnen näher, so wird deutlich, dass im Prinzip zwei Entscheidungen zu treffen sind. Zum einen geht es natürlich darum, sich für eine der beiden Noten, also die bessere oder die schlechtere, zu entscheiden. Zum anderen haben die beobachteten Lehrerinnen und Lehrer bereits im Vorfeld für sich entschieden, ob sie eine feste Regelung für den Fall „n,5“ anwenden wollen, oder ob in jedem Einzelfall situativ entschieden werden soll. Betrachtet wir zwei weitere Beispiele: Zeugnisnotenbesprechung Mathematik Halbjahr Klasse sieben, Realschulzweig Frau Gade: „Als nächstes geht es zu euren Halbjahresnoten.“ […] „Könnt ihr euch gleich mal merken. Bei Komma Fünf kann ich entscheiden, was ich gebe. Komma Vier und Komma Sechs ist klar, da diskutiere ich nicht. Irgendwo muss auch Schluss sein und bei mir ist da Schluss. Ja, aber bei Komma Fünf kann ich die bessere oder die schlechtere Note geben. Wenn ihr allerdings im Halbjahr Komma Fünf steht und im Endjahr wieder, dann gibt’s die schlechtere Note. Das müsst ihr mir schon deutlicher zeigen für die bessere Note.“ Zeugnisnotenbesprechung Geschichte Halbjahr Klasse sieben, Realschulzweig Frau Blum: „Niels, also Geschichte ist nicht Niels’ Fach. 3,5. Ich habe mich aber bewusst für die Vier entschieden, damit ich Ende des Schuljahres die bessere Zensur geben kann.“ (Lina Ellsiepen)
Während die Mathematiklehrerin Frau Gade in der Regel im Halbjahr die bessere Note erteilt, zum Jahresende jedoch die schlechtere, geht Frau Blum genau anders herum vor. In beiden Fällen soll die Benotung jedoch der Motivation dienen, sich im zweiten Halbjahr besonders anzustrengen. Zeugnisnotenbesprechung Englisch Klasse sechs Frau Grimm: „Was mich interessiert ist auch wie ihr euch einschätzt. Da fangen wir gleich mal bei Tina an. Was glaubst du denn, was du in diesem Halbjahr für eine Note erreicht hast?“ Tina überlegt kurz, die Stirn in Falten gelegt: „Ühm, Zwei, Drei.“ „Das sind zwei Noten, welche möchtest du denn?“ Was für eine Frage! Tina antwortet entsprechend: „Die Zwei“ „Die Zwei. Warum denkst du, dass du vielleicht auch ne Drei hast?“ Darauf erwidert Tina nichts, es entsteht eine kurze Pause. Frau Grimm schaut Tina erwartungsvoll an: „Tina, du musst doch wissen, warum du son Gefühl hast. Kannst du das begründen? (.) Einfach so sagste das jetzt, damit du- damit ich nicht denke, dass du dich zu gut einschätzt?“ Tina grinst leicht verlegen vor sich hin, sagt aber nichts. (..) Lehrerin: „Du hast ne Zwei, Drei, du hast nämlich nen Durchschnitt von 2,5 (ein Schüler pfeift). Da du dich aber von Felix hast nicht aus der Ruhe bringen lassen, obwohl er’s fast n ganzes Jahr versucht hat und ich bei dir keine Leistungsverweigerung feststellen konnte, habe ich mich natürlich guten Gewissens für die Zwei entscheiden können.“ Tina freut sich sichtlich über die Zwei, sie strahlt.
Die Englischlehrerin Frau Grimm entscheidet, ähnlich wie der Mathematiklehrer, situativ im Einzelfall. Allerdings bezieht sie die Schülerinnen selbst mit ein, die von sich aus die Entscheidung für die bessere oder schlechtere Note begründen sollen. Überraschend ist hier die Begründung für die bessere Note, die nur
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sehr geringe Aussagekraft aufweist („keine Leistungsverweigerung“) und kaum ernsthaft als Argument für die Note Zwei gewertet werden kann. Insgesamt konnten bei den fünf Lehrenden an der Sekundarschule, die Zeugnisnoten im Unterricht besprechen, in zwei Fällen feste Regelungen und in den anderen drei Fällen eine situative Entscheidung beobachtet werden. Unabhängig davon, wie die Entscheidung gehandhabt wird, werden in der Regel das Vorgehen bzw. die Entscheidung legitimiert, um diese Noten ähnlich ‚objektiv‘ wirken zu lassen, wie die ‚rechnerisch‘ ermittelten Noten. Was vor allem zählt, ist aber wohl das „gute Gewissen“ der Lehrenden hinsichtlich der Noten, denn sie müssen die Entscheidung auch vor sich selbst legitimieren. Was genau ist so problematisch im Fall von „Komma Fünf“? Die bewährte Technologie zur Bildung der Zeugnisnoten besteht in der Berechnung des Durchschnittes unter Berücksichtigung der Gewichtung von Klassenarbeiten. Bis zu einem Durchschnitt von n,4 wird in der Regel abgerundet, ab n,6 aufgerundet – die Note ist somit das „objektive“ Ergebnis einer Berechnung. Da für den Fall von n,5 keine rechtliche Reglung existiert, ist die Note in diesem Fall nicht einfach mathematisch zu bestimmen. „Komma Fünf“ stellt eine Krise dar, weil eine Entscheidung nötig wird. Eine Pauschalentscheidung erfolgt in der Regel nicht, stattdessen wird jede Entscheidung am Einzelfall pädagogisch begründet. Dies trifft auch für die Regelungen „im Halbjahr immer besser bzw. immer schlechter“ zu. Der so geschaffene Spielraum, von einigen Lehrern sogar noch auf ‚n,4‘ bzw. ‚n,6‘ ausgedehnt, dient der Motivation, Moralisierung aber auch der Sanktionierung (siehe dazu auch die Fallportraits Kap. 3.4). 3.3.4 Die Verhandlung von Zensuren im Lehrerkollegium – Die Klassenkonferenz Die Klassenkonferenz (auch Zeugniskonferenz genannt) ist ein Gremium, welches über die Versetzung bzw. Nichtversetzung der Schüler einer Klasse am Ende eines Schuljahres entscheidet. Zum Ende der sechsten Klasse besteht eine zentrale Aufgabe der Klassenkonferenz an der Sekundarschule in der Zuweisung der Schüler zum Hauptschul- bzw. Realschulzweig dieser Schulform. Die Einstufung erfolgt auf der Basis der Notendurchschnitte in den Kernfächern und den sonstigen Fächern75. Im zweiten Halbjahr der sechsten Klasse nimmt die Ethno75 „(1) In der Sekundarschule erfolgt durch Beschluss der Klassenkonferenz die Einstufung in den auf den Realschulabschluss bezogenen Unterricht in der Regel für die Schülerinnen und Schüler, die im Jahreszeugnis des 6. Schuljahrganges einen Notendurchschnitt von jeweils mindestens 3,3 in den Kernfächern sowie in den sonstigen versetzungsrelevanten Fächern erzielen. Es ist höchstens eine auszugleichende man-
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graphin an der Klassenkonferenz der beobachteten Sekundarschulklasse teil, in welcher auch die Einstufung in den Realschul- bzw. Hauptschulzweig der Sekundarschule ab Klasse sieben besprochen wird. Neben allen in der Klasse unterrichtenden Lehrern und Lehrerinnen sind auch eine Elternvertreterin sowie der Klassensprecher anwesend. Klassenkonferenz Ende Klasse sechs Die Klassenlehrerin Frau Köhler moderiert die Sitzung. Sie beginnt mit der Nennung der Schülerzahlen und stellt Anträge auf Versetzung für fast alle Schüler sowie weitere Anträge für einzelne Schüler (z. B. auf Zensurenausgleich bei Judith u. ä.), die allesamt bestätigt werden. Spannend wird es jedoch, als es um die Zuweisung zum Realschul- bzw. Hauptschulzweig geht. Frau Köhler liest sehr schnell76 für jeden Schüler die Noten für das Lernverhalten und das Sozialverhalten vor, dann die Durchschnitte in den Kernfächern sowie in den übrigen Fächern und schließlich die daraus folgende Einstufung. Alles scheint klar zu sein, bis Jens an der Reihe ist. Er erhält im Lernverhalten eine Drei und im Sozialverhalten eine Zwei. Sein Notendurchschnitt in den Kernfächern beträgt ebenso wie der Durchschnitt in den sonstigen Fächern 3,3. Frau Köhler schließt mit den Worten: „Das heißt also Realschule. Gerade so geschafft.“ Frau Köhler will schon weiter gehen, als die Geographielehrerin Frau Walther und auch andere Lehrer nachfragen, wieso Jens jetzt in die Realschule käme. Frau Köhler erklärt: „Seine Durchschnitte sind doch besser als gedacht.“ Nun wird es im Kollegium unruhig, mehrere Personen sprechen durcheinander, dann geht es um die genauere Klärung des Sachverhalts zwischen Frau Köhler und Frau Walther. Offenbar hatte es einige Zeit vor dem „Zensurenschluss“77 ein Gespräch zwischen den beiden Lehrerinnen gegeben, in welchem Frau Köhler Frau Walther fragte, ob es möglich sei, dem Schüler Jens statt der Fünf, die er vermutlich in ihrem Fach erhalten würde, eine Vier zu erteilen, wenn sie es vertreten könnte, damit seine Versetzung nicht gefährdet sei. Dieser Anfrage kam die Lehrerin nach. Nun hat Jens aber insgesamt bessere Noten bekommen, die Versetzungsgefahr besteht nicht mehr. Mehrere Lehrer äußern ihre Meinung, dass Jens nicht in die Realschule gehöre, ohne das jedoch im Einzelnen auszuführen. Verschiedene Möglichkeiten werden erwogen, was nun getan werden könnte. Frau Köhler schlägt vor, dass die Eltern von Jens einen Antrag stellen könnten, dass ihr Kind statt in den Realschulzweig in den Hauptschulzweig eingeschult werden soll. Da müsste man dann mit den Eltern reden. Dieser Vorschlag findet im Kollegium keinen Zuspruch, die meisten Lehrer schauen skeptisch. Es wird nach weiteren Vorschlägen gesucht, vor allem aber Argumente für eine Hauptschulzuweisung von Jens vorgetragen. Offensichtlich teilen die meisten der anwesenden Lehrer die Einschätzung, Jens wäre in der Hauptschule besser aufgehoben, weil er dort die entgelhafte Leistung in einem sonstigen versetzungsrelevanten Fach möglich.“ (Versetzungsverordnung (VersetzVO). vom 12.Juli 2004. Verordnung zur Änderung der Versetzungsverordnung (VersetzVO) in der Fassung vom 2. August 2005, § 6) 76 Für jede Klassenkonferenz steht nur eine begrenzte Zeit zu Verfügung, da die Konferenzen für alle Klassen der Schule an einem Nachmittag durchgeführt werden und die nächsten Lehrer und Lehrerinnen bereits warten. 77 Das ist ein Teilnehmerbegriff, der jenen Tag bezeichnet, an dem die Zensuren für das Zeugnis in entsprechende Listen eingetragen werden und somit feststehen. Danach folgen noch einige Tage bis zur Zeugnisausgabe, an denen keine Zensuren mehr vergeben werden – von den Schülerinnen und Schülern herbei gesehnt, von den Lehrpersonen gefürchtet.
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sprechende Förderung erhalten würde, denn dieses Argument erhält Zuspruch und Kopfnicken. Eine Lehrerin führt den (jüngeren) Bruder Klaus an, welcher die gleiche Klasse wie Jens besucht. Dieser würde ab Klasse sieben im Realschulzweig lernen. Wäre es gut, die beiden Brüder auseinander zu reißen? Mehrere Lehrer finden, dass es für Jens vielleicht sogar besser wäre, wenn er nicht mit seinem Bruder in einer Klasse wäre. Einige Lehrer stecken ihre Köpfe zusammen und flüstern. Schließlich ergreift Frau Walther das Wort: Sie hätte sich entschieden, die Note von Jens noch einmal zu ändern. Er würde nun eine Fünf in ihrem Fach erhalten. Frau Köhler erklärt daraufhin, dass Jens somit die Voraussetzungen für den Realschulzweig nicht erfüllt und in den Hauptschulzweig eingestuft wird. Zustimmendes Nicken im Kollegium, dann geht es mit dem nächsten Schüler weiter.
Das der Klassenkonferenz zugrunde liegende Verfahren der Zuweisung zu den abschlussbezogenen Schulzweigen, das in der schlichten Entscheidung nach Notendurchschnitt besteht, ist den Teilnehmenden bekannt und verläuft problemlos bis zur Einstufung des Schülers Jens. Hier stockt das Verfahren, es tauchen Nachfragen auf. Was ist das Problem? Offenbar wird die Einstufung des Schülers in den Realschulzweig als unangemessen empfunden, obwohl er die erforderlichen Notendurchschnitte aufweist. Die entstehende Unruhe im Kollegium verweist auf den Diskussions- und Klärungsbedarf zur unerwarteten Einstufung. Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass die für die Realschuleinstufung ausreichenden Notendurchschnitte von Jens zumindest zum Teil eine nicht intendierte Folge einer Absprache zwischen zwei Lehrerinnen zur Vermeidung der Versetzungsgefahr sind. Diese Gefahr besteht jetzt jedoch nicht mehr, vielmehr wird nun die drohende ‚Fehleinstufung‘ diskutiert. Da das Kollegium die Einstufung von Jens in den Realschulzweig offenbar nicht bestätigen will, wird nach Lösungen gesucht, um die als ‚richtig‘ empfundene Einstufung in den Hauptschulzweig zu realisieren. Dabei wird auf die Möglichkeit des Einbezugs der Eltern und somit einen Aufschub der Klärung verzichtet und stattdessen eine unmittelbare Lösung im Rahmen des Gremiums gewählt – eine Note wird geändert und der Schüler wird dem Hauptschulzweig zugeordnet. Sobald diese Entscheidung gefallen ist, läuft das Verfahren im bewährten Stil weiter. Vergleichbar der Zuordnung einzelner Schüler zu Leistungskategorien entwickeln die Lehrer eine feste Vorstellung davon, wer nach Klasse sechs in den Realschul- und wer in den Hauptschulzweig eingestuft werden wird. Bei Jens entspricht die Einstufung nicht den Lehrererwartungen und dies wird als derart problematisch angesehen, dass so lange nach einer Lösung gesucht wird, bis die von den Lehrern vorgenommene Kategorisierung als künftiger Hauptschüler und die rechtlich über Notendurchschnitte geregelte Einstufung übereinstimmen. Es ist erstaunlich, wie sicher sich die anwesenden Lehrerinnen und Lehrer in dieser etwas heiklen Situation verhalten. Es gibt einen Konsens darüber, dass die Notenvergabe flexibel gehandhabt werden kann – offenbar scheinen die Änderungen in der Note, zunächst in die eine, dann in die andere Richtung, moralisch
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unbedenklich. Sowohl bei der Anhebung wie bei Absenkung der Note wird das Interesse des Schülers als zentrales Argument angeführt; die Diskussion im Kollegium vermittelt jedoch den Eindruck, dass vor allem die Diskrepanz zwischen der Einschätzung der Lehrenden hinsichtlich der für Jens ‚richtigen‘ Schulform und der erfolgten Einstufung bearbeitet werden muss. Unabhängig davon, ob der Schüler die Vier in Geographie auch ohne die Absprache der Lehrerinnen erhalten hätte – in anderen Fächern hat er sich zum Schuljahresende offenbar verbessert –, wird sein Durchschnitt als inakzeptabel betrachtet und die Note abgesenkt. Auch wenn diese Absenkung durch die vorherige Anhebung der Note ermöglicht wird, so zeigt sich, dass für die Einstufung im Zweifelsfall nicht die Notendurchschnitte eines Schülers bedeutsam sind, sondern die Einschätzung der Lehrenden. Ihr Bild vom Schüler und den Schülerfähigkeiten wird in dieser Klassenkonferenz durchgesetzt, ohne die biographischen Folgen dieser Entscheidung zu reflektieren. Denn es geht hier nicht nur um die Änderung einer Note, sondern es werden bildungsbiographisch höchst relevante Entscheidungen getroffen, die auch spätere Lebenschancen negativ beeinflussen können. 3.3.5 Zeugnisausgaben zwischen Feierlichkeit und Moralisierung An der Sekundarschule A wurden alle vier Zeugnisausgaben der Klassen fünf und sechs beobachtet. Nach der Fusion mit einer anderen Sekundarschule wurden an der neuen Schule die Zeugnisausgaben je einer Realschul- und einer Hauptschulklasse im Halbjahr der Klasse sieben beobachtet78. Im Folgenden werden zwei Zeugnisausgaben genauer betrachtet. Diese beiden Zeugnisausgaben unterscheiden sich deutlich hinsichtlich ihrer Rahmung und Durchführung, vor allem aber in Bezug auf den Umgang mit den Zeugnissen bzw. den Zeugnisnoten. Zunächst steht die erste Zeugnisausgabe an der Sekundarschule A, zum Halbjahr der Klasse fünf, im Mittelpunkt der Betrachtung79.
78 Darüber hinaus wurde die Halbjahreszeugnisausgabe einer westdeutschen Hauptschulklasse im Jahrgang fünf beobachtet. Siehe dazu ausführlich Kapitel 3.5. 79 Diese Zeugnisausgabe wird auch in Breidenstein/Meier/Zaborowski 2007 behandelt.
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Die Zeugnisausgabe in Klasse fünf – Feierlichkeit und Moralisierung Zeugnisausgabe erstes Halbjahr Klasse fünf Die Klassenlehrerin Frau Köhler eröffnet die Stunde: „So (.) dann begrüße ich (.) jetzt (.) und hier (..) alle Schüler (.) die Elternvertreter (.) und die Frau Zaborowski („Hallo“ rufen mehrere Jungen). Warum wir heute (.) jetzt hier sind (.) das wisst ihr ja alle (.) und für einige (…) weil ich hier gefragt wurde (.) na sind das Giftblätter (Auflachen einiger Jungen) (.) für einige vielleicht. (…) So, so wie ihr (.) in diesem Halbjahr gearbeitet habt (.) so sind bei den meisten die Zensuren ausgefallen (.) und ich kann euch sagen, die meisten von euch haben fleißig gearbeitet (.) und einige von euch die haben (.) sich zumindest Mühe gegeben […] und doch jetzt im Halbjahr noch nicht alles erreicht, was sie insgesamt erreichen wollten.“
Die förmliche Begrüßung etabliert hier ein außeralltäglich-feierliches Format für die Stunde, ohne jedoch den besonderen Anlass explizit zu benennen. Die Thematisierung von „Giftblättern“ verweist jedoch auch auf das bedrohliche Potential des Ereignisses, auch wenn im Anschluss das Bemühen der Lehrerin um eine Relativierung und positive Rahmung der Situation deutlich wird, zum Beispiel im Lob (fast) aller Schüler. „So, wenn man sich (.) eure Zensuren anguckt (.) dann äh muss ich feststellen, (.) bin ich mit den meisten Schülern eigentlich (.) ziemlich (.) gut zufrieden (.) ja. Ich hab mal ausgerechnet mal durchgezählt (.) die Zensuren äh insgesamt (.) und da kommt eigentlich, also kommen eigentlich ganz gute Sachen raus und das will ich euch mal äh vorstellen. […] Wenn man von allen (.) die Zeugnisse nimmt und die Zensuren komm‘ wir auf insgesamt zweihundertzwanzig Zensuren auf den Zeugnissen, ja (Raunen in der Klasse) auf den Zeugnissen von allen. Na, so davon (.) sind (.) äh zweiunddreißig Einsen (Raunen in der Klasse) das sind immerhin (.) Vierzehn Komma Fünfzich Prozent.“ Sie schreibt es an die Tafel. So, von den Zweien sind sechsundsiebzig Zensuren vorhanden (Pfeifen und Raunen in der Klasse) von den zweihundertzwanzig sind Zweien, ja das sind immerhin (.) Vierunddreißig Komma Fünf Vier Prozent. So, und von den zweihundertzwanzig Zensuren sind insgesamt neunundsechzich Dreien (.) (Pfeifen in der Klasse) ja das ist auch ne ne gute Zahl das sind Einunddreißich Komma Drei Sechs Prozent. So, und nur ein verschwindend geringer Teil (.) sind (.) schlechtere Zensuren als Drei. Jetzt mal ganz ehrlich, wer hätte das von euch gedacht?“ Hans: „Was?“ Lehrerin: „Dass das so gut aussieht insgesamt.“ Mehrere Schüler melden sich, auch Hans. Die Lehrerin scheint erstaunt darüber zu sein. „Doch einige (.) hm also ich hättes mir äh ehrlich gesagt äh s-so beim Zeugnis schreiben ist mir das eigentlich nicht so aufgefallen, dass Viele gute Zensuren haben, das habe ich schon gesehen, (.) aber dasses insgesamt äh so für die Klasse äh so positiv aussieht, das habe ich eigentlich beim Zeugnis schreiben, naja da konzentriert man sich auf andere Sachen, noch nicht gemerkt so.“ Schließlich gibt die Lehrerin noch schnell die Vieren (15,9 Prozent) bekannt und verkündet das Fehlen von Sechsen als „gute Nachricht“, die von den Schülern auch gebührend durch „Yeah“-Rufe gewürdigt wird, bevor zuletzt die Zahl der Fünfen (acht) genannt wird. Schließlich addiert Frau Köhler nochmals die Prozentwerte der Einsen, Zweien und Dreien – sie ergeben 80 Prozent – und bilanziert: „So, das heißt von hundert Zensuren sind Achtzich (.) Einsen, Zweien und Dreien und das ist schon ne tolle Leistung, die ihr da vollbracht habt.“
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Die Lehrerin bedient sich hier sehr ungewöhnlicher Methoden der Präsentation von Zeugnisnoten. Nicht nur, dass sie die Gesamtanzahl aller Noten berechnet, sie gibt auch die Notenhäufigkeiten an und bildet Prozentwerte daraus. Das Anliegen dahinter wird schnell deutlich – es soll ein gutes Ergebnis dieses ersten gemeinsamen Halbjahres an der Sekundarschule produziert werden. Allerdings enthält bereits der einleitende Satz die Relativierung der guten Ergebnisse. Offenbar dient die Mathematisierung dem Zweck, die schlechten Zeugnisnoten „verschwinden“ zu lassen: „und nur ein verschwindend geringer Teil (.) sind (.) schlechtere Zensuren als Drei“. Dieser Teil beträgt noch knapp 20 Prozent, also ein Fünftel aller Zeugnisnoten, der Anteil der Vieren ist dabei höher als derjenige der beraunten und bestaunten Einsen. Obwohl die Lehrerin einen gewissen Aufwand betreibt, um auf ein positives Gesamtergebnis der Klasse zu kommen, ist sie vom Ergebnis dann selbst überrascht. In der Explikation dieser Überraschung zeigt sich jedoch ihre latent negative Erwartungshaltung bezüglich der Noten und damit der Leistungen der Schüler, die sich ihrerseits durchaus gute Leistungen zutrauen. Die Mathematisierung der Zeugnisse ermöglicht somit das kollektive Lob der Klasse. Dieses Lob ist allerdings nur die eine Seite dieser Zeugnisausgabe, die andere beinhaltet Ermahnung und Pädagogisierung der Schülerleistungen, z. B. in der Erläuterung der Noten für das „Sozialverhalten“. Das Konzept der Kopfnoten ist den Schülern bekannt, darauf wurde bereits im Vorfeld eine gesamte Unterrichtsstunde verwandt (siehe Kapitel 3.2.2), die Besprechung dient vornehmlich der Beschwörung der Klassengemeinschaft. „Ihr wisst ja, dass es (.) dass auf dem Zeugnis des Halbjahres ne Beurteilung steht und die Beurteilung, die soll euch helfen eure Fehler zu erkennen, eure (.) Schwächen äh zu erkennen, damit ihr wisst, wo ihr noch mehr arbeiten (.) müsst. […] So, die Zensuren sind sehr unterschiedlich verteilt (.) äh ich habe mir dann äh mal angeguckt eure Zensuren vom äh Lernverhalten und vom Sozialverhalten. So, was das beinhaltet das wisst ihr, darüber ham wir ja gesprochen, ja. […] Also, da hat jeder äh noch (.) naja ne Möglichkeit (.) äh Dinge in der Klasse zu verbessern, denn wir sind ne Klasse. Obwohl nun jeder hier als einzelne Person ist, ähm sind wir insgesamt ne Klasse und ne Klasse is nu mal ne große Familie. […] Mit manchen wirst du bis zur zehnten Klasse zur Schule gehen so (.) und das is ja ne ganz schön lange Zeit (.) so und die lange Zeit, die wolln wir ja nicht nur hier im Zank und im Streit miteinander verbringen.“
Schulklasse und Familie sind Zwangsgemeinschaften, im Fall der Schulklasse auf Zeit, die nur funktionieren können, wenn ein bestimmter Umgang miteinander gepflegt wird. Durch die Gleichsetzung der beiden werden jedoch zentrale Unterschiede negiert, z. B. die unterschiedliche Beziehungsqualität zwischen Lehrpersonen und Schülern einerseits und Mitgliedern einer Familie andererseits, des Weiteren die Nichtsubstituierbarkeit des Personals sowie die Unkündbarkeit der Beziehungen in Familie, im Gegensatz zur Schule (siehe hierzu z. B.
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Helsper u.a. 2009: 38f.). Mit der Formulierung „is nu mal“ wird auf einen nicht änderbaren Umstand referiert, mit dem man sich abzufinden und darauf einzustellen hat. Das hier angedeutete Ziel der harmonischen Klassengemeinschaft wird vor dem Hintergrund der „langen Zeit“, die man miteinander verbringen muss, als Aufgabe eines jeden Schülers konstruiert. In anderer Weise bezieht sich auch die Erläuterung der Noten für das „Lernverhalten“ auf einen in der Zukunft liegenden Horizont. „Die gute Nachricht (irgendwo ertönt ein erleichtertes „Ja“) (.) es hat keiner im Lernverhalten eine Fünf bekommen. Ja, also wegen Lern- und Sozialverhalten bleibt man jetzt zwar nicht sitzen, weil das ja Zensuren sind, äh die wie der Name schon sagt das Verha- dein Verhalten widerspiegeln (Lehrerin räuspert sich) und nicht deine Leistungen, (.) aber äh trotzdem (.) äh schau mal, wenn äh du dein jemanden deins dein Zeugnis zeigst und da steht äh da Lernverhalten äh Vier oder Fünf (.) was heißt denn das? Sie schaut fragend in die Klasse. „Manuel.“ Manuel: „Dass du dich schlecht verhältst und nichts tust für die Schüler.“ Lehrerin: „Richtig (.) so und dann stell dir mal vor (.) irgendwann steht vor dir die Frage (.) äh dass du ein' Beruf ergreifen willst und du äh gibst dein Zeugnis ab mit der Bewertung und da kann dann jeder lesen, äh dass du ähm schlecht lernst, dass du keine Lust hast zu lernen. (.) Na glaubt ihr, äh jemand möchte äh jemanden einstellen oder ein Lehrmeister möchte jemanden einstellen, von dem er ehm bestätigt kricht, er hat schon in der Schule nich gelernt? (.) Ja, das sollte man äh sich schon sehr gut überlegen, äh ob man dann (.) nicht (.) en bisschen mehr (.) äh zum Beispiel Fleiß, (.) en bisschen mehr Hausaufgabenerfüllung, (.) bessere Arbeitsmaterialien oder besser gesagt Arbeitsmaterialien ständig mithaben und (.) äh nicht öfter vergessen (.) na das s-sollte man sich schon überlegen.“
Die Thematisierung der Beurteilungen (oben) sowie der Noten für Sozial- und Lernverhalten dient hier vor allem dazu, auf Defizite der Schülerinnen und Schüler hinzuweisen. Der Verweis auf zukünftige Arbeitgeber wirkt forciert und wenig überzeugend. „Fleiß“, „Hausaufgabenerfüllung“ und „Arbeitsmaterialien mithaben“ erscheinen als Worthülsen, die inhaltlich nicht gefüllt werden können. Die Lehrerin entwirft ein diffuses Drohszenario und zeigt sich unfähig, transparente und eindeutige Erwartungen an die Schüler zu formulieren. – Andererseits zeigt sich hier aber auch die Kooperation der Schüler, die selbst in der Zeugnisausgabe in einer Art Unterrichtsgespräch noch die gesuchten Antworten liefern. Nachdem die Verhaltensnoten in ihrer potentiellen Bedeutsamkeit besprochen worden sind, kommt Frau Köhler zur Bekanntgabe aller Zeugnisnoten der einzelnen Schülerinnen und Schüler – immer noch ohne die Zeugnisse auszugeben. „Ich hab mir äh für jeden rausgesucht, wieviel Einsen, Zweien und Dreien und so weiter äh er hat und welchen Durchschnitt er erreicht. Fang mer mal mit Sonja an. Sonja, du hast zwei Einsen, vier Zweien, (.) vier Dreien und eine Vier. Da weißt du bestimmt, äh in welchem Fach das iss und ich denke, beim Jahresendzeugnis das wird (.) anders aussehen. Du hast en Durchschnitt von Zwei Komma Drei äh geschafft und das ist schon gut. Geben wir ihr en Beifall (fragend-auffordernd an die Klasse).“ (Beifall ca. 5 Sek.)
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Die Lehrerin geht bei der Bekanntgabe nach dem Klassenbuch vor. Es kommen alphabetisch erst die Mädchen und dann die Jungen an die Reihe. Folgendes Schema wird dabei eingehalten: 1. die Nennung des Namens, 2. die Anzahl der erreichten Noten beginnend mit den besten Noten, 3. manchmal (aber nicht immer) ein aufmunternder oder ermahnender Satz, und 4. die Nennung des Notendurchschnitts. Daran schließt sich, im weiteren Verlauf ohne Aufforderung, das Klatschen der Mitschüler an. Nach der zweiten Schülerin erfolgt unvermittelt ein Einschub, der den Übergang von der Grundschule auf die Sekundarschule betrifft: „Man darf bei dem Ganzen nicht vergessen (.) ihr kommt aus der vierten Klasse das ist zwar die letzte Klasse der Grundschule (.) äh aber jetzt seid ihr eben in der ersten Klasse der Sekundarschule. So, und so ein Wechsel (.) äh ist immer problematisch (.) ja (.) und der eine verkraftet das eben gut und schnell und der andere der gewöhnt sich eben en bisschen langsamer dran, ja. Also, es iss nichts Außergewöhnliches (.) äh wenn man erstmal in der fünften Klasse Halbjahr absackt.“
Der Übergang in die weiterführende Schule ist hier schlicht als „Wechsel“ thematisiert, der ohne eigenes Zutun stattfindet und prinzipiell problematisch ist. So schafft die Lehrerin auch die Möglichkeit ‚Misserfolge‘ für einzelne Schüler besser annehmbar zu machen. Nach diesem Exkurs wird die Bekanntgabe der Noten fortgesetzt. Sehr schnell werden Noten und Durchschnitte der Schüler angesagt, geklatscht und zum nächsten Schüler übergegangen, einige Schüler erhalten darüber hinaus kurze Ermahnungen zu mehr Anstrengung im zweiten Halbjahr, insgesamt wird jedoch niemand besonders hervorgehoben, aber alle werden gelobt: „Diana. Diana, du hast keine Eins, aber hast vier Zweien, zwei Dreien, aber leider auch drei Vieren und zwei Fünfen, […] aber im Durchschnitt is Drei Komma Zwei (.) und das is doch gut.“ (Beifall, ca. 5 Sek.)
Auch hier wird das Anliegen der Lehrerin noch einmal deutlich: Alle Zeugnisse sollen ausnahmslos als Erfolg gewürdigt werden. Möglich wird dies, wie bei der Ermittlung des Ergebnisses der ganzen Klasse, durch das Berechnen des Zensurendurchschnitts: Beim Durchschnitt werden die schlechten Zensuren durch die besseren ‚ausgeglichen‘, so dass ein Durchschnitt von 3,2 die Vieren und Fünfen ‚unsichtbar‘ macht. Nachdem alle Schüler ihre Zeugnisnoten mitgeteilt bekommen haben, wird anhand der Durchschnitte die Rangliste der drei besten Zeugnisse verkündet. Die so herausgehobenen Schüler bekommen kleine Präsente und erneuten Beifall aus der Klasse. Schließlich werden auch noch die „Zensurenkönige“ (siehe Kap. 3.2.1) gekürt und mit Präsenten bedacht. Erst ganz zum Schluss, in der Klasse ist es zu diesem Zeitpunkt schon deutlich unruhig, werden die Zeugnisse fast ‚nebenbei‘ ausgegeben. Die Lehrerin geht durch die Klasse und überreicht sie den
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Kindern ohne weitere Anmerkungen. Dann werden noch Süßigkeiten an alle Schüler verteilt, „als ganz kleiner Trost, weil alle gut gearbeitet haben“. Es lässt sich auf den ersten Blick nicht erschließen, warum einer der Schüler Trost benötigt, wenn doch alle Schüler „gut gearbeitet haben“. Erwartbar wäre eher eine kleine Belohnung, in welcher Form auch immer. Zwei Lesarten wären hier möglich. Handelt es sich um einen Trost angesichts der Zeugnisse, so steht dieser im Widerspruch zum proklamierten positiven „Gesamtergebnis“ der Klasse ebenso wie dem „guten“ Abschneiden der Einzelnen. Es könnte sich andererseits um einen Trost für diejenigen handeln, die zwar gut gearbeitet haben, jedoch bei der Kür der besten Zeugnisse sowie der ‚Zensurenkönige‘ leer ausgegangen sind. Gegen diese Lesart spricht jedoch, dass alle Schüler Süßigkeiten ausgeteilt bekommen, also auch diejenigen, die bereits „Belohnungen“ für ihre Zeugnisse bekommen haben. Es kann also von einem Trost für alle Schüler der Klasse in Verbindung mit den Zeugnissen ausgegangen werden. Hier zeigt sich ein Phänomen der Rahmung schulischer Praxis, das von Rademacher (2009) als „Trost und Bedrohung“ gekennzeichnet wurde. Ein Trost ist nur in einer traurigen (oder bedrohlichen) Situation nötig, die aber laut Konstruktion der Lehrerin über die Mathematisierung der Zeugnisse gar nicht vorliegt, denn bei guten Zeugnissen (und selbst die schlechtesten Zeugnisse werden ja noch als „gut“ präsentiert) wird kein Trost benötigt. Hier zeigt sich ein weiteres Mal die Brüchigkeit des Konstrukts guter Zeugnisse in der Argumentation der Lehrerin. Dabei können die verteilten Süßigkeiten durchaus in der Kontinuität einer ambivalenten Schulpraxis, wie sie Rademacher beschreibt, gesehen werden. So, wie die Schul- bzw. Zuckertüten den Schulanfang versüßen sollen, so sollen die Süßigkeiten im Rahmen der Zeugnisausgabe die Zeugnisse ‚versüßen‘. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Zeugnisausgabe für alle Schüler und auch die Lehrerin ein Erfolgserlebnis darstellen soll. Das pauschale Lob der ganzen Klasse wird durch das Zusammenzählen aller Zensuren und die Konstruktion einer Gesamtleistung der Klasse erreicht. Auch die positive Würdigung jedes einzelnen Zeugnisses wird möglich durch eine mathematisierende Handhabung der Zensuren, die in der Berechnung des Durchschnitts schlechte Noten ‚verschwinden‘ lässt, so dass schließlich selbst diejenigen Schülerinnen und Schüler gelobt werden und Applaus bekommen, die aufgrund ihres Zeugnisses bereits in der fünften Klasse versetzungsgefährdet sind. Hier handelt es sich um eine Täuschung der Schüler zum Zweck eines positiven Gemeinschaftsgefühls, aber auch um eine Selbsttäuschung der Lehrerin, die vom selbst produzierten Ergebnis überrascht wird. Das vergemeinschaftende Lob aller Schülerinnen und Schüler wird jedoch in dieser ersten Zeugnisausgabe an der Sekundarschule konterkariert von einem diffusen Bedrohungsszenario, das in der Bedeutung der Zensuren – insbesondere
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der Verhaltensnoten – für den späteren Kampf um Ausbildungsplätze entworfen wird. Hier wird also eine selektive Wirkung der Zensuren in der Zukunft und außerhalb der Schule beschworen, während für die Gegenwart und die Situation innerhalb der Schule an die Klassengemeinschaft und den Zusammenhalt aller Mitglieder der Schulklasse appelliert wird. Die situative Konstruktion der Bedeutung der Zensur schwankt in dieser Szene zwischen mathematisierenden Operationen, die die Zensuren in reine Zahlenwerte verwandeln und einem moralisierenden Diskurs, der den Zensuren eine diffuse, entgrenzte Bedeutung als Mittel der Verhaltensregulierung schlechthin verleiht. Die Zeugnisausgabe in Klasse sieben – schlechte Zeugnisse und die Zuschreibung von Verantwortlichkeit Im Folgenden soll eine Zeugnisausgabe betrachtet werden, die sich in Rahmung und Durchführung von der gerade beschriebenen deutlich unterscheidet. Es handelt sich um die erste Zeugnisausgabe in Klasse sieben im Hauptschulzweig, also bereits nach der erneuten Aufteilung der Sekundarschüler nach der sechsten Klasse. Aufgrund der Fusion der ursprünglich beobachteten Sekundarschule ist es für eine kleine Gruppe von drei Schülern in der beobachteten Klasse tatsächlich auch die erste Zeugnisausgabe in dieser Schule, die meisten Schüler kennen die Klassenlehrerin bereits seit Klasse fünf. Zeugnisausgabe Klasse sieben – Hauptschulzweig Die Klassenlehrerin Frau Gade schaut ernst. Die Kinder sind anfangs zwar noch etwas laut, aber nicht anders als sonst, vielleicht sogar etwas weniger, auf jeden Fall ruhiger als in den anderen Klassen. Noch bevor es mit der Stunde losgeht, sollen die Schüler ihre Hausaufgabenhefte vornehmen, wofür sie gebraucht werden, wird nicht gesagt. Es klingelt und in der Klasse wird es ruhiger. Die Stimmung ist weder sehr gespannt noch feierlich, aber auch nicht ausgelassen. Vielleicht ein wenig ernst, aber nicht sehr. Lehrerin: „So Leute.“ Es ist zwar schon ziemlich ruhig in der Klasse, aber ein oder zwei Schüler haben ihre Aufmerksamkeit noch nicht ganz auf die Lehrerin fokussiert. Sie wartet noch einen Augenblick, dann spricht sie weiter. „Auswertung des ersten (kurzes Aufstöhnen einiger Schüler) Schulhalbjahres.“
Im Gegensatz zur Zeugnisausgabe in Klasse fünf findet keine Begrüßung der Anwesenden statt. Angesichts der Tatsache, dass die Zeugnisausgabe in der fünften Stunde stattfindet, ist davon auszugehen, dass diese bereits vorher erfolgt ist. Die Adressierung der Schüler durch die Lehrerin („So Leute“) ist eher umgangssprachlich, keinesfalls feierlich bedeutsam und hat im schulischen Kontext einen eher negativen Beigeschmack, da sie häufig vor Moralpredigten verwendet wird. Ohne Bezug auf den Anlass der Stunde, die Zeugnisse, zu nehmen, kündigt die Lehrerin stattdessen in sehr knapper Form die Auswertung des ersten Schulhalbjahres an. Das Stöhnen der Schüler könnte sich zum einen auf antizipierte
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negative Elemente der Auswertung beziehen, ebenso jedoch auch auf die damit einhergehende Verzögerung der Ausgabe der Zeugnisse. „Ich habe euch oft jenuch . etwas jesagt (..) in der Klassenleiterstunde, im persönlichen Gespräch. Es ist (..) bei fast keinem auf auf fruchtbaren Boden gefallen, das heißt (.) eh wir haben (.) zum Halbjahr von unseren einundzwanzig Schülern, jetzt zieh ich mal von den einundzwanzig Schülern den X ab, dann ham wir zwanzich Schüler (..) der is sowieso versetzungsgefährdet (einige Schüler tuscheln leise). Von den zwanzich Schülern haben wir zehn Schüler, die versetzungsgefährdet sind, das sind fünfzich Prozent der Klasse.“ Sie wendet sich an eine Schülerin: „Du brauchst gar nicht grinsen.“ Die Schülerin leise: „Ich grinse nich.“ Lehrerin: „Ja, und versetzungsgefährdet so, (…) dass ich wirklich nur versetzungsgefährdet auf das Zeuchnis drauf geschrieben habe, bei denen, die laut Schulgesetz und Versetzungsverordnung (..) in die Kategorie reingehören, das sind nämlich alle die, die wirklich zwei Fünfen auf’m Zeuchnis haben (leises Tuscheln). In den letzten Jahren hab ich bei denen, die nur eine Fünf auf dem Zeugnis haben auch drauf geschrieben versetzungsgefährdet, wenn ihr mal nachguckt. Denn wie schnell kann eine zweite dazu kommen. Das sollten wir dies Jahr nicht machen, aber zu diesen zehn Schülern, die zwei Fünfen- und dann gibt‘s auch Schüler, die haben vier (Schüler: „öah“) und fünf Fünfen auf dem Zeuchnis, Nick, pass auf!“ Nick: „Ich pass auf.“ „Kommen noch fünf Schüler dazu, die nur eine Fünf auf dem Zeuchnis haben, nur eine Fünf.“
Die Auswertung des Schulhalbjahres beginnt die Lehrerin mit dem Verweis auf die frühere Thematisierung eines Sachverhaltes, der jedoch nicht weiter ausgeführt wird. Offenbar dient dieser Verweis als Rechtfertigung, bevor überhaupt klar wird, worum es geht. Die Lehrerin ist demzufolge ihrer Hinweispflicht nachgekommen, die meisten Schüler haben jedoch ihren Anteil nicht erfüllt. Die Darstellung der prekären Lage erfolgt im Modus eines Rechenschaftsberichtes, in welchem es um Mengen und Prozentverhältnisse, die Anzahl der Grundgesamtheit der Schüler zur Anzahl der Versetzungsgefährdeten, geht. Die Schüler erscheinen hier nur als Teil einer Kategorie – diejenigen, die versetzungsgefährdet sind und diejenigen, die es (noch nicht) sind. Zentrales Unterscheidungsmerkmal ist die Note Fünf, genauer gesagt, die Anzahl der Fünfen auf dem Zeugnis eines Schülers. Das Bedrohliche der Situation, der Ernst der Lage, soll deutlich werden; dies wird auch durch die Erhöhung der Lautstärke an den besonders relevanten Stellen betont. Zusätzlich führt die Lehrerin einen Kampf um die Anerkennung der Bedeutung dieses Ernstes. Er wird von einzelnen Schülern exemplarisch eingefordert, von diesen Schülern jedoch auch mitgetragen. „Es kristallisieren sich bei den Fünfer-Fächern solche Fächer heraus wie Wahlpflichtkurs Musik, Biologie, Chemie, also will ich mal sagen Wahlpflichtkurs, Bio, Musik (.) zum Teil auch (ein Mädchen leise: „Das sind meine.“) zum Teil auch Ethik, gibt’s ganz wenige. Das sind alles Fächer, wo ich etwas lernen muss, wo ich Faktenwissen mir aneignen muss und wer in Musik keen Liedtext lernt oder sich nich auf ne Kurzkontrolle vorbereitet oder wer das in Biologie nicht macht, der hat eben Pech. Das ist- das sind keine Fächer, wo ich wirklich (.) besonders oberschlau sein muss, da
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kann ich viel durch Lernen machen. Und lernen, lernen, lernen ist hier euer ganz ist hier eure ganz große Devise (.) und das klappt hier nicht. Es wird zu wenig wirklich ge-lernt. Dann komm’ zwei Fächer dazu: Physik, Chemie. Dazu möchte ich jetzt mal was sagen. Chemie is n ganz neues Fach. (…) Da werd ihr dies Jahr heran geführt, da passiert bis jetzt eigentlich noch nücht Großartiges, was wirklich so richtig was mit Chemie zu tun hat (sehr laut). Aber da wird och nich jelernt! (…) Und wer dann jede Kurzkontrolle verkackt, der hat eben zwei Sechsen stehn. (…) Und ich hab mir wirklich mal anjeguckt, was ihr in Chemie bis jetzt gemacht habt. Also, drei Viertel davon is nur lernen lernen lernen, da muss ich nich mal das Gehirne einschalten.“
Die Ballung von Fünfen in bestimmten Fächern ist offenbar legitimierungsbedürftig. Handelt es sich hier um die besonders schwierigen Fächer? Die Lehrerin konstruiert diese Fächer als „Lernfächer“ (scheinbar im Gegensatz zu Fächern, in den nicht gelernt werden muss oder aber lernen allein nicht genügt), für die keine besonderen kognitiven Fähigkeiten (über die sich die Lehrerin hier eher abwertend äußert) vonnöten sind. Einzig das Lernen ist die hinreichende Voraussetzung für Erfolg. Die Gefahr der Nichtversetzung ist hier gerade nicht als unverschuldetes Unglück konzipiert, sondern als direkte Folge des Nicht-Lernens, also von den Schülern selbst verantwortet. Hier scheint eine ähnliche Logik wie bei der „Pechmarie“ (im Märchen „Frau Holle“ der Gebrüder Grimm) vorzuliegen, welche das Pech als „Lohn“ für ihre Faulheit erhielt. Es wird jedoch auch eine Unklarheit bezüglich des Lernens deutlich. Wenn es tatsächlich die „Devise“ der Schüler „ist“, zu lernen, an wem scheitert es dann bzw. wo genau klappt es nicht? Und wie funktioniert das Lernen, ohne das „Gehirne einzuschalten“? Offenbar wird Lernen als ein Tun, das gerade nicht als komplexer Aneignungsprozess konstruiert ist, gesehen, sondern als stupides Auswendiglernen ohne Auseinandersetzung mit den Inhalten. Alles läuft darauf hinaus zu zeigen, dass auch die geringer begabten Schülerinnen und Schüler der Hauptschule erfolgreich sein könnten – wenn sie lernen. Dabei ist die Argumentationsfolge der Beweisführung zu beachten. Weil die Schüler schlechte Noten haben, lernen sie offenbar nicht. Dies wird auch noch einmal in einem letzten Auszug aus dem Protokoll deutlich: […] Josefine beschwert sich, dass sie in Lernverhalten eine Fünf hat. Die Lehrerin darauf sehr laut: „Warum Lernverhalten Fünf? Wer in Biologie ne Sechs kricht, in Physik ne Fünf, a Haufen Vieren aufm Zeuchnis hat, der lernt nich zu Hause und der kricht im Lernverhalten eine Fünf!“
Die Lehrerin argumentiert hier von den Ergebnissen aus, die aus ihrer Sicht nur eine mögliche Ursache haben können. – Das sehr schlechte Ergebnis der Klasse insgesamt setzt die Klassenlehrerin unter massiven Legitimierungsdruck. Die Verantwortlichkeit für die schlechten Noten muss situativ geklärt werden. Dabei werden mögliche Erklärungsansätze, die nicht die Schüler betreffen, also der Unterricht oder die Schwierigkeit der Fächer, im Verlauf der Situation ausge-
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schlossen oder gar nicht thematisiert. Die logische Schlussfolgerung liefert die Lehrerin mehrmals in dieser Stunde. Das schlechte Ergebnis ist eindeutig im unzureichenden Lernen zu sehen, für welches die Schüler allein verantwortlich sind. Schlussfolgerungen Was zeigt nun die vergleichende Betrachtung der beiden Szenen von Zeugnisausgaben? In Klasse fünf sind die feierliche Begrüßung, das (ambivalente) Pauschallob, die Mathematisierung der Zeugnisse durch das Addieren der Zensuren und schließlich die moralisierende Beschwörung der Bedeutsamkeit der Zensuren mit Blick auf eine (ferne) Zukunft zu beobachten. In Klasse sieben wird die Zeugnissituation der ganzen Klasse von Beginn an problematisiert und ein großer Teil der Stunde dafür aufgewendet, aufzuzeigen, dass die unterrichteten Fächer keineswegs zu anspruchsvoll waren. Beide Stunden unterscheiden sich hinsichtlich der Rahmung der Situation sowie der Ausgestaltung der Zeugnisausgabe. Während in Klasse fünf das Bemühen aller Beteiligten deutlich wird, dem ganzen Geschehen einen außeralltäglichen und sogar feierlich-festlichen Rahmen zu verleihen, wird auf diesen in Klasse sieben zugunsten der umfassenden Moralisierung verzichtet. Dennoch gibt es Gemeinsamkeiten. Das eigentliche Ereignis, die Ausgabe der Zeugnisse, wird mehrfach hinaus geschoben und in verschiedene Kontexte pädagogisierender und moralisierender Art gestellt. Die Kooperation aller Beteiligten in der Inszenierung der Bedeutsamkeit des Ereignisses ist die Grundlage der Veranstaltung in beiden beobachteten Stunden, vor allem in Klasse fünf wird dies deutlich: Das Publikum macht mit, seine Aufgabe besteht im Raunen, Stöhnen und schließlich Applaudieren. Der wichtigste Beitrag der Schüler zur Gestaltung dieser besonderen Stunde liegt aber wahrscheinlich in der ungeteilten Aufmerksamkeit, die sie der Lehrerin zuteil werden lassen. Auch in Klasse sieben kooperieren die Schüler, hier vor allem in der Bestätigung des Ernstes, den die Situation erfordert. Ebenso finden sich vergemeinschaftende Elemente in beiden Stunden, in der fünften Klasse auf die „Klassengemeinschaft“ abhebend, in der siebten als pauschalisierter Tadel an die ganze Klasse. Gerade in der übergreifenden Behauptung ungenügenden Lernverhaltens werden individuelle Unterschiede, Schwierigkeiten aber auch Fortschritte und Verbesserungen einzelner Schüler ausgeblendet. In Klasse fünf ist ganz deutlich der Versuch zu beobachten, die Zeugnisausgabe als einen „Erfolg“ für alle zu gestalten: Es gibt Lob und Applaus selbst für die schlechtesten Zeugnisse. Hier ist ein Strukturproblem im Verhältnis zwischen einer auf die Funktionsfähigkeit der Lerngruppe bedachten Pädagogik und
3.3 Praktiken der Leistungserhebung und -bewertung
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der selektiven Wirkung von Zensuren zu vermuten: Von einer Leistungsbewertung, die im Code des „Besser-schlechter“ organisiert ist, müssen selektive, das heißt hierarchisierende Wirkungen in der Lerngruppe befürchtet werden. Dies ist für die alltägliche pädagogische Praxis, der es um die Motivierung aller Schülerinnen und Schüler und den Zusammenhalt der Lerngruppe gehen muss, problematisch. Die auf die Schulklasse bezogene selektive Wirkung der Zeugnisse muss (offenbar) situativ bearbeitet werden. 3.3.6 Zwischenfazit In diesem Kapitel wurden zentrale Aspekte einer spezifischen Bewertungspraxis an der Sekundarschule herausgearbeitet. Anhand von zwei Leistungssituationen konnte aufgezeigt werden, dass in der beobachteten Sekundarschule den grundlegenden Rahmenbedingungen für die Erbringung guter Leistungen wie Transparenz von Leistungssituationen – ihrer Rahmung, der Aufgabenstellung sowie der Leistungserwartung – im Vergleich zum Gymnasium deutlich weniger Aufmerksamkeit gewidmet wird. In den beschriebenen Situationen von Testrückgaben, aber auch in den Zeugnisnotenbesprechungen und den Zeugnisausgaben, konnte einerseits die spezifische Verknüpfung von Zensuren mit „Personen“ und die damit einhergehende Konstruktion unterschiedlicher „Leistungsvermögen“ bei den Schülern einer Klasse rekonstruiert werden; andererseits wurden vielfältige Formen der Legitimierung schlechter Noten herausgearbeitet. Angesichts der schlechten Leistungen an der Sekundarschule gilt es klar zu stellen, dass keineswegs mangelhafter Unterricht und auch nicht fehlende Begabungen, sondern ausschließlich das Verhalten der betreffenden Schüler verantwortlich zu machen ist. Wie bestimmend die Vorstellungen über das Leistungsvermögen einzelner Schüler sein können, wird am Beispiel der Klassenkonferenz deutlich. Hier wird die Einstufung eines Schülers in den Realschulzweig verhandelt, der von der überwiegenden Anzahl der Lehrenden als künftiger Hauptschüler eingeschätzt wird. Dieser Widerspruch zwischen zugeschriebenem Leistungsvermögen und der durch den Notenschnitt ermöglichten Einstufung in eine höhere Schulform führt im Lehrerkollegium zur Diskussion und einem Eingriff, welcher die aus Lehrersicht ‚richtige‘ Einstufung ermöglicht. Dass das Absenken der Note zumindest fragwürdig ist, wird von den Anwesenden nicht thematisiert. Auch wenn das Wohl des Schülers thematisiert wird, dient die beobachtete Praktik vornehmlich dazu, bereits feststehende Einschätzungen zu bestätigen, oder, wie im vorliegenden Fall, so zu korrigieren, dass wieder eine Passung besteht zwischen der Lehrersicht auf einen Schüler und seiner Einstufung.
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3 An den Grenzen des Leistungsprinzips
Die Zeugnisausgaben als rituelle Höhepunkte schulischer Selektionspraxis verweisen in besonderem Maße auf situative Problemlagen von Leistungsbewertung. Einerseits steht die Würdigung der Leistungen des vergangen Schuljahres im Mittelpunkt, andererseits müssen diese Ergebnisse auch pädagogisch bearbeitet werden. Dies wird insbesondere in der Zeugnisausgabe der fünften Klasse deutlich, in welcher die Lehrerin einen hohen Aufwand betreibt, um die Zeugnisausgabe zu einem positiven Ereignis für alle werden zu lassen. Allerdings kann die von ihr gewählte Strategie der Mathematisierung und ‚Umdeutung‘ von Zeugnissen zumindest als fragwürdig charakterisiert werden, vor allem da sie selbst den Schülerinnen und Schülern die guten Leistungen nicht zutraut. In der Zeugnisausgabe der siebten Klasse ist eine derartige Umdeutung nicht mehr möglich. Die vielen schlechten Zeugnisse in der Klasse erzeugen einen hohen Legitimierungsdruck und die gesamte Stunde wird auf den Beweis verwendet, dass das schlechte Abschneiden weder auf die einzelnen Lehrer, noch die Fächer oder den Unterricht zurückzuführen ist, sondern ausschließlich auf Versäumnisse der Schülerinnen und Schüler. Die in der Zeugnisausgabe offensichtlich werdende Defizitorientierung und der pädagogische Pessimismus können als Immunisierungsstrategien der Lehrer gegen schlechte Leistungen der Schülerinnen und Schüler gesehen werden. Zusammenfassend kann an der Sekundarschule von einem problematischen Zusammenspiel von geringer Transparenz in Leistungssituationen bezüglich der Situationsrahmungen sowie der Leistungsanforderung, von früher Festlegung auf feste Leistungsniveaus sowie der Zuschreibung von alleiniger Verantwortlichkeit an die Schülerinnen und Schüler gesprochen werden. Die Rolle der Lehrenden scheint sich in der Sekundarschule auf die Bereiche Erziehung (vor allem über Sanktionen) und Bewertung zu beschränken. Das unterrichtliche Vermittlungshandeln sowie Ansätze zur Förderung, z. B. von Schülern mit Lernschwierigkeiten, scheinen keine große Relevanz zu besitzen. Letztlich werden die Schüler der Sekundarschule auf sich selbst verwiesen, wie auch das Resümee der Englischlehrerin am Schluss der Zeugnisnotenbesprechung am Ende der fünften Klasse aufzeigt: „Aber es liegt an euch. Es liegt nich an mir. Ich mach nächstes Jahr meine Stundenvorbereitung. Aber was ihr aus den Stunden macht, ist dann eure Sache.“
3.4 Leistung und Leistungsvermögen an der Sekundarschule
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3.4 Leistung und Leistungsvermögen an der Sekundarschule – Fallportraits ausgewählter Schülerinnen und Schüler Mit den ethnographischen Fallportraits wird im Folgenden eine etwas andere Perspektive auf die Praxis der Leistungsbewertung in der Sekundarschulklasse eingenommen. In den Fallportraits werden die über zweieinhalb Jahre hinweg erfolgten Beobachtungen verdichtet und auf einzelne ‚Figuren‘ im Feld fokussiert. Am Beispiel ausgewählter Fälle sollen die kollektiven Praktiken in ihrer Entstehung und Entwicklung, vor allem aber auch in ihren Wirkungen veranschaulicht werden. Die hier fokussierten Schülerinnen und Schüler werden in ihrer Klasse unterschiedlichen Leistungspositionen zugeordnet. Sie repräsentieren unterschiedliche Haltungen gegenüber der Leistungsthematik, die sich auch in kontrastierenden individuellen wie gemeinsamen Unterrichtspraktiken widerspiegeln. Unsere Sichtweise kann mit Goffman (1971: 9) folgendermaßen gekennzeichnet werden: „Es geht hier nicht um Menschen und ihre Situationen, sondern eher um Situationen und ihre Menschen.“ Im Zentrum der Analyse stehen also Leistungsbewertungssituationen sowie die sie strukturierenden Praktiken. Personen treten in dieser Perspektive zwar auf, jedoch als Träger von Praktiken und zentrale ‚Figuren‘ im Feld, die über bestimmte Eigenschaften verfügen. Der ‚Fall‘ ist also nicht die personal umgrenzte Handlungseinheit als solche (Person), auch nicht das biographische Gewordensein der Person, sondern der Fall besteht aus einem Set von Praktiken, die mit einer Person verknüpft sind, in einem spezifischen Feld, der Schulklasse. Die Längsschnittperspektive fokussiert Veränderungen innerhalb dieses Sets von Praktiken über den Zeitraum von zwei Jahren hinweg. Die portraitierten Fälle strukturieren das Feld der Sekundarschulklasse. Sie verkörpern markante Positionen und dienen der Bearbeitung situativer Probleme im Unterrichtsalltag. Eine zentrale Position ist diejenige des Klassenbesten, der gute Leistungen und die richtige Einstellung zur Schule hat und somit Lehrern wie Schülern als Vorbild dient. Er verkörpert das im Rahmen der Klasse Mögliche. Die Gegenposition stellt sich als eine Verknüpfung aus geringen kognitiven Kompetenzen und einer mangelhaften Einstellung zu schulischen Anforderungen dar. Zwischen diesen beiden Polen spannt sich das Feld der Schulklasse in die mittleren Positionen mit verschiedenen Abstufungen und Kombinationen der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft auf. Die ausgewählten Fälle können wie folgt charakterisiert werden: Manuel gehört der schmalen Leistungsspitze der Klasse an. Seine leistungsorientierten Praktiken besondern ihn in der Klasse, führen jedoch nicht zu seinem Ausschluss. Manuel beteiligt sich aktiv am Unterrichtsgeschehen und stützt so die Lehrenden; er zeigt als Einziger in der Klasse eine deutliche Orientierung auf
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gute Noten. Hans hat eine mittlere Leistungsposition inne, weist aber starke Schwankungen in seinen Noten auf. Aufgrund sehr guter Leistungen zu Beginn des fünften Schuljahres wird ihm von den Lehrenden ein hohes Leistungsvermögen zugeschrieben, im Zuge sich verschlechternder Noten jedoch unterstellt, die Bedeutung von Schule nur ungenügend anzuerkennen. Elisabeth hat wie Hans eine mittlere, jedoch eher nach unten tendierende Leistungsposition inne; ihr wird ein geringes Leistungsvermögen zugeschrieben. Diese Zuschreibung wird durch ihr ruhiges, im Unterricht zum Teil wenig kooperatives Verhalten gestützt. Der längsschnittliche Blick auf Entstehung und Entwicklung der ‚Figur‘ Elisabeth zeigt verfestigte Lehrererwartungen í (fast) losgelöst von den erreichten Noten. Thomas ist dem unteren Leistungsbereich zuzuordnen. Ihm werden von den Lehrenden geringes Leistungsvermögen und wenig Interesse an Schule und Unterricht zugeschrieben, Entwicklungsmöglichkeiten werden bei ihm kaum thematisiert. Alle vier Fälle zeigen die hohe Relevanz und Wirkungsmächtigkeit der frühzeitigen Einteilung der Schüler anhand ihrer Leistungen für die Praxis der Leistungsbewertung an der Sekundarschule. In Bezug auf Adressierung und Bewertung verhalten sich die Fälle Manuel und Thomas sowie Hans und Elisabeth diametral zueinander – während sich mit Manuel und Elisabeth positive Thematisierungen verbinden, dienen Hans und Thomas eher als warnende Beispiele in Situationen des Tadelns. Im Folgenden werden die vier Fälle anhand ausgewählter Unterrichtssituationen sowie Aussagen aus Interviews in ihrer jeweils spezifischen Ausprägung beschrieben und analysiert. Die Darstellung folgt der Eigenlogik der einzelnen Fälle, orientiert an dem jeweils relevanten Datenmaterial. Abschließend werden fallübergreifend die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Positionen sowie der mit ihnen verknüpften Praktiken herausgearbeitet. 3.4.1 Manuel – Streben nach Schulerfolg Manuel wurde für die eingehendere Betrachtung ausgewählt, da er von Anfang an die Aufmerksamkeit auf sich zog und eine besondere Position in der Klasse zu haben schien. Manuels Züge sind weich, er trägt das Haar etwas länger, der Pony fällt ihm immer wieder ins Gesicht. In den Pausen hält sich Manuel häufig bei den Mädchen auf; er hat jedoch auch männliche Freunde. Er unterscheidet sich von seinen Mitschülern vor allem durch seine beständige Beflissenheit im Unterricht und sein deutliches Streben nach guten Noten. Zudem ist er stets darauf bedacht, sich richtig, also gemäß den Lehrererwartungen, zu verhalten (oder was er seinerseits als Lehrererwartungen ansieht). Manuel verhält sich häufig
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anders als die meisten seiner Mitschüler und nimmt damit eine besondere Position innerhalb der Klassenstruktur ein. Er ist jedoch kein Außenseiter, sondern in die Klasse integriert. So beteiligt er sich an den verschiedenen Pausenaktivitäten der Schüler. Man sieht ihn mit unterschiedlichen Schülern ins Gespräch vertieft, er wird bei Gruppenarbeiten von anderen Schülern gern als Partner gewählt. Nach kleineren Problemen gleich zu Beginn des Schuljahres wird Manuels Verhalten anerkannt und im Verlauf der fünften Klasse kann er seinen Sonderstatus behaupten und aufrechterhalten. Wird Manuels „anders Sein“ vor allem deshalb toleriert, weil er sich an der Leistungsspitze seiner Klasse befindet? Überzeugt er als ‚korrekter‘ Schüler und wird deshalb in seinem Verhalten bestätigt? Im Folgenden wird der Fall Manuel aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, wobei neben Beobachtungsdaten auch Aussagen aus dem mit Manuel in der fünften Klasse geführten Interview eingehen. Manuel in der Klasse Manuel ist sehr gewissenhaft und ordentlich. Er ist bestrebt, ein guter Schüler zu sein und erwartet dies auch von anderen. Dazu gehört für ihn, sich aktiv am Unterricht zu beteiligen, aufmerksam zu sein und nicht zu stören. Im Unterricht kann die Lehrerin oder der Lehrer auf ihn zählen und so wird seine gute Mitarbeit von vielen Lehrern gelobt. Manuel ist mit seinen Noten der Klassenbeste. Allerdings ist Manuel auch kein ‚Superschüler‘. Er schreibt nicht durchweg Einsen, sondern erhält auch Zweien, hin und wieder auch Dreien. Mitunter meldet er sich, ohne den Anforderungen der Lehrer entsprechen zu können. Gerade während der ersten Beobachtungen fiel Manuel dadurch auf, dass er, im Gegensatz zu den meisten anderen Schülern, beim Schreiben einer Arbeit die Möglichkeit von Zusatzpunkten erfragt und bei der Rückgabe von Klassenarbeiten sehr genau nach zusätzlichen Punkten sucht, auch wenn sich an der Note selbst dadurch nichts ändert. Mathematik erstes Halbjahr Klasse fünf Manuel hat doch noch eine richtige Aufgabe gefunden, er geht nach vorn und bekommt einen Punkt mehr. Aber es ändert sich trotzdem nichts an der Note. Kunstunterricht erstes Halbjahr Klasse fünf Manuel prüft seine Arbeit sorgfältig und schaut, ob er noch einen Punkt findet. Hans ruft fröhlich: „Ich krieg ne Fünf!“
Manuels Beflissenheit kann auch zur Störung werden und den Unterricht aufhalten. In der Situation einer Testrückgabe erfolgt vor der eigentlichen Rückgabe einer Biologie-Kurzkontrolle die Besprechung der Aufgaben durch die Lehrerin, wobei durch ihre Wahl des Wortes „Besprechung“ möglicherweise eine falsche Vorstellung bei Manuel entsteht: Die Lehrerin liest kurz die Frage vor und er-
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klärt dann, welche Antwort sie hören wollte. Manuel unterbricht hier den Ablauf, indem er sich durch beständiges Melden an der „Besprechung“ beteiligt. Im Übrigen führt Manuels Bestreben, immer und überall gut mitzuarbeiten, auch hin und wieder dazu, dass er sich meldet, noch bevor die Lehrerin die Frage zu Ende formuliert hat, oder, wie in der folgenden Szene, ohne die Antwort zu kennen. Allerdings ist nicht ersichtlich, ob Manuel die Aufgabenstellung nicht verstanden hat, oder ob sein Melden eher reflexartig ist und er sich erst dann, wenn er aufgerufen wird, die Antwort überlegt. Klassenleiterstunde erstes Halbjahr Klasse fünf Jetzt geht es um Eselsbrücken, die Kinder sollen Beispiele nennen. Manuel meldet sich, kommt dran und beginnt dann mit einer sehr umständlichen Erklärung, was Eselsbrücken sind, wo keine Erklärung, sondern ein Beispiel gesucht war. Es fällt mir schwer, ihm zu folgen. Jedenfalls kann er keine Eselsbrücke nennen und die Lehrerin nimmt jemand anderes dran. Kurz darauf meldet sich Manuel erneut, kann aber auch jetzt kein Beispiel nennen.
Manuel hilft gern anderen und übernimmt dabei auch Aufgaben, die eigentlich zur Lehrerrolle gehören. Er zeigt anderen Schülern Lösungswege (auch wenn sie ihn nicht um Hilfe bitten), informiert sie über die Seitenzahlen, die angesagt wurden oder ermahnt sie, ruhig zu sein. Meistens werden Manuels Hilfestellungen gern angenommen, Belehrungen jedoch ignoriert. Klassenleiterstunde erstes Halbjahr Klasse fünf Es ist noch Pause und Manuel ist mal wieder in seiner Rolle als Ordnungshüter: „Thomas, Felix, bitte auf den Platz setzen.“ Die Jungen reagieren erst nicht, dann antwortet Felix, es hätte noch nicht geklingelt. Thomas geht zu Manuel und umarmt ihn mehrmals freundschaftlich und klopft ihm auf die Schulter. Ich bin sehr erstaunt darüber. Kurze Zeit später klingelt es dann zum Stundenbeginn. Frau Köhler betritt den Raum. Hans: „Jetzt ist Stunde.“
Warum ist die Ethnographin in der zweiten Szene so erstaunt? Weil Thomas Manuel umarmt? Weil er ihn trotz der gerade erfolgten Zurechtweisung freundschaftlich umarmt? Welche Reaktion hätte sie erwartet, wäre normal? Manuel war in diesem Fall überkorrekt, denn in der Pause ist es den Schülern durchaus erlaubt, sich frei im Raum zu bewegen. Aber statt aufzubegehren, geht Thomas auf Manuel zu und umarmt ihn freundschaftlich. Die anderen reagieren zunächst nicht. Hans ist der einzige, der in dieser Szene gegen Manuels Bevormundung Stellung nimmt, aber erst im Nachhinein und eher verhalten. Manuel über sich Im Interview, welches zum Ende des ersten Halbjahres der fünften Klasse durchgeführt wird, gibt Manuel gern Auskunft. Sein einziger Kritikpunkt ist es, dass er
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durch das Interview eine Unterrichtsstunde verpasst80. Er hat sich auf die Schule gefreut und lernt gern. Eigentlich wollte er auf ein Gymnasium gehen, aber das hat leider nicht geklappt (im Interview wird nicht ganz klar, welche Gründe dies hatte). Nach anfänglichen Schwierigkeiten (er wurde gehänselt) kommt er nach eigener Einschätzung in der neuen Klasse gut zurecht und ist mit einigen Schülern (Paul, Klaus, beide Franziskas) befreundet. Mit den Lehrern kommt er gut klar, er findet sie alle gut. Auf die Frage, was die Lehrer wohl von ihm denken antwortet er: Interview erstes Halbjahr Klasse fünf „Pff mh, schwer zu beurteilen (.) manche denken vielleicht ich wäre bisschen zu oberflächlich und manchmal ebent bisschen zu nervig (lacht leicht) und (.) na ja der größte Teil der Lehrer mögen mich eigentlich und denken nichts über eigentlich (.) sie denken ich bin ‘n guter Schüler und (.) ich bin gut in ihren Klassen und deswegen (.) vielleicht na ja vielleicht in vielleicht Sport da könnte ja was sein und (.) na ja un manchma is die geben mir eigentlich auch Ratschläge wie ich das machen könnte und deswegen denke ich eigentlich nicht so, dass die Lehrer über mich schlecht denken.“
Interessant ist, dass Manuel offenbar befürchtet, die Lehrer könnten schlecht über ihn denken. Dabei verschwimmt der Unterschied zwischen schlecht über jemanden denken und von jemandem denken, dass er schlechte Leistungen erbringt. In Manuels Welt erscheinen gute Leistungen gleichbedeutend mit ‚gut sein‘ in einem moralischen Sinn. Gleichzeitig scheint für ihn klar zu sein, dass die Lehrer gute (leistungsstarke) Schüler mögen. Da er ein guter Schüler ist, mögen ihn die meisten Lehrer. Schlechte Noten zu bekommen, heißt dann nicht nur, persönlich zu versagen, sondern auch die Zuneigung der Lehrer zu verlieren. Das wird deutlich am Beispiel Sport. Sport ist das einzige Fach, in dem er zum Halbjahr der Klasse fünf eine Drei auf dem Zeugnis bekommt. Daher vermutet er auch, der Sportlehrer könnte vielleicht schlecht von ihm denken. Problematisch ist das Fach Sport noch aus einem anderen Grund: Manuel hat die Idee der Objektivität von Noten verinnerlicht, sie „bilden das Wissen (von Schülern) ab“. Wenn er nur gut genug lernt, erhält er auch gute Noten. Sport kann jedoch nicht in diesem Sinne ‚gelernt‘ werden. Er bemüht sich, gut in Sport zu sein, aber es gelingt ihm meist nicht. Somit widerspricht das Fach Sport seiner gesamten Einstellung zu Leistung und Leistungsbewertung. Im Verlauf des ersten Halbjahres wird Manuel gemeinsam mit Martina, der Zweitbesten nach ihm, zum Klassensprecher gewählt. Manuel ist stolz auf diese Funktion und erwähnt sie auch mehrfach im Interview. Er fühlt sich wohl in der Rolle als Mittler zwischen Klasse und Lehrer beziehungsweise schulischen Gre80 Das Interview fand einen Tag vor den Halbjahreszeugnissen während einer „LernenLernen“ Stunde statt. Die Lehrerin hat uns darüber informiert, dass kein neuer Stoff vermittelt werden würde, sondern lediglich Bekanntes wiederholt wird. Trotzdem wollte Manuel so wenig wie möglich verpassen.
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mien, weiß auch um die Wichtigkeit der Tätigkeit und versucht, ihr pflichtgetreu nachzukommen. Die Tatsache, dass er die Klassensprecherfunktion innehat, mag zu einer Verfestigung seiner Verhaltensweisen geführt haben, aber sie wurden nicht durch sie hervorgerufen. Manuels Praktiken unterschieden sich bereits zu Beginn unserer Beobachtungen deutlich von der Mehrheit der Klasse. Leistung und Leistungsbewertung Manuel geht gern zur Schule und misst ihr große Bedeutung für seine (berufliche) Zukunft zu. Allerdings hatte er große Angst vor seiner ersten Note in der Grundschule. Als diese sich als Zwei entpuppte, war er positiv überrascht. Seine zweite Note war eine Eins, was ihn zu der Erkenntnis geführt hat, dass Noten doch nicht so schrecklich sind, wie von ihm vermutet und dass man die Noten beeinflussen kann, nämlich durch Lernen. Interview erstes Halbjahr Klasse fünf „Also ich finde die Kernfächer jetzt am wichtigsten, denn sie spiegeln dein Können [fast eigentlich] wider. Also ja man muss ja schon gute Noten ham. Am besten ne Eins oder ne Zwei aufm Zeugnis. Denn Kernfächer sind (..) wie Deutsch, Mathe und Englisch ebent die wichtigsten Fächer von allen.“
Hier zeigt sich seine Übernahme der institutionellen Sicht auf Noten, ohne dass die Relevanzsetzungen begründet werden. Da die Noten aus seiner Sicht das „Können“ abbilden, ist es für Manuel „schrecklich“, wenn er schlechte Noten bekommt, da so seine Kompetenz in Frage stehen könnte. Als schlechte Note gilt für ihn schon eine Drei, die ja an sich befriedigend bedeutet, wie Manuel deutlich macht, aber eben nicht für ihn. Dennoch sieht er auch in schlechten Noten bzw. Fehlern noch etwas Gutes í aus ihnen kann man lernen, es das nächste Mal besser zu machen. Zum Zeitpunkt des Interviews standen die Halbjahreszeugnisse der fünften Klasse kurz bevor. Manuel freute sich nach eigener Aussage erstmals auf das Zeugnis, da er sicher sein kann, dass es gut ausfällt. In der Grundschule wusste er nie, welche Noten er auf dem Zeugnis haben würde und konnte sich vor lauter Ungewissheit nicht nur nicht freuen, sondern hat sich regelrecht vor den Zeugnissen gefürchtet. Das Zeugnis hat etwas Endgültiges für ihn, es lässt sich nicht mehr ändern und schreibt die Person fest. Interview erstes Halbjahr Klasse fünf „(…) das richtige Zeugnis das ist dann ganz gut ausgefallen ich wusste gar nicht wie und (.) und dann wars ja eigentlich doch gut //hm// ich wusste gar nicht wie worauf ich mich eigentlich so (.) Angst hatte oder gefürchtet hatte deswegen (.) //hm// ich fand das irgendwie sch- schlimm eigentlich.“
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Obwohl Manuel vor den ersten Noten und den meisten Zeugnissen Angst hatte, wünscht er sich ein Zeugnis mit Noten, weil sie aussagekräftiger sind als Berichtszeugnisse, welche er in der ersten Klasse erhalten hat. Obwohl auch in Berichtszeugnissen der persönliche Leistungsstand beschrieben werden kann, bevorzugt er die Ziffernnoten. Manuel lernt nach eigener Aussage kontinuierlich jeden Tag und nicht nur für bevorstehende Kurzkontrollen und Klassenarbeiten. Handlungsleitende Vorstellung ist dabei das Ideal des ‚immer gut vorbereitet Seins‘. Dies ermöglicht optimale Passung zu schulischen Erwartungen: gute Mitarbeit im Unterricht, gutes Abschneiden in unangekündigten Tests. Seine Wortwahl zeigt dabei deutlich, dass er sich hierbei an Werten und Normen seiner Umwelt orientiert, die er als verbindlich für alle ansieht und sich selbst zu Eigen gemacht hat. Er geht sogar darüber hinaus und misst dem Lernen an sich í im Vergleich zum Lernen für Klassenarbeiten í einen höheren ethischen Wert zu. Manuel hat hohe ethische Ansprüche an sich und seine Mitmenschen. Er lebt in Imperativen, auf die er auch seine Mitschüler verpflichten möchte. Insgesamt kann gesagt werden, dass die Leistungsbereitschaft und die gezeigten Leistungen Manuels von den Lehrern anerkannt und unterstützt werden. Zeugnisnotenbesprechung Englisch erstes Halbjahr Klasse fünf Lehrerin: „Manuel, du hast nen Durchschnitt von 1,4 und ne Eins.“ Manuel gedehnt: „Jaa.“ Er hat eine Hand vorm Mund und freut sich sichtlich, grinst. Wohlwollendes Gelächter in der Klasse. Lehrerin: „Gut. Ja, er war ja so son bisschen unsicher, Manuel hinterfragt ja sehr Vieles, und er hat sich jetzt sichtbarer jetzt gefreut als Martina, die sich sicherlich auch über ihre Eins gefreut hat, Manuel, wer so eine schöne Arbeit geschrieben hat und wer so fleißig immer lernt, ja, der darf sich auch schon mal ne Eins zutrauen. Traurig wärs gewesen, wenn’s jetzt ne 1,6 oder so gewesen wäre. Is aber ne 1,4 und du bist auch wirklich sehr gut in Englisch.“
Manuel ist auch in dieser Hinsicht ein ‚Vorbild‘ für seine Mitschüler: Er ist nicht nur ein guter Schüler und „lernt immer fleißig“, sondern er freut sich auch angemessen über gute Noten! Manuels Leiden bei schlechten Noten andererseits wird von den anderen Schülern registriert und anerkannt, man fühlt mit ihm mit. Hauptsächlich in den ersten Monaten, aber auch später noch, konnten mitfühlende Gesten und Handlungen beobachtet werden. Zwei Szenen aus verschiedenen Mathematikstunden sollen dies verdeutlichen. Mathematik Anfang Klasse fünf Lehrer: „Manuel – Zwei.“ Manuel nimmt die Arbeit etwas geknickt entgegen. Eins der Mädchen, Franzi, fragt: „Ist das schlimm für dich?“ Manuel: „Ja.“ Er schaut etwas unglücklich. Herr Semper darauf: „Er wollte gern ne Eins, vermute ich mal.“ Mathematik zweites Halbjahr Klasse fünf Lehrer: „So (.) Manuel (.) Hast n schlech hast n gutes oder schlechtes Gefühl?“ Manuel antwortet: „N schlechtes.“ Lehrer: „Jaa, ne Vier“ Manuel wirkt erstarrt – der
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Mund steht offen. Gleichzeitig fassungslose und laute Reaktionen: „Uuuh“, „Oh?“, „Puhh“, und „Manuel?“. Jetzt scheint er um Fassung bemüht, den Mund zusammengekniffen blicken seine Augen unruhig umher. Nicht nur Tina hat sich entsetzt nach ihm umgedreht. […] Manuel geht nach vorn und holt sich die Arbeit ab. Es scheint, als müsste er sich bemühen, nicht zu weinen. Getuschel. Ein Schüler hörbar: „Seine erste bis jetzt.“ Lehrer: „So Tina (...)//Weiterhin Gemurmel und Steve: „Armer Manuel“// das gleiche in grün (...) eine Vier.“ Gemurmel und ein Schüler laut: „Da werd ich auch ne Vier ham.“ (Anna Roch)
Der Lehrer versucht, Manuel auf die schlechte Note einzustimmen. Er erkundet, ob Manuel vielleicht selbst schon mit einer schlechten Note rechnet und bestätigt dann das schlechte Gefühl von Manuel. Die Vier scheint für Manuel trotz seiner Einschätzung, dass es nicht so gut gelaufen ist, ein Schock zu sein. Eine derart schlechte Note hatte er nicht erwartet. Für einen Teil der Klasse ist die schlechte Note offenbar ebenso wie für Manuel ein Schock. Er erhält von verschiedenen Seiten Mitleidsbekundungen. Allerdings scheint neben der Anteilnahme auch das eigene Abschneiden für die einzelnen Schüler von Bedeutung zu sein. Wenn schon Manuel eine Vier erhält, was sollen dann die anderen bekommen? Manuel dient hier also auch als Maßstab für die potentiellen Leistungen der anderen Schüler. Trotz der insgesamt wohlwollenden Haltung Manuel gegenüber kommt es jedoch auch zu Reibereien mit Mitschülern í mit ähnlich guten Schülern im Kampf um die Spitzenposition sowie mit Schülern aus dem unteren Leistungsspektrum ob seines Andersseins. Neben der eben gezeigten Anteilnahme der Klasse hat Manuel auch hin und wieder mit der Schadenfreude seiner Mitschüler zu kämpfen. Diese kommt in den ersten Beobachtungsphasen, zu Beginn der fünften Klasse, fast ausschließlich von Mitschülern aus dem oberen Leistungsdrittel. Englisch erstes Halbjahr Klasse fünf Frau Grimm lässt ein Beispiel von Manuel mündlich lösen, er hat es falsch und Martina lacht etwas hämisch ihr spitzes Lachen. Dann geht es weiter. Geographie erstes Halbjahr Klasse fünf Jetzt wird im Klassenverband gefragt. “Wo mündet die Elbe?” Manuel meldet sich und kommt dran, aber Bremerhaven ist falsch. Mario kommt dran und sagt Cuxhaven. Das ist richtig und Mario dreht sich zu Manuel und streckt ihm die Zunge raus. Dabei schaut er gar nicht freundlich.
Eher störend wirken auf einige Schüler jedoch Manuels Versuche, die anderen ‚zu erziehen‘. Die folgende Szene stammt aus einer Klassenleiterstunde kurz vor Ende des ersten Halbjahres der fünften Klasse, in welcher die Schüler sich gegenseitig Noten für ihr Sozial- und Lernverhalten geben sollten (vgl. Kap. 3.2.2). Klassenleiterstunde erstes Halbjahr Klasse fünf Manuel ist der erste und für sein Sozialverhalten würden ihm Judith und auch Christian eine Drei geben. Judith begründet dies damit, dass sie und Martina Manuel nicht
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leiden können. Frau Köhler unterbricht, denn es geht ja eigentlich nicht darum, ob man jemanden mag. Judith versucht es anders, Manuel würde immer nerven, aber auch das kommt nicht so gut an. In der Klasse scheint es sowohl Zustimmung wie auch Ablehnung zu geben. Manuel soll jetzt auch was dazu sagen. Er setzt etwas umständlich an, ich verstehe es nicht ganz. Irgendwie geht es darum, dass er ihnen bloß helfen will, sagen, was sie falsch machen. Frau Köhler ist auch der Ansicht, dass es nur gut gemeinte Hilfe von Manuel ist, und weiter geht es.
Manuel polarisiert offenbar. Während der Bewertung von Manuels Sozialverhalten gibt es sowohl Zustimmung als auch Ablehnung für Judiths Einschätzung. Trotzdem ist der größte Teil der Klasse schließlich dafür, Manuel ein sehr gutes Sozialverhalten zu bescheinigen, denn hilfsbereit, engagiert und problemlösungsorientiert ist er ja in der Tat. Zu Beginn der sechsten Klasse scheint Manuel in seinen Leistungen leicht abzufallen. Parallel dazu scheinen hämische Bemerkungen zuzunehmen, wenn Manuel Zweien und Dreien erhält. Im Verlauf der sechsten Klasse gerät er zunehmend aus dem Fokus der Ethnographin, was zum einen durch die stärkere Fokussierung auf andere Schüler bedingt war, aber auch mit einer leichten Zurücknahme von Manuel selbst einherging. Manuel kann seine Position an der Leistungsspitze (gemeinsam mit Martina) jedoch aufrechterhalten und wechselt nach der sechsten Klasse auf ein Gymnasium über. Zusammenfassung Manuel nimmt in seiner Klasse eine Sonderposition ein, die sich im Verlauf der fünften Klasse festigt und von den Mitschülern anerkannt wird. Manuel ist deutlich leistungsorientiert und vertritt die schulischen Anforderungen und Erwartungen. Er arbeitet im Unterricht zuverlässig mit und zeigt den Lehrenden an, was in der Klasse möglich ist. Von den Lehrerinnen und Lehreren wird Manuel regelmäßig gelobt und anerkannt und in seinen Praktiken bestätigt. Trotz seiner von den Mitschülern ‚abweichenden‘ Praktiken ist Manuel jedoch in die Klassengemeinschaft integriert und mit einigen Mitschülern eng befreundet. Manuel erfüllt die Lehrererwartungen an ‚gute‘ Schüler hinsichtlich der Kriterien allgemeinen Verhaltens, wie Mitarbeit und Hausaufgabenerfüllung und vor allem der Anerkennung der Bedeutsamkeit von Noten und Schule. Er dient in der Thematisierung von allgemeinen Verhaltenserwartungen als Vorbild und verkörpert zugleich die Möglichkeit des Schulerfolgs an der Sekundarschule.
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3.4.2 Hans – Das Problem des nicht ausgeschöpften Leistungsvermögens Interview erstes Halbjahr Klasse fünf Interviewer: „(...) was denkst du, was die neuen Lehrer so von dir denken wie du so bist in der Schule und-“ Hans: „Am Anfang hat die jedacht Frau (.) Köhler ich bin en guter Schüler //Mhm// und dann hab ich mich jeändert.“ Interviewer: „Du hast dich geändert? //Mhm// (.) Kannste das ma bissch biss beschreiben, was“ Hans: „Naja (.) ich bin (.) also böser geworden (..) seit ich Felix kenne //Hmmhm// (..) und mit ihn mach'ch dann immer dumme Sachen.“ Interviewer: „Hm-mhm (.) im Unterricht oder in der Pause oder?“ Hans: „Naja (.) eigentlich fast immer //°fast immer° mhm// zum Beispiel in (.) Ethik nee in Musik da hammer immer mit Gummis rumgeschossen //Hm-mhm// im Unterricht.“)
Dieser Ausschnitt aus dem Interview mit Hans kurz vor den Halbjahreszeugnissen der Klasse Fünf beinhaltet bereits ein zentrales Thema des Falles Hans, seine ‚Veränderung‘. Die Lehrer der Klasse konstruieren anhand der anfangs von Hans gezeigten Leistungen ein bestimmtes Bild von ihm als leistungsstarkem Schüler, welchem er später nicht gerecht werden kann. Auch ein zweiter Aspekt wird deutlich: Hans verinnerlicht in starkem Maße Fremdzuschreibungen seiner Lehrer. Natürlich fragt der Interviewer nach der Lehrersicht, aber die Antwort von Hans kann so interpretiert werden, dass die Lehrerin von Anfang an von falschen Voraussetzungen ausging. Sie hat lediglich angenommen, dass er ein guter Schüler sei. Dann hat sich jedoch sein Verhalten auch für sie sichtbar geändert. Hans‘ Aussage, er sei „böser geworden“, impliziert, dass er auch vorher schon „ein wenig“ böse war. Die „dummen Sachen“, die er dann als Beleg anführt, rechtfertigen jedoch nicht unbedingt das „böse“ in der Erklärung von Hans. Zur Person Hans ist kleiner als die meisten Mitschüler, sein blondes Haar ist zentimeterkurz geschnitten. Man sieht ihn häufig lachen oder grinsen. Hans tritt nach dem Besuch von zwei verschiedenen Grundschulen mit Beginn der Klasse fünf in die Sekundarschule ein. Er gewinnt schnell neue Freunde und versteht sich mit den meisten Klassenkameraden gut. Seine Einstellung zur Lehrerschaft ist geteilt. Einige Lehrer und Lehrerinnen mag er sehr gern, mit anderen kommt er nicht so gut klar. Zu Beginn der fünften Klasse erbringt Hans gute und sehr gute mündliche und schriftliche Leistungen, er arbeitet im Unterricht mit, ist freundlich und hilfsbereit. Dies resultiert schon nach wenigen Wochen Schulzeit in der Festlegung von Hans als ‚gutem Schüler‘ durch die meisten Lehrer. Schon von Beginn
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der Beobachtungen an zeigt Hans allerdings auch Verhaltensweisen, die nicht direkt mit dem Bild des ‚guten Schülers‘ übereinstimmen: Er ist unruhig im Unterricht und hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, er ruft ungefragt in die Klasse, er schwatzt häufig mit seinen Mitschülern. Dieses Verhalten wird von den Lehrern anfangs toleriert, zumindest nicht problematisiert. Bereits gegen Ende des ersten Halbjahres der fünften Klasse, deutlicher ab dem zweiten Halbjahr der fünften Klasse, differenzieren sich die Leistungen von Hans aus. Er bekommt jetzt häufiger schlechte Noten. Da er jedoch auch weiterhin gute Noten bekommt, handelt es sich bei ihm eher um eine Ausweitung seines Notenspektrums als um ein einheitliches ‚Absacken‘ der Leistungen. Allerdings wird im Zuge dieser Ausdifferenzierung das Verhalten von Hans stärker problematisiert. Hans gerät in den Fokus der Lehrer, durch die intensivere Beobachtung erscheint das ‚abweichende‘ Verhalten von Hans noch deutlicher. Es erfolgt eine Umdeutung seines Verhaltens durch die Lehrer. Wurde es anfangs nicht besonders thematisiert, so wird ihm nun Erklärungskraft für die sich verschlechternden Noten zugesprochen. Im Verlauf des sechsten Schuljahres verschärft sich die Situation. Hans steht unter Beobachtung und erfährt regelmäßig Zuschreibungen von Devianz. Seine Noten verschlechtern sich. Trotz der Verschlechterungen der Noten von Hans schafft er nach der sechsten Klasse den Übergang zum Realschulzweig der Sekundarschule. Durch die Fusionierung der Sekundarschule ist dieser Übergang mit einem weiteren Schulwechsel verbunden. An der neuen Schule findet er sich ohne seine engsten Freunde in einer neu zusammengestellten Klasse mit überwiegend neuen Lehrern wieder. Der Schulwechsel ist für Hans Risiko und Chance zugleich. Nach dem ersten Halbjahr in der siebten Klasse sieht es so aus, als hätte Hans den Schulwechsel positiv nutzen können. Er konnte seine Leistungen teilweise verbessern (in Mathematik gehört er zu den Besten der Klasse). Hans hat zwar auch in der neuen Klasse eine prominente Stellung inne, die mit ihm verbundenen Zuschreibungen sind jedoch positiver. Materialauswahl und Vorgehen Insgesamt zeigen unsere Beobachtungen, dass Hans im Unterricht durch alle beobachteten Lehrer in besonderer Weise thematisiert wird. Besonders auffällig ist dies jedoch bei der Englischlehrerin, weshalb ihre Stunden im Zentrum der Analyse stehen. Die Figur Hans – seine Noten und sein Verhalten – stellt augenscheinlich ein Problem für ihre Handlungspraxis dar, an dem sie sich fast zwei Jahre lang abarbeitet. Anhand der vier beobachteten Zeugnisnotenbesprechungen im Fach Englisch soll die Entfaltung und Zuspitzung der Problematik, die sich mit Hans verbindet, längsschnittlich analysiert werden. Diese Zeugnisnotenbe-
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sprechungen finden halbjährlich wenige Tage vor der Zeugnisausgabe statt und dienen der ‚Selbsteinschätzung‘ der Schüler (siehe Kapitel 3.3.3). Diese Situationen bieten sich für die Thematisierung grundlegender Probleme aufgrund ihrer herausgehobenen Bedeutung an, die sie vom ‚normalen‘ Unterricht unterscheiden. Die erste Zeugnisnotenbesprechung zum Halbjahr der fünften Klasse verläuft folgendermaßen: Es werden in einem ersten Durchlauf alle Schülerinnen und Schüler nach ihrer Selbsteinschätzung bezüglich der erreichten Zeugnisnote gefragt und erst nachdem alle eine Note genannt haben, werden die Noten in einem zweiten Durchlauf von der Lehrerin ‚besprochen‘. Englisch erstes Halbjahr Klasse fünf í Erster Teil der Besprechung Alle Schüler sollen die Note nennen, die sie ihrer Meinung nach bekommen. Lehrerin: „Hans!“ Hans: „Zwei.“ Lehrerin „Aha. Hast geguckt. (Gelächter in der Klasse) Richtig. Warum denkst du, dass du ne Zwei hast?“ Hans „Weil ich mich manchmal zu Felix hinter dreh.“ „Sonst hättest du ne Eins, denkst du?“ Hans: (leise) „Nee.“ Lehrerin: „Gut. Und du denkst, es ist ne Zwei, weil du denkst, du kannst gut Englisch.“ Hans macht leise ein zustimmendes Geräusch. Lehrerin: „Gut.“ Danach ist Klaus an der Reihe.
Was ist diesem ersten Teil der Zeugnisnotenbesprechung zu entnehmen? Hans antwortet prompt und in sicherem Tonfall (nicht fragend) mit einer Note, was bei der Lehrerin zur Unterstellung des ‚Schummelns‘ von Hans im ‚Notenratespiel‘ führt. Offenbar hat er diese Note tatsächlich erreicht, was auch durch das „Richtig“ der Lehrerin bestätigt wird. Allerdings geht es nicht nur um das Nennen einer Note, sondern í zumindest im Fall Hans í auch um die Begründung dieser Note. Seine Begründung bezieht sich auf sein ‚fehlerhaftes‘ Verhalten und impliziert, dass seine Note sogar besser hätte ausfallen können. Diese Andeutung wird bei der direkten Thematisierung durch die Lehrerin jedoch wieder zurückgenommen. Englisch erstes Halbjahr Klasse fünf í Zweiter Teil der Zeugnisnotenbesprechung Lehrerin: „Hans, du hast ne 2,0 und ne ganz bodenständige Zwei, Hans, was mir nicht gefällt, ich kann mich in letzter Zeit nicht mehr auf dich verlassen, du bist nicht mehr zuverlässig, ja, das heißt, es ist möglich, dass diese Zwei ne Drei wird, wenn du nicht mehr so weitermachst wie am Anfang. Am Anfang war ich von dir begeistert, aber jetzt muss ich sagen, mal krank, mal da, mal nicht da, mal am schwatzen, mal am was anderes machen oder so, Hans, nicht nachlassen.“
Obwohl Hans mit dieser ‚sicheren‘ Zwei ein gutes Ergebnis erzielt hat, wird im Anschluss sein Verhalten problematisiert und zwar – das wird im Beispiel sehr deutlich – vor dem Hintergrund der Erwartungen der Lehrerin. Diese war anfangs „begeistert“ von Hans und äußerst nun ihr Missfallen angesichts der Veränderungen, sich nicht mehr auf ihn verlassen zu können, was genau das jedoch bedeutet bleibt unklar.
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Es kann also festgehalten werden, dass Hans bereits zum Ende des ersten Schulhalbjahres die Erwartungen, die sein früheres Verhalten geweckt hat, aus Sicht der Lehrerin nicht mehr erfüllt. Interessant ist hier, dass das geänderte Verhalten direkt mit einem möglichen Leistungsabfall in Verbindung gebracht wird. Schauen wir für die weitere Entwicklung auf die Zeugnisnotenbesprechung ein halbes Jahr später. Englisch Zeugnisnotenbesprechung zweites Halbjahr Klasse fünf Lehrerin: „Hans.“ Hans: „Ne Fünf.“ Lehrerin: „Eine Fünf. Warum schätzt du ein, dass du ne Fünf hast, Hans.“ Hans: „Weil-“ Die Lehrerin fällt ihm ins Wort: „Weil das cool klingt und weil jetzt alle lachen und zu dir gucken.“ Hans grinst ein wenig. „So, warum denkst du, dass du ne Fünf hast?" Hans: „Na, weil ich jetzt schlechtere Noten bekomme." Hans will noch irgendwas sagen, aber Frau Grimm hat schon wieder das Wort ergriffen. „Hmhm. Und deine letzten vier Noten hießen Eins, Eins, Vier, Zwei. Ja.“ Einige Schüler lachen leise. „Also manchmal hab ich das Gefühl, du kriegst sowieso nich mit, was um dich herum (.) vor sich geht. Du bist (.) [umtägig] du bist wie son Kreisel, den man aufgezogen hat und der sich ewig ewig ewig weiterdreht. Wie oft in der Stunde sag ‚ich bitte halt still‘, ‚bitte hör auf‘, ‚bitte dreh dich nach vorn‘, ‚bitte [unverständl. ein Wort]‘. Wie oft in der Stunde widme ich dir Zeit, die ich zum Beispiel Klaus nie widme. Wie oft in der Stunde muss ich reden, obwohls nich notwendig is.“ Hans antwortet etwas, das ich nicht verstehe. Frau Grimm „Du hasts nich verstanden?“ Hans leise: „Nein.“ Lehrerin: „Schade, Hans, du hast ne Zwei.“ Hans beginnt sofort erfreut zu grinsen. „Du hast aber ne Zwei mit ner ganz starken Tendenz zur Drei. Es fehlt eigentlich nur noch so ein zwei Zehntel bis zur Drei. Du hast die Zwei noch gerettet, weil du im ersten Halbjahr richtig gut warst.“
Im Gegensatz zur ersten Besprechung schätzt sich Hans deutlich schlechter ein. Dies kann zum einen tatsächlich als Koketterie bzw. Ironisierung gedeutet werden, verweist jedoch auch auf den Zusammenhang von Verhalten und Leistung an der Sekundarschule, der für Hans von dieser Lehrerin bereits hergestellt wurde. Im weiteren Verlauf werden das Ausmaß der Kontrolle durch die Lehrerin und die große Aufmerksamkeit, die ihm und seinem Verhalten gewidmet wird, also die stetigen Versuche der Verhaltensnormierung, deutlich. Zudem besteht ein Widerspruch zwischen dem Zurückweisen der ‚schlechten Noten‘ durch die Lehrerin und ihrem Argument, Hans hätte die Zwei durch das gute erste Halbjahr gerettet, was ja eine Verschlechterung der Noten impliziert. Interessant ist darüber hinaus das Referenzbeispiel Klaus. Dieser erhält schlechtere Noten als Hans, ihm wird jedoch laut Lehrerin weniger Aufmerksamkeit geschenkt, zum einen, weil seine Leistungen recht stabil im Bereich Drei liegen, womit er scheinbar das ihm zugeschriebene Leistungsvermögen ausschöpft, zum anderen ist aber auch sein Verhalten im Unterricht weniger auffällig und thematisierbar. Schauen wir nun auf die erste Zeugnisnotenbesprechung in der sechsten Klasse. Englisch Zeugnisnotenbesprechung erstes Halbjahr Klasse sechs Lehrerin: „Hans.“ Hans: „Fünf minus?“ (Klasse lacht) Lehrerin: „So und jetzt noch mal, Hans“ Hans: „Mh, ne Vier?“ Lehrerin: „Hm, warum?“ Hans: „Weil ich störe?“
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Lehrerin: „Das ist ne Sache, die ich mit dir anders auswerten muss, das heißt, n Schüler, der stört, bekommt ne Sechs, wenn er andere Schüler zum Beispiel ganz bewusst in ner Leistungskontrolle beeinflusst, so dass derjenige ne schlechte Note bekommen müsste, das musst ich dir noch nicht geben. Aber, was machst `n noch, außer stören?“ Hans, etwas vernuschelt: „Nicht lernen, (dann deutlicher) nich lernen?“ Lehrerin: „Nich lernen, was noch?“ Hans: „Nich aufpassen?“ Lehrerin: „Du lenkst dich ab, du lenkst dich ab, du guckst zu Max, zu Steffen, du versuchst zu Felix zu gucken, mit allen möglichen Leuten Kontakt aufzunehmen, als du hier vorne gesessen hast und als das noch ging, dass du hier vorne sitzen konntest, ja, da muss ich dir ganz ehrlich sagen, da hatt ich dich schneller (.) dran, um dir jetzt zu sagen, ‚guck hier hin‘, ‚guck hier hin‘, ‚guck hier hin‘, mittlerweile müsstest dus kennen. Du bist n schlaues Kerlchen und das weißt du, könntest genauso wie die andern jetzt auf 1,5 hier stehen81. Wenn du wolltest, aber du willst nicht richtig, du hast tausend andere Dinge zu tun. Dadurch ist es auch nur ne Drei Hans.“ Sobald die Lehrerin „Drei“ sagt, beginnt Hans erfreut zu grinsen und sagt in triumphierendem Ton: „Yeah!“ noch in den Satz der Lehrerin hinein. Die Lehrerin weiter: „Durchschnitt von 2,5, nö, gefällt mir überhaupt nicht.“
In dieser Zeugnisnotenbesprechung schätzt sich Hans mit „Fünf Minus“ noch schlechter als zum Ende der fünften Klasse ein. Dies kann jedoch als Zeichen eines ironisierenden Umgangs mit der Situation der öffentlichen Notenbesprechung gesehen werden, vor allem, wenn eher schlechte Noten antizipiert werden. Hier wird nun der Zusammenhang zwischen der erwarteten Note und dem Verhalten noch prägnanter. Tatsächlich gibt es an dieser Sekundarschule für „Stören“, also das Verhalten, auch Noten. Wie gezeigt werden konnte, sieht sich Hans beständig Kontrollversuchen und Disziplinierungen ausgesetzt, welche oftmals in direkten Zusammenhang mit seinen sich verschlechternden Noten gestellt werden. Hier zeigt sich zudem eine Besonderheit der Notenbesprechung an der Sekundarschule, die auf die Legitimierung der Noten durch die Schüler selbst abzielt. Die Schüler sind nicht nur aufgefordert, sich selbst eine Note zu erteilen, sondern diese auch noch angemessen (aus Sicht der Lehrerin) zu begründen. Somit sollen sie die Verantwortung für ihre Note übernehmen. Das ‚Verhör‘ der Lehrerin zielt offenbar auf das Bekennen des ‚falschen‘ Verhaltens durch Hans selbst. Aufgrund der Argumentation der Lehrerin scheint eine schlechte Note sehr wahrscheinlich, wie sie wohl auch Hans antizipiert hatte. Daher ist seine Freude angesichts der Drei durchaus verständlich, auch wenn sie die Lehrerin nicht gutheißen kann. Die Anerkennung der Bedeutung dieser Note, welche eine Verschlechterung darstellt, steht hier auf dem Spiel. Zudem wird durch den Durchschnitt von 2,5 ein Handlungsspielraum für die Lehrerin eröffnet, sowohl die bessere als auch die schlechtere Note zu erteilen (siehe auch Kap. 3.3.2).
81 Diese Aussage bezieht sich auf die Notenstände von Manuel und Martina, die beide einen Notendurchschnitt von 1,5 erreicht haben.
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Diese Möglichkeit wird jedoch nicht thematisiert, sondern die Drei automatisch gesetzt. Die letzte Zeugnisnotenbesprechung in dieser Klasse im zweiten Halbjahr der sechsten Klasse kann hier nicht in Gänze vorgestellt und besprochen werden, da sich die Thematisierung von Hans über die gesamte Stunde erstreckte. Die Situation läuft in ihren Grundzügen wie die bereits analysierten Szenen ab, jedoch kann von einer deutlichen Zuspitzung gesprochen werden, ein Kampf um die Anerkennung der Bedeutsamkeit der Situation sowie der Noten entbrennt. Zeugnisnotenbesprechung zweites Halbjahr Klasse sechs Frau Grimm: „Wolln wir doch mal gucken was Hans hat. Was schätzte denn als Leistung ein, Hans?“ Alle Kinder schauen jetzt zu Hans. „Hm, Vier (leicht fragend)“ „Gut, warum?“ – „Viel gestört.“ Der Ton ist leicht fragend, dazu schaut Hans mit leicht gesenktem Kopf nach oben und strahlt die Lehrerin an. „Hans, für vieles Stören hast du eine Leistung von mir bekommen, weil du ganz bewusst ne Leistungskontrolle gestört hast, da hab ich mich einmal dazu herab lassen oder herab gelassen, dir die Note Sechs zu erteilen, nicht jede Stunde. Wie schätzt du denn deine Leistungen ein, was du kannst.“ Hans antwortet nicht, er schaut sich schnell um. „Nich zu den andern gucken und nich rumkaspern, versuch doch jetzt einmal ernst zu bleiben.“ Noch in den Satz der Lehrerin hinein meint er: „Nichts.“ – „Du kannst nichts? Dann brauchen wir das Gespräch auch eigentlich nich weiter zu führen. Dann lässte dich einfach vom Zeugnis überraschen, was de für ‘ne Note bekommst. (.) Oder bringst hier mal ‘ne vernünftige Sache zustande und gibst mir jetzt mal ‘nen ordentlichen Satz zu hören. (..) Du [zu Paul], guck doch einfach mal nach vorn, der will dir- du den anguckst, denkt der, der muss rumkaspern oder der darf nich mehr dein Freund sein.“ Sie wirkt genervt. Hans sagt noch immer nichts, einige Schüler lachen. „Wie schätzt du dein Leistungsvermögen ein? Das, was Hans Meier eigentlich als Note haben könnte.“ Bei der Nennung von Hans’ Nachnamen ruft ein Schüler: „Müller!“ Die Lehrerin erstaunt: „Heeßt der jetzt Müller, haste jeheiratet? Ach, du heeßt jetzt Müller. Bei mir steht noch Meier. Seit wann heißt du Müller?“ Hans zuckt mit den Schultern, einige Schüler lachen. „Du weißt nicht, wann deine Eltern geheiratet haben? Wann hat denn Herr Müller Frau Meier geheiratet?“ Keine Antwort von Hans. Statt dessen 21 Sekunden Pause, in denen nur vereinzelt Schüler leise lachen. „Hans, ich warte immer noch (.) du bist nicht in der Lage, mir einen vernünftigen Satz zu geben. (8 sec) Dann warteste einfach aufs Zeugnis, ja. Dann hab ich jetzt nämlich auch keine Lust.“
Sehr eng mit der Anerkennung der Bedeutung der Noten verbunden ist das pädagogische Anliegen, welches die Lehrerin mit den Besprechungen verknüpft. Es geht nicht nur um die Legitimierung der Note als ‚objektiv‘ und ‚gerecht‘, sondern die Lehrerin will darüber hinaus noch mehr. Das Mittel der Selbsteinschätzung der Schüler dient hier der Aufdeckung und Anerkennung des eigenen Fehlverhaltens. Offenbar misst die Lehrerin der Selbsteinschätzung von Hans besondere Bedeutung bei. Gleichzeitig stellt sie ihn unter Verdacht, dieser besonderen Situation nicht den erforderlichen Ernst entgegen zu bringen, was die Situation zusätzlich problematisiert. Hans gehört zu den wenigen Schülern, die von der Lehrerin nicht auf ein eindeutiges Leistungsniveau festgelegt werden kann.
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Orientiert sie sich weiterhin an der frühen Einteilung auf eine sehr gute Leistungsposition, so deuten seine aktuellen Noten an, dass er sein Leistungsvermögen nicht ausschöpft í er könnte bessere Noten haben, wenn er nur wollte. Dieses Ärgernis des nicht ausgeschöpften Leistungsvermögens macht das pädagogische Anliegen der Lehrerin besonders dringlich. Und hier treffen zwei Probleme zusammen, welche ein drittes produzieren – die Überforderung von Hans in der Situation. Das Problematische an der Situation, die mit den verschiedenen und zum Teil widersprüchlichen Anliegen der Lehrerin überlastet ist, kann nicht aufgelöst werden; sie misslingt. Doch auch im Misslingen behält die Lehrerin die Macht, Hans zu bestrafen, indem sie ihm die Zeugnisnote vorenthält und so als Siegerin aus der Situation hervor geht. Zusammenfassung Hans nimmt eine zentrale Position in der Sekundarschulklasse ein. Er erhält sehr viel Aufmerksamkeit durch die Lehrer und an und mit ihm werden stellvertretend klassenspezifische Probleme wie z. B. die Anerkennung der Bedeutung von Noten bearbeitet. Worin genau liegt die Problematik des Falles Hans im Feld? Hans kann von den Lehrenden nicht eindeutig festgelegt werden und generiert damit eine Unsicherheit, die bearbeitet werden muss, um aufgelöst zu werden. Seine sehr guten Leistungen zu Beginn der fünften Klasse82 lassen bei ihm ein höheres Leistungspotenzial vermuten, welches er in der Folge nur selten auszuschöpfen scheint. Die Englischlehrerin identifiziert als Ursache für den Leistungsabfall eine unzureichende Einstellung der Schule gegenüber, welche sich auch in seinem unangepassten Verhalten spiegelt. Die beobachteten Kontrollund Disziplinierungspraktiken zielen also gleichermaßen auf eine Verhaltensnormierung und eine Einstellungsänderung bei Hans, um ihn so zur Ausschöpfung seines Potenzials zu bewegen. 3.4.3 Elisabeth – Die überraschend gute Fünferkandidatin Elisabeth ist ein mittelgroßes Mädchen mit brünetten langen Haaren. Sie wirkt offen und freundlich und trägt zu Beginn der Beobachtungen meist rote Kleidung oder Pastelltöne. Während der ersten Beobachtung fällt Elisabeth nicht besonders auf – sie unterscheidet sich kaum von den anderen Mädchen der Klasse. Allerdings ist die erste Beobachtung eine besondere Situation insofern, da (mit 82 Diese können auch keiner Eingewöhnungszeit in die Schulform zugerechnet werden, in der die Lehrer milder bewerten, da derartige Praktiken an der Sekundarschule weder beobachtet noch in irgendeiner Weise thematisiert wurden.
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Ausnahme von Manuel) nur die Mädchen der Klasse anwesend sind und eine sehr offene und entspannte Atmosphäre herrscht. Während dieser ersten Beobachtung meldet sie sich mehrmals während des von der Lehrerin geleiteten Unterrichtsgespräches (es ist eine Stunde Kunstunterricht), sie versucht zwei Mitschülerinnen auszuhelfen, die ihre Malutensilien vergessen haben und unterhält sich hin und wieder mit ihrer Banknachbarin. Später widmet sie sich intensiv der Weiterentwicklung ihres Bildes. Erst durch die nächsten Beobachtungen wurde ein Unterschied in Elisabeths Verhalten deutlich: Zum einen die freundliche und gesprächige Elisabeth in der ersten beobachteten Stunde und in den Pausen, zum anderen eine stille, z. T. geradezu erstarrte oder verschüchterte Elisabeth in bestimmten (Leitungs-)situationen im Unterricht. Elisabeth ist das dritte von vier Geschwistern. Ihre beiden älteren Schwestern besuchen die Sekundarschule bereits, als sie in die fünfte Klasse eintritt. Beide gehören in ihren jeweiligen Klassen zur Leistungsspitze, während Elisabeth eher im (unteren) Mittelfeld (je nach Fach) verortet werden kann. Was macht Elisabeth interessant für die Analyse von Leistungsbewertungspraktiken? Auffällig erscheint die Differenz zwischen dem Leistungsvermögen, welches Elisabeth von den Lehrern zugeschrieben wird, und ihren Noten, die häufig deutlich besser ausfallen als aufgrund der Lehreräußerungen zu vermuten wäre. Dies kann insbesondere bei der Englischlehrerin beobachtet werden, ist aber nicht auf diese beschränkt. Das Bild der Lehrer von Elisabeth scheint also nicht vorrangig durch die Noten geprägt zu sein, die sie im Unterricht erhält. Wodurch ist das Bild geprägt? Zentrale Themen im Feld sind das Verhalten von Elisabeth sowie ihre Leistungen im Vergleich zu ihren Schwestern. Auf beiden Ebenen schneidet sie im Vergleich zu ihren Schwestern schlechter ab. Sie ist ruhiger, wirkt weniger engagiert und zieht sich z. T. aus dem Unterrichtsgeschehen zurück. Andererseits erhält sie schlechtere Noten als ihre Schwestern. Im Folgenden wird zunächst das Verhalten von Elisabeth in verschiedenen Unterrichtssituationen dargestellt. Daran anschließend liegt der Fokus auf Lehreräußerungen über Elisabeth. In einem dritten Schritt werden drei Auszüge aus Zeugnisnotenbesprechungen im Fach Englisch analysiert und längsschnittlich betrachtet. Elisabeth im Unterricht Zunächst werden zwei Situationen näher betrachtet, die Elisabeths Verhalten im Unterricht veranschaulichen. Der erste Protokollausschnitt entstammt der dritten Beobachtung in der Klasse überhaupt, zu Beginn der fünften Klasse, im Englischunterricht. Im Rahmen eines Wettbewerbes, dem so genannten „Vokabelspiel“, werden zwei Gruppen von Schülern gebildet, die gegeneinander antreten.
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Für beide Gruppen steht je eine Reihe Vokabeln an der Tafel, die richtig aus dem Deutschen ins Englische übersetzt werden sollen und das möglichst schnell. Zwei Schüler werden von der Lehrerin als Gruppenleiter gewählt und dürfen beginnen, dann wird die Kreide in der Gruppe durchgereicht. Dabei geht es nach der Sitzordnung – von vorn nach hinten. Vokabelspiel Englisch Anfang Klasse fünf Die Gruppenleiter Christian und Hans dürfen sich als erste eine Vokabel auswählen, diese übersetzen und anschreiben und dann die Kreide weiter reichen. Das klappt auch gut, bis Elisabeth (in der Gruppe von Christian) an die Reihe kommt. Es stehen noch diverse Vokabeln zur Wahl. Elisabeth bleibt sitzen, schaut ausdruckslos. Nichts passiert. Es nimmt auch niemand anders die Kreide. Die andere Gruppe schreibt fleißig weiter. Frau Grimm erkundigt sich, was mit der Gruppe los sei, man zeigt auf Elisabeth – sie sei dran. Warum Elisabeth nicht an die Tafel geht, möchte Frau Grimm nun wissen. Elisabeth sagt kein Wort. Dann soll halt jemand anders gehen, fordert die Lehrerin. Jetzt reagieren die restlichen Mitglieder der Gruppe, einer schnappt die Kreide und geht schnell zur Tafel, um den Rückstand doch noch aufzuholen, denn die andere Gruppe führt inzwischen deutlich.
Was passiert hier? Das Spiel scheint soweit bekannt zu sein und funktioniert selbstläufig, bis Elisabeth an der Reihe ist. Sie verweigert sich der Situation (indem sie nichts tut), ohne jedoch Auskunft über ihre Beweggründe zu geben. Interessant ist in der Situation, dass auch die anderen Kinder nicht reagieren – niemand redet auf Elisabeth ein. Sie wird jedoch auch nicht ‚übergangen‘, indem ein anderer an ihrer Stelle zur Kreide greift und an die Tafel geht. Nicht nur Elisabeth ist erstarrt, auch die Situation kommt dadurch ins Stocken. Die sich anschließende Intervention der Lehrerin bleibt in Bezug auf Elisabeth ergebnislos, resultiert aber in der Fortführung des Spiels. Neben der Verweigerung von Elisabeth ist bemerkenswert, dass ihr Verhalten in der Situation nicht kritisiert oder angegriffen wird (weder von der Lehrerin noch von den Mitschülern), obwohl dadurch die Gruppe in Rückstand gerät und letzten Endes im Wettkampf unterliegt. Ist dieses Verhalten bereits bekannt, für Elisabeth typisch (nach so kurzer Zeit in der neuen Klasse) und daher nicht mehr diskussionsbedürftig? Schauen wir eine weitere Situation an. Testrückgabe Mathematik Anfang Klasse fünf Im Mathematikunterricht werden Tests zurückgegeben. Der Lehrer nennt jeweils die erreichte Note, dann holen sich die Schüler ihren Test vorn am Lehrertisch ab. Nacheinander gehen die Schüler nach vorn, um ihre Arbeiten beim Lehrer abzuholen. Elisabeth hat eine Zwei, weil sie sich verrechnet hat, sonst hätte sie sogar eine Eins bekommen, erklärt Herr Semper. Der Lehrer wartet mit der Arbeit in der Hand vorn am Lehrertisch. Elisabeth reagiert nicht, sondern schaut nur, irgendwie ausdruckslos. Sie muss erneut angesprochen werden, dann geht sie nach vorn und nimmt ihre Arbeit entgegen.
Ebenso wie beim Vokabelspiel kommt die Situation ins Stocken, hervorgerufen durch das Ausbleiben einer Reaktion von Elisabeth. In beiden Fällen geht es
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darum, nach vorn, an die Tafel bzw. den Lehrertisch, zu treten. In beiden Fällen scheint sich Elisabeth der öffentlichen Aufmerksamkeit, die damit verbunden ist, entziehen zu wollen, verursacht dadurch aber gerade eine erhöhte Aufmerksamkeit ihrer Person gegenüber. Ihr Verhalten, zunächst stoisch, dann aber sich schicksalsergeben fügend, scheint der Maxime ‚Nichts tun und abwarten, bis die Situation vorbei ist‘ zu folgen. Diese Praktik funktioniert im Unterricht durchaus, da ein Lehrer nicht ewig warten kann, bis ein Schüler reagiert, aber es klappt nicht in jeder Situation. Während sie in der ersten Szene erfolgreich ist, insofern sie vom Gang an die Tafel befreit wird, fügt sie sich in der zweiten Szene in ihr ‚Schicksal‘, bleibt ‚stoisch‘, hier im Sinne einer praktischen Bearbeitung von für sie krisenhaften Unterrichtssituationen. Das heißt, es wäre zu unterscheiden zwischen der tatsächlichen Gleichgültigkeit gegenüber der Situation und dem Versuch, die Situation dadurch zu bearbeiten, dass man sich ihr entzieht. Dabei entzieht Elisabeth sich nicht dem Unterricht insgesamt, sondern nur den für sie potentiell bedrohlichen Situationen – denjenigen, bei denen sie im Mittelpunkt des Geschehens steht. Dass Elisabeth Klassenarbeiten und Noten keineswegs emotionslos gegenüber steht, wird im Interview deutlich, welches vor den Halbjahreszeugnissen der fünften Klasse mit ihr geführt wurde. Interview Elisabeth erstes Halbjahr Klasse fünf Interviewer: „Sind Noten äh, wie soll ich´s denn sagen, wie wichtig sind´n dir Noten?“ Elisabeth: „Sehr wichtig, weil ich will ja, also ich will gute Noten, aber wenn ich dann schlechte Noten habe-“ Interviewer: „Hm, dann ist das wahrscheinlich nicht so gut.“ Elisabeth: „Nee, manchmal hass ich Noten, wenn ich schlechte hab oder so.“
Auf die Frage nach der Wichtigkeit der Noten formuliert Elisabeth den Wunsch nach guten Noten, um jedoch sogleich die Situation von schlechten Noten zu thematisieren und dies mit starker emotionaler Prägung. Elisabeth aus der Sicht der Lehrenden Zur Veranschaulichung der Ausgangssituation von Elisabeth in der neuen Schule wird ein Feldinterview präsentiert, welches die Ethnographin wenige Wochen nach Schulbeginn mit der Englischlehrerin geführt hat. Feldinterview 1 Frau Grimm Anfang Klasse fünf Ich war dieses Mal nicht zur Hofpause draußen, sondern habe mich nach dem Unterricht noch kurz mit Frau Grimm unterhalten, z. B. über Elisabeth und erfahre, dass deren ältere Schwester in der Klasse von Frau Grimm die Klassenbeste ist und Elisabeth … Sie lässt den Satz offen, aber ihr Gesichtsausdruck ist eindeutig – hoffnungslos! Woran es liegt, weiß Frau Grimm auch nicht, aber irgendwie vermittelt sie den Eindruck, dass Elisabeth selbst schuld sein muss, jedenfalls gäbe es keine medizinischen
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oder psychischen Erklärungen für ihr Verhalten. Frau Grimm erzählt, dass Elisabeths Mutter bereits nach Gründen für das deutlich schlechtere Abschneiden der Jüngeren gesucht habe, aber wohl ohne Ergebnis. Mit Expertenmine fügt sie hinzu, dass Elisabeth jedenfalls keine LRS (Lese-Rechtschreib-Schwäche) habe.
Elisabeth ist offenbar eine der Schülerinnen, über die man spricht: Die Ethnographin spricht mit der Lehrerin über sie, die Lehrerin hat bereits Informationen mit Elisabeths Mutter ausgetauscht. Elisabeth ist also innerhalb des Feldes aufgefallen, sie ist zum ‚Fall‘ geworden. Sie sticht also bereits zu einem frühen Zeitpunkt aus der Gruppe der Schüler hervor. Interessant ist nun, dass von der Lehrerin zunächst gar nicht Bezug auf Elisabeth, sondern auf deren ältere Schwester genommen wird. Erst vor dem Hintergrund des Vergleichs wird Elisabeth für die Lehrerin interessant. Dabei verbalisiert sie ihr Urteil („hoffnungslos“) über Elisabeth nicht, sondern vermittelt es stattdessen nonverbal, jedoch nicht weniger eindeutig. Die Ethnographin überführt es jedenfalls problemlos in Sprache. Dieses Nichtaussprechen lässt einerseits Raum für eigene Interpretationen und dramatisiert das Phänomen dadurch, andererseits könnte sich ein Tabu damit verbinden, unzureichendes Schülerpotential zu einem so frühen Zeitpunkt zu explizieren und damit auch zu fixieren. Es lässt sich jedoch festhalten, dass das Auftreten von Elisabeth (ihr Verhalten und ihre Leistungen) problematisiert und durch die Differenz zur Schwester erklärungsbedürftig wird und zwar derart, dass bereits nach medizinischen und psychischen Erklärungen gesucht wurde. Dabei schließen die präsentierten Erklärungsansätze von vornherein Ursachen wie das Elternhaus oder schlechten Unterricht der Lehrerin aus. So stehen Mutter und Lehrerin als Verbündete Elisabeth gegenüber. Bereits wenige Wochen nach Schulbeginn ist die Lage von Elisabeth also durch zwei Eckpunkte gekennzeichnet: Dies ist zum einen der Vergleich mit den älteren Geschwistern, der zu Elisabeths Ungunsten ausfällt, und zum anderen die Zuschreibung von Eigenverantwortlichkeit an Elisabeth, ihr Verhalten und ihre Schulleistungen betreffend. Darüber hinaus knüpft sich ein weiterer Aspekt an die ‚Figur‘ Elisabeth – die Unterschätzung Elisabeths Leistungsfähigkeit durch die Lehrkräfte, welche sich in der Überraschung angesichts Elisabeths ‚guter‘ Noten zeigt, wie im folgenden Transkript der ersten Zeugnisausgabe in der fünften Klasse offensichtlich wird. Zeugnisausgabe erstes Halbjahr Klasse fünf Frau Köhler: „So (.) Elisabeth (.) ähm (.) das (.) äh ich hab noch ma extra nachgeguckt ob ich mich äh geirrt habe (.) aber ich hatte mich nicht geirrt. Zwei Zweien fünf (.) äh zwei Einsen fünf Zweien (.) drei Dreien eine Vier Durchschnitt Zwei Komma Zwei (Beifall, ca. 6 sec. übertönt die Lehrerin) so.“
Die einleitende Rahmung der Klassenlehrerin vor der Bekanntgabe der Noten zeigt ihre Irritation angesichts der wohl unerwartet guten Noten Elisabeths und die hohe Bedeutung, welche die Absicherung ihrer Korrektheit einnimmt („noch
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ma“, „extra“, „aber ich hatte mich nicht geirrt“). Warum die Lehrerin angesichts der Zeugnisnoten einen Irrtum vermutet wird jedoch nicht thematisiert und ebenso wenig erfolgt die Würdigung des offenbar guten Zeugnisses von Elisabeth durch die Lehrerin – ganz im Gegensatz zur Klasse, die ihrerseits die Leistung anerkennt. Der folgende Ausschnitt aus einem Feldinterview mit der Englischlehrerin zum Ende der fünften Klasse zeigt die Kontinuität der Positionierung Elisabeths durch diese Lehrerin im Verlauf des Schuljahres auf, ungeachtet der guten Noten, die Elisabeth zwischenzeitlich erreicht hat. Feldinterview 2 Frau Grimm Ende Klasse fünf Während ich in der Freistunde die Noten „meiner Klasse“ abschreibe, macht Frau Grimm die Noten für eine andere Klasse (ihre eigene?) fertig. Hin und wieder sage ich etwas, nur um etwas zu sagen, z. T. wundere ich mich ein wenig über die Noten, über Elisabeths Zwei zum Beispiel. Frau Grimm nickt: „Unsere Fünferkandidatin.“ Sie war selbst überrascht, aber Elli hat es mit ganz, ganz viel Fleiß, denn es gab ja eine Menge Fleißarbeiten im zweites Halbjahr, auf eine Zwei geschafft.
Hier zeigt sich erneut die Überraschung einer Lehrerin angesichts einer guten Zeugnisnote für Elisabeth. Allerdings führt die erreichte Note nicht zu einer Neupositionierung Elisabeths. Die bereits zu Beginn der fünften Klasse vorgenommene Einteilung als „Fünferkandidatin“ bleibt bestehen. Dies lässt sich auch an der von der Lehrerin herangezogenen Erklärung für die Diskrepanz zwischen zugeschriebener Leistungsposition und erreichter Zeugnisnote zeigen: Es waren Elisabeths Fleiß und die Ermöglichung von „Fleißarbeiten“ durch die Lehrerin, welche zum überraschenden Ergebnis geführt haben und nicht Elisabeths Leistungsfähigkeit. In der Formulierung „Unsere Fünferkandidatin“ zeigt sich zudem die kollektive Verortung der Position Elisabeths in der Schulklasse. Das Feld der Schulklasse strukturiert sich durch die vergebenen Positionen, welche bereits existieren und denen einzelne Schülerinnen und Schüler zugeordnet werden und damit zu Typen oder ‚Figuren‘ werden. Diese ‚Figuren‘ erfüllen im Rahmen der Leistungsbewertung in der Schulklasse je spezifische Funktionen. Die Funktionalität der Figur Elisabeth soll im Folgenden anhand der Zeugnisnotenbesprechungen im Englisch-Unterricht herausgearbeitet werden. Zeugnisnotenbesprechungen in Englisch Englisch Zeugnisnotenbesprechung erstes Halbjahr Klasse fünf Nach der Erklärung der Zusammensetzung der Zeugnisnoten geht es mit dem ersten Durchlauf los. Alle Schüler sollen die Note nennen, die sie ihrer Meinung nach bekommen. Die Lehrerin beginnt laut Klassenbuch mit Sonja: „Gut. Sonja, was glaubst du denn, was du in diesem Halbjahr für eine Note erreicht hast?“ […] „So, Elisabeth“ Elisabeth: „Ne Vier.“ Dabei schaut sie etwas schüchtern-fragend. Frau Grimm: „Denkst, ist ne Vier.“ Elisabeth „Ja.“ – „Ja. Warum?“ Elisabeth: „Weil ich nicht so
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gut in Englisch war …“ Frau Grimm nickt und meint: „Na gut.“ Dann geht es mit Judith weiter. Nachdem alle Schüler und Schülerinnen in dieser Weise eine Note genannt haben, erfolgt die Bekanntgabe und Besprechung der Noten durch die Lehrerin. Frau Grimm: „Elli hat ganz großes Glück, die hat nämlich 2,4, und das ist eine Zwei. (Max neben mir macht „wow“ und lächelt kurz etwas schüchtern.) Du hast nämlich, das ist dir nur nicht aufgefallen, am Anfang große Probleme gehabt, da haben wir noch viele Kurzkontrollen geschrieben, aber als es jetzt um Fleißarbeiten und sich Vorbereiten ging, überleg mal, wie oft du dich in letzter Zeit freiwillig gemeldet hast, weil du was wusstest. Es hat sich gelohnt, Elli. Vorsicht, die Tendenz zur Drei ist da. Ja? Also war viel Glück auch mit dabei.“
Offenbar dient die Zeugnisnotenbesprechung in zwei Durchgängen, statt einem einzigen, der Spannungssteigerung in der Klasse und damit auch dem Halten der Aufmerksamkeit. Zudem findet innerhalb der Besprechung von Elisabeth eine zusätzliche Dramatisierung statt. Elisabeth verortet sich im unteren Notenbereich und signalisiert durch den fragenden Ton Unsicherheit um die erreichte Note. Insgesamt vermittelt sie, bezogen auf das Fach, den Eindruck von geringem Leistungsvertrauen. Sie scheint integriert in den Zuschreibungsprozess, fügt sich in die für sie vorgesehene Position, die im Nachfragen der Lehrerin noch einmal herausgearbeitet und erst von Elisabeth, dann noch einmal von der Lehrerin bestätigt wird. Sie verkörpert ihre Leistungsposition („Fünferkandidatin“, siehe oben) und bietet so die Grundlage für die weiteren Ausführungen der Lehrerin. Man kann also von einem funktionalen Zusammenhang zwischen der Notennennung und der sich anschließenden Inszenierung sprechen. Angesichts der tatsächlich von Elisabeth erreichten Note fungiert die eher beiläufige Antwort der Lehrerin auf deren Selbsteinschätzung als retardierendes Moment. Von der Überraschung, die im Anschluss folgt (im zweiten Durchlauf), ist hier noch keine Rede. Die Notenbesprechung der Lehrerin im zweiten Durchlauf ist dann durch das Glück gerahmt, welches Elisabeth zugeschrieben wird. Bezugsgröße ist hier also der Zufall und der sogar in gesteigerter Form, denn Elisabeth hat nicht nur einfaches Glück, sondern „ganz großes“ – also eine mehrfache Steigerung des Glücks. So wird ihr Eigenanteil an der Note, ihre Leistung, verschleiert. Auch in der folgenden Argumentation, Elisabeths verändertes Verhalten betreffend – fleißig sein, sich vorbereiten und freiwillig melden – bleibt die kognitive Leistung außen vor. Dabei wird Elisabeth noch zusätzlich das Bewusstsein anfänglicher Schwierigkeiten abgesprochen und sie so der Klassenöffentlichkeit als unmündig und wenig kompetent in eigenen Belangen präsentiert. Dies dramatisiert die Notenbesprechung und erhöht so das vermeintliche Glück Elisabeths ein weiteres Mal. Der Höhepunkt des Geschehens kann in der Aussage „Es hat sich gelohnt, Elli“ gesehen werden. Richtiges Verhalten wird in der Schule mit guten Noten belohnt. Die direkte Adressierung der Schülerin dient der Aufmerksam-
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keitssteigerung. Unmittelbar darauf folgt die Thematisierung des drohenden Leistungsabfalls und somit die Warnung, sich nicht auf der guten Note, dem bisher Erreichten, ‚auszuruhen‘. Die abschließende Coda betont dann noch einmal das Glück der Elisabeth, welches zusätzlich durch das „viel“ ein weiteres Mal gesteigert wird und durch die prominente Stellung am Ende möglicherweise das Element ist, welches im Gedächtnis verbleibt. Weshalb werden jedoch zwei widersprüchliche Begründungsfiguren bemüht – das Glück, welches man nicht beeinflussen kann und die verdiente Belohnung durch Fleiß? Die Argumentation der Lehrerin ist inkonsistent, folgt aber wohl doch einer Logik. Die Lehrerin beginnt die Besprechung mit dem Glück, welches eine nicht unübliche Argumentation darstellt, die nichtsdestotrotz in Bezug auf Noten und Leistung wenn nicht unsinnig, so doch kontraproduktiv ist. Die Schule lebt von der Vorstellung, dass es gute Noten für gute Leistungen gibt und sie eben nicht dem Glück zu verdanken sind. Wäre es so, dann wäre ja keine Anstrengung auf Schülerseiten mehr vonnöten. Im Anschluss ändert die Lehrerin dann auch die Argumentationsrichtung, die ihren Höhepunkt in der Bestätigung der Leistungsideologie findet („es hat sich gelohnt“). Offenbar reicht diese Begründung jedoch nicht aus, denn der ursprüngliche Ansatz (Glück) setzt sich in der Coda wieder durch. Dieses changieren zwischen den Argumentationen erinnert an eine Kippfigur, in der man je nach Blickrichtung zwei verschiedene Dinge sehen kann, jedoch nicht beide auf einmal. Warum reicht das Rekurrieren auf Fleiß nicht aus, sondern muss um das Glück ergänzt werden, von dem die Lehrerin scheinbar nicht los kommt? Die Differenz zwischen der Zuschreibung als „Fünferkandidatin“ und der tatsächlich erreichten Note Zwei erweist sich als zu groß, um sie lediglich mit Glück oder mit Fleiß erklären zu können, so bringt die Lehrerin beide ins Spiel, in einer schrägen, sich scheinbar summierenden Form. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass in dieser Zeugnisnotenbesprechung die kognitive Leistung von Elisabeth nicht thematisiert wird. Es geht gerade nicht um Fähigkeiten und Kenntnisse der Schülerin im Fach, als vielmehr um Anstrengung, Mitarbeit und Glück. In der nächsten Zeugnisnotenbesprechung, ein halbes Jahr später, wird erneut auf die Anfangsprobleme von Elisabeth rekurriert und die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Englisch Zeugnisnotenbesprechung zweites Halbjahr Klasse fünf Lehrerin: „Elisabeth. Hat deine Schwester geschwatzt? Hat sie's dir verraten?“ Elisabeth schüttelt den Kopf: „Mh-mh.“ Lehrerin: „Gut, deine Schwester weiß, was du hast. Was schätzte?“ Elisabeth in fragendem Ton: „Drei?“ Frau Grimm: „Weißt du noch mit welcher Note du angefangen hast? Mit welchen Noten?“ Elisabeth: „Na, mit Fünfen.“ Lehrerin: „Fünfen, na. Ähm, Elisabeth hat ne Zwei Komma Fünf. (Christian schaut anerkennend) Und aufgrund- eben! Und aufgrund dessen, dass Elisabeth sich äh, auch ganz gut gesteigert hat, muss ich jetzt sagen in ihrem Mut, ist ne Zwei vollends angemessen. Find ich schön, is ne Zwei.“ Elisabeth hört aufmerksam zu, sie be-
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ginnt zu lächeln, als sie hört, dass sie eine Zwei bekommt. Franzi stupst sie erfreut an und lächelt, Elisabeth lächelt zurück. „Und die is nich nur erarbeitet durch Basteln und Kneten, sondern eben auch, dass du mutiger geworden bist und in letzter Zeit dann manchmal so wenn keiner sich- naja, dann meld ich mich mal und dann wars eben doch richtig oder zumindest der richtige Ansatz. Schön.“ Frau Grimm schaut Elisabeth noch einmal freundlich an.
Was hier zunächst auffällt, ist die Thematisierung von Elisabeths Schwester gleich zu Beginn der Notenbesprechung. Welche Rolle spielt diese? Sie erscheint als Verbündete der Lehrerin und wird als Wissende konstruiert, während Elisabeth sich als Unwissende (bezüglich der Zeugnisnote) erweist. Es handelt sich somit um ein asymmetrisches Verhältnis der Geschwister. Warum Elisabeths Schwester von deren Zeugnisnote bereits vorher weiß, bleibt hier unklar. Dabei wird durch die Thematisierung der Schwester zusätzlich Spannung aufgebaut und das Geschehen dramatisiert. Elisabeths Antwort hinsichtlich der Selbsteinschätzung wird scheinbar keine Beachtung geschenkt. Stattdessen wird im Zuge der Dramatisierung und zudem als Bezugspunkt der zu erzählenden Geschichte der Rückbezug auf die Anfangsschwierigkeiten Elisabeths im Fach Englisch genommen, der dieses Mal von Elisabeth selbst erbracht werden muss. Elisabeth muss sich also klassenöffentlich zu ihren schlechten Noten vom Anfang bekennen, damit die Lehrerin dann umso eindrucksvoller, aufgrund der größeren Differenz von „Fünf“ zu „Zwei“ gegenüber „Drei“ zu „Zwei“, den aktuellen Notendurchschnitt, an die gesamte Klasse gerichtet, verkünden kann. Die Argumentation, mit der die Zwei gerahmt wird, bezieht sich dann wiederum ausschließlich auf Elisabeths Verhalten – allein die Steigerung des Mutes lässt die Entscheidung für die Note Zwei als „vollends angemessen“ erscheinen. Die Thematisierung der eigenen Befindlichkeit der Lehrerin bezüglich der Note bzw. des Elisabeth zugeschriebenen Verhaltens kann als zusätzliche Belohnung für Elisabeth gelesen werden. Dabei verblüfft es, dass auch in der anschließenden Begründung die kognitive Leistung von Elisabeth ebenso wie ihre Investition in Schule (Lernen, Unterrichtsvorbereitung) außen vor bleiben. „Basteln und Kneten“ erinnern stark an den Kindergarten oder zumindest an kleinere Kinder und haben auf den ersten Blick wenig mit dem Fach Englisch zu tun. Dann erfolgt ein weiteres Mal der Bezug auf den Mut, die Lehrerin versetzt sich gar in Elisabeth hinein und ‚spricht mit ihrer Stimme‘, im Sinne von unterstellten Handlungsmotivationen bei Elisabeth. Es werden also ähnliche Verhaltensweisen wie bei der ersten Zeugnisnotenbesprechung positiv hervorgehoben, mit der wichtigen Ergänzung um Mut, der sich jedoch auch in der ersten Zeugnisnotenbesprechung im „freiwillig Melden“ angedeutet hat. Durch den Rückbezug auf die Anfangsschwierigkeiten gelingt es der Lehrerin also auch dieses Mal, eine positive Geschichte mit einem guten Ausgang zu erzählen – wer mutig ist, der wird mit guten Noten belohnt. Wäre der Bezugspunkt der Argumentation die Note auf dem Halbjah-
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reszeugnis der Klasse fünf – eine Zwei in Englisch mit einem Durchschnitt von 2,4 – gewesen, hätte die Lehrerin stattdessen einen etwa gleich bleibenden Stand oder sogar einen geringfügigen Leistungsabfall thematisieren müssen und der Mut hätte nicht in der erfolgten Form gewürdigt werden können. Mit der nächsten Szene springen wir zur letzten beobachteten Zeugnisnotenbesprechung bei dieser Lehrerin, am Ende des zweiten Halbjahres der sechsten Klasse. Diese Besprechung weist eine Besonderheit auf, insofern die Lehrerin die Klasse aufgrund einer Schulfusion abgeben wird und die Schüler somit nicht auf ihrem weiteren Weg durch die Institution Schule begleitet. Dies scheint die Situation dahingehend zu modifizieren, dass hier einigen Schülern in stärkerem Maße pädagogische Hinweise und Ratschläge auf den Weg gegeben werden als in den früheren Zeugnisnotenbesprechungen. Englisch Zeugnisnotenbesprechung zweites Halbjahr Klasse sechs Lehrerin: „So, dann ham wir Elli. Elli hat (.) ähm, sich ganz dolle anjestrengt und da würde ich jetzt gerne mal wissen, voriges Jahr warste ja völlig verzweifelt immer, was denkste denn, wie de dich dieses Jahr einschätzt?“ Elisabeth: „Drei“ Frau Grimm: „Ne Drei, haste gerechnet, oder hast gesagt, ich bin jetzt so, dass ich ne Drei schaffe?“ Ich kann Elli nicht genau verstehen, aber sie hat wohl nicht gerechnet. Lehrerin: „Also, es is nen Durchschnitt von 3,2 Elli. Du bist natürlich viel sicherer geworden, es ist nicht mehr so, dass dann du ganz dolle gelernt hast oder du hast nen bisschen System reinbekommen, was bei dir noch dazu kommt, deine Schwestern sind ja viel stolzer als du. Die biste aber nächstes Jahr beide los //Ja// Ja? Und dass du dann die Elli bist, die selber groß und stark und und wissend ist und dass du dann noch mehr Zuvertrauenwenn ich dich gefragt habe, Elli, was hast du denn? [die Lehrerin macht eine leise piepsige Stimme nach, aber nicht verständlich] dann kam oftmals die richtige Antwort, erinnerst du dich?// Ja// Ja, viel zu leise oder so. Einfach, dass du sagst, jetzt bin ich aus dem Schatten meiner Schwestern rausgetreten, die sind jetzt nich mehr, kein Lehrer misst mich mehr an denen, ja, denn du hast ja dort auch nen Haufen neue Lehrer an der neuen Schule und da denkt keiner, ach das ist doch die Schwester von Susanna oder so und setzt vielleicht auch die Erwartungshaltung ganz anders an, ja. Und dann haste die Zeit zu beweisen, dass Elli Töpfer auch ganz schön Dampf machen kann, ja.“ Tobias lacht auf. Frau Grimm macht weiter: „Gut. Also die Drei mit nem guten Gewissen.“
Was sich in der zweiten Notenbesprechung bereits andeutet, wird hier vollends schräg. Auch in dieser Besprechung wird noch einmal die gleiche Geschichte von der Leistungsverbesserung erzählt. Alle wesentlichen Elemente sind enthalten: 1) Die Anfangsschwierigkeiten bzw. Fünfen, die hier in der Zuschreibung von Verzweiflung münden. 2) Die im Vergleich dazu doch gute Note. 3) Lob des Fleißes und des Mutes als Begründung für die gute Note. Die tatsächliche Notenentwicklung von Elisabeth bleibt dabei ausgeblendet. Abgesehen von der zugrunde liegenden (bekannten) Geschichte bietet diese Besprechung jedoch auch Erweiterungen. Die übergreifende Argumentationsfigur in der Besprechung zielt auf das gute Gewissen der Lehrerin. Das gute Gewissen ist der Lehrerin schon deshalb wichtig, da sie in ihrer Rede andeutet, in
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ihrer Erwartungshaltung durch die Leistungen der (leistungsstarken) Schwestern beeinflusst gewesen zu sein. Mit anderen Worten – Elisabeth hatte bei ihr (an dieser Schule) keine faire Chance. Die Aussicht auf eine faire Chance an der neuen Schule wird deshalb von der Lehrerin hier schon vorweggenommen – sie beschreibt in der ersten Person Singular wie diese neue Situation für Elisabeth aussehen wird – „jetzt bin ich aus dem Schatten meiner Schwestern rausgetreten, die sind jetzt nich mehr, kein Lehrer misst mich mehr an denen“ und schafft es auf diese Weise, ihr Gewissen zu beruhigen. – Sie hat zwar selbst Elisabeth nicht immer fair behandeln können, hat ihr aber zumindest das ‚Rüstzeug‘ für die Emanzipation mit auf den Weg gegeben. Dies alles kann nur funktionieren, wenn die tatsächliche Notenentwicklung von Elisabeth ausgeblendet wird. Denn entgegen einer Geschichte der Leistungssteigerung, „ich bin jetzt so, dass ich ne Drei schaffe“ í dies umschreibt ja einen Aufstieg von mindestens Vier auf Drei í müsste die Geschichte einer Leistungsverschlechterung erzählt werden (von Zwei auf Drei). In allen drei hier gezeigten Zeugnisnotenbesprechungen werden kognitive Fähigkeiten oder Kenntnisse der Schülerin nicht thematisiert. Von Bedeutung ist lediglich das Verhalten von Elisabeth, vor allem aber ihr Mut. Die Geschichte, welche die Lehrerin hier erzählt, ist die der Emanzipation Elisabeths. Die Problematik von Elisabeth ist aus Lehrersicht eine doppelte: Sie erbringt schlechtere Leistungen als ihre Schwestern und ist viel schüchterner als diese. Egal welche Leistung Elisabeth erbringt und wie mutig sie auch zukünftig sein wird, so gut wie ihre Schwestern wird sie nie. Es handelt sich hier um eine Geschwisterproblematik, die spezifisch für den Fall ist. Einerseits steht Elisabeth im Vergleich mit ihren Schwestern schlechter da, andererseits wird sie aber gerade aufgrund der guten Leistungen ihrer Schwestern nicht gänzlich abgeschrieben, da sie aus der gleichen Familie stammen und Elisabeth sicher noch Potential hat. Dieses Problem ist jedoch ein von den Lehrern konstruiertes und an die Schülerin herangetragenes. Zusammenfassung Was zeigt uns die Betrachtung des Falles Elisabeth im Längsschnitt? Deutlichstes Ergebnis ist die Stabilität von Zuschreibungen in der Schulklasse, eine Entwicklung findet gerade nicht statt. Die ‚Geschichte‘, die die Lehrerin bei jeder Zeugnisnotenbesprechung aufs Neue erzählt, zeigt sich unbeeinflusst von den tatsächlichen Entwicklungen der Noten. Ebenso ändern sich Elisabeths Praktiken nur graduell, was es der Lehrerin zusätzlich ermöglicht, an der erzählten Geschichte festzuhalten. Sehr stilles Verhalten (vgl. Meier 2004), wie es Elisabeth zeigt, bietet der Lehrerin mehr Möglichkeiten der eigenen Projektion, gerade vor dem Hintergrund anfänglich schlechter Noten. Die Fünfen bzw. Anfangsschwie-
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rigkeiten müssen den Eindruck der Lehrerin von Elisabeths Leistungsvermögen so nachhaltig geprägt haben, dass sie über Jahre hinweg beständiger Bezugspunkt bleiben und die tatsächliche Entwicklung der Noten ausgeblendet wird. Ein solches Lehrerverhalten macht nur dann Sinn, wenn man von einem unveränderbaren Leistungsvermögen ausgeht. Alles, was jenseits dieses Vermögens der Bearbeitung verfügbar ist, ist das Verhalten des Schülers. Die Zuschreibungen können also stabil bleiben, weil das Leistungsvermögen als an sich konstant konstruiert wird. Durch den Vergleich mit ihren Schwestern werden an Elisabeth von Beginn an Erwartungshaltungen herangetragen, denen sie scheinbar nicht entspricht. Der Vergleichsmaßstab der Schulklasse wird also um die Geschwister ergänzt. Nicht zuletzt aufgrund des Vergleichs wird Elisabeth auf eine Leistungsposition festgelegt und diese Position anhand der Erklärungsdimensionen Leistungsvermögen (gering), Verhalten (Mut) und Leistungsbereitschaft (Fleiß, Melden) begründet. Die Differenz zu den in Englisch tatsächlich erreichten Zeugnisnoten wird über Hilfskonstruktionen wie „Glück“ bearbeitet. Die häufige Bezugnahme auf die Schwestern sowie der beständige Vergleich mit ihnen durch die Lehrpersonen in Situationen, in denen eigentlich Elisabeth thematisiert wird, kann als fehlende Anerkennung Elisabeths als eigenständige Person sowie ihres Lern- und Leistungsstandes und ihrer kognitiven Fähigkeiten gedeutet werden. Darüber hinaus scheint der Fall Elisabeth jedoch noch eine zentrale Funktion für das Feld der Schulklasse zu erfüllen. Wofür braucht die Lehrerin diejenige Elisabeth, die sie immer wieder in ihrer Geschichte konstruiert? Die Figur Elisabeth verkörpert eine positive Entwicklung. Mit dieser Figur kann eine gute Botschaft verbunden werden – die Belohnung von Anstrengung (Fleiß) und richtigem Verhalten (Mut) auch bei weniger guten Voraussetzungen, z. B. geringen kognitiven Kompetenzen. Damit könnte sie als die typische und sogar ‚erwünschte‘ Figur in der Sekundarschule angesehen werden. Elisabeth verkörpert die Schülerin, für die die Sekundarschule da ist. 3.4.4 Thomas – Ein hoffnungsloser Fall? Thomas ist etwas größer als die meisten anderen Schüler, er ist schlank, seine dunklen Haare trägt er modisch frisiert, dazu Kleidung im Hip-Hop-Stil. Er ist freundlich – so begrüßt Thomas die Ethnographin regelmäßig herzlich mit Namen und winkt dazu. Im Unterricht sitzt er häufig auf einer der hinteren Bänke und ohne einen Banknachbarn (die Sitzordnung wechselt je nach Fach und wird in den meisten Fällen von den Lehrkräften festgelegt). Begründet wird dies von den Lehrenden meist damit, dass Thomas sich selbst sehr schnell ablenken lasse,
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bzw. andere Mitschüler ablenkt. Seine Beteiligung am Unterrichtsgeschehen ist deutlich interessegebunden. So arbeitet er in Mathematik hin und wieder mit Freude mit, hält sich in den anderen Fächern aber meist zurück. Zu Beginn des fünften Schuljahres war Thomas Klassensprecher, bereits im Verlauf des ersten Schulhalbjahres wurde ihm dieses Amt entzogen und auf Manuel übertragen. In den Pausen beteiligt sich Thomas aktiv an verschiedenen Spielen im Kreis seiner durchweg männlichen Freundesgruppe. Thomas ist am unteren Ende des Leistungsspektrums positioniert, er hat bereits in der Grundschule eine Klasse wiederholt, was allen Lehrern sowie den Schülern bekannt ist. Nach der sechsten Klasse wird er dem Hauptschulzweig der Schule zugeordnet. Thomas drängt sich der Beobachtung im Feld nicht zwangsläufig auf. Es gibt zentralere Figuren im Feld, die deutlich häufiger thematisiert werden, z. B. Hans oder Manuel. Dazu kommt, dass durch häufige Fehltage weniger Beobachtungsdaten über ihn vorliegen. Auch zum Zeitpunkt der Interviews war Thomas erkrankt, so dass wir seine Perspektive auf das Unterrichtsgeschehen nicht rekonstruieren können. Dass Thomas dennoch als zentraler Fall ausgewählt wurde, liegt in der Art und Weise seiner Thematisierung im Feld. Es konnten spezifische Praktiken Thomas betreffend beobachtet werden, das bedeutet, dass in vergleichbaren Situationen andere ‚Problemlösungen‘ als bei anderen Schülern gewählt wurden. Das Fallportrait zeigt einen Schüler, der von Anfang an von den Lehrkräften abgeschrieben wurde und daher keine Förderung erhält. Dabei sind die Begründungsfiguren je nach Situation unterschiedlich. Zum einen werden seine schlechten Leistungen auf geringe Anstrengung bzw. Nicht-Anerkennen der Bedeutung von Schule zurückgeführt. Zum anderen wird ihm ein geringes Leistungsvermögen zugeschrieben. Praktiken der Leistungsbewertung Im Folgenden werden anhand mehrerer Szenen aus dem Unterrichtsalltag der Sekundarschule, die über einem Zeitraum von fast zwei Jahren beobachtet werden konnten, die für den Fall Thomas spezifischen Praktiken beschrieben und analysiert. Begonnen wird mit zwei Szenen, die während der ersten bzw. zweiten Beobachtung der gesamten Klasse stattfanden83. Englisch Anfang Klasse fünf Die Lehrerin Frau Grimm möchte mit dem Unterricht beginnen. Das Workbook (Arbeitsheft) soll aufgeschlagen werden. Frau Grimm wendet sich an Thomas, der noch nicht so weit ist: „Thomas, wir warten auf dich!“ Thomas sucht noch etwas in seinem 83 Auch wenn die erste Szene bereits in Kapitel 2.3.2 betrachtet wurde, wird sie hier erneut heran gezogen, da sie der Veranschaulichung kontrastierender Lehrerpraktiken im Umgang mit verschiedenen Schülern dient.
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Rucksack. Frau Grimm: „Hast du keins?“ Thomas erklärt, dass er sein Buch vergessen hat und wird dafür gerügt. Frau Grimm meint, er sei selbst schuld, wenn er am Ende des Schuljahres kein Englisch könne. Das liegt dann nicht an ihr, der Lehrerin, sondern daran, dass er seine Materialien nicht dabei habe. Felix, der vor Thomas sitzt, bietet an, Thomas mit in sein Buch schauen zu lassen, aber Frau Grimm meint, dies sei nicht möglich, da in das Workbook geschrieben wird. Während die anderen mit den Übungsaufgaben beginnen, muss Thomas allein auf seiner Bank sitzen bleiben und kann so nicht mitarbeiten, da er auch keine anderen Aufgaben von der Lehrerin bekommt. […] Es klingelt, die Schüler stürmen zur Tür hinaus. Frau Grimm erkundigt sich, wer das Klassenbuch mitnimmt, aber Thomas, der Verantwortliche, ist schon los. Frau Grimm wendet sich etwas empört an die neben dem Lehrertisch stehenden Schüler: „Wie könnt ihr denn das machen, dem Thomas das Klassenbuch anvertrauen. Der vergisst doch alles!“ Tina nickt: „Stimmt, der vergisst immer alles.“ Englisch Anfang Klasse fünf Jetzt sollen die Arbeitshefte geöffnet werden. Felix hat keins mit, er darf sich zu Mario setzen. Ich warte auf eine Strafpredigt, Thomas ist das letzte Mal für das gleiche „Vergehen“ heftig gerügt worden, aber sie bleibt aus. Wie genau die Zusammenarbeit erfolgt, ist mir nicht klar, denn in den Arbeitsheften werden die (vorgedruckten) Aufgaben direkt bearbeitet. Wechseln sich die beiden mit dem Schreiben ab?
Was ist diesen Beispielen zu entnehmen? Die Ethnographin beobachtet zwei unterschiedliche Handhabungen eines scheinbar gleichen Handlungsproblems (vergessenes Arbeitsheft). Während der Schüler im einen Fall für das Vergessen des Arbeitsheftes nicht nur gerügt wird, sondern darüber hinaus am Arbeiten gehindert wird, wird das Verhalten des anderen Schülers mit keinem Wort problematisiert; es wird eine schnelle und pragmatische Lösung gefunden, eine Rüge erfolgt nicht. Dies irritiert die Ethnographin, die von einer gewissen Regelmäßigkeit und Kontinuität der Praktiken ausgeht. Doch es ist nicht nur die unterschiedliche Handhabung des Problems, sondern die Rahmung der Situation im ersten Beispiel. Das Vergessen des Arbeitsmaterials wird direkt mit schlechten Leistungen in Englisch, genauer mit dem Nicht-Beherrschen der englischen Sprache in Verbindung gesetzt, wobei das Eine aus dem Anderen geschlussfolgert wird. Zudem findet eine Zuschreibung personeller Verantwortung statt. Die Lehrerin lehnt bereits zu diesem frühen Zeitpunkt die Verantwortung für die schlechten Leistungen dieses Schülers ab. Verantwortlich ist allein der Schüler durch sein nicht schulkonformes Verhalten. Welchen Sinn könnte diese Praktik der erzwungenen Nichtbeschäftigung haben? Der Schüler wird zunächst besondert und aus der gemeinsamen Tätigkeit der Klassengemeinschaft ausgeschlossen. Eine Beschäftigung mit dem Unterrichtsstoff wird erschwert. Auf lange Sicht unterstützt diese Strategie, sollten keine Gegenbewegungen von Seiten des Schülers bzw. anderer Personen wie Lehrer oder der Eltern stattfinden, vermutlich das Eintreten der Prognose schlechter Leistungen im Fach Englisch.
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Wie sind jedoch die unterschiedlichen Praktiken bezüglich der Schüler Thomas und Felix zu deuten? Dabei ergibt der Blick auf die zweite Szene im ersten Beispiel („Klassenbuch“) bereits Hinweise für die frühzeitige Stigmatisierung innerhalb der Klasse. Es kann also davon ausgegangen werden, dass das Vergessen des Arbeitsheftes durch Thomas nicht das gleiche Problem darstellt wie das Vergessen des Arbeitsheftes durch Felix. Basierend auf den Beobachtungen der ersten drei bis vier Wochen Unterricht ist Thomas bereits auf eine Position festgelegt: Ihm wird ein geringes Leistungsvermögen zugeschrieben, sein Verhalten wird als wenig leistungsorientiert interpretiert, er gilt als unzuverlässig und erkennt die Bedeutung, den Ernst von Schule nicht an. Auf den Punkt gebracht könnte Thomas’ Thematisierung im Feld wie folgt beschrieben werden: ein ‚hoffnungsloser Fall‘. Warum hoffnungslos? Die Teilnehmer der Praxis Leistungsbewertung agieren mit unterschiedlichen Argumentationsfiguren84 bezüglich schlechter Schülerleistungen (gute Noten sind in den meisten Fällen nicht erklärungsbedürftig). Es gibt zunächst drei zentrale Bezugspunkte zur Begründung schlechter Schülerleistungen (siehe auch Verkuyten 2000): 1) Das Leistungsvermögen (Fähigkeit), 2) Anstrengung für bzw. Investition in schulische Belange, 3) das gezeigte Verhalten generell. Üblicherweise gibt es unterschiedliche Kombinationen, wobei das Leistungsvermögen und die Anstrengung die zentralen Punkte darstellen. Die Kategorie des Verhaltens dient in der Regel nur der Verstärkung einer der beiden Erklärungsansätze. Häufig wird nur einer der Bezugspunkte für die Erklärung schlechter Leistungen herangezogen, d.h. das Auftreten von 1) bzw. 2) bedeutet, dass die jeweils andere Dimension nicht zutrifft, das heißt ‚Anstrengung hoch‘, aber ‚Fähigkeit niedrig‘ führt ebenso zu schlechten Noten wie ‚Anstrengung niedrig‘ aber ‚Fähigkeit hoch‘. Eine Kombination von 1) und 2) markiert einen besonders schwierigen Fall – geringfügige Lernerfolge könnten bei einer Erhöhung der Anstrengungen erzielt werden, jedoch gibt es eine eindeutige Grenze, welche durch die Fähigkeit des Schülers, das heißt sein Leistungsvermögen, gesetzt wird. Im Fall Thomas werden alle drei Erklärungsansätze miteinander verknüpft, das heißt zusätzlich zum zugeschriebenen geringen Leistungsvermögen, der unterstellten Vernachlässigung von Hausaufgaben und schulischem Lernen, zeichnet sich Thomas durch unernstes Verhalten im Unterricht aus. Zusammengefasst deutet aus Sicht der Lehrer alles auf eine ungenügende Anerkennung der Bedeutung von Schule hin. Die je unterschiedlichen Begründungsfiguren für schlechte Noten unterscheiden sich hinsichtlich der mit ihnen verbundenen Möglichkeiten zur Intervention. 84 Hierbei handelt es sich überwiegend um Argumentationsfiguren der Lehrpersonen. Schülerbegründungen unterscheiden sich zumindest in der Erklärung eigener Leistungen von diesen Figuren.
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Das (zugeschriebene) Leistungsvermögen (1) wird als weitgehend feststehend konstruiert und gilt somit als nicht beeinflussbar. Die Anstrengung (2) dagegen ist ebenso wie das Verhalten beeinflussbar, jedoch nur im Rahmen des Leistungsvermögens. Verkuyten (2000) konnte bereits für Situationen von Zeugniskonferenzen herausarbeiten, dass sich die Argumentationsfiguren der Lehrkräfte bezüglich schlechter Noten ausschließlich auf Mängel der Schülerinnen und Schüler, jedoch nicht auf den eigenen Unterricht, auf den Stoff etc. bezogen. Zudem dient die Zuschreibung eines geringen Leistungsvermögens als Begründung für ausbleibende Interventionen im Rahmen des Unterrichts. Einzig ein Wechsel des Schülers auf ein niedrigeres Schulniveau erscheint als angemessene Intervention (vgl. ebd.: 470). Ähnliches kann am Fall Thomas herausgearbeitet werden. Dem ersten Beispiel sind jedoch noch weitere Aspekte zu entnehmen. Hier bezieht die Lehrerin einige Kinder in einen Diskurs über die vermeintliche Unzuverlässigkeit von Thomas ein. Wie unsere Beobachtungen zeigen, ist die Verantwortung für das Klassenbuch eine in der Klasse wechselnde Aufgabe, die alle Schüler nacheinander übernehmen und mehr oder weniger gewissenhaft ausführen. Thomas von dieser Aufgabe zu entbinden, hieße nicht nur, ihn als unfähig zu bestimmen, die normalen Pflichten und Aufgaben eines Mitglieds der Schulklasse erfüllen zu können, sondern auch, ihm die Möglichkeit der Weiterentwicklung zu verwehren und in der Zukunft zu beweisen, dass er im Stande ist, Verantwortung zu übernehmen. Diese Stigmatisierung von Thomas wird im Feld der Klasse interaktiv hergestellt. Mitschüler und Lehrpersonen mögen unterschiedliche Rollen innerhalb der Praktiken einnehmen, aber diese Praktiken werden auch von den Mitschülern bestätigt, durch sie mitgetragen und ausgestaltet. Diese Art des stigmatisierenden Umgangs mit Thomas konnte auch in anderen Fächern, bei anderen Lehrpersonen, beobachtet werden. Die folgende Szene entstammt einer Klassenleiterstunde, in welcher zum Ende des ersten Schulhalbjahres die so genannten ‚Kopfnoten‘ für Lernverhalten sowie Sozialverhalten zum Thema gemacht werden. Nachdem die Lehrerin den Schülern kurz erklärt hat, was die beiden Noten jeweils beinhalten sollen, lässt sie jeden Schüler der Klasse von seinen Mitschülern in Form von Noten bewerten. Einschätzungen oder Begründungen für die jeweilige Note sind nicht erwünscht. Die Bewertungen der Schüler haben keinen Einfluss auf die tatsächliche Zeugnisnote, sie sollen dem jeweiligen Schüler lediglich rückmelden, wie er von der Klasse eingeschätzt wird (siehe dazu ausführlicher Kapitel 3.2.2). Das Besondere an dieser Szene ist nun, dass Thomas in der Situation nicht anwesend ist.
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Klassenleiterstunde, Besprechung der „Kopfnoten“ erstes Halbjahr Klasse fünf Jetzt ist Thomas laut Klassenbuch an der Reihe. Die Lehrerin Frau Köhler: „So Thomas. Thomas’ Lernverhalten.“ Ein Schüler ruft: „Der ist nicht da.“ Lehrerin: „Ja das macht doch nichts.“ Sie ruft im Folgenden einzelne Schüler auf, die sich melden und eine Note nennen: „Robert?“ Robert: „Drei.“ „Felix?“ „Vier, Fünf.“ „Hans?“ „Fünf.“ „Paul?“ – „Vier.“ Dann möchte sie ein Gesamtbild von allen Schülern. Lehrerin: „Wer ist für Drei? (Schülermeldungen) Wer ist für Vier? (Schülermeldungen) Wer ist für Fünf?“ (Schülermeldungen) Es gibt einige Zwischenrufe, z. B. „Fünf Minus“. Lehrerin: „Wer ist für Zwei?“ Es melden sich nur ein, zwei Schüler, einer ist Jens. Gelächter und erstaunte Zwischenrufe wie „Boah!“ und „Was!?“ erfolgen. Die Lehrerin wendet sich (fast vorwurfsvoll) Jens zu: „Äh, Jens, du findest dass äh, der Thomas gut lernt?“ In der Klasse setzt wieder Gelächter ein, „Nee“-Rufe. Jens schüttelt leicht den gesenkten Kopf. Lehrerin: „Dann kannst du ihm doch schlecht ne Zwei geben.“ Darauf folgt wieder Lachen der Mitschüler.
Die Praktik selbst und ihre Problematik ist an anderer Stelle beschrieben worden (Kap. 3.2.2), daher wird hier nur auf die Spezifik bei der Thematisierung von Thomas eingegangen. Thomas’ Noten werden wie alle anderen ebenfalls besprochen, obwohl der Schüler, dem diese Bewertungen als Rückmeldung seines Verhaltens dienen sollen, nicht anwesend ist. Welche Funktion erfüllt diese „Besprechung“ also? Lehrerin und Klasse arbeiten an einem gemeinsamen Bild von Thomas als einem Schüler, der den Anforderungen schulischen Lernens nicht nachkommt. Abweichende Auffassungen werden durch Gelächter, Zwischenrufe sowie Ironie angezweifelt und lächerlich gemacht. Ähnlich wie in der Thematisierung von Thomas’ Unzuverlässigkeit im Beispiel oben handelt es sich um die Vergewisserung über geteilte Einschätzungen, um die kollektive Herstellung von Stigmatisierung. Schauen wir uns die Situation von Thomas ein halbes Jahr später an, so kann eine Kontinuität der Bewertungspraktiken beobachtet werden. Zum Ende des ersten Schuljahres fand das folgende Feldinterview mit der Englischlehrerin statt. Feldinterview Frau Grimm Ende Klasse fünf Frau Grimm lässt den Blick über die Kinder auf dem Pausenhof schweifen und erklärt dann, dass ihr einige Kinder Sorgen bereiten würden. [...] Für zwei der Schüler sieht sie eigentlich kaum Hoffnung í Thomas würde sie ganz gern sitzen bleiben lassen, weil er Englisch gar nicht kann.
Bereits wenige Wochen nach Schulbeginn hat die Lehrerin für Thomas mangelnde Leistungen im Fach Englisch zum Schuljahresende prognostiziert; nun hat sich ihre Prognose scheinbar bestätigt. Thomas wird als ein Schüler beschrieben, der „Englisch gar nicht kann“ und für den auch kaum Hoffnung besteht. Dabei erstaunt die Verallgemeinerung der Hoffnungslosigkeit, die sprachlich übergreifend formuliert ist (nicht nur auf das Fach Englisch begrenzt) und auf die gesamte Person bezogen wird. Die Lösung für dieses Problem wird in weiterer Selektion in Form der Klassenwiederholung gesehen. Die Formulierung
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„Thomas würde sie ganz gern sitzen bleiben lassen“ wird vor allem durch den Einbezug von Kontextwissen besser verständlich. Thomas erhält auf dem Endjahreszeugnis der fünften Klasse die Note Vier, also ‚ausreichend‘. Diese Note kann eine Nichtversetzung (jedenfalls für dieses Fach) nicht begründen. Es besteht also aus Sicht der Lehrerin eine Diskrepanz zwischen Schülerleistung bzw. den Fähigkeiten des Schülers und erreichter Note. Schauen wir zum besseren Verständnis der Problematik auf eine Szene aus dem Mathematikunterricht zum Ende des ersten Halbjahres der Klasse sechs. Bevor der Lehrer mit der Besprechung der jeweiligen Zeugnisnoten beginnt, wendet er sich mit einem Appell an die versetzungsgefährdeten Schüler der Klasse. Zeugnisnotenbesprechung Mathematik erstes Halbjahr Klasse sechs, Auftakt der Notenbesprechung Herr Semper: „So, in dieser Stunde wolln'mer mal (..) tja (.) die (.) Halbjahreszensuren auswerten beziehungsweise bekannt geben.“ […] „Es gibt nämlich einige, die sind (.) auch in Mathematik versetzungsgefährdet.“ Einige Schüler: „Oaarhr.“ Lehrer: „Na (.) mhm, Thomas (einige Schüler lachen) (..) wieviel Stunden verbringst du am Tag so mit (.) Hausaufgaben.“ Thomas: „Ne halbe Stunde“ Lehrer: „Halbe Stunde (..) mhm (.) ich weiß zwar nicht was die aktuellen Zahlen sind aber (.) aus der fünften Klasse (.) da haben wir neunzich Minuten [unverstdl.] (..) in der sechsten wern's dann mehr (.) [unverstdl.], obwohl ich dir nicht glaube, dass de ne halbe Stunde brauchst.“ Thomas: „Doch.“ Lehrer: „Gut, wenn de jetzt Zähneputzen mit dazu nimmst (verhaltenes Gelächter in der Klasse) als Vorbereitung auf die Schule und (.) Haare kämm' oder Haare stylen, ne das is wichtich (.) musst dich ja vorbereiten auf die Schule (erneutes vereinzeltes Gelächter) gut aber das erstmal (.) könn'mer nachher noch besprechen.“
Obwohl es laut Aussage des Lehrers mehrere in Mathematik versetzungsgefährdete Schüler in der Klasse gibt, wird Thomas exemplarisch ausgewählt. Dabei wird vom Lehrer ein (bisher noch nicht thematisierter) Zusammenhang zwischen einer schlechten Note (Fünf oder Sechs) und der vom Schüler für Hausaufgaben aufgewendeten Zeit hergestellt. Die vom Schüler genannte Dauer wird vom Lehrer mit einer ‚offiziellen‘ Angabe verglichen, wobei nicht deutlich wird, ob es sich um ein Soll, also einen von Experten als angemessen erachteten Zeitaufwand85 oder um einen empirisch erhobenen Durchschnitt der von Schülern aufgewendeten Zeit handelt. In jedem Fall stellt die vom Schüler Thomas genannte halbe Stunde nur ein Drittel der vom Lehrer angeführten Norm dar, welche zudem für eine untere Klassenstufe gilt. Die von Thomas aufgewendete Zeit wird also zunächst als deutlich unter der Norm bzw. dem Durchschnitt liegend und damit als ungenügend dargestellt, im weiteren Verlauf wird sie zudem grundsätz85 Der in Sachsen-Anhalt geltende so genannte Hausaufgabenerlass sieht eine maximale Dauer von 90 Minuten für das Erledigen der Hausaufgaben für die Klassenstufen fünf bis sieben vor (vgl. „Hausaufgaben an den allgemein bildenden Schulen.“ RdErl. des MK vom 14.3.2005 - 3-83201 (SVBl. LSA S. 117)).
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lich angezweifelt. Als Reaktion auf Thomas’ Beharren auf seiner Aussage wendet der Lehrer Praktiken der Ironisierung und Abwertung an, die einerseits die Lehrerthese stärken sollen, andererseits Thomas vorführen. Der Lehrer unterhält sich und die Klasse auf Kosten von Thomas, dem hier nicht nur Unehrlichkeit unterstellt wird, sondern der auch der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Es handelt sich hierbei um eine gemeinsame Praxis des Lehrers und der Mitschüler, die ein kollektiv geteiltes Bild von Thomas voraussetzt, auf das sich die Beteiligten beziehen. Thomas dient somit auch als Ressource der Unterhaltung im Unterricht – er gehört zu den Schülern, über die man sich gefahrlos im Unterricht lustig machen kann. Im Anschluss an diese Szene, in der gleichen Unterrichtsstunde, findet die Besprechung der Zeugnisnoten statt, die im Folgenden für die Schüler Hermann und Thomas näher betrachtet werden soll. Zeugnisnotenbesprechung Mathematik erstes Halbjahr Klasse sechs Herr Semper: „Hermann (..) a fünf Komma null is ne Leistung. (.) So komm mer zum Nächsten (.) Thomas (.) hm hm hm hmhm der Thomas is anders //Thomas, zustimmend: „Na“// (...) bei dir tuts mir (.) ernsthaft leid (.) wenn ich das sehe im Vergleich zu ihm (er zeigt auf Hermann) muss ich sagen, dir würd ich lieber ne bessere Zensur geben (.) ahr bei dir (.) da gehst en bisschen ans Eingemachte ja (.) Ende der Fahnenstange erreicht //Thomas: „Mhm“// na (.) Zensur siehste ja selber.“
Wieder kommen unterschiedliche Praktiken bezüglich der einzelnen Schüler zur Anwendung. Während die Situation im Fall von Hermann klar zu sein scheint, so wird Thomas als spezieller Fall und Ausnahme konstruiert. Der Lehrer inszeniert sich als mitfühlende und sympathisierende Person, deren Bewertungspraxis von Thomas’ Leistungsvermögen begrenzt und bestimmt wird. Dabei markieren die Formulierungen „ans Eingemachte“ sowie „Ende der Fahnenstange erreicht“ die deutliche Beschränkung des bereits jetzt ausgereizten Leistungsvermögens. Die Metapher des Eingemachten bezieht sich auf Esswaren, die zum Zweck des späteren Verzehrs konserviert werden. Üblicherweise stellen diese Konserven eine Notfallreserve für schlechte Zeiten dar, wenn frische Lebensmittel knapp sind (in früheren Jahrhunderten häufig im Winter bzw. in Jahren mit schlechter Ernte). Sind diese Reserven aufgebraucht, gibt es nichts mehr, auf das zurückgegriffen werden kann, es droht Hunger. Das „Ende der Fahnenstange“ geht in eine ähnliche Richtung – sobald man das obere Ende erreicht hat, ist man am Endpunkt angekommen, an dem es nicht weiter geht. Bereits einzeln verweisen beide Bilder auf eine deutliche Begrenzung, die möglicherweise sogar lebensbedrohliche Aspekte enthalten kann; in ihrer Kombination wirken sie umso intensiver. Das hier konstruierte Leistungsvermögen ist also weitgehend ausgeschöpft, ein intensiveres Ausschöpfen scheint kaum möglich, ohne an die lebenserhaltende Substanz zu gehen. Bedenkt man, dass Thomas vermutlich (ebenso wie Hermann) eine Fünf auf dem Zeugnis haben wird, wird hier im
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Zusammenspiel von schlechten Leistungen und einem Leistungsvermögen, welches als weitgehend ausgeschöpft dargestellt wird, die ‚Hoffnungslosigkeit‘ bezüglich erkennbarer Leistungssteigerungen (und damit künftig auch Schulerfolg) deutlich thematisiert. Die Art und Weise der Thematisierung entlastet hingegen den Lehrer von Interventionen jeglicher Art, denn die Faktizität des ausgeschöpften Leistungsvermögens befreit von Zuständigkeit und möglicher Förderung. Die Verwendung von Metaphern dient dem Schutz des Lehrers, der so sein Urteil nicht klar und deutlich vermitteln muss, sondern dies verschlüsselt über sprachliche Bilder tut und die Note letztlich nicht nennt. Schauen wir zum Abschluss noch auf die Besprechung der Zeugnisnoten in Englisch am Ende des sechsten Schuljahres, welche für die Aufteilung in Realschul- und Hauptschulklassen innerhalb der Schulform Sekundarschule relevant sind. Zur Rahmung der Stunde: Der Lehrerin ist bei der Errechnung der Zeugnisnoten ein Fehler unterlaufen – fast alle Zeugnisnoten im Fach Englisch stellen sich als falsch und in den meisten Fällen zu schlecht heraus. Dieser Fehler wird erst während der Besprechung der Noten bemerkt, woraufhin die Lehrerin die jeweiligen Endjahresnoten noch einmal anhand der ihr vorliegenden Halbjahresdurchschnitte berechnet. Die Szene wird im Folgenden in kleinere Abschnitte unterteilt und Schritt für Schritt interpretiert. Zeugnisnotenbesprechung Englisch zweites Halbjahr Klasse sechs Frau Grimm schaut in ihre Notenliste und kommt dann zu Thomas: „So, Thomas, das hat jetzt dir so'n bisschen auch äh, noch den den Hintern gerettet, dass mein Programm hier falsch gerechnet hat, ich- zum Glück hab ich hier die einzelnen Durchschnitte nochmal drauf, du hast ‘nen Durchschnitt von 4,5 in diesem Schuljahr und du hastn Durchschnitt von 4,3 im andern Schuljahr das gibt n Durchschnitt von 4,4 und damit grade noch so ne Vier. Keine Fünf.“
Bereits die Eröffnungsfigur irritiert vor dem Hintergrund eines Missgeschicks der Lehrerin. Schaut man sich den ersten Satz im Wortlaut an, so entsteht der Eindruck, Thomas hätte seine Zeugnisnote einem Programmfehler zu verdanken und seinen Leistungen gemäß müsste er eigentlich eine schlechtere Note bekommen. Dabei deutet die Formulierung „den Hintern gerettet“ auf eine potentiell (lebens-)bedrohliche Situation hin, insofern ein einzelnes Körperteil für den Körper als Ganzen steht. Thomas scheint also einer brenzligen Situation mehr oder weniger unverdienterweise entronnen zu sein. Dies trifft in der Tat zu, allerdings auf andere Art, als von der Lehrerin impliziert. Thomas’ Rettung in der Situation besteht in der Entdeckung des Programmierungsfehlers sowie der Korrektur der Noten. Dies wird auch in der Bestätigung deutlich, dass die Halbjahresdurchschnitte (hier fälschlicherweise als Durchschnitte einzelner Schuljahre bezeichnet) „damit grade noch so ne Vier. Keine Fünf“ ergeben. Offenbar hatte die ursprüngliche Zeugnisnote für Thomas „Fünf“ gelautet. Dabei verschleiert die Lehrerin ihre Rolle bei der Entstehung der falschen Noten, zunächst nur als
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Besitzerin des Programms (das „falsch gerechnet hat“), dann sogar als Retterin in der Not, die auch über die einzelnen Durchschnitte verfügt. Thomas freut sich deutlich und Hans klatscht laut. (..) Lehrerin: „Obwohl ich der Auffassung bin, Thomas, dass du's auch auf der Hauptschule nicht schaffen wirst.“ Thomas schaut jetzt mit einer Mischung aus Erstaunen und Gelassenheit, grinst aber auch noch leicht. In der Klasse wird es ganz still.
Angesichts der Tatsache, die Vier gerade noch geschafft zu haben, ist die Freude von Thomas nachvollziehbar, für die Praxis der Leistungsbewertung ist sie aber durchaus problematisch. Dies zeigt der weitere Verlauf der Interaktion. Es kann vermutet werden, dass der Anschluss der Lehrerin eine direkte Reaktion auf Thomas ist; darauf deutet auch die kurze Pause nach der Nennung der Note hin, in jedem Fall benötigt diese Zeugnisnote noch eine angemessene Rahmung durch die Lehrerin. Es kann vermutet werden, dass die Lehrerin für Thomas bereits die schlechtere Note (die Fünf) als Endjahresergebnis nicht nur errechnet hatte, sondern als angemessen interpretiert hat. Vor diesem Hintergrund erscheint die Korrektur zur besseren Note als wahrer und unverdienter Glücksfall für Thomas, der einer Rahmung bedarf. Thomas’ Reaktion darauf wird von der Lehrerin offenbar als nicht angemessen empfunden. Ungeachtet der Note Vier im Fach Englisch vertritt die Lehrerin die Auffassung, dass Thomas an der Hauptschule keinen Erfolg haben wird, denn das Nicht-Schaffen kann auf dessen Dasein an der Schule insgesamt bezogen werden. Warum aber „auch auf der Hauptschule“? Auch an der ‚untersten‘ deutschen Schulform sieht die Lehrerin keine Perspektiven für Thomas, übertragen hieße das, er kann es an keiner Schule „schaffen“. Ist Thomas nicht „schulfähig“? Die weit reichende Bedeutung dieser Aussage scheint auch den Mitschülern in der Klasse bewusst zu sein, die Stimmung ist gespannt. Auf welche Begründungfiguren bezieht sich die Lehrerin? Lehrerin: „Du bist, du störst eigentlich nicht sonderlich, das kann man so nicht sagen. Was stört ist, dass einer Faxen macht, das heißt der muss nur einmal das Auge hochziehen und du sitzt da und freust dich zehn Minuten drüber (Tobias lacht laut). Du sagst ‚Guten Tag‘ und ‚Auf Wiedersehen‘, du fällst gegenüber dem Lehrer nicht aus der Rolle, du hast Freunde in deiner Klasse, aber (.) ähm, das Lernen (.) ist nicht so (.) dein Ding, (Thomas schüttelt zur Bestätigung den Kopf) das heißt dass- ich bin auch ganz fest der Auffassung, wenn du nach Hause gehst, dass du nicht sagst, ‚ich mache jetzt das und dann setz‘ ich mich hin und lerne‘, sondern dass in dem Moment, wo du hier aus der Schule gehst, bei dir so‘ne Art Klappe fällt, die heißt Fußball spielen, alles Mögliche, Fernsehen, Essen und irgendwann kommt noch mal so‘n Punkt, wo die Mama vielleicht kommt und sagt ‚Haste schon Hausaufgaben gemacht’ und dann noch so‘n unangenehmes Sodbrennen aufkommt, ja und da wird das alles irgendwie so wischiwaschi schnell zusammengezogen. Ähm. (..) Is nur ne Note Vier.“ Während der ersten Hälfte des Vortrages grinst Thomas noch vor sich hin, dann schaut er ausdruckslos.
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Zunächst beginnt die Lehrerin mit einer Erklärung, die auf eine Zuschreibung von Charaktereigenschaften abzielt, bricht diese jedoch ab und bezieht sich stattdessen auf das Verhalten bzw. auf Beziehungsaspekte. Eine wohlgeformte Erklärung gelingt an dieser Stelle nicht. Thomas’ Verhalten kann nicht ohne zusätzliche Rahmung als Stören beschrieben werden, darauf verweisen die Relativierungen „eigentlich“, „nicht sonderlich“, „das kann man so nicht sagen“. Da sein Verhalten trotzdem als störend empfunden wird, muss weiter spezifiziert werden. Offenbar stört an Thomas nicht seine Freude generell, eher die Dauer dieser unangemessenen Freude. Im Anschluss kommen positive Zuschreibungen, die nicht in das Bild von störendem Verhalten passen, sondern eher als Verhalten ‚guter Schüler‘ interpretiert werden können. Welches Problem stellt also Thomas bzw. sein Verhalten für die Lehrerin dar? Offenbar dieses: „das Lernen (.) ist nicht so (.) dein Ding“. Dabei kann die Lehrerin auch hier nicht schlüssig erklären, was genau sie damit meint. Es handelt sich hier also nicht um die Feststellung eines körperlichen oder geistigen Unvermögens, sondern lediglich um geringes Interesse an der Sache sowie vermutlich die nicht voll ausgeprägte Kompetenz darin. Die Lehrerin zeichnet im Folgenden das Bild eines jugendkulturell aktiven Jugendlichen, der nur aufgrund elterlicher Anregung überhaupt etwas für die Schule tut. Das Bild der fallenden Klappe wird im Filmgeschäft verwendet, sie bestimmt den Beginn oder das Ende einer Szene bzw. auch des gesamten Filmes. Hier scheint es eine Trennung zwischen Schule und Freizeit zu markieren. Die Begründungsfigur der Lehrerin wirkt unabgeschlossen, es fehlt der Rückbezug, warum dieses Verhalten zum Scheitern an der Hauptschule führen wird. Stattdessen wird als Abschluss noch einmal die Note genannt, dieses Mal nicht als positives Ereignis, sondern in abwertender Weise. Beziehen wir diese Begründung auf die Prognose des Scheiterns von Thomas an der Hauptschule, so lässt sich festhalten, dass hier weder seine kognitiven Fähigkeiten, seine fachlichen Kompetenzen oder aber seine Noten angesprochen werden, problematisiert wird vielmehr seine Einstellung gegenüber der Schule, also sein Verhältnis zur Institution Schule insgesamt. Die ihm unterstellte Haltung scheint mit einem erfolgreichen Schulbesuch (der nicht nur die Leistungen, sondern auch grundlegendes Handlungswissen ebenso wie Arbeitstechniken umfasst) unvereinbar. Offenbar gelingt es Thomas dennoch, in der Schule zu ‚bestehen‘, denn er wurde bereits erfolgreich von Klasse fünf in Klasse sechs versetzt und er wird auch in die siebte Klasse versetzt. Zusammenfassend kann man die Situation der Zeugnisnotenbesprechung folgendermaßen beschreiben: Thomas erhält eine aus Lehrersicht unverdient gute Note, die er nicht angemessen würdigen kann. Diese Differenz zwischen Lehrereinschätzung und erteilter Note erfordert eine spezielle Rahmung der Zeugnisnote, die in der Prognose von Thomas’ Scheitern im Schulsystem ihren Höhepunkt
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findet. Der zentrale Begründungsversuch bezieht sich auf außerschulische Belange (Fußball, Fernsehen), die jenseits der Verantwortung der Lehrerin liegen. Ableiten lässt sich hier, dass aus ihrer Perspektive ein Schüler, der für das Lernen ‚nichts übrig hat‘, keinen Schulerfolg haben kann. Auch in dieser Szene werden Fördermöglichkeiten durch die Schule bzw. Interventionen nicht thematisiert. Die Disposition ‚Lernferne‘ wird als gegeben und unveränderbar dargestellt. Diese Begründungsfigur dient, wie bereits oben dargestellt, der Befreiung der Lehrer von der Verantwortung für die Leistungen sowie die Leistungsentwicklung des Schülers. Zusammenfassung Bereits frühzeitig legt die Lehrerin den Schüler Thomas, basierend auf ersten Leistungsnachweisen im Fach Englisch sowie dem beobachteten Verhalten, auf eine Position fest, die aus ihrer Sicht nur wenige Chancen für positive Veränderungen ermöglicht. Ebenso zeitig wird sein Scheitern im Fach Englisch prognostiziert. Im Sinne sich „selbst erfüllender Prophezeiungen“ (vgl. Rosental/ Jacobsen 1971, auch Brophy/Good 1976) entstehen auf der Basis der frühen Einteilung gemeinsam getragene unterrichtliche Praktiken, die schulisches Lernen für Thomas geradezu erschweren. Ein besonderer Förderbedarf für diesen Schüler wird von keinem der Lehrer formuliert, statt dessen überwiegen Pessimismus und Perspektivlosigkeit bezüglich seiner Leistungen bis hin zur Erneuerung der Prognose des Scheiterns – dieses Mal der gesamten Schulkarriere. Wie geht es mit Thomas nach dem Übergang in den Hauptschulzweig weiter? Er bewältigt das erste Schulhalbjahr erfolgreich, das heißt er bekommt ein gutes Zeugnis „für einen Hauptschüler“, so die Klassenlehrerin Frau Gade in der Zeugnisausgabe. Ihm werden gute Mitarbeit und Interesse von den Lehrern bescheinigt. Während der Beobachtungen wirkt er engagiert und leistungsorientiert(er). Worauf diese Veränderungen zurückzuführen sind, lässt sich allerdings nicht klären. Deutlich wird jedoch, dass die Lehrkräfte der neuen Schule Thomas nicht negativ stigmatisieren. 3.4.5 Fallübergreifende Überlegungen Das Anliegen der Fallportraits ist es, eine neue Perspektive auf Effekte und Wirkungen der mit Leistungsbewertung verbundenen Praktiken zu ermöglichen. Die vier präsentierten Fälle verkörpern markante Positionen im Feld. Sie erfüllen für den Unterricht in der Klasse, vor allem in Situationen der Leistungsbewertung, je bestimmte Funktionen.
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Manuel vertritt die Leistungsspitze der Klasse und repräsentiert schulische Leistungs- und Verhaltenserwartungen in seinem Streben nach Schulerfolg. Er wird durch Lehrer und Mitschüler in der Aufrechterhaltung des Images vom guten Schüler, auch bei vereinzelten Misserfolgen, unterstützt. Er erfüllt eine wichtige Funktion für den Unterricht, da er durch seine hohe Mitarbeitsbereitschaft, aber auch durch Verhaltensregulierung sowie Kontrolle der Mitschüler, die Arbeit der Lehrer unterstützt. Er verkörpert die Möglichkeit des Schulerfolgs an der Sekundarschule. So eindeutig Manuel an der Spitze der Klasse ist, so drastisch dient Thomas am unteren Ende des Leistungsspektrums als mahnendes Beispiel und Sündenbock, bei dem sich die Investition von Zeit und Mühe offenbar nicht lohnen. Schon sehr zeitig auf diese Position fixiert arbeiten Lehrer und Mitschüler gemeinsam (auch Thomas selbst kooperiert) an der Verfestigung dieser Position, die ihm keinerlei Entwicklung bezüglich seiner Einstellung wie seiner Leistungen zugesteht. Während Manuel und Thomas festen Positionen zugeordnet sind, werden Hans und Elisabeth mit Bezug auf Veränderungen thematisiert. Bei ihnen ist eine Diskrepanz zwischen der frühzeitig erfolgten Einteilung auf Leistungspositionen und den aktuellen Noten bzw. Leistungen zu bearbeiten. In beiden Fällen wird jedoch die einmal festgelegte Position kaum hinterfragt. Stattdessen werden neue Erklärungsmuster gesucht, um die Differenz zu begründen. Elisabeth verbleibt nicht auf der Position der Fünferkandidatin, sondern auf der Position der sich verbessernden Fünferkandidatin. Hans ist der eher gute Schüler, der jedoch unzuverlässig und wenig anstrengungsbereit ist – es handelt sich also bei beiden um eine Ergänzung, eine Erweiterung der jeweiligen Kategorie, nicht um eine neue Kategorie, z. B. der guten, fleißigen Schülerin. Es geht in beiden Fällen, bei konstant gedachtem Leistungsvermögen, um Einstellungs- und Verhaltensänderungen, welche die Noten erklären sollen. Insbesondere ist die Figur Elisabeth bedeutsam für die Leistungskultur an der Sekundarschule, da es nicht nur ‚Manuels‘, d. h. leistungsstarke Schüler in einer Klasse geben kann. Sie verkörpert die Erfolgsgeschichte einer ‚Durchschnittsschülerin‘ und zeigt, dass man es auch mit einem geringeren Leistungsvermögen und einigen Anfangsschwierigkeiten auf ein mittleres Leistungsniveau schaffen kann – durch Anstrengung und richtiges Verhalten. Ihr kommt damit eine zentrale Rolle im Rahmen von Leistungsbewertung zu. Manuel und Elisabeth fungieren also beide als positive Beispiele im Rahmen dieser Thematik. Dahingegen werden Hans und Thomas im Feld als Negativbeispiele thematisiert. Sie verhalten sich fast spiegelbildlich zu Manuel (Thomas) und Elisabeth (Hans). Allerdings bestehen deutliche Unterschiede im Umgang mit Thomas und Hans. Während Thomas zu einem sehr frühen Zeitpunkt abgeschrieben und in der Folge von den Lehrern ‚in Ruhe gelassen wird‘, werden bei Hans zusätzliche Bemühungen unternommen, um seine Einstellung und sein Verhalten entsprechend der
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Lehrererwartungen zu normieren. Während Thomas, in den hinteren Reihen sitzend, nur am Rand des Lehrerfokus’ auftaucht, wird Hans gegenüber der Lehrerin platziert, um ständig überwacht und ermahnt werden zu können. Wird für Elisabeth immer wieder eine Erfolgsgeschichte aufgrund des ‚richtigen‘ Verhaltens konstruiert, läuft die Thematisierung von Hans in die entgegen gesetzte Richtung. Bei Thomas, der als Negativbeispiel und sogar ‚Schulversager‘ konstruiert wird, scheint keinerlei Entwicklung stattzufinden.
Abbildung 5: ‚Figuren‘ im Feld der Sekundarschulklasse Die Abbildung zeigt die Positionierung der Fälle innerhalb der Klasse in den Dimensionen von „gezeigter Leistung“ und „Anerkennung der Bedeutung des Schulischen“. Die Pfeile bei Elisabeth und Hans verdeutlichen die in den Fallportraits herausgearbeitete Thematisierung von „Entwicklung“, bei Elisabeth mit positivem, bei Hans mit negativem Vorzeichen. Es handelt sich wohlgemerkt um die Thematisierung im Feld, nicht um die tatsächliche Leistungsentwicklung! Betrachtet man nun die vier vorgestellten Fälle vergleichend, so können folgende Aspekte der Leistungsbewertung herausgearbeitet werden:
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1. 2.
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Die Schülerinnen und Schüler werden sehr frühzeitig, schon nach wenigen Wochen, in Leistungskategorien eingeteilt („Fünferkandidatin“). Die Grundlage der Zuordnung zu diesen Leistungskategorien bildet ein komplexes Gefüge aus den ersten an der Schule erreichten Noten, gezeigter bzw. vermuteter Leistungsbereitschaft, dem allgemeinen Verhalten im Unterricht sowie weiteren Aspekten, z. B. dem familialen Hintergrund eines Schülers. Die interaktiv hergestellten und verfestigten individuellen ‚Leistungsvermögen‘ sind sehr eng mit den Leistungskategorien verknüpft, jedoch nicht mit ihnen identisch. Von diesen je individuellen Leistungsvermögen wird angenommen, dass sie über die Zeit hinweg konstant bleiben und weder durch Lehrer noch Schüler beeinflussbar sind. Die Auswirkungen dieser Praxis gestalten sich, wie in den Fallportraits deutlich wurde, je nach Position der Schüler im Leistungsgefüge sehr unterschiedlich.
Die frühe Einteilung von Schülerinnen und Schülern durch Lehrerinnen und Lehrer scheint im Kontext des selektiven Schulsystems und der weiteren Differenzierung nach Klasse sechs durchaus funktional. Da die Leistungsvermögen als unveränderlich gedacht sind, scheint aus Lehrersicht eine Förderung von Schülern mit geringen Kompetenzen nur bedingt sinnvoll. Problematisch ist nicht so sehr die Einteilung an sich, also die Zuschreibung verschiedener Leistungspositionen, sondern vielmehr wie wenig flexibel diese Einteilung gehandhabt und reflektiert wird und in welchem Maße sie zur andauernden Festschreibung beiträgt. In den an der Sekundarschule beobachteten Fällen wird die frühe Einteilung nicht hinterfragt, sondern durch gemeinsame Praktiken, die auch vom betreffenden Schüler mitgetragen werden, immer wieder bestätigt und verfestigt, selbst wenn sich, wie im Fall von Elisabeth, die Noten und das Verhalten der Schülerin ändern. Diese Festschreibung, gerade auf problematische Positionen, trägt maßgeblich zur Herstellung ‚schlechter‘ Schüler bei. Wie in den Fallportraits herausgearbeitet werden konnte, werden in der Sekundarschulklasse vor allem zwei Probleme bearbeitet. Zum einen die Einteilung der Schüler nach Leistungsvermögen sowie die Ausschöpfung dieser Leistungsvermögen durch die Schüler, zum anderen der Kampf um die Anerkennung der Bedeutung der Schule selbst. Wird die Bedeutsamkeit schulischer Leistung nicht anerkannt oder wird befürchtet bzw. unterstellt, dass dies der Fall sein könnte, erscheint das ganze Unternehmen Schule gefährdet. Allein die Befürchtung der Verweigerung der Anerkennung schulischer Regeln und schulischer Leistung führt zu drastischen Reaktionen im Feld der Sekundarschule. Darüber hinaus zeigt sich immer wieder auch die Legitimierungsbedürftigkeit vor allem schlechter Schülerleistungen an der Sekundarschule. Die Fallportraits verdeutlichen das
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Bemühen der Lehrenden, aufzuzeigen, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Anerkennung des Schulischen und den Leistungen der einzelnen Schüler besteht. Die Thematisierung aller vorgestellten Fälle zielt auf die Einsicht und Bestätigung dieses Zusammenhanges ab: Die Anerkennung und Umsetzung schulischer Anforderungen führen zum Erfolg, die Vernachlässigung der schulischen Pflichten hingegen führt zu Misserfolg. Den Lehrerinnen und Lehrern kommt die Aufgabe zu, als Kontroll- und Disziplinarinstanzen über die Einhaltung der Regeln zu wachen. 3.5 Exkurs: Leistung und Leistungsbewertung an der Hauptschule 3.5.1 Einleitung Im folgenden Kapitel86 wechselt der Ort der Beobachtung von der Sekundarschule in Sachsen-Anhalt zu einer Hauptschule in einem westdeutschen Bundesland. Die Beobachtungen einer weiteren Klasse an einer vergleichbaren Schulform in einem anderen Bundesland ergänzen und kontrastieren die Befunde aus den Beschreibungen und Analysen der beobachteten Sekundarschulklasse in Sachsen-Anhalt. Im Gegensatz zur längsschnittlich angelegten Ethnographie in der ‚Stammklasse‘ handelt es sich bei der Hauptschulstudie eher um eine Art Kurzzeitethnographie. Innerhalb von zwei Wochen intensiver Teilnahme wurden fast der gesamte Unterricht einer Klasse beobachtet sowie Feldinterviews mit Lehrern und Schülern geführt. Ergänzt wurden diese Beobachtungen durch die Teilnahme an der Zeugnisausgabe zum Halbjahr der Klasse fünf. Zur aktuellen Situation der Schulform Hauptschule Die Mehrgliedrigkeit des Bildungssystems in Deutschland und vor allem der Bildungsgang Hauptschule stehen mehr und mehr zur Diskussion. Waren die Kritiker des dreigliedrigen Schulsystems schon durch die Veröffentlichung der ersten PISA-Ergebnisse (Deutsches PISA-Konsortium 2001) und die darin für Deutschland festgestellte dramatisch große Abhängigkeit des Bildungserfolges von der sozialen Herkunft auf den Plan gerufen, wurde die ‚Schulstrukturdebatte‘ als Konsequenz der PISA-Resultate zunächst noch abgewehrt und geradezu tabuisiert. Zu groß war offenbar die Befürchtung, in alte bildungspolitische Gra-
86 Teile dieses Kapitels wurden unter dem Titel „Geh’ lieber nicht hin! – Bleib lieber hier.“ Eine Fallstudie zu Selektion und Haltekräften an der Hauptschule (Zaborowski/Breidenstein 2010) publiziert.
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benkämpfe zurückzufallen, zu viele Vorbehalte gegenüber der Gesamtschule in der Prägung der 1970er Jahre waren vermutlich im Spiel. Inzwischen bestimmt die Option einer Reformierung der Schulstruktur in Deutschland durchaus nicht nur die bildungspolitischen, sondern auch die wissenschaftlichen Debatten, und insbesondere der Bildungsgang Hauptschule steht deutlicher denn je zur Disposition. In Ballungsgebieten mit einem ausdifferenzierten Schulangebot droht die Hauptschule zunehmend zur ‚Restschule‘ zu werden, an der nur noch diejenigen Schüler unterrichtet werden, die an keiner anderen Schule unterkommen. In bevölkerungsarmen Regionen sind die Hauptschulen als erste vom teilweise drastischen Rückgang der Schülerzahlen betroffen und in ihrer Existenz bedroht (vgl. Rösner 2007, Leschinsky 2008a). Aktuell bewegt sich die Diskussion in vielen Bundesländern in Richtung Abschaffung der Hauptschule als eigenständiger Schulform und hin zu Möglichkeiten der Integration verschiedener Schulformen (vgl. Leschinsky 2008a) – zumeist allerdings ohne die Selektivität des deutschen Schulsystems grundsätzlich in Frage zu stellen. Die Hauptschule als die unterprivilegierte Schulform in einem selektiven Schulsystem hatte verständlicherweise von Anfang an gewisse Probleme, eine positive Identifikation zu entwickeln und anzubieten – eine eigenständige Hauptschul-Pädagogik (vgl. Bronder u. a. 1998) ist nur in Ansätzen auszumachen und scheint die mit ihr verbundenen Erwartungen nur bedingt zu erfüllen (vgl. ebd.; Rekus u. a. 1998). Daneben stehen allerdings die Berichte von ‚erfolgreichen‘ Hauptschulen, die es schaffen (unter problematischen Voraussetzungen), ‚etwas aus sich zu machen‘ (vgl. z. B. Bohl u. a. 2003; Bronder u. a. 1999). Befunde aus einigen neueren empirischen Studien ergeben zusammengenommen ein doch recht eindeutiges Bild von der Problematik der Schulform Hauptschule. Solga und Wagner (2001) weisen die soziale Homogenisierung der Schülerschaft an der Hauptschule nach und folgern daraus die „soziale Verarmung“ der Lernumwelt mit negativen Folgen für die Leistungsentwicklung der Schüler (vgl. auch dies. 2004, 2008). Auch Schümer (2004) beschreibt die „doppelte Benachteiligung von Schülern aus unterprivilegierten Gesellschaftsschichten im deutschen Schulwesen“, welche überproportional häufig an Hauptschulen lernen. Sie stellt zusätzliche negative Effekte der selektiven Struktur des deutschen Bildungswesens für leistungsschwache Schüler heraus. So verweist sie mit Bezug auf Mac Iver (1988) auf eine hohe „Übereinstimmung der bewerteten Leistung mit der Selbsteinschätzung der Schüler“ (Schümer 2004: 75), welche für leistungsschwache Schüler in einem negativen Selbstwertgefühl resultiert und sich ebenfalls negativ auf die Leistungsentwicklung auswirkt. Knigge (2008: 215) findet „deutliche Hinweise dafür, dass vor allem Hauptschüler ohne Migrationshintergrund nach dem Übergang auf die Hauptschule eine im Laufe der Zeit
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immer stärker stigmatisierte öffentliche kollektive Identität entwickeln. Die Befunde deuten darauf hin, dass die Hauptschüler sich als Reaktion auf diese Stigmatisierung von der Schule zurückziehen.“ Baumert, Stanat und Watermann (2006) zeigen anhand von PISA-Daten, dass sich in den unterschiedlichen deutschen Schulformen „differenzielle Lern- und Entwicklungsmilieus“ herausbilden. Dies kann im Fall der Hauptschule zu „einer schwer zu rechtfertigenden strukturellen Benachteiligung einer quantitativ nicht zu vernachlässigenden Gruppe von Jugendlichen“ (171) führen. Im vorliegenden Kapitel wird der Alltag von Schülerinnen und Lehrerinnen an einer Hauptschule in den Blick genommen. Lässt sich das spezifische „Lernund Entwicklungsmilieu“ beobachten und beschreiben? Wie gestaltet sich der Unterricht und welche Rolle spielen die Leistungen der Schüler und ihre Bewertung an einer Schule mit negativ selektierter Schülerschaft? Gefragt wird hier nach immanenten Strukturproblemen der Schulform Hauptschule, welche durch die detaillierte Beobachtung und Analyse alltäglicher Vollzüge herausgearbeitet werden können. Im Folgenden wird zunächst die ausgewählte Schule kurz vorgestellt. Im Anschluss daran werden Szenen aus dem Unterrichtsalltag einer fünften Hauptschulklasse sowie die herausgehobene Situation einer Zeugnisausgabe fokussiert. Feld und Feldzugang Die Schule befindet sich in einer niedersächsischen Stadt etwas abseits des Stadtzentrums. Sie teilt sich ein Gebäude mit einer Grundschule, bezieht ihre Schülerschaft jedoch aus der gesamten Stadt. Trotz der starken Konkurrenz mehrerer Gesamtschulen, welche ja die Option des Abiturs bieten, hatte die Schule zum Schuljahr 2007/2008, in welchem die Beobachtungen stattfanden, mehr Anmeldungen, als berücksichtigt werden konnten87. Laut Aussage des Schulleiters genießt die Schule einen guten Ruf in der Stadt, der sich auf das zukunftsorientierte Profil der Schule mit Berufsorientierung einerseits und individueller Förderung der einzelnen Schüler andererseits ebenso gründet wie auf die intensive Zusammenarbeit der Schule mit Grundschulen im gesamten Stadtgebiet. Ein weiterer Schwerpunkt an dieser Schule liegt in der sozialpädagogischen Ausrichtung, welche sich vor allem in der Arbeit im „Sozialen Trainingsraum“ (vgl. Balke 2001) zeigt. Dieser bietet die Möglichkeit, Schüler vorübergehend aus dem Unterricht zu nehmen, um mit ihnen Probleme und mögliche Gründe für Unterrichtsstörungen zu reflektieren (siehe unten).
87 Die Schule läuft im beobachteten Schuljahr im fünften Jahrgang zweizügig.
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Die Auswahl der Schule erfolgte nach ähnlichen Kriterien wie die Auswahl der ‚Stammschulen‘ im Projekt (vgl. Kap. 1) – die ausgewählten Schulen sollten keine Extremfälle darstellen, so dass eine gewisse Vergleichbarkeit der Schulen erhalten bleibt. Der Zugang zur Schule war unkompliziert. Sowohl der Schulleiter als auch der Klassenlehrer der beobachteten fünften Klasse standen dem Untersuchungsvorhaben sehr aufgeschlossen gegenüber. Obwohl beide, vor allem jedoch der Schulleiter, deutlich hinter ihrer Schule stehen, thematisierten sie auch die problematische Situation der Schulform Hauptschule. Unabhängig voneinander beschreiben Schulleiter und Klassenlehrer die hohen Anforderungen an das Lehrerhandeln durch eine Schülerschaft, welche in der Grundschule nicht ausreichend auf schulische Anforderungen vorbereitet wurde und in hohem Maße soziale und familiale Problemkonstellationen aufweist. Um besser auf die Problemlagen der Schülerinnen und Schüler reagieren zu können, wünschen sich beide mehr Unterstützung für die Hauptschulen von Seiten der Politik. Während des Feldaufenthalts konnte ein offener und freundschaftlicher Umgang im Lehrerkollegium sowie mit den Schülerinnen und Schülern beobachtet werden. Vor allem die Fünftklässler sollen zu Beginn des neuen Schuljahres behutsam an die Anforderungen an der Hauptschule herangeführt werden. Im Zusammenhang damit sprach der Klassenlehrer in mehreren Feldinterviews von einer Schonzeit für die fünften Klassen, um den Übergang zu verarbeiten und sich an die Bedingungen des Lernens an der Hauptschule zu gewöhnen: „Sie müssen da langsam reinkommen, es gibt so viel Neues, neue Fächer, so viel neue Lehrer, sie müssen viel eigenverantwortlich arbeiten.“ (Feldinterview Herr Haffner) Innerhalb dieser auf etwa neun Wochen begrenzten Schonzeit werden die Schüler nur in geringem Umfang Leistungskontrollen ausgesetzt; nach Ablauf dieser Zeit setzen jedoch auch hier verstärkt schriftliche und mündliche Leistungsüberprüfungen ein. Die beobachtete fünfte Klasse besteht aus insgesamt zwölf Jungen und zwölf Mädchen, etwa ein Viertel davon weist einen Migrationshintergrund auf. Die befragten Schülerinnen und Schüler äußerten sich in mehreren Feldinterviews durchweg positiv über die neue Schule und ihre Lehrer. Obwohl die meisten von ihnen ursprünglich eine der örtlichen Gesamtschulen favorisiert haben, erklärten sie, dass es ihnen an der Hauptschule gefällt und sie sich von den Lehrern anerkannt und ernst genommen fühlen. 3.5.2 Beobachtungen im Unterricht Während der zweiwöchigen Teilnahme am Unterricht der Hauptschulklasse wurden insgesamt acht unterschiedliche Fächer bei sechs verschiedenen Lehr-
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kräften beobachtet. Hier zeigt sich die große Vielfalt der Unterrichtsstile und Umgangsweisen mit der von den Lehrenden als anspruchsvoll eingeschätzten Schülerschaft. Zunächst fällt die im Vergleich zur Sekundarschule und vor allem zum ostdeutschen Gymnasium sehr hohe Lautstärke im Unterricht bei (fast) allen beobachteten Lehrern und in allen Fächern auf. Die Schülerinnen und Schüler wirken insgesamt unruhiger und wenig konzentriert. Allerdings gelingt es den Lehrerinnen und Lehrern in unterschiedlicher Weise, die Kinder in den Unterricht einzubeziehen, beziehungsweise den Unterricht auf die Bedürfnisse und Fähigkeiten der Schüler auszurichten. In den Naturkundefächern (Biologie, Chemie, Physik) scheint das Klassenmanagement der Lehrerin (siehe z. B. Good/Brophy 2003, Kounin 2006, Evertson/Weinstein 2006), das heißt ihr Belohnungs- und Bestrafungssystem, die stündliche Bewertung der Mitarbeit, die Transparenz der Aufgaben, die regelmäßige Kontrolle des Arbeitsstandes sowie die Ermunterung der Schülerinnen, erfolgreich zu sein – die Schüler sind vergleichsweise ruhig, beteiligen sich engagiert am Unterricht sowie an den zahlreichen Experimenten. Chemie Die Lehrerin schreibt den ersten Satz an die Tafel, dann geht sie durch die Klasse und schaut, was die Kinder so machen. Ali schreibt mit Bleistift und wird aufgefordert, den Füller zu benutzen. Er hat aber keinen mit, der liegt zuhause. Lehrerin: „Dann musst du das zuhause noch einmal machen.“ Ali beschwert sich und macht sich dann auf die Suche nach einem Füller, indem er durch die Klasse geht und bei allen Schülern nachfragt. Wie es scheint, kann ihm Liane aushelfen. Bei Ben und Lars sieht es nach Lehrersicht gut aus, Mandy bekommt ein: „Ja, das sieht gut aus, das ist ein Einserblatt.“ Zu Amira sagt sie: „So, du kommst voran, das sieht gut aus. Noch die Überschrift unterstreichen und das Datum drauf.“ Sie geht weiter: „Selin, das sieht gut aus.“ Selin freut sich über das Lob und wiederholt es gegenüber Claudia. Dann schreibt die Lehrerin weiter an die Tafel. […] Lehrerin: „Wer fertig ist, heftet das Blatt ab und trägt es ins Inhaltsverzeichnis ein. Ich seh’ dann, wer fertig ist, weil ihr nach vorn schaut.“ Dann geht die Lehrerin wieder durch die Reihen und schaut sich die Blätter an. Zu Claudia: „Das ist ganz toll, das wäre ein Einserblatt.“ Selin möchte sich das Einserblatt gerne anschauen. Claudia lässt sie. Es sieht okay aus, wie Selin findet. Amira wird gelobt, weil sie alles geschafft hat und das Blatt auch gut aussieht. Dann folgt der praktische Teil der Stunde. Verschiedene Stoffe sollen dem Feuer ausgesetzt werden. Angefangen wird mit Holz. Die Lehrerin fragt in die Klasse, wer das Experiment durchführen möchte. Amira möchte gern und darf nach vorn gehen.
Die Lehrerin ist in dieser Szene den Schülern zugewandt, sie ermuntert viel, kontrolliert regelmäßig den Bearbeitungsprozess der Teilaufgaben, korrigiert und bewertet auch bereits. Dabei gibt sie nicht nur Hinweise zu den einzelnen Arbeitsschritten, sondern auch zum erwarteten Verhalten. Es handelt sich um einen stark strukturierten, lehrergeleiteten Unterricht, in welchem die Lehrerin allgegenwärtig scheint. Das deutlichste Gegenbeispiel dazu stellt der Geschichtsunterricht dar. Dieser zeichnet sich in den beobachteten drei Stunden durch eine ge-
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ringe Strukturierung durch den Lehrer, wenig konkrete Aufgaben und insgesamt geringe Beschäftigung mit Unterrichtsinhalten aus. Es fand keinerlei Lehrertätigkeit statt, die über die Ansage des abzuschreibenden Textes bzw. die Verteilung von „Plus-Zeichen“ hinausging. Geschichte Lehrer: „Wir hatten als letztes-. Anton, kannst du mir das mal zeigen, du machst das immer so schön.“ Er schaut zu Lasse: „Du auch.“ Die Klasse ist immer noch unruhig. Anton ist kaum zu verstehen. Scheinbar war man beim Mittelalter. Die Kinder sollen ihre Geschichtsbücher hervor nehmen. Jetzt steht etwa die Hälfte der Klasse auf, um das Geschichtsbuch zu holen. Es ist ein ganz schöner Trubel. Als die meisten wieder an ihrem Platz sind, erklärt der Lehrer: „Ich werde jetzt erst mal gucken, wer gestern geschwänzt hat und damit ihr beschäftigt seid- schlagt mal das Buch auf.“ Mehrere Schüler beschweren sich, ich bekomme aber nicht mit, worüber, es ist schon wieder so laut. Die Kinder sollen einen Text abschreiben und die dazugehörigen Bilder abmalen. Ali verlässt im allgemeinen Trubel den Raum. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Aufgabe ganz verstanden habe, es geht wohl um das Alltagsleben im Mittelalter. Jedenfalls steht Folgendes an der Tafel: Aufgabe
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[...] Wer mit Abschreiben fertig ist, kann seine Arbeit vorn dem Lehrer zeigen. Für jemanden in den vorderen Reihen gibt es ein Plus. Claudia ruft fragend in Richtung Lehrertisch: „Hab ich auch ein Plus bekommen?“ Der Lehrer: „Natürlich.“ Er lächelt. Ich wundere mich. Gibt es ein Plus für ordentliches Abschreiben? Ich gehe zu Svenja und Liane und erkundige mich nach der Arbeitsaufgabe. Es sollte tatsächlich eine schmale Spalte aus dem Lehrbuch abgeschrieben werden, etwa 6 Zeilen, dazu noch zwei Bilder abgemalt. Ich bin stark verwundert über diese Aufgabe. Was lernt man in diesem Unterricht? [...] In der Pause gehe ich zum Lehrer und erkundige mich, wofür es ein Plus gibt. Er erklärt, das gebe es für ordentliches Abschreiben und das Abmalen der Bilder. Ich frage nach, ob er dabei auch auf die Rechtschreibung schaut. Er verneint. Er wolle ja die Kinder nicht demotivieren, indem man gleich wieder kommt und sagt: „Da hast du drei Wörter falsch!“ Über ein Plus würden sich alle freuen, erklärt er. In der nächsten Pause sehe ich den Geschichtslehrer im Lehrerzimmer wieder; er kommt noch einmal auf mich zu. Auf meine Frage zur Lautstärke im Unterricht antwortet er, dass er es nicht besonders unruhig in der Klasse fand und erklärt: „Ich mache das schon seit zig-, seit vierzig Jahren oder so. Deshalb kann ich da ganz gelassen bleiben.“ Dann geht er wieder, nur um kurz darauf noch einmal zu mir zu treten und verschwörerisch zu sagen: „Bis man erst mal dahin kommt, dass man ihnen Stoff vermitteln kann …“ Ich weiß nicht, was ich darauf sagen soll und nicke nur.
Die Diskrepanz zwischen der Erwartungshaltung der Ethnographin an Unterricht und dem von ihr beobachteten Ablauf kommt im Protokoll deutlich zum Ausdruck. Gleich zu Beginn überträgt der Lehrer einem Schüler die Aufgabe der Wiederholung des Themas der letzten Stunde. Dies ist im Rahmen von Wiederholungsübungen nicht unüblich, erfolgt hier aber weniger im Duktus der Abfrage von Schülerwissen, sondern erscheint vielmehr als vom Lehrer benötigte Information, da er selbst nicht darüber verfügt. Es findet also eine Verkehrung der
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unterrichtlichen Situation statt, indem ein Schüler einen Lehrer über das Thema der letzten Stunde informiert. Eine Klärung des Themas für die Klasse findet nicht statt. Die Arbeitsaufgabe ist hier als reine Beschäftigung gerahmt. In diesem Unterricht wird nichts besprochen, wiederholt, durch den Lehrer vermittelt, nicht einmal vorgelesen. Zudem irritiert die Art der Leistungsbewertung. Allein für das Abschreiben eines kurzen Textes (für das die gesamte Stunde zur Verfügung steht) gibt es eine positive Bewertung, wobei unklar bleibt, welchen Stellenwert diese Bewertung insgesamt bei der Bildung von Zensuren hat. Zudem wird gerade das Fehlen der Rechtschreibkontrolle als Mittel der Motivation der Schüler umgedeutet. Im Feldinterview kommt darüber hinaus eine Sicht auf die Schülerfähigkeiten zum Ausdruck, welche die Schüler als grundsätzlich nicht bereit für Stoffvermittlung markiert. Diese Einstellung dient offenbar als Entlastung des Lehrers und Rechtfertigung dafür, keinen inhaltlich anspruchsvollen Unterricht anzubieten. Zur Verdeutlichung der Problematik soll ein Auszug aus dem Protokoll der dritten beobachteten Geschichtsstunde dienen. Geschichte Geschichte findet wieder im PC-Raum statt. Es ist viel lauter als in der letzten Stunde. Der Lehrer begrüßt die Schüler und meint, sie sollen da weiter machen, wo sie beim letzten Mal aufgehört haben, er erklärt die Aufgabe nicht noch einmal. Während die Schüler langsam ihre Computer anschalten, hat der Lehrer stark mit der Unruhe im Raum zu kämpfen, da die Schüler nicht leiser werden und rummurren, dass sie schon wieder schreiben sollen. Dann muss der Lehrer auch noch mit dem Internet kämpfen, das scheinbar nicht funktioniert; er wirkt etwas gestresst. Jamal fragt den Lehrer (in nicht frechem Tonfall): „Was ham Sie für ne Laune?“ Antwort des Lehrers: „Ich hab immer gute Laune, aber ich kann ganz schnell umschalten. Ich will nur, dass das funktioniert. Alles andere ist mir absolutly egal.“ Was für eine Aussage! Das Internet funktioniert aber nicht, so dass der Text vom letzten Mal nicht weiter abgeschrieben werden kann. Der Lehrer begibt sich kurz auf die Suche nach einem Computerverantwortlichen, kommt aber nach erfolgloser Suche wenig später zurück. Unterricht gibt’s aber auch jetzt nicht. Die Kinder dürfen stattdessen die ganze Stunde im Intranet chatten, während der Lehrer die Schüler lediglich „beaufsichtigt“ und ermahnt, wenn sie zu unruhig werden.
Hier erfolgt in zugespitzter Form Unterricht als reine Beschäftigung bzw. Beaufsichtigung von Kindern. Als der geplante „Unterricht“, das Abschreiben eines Textes aus dem Internet, aufgrund von technischen Problemen nicht stattfinden kann, bleiben die Kinder sich selbst überlassen – eine Beschäftigung mit Unterrichtsinhalten findet nicht statt. Bezeichnend ist die Lehreraussage „Ich will nur, dass das funktioniert. Alles andere ist mir absolutly egal.“, welche sich in der Situation auf das Funktionieren des Internets bezieht, aber auch übergreifend auf den Unterricht bezogen werden kann. Wichtig scheint nur das reibungslose Funktionieren, ohne Störungen und ohne zusätzlichen Aufwand, wie auch aus dem Feldinterview (s. o.) ersichtlich wird. Offenbar hat sich dieser Lehrer in
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seinen Routinen eingerichtet; so kann er auch die Unruhe im Raum gelassen hinnehmen, ohne sie als mögliche Unzufriedenheit mit seinem Unterricht zu deuten und reagieren zu müssen. Auch wenn der Lehrer sich mit seiner Aussage auf die Unruhe in der Klasse bezogen hat, kann man sie ebenso gut auf seine allgemeinen Erwartungen wie auch die Leistungserwartungen an die Schülerschaft beziehen. Von ihm ist nichts mehr zu erwarten, da er von den Schülerinnen und Schülern auch nichts erwartet. 3.5.3 Die Reglementierung des Schülerverhaltens Eine besondere Rolle spielt an der beobachteten Schule die Arbeit mit dem „Trainingsraum-Programm“ (vgl. Balke 2001) einschließlich der damit verbundenen Regeln für den Schul- und Unterrichtsalltag. Darüber hinaus gibt es individuelle Regelungen einzelner Lehrerinnen und Lehrer zum Verhalten im Unterricht oder zu vergessenen Hausaufgaben. Ausgehend von drei Grundannahmen88 für einen respektvollen Umgang in der Schule (vgl. ebd.: 65) gelten an der beobachteten Schule sechs Unterrichtsregeln (z. B. „Ich höre zu, wenn andere reden.“) für alle Schülerinnen und Schüler verbindlich. Diese Regeln und das Prinzip des Trainingsraumes erklärt der Klassenlehrer gleich zu Beginn der Beobachtung. Feldinterview Herr Haffner Die Regeln für den Unterricht hängen rechts über bzw. neben der Tafel als Erinnerung für die Schüler. Zu Beginn des Schuljahres wurden die Regeln in zwei Stunden intensiv mit den Schülern besprochen, auch in Verbindung mit dem Trainingsraum. Hält ein Schüler eine dieser Regeln im Unterricht nicht ein, wird er an die Regeln erinnert, das heißt, er wird gefragt, an welche Regel er sich nicht gehalten hat und dann gefragt, ob er glaubt, sich den Rest der Stunde daran halten zu können. Antwortet der Schüler mit "ja", so kann er weiter im Unterricht bleiben. Antwortet er mit "nein", so hat er sich entschieden, den Unterricht zu verlassen und in den Trainingsraum zu gehen. Er bekommt dann einen Laufzettel, auf welchem der Lehrer den Grund des Verlassens des Unterrichts sowie die Uhrzeit notiert. Mit diesem Laufzettel geht der Schüler in den Trainingsraum, wo es eine Aussprache mit dem Schulsozialarbeiter gibt. Neben dem Schulsozialarbeiter sind dort auch wechselnde Lehrer anwesend. Nach der Aussprache bekommt der Schüler den Zettel zurück, auf dem auch die Abgangszeit vermerkt ist. Dies diene dem Überprüfen, wie lange es dauert, bis ein Schüler wieder im Unterricht ist. Die Dauer sei sehr unterschiedlich, meist zwischen 10 und 20 Minuten, manchmal jedoch auch länger. Häufig kommen die Schüler nicht mehr in den jeweiligen Unterricht zurück, auch weil man sie meist nicht zu Beginn weggeschickt hat. "Jetzt sage ich auch wegschicken“, sagt der Lehrer, grinst und korrigiert dann: „Weil sie sich meist nicht zu Beginn der Stunde entscheiden. Wenn sie 88 „1. Jede Schülerin und jeder Schüler hat das Recht ungestört zu lernen. 2. Jede Lehrerin und jeder Lehrer hat das Recht ungestört zu unterrichten. 3. Jeder muss stets die Rechte der Anderen respektieren.“
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zurückkommen, sind sie jedoch wirklich beruhigt.“ Er ist ganz begeistert: „Das ist super, das Programm.“ Er findet, dass es wirklich funktioniert. Man hat nicht mehr die Diskussionen und den Ärger. Der Schüler muss zur Aussprache und man kann den Unterricht in Ruhe halten. Bei den Älteren klappe das auch ganz gut, da hat schon ein Lernprozess eingesetzt. Die fünften Klassen müssen sich erst noch daran gewöhnen, aber gerne will da keiner hin. Ich frage scherzhaft, ob der Sozialpädagoge so unsympathisch sei. Im Gegenteil, meint Herr Haffner, dieser sei bei den Schülern sehr beliebt, aber es sei anstrengend, selbst Lösungswege zu suchen und sich selbst zu reflektieren. Da sei es einfacher, im Unterricht den Mund zu halten, erklärt der Lehrer und fügt hinzu, dass er auch schon einige Male jemanden in den Trainingsraum schicken musste.
Bereits im Feldinterview wird die Spannung zwischen der ‚eigenen Entscheidung‘ des Schülers, in den Trainingsraum zu gehen, und dem ,Wegschicken‘ durch einen Lehrer deutlich. Zentrale Merkmale der Arbeit mit den Unterrichtsregeln und dem Trainingsraum bestehen zum einen in der Freiwilligkeit der Entscheidung, zum anderen in der Anerkennung der Regeln durch den Schüler sowie seiner Einsicht bei Regelverletzung. Die Formulierungen des Lehrers verweisen darauf, dass es sich jedoch um eine Pseudo-Freiwilligkeit handelt, denn eine Entscheidung gegen diese Regeln ist nicht möglich. Auch den Ursachen für einen Verstoß gegen die Regeln wird von Seiten des Lehrers nicht nachgegangen; hält ein Schüler oder eine Schülerin die Regeln nicht ein, wird das ‚Problem‘ an den Sozialarbeiter delegiert. So muss der eigene Unterricht nicht hinterfragt werden. Während der Beobachtungen im Unterricht zeigte sich zudem, dass das spezifische Vorgehen (das Fragen nach der Regel, das Fragen nach dem künftigen Einhalten der Regel usw.) in der Praxis nur bedingt eingehalten wird. Zusätzlich zu den allgemein verbindlichen Unterrichtsregeln haben die einzelnen Lehrer verschiedene Belohnungs- und Bestrafungssysteme entwickelt, welche speziell in Ihrem Unterricht gelten. Zwei Beispiele aus dem Physikunterricht und dem Deutschunterricht geben einen Einblick in diese Systeme. Physik An der Tafel stehen untereinander fünf Kreise. Claudia wird nach den Regeln gefragt, sie verstößt gegen „Wir schweigen, wenn jemand anderes spricht“ und einer der Kreise wird durchgestrichen. Gleich darauf wird noch ein weiterer Kreis durchgestrichen, das System ist mir nicht erkenntlich und ich frage später bei der Lehrerin nach: Die Lehrerin will nicht immer nur bestrafen, sondern auch belohnen. Wenn jemand im Unterricht stört, dann wird einer der Kreise durchgestrichen. Bleibt am Ende der Stunde einer der Kreise leer, so erhält die Klasse ein Wölkchen (es handelt sich um einen Stempel). Bei fünf Wölkchen dürfen sich die Kinder als Belohnung etwas aussuchen für eine gemeinsame Stunde, z. B. einen Spaziergang oder gemeinsam Frühstücken. In der beobachteten Stunde kamen zu den fünf Kreisen, die alle durchgestrichen wurden, noch fünf weitere dazu. An vier davon wurden Namen geschrieben. Je ein Kreis war für Selin und Ben und zwei für Sören. Die Lehrerin erklärt mir auch diese Regelung: Hätte ein Schüler einen dritten Kreis bekommen, so hätte er in der Pause eine Strafarbeit erledigen müssen.
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Deutsch Die Lehrerin rügt die Schüler und erklärt, dass sie das viele Herumgelaufe in der Klasse nicht mag. Außerdem sei es ihr zu laut in der Klasse. Sie versucht, die Kinder am Platz zu halten, tadelt und ermahnt. Dann erinnert sie daran, dass sie die Klasse in der letzten Stunde mit dem Klangstab bekannt gemacht hat, meint aber gleich, dass die meisten Kinder sicher schon wieder vergessen haben, was zu beachten ist, deshalb erklärt sie das System noch einmal. Ich bekomme nicht alles mit, aber bei Erklingen des Klangstabes sollen alle Schüler ruhig sein. Weiterhin erklärt sie der Klasse, dass sie das Prinzip des Trainingsraumes gut findet und auch unterstützt, aber sie führt trotzdem noch „Unterstufen“ ein í Minuspunkte. Minuspunkte werden in Minusminuten umgerechnet und können zum Nachsitzen der gesamten Klasse führen. Als die Kinder dies hören, kommt es zu lauten Unmutsäußerungen, warum denn die ganze Klasse nachsitzen müsse. „Ihr seid eine Klassengemeinschaft“, lautet die Begründung der Lehrerin. Alle seien gemeinsam verantwortlich, betont sie noch einmal. Weiterhin gibt es für vergessene Hausaufgaben Striche. Hat man drei Striche bekommen, erhält man eine Sechs für den mündlichen Bereich. Die Striche können nicht getilgt werden.
In beiden Szenen kommen eigene Managementsysteme der Lehrerinnen als Ergänzung der bestehenden Schul- und Unterrichtsregeln zum Einsatz. In beiden Fällen geht es sowohl um individuelle als auch gemeinschaftliche Folgen des Fehlverhaltens einzelner Schüler, die einzelnen Regelungen unterscheiden sich jedoch in ihren Wirkungen auf die Mitglieder der Klasse. Während sich das Fehlverhalten Einzelner im ersten Beispiel vorwiegend negativ auf den betreffenden Schüler selbst auswirkt, also individualisiert wird, und im Falle nur weniger Störungen sogar eine Belohnung für die ganze Klasse winkt, wird im zweiten Beispiel die gesamte Klasse beim Fehlverhalten Einzelner in ‚Sippenhaft‘ genommen, die negativen Folgen also kollektiviert. Die Übertragung der Verantwortung für das Verhalten der Mitschüler dient einerseits der Entlastung der Lehrerin, anderseits zeigt sich hier die Hoffnung auf die sozialisatorischen Kräfte der Peers bei Abweichungen einzelner Schüler (vgl. auch die Besprechung von Verhaltensnoten in der Sekundarschule, Kap. 3.2.2). Neben den Schul- und Unterrichtsregeln, die für alle Schüler (und auch Lehrer) verbindlich gelten, gibt es also bei fast jedem Lehrer noch zusätzliche Regelungen zu beachten und zwar auch beim gleichen Lehrer verschiedene Regelungen für allgemeines Verhalten im Unterricht, Mitarbeit oder Hausaufgabenerledigung. So kommt es, dass die Vielzahl unterschiedlicher Regelungen nicht zur besseren Orientierung bezüglich der Lehrererwartungen beitragen, sondern zu vermehrter Unübersichtlichkeit und Unsicherheit bei Schülerinnen und Schülern führt, wie das folgende Beispiel aus dem Mathematikunterricht verdeutlicht. Mathematik Herr Haffner: „Wer hat die Hausaufgaben nicht gemacht?“ – Vincent (sein Buch ist weg), Frank, Mandy, Ali und Franka melden sich bereitwillig. Lehrer: „Ihr wisst, ne, dass Frank schon zwei Striche hat und Annegret auch. Wer drei Striche hat, kriegt einen Brief an die Eltern.“ Ali: „Wenn ich die Hausaufgabe nachhole, geht der Strich
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dann weg?“ Lehrer: „Ja, und das weißt du auch!“ Ali unsicher: „Aber Frau Lenart sagt, dass …“ Herr Haffner ungeduldig: „Ich mache das aber so!“
Hier zeigt sich beispielhaft das Verwirrpotential der unterschiedlichen Regelungen in Bezug auf das erwartete Schülerverhalten und die Konsequenzen bei einem Verstoß gegen die Regeln. Es wird deutlich, dass sich mangelnde Absprachen im Kollegium sowie ein Übermaß verschiedener Regelungen negativ auf die Orientierung der Schülerinnen und Schüler auswirken können (siehe auch Helmke 2009: 180). 3.5.4 Die Verhandlung von pädagogischen Aufgaben Trotz der vielfältigen Regelungen kommt es im Unterrichtsalltag mitunter zu unvorhergesehenen Situationen, in denen die üblichen Handlungsroutinen nicht mehr greifen. In der folgenden Szene aus dem Erdkundeunterricht kommt es zu einer ernsthaften Handlungskrise des Lehrers, ausgelöst durch die große Zahl von Schülern ohne Hausaufgabe. Erdkunde Lehrer: „So, die Hausaufgaben rausnehmen, die Atlanten rausnehmen, die brauchen wir heute weiter.“ Das dauert einige Minuten. „So, die Hausaufgaben haben hoffentlich alle gemacht. Nehmt sie bitte raus.“ Sofort rufen diverse Schüler, dass sie keine Hausaufgaben haben. Dabei wirken sie fröhlich unbedarft, jedenfalls nicht verlegen oder aufsässig. Der Lehrer wirkt ein wenig ungehalten, er geht alphabetisch das Klassenbuch durch und fragt, wer die Hausaufgabe hat. Von 22 anwesenden Schülern haben nur sechs die Hausaufgaben erledigt; jetzt ist Herr Haffner ziemlich sauer. „So können wir hier nicht arbeiten und ich sage es noch mal, wenn ich so etwas wie heute noch einmal erlebe, dann gibt es einen Brief an alle Eltern.“ Er schaut in die Klasse: „Das macht einen Lehrer sprachlos. Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ich geb nur ganz wenig Hausaufgaben auf, und wenn ich mal welche aufgebe, dann werden die nicht gemacht. Wenn das so nicht funktioniert, muss ich jeden Tag Hausaufgaben aufgeben, auch unsinnige. Ich glaube, ich werde jetzt schon einen Elternbrief verfassen, denn das ist ja das höchste …“ Er ist nach kurzzeitigem Hin- und Hergehen beim Reden wieder an seinem Tisch angekommen, schaut ins Klassenbuch und setzt dann wieder an: „Ich bin echt sauer. Ich hatte eben schon eine heftige Pause mit viel Stress und jetzt auch noch das. Ich habe einen Plan für diese Stunde und der baut auf diesen Hausaufgaben auf. Und ohne die Hausaufgaben bin ich jetzt aufgeschmissen und weiß nicht, was ich machen soll.“ Er wendet sich jetzt einer Schülerin zu, die vorher leise gejammert hat, er solle keinen Brief schreiben: „Und Mandy, du brauchst diesen Brief sicherlich sehr. Eine leistungsstarke Schülerin, die immer alles vergisst, die lieber zum Sport geht, als was zu machen.“ Im Anschluss daran fordert er die Schülerinnen und Schüler auf, die aufgegebenen Aufgaben im Unterricht zu bearbeiten.
Was passiert hier? Der vom Lehrer geplante Unterricht wird durch die nicht erledigten Hausaufgaben der Schülerinnen und Schüler durchkreuzt. Offensichtlich ist der Lehrer von diesem Tatbestand dermaßen überrascht, dass er vorüber-
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gehend handlungsunfähig wird und dies der Klasse gegenüber thematisiert. Im Verlauf der Situation zeigt sich die Entfaltung der Krise und der Versuch ihrer Bearbeitung durch den Lehrer, deutlich zum Beispiel in der Androhung auch „sinnloser Hausaufgaben“, also reiner Disziplinierung in Form von Strafarbeit. Er ringt darum, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Dies scheint erst mit dem Entschluss zu sofortigen Konsequenzen, dem Schreiben des Elternbriefes, zu gelingen. Am gleichen Tag, zwei Stunden später, unterrichtet der Lehrer eine weitere Stunde in der Klasse. In der Zwischenzeit hat er den Brief an die Eltern verfasst und für alle Schüler, auch diejenigen, die die Hausaufgaben erledigt hatten, kopiert. Mathematik Herr Haffner: „So, wir werden jetzt einen kürzeren Test89 schreiben und dann werde ich noch den Elternbrief austeilen.“ Es wird sofort unruhig in der Klasse, viele reden durcheinander. Herr Haffner: „Wenn ich den morgen nicht wieder kriege, dann rufe ich zu Hause an und frage: ‚Haben Sie den Brief gelesen? Den habe ich ihrem Sohn gestern mitgegeben.‘“ Ein Schüler: „Bei allen Eltern?“ Herr Haffner: „Ja.“ Es wird wieder lauter, dann wird der Test geschrieben, bei dem es vergleichsweise ruhig zugeht. Nach dem Einsammeln der Tests kommt der Lehrer zum Elternbrief. „Ich werde kurz den Brief vorlesen, bevor ich ihn austeile. Ich möchte morgen bitte den ganzen Zettel mit Unterschrift zurück.“ Er liest den Brief vor und verteilt ihn im Anschluss. „Elternbrief“ An die Eltern der Klasse 5x, 14.11.07 leider muss ich Ihnen heute mitteilen, dass bei Ihrem Kind die Hausaufgaben nicht gemacht werden. Es waren in Erdkunde lediglich 6 Schüler, die die vollständige Hausaufgabe vorweisen konnten, obwohl ich darauf achtete, dass die Hausaufgaben ins Hausaufgabenheft eingetragen wurden. Ich bin über diesen Zustand schockiert. Ausserdem (sic!) möchte ich Sie darum bitten, dass die Arbeitsmaterialien Ihres Kindes vollständig, und in Ordnung gehalten, mit zum Unterricht gebracht werden. Es fehlen einigen Schülern immer noch die Hefte, Lineale etc. Bitte achten Sie auch darauf, dass die Mappen geführt werden. Ich betrachte es auch als Ihre Aufgabe dafür zu sorgen, dass sich ihr Kind im Unterricht ruhig und konzentriert beteiligt. Im Moment herrscht eine große Unruhe im Unterricht. Unter diesen Umständen können wir die vorgegebenen Unterrichtsinhalte nicht vermitteln. Ich verbleibe mit freundlichem Gruß T. Haffner Die Erdkundehausaufgaben wurden angefertigt von: Franka, Kim, Medina, Till, Anton, Lasse (Vincent)90 Ich habe diesen Brief erhalten: 89 Es handelt sich um einen angekündigten Test und nicht um eine Disziplinarmaßnahme. 90 Vincent hat die Hausaufgaben nur teilweise erledigt, daher wurde sein Name in Klammern gesetzt.
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Nachdem alle Schüler einen Brief erhalten haben, ergreift Herr Haffner erneut das Wort: „Ich gebe so was nur ungern raus und ich werde mir ein System überlegen und Freitag bekannt geben. Ich werde eine Liste anfertigen, wofür ihr in meinem Unterricht Punkte bekommt. Ein Belohnungssystem wird eingeführt, es gibt Punkte für diejenigen, die sich ordentlich benehmen, ruhig und konzentriert mitarbeiten.“ Die Belohnung wäre, etwas Schönes zu machen, z. B. ins Schwimmbad gehen.
Diese Mitteilung an die Eltern beinhaltet in sich spannungsvolle Elemente. Neben der unpersönlichen, distanzierten Adressierung der Eltern, ohne direkte Anrede (Liebe / Werte Eltern), die eher einer formellen Information entspricht und weniger zu einem Brief oder einer persönlichen Mitteilung passt, steht die starke persönliche Betroffenheit des Lehrers, die mehrmals thematisiert wird („ich bin schockiert“). Weiterhin ist das Changieren zwischen der Ansprache einzelner Eltern und der Vergemeinschaftung als „Eltern der Klasse“ auffällig, eine Gemeinschaft, die vom Lehrer konstruiert wird, denn zunächst einmal sind die angesprochenen Personen Eltern eines Kindes und keiner Klasse. Der Wechsel zeigt sich deutlich in der Formulierung „bei Ihrem Kind“, welche sehr ungewöhnlich ist und wie eine Diagnose wirkt, für die das Kind nicht verantwortlich gemacht werden kann. Letztlich bleibt hier uneindeutig, wer für die Erledigung der Hausaufgaben verantwortlich ist. Dass die Kontrolle des Hausaufgabeneintrags vom Lehrer hervorgehoben wird, kann als Absicherung seines Teils an den Hausaufgaben gesehen werden. Insgesamt ist die Argumentation des Lehrers brüchig: Wird zunächst stark verallgemeinernd und pauschalisierend von Hausaufgaben (aller Schüler, in allen Fächern) unabhängig von einem spezifischen Ereignis gesprochen, erfolgt bereits im nächsten Satz eine deutliche Einschränkung auf eine einzelne Situation im Erdkundeunterricht sowie die Ausnahme von sechs Schülern. Dies wirkt nun irritierend: Trifft die vorherige Aussage tatsächlich auf das Kind der betreffenden Eltern zu? Auch scheint der Lehrer die Gelegenheit zu nutzen, weitere, bereits länger andauernde Missstände zu thematisieren und die Zuständigkeit der Eltern zu betonen. Indem der Lehrer als Sprecher einer Gemeinschaft auftritt (der Lehrerschaft bzw. der Institution Schule allgemein), der bei Nichtwahrnehmung der Elternaufgaben das Unterrichten unmöglich gemacht wird, verweist er über die Situation seines Unterrichts hinaus. Der Elternbrief stellt ein asymmetrisches Kommunikationsmittel zwischen Schule und Elternhaus dar. Hier wird die Zuständigkeit für bestimmte pädagogische Aufgaben zwischen Schule und Elternhaus verhandelt. Der Lehrer sieht sich vornehmlich verantwortlich für die Vermittlung der Inhalte, von der Familie hingegen wird die Erziehung und vor allem die Disziplinierung der Kinder erwartet. Der Brief fungiert somit auch als Disziplinierung der Eltern selbst. Deren Zuständigkeit wird bis in die Schule, in den Unterricht hinein reichend formuliert. Zentrale Aufgaben des Lehrers werden so an die Eltern übertragen und als unabdingbare Voraussetzung für erfolgreiches Lehrerhandeln konzipiert. Die
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Schülerinnen und Schüler werden im Brief hingegen nicht als handlungsfähige Subjekte, sondern eher als Objekte thematisiert, über die verhandelt wird. Bedeutsam ist zudem die Tatsache, dass dieser Brief allen Schülerinnen und Schülern zur Unterschrift mitgegeben wird. Alle Schüler gelten somit als potentiell unzuverlässig und kontrollbedürftig und alle Eltern müssen sich als Verantwortliche angesprochen fühlen. Alle diese Elemente dienen der Entlastung des Lehrers in einer massiven Handlungskrise. Als Reaktion auf die unvorhergesehene Situation und die damit einhergehende Unsicherheit und fehlende Handlungskompetenz des Lehrers wird die Disziplinierung der Schüler an deren Eltern delegiert und damit externalisiert. Darüber hinaus wird ein zusätzliches Regelsystem eingeführt, das noch stärker darauf abzielt, das Schülerverhalten gemäß den Lehrererwartungen zu reglementieren. 3.5.5 Die Zeugnisausgabe Das im Folgenden präsentierte Beobachtungsprotokoll beschreibt die erste Zeugnisausgabe in der fünften Klasse der Hauptschule. Es handelt sich also um das erste Zeugnis an der neuen Schule, das erste Zeugnis nach der Übergangsentscheidung, die für die Beteiligten als negative Selektion funktioniert hat und sie auf die unterste der Schulformen geführt hat. Hier muss sich zeigen, welche Relevanz an dieser Schule den Zensuren zugesprochen und wie mit der Sortierung der Schulklasse nach ,Leistung‘ umgegangen wird. Dabei kann vermutet werden, dass sich im Bezug auf die soeben negativ Selektierten pädagogische Aufgaben besonderer Art stellen: Wie kann es gelingen, auch an der Hauptschule die Erfahrung schulischer Leistungsbewertung zu einem ,Erfolg‘ werden zu lassen? Und wie wird mit tatsächlichem Misserfolg oder Erfolg einzelner Schüler und Schülerinnen umgegangen? Die Zeugnisausgabe fand an einem Mittwoch statt. Aufgrund besonderer Umstände schlossen sich keine Schulferien an den Halbjahresabschluss an, sondern das neue Schulhalbjahr begann offiziell am nächsten Tag. Der Klassenlehrer hatte jedoch einen flexiblen Projekttag vorgesehen, an welchem er plante, mit den Kindern ins Schwimmbad zu gehen. Auftakt und Aufklärung Mittwoch, 3. Stunde Vor der Pause sagte ein Schüler noch „nachher gibt's Giftblätter“. Der Lehrer meinte dazu, dass es vom Schüler abhinge, ob es denn Giftblätter seien. Die Kinder kommen nach der Hofpause wieder in den Klassenraum. Es herrscht weiterhin ziemliche Unruhe, die Kinder laufen durch den Raum, rufen durcheinander.
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Jetzt merkt man jedoch gar nichts von gespannter Aufgeregtheit oder Erwartung. Die Lehrer im Lehrerzimmer eben schienen da aufgeregter als die Schüler jetzt. Da diese nicht so richtig ruhig werden, spricht der Lehrer in ganz normaler Lautstärke in das Gebrummel hinein: „So, eure Mathesachen vom Tisch.“ Die Kinder laufen weiterhin hin und her, räumen zum Teil ihre Sachen weg, machen Krach, lachen. Es gibt diverse Gespräche zwischen kleineren Gruppen. Jemand will vom Lehrer wissen, ob dieser auch ein Zeugnis bekäme, woraufhin er antwortet, dass die Kinder ihm ja mal eins schreiben können. Mehrere Jungen finden die Idee gut, Sören ruft „Sechs, Sechs, Sechs ...“. Herr Haffner geht nicht darauf ein. Er wartet eine Weile, sagt „so“ und schaut in die Klasse, dann wartet er wieder. In der Klasse wird es nur wenig ruhiger. Er sagt noch einmal „so“ und versucht zu erklären, was er da in der Hand hat (ich kann es von meinem Platz aus nicht erkennen), aber die Kinder lassen ihn nicht zu Wort kommen, rufen durcheinander.
Würde im Protokoll nicht Bezug auf eine Szene vor der Pause („Giftblätter“) genommen, so wäre dieser Stundenauftakt nur schwerlich als Beginn einer Zeugnisausgabe zu erkennen. Die Kinder sind zwar unruhig, erscheinen der Ethnographin jedoch nicht sonderlich aufgeregt oder in feierlicher Erwartung. Eine erneute Begrüßung mit dem Verweis auf die Zeugnisausgabe findet nicht statt. Lediglich die Aufforderung, die Mathesachen vom Tisch zu räumen, deutet an, dass etwas Neues folgt; ob es sich dabei jedoch um Unterricht oder etwas Anderes handelt, bleibt unklar. Was hat es mit der Ankündigung der „Giftblätter“ durch einen Schüler auf sich? Es handelt sich bei dieser Äußerung im Beisein des Lehrers um eine kleine Provokation, um eine interaktive Herausforderung, welche die herausgehobene Bedeutung schulischer Zeugnisse auf die Probe stellt. Der in der Schülerkultur tradierte Schimpfname „Giftblätter“91 kann als eine rituelle Abwertung jenes Dokumentes verstanden werden, das als Höhepunkt und Ziel der Arbeit eines ganzen Halbjahres inszeniert wird. Dabei geht die Gefahr nicht nur von schlechten Noten aus, sondern die Zeugnisse selbst stellen die Bedrohung dar. Wörtlich genommen wäre bereits die Berührung dieses Dokumentes gefährlich! Der Ausdruck ist durchaus auch an anderen Schulformen gebräuchlich, an der Hauptschule könnte er jedoch eine besondere Bedeutung haben – mussten die Schüler in den vergangenen Schuljahren doch vergleichsweise schlechte Zeugnisse entgegen nehmen (die jeweils schlechtesten in ihren Klassen). Interessant ist dann die Reaktion des Lehrers, der nicht etwa die generelle Diffamierung des Zeugnisses bestreitet, sondern den potentiell bedrohlichen Charakter des Dokumentes aufgreift und in die Verantwortung des Schülers stellt: Anders als in der Lesart der Schülerkultur stellt das Zeugnis in seiner Interpretation eben keineswegs für alle ein „Giftblatt“ dar, sondern nur für einige Schüler, die sich dies selbst zuzuschreiben haben. 91 Dieser ist den Ethnographen bereits aus der eigenen Schulzeit bekannt.
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Gehen wir weiter im Protokoll: Obwohl die Stunde bereits begonnen hat, liegt die Aufmerksamkeit der Klasse nicht beim Lehrer. Das Thema der Stunde – die Zeugnisse – wird erstmals von einem Schüler thematisiert, indem er die Frage aufwirft, ob nicht auch der Lehrer in die Position des zu Bewertenden zu bringen wäre. In scherzhafter Weise verhandeln Schüler und Lehrer das asymmetrische Verhältnis von Bewertendem und Bewerteten. Der Vorschlag des Lehrers kann als Angebot eines symbolischen Ausgleichs dieser Asymmetrie interpretiert werden – zugleich findet dieses Angebot aber im Rahmen der gegebenen Asymmetrie statt und verstärkt diese. Welche Bedeutung hat dieses Angebot aber für Schüler und Lehrer? Kann der Lehrer dieses symbolische Angebot leichtfertig unterbreiten, da es für ihn relativ folgenlos bleibt? Jedenfalls greifen es die Schüler im Sinn eines ,als ob‘-Handelns begeistert auf, sie kosten ihre symbolische Macht aus und führen dem Lehrer in einiger Drastik und in der Rahmung des Spaßes die Bedeutung einer extrem negativen Bewertung vor Augen. Herr Haffner reagiert dann nicht mehr darauf – jegliche (ernsthafte) Reaktion hätte allerdings auch die in diesem Fall essentielle Rahmung der Interaktion als ,Spaß‘ gefährdet. Stattdessen versucht er, die Situation neu zu rahmen und einen Anfang für das Eigentliche zu schaffen („So.“), was aber zunächst nicht recht gelingen will: Es gibt parallele Interaktionen in der Klasse, aber keine von allen geteilte Unterrichtssituation. Obwohl es nicht wirklich leiser wird, beginnt er dann: „Ich habe hier Originalzeugnisse von Schülern (.) aus der Grundschule. So, und zwar, muss ich die auch austeilen und die ham jetzt nichts mit den Zeugnissen zu tun, und deswegen geb ich die einfach schon mal raus, bevor ich meine große Ansprache halte.“ […] Es wird sehr laut in der Klasse, während der Lehrer mehreren Schülern die alten Zeugnisse aushändigt. Nach mehreren Versuchen des Lehrers wird es langsam etwas ruhiger.
Der Lehrer beginnt mit einer Aktion, die noch nicht das Eigentliche, die Ausgabe der aktuellen Halbjahreszeugnisse, darstellt, sondern dieser vorgeschaltet ist, obwohl es sich in gewisser Weise ja auch um eine Zeugnisausgabe handelt. Offenbar wurden die Grundschulzeugnisse von einigen Eltern bei der Anmeldung an dieser Schule im Original (anstelle einer Kopie) abgegeben und müssen nun wieder zurückgegeben werden. Hier drängt sich im Rahmen der aktuellen Zeugnisausgabe eine Verbindung zwischen den Grundschulzeugnissen und den aktuellen Zeugnissen, z. B. in Form eines Vergleichs oder einer Abgrenzung, geradezu auf. Diese Verbindung dementiert der Lehrer jedoch ausdrücklich „die ham jetzt nichts mit den Zeugnissen zu tun“ und stellt sich so gerade nicht in die Kontinuität der Bildungslaufbahn der Schüler, die in der Grundschule begann. Dabei bedeuteten die Grundschulzeugnisse die Weichenstellung für den Hauptschulbesuch der Schüler.
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Neben einem Bezug auf die eher schlechten Leistungen der Schüler böten die Grundschulzeugnisse auch die Möglichkeit, einen positiven Leistungsverlauf in der Hauptschule zu entwickeln, da der Logik der Selektion in den Bildungsgang Hauptschule entsprechend die Leistungen eines Großteils der Schüler besser ausfallen müssten. Diese Möglichkeit ergreift der Lehrer jedoch nicht. Auf diese Art inszeniert der Lehrer einen kompletten Neuanfang, der sich von jeglichen Bezügen auf die Grundschule befreit und somit die (negativen) Leistungen der Schüler ausblendet. Das Neue selbst wird jedoch nicht spezifiziert. Im Verweis auf „meine große Ansprache“ kommt dann ganz deutlich das gebrochene Verhältnis des Lehrers zur Zeugnisausgabe zum Ausdruck, denn eine solche Ankündigung kann nur als Ironie interpretiert werden. Der Lehrer gibt zu verstehen, dass er weiß, dass von ihm eine feierliche Rahmung des Ereignisses erwartet wird und dass er eine entsprechende Rede zu halten hat, er kann diese Rollenerwartung aber nur in ironischer Brechung affirmieren. Im Anschluss folgt dann auch keineswegs eine „große Ansprache“, sondern eher ein bürokratisches Abarbeiten von Tagesordnungspunkten. Damit bietet er zugleich den Rahmen für eine distanzierte Rezeption der Situation an. Dem Lehrer reicht das aber scheinbar noch nicht. „Ich möchte, dass ihr jetzt mal n bisschen runter kommt, mit eurem Pegel, ja. Ich kann verstehen, dass ihr aufgeregt seid, das ist auch in Ordnung, aber man muss dabei nicht so laut werden.“ Erstaunlicherweise werden die Kinder wieder lauter. Irgendjemand macht laute Klopfgeräusche, andere unterhalten sich laut. Der Lehrer hat Mühe, die Kinder ruhig zu bekommen und auf das Bevorstehende zu konzentrieren. Er setzt mehrmals an, kommt aber nicht gegen den Lärm an. Durch den Lärmteppich höre ich ein Mädchen (Selin?) sagen: „Nun machen Sie’s nicht so spannend.“ Irgendwann ruft Sören: „Leise sein, sonst kriegen wir kein Zeugnis!“ Danach wird es langsam ruhiger.
War für das Organisatorische eine mittlere Aufmerksamkeit der Klasse für den Lehrer ausreichend, so scheint jetzt größere Ruhe erforderlich, was auf die Bedeutsamkeit des Folgenden hinweist. Dabei dient die Deutung der Unruhe in der Klasse als „Aufregung“ gerade der Stützung der Relevanz des Bevorstehenden. Der hohe Geräuschpegel könnte aber genauso gut auch als Desinteresse interpretiert werden. Selins Vorwurf, der Lehrer würde die Spannung der Situation bewusst erhöhen, während dieser praktisch durch die Schüler daran gehindert wird, mit der Zeugnisausgabe fortzufahren, erscheint raffiniert und bringt die Situation in gewisser Weise auf den Punkt: Der Lehrer ist gefangen in der Zwickmühle zwischen der Inszenierung der Bedeutsamkeit des Außeralltäglichen und dem Herunterspielen eines Ereignisses, zu dem er ein (wie wir sehen werden: notwendigerweise) gebrochenes Verhältnis hat. Sörens Aufforderung „Leise sein, sonst kriegen wir kein Zeugnis!“ stellt einen weiteren geschickten Schülerkommentar auf die Situation dar. Auf einer Ebene ist dieser ein Kooperationsangebot an den Lehrer (übrigens durch den berüchtigtsten Schüler der Klasse), anderer-
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seits handelt es sich um beißende Ironie: Schließlich ist klar, dass es im Rahmen dieser Veranstaltung schlicht keine Option darstellt, dass die Schüler ihre Zeugnisse nicht bekommen. Zugleich ist der Einwurf Sörens wohl auch Ausdruck der Ambivalenz der Schüler: Welchen Anreiz leise zu sein bietet es für sie, die oben als „Giftblätter“ titulierten Zeugnisse ausgehändigt zu bekommen? Man weiß, dass die Zeugnisse geschrieben sind und vorliegen, und will es nun auch wissen. Auch diejenigen, die Befürchtungen hegen, würden wohl kaum darauf verzichten, das Zeugnis in Empfang zu nehmen. „So. (4) Eure Zeugnisse, die ihr jetzt bekommt,“ (eine Schülerin macht ein lautes Geräusch des Erschreckens) „sehen etwas anders aus als das, was ihr bisher habt. Ihr habt, vom Äußerlichen sehen die Zeugnisse so aus, dass viel mehr Fächer drauf stehen, als ihr eigentlich habt. Das ist Absicht, weil die Zeugnisformulare euch auch andeuten sollen, dass ihr bald noch viel mehr andere Fächer dazu bekommt.“ In der Klasse beginnen einige zu stöhnen, oder „oh-oh“ zu sagen. „So. Als erstes (5) haben wir nicht viel Bemerkungen, hab ich nicht viel Bemerkungen auf euer Zeugnis geschrieben, aber ich hoffe sehr- oder sagen wir mal so, sehr passende und kurz zusammengefasste Bemerkungen92. Und ich möchte euch bitten, dass ihr diese Bemerkungen, äh, ordentlich mit euren Eltern durchlest und mal versucht zu verstehen, was das bedeutet. Ja. Zweitens. Die Zeugnisse, die ihr hier bekommt, werdet ihr am Freitag wieder mitbringen, unterschrieben von euren Eltern.“ Ben neben mir hört aufmerksam zu und nickt beim letzten Satz des Lehrers. „Ich muss hier abhaken, dass ich die Zeugnisse gesehen habe, äh die Unterschrift eurer Eltern auf dem Zeugnis gesehen habe. Also, nicht morgen, weil ich sonst Sorge habe, dass die Zeugnisse nass werden durch die Schwimmsachen, sondern Freitag, ja. Spätestens Montag.“
Der Auftakt der Ansprache bezieht sich auf die äußere Gestalt der Zeugnisse, auf das Formular. Dieses Formular markiert den Bruch zur Grundschulzeit und setzt Zeichen für die neue Schule, indem es schon auf weitere neue Fächer verweist. Dass der Lehrer dem Formular eine „Absicht“ zuspricht, ist verblüffend, weil man eigentlich vermuten würde, dass die Form pragmatischen Erwägungen geschuldet ist (ein Formular für alle Klassen). In der Formulierung des Lehrers werden die „anderen Fächer“ also eingeführt, weil und insofern sie auf dem Zeugnis stehen. Das Zeugnisformular als solches wird hier in überraschender Weise zum handlungsmächtigen Agenten, dem sogar „Absichten“ zugeschrieben werden. Eine derartige Thematisierung der Zeugnisse ermöglicht dem Lehrer einen Rückzug von der eigenen Akteursposition. – Die Ankündigung der neuen Fächer und der Verweis auf die Laufbahn an der neuen Schule fungieren insgesamt als Warnung und Menetekel, wie der einsetzende Chor der Schüler mit seinen Ausrufen des Erschreckens belegt.
92 Die „Bemerkungen“ bestehen in den meisten Fällen aus nur einem Satz, z. B. „Claudia lässt sich zu sehr von ihren Mitschülerinnen ablenken.“
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Nach diesem Auftakt kommt der Lehrer zum nächsten Thema, wiederum eingeleitet von einer bedeutungssteigernden, mehrsekündigen Pause und gerahmt als „erster“ von offenbar mehreren Punkten, die anzusprechen er sich vorgenommen hat. Bezüglich der „Bemerkungen“ auf den Zeugnissen gibt es zunächst Verwirrungen um die Urheberschaft, der Lehrer kommt erst im zweiten Anlauf zum „ich“ und betont auch zweimal, dass es sich um „nicht viel“ handele. Womit tut er sich hier so schwer? Wogegen redet der Lehrer hier an? Der Gegenstand der Bemerkungen bleibt vollkommen ausgespart: Der Lehrer deutet als Maßgaben für die Bemerkungen lediglich deren Passung an (zu wem oder was sollen sie passen?) und die Kürze (Inwiefern ist das ein Gütekriterium?). Die starke Relativierung der „Bemerkungen“ steht dann in einem deutlichen Kontrast und Spannungsverhältnis zu der Aufforderung diese „ordentlich“ durchzulesen und zu versuchen „zu verstehen, was das bedeutet“. Es bleibt rätselhaft: „Bemerkungen“ erscheinen dem Wortsinn nach randständig und dem Eigentlichen hinzugefügt, auf dem Zeugnis allerdings sind die „Bemerkungen“ vorgesehen als eine Ergänzung der Ziffernnoten, die diese nicht i.e.S. kommentieren, sondern sich auf einen eigenen Gegenstandsbereich beziehen. Dieser Gegenstandsbereich der Bemerkungen bleibt jedoch in den Ausführungen des Lehrers komplett vage und nicht zu greifen: Geht es um das Verhalten von Schülern? Um deren Persönlichkeit? Um Auffälliges oder um Gewöhnliches? Welche Funktion hätte dies alles auf einem Zeugnis, das der Bewertung schulischer Leistungen gewidmet ist? Der Lehrer jedenfalls nimmt offensichtlich ein sehr ambivalentes Verhältnis zu den Bemerkungen auf den Zeugnissen der Kinder ein, das zwischen Relativierung und Überhöhung schwankt. Diese Ambivalenz gründet sich möglicherweise in einer noch tiefergreifenderen Unsicherheit hinsichtlich der Aufgabe der schulischen Leistungsbewertung und seiner eigenen Rolle dabei – diese Vermutung wird im weiteren Verlauf zu prüfen sein. „So. Dann (..) glaube ich, dass es so ist, dass einige von euch ein wirklich gutes Zeugnis bekommen, vielleicht auch eins so gut wie sie's noch nie hatten, und andere bekommen auch ein schlechteres Zeugnis. Hast du eine Fünf auf deinem Zeugnis stehen (Aufschrei von Selin und entsetztes Gesicht, mehrere Jungen reden miteinander, aber es geht wohl um andere Dinge), steht drauf, dass die Versetzung nicht gesichert ist. Wenn du in die sechste Klasse (.) gehen möchtest, mit mir und dem Rest der Klasse, solltest du möglichst keine Fünfen haben. Du darfst schon auch mal eine oder zwei Fünfen haben auf dem Zeugnis, aber die müssen ausgeglichen werden können. Da gibt’s Ausgleichsregeln, das heißt, wenn du in Mathe eine Fünf hast, musst du mindestens eine Drei in Deutsch haben. (Krach in der Klasse) Wenn du in Mathe eine Fünf hast und in Deutsch eine Vier oder anders rum, kannst du die nicht ausgleichen und du darfst halt nicht zu viele Fünfen haben, die du nicht ausgleichen kannst. Deswegen steht dieser Vermerk drauf und es gibt eine weitere, wenn du zwei Fünfen auf dem Zeugnis hast, steht drauf, die Versetzung ist nicht gesichert, sondern, die Versetzung ist gefährdet. Das ist große Gefahr. Und hast du drei Fünfen oder mehr auf'm Zeugnis, steht drauf, die Versetzung ist stark gefährdet. So, das einmal. Andererseits
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[gibt es auch] Schüler, die eine Fünf haben und auch viele Vieren, da hab ich dann deswegen auch geschrieben nicht gesichert, weil so eine Vier mal schnell zu einer Fünf werden könnte. (Ein Schüler: „Oha!“) So.“
Der Eingangssatz enthält eine mehrfache Brechung des versuchten Lobes durch den Lehrer: zunächst im „glaube ich“ und dann auch in der Formulierung „wirklich gute Zeugnisse“: Ist diese Hervorhebung auf die Schulform zu beziehen? Geht es um absolute oder um an der Hauptschule „gute Zeugnisse“? Letzteres bestätigt sich in der Bemerkung, dass einige ein so gutes Zeugnis bekämen, „wie sie es noch nie hatten“. – Der Selektionslogik des Bildungssystems entsprechend müsste doch auch erwartet werden, dass unter den Bedingungen der Auslese bessere Leistungen erzielt werden, die sich dann auch in guten Zeugnissen niederschlagen. Der Lehrer scheint sich dieses Effektes aber nicht so sicher zu sein, wie sich in dem vorgeschalteten „vielleicht“ dokumentiert. An dieser Stelle wird nun doch die Verbindung zu den Grundschulzeugnissen hergestellt, die weiter oben noch dementiert wurde. Ein positives Ergebnis für alle (vgl. Breidenstein/Meier/Zaborowski 2007) wird hier allerdings nicht versprochen. Weiterhin dient die Erwähnung der schlechten Zeugnisse der direkten Überleitung in die Erläuterung der Bemerkungen zu den Versetzungsregelungen. Hier wechselt der Lehrer den Sprachmodus („du“, „deinem“), so dass sich jeder angesprochen fühlen kann und muss. Selin reagiert direkt darauf; sie trägt die Situation mit und dramatisiert sie gleichzeitig. Die überraschende Formulierung „Wenn du in die sechste Klasse (.) gehen möchtest, mit mir und dem Rest der Klasse“ setzt als Ziel zunächst die Gemeinschaft der Klasse über den Erfolg, die nächste Klassenstufe erreicht zu haben. Darüber hinaus ist der Übergang in die höhere Klassenstufe scheinbar dem Wollen der Schüler überantwortet. Er wird also nicht als eine Frage des Könnens thematisiert, sondern von den Schülerfähigkeiten und -leistungen abgekoppelt; der Leistungsaspekt sowie das Zustandekommen von Noten werden in dieser Formulierung komplett ausgeblendet. Aus einer Selektionsschwelle der Institution Schule wird so eine persönliche Entscheidung der einzelnen Schülerin. Auf der anderen Seite wird formal über die rechtlichen Bestimmungen informiert, die für ein geordnetes und anonymes Prozessieren von Noten sorgen. Der Lehrer selbst verschwindet als Akteur aus diesem Geschehen. Stattdessen setzt er sich als Leiter einer Gemeinschaft ein, die allerdings auch nicht verbürgt werden kann und gebrochen erscheint in jedes einzelne Individuum und jeweils den „Rest der Klasse“. Im Kontext dieser Aufklärungen über die Versetzungsregeln wird die herausgehobene Bedeutung der Note Fünf sehr augenfällig: Allein in diesem kurzen Abschnitt wird sie zehnmal genannt. Die Note Fünf markiert den entscheidenden Bezugspunkt einer Praxis der Leistungsbewertung, die um die Schwelle der
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3 An den Grenzen des Leistungsprinzips
Versetzung in die nächste Klasse zentriert ist. Fünfen fungieren als Zeichen der „großen Gefahr“, die Vermeidung der Fünf rückt in das Zentrum aller Anstrengungen. Die bedrohliche Bedeutung der Note Fünf strahlt auch auf die Note Vier noch aus, „weil so eine Vier mal schnell zu einer Fünf werden könnte“. Die Realschulempfehlung Mit der folgenden Sequenz gelangen wir nun an die Stelle, an der der Bezug auf die Mehrgliedrigkeit und Selektivität des Schulsystems explizit wird: „Es gibt eine Person, die hat ein so gutes Zeugnis, dass da drauf steht, dass sie äh, sozusagen auch mit diesem Zeugnis an die Realschule gehen könnte.“ Sören fragt: „Wer ist das?“ Jemand ruft: „Ich weiß es.“
Mit der Umschreibung „eine Person“ kann Distanz hergestellt werden, es wird jedoch Spannung im Sinne eines Geheimnisses aufgebaut. Andererseits kann sie auch dem Schutz der nicht genannten Person dienen, wenn es sich um eine unangenehme Angelegenheit handelt. Dies wäre vor dem Hintergrund eines guten Zeugnisses allerdings verwunderlich. Die Formulierung enthält jedoch insgesamt eine starke Relativierung dessen, was tatsächlich auf dem Zeugnis geschrieben steht, da ein Unterschied zwischen der tatsächlichen Kompetenz auf die Realschule zu gehen und der Tatsache, dass es auf dem Zeugnis steht, gemacht wird (es steht nur drauf). Zusätzlich relativiert wird die Aussage durch den Einschub „sozusagen“ und das in der Satzstellung verrutschte „auch“, das in dieser Form das Zeugnis einschränkt, sowie schließlich durch den Konjunktiv „könnte“. Die Reaktionen der Schüler zeigen Interesse; sie kooperieren auch in dieser Inszenierung und erhöhen die Spannung, indem sie (sich) nach der Identität der Person fragen, die dieses herausgehobene Zeugnis erhält. Lehrer: „Das ist (.) das Zeugnis von ähm Claudia, ich hab auch mit ihr gesprochen, ich muss diesen Vermerk drauf schreiben, wenn du zwei Zweien und eine Drei oder besser in einem Hauptfach hast, wie Mathe, Deutsch und Englisch und der Rest besser als Drei Komma Null im Schnitt ist, dann muss ich das drauf machen.“
Der Sprachduktus einer unangenehmen Angelegenheit, über welche die Klasse informiert wird, verdichtet sich. Die Schülerin ist informiert, der Vermerk muss aufs Zeugnis. Es wird auch hier wie bei den Fünfen lediglich von Vermerk gesprochen. Um die Leistung der Schülerin hervorzuheben, wären weitaus positivere Formulierungen möglich, während so eine Vereinheitlichung der Vermerke stattfindet. Die zweifache Betonung, dass die Empfehlung nur durch äußeren Zwang auf das Zeugnis gelangt ist, sowie die angefügte Legitimierung durch die Erläuterung der rechtlichen Regelung verweisen auf eine Diskrepanz zwischen Lehrereinschätzung und der Vorschrift. Der Lehrer inszeniert sich als Vollzugsbeamter von Regelungen und Vorgaben, auf die er keinen Einfluss hat, die er
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aber ausführt. Der Vermerk wird in diesem Sinne auch wie ein Stempel „drauf gemacht“.93 „Das heißt aber nicht, dass du‘s an der Realschule schaffen kannst, denn wir haben das schon bei vielen Schülern gehabt, die sind dann hingegangen, und die ham Tatsache dann fast nur Fünfen und Sechsen aufm Zeugnis gehabt und wir ham sie hier wieder gesehen, völlig frustriert, weil das viel zu schwer war, (.) ja.“
Wird bereits in den Bemerkungen davor die Leistung der Schülerin nicht anerkannt und die Bedeutung der Empfehlung relativiert, so formuliert der Lehrer hier das wahrscheinliche Scheitern bei einem Wechsel an die Realschule – sie kann es nicht schaffen. Dabei ist der ungewöhnliche Sprachgebrauch des Lehrers erhellend. Es handelt sich um eine Mischform von zwei prinzipiell positiven Aussagen, die in der Kombination eine negative Form annehmen. Positiv formuliert könnte der Lehrer sagen „Das heißt aber nicht, dass du’s nicht schaffen kannst.“ (Auch wenn es schwer werden wird.), in der Bedeutung, dass man es tatsächlich schaffen kann, ein Scheitern wird jedoch auch nicht ausgeschlossen. Eine neutralere Version wäre etwa: „Das heißt aber nicht, dass du es schaffen wirst.“ Hier bliebe mehr Offenheit in Bezug auf Erfolg und Versagen, mit etwas stärkerem Fokus auf der Möglichkeit des Scheiterns. Gewählt wird jedoch eine andere Formulierung, in der sich die beiden aufgeführten Alternativen überlagern: „Das heißt aber nicht, dass du's an der Realschule schaffen kannst“. Hier kommt die grundlegende Überzeugung des Lehrers zum Vorschein. Er verweigert der Schülerin also selbst die Möglichkeit des Erfolgs an der Realschule. In seiner Begründung bleibt er nicht im Ton sachlicher Aufklärung über Chancen und Risiken der höheren Schulform, sondern entwirft ein diffuses Bedrohungsszenario, welches die Realschule als gefährlichen Ort des Scheiterns, die Hauptschule jedoch als sicheren Hort konstruiert. Dabei werden Räume mit unterschiedlicher Qualität entworfen. Die Realschule ist ein fremder und ferner Ort, zu dem einige zwar „hingegangen“ sind, während die eigene Schule die bekannte und vertraute Heimat darstellt, wo man sich dann „wiedersieht“. Das Wiedersehen der Zurückgekehrten ist aber kein freudiges Ereignis, weil diese gezeichnet sind von den schrecklichen Erfahrungen in der Fremde. – Aus dieser Perspektive, von der Hauptschule aus geschaut, kommen die erfolgreichen Wechsler an die Realschule systematisch nicht vor, weil man diese ja nicht „wiedersieht“. Einige der Kinder schauen erschrocken, ein Schüler ruft: „Geh lieber nicht hin!“ Ein anderer: „Bleib lieber hier.“
93 Beim Anblick der Voraussetzungen für die Realschulempfehlung kann man sich durchaus wundern, dass nur eine Schülerin diese überhaupt erfüllt. Wird das Notenspektrum nicht in seiner Breite genutzt?
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Hier wird das Publikum aktiv, die Mitschüler bringen sich als Betroffene ins Spiel. Sie reagieren stark und emotional auf das Bedrohungsszenario und artikulieren ihrerseits die Warnung davor, sich in Gefahr zu begeben, und den Aufruf, in der geschützten Klasse zu bleiben. Eine mögliche Anerkennung der Mitschüler für gute Leistungen wird durch die Angst ‚neutralisiert‘. Dabei haben die Mitschüler selbst auch ein Interesse daran, die Vision der positiven Hauptschule als dem einzigen Ort, an dem man sich ihnen angemessen widmen kann und sie sich wohl fühlen können, aufrecht zu erhalten: Jeder Schüler, der die Klasse verlässt und an der anderen Schulform erfolgreich ist, gefährdet die positive Identifizierung mit der eigenen Schule. Der Lehrer: „Rede mit deinen Eltern über diese Bemerkung, sie könn‘ mich auch gerne anrufen und fragen, was das zu bedeuten hat. Und was es für dich zu bedeuten hat.“
Dies hört sich fast wie eine Drohung an. Dabei wird die Bemerkung als ein Text konstruiert, der nicht für sich genommen verständlich ist, sondern welcher der Erläuterung bedarf. Die individuelle Bedeutung dieses Textes klärt sich erst im ‚Darüber Sprechen‘, entweder im Gespräch der Eltern mit der Tochter, die ja jetzt die warnende Botschaft des Lehrers vernommen hat oder mit dem Lehrer als Experten selbst. Jedenfalls versucht der Lehrer sicherzustellen, dass die Eltern mit der Realschulempfehlung nicht ,allein gelassen‘ werden, er bietet seine Expertise an, zugleich spricht er den Eltern und Claudia ein eigenständiges Urteil ab. Insgesamt vermittelt die Situation eher den Eindruck eines Problemfalles, denn eines Lobes für gute Leistungen. Von den Leistungen wird weitgehend abstrahiert – entscheidend sind nur noch die Noten selbst, ohne den Bezug zur Leistung. Nicht die Leistungen waren gut, sondern das Zeugnis ist es. Und nicht die Leistungen und das Leistungsvermögen erlauben es, auf eine höhere Schulform zu wechseln, lediglich ein Durchschnitt setzt rechtliche Regelungen in Gang. Zeugnisnoten sind gekoppelt an Verfahrensregeln, die bürokratischjuristischer Art sind und zur Umsetzung verpflichten. „Ansonsten, äh ist trotzdem ein Zeugnis besser im Schnitt94, ich glaube (.) es war Medina. Medina hat glaube ich das beste Zeugnis in dieser Klasse.“ Von einigen Kindern kommen Laute, die man als Anerkennung deuten könnte. „Ich habs aber leider nicht ganz sicher im Kopf. So.“ (8 sec Krach) Im Anschluss teilt der Lehrer die Zeugnisse aus, bei einigen Schülern sagt er kurz einige Worte dazu, aber sehr leise, so dass es nur der jeweilige Schüler (und sein direktes Umfeld) hören kann.
94 Dieser bessere Schnitt ohne Realschulempfehlung ergibt sich aus besseren Noten in nicht für die Empfehlung relevanten Fächern (z. B. Musik).
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Es erstaunt, dass der Lehrer nicht weiß, wer das beste Zeugnis der Klasse hat. Offenbar sind die Leistungen Einzelner nicht von Bedeutung, so lange sie nicht das Risiko des Auf- oder Abstieges beinhalten und damit die Gemeinschaft der Klasse nicht gefährden. Das Hauptziel für die Zeugnisausgabe ist das gemeinsame Klassenziel: Alle Kinder wechseln gemeinsam in die nächste Klasse über. Der Gemeinschaftsgedanke wird hier so interpretiert, dass keiner zurück bleiben darf, es darf jedoch auch niemand nach Höherem streben und die Schulform wechseln. So wird auch die Abstraktion vom Individuellen („eine Person“) in Bezug auf die Realschulempfehlung verständlich: Für das Szenario ist uninteressant, um wen es sich handelt, wer den Vermerk bekommen hat, denn im Rahmen des Gesamtentwurfs scheint klar zu sein, dass niemand aus der Klasse es an der Realschule schaffen kann. Insgesamt ist die erwartungswidrige Thematisierung von Noten und Leistungen bemerkenswert. Die Fünfen auf dem Zeugnis werden eher informativ abgehandelt, sie sind in gewissem Maße sogar erlaubt. Das Zeugnis mit der Übergangsempfehlung wird dagegen stärker problematisiert – der Vermerk müsse auf dem Zeugnis stehen und die Schülerin sei bereits informiert. Falls die Eltern Fragen haben, sollen sie sich an den Lehrer wenden, der ihnen die Bedeutung erklärt. Schlussfolgerungen Geht man von der problematischen Situation der Hauptschule (siehe oben) und speziellen Ansätzen einer Hauptschulpädagogik aus, die den Schülern ein von Leistungsdruck zumindest teilweise befreites Umfeld bieten will, muss dies auch zu einer Bedeutungsverschiebung der Situation der Zeugnisausgabe sowie der Zeugnisse selbst führen. Man kann davon ausgehen, dass zumindest ein Teil der Hauptschüler bisher überwiegend schlechte Erfahrungen mit Zeugnissen gemacht hat, was die Freude auf die aktuellen Zeugnisse durchaus einschränken dürfte. Es herrscht keine freudige Erwartung wie am Gymnasium. Das Positive an diesem Tag besteht hauptsächlich darin, dass nach der dritten Stunde bereits Schluss ist und die Lehrer keinen „richtigen“ Unterricht in den Stunden davor machen. Allerdings ist die Stunde auch nicht von Angst vor Zeugnissen geprägt; es herrscht weitgehend fröhliche Ausgelassenheit unter den Schülerinnen und Schülern. Zusammenfassend kann die beobachtete Zeugnisausgabe an der Hauptschule folgendermaßen beschrieben werden: Die Situation ist durch eine starke Relativierung der Bedeutung der Zeugnisse und durch eine Distanzierung von schulischer Leistung geprägt. Die Rahmung und praktische Ausführung dieser Zeugnisausgabe unterscheiden sich deutlich von anderen im Projekt beobachteten
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3 An den Grenzen des Leistungsprinzips
Zeugnisausgaben (siehe Kapitel 2.5 und 3.3.5 sowie Breidenstein/Meier/ Zaborowski 2007). Vor dem Hintergrund des Vergleichs lässt sich am besten herausarbeiten, welche Elemente in dieser Zeugnisausgabe nicht enthalten sind: Sie zeichnet sich gerade nicht durch besondere Feierlichkeit oder eine spezielle Rahmung der Situation aus. Es erfolgt kein Rückblick auf das vergangene Schulhalbjahr verbunden mit einer Einschätzung der ,Gesamtleistung‘ der Klasse, keine ausdrückliche ,Beschwörung‘ der Klassengemeinschaft, keine Pädagogisierung und Moralisierung. All dies sind Elemente von Zeugnisausgaben, die an Gymnasium und Sekundarschule in der jeweils ersten Zeugnisausgabe an der neuen Schule beobachtet werden konnten. Während dort also Versuche der Initiierung von Feierlichkeit und der Steigerung der Bedeutung der Situation beobachtet wurden, die Zeugnisausgabe insbesondere auch zur Pädagogisierung und der Einschätzung der Kollektiv- und Einzelleistungen diente, wird hier die Bedeutung der Situation nicht besonders gerahmt und eine Pädagogisierung der Situation bleibt weitgehend aus. Zugleich gibt es auch hier die Ambivalenz von einer Erhöhung der Bedeutung der Situation und deren Relativierung. Insgesamt inszenieren jedoch die Schüler die Besonderheit der Situation in stärkerem Maße als der Lehrer. Dabei erscheint die Zeugnisausgabe als besonderer Nervenkitzel, obwohl – oder gerade weil – der direkte Bezug zu den schulischen Leistungen weitgehend ausgeblendet bleibt. Die Situation der Zeugnisausgabe erscheint als ein dem Lehrer fremdes Geschehen, dessen Bearbeitung in der bürokratischen Abhandlung der Situation gesucht wird. In gewisser Weise erfolgt die Zeugnisausgabe als Ausführung eines hoheitlichen Aktes, mit spezifischen Vorgaben und Rollenerwartungen an die Lehrenden, welche den Lehrer von persönlicher Bezugnahme entlastet. Dieser bürokratisch zu nennende Umgang des Lehrers mit der Zeugnisausgabe erleichtert auch den Umgang mit negativer Selektion95 . Die Ausblendung des schulischen Erfolges bzw. Misserfolges in der Situation der Zeugnisausgabe könnte – der Verdacht drängt sich auf – einer Bearbeitung der spezifischen Gegebenheiten der Schulform geschuldet sein, die jedenfalls nicht schulische Leistungen in das Zentrum einer Feier stellen kann. Im Gegenteil wird die Bedeutung der Zeugnisse eher relativiert und abgeschwächt. Dies erscheint strukturell auch notwendig. Um die Handlungsfähigkeit an der Hauptschule aufrechterhalten zu können, muss eine Umdeutung der Situation der Schüler erfolgen. Der Fokus verlagert sich von einer Stigmatisierung schlechter Leistungen und negativer Schulverläufe hin zur Hauptschule als Ort der Aner95 Ausführlicher zum Umgang mit negativer Selektion siehe auch AG Schulforschung
(1980: 19) sowie zu Formen der Verantwortungsübertragung in Selektionsprozessen als Mittel der Entlastung von potentiell problematischer Selektion siehe Streckeisen u. a. (2007).
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kennung der Schülerpersönlichkeit und der individuellen Förderung. So stellen Helsper und Wiezorek (2006) sowie Helsper (2006) als Ergebnis einer Fallstudie positive Elemente einer veränderten Hauptschulkultur heraus, die sie als „Kultur der Achtung und Anerkennung“ beschreiben. Gerade dadurch können Schülern wieder positive Lernerfahrungen vermittelt sowie die Schülerpersönlichkeit gestärkt werden. „Ein relevanter Teil der Jugendlichen kann nur aufgrund dieser pädagogischen Kultur und der darin entstehenden Arbeitsbündnisse mit den Lehrkräften eine positive Haltung gegenüber der Schule (wieder) entwickeln, mit der Schulverweigerung vermieden und schulische Bildungsprozesse eröffnet werden können. […] Der abgewertete soziale Bildungsort Hauptschule wird damit – eine paradoxe Konstellation – für einen Teil der Jugendlichen zu einem Ort der Stabilisierung, zur Erfahrung eines Halt gebenden Kontrastraums mit Bildungsoptionen (vgl. Helsper 2006).“ (Helsper/Wiezorek 2006: 451)
Eine solche Konstruktion der Hauptschule als Raum positiver Erfahrungen geht jedoch einher – und das zeigt die Beobachtung der Zeugnisausgabe – mit einer Abgrenzung von den anderen Schulformen und mit der Erzeugung von Angst und Fremdheit ihnen gegenüber. Die Kohäsionskräfte innerhalb der Hauptschule scheinen potentiellen Aufstiegen in andere Schulformen tendenziell entgegen zu stehen. Dies kann offenbar sogar so weit führen, dass die Hauptschule in ihrem Versuch, Schüler an die Schulform zu binden, mögliche Übergänge in höhere Schulformen erschwert. Auf diese Gefahr weist auch Helsper (2006: 305) hin: „Allerdings zeigen sich auch nicht intendierte Folgen dieser positiven Sozialintegration für die Gestaltung der Bildungskarrieren: Bei einem Teil der Schüler führen die Halt und Wertschätzung eröffnenden Beziehungen zur Klassenlehrerin dazu, dass sie die Möglichkeit ausschlagen, in eine Klasse mit Realschulabschlussoption zu wechseln. Sie möchten auf Grund dieser vertrauensvollen Beziehung in der Klasse verbleiben. Damit besteht die Gefahr, dass gerade die gelingende soziale Integration auf der Grundlage diffuser Vergemeinschaftung dazu beiträgt, dass Schüler dieser Klasse ihre Bildungsoptionen verschlechtern. Zudem deutet sich an, dass die dominant an Stützung und Bestätigung orientierte Unterrichtsgestaltung, die grundlegend auf die Vermeidung von Entwertungen und Versagenserlebnissen orientiert ist, für einige Schüler auch eine mangelnde Förderung bedeutet und damit ebenfalls auf Kosten der umfassenden Stärkung ihrer Bildungsoptionen gehen kann.“
Die Hauptschule steht vor der Aufgabe, sich selbst als einen Ort zu etablieren, an dem es den Schülern gut geht, wo sie sich wohl fühlen können. Dieses Bild impliziert jedoch die Abgrenzung von den anderen Schulformen, die eben nicht geeignet für die Klientel sind und vor denen direkt oder indirekt gewarnt wird, um die Schüler zu halten. Damit besteht jedoch die Gefahr, den Schülern der Hauptschule massiv Möglichkeiten zu verschließen, unzureichend über die anderen Schulformen zu informieren bzw. die Kinder nicht genügend auf einen Wechsel vorzubereiten.
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In statistischen Untersuchungen zur Mobilität zwischen den Schulformen im deutschen Schulsystem zeigt sich, dass Abstiege mehr als dreimal so häufig vorkommen wie Aufstiege (vgl. Bellenberg u. a. 2004: 80, Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 66). Dies lässt sich sicher vor allem durch die Neigung höherer Schulformen erklären, Schüler ,auszusortieren‘; sie können sich auf diesem Wege ja von den jeweils schlechtesten Schülern ,befreien‘. Möglicherweise gibt es aber auch tatsächlich Hemmungen der unteren Schulformen, ihre jeweils besten Schüler nach oben ,abzugeben‘. Jedenfalls erweist sich die Hoffnung, dass (unvermeidliche) Fehlentscheidungen bei der Sortierung der Schülerschaft nach der Grundschule durch einen späteren Wechsel der Schulform ,korrigiert‘ werden könnten, zumindest für die als zu schlecht Eingestuften als äußerst trügerisch. Es muss also ein grundlegendes Handlungsproblem der Hauptschule mit schulischer Leistungsbewertung und Selektion vermutet werden: Einerseits sollen die Schüler bestmöglich gefördert werden, bezüglich der Leistungen und auch der persönlichen Entwicklung (was auch einen Schulformwechsel einschließt), andererseits tut sich die Schule verständlicherweise schwer, regelmäßig die besten Schüler abzugeben und damit zur negativen Leistungshomogenisierung der Schülerschaft beizutragen. Dieses Dilemma zeigt sich auch als situatives Handlungsproblem des Lehrers: Die gesetzliche Regelung der Realschulempfehlung tritt ab einem bestimmten Notendurchschnitt in Kraft, unabhängig vom Lehrerurteil. Dagegen anarbeitend warnt er jedoch davor, der Empfehlung Folge zu leisten – selbstverständlich im ,Interesse der Schülerin‘, die er vor einem Scheitern bewahren möchte. Schließlich ist ein funktionaler Zusammenhang zwischen der Schulform Hauptschule und der Abschwächung bzw. Modifizierung des Leistungsprinzips anzunehmen: Die frühe Selektion nach Leistung erfordert für den Bereich der negativ Selektierten einen anderen Bezugspunkt als primär die schulische (kognitive) Leistung. Dieser alternative Bezugspunkt bleibt in der beobachteten Zeugnisausgabe allerdings diffus. Der Klassengemeinschaft scheint eine zentrale Bedeutung zuzukommen, allerdings finden sich auch hier vergleichsweise wenige Hinweise auf eine ,Beschwörung der Klassengemeinschaft‘ durch den Lehrer (vgl. Kap. 2.5.1). Sie wird eher indirekt betont im Zuge der Abgrenzung und ,Dämonisierung‘ der höheren Schulformen, ohne dass sie allerdings inhaltlich gefüllt würde. Durch die Distanzierung von Leistungsaspekten in der Situation der Zeugnisausgabe entsteht somit eine inhaltliche Leerstelle, die letztlich in die bürokratische Abhandlung von Tagesordnungspunkten mündet.
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3.5.6 Zusammenfassung Die ethnographische Studie an einer westdeutschen Hauptschule fungiert als Erweiterung der Beobachtungen zur Leistungsbewertung an einer weiteren Schulform, vor allem bietet sie Vergleichsmöglichkeiten im Hinblick auf die Beobachtungen an der Sekundarschule. Im Vergleich zur Sekundarschule zeigt sich, dass die Hauptschule deutlich darum bemüht ist, sich auf die Bedürfnisse ihrer negativ selektierten Schülerschaft, welche meist auf mehrjährige problematische Schulerfahrungen zurückblicken kann, einzustellen. Der Fokus verlagert sich von den stigmatisierenden Schülereigenschaften und negativen Schulverläufen hin zur Hauptschule als Ort der Anerkennung der Schülerpersönlichkeit und der individuellen Förderung. Den Schülerinnen und Schülern sollen positive Erfahrungen in und mit Schule ermöglicht werden, ihnen soll ein Gemeinschaftsgefühl vermittelt werden. Tatsächlich fühlen sich die befragten Schülerinnen in der Hauptschule wohler als an ihren Grundschulen. Die fünften Klassen erhalten eine mehrwöchige ‚Schonzeit‘, welche von Leistungsanforderungen weitgehend entlastet ist und innerhalb derer die Schüler langsam an die Verhaltens- und Leistungserwartungen der Schule herangeführt werden sollen. Allerdings zeigt sich, dass nach Ablauf dieser Schonzeit der Anspruch einer sorgenden Bezugnahme auf die individuellen Schwierigkeiten und Probleme der Schülerinnen mit den trotz allem auch an der Hauptschule bestehenden Leistungsanforderungen, die sich in der stärkeren Fokussierung auf Stoffvermittlung sowie den vermehrt einsetzenden Leistungsüberprüfungen zeigen, in Konflikt gerät. Im Vergleich der Beobachtungen an Hauptschule und Sekundarschule zeigen sich zahlreiche Parallelen. Beide Schulformen arbeiten mit einer negativ ausgelesenen Schülerschaft, bei der sich familiale und soziale Problemlagen häufen. Im Unterrichtsalltag beider Schulen ist eine starke Fokussierung auf die Reglementierung des Schülerverhaltens zu beobachten. In der Bearbeitung von Disziplinproblemen im Unterricht oder im Umgang mit vergessenem Unterrichtsmaterial entwickeln sich vergleichbare Praktiken, welche auf die Externalisierung der Probleme abzielen. Während an der Sekundarschule eher diffuse Leistungs- und Verhaltenserwartungen bestehen, versucht die Hauptschule systematischer vorzugehen. Die Schülerinnen und Schüler werden hier mit einer Vielzahl unterschiedlicher Regelsysteme konfrontiert, die mehr Verwirrung stiften als dass sie Orientierung bieten. In beiden Schulen, insbesondere jedoch an der Hauptschule, ist das Primat der Einsozialisation der Schülerschaft vor der Vermittlung von Unterrichtsinhalten bis hin zur weitgehenden Aufgabe von inhaltlichen Ansprüchen an Unterricht (z. B. beim Geschichtslehrer der Hauptschule) zu beobachten.
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Wichtiger als die Vermittlung von Inhalten scheint der Hauptschule die Generierung von Gemeinschaftsgefühl, das sich auf die Gemeinschaft der gesamten Klasse bezieht, die alle einschließt, aber niemanden hervorhebt. Sie zeigt sich in gemeinsamen Ausflügen, aber auch in Kollektivsanktionen. Diese Gemeinschaft ist durch verschiedene Faktoren bedroht – das Nichterreichen des Klassenziels durch Einzelne, gemeinschaftswidriges Verhalten oder auch eine „Realschulempfehlung“. Die Vergemeinschaftung geht so einher mit einer Abgrenzung von den anderen Schulformen und konstruiert Angst und Fremdheit ihnen gegenüber. Während die Hauptschule das Thema Selektion eher ausblendet und zudem deutlich darum bemüht ist, die Leistungsspitze zu halten und nicht an höhere Schulformen abzugeben, wird an der Sekundarschule die Selektion weiter geführt – insbesondere in der Aufteilung nach Klasse sechs – und auch bereitwillig bessere Schüler an das Gymnasium abgegeben. Steht an der Hauptschule die Konstruktion und Aufrechterhaltung der ‚Klassengemeinschaft‘ im Zentrum, so zielen die Bemühungen an der Sekundarschule auf die korrekte Zuordnung der Schüler zu festen Leistungskategorien und in der Folge dessen zu unterschiedlichen Bildungsgängen innerhalb, aber auch außerhalb der Schule. Ein wichtiger Unterschied zur Sekundarschule besteht auch in der Öffentlichkeit der Leistungsbewertung. Leistungen der Schüler oder ihre Noten werden an der Hauptschule generell sehr selten oder gar nicht klassenöffentlich thematisiert. Vor allem die Situation der Zeugnisausgabe ist von einer merkwürdigen Distanz zu Noten und zum Leistungsbegriff gekennzeichnet. Zensuren erscheinen hier als etwas Äußerliches, vom Schüler- wie Lehrerhandeln Unabhängiges. Über ihr Zustandekommen wird ebenso wenig gesprochen, wie etwa über Entwicklungsmöglichkeiten und Potentiale der Schülerinnen. Lässt sich also das spezifische „Lern- und Entwicklungsmilieu“ der Hauptschule (vgl. Baumert u. a. 2006) durch eine funktionale Distanz zu schulischer Leistung und deren Thematisierung kennzeichnen? Beinhaltet das „Entwicklungsmilieu“ der Schulform Hauptschule die implizite Negierung von Entwicklung? Eine solche Vermutung ergibt sich nicht zuletzt durch die Analyse der beobachteten Zeugnisausgabe. Seine Plausibilität erhält dieser Verdacht aus dem skizzierten funktionalen Zusammenhang zwischen negativer Selektion und Identifikationserfordernissen – empirisch wäre er aber sicher noch auszudifferenzieren und müsste weitere Untersuchungen nach sich ziehen.
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3.6 An den Grenzen des Leistungsprinzips – oder: Die interaktive Hervorbringung des ‚schlechten‘ Schülers In der vorliegenden Studie zur Sekundarschule wurde der Frage nachgegangen, wie eine Schule mit negativ ausgelesener Schülerschaft mit Leistung und Leistungsbewertung im Schulalltag umgeht. Die zentralen, die Analyse leitenden Fragen lauteten hier: Was meinen die Teilnehmer im Feld, wenn sie von Leistung bzw. Leistungen sprechen? Welche Aspekte beinhaltet dieser feldspezifische Leistungsbegriff? Welchen Einfluss haben diese Vorstellungen von Leistung auf die praktische Umsetzung speziell in Situationen von Leistungserhebung und Leistungsbewertung? Zur Klärung dieser Fragen wurden vielfältige Situationen des Schulalltages, wie mündliche und schriftliche Leistungskontrollen, Rückgaben von Klassenarbeiten, Zeugnisnotenbesprechungen und Zeugnisausgaben, beschrieben und analysiert. Die zentralen Ergebnisse aus den Einzelstudien sollen im Folgenden noch einmal kurz zusammengefasst werden. Die Unterrichtskultur der beobachteten Sekundarschule bewegt sich zwischen der Forderung nach Wohlverhalten der Schülerschaft auf der einen Seite und einer in sich brüchigen Form der Leistungsethik auf der anderen Seite, welche Praktiken hervorbringt, die als spezifisch für die Sekundarschule gelten können. Als zwei zentrale Problembereiche werden an der Sekundarschule das unangepasste Verhalten vieler Schülerinnen und Schüler sowie deren schlechte Leistungen thematisiert. Auf diese beiden Bereiche zielen die beobachteten Kontroll- und Disziplinierungspraktiken. An erster Stelle steht dabei der disziplinierte, der den Verhaltenserwartungen der Lehrenden entsprechende Schüler. Ohne „Wohlverhalten“ scheinen in der Argumentation der Schule keine guten Leistungen möglich. Betrachtet man das für Unterricht zentrale Verhältnis von Vermitteln und Aneignen, so scheint ein didaktisches Verständnis zu überwiegen, das in der Vermittlung zentral auf den Lehrervortrag vertraut und die Aneignung von Wissen durch die Schüler weniger als einen Lern- oder Bildungsprozess ansieht, sondern als einfache Aufnahme des Gehörten bzw. als Wiederholen und Auswendiglernen. Die Schülerinnen und Schüler werden nicht zu einer eigenständigen Aneignung befähigt; vielmehr werden benötigte Kompetenzen und Erarbeitungsstrategien weitgehend vorausgesetzt. Insgesamt kann für die Sekundarschule eine deutliche Zurücknahme der Vermittlungsfunktion vor allem zugunsten von Disziplinierungspraktiken aufgezeigt werden. Die Praktiken der Leistungserhebung zeichnen sich zum Teil durch mangelnde Eindeutigkeit in ihrer Rahmung als Leistungssituation aus. Darüber hinaus fehlen häufig Transparenz der geprüften Inhalte sowie der an die Prüfungen angelegten Kriterien. Somit wird den Schülerinnen und Schülern die Orientierung auf mehreren Ebenen des Leistungsprozesses zumindest erschwert. Werden
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sie gerade geprüft? Was wird von ihnen erwartet? Wie wird bewertet? Hier zeigen sich in besonderem Maße Unterschiede in den Praktiken der Leistungserhebung und -bewertung im Vergleich mit der beobachteten Gymnasialklasse wie sie Michael Meier in Kap. 2 herausgearbeitet hat. Während am Gymnasium von Anfang an der Fokus auf Transparenz und Orientierung lag und für alle Schüler gleiche Ausgangslagen für das Lernen am Gymnasium geschaffen werden (sollten), werden an der Sekundarschule mit Verweis auf die vierjährige Grundschulzeit sowohl zentrale Grundkenntnisse wie auch die schulische Einsozialisation vorausgesetzt. Die Regeln, auf deren Einhaltung gepocht wird, werden jedoch nur unzureichend expliziert, individuelle Probleme der Schülerinnen und Schüler werden nicht erkannt oder berücksichtigt. Stattdessen wird auf deren begrenzte Fähigkeiten oder mangelnde Einsichten verwiesen. Ähnliche Argumentationen konnten auch in den Analysen von Testrückgaben und Zeugnisnotenbesprechungen herausgearbeitet werden. Als verantwortlich für die jeweiligen Noten werden immer die Schülerinnen und Schüler gesehen. Der eigene Unterricht wird von den Lehrenden nicht thematisiert, auch die Unterrichtsinhalte bleiben außen vor. Wesentlich scheinen vielmehr zwei schülerseitige Aspekte: Neben dem geforderten Verhalten, dem Lernen für Tests und Prüfungen, ist das persönliche Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler von Bedeutung. Wie gezeigt werden konnte (vor allem in Kap. 3.4), werden durch die Kommentierung und Relativierung der Noten mit Bezug auf die Person des Schülers je spezifische Leistungsvermögen der einzelnen Schüler konstruiert. Diese spezifischen Leistungsvermögen, welche die Schüler öffentlich auf der Leistungsdimension positionieren, werden in der Sekundarschule als weitgehend unveränderlich angesehen. Problematisch sind diese Positionierungen vor allem durch ihren sich verfestigenden und sich selbst bestätigenden Charakter. Veränderungen, insbesondere positiver Art, scheinen nicht möglich zu sein. Zudem variieren Leistungs- und Verhaltenserwartungen an die Schülerinnen je nach ihrem unterstellten Leistungsvermögen, welche letztlich ebenso zur Hervorbringung der ‚erwarteten‘ Leistungen beitragen. Insgesamt kann für die beobachtete Sekundarschule gezeigt werden, dass durch einen Unterricht, der maßgeblich von Misstrauen in die Leistungsfähigkeit sowie die Leistungsbereitschaft der Schülerinnen und Schüler geprägt ist, wie sie Twardella (2008) unter dem Begriff des „Pädagogischen Pessimismus“ herausarbeitet, mit der Fokussierung auf das Verhalten und Verhaltensabweichungen und der engen Verbindung, die zwischen Verhalten und bewerteter Leistung hergestellt wird, ‚schlechte Schüler‘ geradezu zwangsläufig hervorgebracht werden. Auf diese Weise bestätigen sich am Ende die negativen Erwartungen bezüglich der Schüler und ihrer Leistungen.
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Vergleicht man die Beobachtungen in der Sekundarschule mit denen aus der Hauptschule, so zeigt sich eine unterschiedliche Bearbeitung des Strukturproblems der negativ ausgelesenen Schülerschaft. Während der ‚Leistung‘ in der Sekundarschule eine große Bedeutung zugemessen wird, versucht die Hauptschule eine von Leistungsanforderungen wenigstens teilweise entlastete Atmosphäre zu schaffen. Sie versucht, auf die Problemlagen der Schüler einzugehen. So wird ihnen eine neunwöchige Schonzeit zu Beginn der fünften Klasse zugestanden, in welcher sie sich an die Bedingungen an der Hauptschule gewöhnen sollen und welche auch der Vermittlung zentraler Regeln gilt. Auch nach dieser Schonzeit besteht ein zentrales pädagogisches Ziel in der Vermittlung einer positiven Identität und der Milderung der Selektionseffekte. Dennoch zeigen sich auch hier Schwierigkeiten im Umgang mit Leistungsanforderungen und Leistungsbewertungen. Ein weiterer zentraler Unterschied zwischen Sekundarschule und Hauptschule besteht in der Legitimierungsbedürftigkeit schlechter Noten. An der Hauptschule wird den Noten insgesamt wenig Bedeutung beigemessen und auch schlechte Noten werden kaum problematisiert. Dagegen scheinen die schlechten Ergebnisse in der Sekundarschule hochgradig legitimierungsbedürftig und ein Großteil der beobachteten Praktiken dient vornehmlich der Bearbeitung schlechter Noten. Die Entlastung von der Verantwortung für die schlechten Leistungen und gleichzeitig die Zuschreibung der Verantwortung für diese Leistungen an die Schüler wird vor allem im ‚Sprechen über Noten‘, in Testrückgaben und Zeugnisnotenbesprechungen, aber auch den Zeugnisausgaben praktiziert. Somit werden die Schüler selbst, aber auch das Elternhaus der Schüler als Verantwortliche identifiziert. Solange die Schüler bzw. das Elternhaus der Schüler für sämtliche Probleme im Unterricht verantwortlich gemacht werden können, entfällt auch der Zwang für die Lehrpersonen, das eigene Handeln kritisch zu hinterfragen. Für beide beobachteten Schulformen kann gezeigt werden, dass die Selektivität des Bildungssystems nicht hinterfragt wird, sondern diese vielmehr als notwendig und gerechtfertigt akzeptiert zu sein scheint. Die hier vorgestellten Ergebnisse haben auf unterschiedlichen Ebenen Konsequenzen. Was lässt sich mit Blick auf die Schulform und ihre Bedeutung in der Reproduktion von Ungleichheiten feststellen? Die Schülerschaft an Sekundarschulen in Sachsen-Anhalt entstammt im Vergleich zum Gymnasium, gerade in städtischen Schulen, überdurchschnittlich häufig den so genannten ‚bildungsfernen’ Milieus. Nach bereits erfolgter Selektion auf die Sekundarschule sind Aufstiege auf das Gymnasium selten (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 66) und werden mit fortschreitendem Sekundarschulbesuch unwahrscheinlicher, da diese kaum auf Kompensation von Benachteiligungen ausgerichtet ist, sondern vielmehr die erfolgte Sortierung in der Hervorbringung von schlechten Leistungen bestätigt. Gerade vor dem Hintergrund des großen Zusammenhangs
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3 An den Grenzen des Leistungsprinzips
von sozialer Herkunft und besuchter Schulform kann man hier von systematischer Reproduktion sozialer Ungleichheit, vermittelt über die Praktiken der Leistungsbewertung an der Sekundarschule, sprechen. Bezüglich der Ebene des konkreten Lehrerhandelns konnte gezeigt werden, dass die beschriebenen Praktiken vor allem der Entlastung der Lehrer in Hinblick auf die schlechten Leistungen der Schüler dienen. Rund 15 Jahre nach der Transformation des Bildungswesens in Sachsen-Anhalt trifft man an der Sekundarschule auf eine Lehrerschaft, die sich mit den vielfältigen Problemlagen dieser Schulform weitgehend arrangiert hat. Im Rahmen der Bewältigung des krisenhaften Unterrichtsalltages entstanden Handlungsroutinen, welche die weitere Handlungsfähigkeit der Lehrpersonen ermöglichen. Diese zeichnen sich vor allem durch zwei Aspekte aus: 1) die Verantwortungsentlastung für die Leistungen der Schüler, 2) die fehlende Bezugnahme auf die Problemlagen der Schülerschaft. Die Lehrenden entwickeln ihre Leistungserwartungen auf der Grundlage einer Normalvorstellung von Schule und Unterricht, welche die besondere Problemlage der Sekundarschule, vor allem ihre negativ selektierte Schülerschaft sowie die teilweise problematischen familialen Hintergründe der Schüler, ausblendet. Eine pädagogische Bezugnahme auf die veränderte Schülerschaft lässt sich lediglich bei der Klassenlehrerin in Ansätzen erkennen. Diese Ansätze greifen jedoch zu kurz, sie werden vom Lehrerkollegium nicht mitgetragen und sind nicht in umfassendere Anerkennungsbeziehungen eingebettet, sondern basieren auf einem defizitorientierten Umgang mit den Schülerinnen und einer Abwertung ihrer sozialen Herkunft. Selektion und Leistungsbewertung werden in der beobachteten Schule nicht hinterfragt bzw. problematisiert. Die Lehrer sehen sich als Agenten eines funktionierenden Systems, das Schüler entsprechend ihrer Leistungen dorthin sortiert, „wo sie hingehören“. Sie reproduzieren somit die bereits erfolgte Selektion und führen sie (in der Aufteilung nach Klasse sechs) weiter. Hier liegen feste Vorstellungen von persönlichen Eigenschaften, vor allem aber vom Verhalten und Leistungsvermögen der jeweiligen Schülerpopulationen von Sekundarschule (Hauptschul- und Realschulzweig) aber auch des Gymnasiums vor, welche in kontrastierenden Praktiken resultieren. Es kann in der vorliegenden Studie gezeigt werden, dass Leistungsbewertung zu einem großen Teil das konstruiert, was sie dann im Anschluss bewertet. An Gymnasium (siehe Kap. 2) und Sekundarschule konnten je spezifische Praktiken beobachtet werden, die jeweils vom ‚guten‘, das heißt leistungsfähigen und leistungswilligen Schüler (Gymnasium) bzw. vom unmotivierten, leistungsschwachen Schüler (Sekundarschule) ausgehen und diesen dann durch schulformspezifische Praktiken auch tatsächlich ‚hervorbringen‘.
4 Unterrichtsinteraktion und implizite Leistungsbewertung Georg Breidenstein, Theresa Bernhard
In den meisten Analysen dieses Bandes stehen Akte der Leistungsbewertung im Mittelpunkt, die in Form von Zensuren prozessiert werden. Die Beobachtungen und Analysen widmen sich vor allem den expliziten Situationen schulischer Leistungsbewertung: den Prüfungen, die der Leistungsfeststellung dienen; den Rückgaben und Notenbesprechungen, die der Kommentierung, Aushandlung und Begründung von Leistungsrückmeldungen in Form von Zensuren dienen und den Zeugnisausgaben als den rituellen Höhepunkten dieses ganzen Geschehens, das sich um die Zensuren rankt. Die folgende Studie wendet sich Situationen und Praktiken zu, die nicht explizit der Leistungsbewertung dienen, das heißt, die nicht vollzogen werden, um ‚Leistungen‘ von Schülern rückzumelden und in Zensuren festzuhalten, die aber dennoch – implizit – Bewertungen von Schülerleistungen enthalten. Bei genauerem Hinschauen ist die gesamte Unterrichtskommunikation durchzogen von Akten impliziter Leistungsbewertung, die sich im Loben oder Beanstanden von Schülerantworten manifestieren oder auch Schüler und Schülerinnen als Vorbilder oder abschreckende Beispiele konstituieren. Solchen in das laufende Unterrichtsgeschehen eingestreuten Akten der Leistungsbewertung widmen sich die folgenden Analysen. Diese Akte des Bewertens dienen nicht dem Zweck der Leistungsbewertung im Sinne einer Codierung in Zensuren, aber sie können drastische und weit reichende Urteile über Schüler und ihre Leistungen enthalten, Erwartungen und Bilder über einzelne Schüler und deren Leistungsfähigkeit können hervorgebracht und zugleich geprägt werden. Sie können von tief sitzender Stigmatisierung zeugen und sogar den Ausschluss einzelner Schüler aus der Unterrichtskommunikation implizieren í ohne dass es explizit um Leistungsbewertung gehen würde und ohne dass Zensuren im Spiel wären. Es wird nach dem systematischen Zusammenhang zwischen dem laufenden Vollzug von Unterricht und den beobachtbaren Akten impliziter Leistungsbewertung zu fragen sein. Im Raum steht die These Niklas Luhmanns, dass Unterrichten gar nicht denkbar sei ohne Schülerleistungen zu bewerten, weil man nicht umhin komme, im Schema von „besser und schlechter“ zu agieren: K. U. Zaborowski et al., Leistungsbewertung und Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93218-7_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Unterrichtsinteraktion und implizite Leistungsbewertung
„Im Erziehungsauftrag liegt daher auch eine Kommentierung des Lernverhaltens und eine Bestätigung oder Korrektur, denn anders kann kaum verdeutlicht werden, dass es ernst gemeint ist. […] Es mag um bloße Korrekturen gehen, aber schon sie sind kaum ohne kodierte Bewertung im Schema von gut und schlecht (besser und schlechter) möglich. Das gilt verstärkt, wenn die Formen des Lobens und Tadelns gewählt werden, was sich anbietet, wenn man die Leistungen vergleicht mit dem, was vom Zögling zu erwarten ist. Weitere Formalisierungen fügen sich an, vor allem das System der Zensurengebung und der Prüfungen, die bestanden oder nicht bestanden werden können. In der Handhabung dieser Selektionsverfahren geraten die Agenten unter Konsistenzdruck.“ (Luhmann 2002: 62ff)
Vom System der Zensurengebung und Prüfungen, das sich „anfügt“ und die „Agenten unter Konsistenzdruck“ setzt, handeln andere Abschnitte dieses Buches, wie aber verhält es sich mit dem Zusammenhang von notwendiger Korrektur und unvermeidlicher Bewertung? Mit Luhmann kann nach dem immanenten und unmittelbaren Zusammenhang von unterrichtlichem Handeln und Leistungsbewertung gefragt werden í im Unterschied zu jenen Theoretisierungen strukturfunktionalistischer Provenienz, die das Geschäft der Selektion als ein der Schule ‚von außen‘ (von „der Gesellschaft“) aufgezwungenes ansehen (vgl. Kap. 1.2). Das Problem jedoch liegt in der í für die Systemtheorie typischen í Abstraktion und Generalisierung, die der empirischen Komplexität und Varianz von Unterrichtsinteraktion kaum gerecht zu werden vermag. Das Anliegen dieser Studie besteht demnach darin, die Frage nach dem systematischen Zusammenhang von Unterrichtsinteraktion und Leistungsbewertung aufzugreifen aber für die beobachtbare empirische Varianz zu öffnen: Wie und in welchen Formen sind die Praktiken des Unterrichtens und Bewertens miteinander verknüpft? Handelt es sich überhaupt um unterscheidbare Praktiken oder erscheinen Unterrichten und Bewerten tatsächlich als untrennbare Einheit? Wichtige Beobachtungen und Überlegungen zu dem Zusammenhang von Unterrichtskommunikation und Bewertung hat Herbert Kalthoff (2000) vorgelegt. Er untersucht Aufzeichnungen von Unterrichtsgesprächen und Auskünfte von Lehrkräften über ihre Strategien zur Steuerung von Unterrichtsgesprächen auf den „Mechanismus von Deskription und Askription“ (442). Er zeigt, wie Deskription und Askription in der Funktion der Lehrerkommentierung, die feststellt, was an Schülerantworten richtig und falsch ist, „eine Symbiose eingehen“ (435). „Der Kommentar beschreibt die Antwort, und er schreibt Wissen und Nichtwissen zu“ (435). Zuschreibungen von Leistungsvermögen an einzelne Schüler fließen aber auch schon in die (Fein-) Steuerung des Unterrichtsgespräches durch die Lehrperson ein. In der Adressierung von Schülern bzw. in der Auswahl von Schülern für die Beantwortung bestimmter Fragen etablieren Lehrpersonen ‚Zuständigkeiten‘: Es gibt Schüler, die für schwierige (Transfer-) Fragen ‚zuständig‘ sind, bzw. gemacht werden und es gibt andere, die bei den leichten (Reproduktions-) Fragen anzusprechen sind. An letzteren, den Vertre-
4.1 Die Zurechnung von ‚Leistungen‘ zu Personen
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tern des unteren Randes des Leistungsspektrums überprüft die Lehrperson „die Verteilung des Wissens in der Klasse“ (440): Wenn diese es verstanden haben, müssen es alle verstanden haben. Diese Lehrerstrategien müssen zwar verdeckt werden, so beschreibt es auch ein Auskunft gebender Lehrer, sie dürfen nicht offensichtlich sein, aber dennoch und gerade deshalb bleibt festzuhalten: „Über die unterschiedlichen Zuständigkeiten werden […] unterscheidbare Standards von Schulwissen erzeugt, so dass die Kommunikation von ‚Stoff‘ eine Differenz von guten und schlechten Schülern bewahrt“ (Kalthoff 2000: 441). An diese Ergebnisse von Kalthoff können wir anknüpfen, wobei wir auf der Grundlage unserer Beobachtungen über die Analyse des Unterrichtsgespräches im engeren Sinn hinausgehen und die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen dem Vollzug von Unterricht als einer auf Lehren und Lernen gerichteten Praxis und der Bewertung und Zuschreibung von ‚Leistungen‘ an einzelne Schüler und Schülerinnen ausweiten und ausdifferenzieren können. Wir untersuchen in einem ersten Schritt den Zusammenhang zwischen der Bewertung von Schüleräußerungen im Unterrichtsgespräch und der Zurechnung von ‚Leistungen‘ zu Personen. Im nächsten Abschnitt fragen wir danach, wie einzelne Schüler im Klassengefüge positioniert werden und welche Funktion das für die Gestaltung des Unterrichtsgeschehens hat. Schließlich gelten unsere abschließenden Betrachtungen der systematischen Bedeutung der Bühne der Klassenöffentlichkeit für die im Unterricht enthaltenen laufenden Praktiken der Leistungsbewertung. Dass all die kleinen aber permanenten Akte des Lobens und Tadelns vor dem Publikum der Mitschüler stattfinden, scheint uns ein grundlegender und prägender aber weithin unterschätzter Aspekt des Geschehens zu sein. 4.1 Die Zurechnung von ‚Leistungen‘ zu Personen 4.1.1 Schüleräußerungen als Klärung von Sachverhalten Im laufenden Unterrichtsdiskurs geht es immer wieder darum, festzustellen, was ‚richtig‘ und was ‚falsch‘ ist. Das berühmt-berüchtigte fragend entwickelnde Unterrichtsgespräch, das die Unterrichtskultur deutscher Schulen so deutlich dominiert, beruht ja darauf, dass die Lehrperson Schülerbeiträge ‚verwendet‘ im Fortgang der Erörterung der Sache. Die Lehrerin stellt solcherart Fragen, dass Antworten hervorgelockt werden, die sie dann aufgreifen und im Unterrichtsdiskurs ‚weiterverarbeiten‘ kann (vgl. Kalthoff 1995). Die Schüler antworten ‚probeweise‘, erst die nächste Äußerung der Lehrerin entscheidet über die ‚Brauchbarkeit‘ ihres Beitrages. Ein solches ‚Unterrichtsgespräch‘ gestaltet sich nicht
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4 Unterrichtsinteraktion und implizite Leistungsbewertung
selten als eine Art Lückentext der Lehrperson, die ihre Erläuterungen so mit Fragen versetzt, dass bestimmte Stichworte von den Schülern genannt werden können und müssen. Die Lehrerin: „An die anderen: Welche graphischen Gestaltungselemente haben wir kennen gelernt? (...) Ja, Moment mal bitte.“ í „Die Fläche, die Linie und der Punkt.“ í „Und den Punkt. Und als Besonderheit von allen í Punkt Linie Fläche í die (...)? Es will uns daran erinnern, dass es eine Mauer is (...) Dass es Haare sind, dass es Blätter sind (...) was Raues, was Weiches [unverstdl. 2 sec.] ganz prima, die Wandreihe ruht sich ein bisschen aus. Na! Fabian!“ í „Strukturen.“ í „Sehr schön! Strukturen í und darum geht’s […]“ (Gymnasium, fünfte Klasse, Michael Meier)
Die Mechanik dieser Art Gespräche ist als grundlegender Dreischritt von Lehrerfrage - Schülerantwort - Lehrerbewertung herausgearbeitet worden (vgl. McHoul 1978, Mehan 1979, Kalthoff 1995). Im Unterschied zur Frage-Antwort-Sequenz im Alltagsgespräch, die als solche vollständig sein kann, ist die Lehrsequenz im Unterrichtsgespräch strukturell darauf angewiesen, dass die Schülerantwort wiederum von der Lehrperson bewertet wird. Denn nur die Lehrperson, die die Antwort auf ihre eigene Frage kennt, kann entscheiden, ob die Schülerantwort ‚richtig‘ oder ‚falsch‘ war. Erst in der Lehrerbewertung der Schülerantwort wird diese „ratifiziert“ (Kalthoff 1995) für den offiziellen Unterrichtsdiskurs und damit für alle als brauchbarer Teil in dem gemeinsamen Prozess der Erarbeitung von ‚Wissen‘ markiert. Die grundlegende gesprächsstrukturelle Funktionsweise des Unterrichtsgespräches ist detailliert analysiert worden (z. B. Mehan 1979, Ehlich/Rehbein 1983), aber es ist bislang noch wenig darüber nachgedacht worden, dass diese – strukturell notwendige – Bewertung der Sache immer auch eine Bewertung der Person impliziert. Es geht im Unterrichtsdiskurs in aller Regel nicht nur darum, dass etwas Richtiges (oder Falsches) gesagt wurde, sondern auch darum, wer etwas Richtiges (oder Falsches) gesagt hat. Die Antwort wird einer Person zugerechnet und dabei oft auch relationiert mit Blick auf die Person, auf den ‚Leistungserbringer‘ – denn jede Antwort eines Schülers oder einer Schülerin auf die Frage der Lehrperson stellt eine ‚Leistung‘ dar. Diese wird meist nicht explizit thematisiert und offiziell bewertet. Aber schon in der schlichten Feststellung der Korrektheit einer Antwort, ihrer ‚Ratifizierung‘, für den offiziellen Diskurs ist eine Bewertung impliziert, die sich auf die Person des Antwortenden bezieht. „Andere Kurzformen, die das letzte Mal geübt wurden, welche waren das?“, will die Lehrerin jetzt wissen. Klaus meldet sich, kommt dran und sagt erst einmal nichts. Daraufhin wird er von Frau Grimm ermutigt, es einfach zu sagen, mehr als falsch sein könne es ja nicht und andere würden sich gar nicht erst melden. Klaus sagt „have“, was von Frau Grimm freudig überrascht mit „Richtig!“ belohnt wird. Klaus rutscht ein Lächeln übers Gesicht. Es geht also um die Kurzantworten mit „to have“. (Sekundarschule, fünfte Klasse, Katrin U. Zaborowski)
4.1 Die Zurechnung von ‚Leistungen‘ zu Personen
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Ein öffentlicher Antwortversuch stellt für Schüler ein Risiko dar. Dieses Risiko fällt sehr unterschiedlich aus, für gute Schüler stellt die Antwort auf eine leichte Frage oft kein großes Risiko dar, sie können sich ihrer Sache relativ sicher sein, für andere, schlechtere Schüler bedeutet jeder Antwortversuch ein Risiko, sie sind oft darauf angewiesen zu ‚raten‘ oder sind sich ihrer Sache jedenfalls nicht sicher. Die Lehrerin scheint in dieser Szene anzunehmen, dass Klaus das Risiko scheut. Sie ermutigt ihn, indem sie zu verstehen gibt, dass eine falsche Antwort kein Problem darstellt. Schon der Versuch sei in dieser Situation zu würdigen, denn „andere würden sich gar nicht erst melden“. Diese Ermutigung zum Risiko ist nicht nur pädagogisch angezeigt, sondern wohl auch strukturell notwendig, denn der Unterrichtsdiskurs braucht für seinen Fortgang eine Schülerantwort – es muss nicht unbedingt die richtige Lösung sein, an der kann ja im Falle eines Fehlversuchs weiter gearbeitet werden, aber irgendjemand muss einen Versuch unternehmen. Als Klaus dann tatsächlich die richtige Antwort zu präsentieren weiß, kann die Lehrerin ihre Überraschung nicht verbergen – in dieser Überraschung kommt unvermeidlich auch ihre Erwartungshaltung zum Ausdruck: Sie hatte Klaus die richtige Antwort nicht zugetraut! Auch Klaus freut sich nur dezent seines Erfolges, mit dem er möglicherweise selbst nicht gerechnet hatte, denn eine größere Freude angesichts einer einzigen kleinen Antwort wäre unangemessen und würde auch zusätzliche Zweifel an seinem Leistungsvermögen nähren. Es geht bei all dem ja vorrangig um den Fortgang des Unterrichtsdiskurses und die Erläuterung der Sache, hier: der englischen Grammatik. Bei diesem Ereignis handelt es sich um einen mikroskopisch kleinen Austausch innerhalb des Unterrichtsdiskurses, wie er in dieser oder ähnlicher Form dutzendfach in einer einzelnen Stunde passiert. Insofern erscheint die Szene vollkommen unspektakulär und durch und durch alltäglich, andererseits wirkt sie in der alltäglichen Wiederholung und Variation vermutlich prägend für das Selbstbild von Klaus und sein Image in der Öffentlichkeit der Schulklasse. Eine weitere kleine Szene mit Klaus und Frau Grimm, diesmal findet Klaus die richtige Lösung nicht: Frau Grimm fragt nach einer Kurzform für „thank you“. Klaus kommt dran und spricht „thank you“ ganz schnell aus. „Kürzer“, kommt von der Lehrerin. Klaus probiert’s noch mal ganz schnell. Nein, so hat es Frau Grimm nicht gemeint. Einige Kinder lachen. Frau Grimm, löst auf – „thanks“ war gesucht. Viele lachen. Frau Grimm wendet sich an die Lachenden: „Aber er hat sich bemüht!“ Klaus’ Gesichtsausdruck kann ich nur schwer deuten. Er scheint’s jedenfalls nicht übel zu nehmen. (Sekundarschule, fünfte Klasse, Katrin U. Zaborowski)
Die Lehrerin möchte Klaus in Schutz nehmen vor dem Gelächter der Mitschüler. Aber die öffentliche Würdigung des ‚Bemühens‘ stellt eine zweischneidige Bewertung dar, die zwar den Versuch als solchen und die Anstrengung von Klaus
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4 Unterrichtsinteraktion und implizite Leistungsbewertung
würdigt, andererseits impliziert, dass es eben bei Klaus trotz Bemühens nicht zu einer richtigen Antwort gereicht hat. Je deutlicher das ‚Bemühen‘ eines Kandidaten bei einem Fehlversuch herausgestellt wird, in desto ungünstigerem Licht erscheinen seine Fähigkeiten.96 4.1.2 Schüleräußerungen als Leistung von Personen Die Verknüpfung einer Schüleräußerung im Unterrichtsdiskurs mit der Person, die die Äußerung tätigt, wirkt in zwei Richtungen: Ein gelungener oder misslungener Beitrag trägt zu einem positiven oder negativen Bild vom Leistungsvermögen seines Urhebers bei, andererseits wird ein Beitrag auch im Lichte seiner Urheberschaft gewertet. Es kommt auch in dieser Hinsicht sehr darauf an, wer etwas sagt oder fragt. Zum Beispiel wird über den Grad der Ernsthaftigkeit, der Seriösität eines Beitrages anhand der Person des Sprechers entschieden. Die Lehrerin: „Die gesamten Wüstengebiete wachsen, wachsen auch. Ja?“ – KlausMaria: „Was machen denn dann (…)“ (Durcheinander) „(…) Es gibt doch Schwarze, oder nich? Was machen die denn da?“ – „Ich weiß nicht, was du jedes Mal mit deinen komischen Zwischenbemerkungen willst. Was sollen die machen? Ich weiß es nicht. (.) Kannst Du dich vielleicht mal ein bisschen ernsthafter mitbeteiligen, das wär’ nicht schlecht, ja, ich soll doch bestimmt nicht annehmen dass du (.) keine Ahnung, nur mal was Lustiges los werden willst. Oder? Ich fänd es viel toller, wenn du dich meldest und mal was wirklich was beiträgst, was schilderst, was weißt, was ergänzen kannst. Oder? Na also!“ – Moritz: „Kann denn das passieren, dass in so einer Oase, dass dann das Grundwasser einfach nicht mehr da ist.“ – „Ja selbstverständlich!“ – „Ja, was machen die Leute denn da?“ (Gymnasium, fünfte Klasse, Michael Meier)
Was verleitet die Lehrerin dazu, Klaus-Marias Frage als „komische Zwischenbemerkung“ abzuqualifizieren? Der Wortlaut seiner Frage erscheint nicht so anstößig, dass die Reaktion der Lehrerin herausgefordert wäre. Diese Reaktion geht vermutlich auf ihre Erfahrungen mit Klaus-Maria zurück, bzw. auf das Bild, das sie von diesem Schüler hat und das sie wortreich vor dem Publikum der Mitschüler ausführt, um eine (recht pauschale) Aufforderung an Klaus-Maria daraus abzuleiten. Möglicherweise ist Klaus-Maria ein Schüler, der den Erdkunde-Unterricht mit unernsten Bemerkungen, was die Lehrerin in ihrer Ansprache: „jedesmal mit deinen komischen Zwischenbemerkungen“ andeutet, zu stören vermag, und sie sich vor der Ironisierung ihres Unterrichts durch ihn schützen muss? Interessanterweise hat Olaf Janke, ein Student der Geographie und Mitarbeiter des Projektes, die gleiche Szene beobachtet und protokolliert:
96 So ist etwa auch die Attestierung des „Bemühens“ in einem Arbeitszeugnis als negative Bewertung begrenzter Fähigkeiten zu lesen.
4.1 Die Zurechnung von ‚Leistungen‘ zu Personen
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Im Hauptdiskurs geht es derzeit um Wüsten und Oasen, dabei fällt mir die außerordentlich rege Beteiligung von Klaus-Maria auf. In meinen (Geographen-) Augen hat er immer etwas Interessantes zu sagen. Doch auch er wird von der Lehrerin der Abschweifung bezichtigt, ja später sogar getadelt: Er solle doch nicht immer so komische Sachen erzählen, wenn er dran genommen wird. (Gymnasium, fünfte Klasse, Olaf Janke)
Der Beobachter ist insoweit unvoreingenommen, als er noch keine (negativen) Erfahrungen mit Klaus-Maria gemacht hat, weshalb er die Situation des Unterrichts anders zu erleben und zu lesen scheint als die Lehrerin. Die brüske und unvermittelte Abqualifizierung der Fragen von Klaus-Maria bleibt ihm deshalb unverständlich. Die Voreinstellungen, die die Person des Schülers betreffen, sind für den Außenstehenden nicht nachvollziehbar – was nicht heißen muss, dass sie ‚ungerechtfertigt‘ sind – deutlich wird allerdings die unmittelbare Prägung des Verhaltens in unterrichtlicher Interaktion durch Erwartungen und Erwartungseffekte. Nicht nur die Abqualifizierung von Schüleräußerungen, auch überschwängliches Lob kann im Unterrichtsdiskurs Effekte zeitigen, die möglicherweise problematisch sind. Denn die Bewertung einer Schüleräußerung impliziert letztlich immer ein Urteil über den Urheber dieser Äußerung. Dann sagt die Lehrerin: „Ich will jetzt mit Euch den Sprechtext singen.“ Es gibt zwei Meldungen. Frau Wehner nimmt Annika dran. Annika sagt, dass es nicht ginge, denn es würden die Notenzeilen fehlen, die Tonhöhe sei nicht klar. – „Das kann man nicht besser sagen“, befindet Frau Wehner. (Gymnasium, fünfte Klasse, Michael Meier)
In dieser kleinen Szene aus dem Musikunterricht greift die Lehrerin zum höchsten Lob. Sie markiert damit auch den Abschluss der Suche nach der Antwort: Wenn es nicht besser gesagt werden kann, sind keine weiteren Antwortversuche mehr erforderlich. Zugleich ist die Bewertung der antwortenden Person impliziert, die hier als Vergleich formuliert ist. Annikas Leistung kann, jedenfalls in diesem Kontext, nicht mehr übertroffen werden. Die Reaktionen der Schüler sind hier nicht überliefert – Szenen dieser Art sind auch viel zu beiläufig und viel zu rasch, als dass man Reaktionen des Publikums registrieren und gar notieren könnte – zu vermuten ist Stolz und auch ein wenig Verlegenheit auf Seiten Annikas und möglicherweise etwas Neid bei Mitschülerinnen und Mitschülern angesichts Annikas ‚Volltreffer‘. Denn letztlich konkurrieren die Mitglieder einer Schulklasse um richtige Antworten auf Lehrerfragen. Richtige Antworten sind ein knappes Gut, sie können meist nur einmal ausgesprochen werden. Dies gilt auf jeden Fall für das, was „nicht besser gesagt werden“ kann: Eine solche Antwort kann maximal ein einziges Mal gegeben werden.
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4.1.3 Konkurrieren um den richtigen Beitrag „Warum fehlt in der Wüste die Wolkendecke? Die Gruppe mal.“ – „Weil es nicht so viel regnet.“ – „Denn wie entsteht denn der Regen?“ – „Denn, also wenn, wenn das Wasser verdampft und wird dann zu Wolken (…)“ – „Richtich! (...) Friedemann, du wolltest unbedingt was sagen. Wollst noch mal erklären? Wie bitte?!“ – „Ähm, ich, ich, ich wusste das auch.“ – „Sehr schön, prima! Ich kann leider nicht immer gleich alle dran nehmen. (Gymnasium, fünfte Klasse, Michael Meier)
In diesem kurzen Einschub in den laufenden Unterrichtsdiskurs wird die Konkurrenz um die richtige Antwort greifbar: Friedemann hatte sich offenbar auch gemeldet, war nicht dran gekommen und konnte deshalb sein Wissen nicht unter Beweis stellen. Im Unterrichtdiskurs ist eine einmal richtig beantwortete Frage ‚verbraucht‘ – es ist sinnlos und auch keine Leistung mehr, sie noch einmal richtig zu beantworten. Insofern zeigt Friedemanns Bekundung, dass er es auch gewusst habe, zwar seine Enttäuschung, sie ist aber für den Unterrichtsdiskurs eigentlich nicht mehr funktional. Ebenso ist das Lob der Lehrperson für eine Leistung, die nicht erfolgt ist und auch nicht mehr erfolgen kann, entwertet. Auch die Erklärung der Lehrerin, dass sie ja leider nicht alle drannehmen könne, ist eigentlich unnötig. Dieser Umstand ist allen Beteiligten bekannt – dass er hier expliziert wird zeigt, dass die Lehrerin darauf hinweisen möchte, dass ihr das Dilemma bewusst ist, nicht allen Schülern, die sich melden, die Chance geben zu können, mit einer richtigen Antwort zu punkten. Das Lob für eine richtige Schülerantwort im Unterrichtsgespräch wird dadurch zu einem knappen, umkämpften Gut und einer Ungerechtigkeit angesichts all derjenigen, die die Antwort auch gewusst hätten, aber sich nicht äußern durften. Im Ablauf des Unterrichts kann die Lehrerin unmöglich alle nicht gegebenen aber potentiell richtigen Schüleräußerungen nachträglich oder zwischendurch loben. Der Unterrichtsdiskurs gerät hier ins Stolpern angesichts der Unvereinbarkeit von Sachebene (erforderlich ist nur die richtige Antwort, egal von wem sie geäußert wird) und der Ebene der beteiligten Personen (auf der es um gewährte und verweigerte Chancen geht). Die Frage stellt sich, wie Schüler untereinander mit der Situation des Konkurrierens um richtige Antworten umgehen. Eine Variante zeigt sich in folgendem kleinen Beispiel: „Kurz vor Schluss kann ich noch ein wenig Peerkultur beobachten. Felix darf bei einer Aufgabe das richtige Ergebnis sagen. Robert neben ihm hat das gleiche heraus und sagt das auch. Felix schaut zu ihm rüber, Robert zeigt auf sein Ergebnis. Daraufhin streifen beide ihre Hände aneinander ab und grinsen.“ (Sekundarschule, Ende der fünften Klasse, Katrin U. Zaborowski)
Hier vergewissern sich zwei nebeneinander sitzende Schüler ihrer Solidarität. Es ist Robert eine Befriedigung, immerhin seinem Nachbarn Felix zu zeigen, dass er ebenfalls das richtige Ergebnis erzielt hat, auch wenn seine Leistung nicht öffent-
4.1 Die Zurechnung von ‚Leistungen‘ zu Personen
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lich wird und nur im kleinen Rahmen der unmittelbaren Nachbarschaft gewürdigt werden kann. 4.1.4 Die Entwicklung von Kriterien der Kritik anhand exemplarischer Schülerarbeiten Neben den mündlichen Beiträgen von Schülern im Unterrichtsgespräch, ihren Antworten auf Lehrerfragen, die dann als richtig oder falsch, als passend oder unpassend bewertet werden, gibt es ein weiteres strukturelles Moment von Unterricht, das die Leistungen einzelner Schüler öffentlich zur Disposition stellt und der Kritik unterwirft. Es sind jene Situationen, in denen Arbeitsergebnisse von Schülern exemplarisch im Rahmen des öffentlichen Unterrichtsdiskurses diskutiert werden, um daran etwas zu zeigen, etwa um daran Kriterien der Kritik zu erarbeiten. Dann ruft die Lehrerin in Erinnerung, was sie die letzte Stunde gemacht haben: Es ging darum, dass sie eine Linie auf Reisen gemalt haben, und dass sie diese Linie charakterisieren sollten. Sie sollten dazu eine Geschichte schreiben. (…) Ruben kommt dran. Die Lehrerin läutet die Feedbackrunde ein. Klaus-Maria findet, dass die Geschichte sehr passend für die Linie war. Er habe gut formuliert. Die Lehrerin fragt nun andere Kinder, was ihnen gut gefallen habe. Hermann meldet sich, er kommt dran: „Alles“, ist seine kurze und bündige Antwort. Diese Rückmeldung quittiert die Lehrerin mit einem gegrummelten „Alles, hmmmm.“ Andere Kinder resümieren ebenfalls positiv. (Gymnasium, fünfte Klasse, Michael Meier)
Hier geht es darum, dass die Schüler sich selbst wechselseitig bewerten. Die Lehrperson tritt als Bewertungsinstanz scheinbar in den Hintergrund, allerdings unter der Maßgabe, dass die Kritik der Schüler vor den Augen der Lehrerin Bestand haben muss. Die Lehrerin bleibt als entscheidende Instanz präsent, insofern sie die Kritik kritisiert und letztlich über deren Angemessenheit befindet. Ein zentrales Anliegen des Kunstunterrichtes ist es (das gilt allerdings auch für andere Fächer), Kriterien der Kritik zu erarbeiten: Was ist eine gelungene Arbeit? Wie lassen sich Qualitätsunterschiede erfassen und begründen? Es kommt also darauf an, Kritik zu differenzieren und zu spezifizieren, deshalb ist die Lehrerin mit Hermanns pauschalem Lob der Präsentation von Ruben nicht zufrieden. Hier wird die Schülerkritik einer Schülerleistung ihrerseits wiederum zu einer ‚Leistung‘ die der Kritik der Lehrperson ausgesetzt ist. In einer anderen Situation derselben Unterrichtsstunde korrigiert sie die Kritik der Mitschüler gewissermaßen ‚nach oben‘. Wo Mitschüler Einwände haben, greift die Lehrerin schließlich zu einem pauschalen Lob: Dann lässt sich die Lehrerin Hans-Peters Text geben und liest erneut seinen Text vor, wobei er mit seinem Finger die Linie synchron abfahren soll. Daraufhin fordert die
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4 Unterrichtsinteraktion und implizite Leistungsbewertung
Lehrerin die Klasse zur Kritik auf. Eine Schülerin merkt an, dass das so in Ordnung war, nur habe da noch was gefehlt. – „Was hat da gefehlt?“, fragt die Lehrerin an alle. Die Linie war länger als die Geschichte, er habe zu wenig geschrieben, stimmen auch andere zu. Ein sehr schönes Bild, resümiert die Lehrerin, auch schön geschrieben. Hans-Peter darf sich setzen. (Gymnasium, fünfte Klasse, Michael Meier)
Die Beobachtungen lassen sich bis hierhin folgendermaßen zusammenfassen: Schüler exponieren sich mit ihren Äußerungen im Rahmen des Unterrichtsgespräches vor der Lehrerin und vor den Mitschülern und Mitschülerinnen. Über ihre ‚Leistung‘ wird im Unterrichtsdiskurs mindestens im Sinne von richtig oder falsch befunden, oft wird auch die Bewertung noch differenziert, indem Lob, Ermutigung, Enttäuschung oder Tadel artikuliert werden. Anhand von exemplarischen Schüleräußerungen wird entwickelt und demonstriert, was gute oder gar außergewöhnliche, was erwartbare oder notwendige Leistungen sind. Die Explikation von Kriterien der Kritik kann in Praktiken der ‚Schülerkritik‘ kultiviert werden, indem die Lehrerin scheinbar als Instanz der Kritik in den Hintergrund tritt, dabei aber die Triftigkeit der Kritik kritisiert und so die Kritik als ‚Leistung‘ etabliert, die ihrerseits gelingen oder misslingen kann. Schüler gehen mit jeder Äußerung, mit jedem Antwortversuch ein gewisses Risiko ein, insofern die Antwort fehlerhaft sein kann und dann als schlechte Leistung auf ihren Urheber zurückfällt. Allein dieses Risiko freiwillig einzugehen kann schon von der Lehrperson honoriert werden. Andererseits kann jede Äußerung und jeder Antwortversuch im Rahmen des offiziellen Unterrichtsdiskurses eine Chance sein, denn die Antwort kann ‚richtig‘ oder gar herausragend sein und dann als positive Leistung für ihren Erbringer gewertet werden. Um diese Chance konkurrieren die Schüler einer Schulklasse, insofern richtige Antworten im mündlichen Diskurs nur einmal zum Zuge kommen können. Es ist nun keineswegs so, dass Leistungsbewertungen dieser Art, die beiläufig aus dem Unterrichtsdiskurs erwachsen, immer gleich notiert oder gar in Zensuren kodifiziert werden. Dies ist in der Regel nicht der Fall – aber diese strukturell notwendigen Entscheidungen über richtige und falsche, über gute und schlechte Äußerungen verknüpfen sich unweigerlich mit den Personen, die diese Äußerungen getätigt haben. Durch die tägliche und stündliche Vielzahl solcher laufenden Bewertungen verdichten sich Bilder über einzelne Schüler und deren ‚Leistungsfähigkeit‘. Es entwickeln sich Erwartungen bezüglich dessen, was konkrete Mitschüler leisten können, diese Erwartungen strukturieren wiederum den Unterrichtsdiskurs.
4.2 Positionierungen von Personen im Klassengefüge
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4.2 Positionierungen von Personen im Klassengefüge 4.2.1 Einzelne Schüler als Strukturgeber für den Unterrichtsablauf Eine Unterrichtsstunde ist zwar in der Regel von der Lehrperson im Vorfeld geplant und in ihrem Ablauf entworfen worden und doch gibt es im konkreten Vollzug immer wieder viele Details zu entscheiden, welche die Feinsteuerung innerhalb der Planung betreffen oder auch die situative Modifikation der Planung. Viele die Unterrichtsführung im Detail betreffenden Fragen, können überhaupt erst ad hoc und in der Situation beantwortet werden. Zum Beispiel gilt es einzuschätzen, ob die Schüler die Erläuterung eines Sachverhaltes wohl verstanden haben oder ob diese besser noch einmal in anderen Worten zu wiederholen ist; ob die für die Bearbeitung der Aufgabe zur Verfügung gestellte Zeit hinreichend war; ob der Schwierigkeitsgrad einer Frage, auf die keiner antwortet, zu gering oder zu hoch war und so weiter. Entscheidungen dieser Art betreffen die Feinsteuerung des Unterrichts, sie laufen oft implizit und routiniert, ohne dass die Lehrperson sich das im Einzelnen bewusst machen würde, jedoch verwendet sie Anhaltspunkte für ihre didaktischen Entscheidungen. Die Lehrperson versucht laufend Informationen über den ‚Stand der Dinge‘ einzuholen um sich daran orientieren zu können. Max ist als erster fertig, dann folgt Hans, der sich angestrengt meldet. Frau Köhler wendet sich an Hans: „Hans, zeig’s mir mal, ich will einen Blick drauf werfen.“ Er geht stolz nach vorn. Frau Köhler schaut eine Weile und nickt dann. Offensichtlich hat sie beschlossen, dass die Zeit ausreichend war, denn sie wendet sich an die Klasse. „Wer nicht fertig geworden ist, ist nicht schlimm, der kann ergänzen.“ Klaus kommt als erster dran. (Sekundarschule, fünfte Klasse, Katrin U. Zaborowski)
Schüler als Orientierungshilfen zur Strukturierung des Unterrichtsgeschehens zu nutzen, stellt für die Lehrperson eine nahe liegende Möglichkeit dar. Hier fungiert Hans als Zeitmesser für die Lehrerin. Da sie ebenfalls überprüft, ob die Aufgabe richtig gelöst worden ist, nutzt sie Hans zur Überprüfung des Zeitfensters im Verhältnis zu der Bewältigung des inhaltlichen Anspruches. Da in der vorgegebenen Zeit die erwünschte Leistung erbracht werden konnte, sieht sich die Lehrerin in der Lage, die Arbeitszeit auch für die Mitschüler zu beenden. Die Kontrolle eines einzigen Schülers reicht ihr für diese Entscheidung. Die Funktion der Orientierungshilfe ist prinzipiell nicht an eine bestimmte Person gebunden und lediglich für einen Moment innerhalb der Unterrichtssituation bedeutsam. Doch es gibt einzelne Schüler, die eine hervorgehobene Rolle für die Strukturierung des Unterrichtsablaufes spielen: Jemand bemerkt, dass Hermann schon fertig ist. „Hermann, du bist fertig?“, will Frau Thaler wissen. Hermann lacht. „Da muss ich mal gucken wie das aussieht“, sagt Frau
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Thaler und geht zu Hermann. „Na gut.“ (Es ist wohl schnell und etwas schmierig geschrieben.) „Die anderen werden bitte auch fertig, wenn sogar schon der Hermann fertig ist“, bittet Frau Thaler und setzt hinterher: „Wir hören uns das nicht noch mal an, da ihr das ja schon gesagt habt.“ (Gymnasium, fünfte Klasse, Michael Meier)
Hermann wird eindeutig und öffentlich für alle als Zeitmaß von der Lehrerin genutzt. Er gilt in der ‚leistungsstarken‘ Gymnasialschulklasse als langsam arbeitender und eher ‚leistungsschwacher‘ Schüler und kann demnach zur Orientierung für die maximal benötigte Zeit in Einzelarbeitssituationen herangezogen werden. Die Feststellung eines Schülers, „dass Hermann schon fertig ist“ zeigt, dass die Mitschüler Hermanns Position in der Klasse kennen und sich ihrerseits an ihm orientieren. Wie ist Hermanns Lachen zu deuten, das der Beobachter hier notiert? Vermutlich bewegt es sich ebenfalls innerhalb der allgemeinen Erwartungshaltung, dass er für gewöhnlich zu den Letzten gehört: Hermanns Lachen könnte Zeichen seines (freudigen) Überrascht-Seins oder Ausdruck der Unsicherheit sein, ob er es wohl richtig hat. Die Lehrerin signalisiert der Klasse, dass nun alle fertig werden sollen, „wenn sogar schon der Hermann fertig ist“. Die Zuschreibung, dass Hermann ein langsam arbeitender Schüler ist, wird dadurch für alle noch einmal hervorgehoben, und von der Lehrerin als Legitimierung für die Zeitbegrenzung genutzt. Die Verwendung von Schülern als Strukturierungshilfen des Unterrichts ist für die Lehrpersonen eine erhebliche Arbeitserleichterung. Nicht nur indem ihnen auf diese Weise Rückmeldungen über Schwierigkeitsgrade und Zeitlimits gegeben werden. Sie haben auch die Möglichkeit, Entscheidungen über das Anforderungsniveau von Aufgaben oder die zur Verfügung gestellte Zeit vor der Schulklasse zu legitimieren, wenn und insofern sie auf die gemeinsame Orientierung an der Funktion der Strukturierungshilfe durch einzelne Schüler bauen kann. Das gemeinschaftliche Wissen der Schulklasse über die Rolle einzelner Schüler als Orientierungspunkte des Unterrichts ist also Voraussetzung der beschriebenen Szene, zugleich gehört es sicher zu den Effekten solcherart Szenen. In dem wiederholten und gemeinschaftlichen Rekurs auf die Orientierungsfunktion bestimmter Schüler für den Unterrichtsablauf werden entsprechende Erwartungshaltungen und Zuschreibungen erst hervorgebracht. 4.2.2 Zuschreibungen von Positionen im Klassengefüge an einzelne Schüler Die Zuschreibung spezifischer Positionen innerhalb des Leistungsgefüges der Schulklasse an einzelne Schüler ist aber nicht nur für die situative Steuerung des laufenden Unterrichts relevant. Sie sind auch von Bedeutung etwa für die Zu-
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sammenstellung von Arbeitsgruppen, die entweder ‚leistungsheterogen‘ oder ‚leistungshomogen‘ zusammengesetzt sein sollen, damit sie ‚einander helfen‘ oder ‚auf gleichem Niveau‘ arbeiten können. Auch in Entscheidungen über die Sitzordnung gehen oft Zuschreibungen über die Leistungsfähigkeit einzelner Schüler ein, insofern auch hier didaktische Überlegungen zu Vor- und Nachteilen der Zusammenarbeit bei Leistungsheterogenität oder -homogenität zum Tragen kommen können. Solcherart Zuschreibungen im Zusammenhang didaktischer Erwägungen sind keineswegs immer implizit, sie werden durchaus auch klassenöffentlich verkündet. In der folgenden Szene werden im Zusammenhang des Versuchs, HilfeArrangements zwischen den Schülern zu initiieren, Namen genannt. Dann schlägt der Lehrer für diejenigen Schüler, die schlechter stehen, Lerngruppen/ Lernpatenschaften vor. „Der Vorteil ist nicht nur der, der da (...) Schwächen hat, lernt was dazu, sondern auch der, der ihm das zeigt, lernt was dazu. Also is für beide immer ne ganz (.) gute Situation. Jetzt gibt es natürlich nicht allzu viele (.) wo man sagen könn ah das sind ja die, die können ja alles. Wer mir sofort einfallen würde wär Manuel zum Beispiel, ja.“ Manuel grinst verlegen und stolz zugleich. „Der hat also, durchaus das Verständnis, der könnte also sagen, ich biete mal ein Stündchen in der Woche, zu den Themen, die euch schwer fallen, eine Nachhilfe an, ja. Das würde auch, das würde auch natürlich bei Paul funktionieren (Paul nickt kurz) [...] Ja, vielleicht denkt ihr mal daran. Tina könnte auch etwas helfen, ja, Martina. So, ich frage mal nächste Woche nach, bei wem wer- die Schwächeren müssen natürlich auf die Stärkeren zugehen. Ja. Geht ihr mal hin: Kannst mir nich mal das erklären, macht ihr nach dem Unterricht, ihr könnt in den Pausen euch hinsetzen, euch stehen auch Räume zur Verfügung, alles kein Problem, ihr könnt auch in den Schulclub gehen, aber nutzt die Chance! Vier Wochen ist nicht mehr lang.“ (Sekundarschule, sechste Klasse, Katrin U. Zaborowski)
Hier erfordert es der Versuch des Lehrers, „Lernpatenschaften“ zu arrangieren, die ‚Leistungsspitze‘ der Klasse zu benennen. Er will sicher gehen, dass die Funktionalität des Arrangements einsichtig wird und dass tatsächlich nach dem Kriterium des ‚Leistungsvermögens‘ gewählt wird. Er benötigt demnach Beispiele, an denen er das Konzept erläutern und plausibilisieren kann. Dass er dabei zuerst auf Manuel verweist ist wenig überraschend (vgl. Kap. 3.4.1). Die von Manuel beschriebene Reaktion zeugt durchaus davon, dass es ihm nicht ganz unangenehm ist, als erster namentlich genannt zu werden. Andererseits ist mit dieser Auszeichnung nicht nur ein enormer Erwartungsdruck verbunden, sondern auch eine öffentliche Aufmerksamkeit, die zu besonderen Konstellationen führen kann, wie weiter unten noch zu sehen sein wird. Von Paul, der als nächster genannt wird, ist noch ein „kurzes Nicken“ notiert, von Martina ist keine Reaktion auf ihr Outing als leistungsstarke Schülerin verzeichnet. Wer im Rahmen von „Lernpatenschaften“ nach der Vorstellung des Lehrers Hilfe beanspruchen soll, wird nicht namentlich benannt. Scheut er davor zurück, die ‚Hilfebedürftigen‘ zu benennen, nachdem er die ‚Hilfegeber‘ öffentlich hervorgehoben
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4 Unterrichtsinteraktion und implizite Leistungsbewertung
hat? Ist es für die Funktionalität des Arrangements weniger bedeutsam, hier Klarheit zu schaffen? Er spricht „die Schwächeren“ im Plural („ihr“) an und geht offenbar davon aus, dass bekannt ist wer hier gemeint ist und jetzt aktiv werden sollte. Der Lehrer möchte lediglich zu einem späteren Zeitpunkt „mal nachfragen“, ob es geklappt hat. Im Fokus des klassenöffentlichen Diskurses stehen beide Extrema, auch durch Situationen wie diese ist allen Beteiligten gleichermaßen bekannt, wer die ‚Schlechtesten‘ und wer die ‚Besten‘ sind. Sind die Zuschreibungen häufig genug genannt, stellt es für die Mitschüler kein Risiko dar, die Zuschreibungen selber anzuwenden. Beispielhaft ist eine Unterrichtssituation in der Sekundarschulklasse (vgl. 3.2.3), in der sich herausstellt, dass Judith ihre Unterrichtsmaterialien nicht dabei hat. Ihr Mitschüler Christian unterstellt ihr auf diese Feststellung hin, dass sie die Sachen wohl „absichtlich“ vergessen habe. Damit bewegt er sich im Rahmen des klassenöffentlichen Diskurses über Judith, die als diejenige Schülerin gilt, von der wenig Unterrichtsbereitschaft zu erwarten ist. Dies zeigt sich letztendlich auch darin, dass diese Bemerkung in dem Moment folgenlos bleibt. Zudem wird ersichtlich dass es für Mitschüler einen Reiz zu haben scheint, einzelnen Schülern oder Schülerinnen eine gewisse Position im Klassengefüge zuschreiben zu können. Sei es die Neugier auf Reaktionen der Lehrenden bei solcherart Anschuldigungen, die Schaulust Disziplinierungsvorgänge als Außenstehende beobachten zu können oder auch der Profit einer bequemen Position im Schatten des Rampenlichts – jedenfalls scheint die Verwendung einmal öffentlich etablierter Zuschreibungen relativ gefahrlos und geradezu common sense zu sein. Öffentlich als ‚Leistungsspitze‘ zu fungieren ist möglicherweise weniger prekär, als am unteren Rand des Leistungsspektrums verortet zu werden. Jedoch ist beiden Positionen inhärent, dass man sich zeitweilig auf der Bühne der Klassenöffentlichkeit und somit im Zentrum der Aufmerksamkeit befindet. Von den ‚Besten‘ werden zum Beispiel regelmäßig stellvertretend für alle anderen Spitzenleistungen erwartet. 4.2.3 Stellvertretende Leistungen Eine spezifische Form der Motivierung im Unterricht stellen Wettbewerbe und Lernspiele dar. Dabei geht es oft darum, Gruppen zu bilden, die gegeneinander antreten und die sich im sportlichen Wettkampf zu besonderen Anstrengungen anreizen lassen. Um in diesen Wettkämpfen erfolgreich zu sein, ist es hilfreich, auf Kenntnisse und Zuschreibungen hinsichtlich der ‚Leistungsfähigkeit‘ von Mitschülern zurückgreifen zu können. Wenn Schüler selbstständig Gruppen
4.2 Positionierungen von Personen im Klassengefüge
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bilden, wie es z. B. aus dem Sportunterricht im Kontext von Mannschaftssportarten bekannt ist, werden dabei gewisse Schüler und Schülerinnen favorisiert, andere hingegen ungern in die Gruppe aufgenommen. Es wird je nach Erwartung der jeweiligen ‚Leistungsfähigkeit‘ der Mitschüler Inklusion und Exklusion betrieben. Erwartungshaltungen und Zuschreibungen an Mitschüler können durch diese Vorgänge manifestiert und verfestigt werden. Auch wenn die Einteilung der Gruppen von der Lehrkraft übernommen wird, kann sich, wie im folgenden Beispiel, die Frage nach den ‚Besten‘ ergeben, wenn Mannschaftsführer gesucht werden, die stellvertretend für ihre Gruppe agieren sollen. Die Klasse wird durch die mittlere Bankreihe hindurch in zwei Gruppen eingeteilt. Die Teams werden gefragt, wer aus ihrer Gruppe der oder die jeweils Beste ist. Die linke Gruppe entscheidet sich spontan für Steffen, dann ergänzt Frau Grimm „im Schreiben“. Jetzt stecken Felix und Hans, auch einige andere, die Köpfe zusammen dann kommt einstimmig: „Manuel“. Manuel geht stolz nach vorn. Auf der anderen Seite würde gern Max nach vorn gehen, aber das wird scheinbar gar nicht als wirkliche Bewerbung verstanden, es wird weiter überlegt, Jens wird nach seiner Wertung gefragt und meint: „Martina.“ Frau Grimm: „Ich denke auch.“ Martina geht nach vorn, hinter mir höre ich Paul: „Los, Manuel, mach sie alle.“ Das wundert mich ein wenig bei Paul, der sonst so ruhig ist. Im Gegensatz dazu feuert Christian Martina an. (Christian gehört allerdings der Manuel-Gruppe an.) Die beiden Gruppenvertreter stehen hinter je einer Tafelhälfte, Frau Grimm sagt die Wörter auf Deutsch an, die beiden sollen sie auf Englisch anschreiben. Max schreibt als einziger mit, die anderen schauen nach vorn. Als Frau Grimm „Bankangestellter“ ansagt, macht Robert hinter mir erschrocken „Oh Gott!“. Jetzt werden die Ergebnisse verglichen, die Tafel wird umgeklappt, die Schüler dürfen sich wieder setzen. Die Klasse soll jeweils entscheiden, ob ein Wort an der Tafel richtig ist, oder nicht. Christian freut sich, als er einen Begriff richtig hat. Felix zählt laut an seinen Fingern die Punkte (für richtige Vokabeln) mit. Vorfreude, als sich abzuzeichnen beginnt, dass die linke Gruppe gewinnen wird. Als das Ergebnis feststeht, erfolgt gemeinsamer Jubel der Gruppe (vor allem aber Felix und Hans), allerdings verhält sich Christian recht ruhig, schaut aber zum Rest der Gruppe. Frau Grimm beglückwünscht die Gewinner und meint zu den Verlierern: „Da hatte Martina heute nicht so einen guten Tag, aber das ist nicht so schlimm.“ (Sekundarschule, fünfte Klasse im Oktober, Katrin U. Zaborowski)
Hier wird eine spezielle Form des Gruppenspiels vollzogen. Es zeigt sich jedoch, dass die Lehrerin die letzte Instanz und somit Entscheidungsträgerin im Geschehen des Wettbewerbs ist. Denn weder dürfen sich die Schüler selbstständig in Gruppen finden, noch treten sie tatsächlich gegeneinander an. Stattdessen werden die Schüler von der Lehrerin aufgefordert, den oder die Beste aus ihrer Gruppe zu wählen, wobei sie in einer Gruppe den Vorschlag der Gruppe (Steffen) korrigiert. Trotz des Eingreifens der Lehrerin scheinen sich die Schüler mit dem jeweiligen Vertreter identifizieren zu können, denn während des ‚Wettkampfes‘ schauen sie gebannt nach vorn, zeigen großes Interesse und Anteilnahme am Geschehen, nur Christian bricht die Identifikation ironisch durch die ostentative
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Unterstützung der ‚Falschen‘. Als das Ergebnis feststeht, jubeln die Gewinner, obwohl nur Martina und Manuel aktiv an dem ‚Vokabel-Wettkampf‘ teilgenommen haben. Die Lehrerin Frau Grimm unterstützt dies, indem sie nicht nur Manuel, sondern der gesamten Gewinnergruppe gratuliert. Erstaunlich an diesem Beispiel ist, dass es sich um die ersten Wochen des Schuljahres handelt und der Klassenverband erst seit kurzer Zeit besteht. Trotzdem ist den Beteiligten detailliert und präzise bekannt, wer die „Besten“ sind, und in welchen Bereichen die Defizite der Einzelnen liegen, wie beispielsweise das Revidieren der Entscheidung für Steffen zugunsten von Manuel zeigt, nachdem die Lehrerin den Hinweis „im Schreiben“ gibt. Ein zweites Beispiel zeigt in ähnlicher Weise die öffentliche Anteilnahme an der Leistungsfähigkeit eines einzelnen Schülers. Dann fragt Herr Semper, wer sich zutraut, alle Brüche samt Dezimalentsprechung zu können. Hans und Manuel melden sich, Manuel kommt dran. Hans macht „Ooh“. Manuel will erst nach vorn an die Tafel gehen, soll aber auf dem Platz bleiben. Er kann fast alles, aber mit 1/20 hat er noch Probleme. Er kann sich nicht zwischen 0,02 und 0,05 entscheiden. Dann wird in der Klasse gefordert, dass es noch einen schweren Bruch geben soll und Herr Semper erfüllt den Wunsch und gibt 7/8 vor. Daran scheitert auch Manuel. (Sekundarschule, fünfte Klasse, Katrin U. Zaborowski)
Sowohl Manuel als auch Hans scheinen ein positives Selbstbild hinsichtlich ihrer Mathematikkenntnisse zu besitzen, so dass sie keine Scheu haben, sich der Aufgabenstellung des Lehrers zu stellen. Möglicherweise traut Herr Semper jedoch Manuel eher diese schwierige Aufgabe zu als Hans (vgl. Kap. 3.4.1 und 3.4.2). Manuel zeigt sich weiterhin überzeugt von seinem Können, insofern er sich sogar vor der Klasse aufstellen möchte. Bei einer Aufgabe kommt er jedoch ins Wanken, was von seinen Mitschülern als ein Anflug von Schwäche erkannt wird. Sie fordern einen noch höheren Schwierigkeitsgrad, um die Grenzen ihres ‚Klassenbesten‘ auszutesten. Diese Aufgabe kann er dann tatsächlich nicht lösen. Es ist ein Spiel, in dem ein einzelner, als ‚leistungsstark‘ bekannter Schüler auf seine ‚Leistungsgrenzen‘ hin getestet wird, die im alltäglichen Unterrichtsdiskurs auf Grund der Orientierung an den Möglichkeiten des Mittelfeldes der Klasse, selten erreicht werden – eine unterhaltsame Vorführung des Klassenprimus. Im Miteifern der Mitschüler und in der Forderung nach einer noch schwereren Aufgabe im Moment der Unsicherheit Manuels zeigt sich, dass sie auch seine Fähigkeiten gerne begrenzt sehen würden. Andererseits nimmt Manuel die Position eines Mitgliedes der Schulklasse ein und tritt in dieser Rolle stellvertretend gegen den Lehrer an. Es wird zu einem Spektakel auf der Bühne der Klassenöffentlichkeit.
4.4 Zusammenfassung
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4.3 Der öffentliche Tadel Manuel scheint schon wieder zu kippeln, denn Herr Semper mahnt: „Kippeln macht dumm, Manuel!“ (Sekundarschule, fünfte Klasse) „Diese Berichtigung schreibst du noch einmal ab, ich nehme diese Berichtigung nicht an.“ Raunen in der Klasse. „Das ist eine Schweinerei, was du hier abgibst, ablieferst!“ (Sekundarschule, fünfte Klasse) „Mit n Kopp nicken tun de Pferde. Antworte bitte.“ Judith: „Ja.“ (Sekundarschule, sechste Klasse) „Und was noch?“, will die Lehrerin wissen. Carmen halblaut in die Klasse: „Keine Ahnung.“ – „Keine Ahnung gibt’s nicht in der Abbildung“, kommt es streng von vorn zurück. Von irgendwo fällt die richtige Antwort: „die Luftblase“. Carmen resignierend: „Okay.“ (Gymnasium, fünfte Klasse)
Szenen dieser Art ließen sich aus unserem Datenmaterial noch dutzendweise zitieren. Ermahnungen, Zurechtweisungen bis hin zu Beschimpfungen einzelner Schülerinnen oder Schüler durch die Lehrperson finden in nahezu jeder Unterrichtsstunde statt. In den Protokollen wurden deutlich häufiger abwertende und sanktionierende als anerkennende und motivierende Interaktionen notiert, wobei im Vergleich zum Gymnasium an der Sekundarschule weit mehr Szenen des Tadelns, Drohens und Sanktionierens beschrieben sind.97 Diese Häufigkeiten sind nicht unmittelbar zu interpretieren, da zu überlegen ist, inwieweit die Aufmerksamkeit der Beobachter und Beobachterinnen eventuell stärker durch Szenen öffentlichen Tadels als durch Lob und Anerkennung geweckt wurde. Jedoch ergibt die asymmetrische Relation zwischen anerkennenden und abwertenden Interaktionen zusammengenommen ein deutliches Gesamtbild: Vor allem der klassenöffentliche Tadel gehört zum Unterrichtsalltag unmittelbar dazu, er scheint konstitutiver Bestandteil der Unterrichtskommunikation zu sein. Bei den Praktiken des Tadelns, Ermahnens und Zurechtweisens kann es sich um so kurze, beiläufige in den laufenden Unterrichtsdiskurs eingestreute Bemerkungen handeln, wie den oben zitierten, es lassen sich aber auch komplexere Szenen finden, in denen kleinere oder größere Dramen aufgeführt werden. Wir werden uns im Folgenden für diese Szenen weniger unter dem Aspekt der Disziplinierung oder Kontrolle und auch weniger unter der Perspektive der Stigmatisierung einzelner Schüler oder Schülerinnen interessieren – das wären jeweils eigene Betrachtungen wert – wir werden hier vor allem nach der Bedeutung der 97 Eine Auszählung der vergebenen Codes (loben, motivieren, tadeln, drohen/ warnen, sanktionieren) ergab, dass insgesamt nahezu fünfmal so viele abwertende wie anerkennende und an der Sekundarschule mehr als doppelt so viele abwertende Codes als am Gymnasium vergeben wurden.
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Klassenöffentlichkeit für Szenen dieser Art fragen: Inwiefern sind solcherart Interaktionen davon geprägt, dass sie vor dem Publikum der Schulklasse stattfinden? Welche Rolle spielt das Publikum der Mitschüler und wie beziehen die Lehrpersonen die Zuschauer in das Geschehen ein? Die Öffentlichkeit der Schulklasse ist konstitutiv für viele der bis hierhin analysierten Szenen, aber in den Praktiken des Tadelns und Drohens scheint sie noch eine besondere Rolle zu spielen. Immer wieder beobachten wir Szenen, die in besonderer Weise auf der Bühne der Klassenöffentlichkeit zu spielen scheinen, Szenen die regelrecht aufgeführt werden. Die betreffenden Schüler rücken dadurch in das Zentrum der Aufmerksamkeit der ganzen Klasse, wodurch die Mitschüler zum Publikum werden. Frau Pohl kommt dazu, fragt nach dem Zeilometer. Das ist ein Hilfsmittel, das zum Auffinden der richtigen Zeile sowie zum Zeile-Halten beim Lesen verwendet wird. Christian hat keins, was Frau Pohl verärgert. Die Schüler sollten es sich selbst basteln. Jetzt will Frau Pohl wissen, wann sie ein Zeilometer von Christian zu sehen bekommt. Der antwortet etwas schnell: „Morgen!“ Frau Pohl wendet sich der Klasse zu: „Ihr habt’s alle gehört!“ Und zu Christian: „Was darf ich mit dir machen, wenn du es morgen nicht hast?“ Er zuckt mit dem Schultern. „Darf ich dich dann über’s Knie legen?“ Christian bejaht. Frau Pohl wendet sich wieder an die Klasse: „Ihr habt’s gehört, morgen liegt Christian auf meinem Knie und jeder darf mal draufhauen.“ Die Klasse freut sich. Christian grinst. Er liest weiter vor. (Sekundarschule, fünfte Klasse, Katrin U. Zaborowski)
Die Mitschüler werden in dieser Unterrichtssituation direkt angesprochen und somit als Publikum in das Spektakel einbezogen. Es liegt ein ‚Vergehen‘ des Schülers Christian vor und die Klasse wird in das Maßregelverfahren eingebunden, indem sie als Zeugen für ein Nachholversprechen von Christian eingespannt werden. Bei der von Frau Pohl vorgeschlagenen Form der Sanktionierung für den Fall der Nichteinhaltung des Versprechens handelt es sich um auch für Fünftklässler erkennbare Ironie. Zumal die Lehrerin die Strafandrohung noch weiter detailliert und eine Szenerie entwirft, in der jeder „mal draufhauen“ darf. Damit ist der Klimax dieser kleinen Inszenierung erreicht und das Publikum zeigt sich erfreut. Worum handelt es sich bei Szenen dieser Art? Geht es tatsächlich noch um das vergessene Zeilometer? Oder greift die Darbietung nicht weit darüber hinaus? Die Strafandrohung scheint doch vor allem auf ihren Unterhaltungswert zu zielen, es geht offenbar zunächst um das Amüsement des Publikums – zwar auf Kosten Christians, aber dass man sich auf seine Kosten amüsiert ist ja nur, in der Logik der Szene, der gerechte Preis dafür, dass er das Zeilometer vergessen hat. Verfehlungen von Schülern können jederzeit genutzt werden, um diese öffentlich vorzuführen. Ein weiteres Beispiel:
4.4 Zusammenfassung
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„Jens, wenn du mein Sohn wärst, würde ich dir jetzt die Ohren lang ziehen und einen Doppelknoten rein machen. Es ist absolut unhöflich, wenn jemand vorne steht und aufgeregt ist und jeder von euch war aufgeregt, dich mit deinem Nachbarn abzusprechen, wer wohl von euch beiden als erster dran kommt. Zur Strafe bist du’s. Weil das mit den Ohren geht nicht.“ (Sekundarschule, fünfte Klasse, Katrin U. Zaborowski)
Auch dieser Szene kann ein gewisser Unterhaltungswert zugesprochen werden. Wieder wird ironisch mit dem Gedanken körperlicher Züchtigung gespielt und ein absurd-lächerliches Bild der Bestrafung entworfen. Auch hier verbleibt die Sanktionierung selbstverständlich auf der verbalen Ebene, aber die Strafe besteht wiederum in der Bloßstellung. In dieser Szene werden die beiden zu vermutenden Funktionen des Publikums der Mitschüler noch deutlicher: Zum einen geht es offenbar darum, für alle das Vergehen von Jens zu benennen und zu erläutern, die Lehrerin formuliert eine allgemeine Regel („es ist absolut unhöflich …“), die eigentlich härter bestraft werden müsste, als es der Lehrerin in diesem Moment möglich ist. Anhand des Sanktionierungsprozesses anlässlich Jens’ Verhalten werden demnach Normen und Werte diskutiert, denen insgesamt Geltung verschafft werden soll. Jens wird in dieser Hinsicht exemplarisch bestraft, die Maßnahme wird explizit und öffentlich begründet, damit alle Mitglieder der Schulklasse erfahren, dass mangelnde Rücksichtnahme auf Mitschüler, die vor der Klasse stehen, sanktionswürdig ist. Die Lehrerin statuiert ein Exempel an Jens zum Zwecke der Hebung der öffentlichen Moral – insoweit ist das Publikum direkter Adressat der Szene. Zum anderen aber ist das Publikum in Praktiken dieser Art unmittelbar beteiligt, insofern die öffentliche Bloßstellung konstitutiv auf das Publikum angewiesen ist. Wie beim mittelalterlichen Pranger besteht die Strafe im Wesentlichen in der Peinlichkeit der öffentlichen Demütigung: Der Übeltäter wird samt der Darlegung der Anschuldigung zur Schau gestellt. Der öffentliche Vollzug des Tadels dürfte einerseits strafverschärfend wirken und andererseits als exemplarische Disziplinierung gemeint sein, anhand derer das Regel- und Normbewusstsein auch aller anderen befördert werden möge. Weiterhin, und dieser Aspekt drängt sich auf, wenn man die Vielzahl der Szenen öffentlichen Tadelns vor dem Publikum der Mitschüler (und der Ethnographin) durchgeht, dienen Szenen dieser Art der Hebung des Unterhaltungswertes des Unterrichts. Sich auf Kosten einzelner Schüler zu belustigen und sie auf diese Weise vor der Gemeinschaft der Mitschülern vorzuführen, ist eine gängige Praktik von Lehrpersonen, um Witz zu beweisen und den Unterrichtsalltag durch Spaß zu bereichern. Versäumnisse, Regelverstöße oder Fehlverhalten einzelner Schüler oder Schülerinnen werden zur willkommenen Ressource, so scheint es, um den Unterhaltungswert des Unterrichts zu sichern und Inseln des interaktiven Vergnügens für die Beteiligten zu schaffen. – Hierbei ist anzumerken, dass die untersuchten Szenen öffentlichen Tadelns fast alle von der Sekundarschule stammen und in dieser Häufung und Drastik am Gymnasium so nicht zu be-
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obachten waren. Es scheint hier durchaus schulkulturspezifische Ausprägungen des Tons der Unterrichtskommunikation zu geben, gleichwohl ist anzunehmen, dass der angesprochene Zusammenhang zwischen der Öffentlichkeit des Unterrichtsgeschehens und der Sanktionierung einzelner Schüler von allgemeiner, systematischer Art ist. Die Öffentlichkeit des Unterrichtsgeschehens ist allerdings auch für Lehrpersonen bedrohlich. Auch sie müssen ihr Gesicht wahren, ihre Autorität beweisen und Konfrontationen bestehen (vgl. Breidenstein 2009). Nur so ist zu verstehen, dass Situationen wie die folgende eine Dynamik entwickeln, die zunächst kaum absehbar ist, und Ergebnisse zeitigen, die vermutlich niemand beabsichtigt hat. Die Szene ist einer Stunde im Mathematikunterricht entnommen. Ihr geht eine Phase der Einzelarbeit voraus, wobei die Schüler Aufgaben in ihren Heften lösen sollten, bevor dann der Lehrer Einzelne nach vorne ruft, die Lösung an die Tafel zu schreiben. Christian wird aufgefordert seine Lösung anzuschreiben: Christian bleibt jedoch auf seinem Platz sitzen und meint leise, er habe die Aufgabe noch nicht. Herrn Semper ist das egal. „Dann mach mal, komm mal nach vorne.“ – „Ich hab die noch nich.“ Christian schaut leicht nach unten. „Ja, du sollst nach vorne kommen. Das is doch ne eindeutige Ansage von mir, oder?“ (..) „Hallo!“ Herr Semper wird laut, Christian bleibt auf seinem Platz sitzen und schaut jetzt ein wenig widerspenstig: „Ich hab das noch nicht gerechnet.“ – „Jetzt-, red ich hier Kisuaheli?“ Einige Kinder rufen in den Raum und fordern Christian auf, nach vorn zu gehen und so der Lehreraufforderung nachzukommen. Herr Semper ist jetzt sauer: „Da! Du! Nach vorne!“ Christian bleibt sitzen. „So, gut. Unterrichtsverweigerung. Ich bin heute etwas genervt, Christian. Also du machst es nicht? Sechs. Haben wer doch, hab ich gar kein Problem.“ Er schreibt die Note ein und sagt sie zusätzlich noch einmal laut an. „Sechs. Hoffentlich hab ich nich beim Falschen eingeschrieben, bei Hermann, nö, richtig, Sechs. So. Okay. (.) Bist nächste Stunde nochmal dran.“ (Sekundarschule, Ende der sechsten Klasse, Katrin U. Zaborowski)
Obwohl Christian die geforderte Aufgabe offenbar nicht gelöst hat, insistiert der Lehrer auf seiner Wahl und seiner Aufforderung an Christian „nach vorne“ zu kommen. Als Beobachter dieser Szene gewinnt man schnell den Eindruck, dass es nicht mehr um die Sache geht, den Vergleich der Lösung einer mathematischen Aufgabe, sondern um Machtfragen: die Durchsetzung einer Aufforderung, den (mangelnden) Gehorsam eines Schülers und die Autorität des Lehrers. Dass sich die Situation in dieser Weise zuspitzt ist vermutlich der Öffentlichkeit des Geschehens geschuldet. Der Lehrer glaubt offenbar vor dem Publikum der gesamten Schulklasse sich durchsetzen zu müssen, jedenfalls kommentiert er seine Maßnahmen ausgiebig und stellt auch das Einschreiben der Note Sechs extensiv öffentlich dar. Auch für Christian geht es möglicherweise um öffentlichen Gesichtsverlust, das ist zwar aus seinem Verhalten nicht so deutlich ablesbar, aber er hat ja auch weniger Optionen sich zu verhalten. Die ‚Verweigerung‘ allerdings, als die sein Verhalten vom Lehrer interpretiert wird, stellt zugleich eine
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Option der Ohnmacht und der Macht dar, insofern eine echte Verweigerung das gesamte Unternehmen des Unterrichts gefährdet. Der Arbeitskonsens der Unterrichtskommunikation beruht darauf, dass Schüler Lösungsversuche unternehmen, auch wenn sie die Lösung nicht kennen und keine Ahnung haben (vgl. z. B. Voigt 1984, Breidenstein 2006) – diese Arbeitsgrundlage sieht der Lehrer hier offenbar gefährdet. Es handelt sich hier ursprünglich nicht um eine Prüfungs- oder Leistungsbewertungssituation im Sinne der Zensurengebung. Dass der Lehrer in dem – in seiner Perspektive – eskalierenden Machtkampf zum Mittel der Benotung greift, ist sicher letzten Ende als Hilflosigkeit zu deuten: Auf seiner Macht über die Zensurengebung zu insistieren ist offenbar das letzte Mittel, das ihm verbleibt. Immerhin bringt er so eine ausweglose Situation zu einem gewissen Abschluss, was sich auch in dem – zunächst irritierenden – „Okay“ des Lehrers dokumentiert. Die Ironie dieser Geschichte: Auch ein Kapitel, das sich bewusst der Analyse von Leistungsbewertung jenseits der Zensurengebung widmet, landet bei der Note Sechs, wenn es um das Ringen eines Lehrers um Autorität vor dem Publikum Schulklasse geht: Die Note Sechs als Mittel der Sanktionierung und ‚letztes Wort‘ der Unterrichtskommunikation. 4.4 Zusammenfassung Wie lässt sich nun die Varianz der Beobachtungen und Interpretationen zusammenfassen und systematisieren? Gibt es übergreifende Zusammenhänge zwischen der Vielzahl der Szenen und den dort dokumentierten Details der Interaktion? Zunächst ist festzuhalten, dass Schüler im Unterrichtsalltag auch außerhalb expliziter Prüfungssituationen bewertet werden. Durch ihre Teilnahme an Unterrichtsgesprächen werden nicht nur ihre Beiträge als richtige oder falsche Antworten, sondern ebenfalls ihre Person als bessere oder schlechtere Schüler identifiziert und klassifiziert. Der alltägliche Unterrichtsdiskurs erzeugt laufend ‚Leistungen‘ und ‚Leistungserbringer‘. Es werden entsprechende Bewertungen und Einschätzungen in der Öffentlichkeit der Schulklasse kommuniziert, woraus sich durch die Wiederholung und Regelmäßigkeit dieser Bewertungen Positionierungen im Klassengefüge entwickeln, die sich in Fremdeinschätzungen durch die Lehrpersonen und Mitschüler, wie auch in den Selbstbildern der betreffenden Schüler und Schülerinnen niederschlagen. Solcherart Positionierungen dokumentieren sich allerdings nicht erst nach längerer Interaktionsgeschichte, sondern zumindest für einige Schüler schon sehr früh – nach wenigen Wochen an der neuen Schule im fünften Schuljahr. Verblüffend schnell und manchmal auch verblüffend unverhohlen werden einzelnen Schülern bestimmte Leistungsposi-
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tionen in der Klasse zugewiesen. Dies mag damit zusammenhängen, dass sich Positionszuweisungen an spezifische Schüler nicht nur als schwer zu vermeidende Effekte langfristig prozessierter Bewertungen darstellen, sondern eben auch als funktionales Erfordernis für den situativen Vollzug von Unterricht. Bilder von der ‚Leistungsfähigkeit‘ bestimmter Schüler werden zur Steuerung und Strukturierung des Unterrichts verwendet: zur Bemessung und Legitimierung der benötigten Arbeitszeit, zur Überprüfung und Personalisierung der oberen und unteren Leistungsgrenze der Klasse, zur Inszenierung ausgeglichener Wettbewerbe oder zur Organisierung von Hilfe-Arrangements. Für alle diese – und vermutlich noch weitere – Praktiken der alltäglichen Unterrichtsorganisation ist es nicht nur nützlich, sondern sogar erforderlich über zumindest einige ‚Orientierungspunkte‘ in der Schulklasse zu verfügen. Es müssen nicht alle Mitglieder der Schulklasse auf bestimmte Positionen festgelegt sein, aber bestimmte Positionen müssen vergeben sein – etwa die des langsamsten oder des schnellsten Schülers, des Klassenbesten in einem Fach und desjenigen, der immer Hilfe benötigt. Indem die Positionen in der beschriebenen Weise zur Strukturierung des laufenden Unterrichts verwendet werden, bestätigen sie sich zugleich. Hier ist grundsätzlich von der sich reproduzierenden Rekursivität „strukturierender Strukturen“ (Giddens 1995) auszugehen. All diese Akte der Konstituierung von ‚Leistungserbringern‘, der Orientierung an bestimmten, durch Schüler vertretenen Leistungspositionen im Klassengefüge, der lobenden Würdigung und der tadelnden Einforderung von ‚Leistungen‘ finden vor dem Publikum der Mitschülerinnen und Mitschüler statt. Akte der Bewertung, die sich sowohl auf ‚Leistungen‘ als auch auf ‚Verhalten‘ von Schülerinnen und Schülern beziehen, stellen sich als komplexe und vielseitige Ressource für die Unterrichtskommunikation dar: Sie können als Ansporn und Motivierung eingesetzt werden, als Mittel der Disziplinierung, Moralisierung und exemplarische Sanktionierung und nicht zuletzt als stets willkommener Anlass der Erheiterung und des Amusements im Klassenverband. Vor allem der Tadel zur Kennzeichnung mangelhafter oder enttäuschender Leistungen wird regelmäßig auf der Bühne der Klassenöffentlichkeit inszeniert – einerseits, so ist zu vermuten, um seine Wirkung auf den Getadelten durch öffentliche Beschämung zu verstärken und andererseits, um dem versammelten Publikum ein warnendes Beispiel zu geben. Es sind also, um noch einmal etwas abstrakter zu resümieren, einerseits Momente, die der didaktischen Gestaltung des Unterrichtsgeschehens inhärent sind, wie die Steuerung und Strukturierung spezifischer Unterrichtsarrangements, und andererseits Momente, die eher den pädagogischen, erzieherischen Ambitionen des Unterrichts zuzurechnen sind, wie etwa vorbildliche oder zu tadelnde Aspekte des Verhaltens einzelner Schüler oder Schülerinnen. Eine solche Trennung in
4.4 Zusammenfassung
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Didaktik und Pädagogik lässt sich jedoch bei genauerer Betrachtung kaum aufrechterhalten – allzu oft geht das eine in das andere über, wobei all jene Praktiken, die ‚Leistungen‘ als Leistungen von Personen konstituieren und Personen ‚Leistungsvermögen‘ und spezifische Positionen im Leistungsgefüge der Schulklasse zuschreiben, wohl dazu tendieren, den Vollzug von Unterricht zu pädagogisieren, denn sie richten sich weit über die Verhandlung und Klärung von Sachverhalten hinaus auf die Besserung, Disziplinierung, Regulierung, kurz: Erziehung von Personen. Damit ist aber noch nicht die Frage beantwortet, ob Unterricht und Erziehung tatsächlich funktional zusammengehören, wie es etwa das eingangs zitierte Theorem von Luhmann implizierte, oder ob es nicht die hier beschriebenen alltäglichen kleinen und großen Praktiken der Leistungsbewertung sind, die den Zusammenhang von Unterricht und Erziehung erst herstellen. Jedenfalls kann man festhalten, dass viele der beobachteten Akte der Leistungsbewertung in ihrer konkreten Ausformung weniger dem Problem der Didaktik, als Praxis der Vermittlung, und auch nicht der Pädagogik, im Sinne der Erziehung des Zöglings, zuzurechnen sind, sondern dem Umstand, dass der Versuch der Vermittlung 25 Kinder gleichzeitig betrifft und dass das didaktische Geschäft in der Öffentlichkeit der Schulklasse stattfindet. Erst die gleichzeitige Unterrichtung durch eine Lehrperson lässt die Sortierung der Schülerschaft, die Auszeichnung der Besten und das öffentliche Anprangern von Fehlleistungen funktional erscheinen. In einem solchen Setting bietet es sich an, so scheint es, die Äußerungen und Leistungen einzelner Schülerinnen oder Schüler zu verwenden – für die Belehrung, Motivierung, Ermahnung oder Belustigung aller Übrigen.
5 Zusammenfassende und vergleichende Betrachtungen Georg Breidenstein
Wir haben in der Einleitung argumentiert, dass es mindestens aus methodologischen Gründen sinnvoll ist, sich von der verbreiteten Theorie, dass die Praxis der permanenten Leistungsbewertung der Schule von außen (von der „Gesellschaft“) aufgegeben sei, zu lösen. Denn nur wenn man darauf verzichtet, all das, was sich im Rahmen schulischer Leistungsbewertung abspielt, mit der „Selektionsfunktion“, die die Schule für die Gesellschaft ausübe, zu „erklären“, bekommt man die Eigenlogik der Praxis schulischer Leistungsbewertung in den Blick. Nur so lässt sich nach den immanenten Problemen schulischer Leistungsbewertung fragen und nach der Bedeutung der Praktiken der Leistungsbewertung für den Unterricht und für die Schule selbst. Die Frage nach immanenten Problemen und Effekten schulischer Leistungsbewertung hat die ethnographischen Beobachtungen und Analysen geleitet und hat zu teilweise verblüffenden, skurrilen, aber auch zu erschreckenden Entdeckungen geführt. Diese Entdeckungen im nur scheinbar vertrauten schulischen Alltag sind auf den vorangegangenen Seiten ausführlich dargestellt worden und sollen hier auch nicht noch einmal als solche aufgeführt werden. In diesem abschließenden Kapitel geht es darum, den Blick noch einmal über die Vielfalt der Einzelbeobachtungen hinweg auf einige übergreifende Aspekte des untersuchten Geschehens rund um schulische Leistungsbewertung zu richten. Wir fragen zusammenfassend einerseits nach den Konturen, nach der Gestalt dieses Geschehens: Was lässt sich über das grundlegende Funktionieren, über die Struktur der Praxis schulischer Leistungsbewertung sagen? Gibt es im Kern dieses alltäglichen und unablässigen Prozessierens von Noten fundierende und übergreifende Mechanismen? Und wir fragen andererseits nach der beobachtbaren Varianz in der Praxis der Leistungsbewertung: Wie lassen sich die vorgefundenen Unterschiede in der Handhabung der Leistungsbewertung beschreiben und erklären? Gibt es systematische Unterschiede, die es wiederum zwischen all den vielen Details erlauben würden, differente Versionen des Vollzugs schulischer Leistungsbewertung zu identifizieren?
K. U. Zaborowski et al., Leistungsbewertung und Unterricht, DOI 10.1007/978-3-531-93218-7_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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5 Zusammenfassende und vergleichende Betrachtungen
Das Anliegen, zwei unterschiedliche Umgangsweisen mit Leistungsbewertung im Detail herauszuarbeiten und einander gegenüber zu stellen, hat große Teile der vorliegenden Darstellung motiviert und dazu geführt zwei relativ unabhängige ethnographische Studien auszuarbeiten, zu den „Praktiken des Schulerfolgs“ von Michael Meier einerseits und zu den „Grenzen des Leistungsprinzips“ von Katrin U. Zaborowski andererseits. Vor diesem Hintergrund fragen wir abschließend nach einer möglichen Schulformspezifik in der Handhabung der Praxis der Leistungsbewertung (5.5 – 5.7). Zunächst jedoch sollen einige übergreifender Befunde angesprochen werden, die letztlich alle auf ein grundlegendes Strukturproblem schulischer Leistungsbewertung verweisen: die Legitimierung und Ankerkennung von Noten als „gerecht“. Dieses Strukturproblem generiert so unterschiedliche Praktiken wie die verblüffende Erhöhung der Quantität der Notenproduktion (5.1), verschiedene Formen der „Objektivierung“ der Prüfung (5.2), dazu in einem antinomischen Verhältnis stehende Praktiken der Individualisierung von Noten (5.3) und schließlich die vollständige Entlastung der Lehrperson von der Verantwortung für die Leistungen von Schülern (5.4). 5.1 Zur Quantität der Notenproduktion, oder: je mehr desto besser? Vor allem in den beiden ostdeutschen Schulen beobachteten wir ein verblüffendes Ausmaß der Notenproduktion. Es verging kaum ein Tag, an dem nicht Zensuren vergeben oder verkündet wurden. Während wir zunächst dachten, die Feldforscher würden geduldig warten müssen, um Szenen der Notenbekanntgabe zu beobachten, stellte sich schnell heraus, dass im Schulalltag daran kein Mangel besteht. Noten zu beobachten gelingt fast an jedem beliebigen Unterrichtstag. An der Sekundarschule werden so viele Zensuren vergeben, dass es sich lohnt jede Woche zu zählen und den „Einser-, Zweier- und Dreierkönig“ zu küren (vgl. Kap. 3.2.1). – Dieses Ritual hat zur Grundlage, dass es wöchentlich immerhin so viele Noten gibt, dass in allen drei Kategorien hinreichend differenziert und in der Regel auch ein entsprechender „König“ ausgezeichnet werden kann (deroder diejenige mit den meisten Einsen, Zweien bzw. Dreien in dieser Woche). Am Gymnasium gibt es zunächst wenige Wochen der „Schonzeit“, doch dann läuft die Notenproduktion voll an und nach kurzer Zeit auf Hochtouren. Auch hier bekommt jede Schülerin und jeder Schüler wöchentlich mindestens fünf oder sechs Zensuren. Was steckt hinter dieser ungeheuren Produktion an Zensuren? Gibt es Gründe, die verlangen so viele Noten wie möglich zu vergeben? Gibt es eine Logik, die darauf drängt, die Quantität der Zensuren im Unterrichtsalltag zu steigern?
5.1 Zur Quantität der Notenproduktion
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Zunächst ist zu notieren, dass schon die Erlasslage in Sachsen-Anhalt eine gewisse Anzahl von Zensuren pro Fach und Halbjahr verlangt. In Deutsch, Mathematik und Englisch werden zwei Klassenarbeiten pro Halbjahr gefordert, in allen anderen Fächern je eine pro Halbjahr. Die Zensur einer Klassenarbeit „repräsentiert“, in der Sprache des Erlasses, an der Sekundarschule in der Regel „20 v.H. der Gesamtnote“, am Gymnasium 25%, in den modernen Fremdsprachen auch hier 20% (Leistungsbewertungserlass § 3.2). Das bedeutet, dass in Deutsch, Mathematik und Englisch außer den Klassenarbeitsnoten an der Sekundarschule jeweils noch mindestens drei weitere Noten pro Halbjahr produziert werden müssen und am Gymnasium in diesen Fächern mindestens zwei. In allen anderen Fächern müssen an der Sekundarschule noch mindestens vier und am Gymnasium mindestens drei Zensuren pro Halbjahr zusätzlich zu den Klassenarbeiten erzeugt werden. Wenn man dies zusammenzählt, sind also am Gymnasium z. B. in der sechsten Klasse pro Schüler und Halbjahr über die 13 Klassenarbeiten hinaus mindestens 27 und an der Sekundarschule pro Schüler in jedem Halbjahr außer 14 Klassenarbeiten noch mindestens 41 weitere Benotungen durchzuführen. Es wird zwar nicht genau im Erlass geregelt, wie viel ein Test oder eine mündliche Leistungskontrolle im Vergleich zu einer Klassenarbeit zählen sollte, aber in einem Kommentar zum Erlass legt der Kultusminister den Lehrerinnen und Lehrern nahe, dass Einzelnoten aus zwei Tests nicht erheblicher als eine Klassenarbeitsnote seien dürfen (vgl. Olbertz 2003: 5). Folglich erhöht sich die oben errechnete Zahl an Zensuren pro Halbjahr auf ein sehr viel höheres Quantum. Ein zentraler Beweggrund der Notenproduktion ist darin zu vermuten, dass zusätzlich gewonnene Noten das Gewicht der einzelnen Note verringern. Je mehr Einzelnoten in die Bildung der Gesamtnote eingehen (der Halbjahresnote), desto präziser erscheint diese in statistischem Sinne, denn einzelne mögliche Ausreißer erhalten weniger Gewicht.98 Die Gesamtnote erscheint auch besser legitimiert, je mehr Einzelnoten in sie eingehen: die Schüler haben mehr „Chancen“ erhalten, die Leistungen sind kontinuierlicher und umfassender überprüft worden, der Spielraum für Fehleinschätzungen erscheint kleiner. Die Relativierung der Bedeutung der Einzelnote müsste also auch im Sinne der Schüler liegen: Eine Fehlleistung, ein schlechter Tag, ein Blackout fallen weniger ins Gewicht. Es gibt – zusammenfassend gesprochen – ein starkes auf Genauigkeit und Gerechtigkeit zielendes Motiv, das auch über die Anforderungen des Erlasses hinaus auf eine möglichst hohe Zahl an Bewertungen in Form von Zensuren drängt. Die Zahl der
98 Entsprechende Empfehlungen finden sich z. B. in Sacher (2000).
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5 Zusammenfassende und vergleichende Betrachtungen
Benotungen ist aus dieser Perspektive nach oben offen: Je mehr, desto besser – desto genauer und gerechter. Mit der Permanenz der Bewertungen wird allerdings auch der Bewährungsdruck auf Dauer gestellt: Schüler können sich nie sicher sein, ob nicht schon wieder die nächste Leistungsüberprüfung naht und mit ihr neue Zensuren vergeben werden. Andererseits entwickeln Schüler eine große Routine im Umgang mit Leistungsbewertungen, wobei schließlich eine Inflationierung des Wertes einzelner Zensuren unvermeidlich scheint: Wie soll bei einer Zahl von Hundert oder mehr Benotungen im Halbjahr für jeden Schüler der einzelnen Zensur noch Bedeutung verliehen werden? Die angesprochene Quantität der Notenproduktion besitzt auch eine ganz praktische Dimension: Leistungsbewertungen müssen „untergebracht“ werden im Unterrichtsalltag. Unter Beachtung der Vorgaben des Leistungsbewertungserlasses für die Terminierung von Klassenarbeiten und Tests erweist sich dies als ein logistisches Problem. Gelegenheiten müssen genutzt werden. Die Knappheit der Momente für die Notenproduktion kann sich bei Kindern, die oft fehlen oder krank sind, noch deutlich verstärken – hier gibt es Fälle, wo jede Gelegenheit zu einer Leistungsbewertung ergriffen werden muss, um auf die erforderliche Zahl an Zensuren pro Halbjahr zu kommen. Der Praxis der Leistungsbewertung stellt sich aber noch ein weiteres, viel grundlegenderes Problem: Es muss „Stoff“ geben, der geprüft werden kann, und es muss Formen geben, dies mit vertretbarem Aufwand zu tun. Die Praxis der Leistungsbewertung darf nicht die ganze Unterrichtszeit in Anspruch nehmen, denn sonst gibt es nichts zu bewerten. Damit Leistungen bewertet werden können, muss zunächst Unterricht stattgefunden haben – oder es muss zumindest als Hausaufgabe verlangt worden sein, Dinge zu erarbeiten oder zu üben. Wir haben beobachtet, dass es tatsächlich eine Tendenz gibt, jede mögliche Gelegenheit für Leistungsbewertungen zu nutzen und darüber hinaus noch weitere Gelegenheiten zu schaffen. So etwa, wenn ein Unterrichtsfilm gezeigt wird und die Aufgabe gestellt wird, sich wesentliche Aspekte zu notieren und nachher auf die Anzahl der notierten Aspekte eine Note vergeben wird. Oder wenn die Lehrerin einen Text vorliest und die Schüler für den Umfang dessen, was sie im Anschluss noch wiedergeben können, eine Zensur bekommen (vgl. Kap. 3.3.1). In manchen Fächern gibt es ritualisierte, nahezu täglich wiederkehrende Verfahren der Notenproduktion. Wir hatten die mündliche Leistungskontrolle („mündl. LK“) im Mathematikunterricht der Gymnasialklasse kennen gelernt (Kap. 2.3.1), die als automatisierte Prozedur sogar fast ohne Beteiligung der Lehrerin jede Stunde vier Noten hervorbringt. Im Englischunterricht der Sekundarschule gibt es jede Woche einen benoteten Vokabeltest auf der Grundlage der zuhause zu übenden Vokabeln. Geographie-Stunden werden gewohnheitsmäßig mit einer
5.1 Zur Quantität der Notenproduktion
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fünfminütigen „Topographie-Übung“ eingeleitet, bei der einzelne Schüler oder Schülerinnen an der Wandkarte Orte, Flüsse oder Ähnliches zeigen müssen – auch das ist ein einfaches und unaufwändiges Verfahren der Notenproduktion. Aus der beschriebenen Logik der Notenproduktion heraus, aus der Logik des Jemehr-desto-besser heraus, sind solcherart Praktiken rationell, insofern sie mit möglichst wenig Aufwand (an Zeit und an Vorbereitung) eingebettet in den Unterrichtsalltag eine Vielzahl an Noten produzieren. Außerdem lassen sich die genannten Verfahren routinisieren: Wiederkehrende „Topographie-Übungen“, wöchentliche Vokabeltests oder „mündliche Leistungskontrollen“ als Stundeneröffnung werden zu festen Bestandteilen des Unterrichtsalltages, die keiner Erläuterung oder Begründung mehr bedürfen. In diesen Verfahren drückt sich vielleicht am deutlichsten die Ausrichtung der Unterrichtspraxis am Zweck einer quantitativ möglichst umfangreichen Notenproduktion aus – ein Zweck, der immanent für sich „gute Gründe“ beanspruchen kann. Zugleich wird die Prüfung so sehr zum Bestandteil des Unterrichtsalltages, dass der „Leistungsdruck“ zwar auf Dauer gestellt wird – sich aber möglicherweise gerade darin auch wieder bricht. Wir kommen darauf zurück. Die bislang diskutierten Gründe für die schiere Quantität der Notenproduktion lassen sich im Motiv der Verbesserung der „Objektivität“ der resultierenden Endnote zusammenfassen. Allerdings ist zu notieren, dass es sich bei der im Schulalltag verbreiteten und fraglosen Berechnung von Endnoten als Durchschnitt aus Einzelnoten um eine im Sinne statistischer Theorie höchst fragwürdige Praxis handelt.99 Doch darüber hinaus ist auch die Behauptung und Aufrechterhaltung der Idee der „Objektivität“ als solche genauer zu untersuchen.
99 Da die Zensurenskala keine messende, sondern eine ordnende Skala bildet (Ordinalskala), verbietet sich eigentlich die Bildung von Durchschnitten (vgl. z. B. Ziegenspeck 1999: 120).
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5 Zusammenfassende und vergleichende Betrachtungen
5.2 Ein Strukturproblem schulischer Leistungsbewertung: Die Legitimierung der Noten Die quantitative Erhöhung der Notenproduktion ist nur eine aus einer ganzen Reihe von Praktiken, die sich unter dem zusammenfassenden Gesichtspunkt der Legitimierung der Schulnoten interpretieren lassen. Wir erinnern zum Beispiel an die Variante der verfahrensförmigen Gestaltung von Prüfungen bis hin zu einer völlig automatisierten Prozedur im Mathematikunterricht des Gymnasiums, bei der Schüler in unterschiedlichen Rollen als Prüfer, Prüflinge und Korrektoren agieren und bei der Stunde für Stunde nach einem festgelegten Verfahren immer vier „mündliche Noten“ produziert werden (vgl. Kap. 2.3.1). Das Verfahren erhält seine Objektivität dadurch, dass die Ausführenden austauschbar sind: Insofern alle nur ihre jeweilige Rolle in dem Verfahren ausüben, scheint kein Raum für Subjektivität mehr gegeben. Vor allem am Gymnasium waren ausgedehnte Bemühungen um die Transparenz der Kriterien der Leistungsbewertung zu beobachten: Die Zerlegung von Leistungen in Teilleistungen und deren Übersetzung in zu erreichende Punkte, bis hin zu der komplett schematisierten Bewertung von mündlichen Präsentationen. Auch dabei handelt es sich um eine Form, die Objektivität der Note zu erweisen, denn jeder kann sehen, dass vergebene Punkte vorher festgelegten Kriterien entsprechen und dann in Zensuren umgerechnet wurden. Wieder eine andere Variante der Objektivierung der Zensuren besteht in der Einbeziehung der Schüler in die Notenfindung. Diese Einbeziehung stellt sich in allen Fällen als Pseudo-Einbeziehung heraus, das heißt es geht immer darum, die Note, die die Lehrperson geben will, schülerseitig zu bestätigen – dennoch dürften diese Rituale die Funktion einer kommunikativen Validierung der Zensur erfüllen und damit in anderer Weise ebenfalls zur Legitimierung der Note im Sinne ihrer „Objektivität“ beitragen. Das Stichwort der Objektivierung ist dabei immer in Anführungszeichen zu denken, denn es kann letztlich nicht um die Objektivität der Noten im Sinne der Testtheorie oder der standardisierten Schulleistungsmessung gehen – diese ist für die Schulpraxis nicht erreichbar. Stattdessen geht es um die Aufrechterhaltung der Idee der Objektivität von Noten in der Situation und für die Beteiligten. Dies erscheint umso notwendiger und brisanter, je deutlicher alle Beteiligten wissen (können), dass es um die Objektivität von Schulnoten nicht allzu gut bestellt ist: Es gibt zahlreiche und gut dokumentierte empirische Studien (zusammenfassend z. B. Ziegenspeck 1999, Schrader/Helmke 2001, Brügelmann u. a. 2006), aber auch verbreitete alltägliche Erfahrungen, dass in die konkrete Note vielfältige Einflüsse, Unwägbarkeiten und Ungenauigkeiten eingehen, und vermutlich würde auch kaum ein Lehrer behaupten, regelmäßig und zweifelsfrei objektive No-
5.2 Ein Strukturproblem schulischer Leistungsbewertung
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ten zu vergeben. Nichtsdestotrotz erscheint die Idee, der Anspruch der Objektivität von Schulnoten unverzichtbar. Insofern die Notengebung als in Zahlen ausgedrückter Vergleich der Leistungen eines Schülers mit den Leistungen der Mitschüler funktioniert, knüpft sich der Anspruch der Gerechtigkeit daran. Notenunterschiede werden von Schülern akzeptiert, aber nur wenn nachvollziehbar unterschiedliche Leistungen vorliegen. Fatal wirkt es sich zum Beispiel aus, wenn der Eindruck entsteht, dass eine Lehrperson einzelne Schüler aufgrund persönlicher Vorlieben bevorzugt. Ein sehr viel abstrakterer Kontext liegt in den Berechtigungen, die sich an schulische Zensuren knüpfen. Aber wenn Zensuren konkrete Auswirkungen auf die Schullaufbahn haben, wenn sie gar weiterführende Ausbildungen oder Studiengänge ermöglichen oder verhindern, dann müssen sie zumindest behaupten, die Unterschiede, die sie herstellen, aufgrund objektiver Leistungsunterschiede zu erzeugen.100 Um es ganz deutlich zu sagen: All die beschriebenen Praktiken, die verfahrensförmige Organisation von Prüfungen, die Arbeit an der Transparenz der Kriterien, die Einbeziehung von Schülern in die Notenfindung und die Maximierung der Anzahl der Einzelnoten bringen zwar objektivierte Noten hervor, aber die „Objektivität“ dieser Noten ist auch genau in diesen sozialen Praktiken erzeugt und keineswegs unabhängig davon gegeben. Kurz: Schulische Zensuren sind „objektiv“, insoweit sie in komplexen sozialen Praktiken objektiviert worden sind. – Dieser Zusammenhang darf den Beteiligten allerdings nicht bewusst sein, sonst könnte die Objektivität der Zensuren kaum beansprucht werden. Die Praxis schulischer Leistungsbewertung muss also ihre eigene Konstruktionsleistung in der Etablierung objektivierter Noten gegenüber den Beteiligten abdecken und verdunkeln. Sie muss glauben machen, dass objektive Noten unabhängig von der sozialen Konstruktion ihrer Objektivität möglich sind – wenn dies nicht gelingt, bricht die Legitimität schulischer Zensuren in sich zusammen. Die Beobachtung des Unterrichtsalltages zeigt allerdings eine erstaunliche Stabilität der Legitimität von Zensuren sowohl bei Lehrpersonen als auch bei Schülern. Die sozialen Praktiken, die sich auf die Objektivierung der Zensuren richten, schaf100Es ist zu betonen, dass jene Vergleichbarkeit und Objektivität von Noten, die die „Selektionsfunktion“ der Schule erfordern würde, noch auf einer anderen Ebene liegen würde: Im Sinne einer gerechten Verteilung von Zugängen zu beruflichen Positionen und Karrieren müssten Noten über verschiedene Schulklassen und Schulen hinweg vergleichbar sein. Das ist erwiesener Maßen nicht der Fall, die Praxis der Notengebung wird eindeutig durch die „soziale Bezugsnorm“, den Vergleich innerhalb der Schulklasse, dominiert (vgl. Kap. 1.2.1), aber dieses Problem scheint die Praxis wenig zu irritieren. Für die Praxis der Notenvergabe erweist sich als entscheidend, dass die Noten im Kontext der Schulklasse als „gerecht“ legitimiert sind. Auch so erklärt sich die Dominanz der „sozialen Bezugsnorm“.
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5 Zusammenfassende und vergleichende Betrachtungen
fen es also in bemerkenswerter Weise, nicht nur die Objektivität von Zensuren zu erzeugen, sondern auch ihren eigenen Anteil an diesem Prozess unsichtbar zu machen. Die Praktiken der Objektivierung sind vorwiegend mit der Produktion von Noten verknüpft. Sie spielen aber auch in der Situation der Bekanntmachung der Noten eine Rolle, etwa wenn die Ermittlung der Note als Automatismus dargestellt wird oder die Übereinstimmung der Note mit der Selbsteinschätzung des Schülers festgestellt wird. In den Szenen der Bekanntgabe von Noten findet sich aber noch eine zweite Sorte Praktiken, die sich als Praktiken der Subjektivierung von Noten beschreiben lassen. Die zuvor mühsam und aufwändig in komplexen Praktiken verobjektivierten Noten erfahren jetzt wiederum eine Verwandlung, insofern ihre Bedeutung relativiert und relationiert wird. Die konkrete und verobjektivierte Note wird jetzt ins Verhältnis zur Person des Notenempfängers gesetzt. Das mag überraschen, ist aber in unseren Beobachtungen unübersehbar. 5.3 Das Gegenstück: Die Individualisierung der Leistungsbewertung Die Praktiken der Relativierung und Relationierung der Noten sind derart verbreitet und vielgestaltig, dass auch dafür ein systematischer Grund angenommen werden muss. Wenn wir eben die These formuliert haben, dass die Praxis schulischer Leistungsbewertung darauf angewiesen ist, mit allen Mitteln die Idee der Objektivität aufrecht zu erhalten, so drängt sich jetzt die Vermutung auf, dass die Noten mit ebensolcher Notwendigkeit dann wiederum „subjektiviert“ werden müssen. Bevor wir dieser Vermutung nachgehen und nach dem strukturellen Grund fragen, sollen zunächst noch einmal einige der in Rede stehenden Praktiken vor Augen geführt werden. In ungezählten Situationen der Bekanntgabe von Noten, der Rückgabe von Klassenarbeiten und Tests oder der Besprechung von Zeugnisnoten haben wir immer wieder die Kommentierung der Noten beobachtet. In diesen Kommentaren geht es in verschiedenen Varianten darum, die erteilte Note zu der Person, die sie erhält, ins Verhältnis zu setzen. – Eine Zwei ist eben keineswegs eine Zwei, sondern etwa für Franziska eine ganz tolle Leistung, während sie für Manuel eine kleine Enttäuschung darstellt. In der Etablierung einer Differenz zwischen der Note und der Person des konkreten Leistungserbringers, der potentiell „mehr kann“ oder „Glück gehabt“ hat, wird ein je spezifisches „Leistungsvermögen“ konstruiert. Ein Leistungsvermögen wird durch die realisierte Leistung und die daraufhin erteilte Note entweder ausgeschöpft oder nicht – jedenfalls wird das Leistungsvermögen als sehr viel stabiler konzipiert als die schwankenden Noten. Schüler und Schülerin-
5.3 Das Gegenstück: Die Individualisierung der Leistungsbewertung
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nen werden dadurch, wie wir gesehen haben, zu „Kandidaten“, zu Einser-, Zweier- oder auch Fünferkandidaten (vgl. die Fallporträts in Kap. 3.4). Wie hängen nun die Objektivierung von Zensuren und ihre Subjektivierung zusammen? Handelt es sich um einen offenen Widerspruch in der Praxis schulischer Leistungsbewertung oder möglicherweise um zwei Seiten derselben Medaille? Festzuhalten ist, dass sich die Zensuren selbst in ihrem Status und Charakter als verobjektivierte Urteile durch die Praktiken der Kommentierung und Relativierung nicht ändern. Die „Drei“ bleibt ein „objektiv“ und unbezweifelbar ermitteltes Ergebnis, der Akt der Zensurenfindung oder -festlegung wird in den Praktiken der Relativierung auch an keiner Stelle in Zweifel gezogen. Gegenstand der Kommentierung ist immer das Verhältnis der (objektiven und abstrakten) Zensur zu den spezifischen Gegebenheiten, die in der Person des oder der Bewerteten liegen: Wie verhält sich das objektivierte Ergebnis der Leistungsbewertung zu den Voraussetzungen, die in der Person des Beurteilten gegeben sind bzw. angenommen werden? In diesem Verhältnis erst konkretisiert sich die Bedeutung der Zensur. Erst in der „subjektiven“ Bedeutung der einzelnen Note für die betreffende Person kommt die Note zur Wirkung. Die pädagogische Praxis kommt gar nicht umhin, Noten zu individualisieren und damit zu relativieren, sonst könnte sie einigen Schülern niemals Erfolge vermitteln und andere aufgrund permanenten Erfolgs kaum noch motivieren. Die pädagogische Praxis muss mit Personen hinter den konkret bewerteten Leistungen arbeiten und zu diesem Zweck Person und Note voneinander unterscheiden. Darüber hinaus erfordert auch das grundlegende Problem der Legitimierung der Noten die Konstruktion einer Differenz zwischen der Note und der Person des Schülers. Die Legitimität der Notengebung lässt sich nur aufrecht erhalten, wenn die Lehrperson zu verstehen gibt, dass sie um die Relativität der Noten weiß und dass ihr Urteil sich keineswegs in der nackten Zahl erschöpft, sondern diese ins Verhältnis zu einem umfassenderen Wissen über die Person setzt. Letztlich erweist sich gerade in der individualisierenden Kommentierung die „Objektivität“ der Note, der sich sogar das differenziertere und umfassendere Urteil der Lehrperson zu beugen hat. Zu beachten ist allerdings, dass nicht alle vergebenen Noten in diesem Sinne „subjektiviert“ werden – das wäre auch viel zu aufwändig und in der Situation der Notenbekanntgabe kaum zu leisten. Kommentiert werden in der Regel einzelne, exemplarische und insbesondere „überraschende“ oder „problematische“ Noten, Noten, die in der einen oder anderen Weise kommunikativ „bearbeitet“ werden müssen. In der Praxis der Zeugnisnotenbesprechung schließlich kann die subjektivierende Kommentierung von Noten zu einem verallgemeinerten und mehr oder weniger alle Noten und Schüler betreffenden Ritual werden (vgl. Kap. 3.3.3). Insgesamt waren die Praktiken der Individualisierung und Relationierung
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5 Zusammenfassende und vergleichende Betrachtungen
der Noten und die damit verbundene Handhabung der Noten als ‚pädagogisches‘ Projekt an der Sekundarschule sehr viel ausgeprägter zu beobachten als am Gymnasium, und auch an der Sekundarschule stellten sich diese Praktiken bei verschiedenen Lehrpersonen etwas unterschiedlich dar. Während die Objektivierung der Noten als ein unverrückbares und notwendiges Strukturmoment der Praxis schulischer Leistungsbewertung erscheint, weist die korrespondierende Subjektivierung der Noten also eine etwas größere Varianz auf, die zum einen mit einem unterschiedlichen Maß an pädagogisch-erzieherischem Einsatz der Zensurengebung zusammenhängen dürfte, wie weiter unten im Schulformvergleich noch herausgearbeitet wird. Zum anderen ist vermutlich der Legitimationsbedarf der Notengebung an Gymnasium und Sekundarschule ein unterschiedlicher – auch darauf kommen wir zurück. Schließlich ist auch die Subjektivität in Anführungszeichen zu denken: Wie wir gesehen haben, wird die „subjektive“ Bedeutung der Zensuren großenteils in klassenöffentlichen Kommentierungen herausgestellt und stellt sich ihrerseits als Produkt komplexer sozialer Praktiken dar. Die Subjektivität der Zensur ist in ähnlicher Weise sozial konstruiert wie ihre Objektivität – funktional notwendig erscheinen beide Seiten der Medaille. 5.4 Die Entlastung der Lehrperson Neben dem komplexen Wechselverhältnis von Objektivierung der Note und deren Subjektivierung mit Blick auf die konkreten Schüler lässt sich schulübergreifend ein weiteres stabiles Muster konstatieren: Die vollständige Entlastung der Lehrperson und ihres Unterrichts von der Rechenschaft für den Lernerfolg im Sinne von Schülerleistungen. Schüler werden voll und ganz für die bewerteten Leistungen verantwortlich gemacht. Wir haben keine einzige Szene beobachtet, in der eine Lehrerin oder ein Lehrer klassenöffentlich in Erwägung gezogen hätte, dass der eigene Unterricht für enttäuschende Leistungen von Schülern verantwortlich sein könnte.101 Die relationierenden und kontextuierenden Kommentierungen der Noten betreffen allein die Schüler, ihr individuelles oder kollektives Verhalten oder ihre individuellen oder kollektiven Fähigkeiten, aber in keiner Hinsicht den voran gegangenen Unterricht, als dessen Produkt das Ergebnis der Leistungsbewertung ja auch angesehen werden könnte. Ein Gutteil der kommentierenden Praktiken richtet sich darauf, die Verbindung zwischen Note
101 Kalthoff (2000) berichtet zwar von solcherart Überlegungen auf der Seite von Lehrkräften, aber auch nur gegenüber dem Beobachter und keineswegs im Beisein von Schülern.
5.4 Die Entlastung der Lehrperson
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und Schüler so eng wie möglich zu knüpfen und die potentielle Verbindung zwischen Note und Unterricht nicht entstehen zu lassen. Erklärungsbedürftig sind vor allem und fast ausschließlich schlechte Leistungen einzelner Schüler und erst recht kollektiv schlechte Ergebnisse von Klassenarbeiten oder Tests. Der Legitimationsbedarf erhöht sich noch, wenn das Ergebnis eine Verschlechterung gegenüber vorhergehenden Resultaten darstellt. Wenn ein Schüler in dem betreffenden Fach bereits bessere Noten erhalten hat, muss angenommen werden, dass er es „eigentlich könnte“ und dass er sein Leistungsvermögen nicht ausschöpft. In einem solchen Fall setzen, und das war vor allem an der Sekundarschule vielfach zu beobachten, ausgiebige Versuche ein, den Leistungsabfall zu erklären. Da werden insbesondere Faulheit, mangelnde Bereitschaft und Arbeitseinstellung, oder falsche Freundschaften und wahlweise die Familienverhältnisse ins Spiel gebracht. Wir haben eine große Bandbreite an Erklärungen dafür aufgezeichnet, dass Schüler oder Schülerinnen ihr individuelles Leistungsvermögen nicht ausschöpfen, die alle eines gemeinsam haben: Der konkrete Unterricht ist nicht schuld an dem „Ergebnis“ in Form der Note. Das andere wichtige Mittel, um die Verantwortung des voran gegangenen Unterrichts für schlechte Ergebnisse zu dementieren, ist das Aufrufen von Gegenbeispielen: Auch einzelne Schüler oder Schülerinnen mit guten oder akzeptablen Ergebnissen „belegen“, dass man es hätte schaffen, wissen und hinbekommen können. Jede Unterrichtspraxis ist darauf angewiesen, ihre positive Wirksamkeit zumindest anhand einzelner Schüler auch zeigen zu können. Insofern gilt es nicht nur öffentliche „Erklärungen“ für miserable Ergebnisse zu präsentieren, sondern auch positive Ergebnisse entsprechend öffentlich hervor zu heben und zu „würdigen“. Die Verbindung zwischen dem Unterricht und den erzielten Ergebnissen bleibt allerdings auch in Fällen von positiven Ergebnissen implizit, in den allermeisten Fällen werden gute Noten persönlicher Anstrengung oder besonderem Talent zugerechnet und nicht etwa der Qualität des Unterrichts – vermutlich weil sich die Qualität des Unterrichts ja an der Gesamtheit der Ergebnisse messen lassen müsste. Einzelne positive Ergebnisse scheinen notwendig zur ‚Ehrenrettung‘ der schulischen Bemühungen – aber sie sind offenbar nicht hinreichend. Die Dementierung der Verbindung zwischen Note und Unterricht dient aber wohl nicht nur der (psychologischen) Entlastung der Lehrperson, sondern ist auch wiederum auf das grundlegende Strukturproblem der Legitimierung der Noten zurück zu führen: Noten müssen als Maß für Leistungsunterschiede zwischen Schülern Geltung beanspruchen und müssen insofern in ihrer Begründung vollständig den Schülern selbst zugeschrieben werden können. Noten erscheinen als Urteile über Schülerleistungen nur dann legitim, wenn diese voll für ihr Zustandekommen verantwortlich gemacht werden.
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Wir haben also mit der Legitimierung von Noten als objektive und gerechtfertigte Urteile über Schülerleistungen ein Strukturproblem der Praxis schulischer Leistungsbewertung identifiziert, dessen Relevanz und Brisanz sich ermessen lässt, wenn man sich die Vielfalt und Komplexität der Praktiken vor Augen führt, die die alltägliche Praxis zur Bearbeitung dieses Problems entwickelt. Es ist davon auszugehen, dass das Problem der Legitimität der Noten in unterschiedlichen Ausformungen der Praxis schulischer Leistungsbewertung immer irgendwie „gelöst“ werden muss. Vor diesem Hintergrund kommen wir nun auf einige Dimensionen der Varianz in der Praxis der Leistungsbewertung zurück, um abschließend eine mögliche Schulformspezifik dieser Varianz zu diskutieren. 5.5 Die Öffentlichkeit der Schulklasse als Kontext: Leistungsbewertung und pädagogische Ambition Ein signifikanter Unterschied in der Gestaltung der Praxis der Leistungsbewertung zwischen einzelnen Lehrpersonen aber auch zwischen den verschiedenen Schulen scheint uns in der Handhabung des Problems der Öffentlichkeit der Schulklasse zu liegen. An den beiden ostdeutschen Schulen, und noch stärker an der Sekundarschule als am Gymnasium, sind Praktiken der klassenöffentlichen Bekanntgabe von Noten gang und gäbe: Noten werden regelmäßig vor dem Publikum der Mitschüler besprochen und „ausgewertet“ (wie es in der Sprache der Teilnehmer heißt). An die öffentliche Bekanntgabe von Klassenarbeitsergebnissen oder die Besprechung von Zeugnisnoten werden Lob, vor allem aber Tadel und Mahnung in zum Teil exzessiver Form geknüpft. Dabei werden auch einzelne Schüler oder Schülerinnen dem Publikum als ermutigende, vor allem aber als warnende Beispiele präsentiert. Diese Praktiken sind an der Sekundarschule am deutlichsten ausgeprägt (vgl. Kap. 3.2.4, 3.3.3 und 3.4). An den westdeutschen Schulen ist in dieser Hinsicht eine etwas größere Zurückhaltung zu verzeichnen: Noten werden nur zum Teil öffentlich verkündet, sie werden insgesamt etwas „diskreter“ behandelt – wiederum am Gymnasium etwas deutlicher als an der Hauptschule. Die Befundlage lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: An der ostdeutschen Sekundarschule finden alle Notenbekanntgaben und -besprechungen klassenöffentlich statt. Am ostdeutschen Gymnasium sind auch die meisten Notenbekanntgaben klassenöffentlich, allerdings nicht ganz so ausgedehnt wie an der Sekundarschule. An der westdeutschen Hauptschule ist die Handhabung von Notenbekanntgaben sehr unterschiedlich: Es gibt eine Lehrerin, die Noten dezidiert nicht öffentlich bekannt gibt, wohingegen ein anderer Lehrer auch dann die Noten öffentlich verkündet, wenn er darum gebeten wird, dies nicht zu tun. Am
5.5 Die Öffentlichkeit der Schulklasse als Kontext
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westdeutschen Gymnasium werden Noten in der Regel nicht vor dem Publikum der Mitschüler besprochen, dies stellt hier eher die Ausnahme dar. Wie lassen sich diese Differenzen erklären? Zu vermuten sind hier tendenziell verschiedene Auffassungen von Pädagogik und von der Handhabung der Lehrerrolle. Vermutlich geht es dabei weniger um unterschiedliche Deutungen der Aufgabe der Leistungsbewertung als solcher, wie sie von Streckeisen u. a. (2007) herausgearbeitet werden, als um zugrunde liegende pädagogische Haltungen: Welche Art von Autorität beansprucht die Lehrperson gegenüber ihren Schülern? Wie stark stützt sie ihre Unterrichtsführung auf das Instrument der Notengebung? Stärker modernisierten, „weicheren“ Varianten der Interpretation der Lehrerrolle stehen traditionellere und rigidere Versionen gegenüber. Schließlich geht es sicher auch um den Stellenwert der Leistungsbewertung für den Unterricht und das pädagogische Geschäft: Wie viel Anreiz und Motivation verspricht man sich von dem Streben nach guten Noten? Wie viel Disziplinierung und Beteiligung glaubt man mit dem Instrument der Notengebung erreichen zu können? Für alle „pädagogischen“ Anliegen, die sich mit der Praxis der Leistungsbewertung verknüpfen lassen, ist die Öffentlichkeit der Schulklasse der entscheidende Verstärker und Resonanzboden: Jedes Lob – so die implizite Überzeugung – wird verstärkt durch das Publikum der Mitschüler und jede Mahnung wirkt vielfach, wenn sie die ganze Klasse mithört – nicht nur auf den Betroffenen durch den öffentlichen Charakter der Beschämung, sondern auch auf alle anderen durch die Wirkung des abschreckenden Beispiels (vgl. Kap. 4.3). Bei aller beobachtbaren Varianz in der Handhabung der Öffentlichkeit der Leistungsbewertung, bleibt jedoch festzuhalten, dass die strukturelle Öffentlichkeit des Kontextes der Schulklasse kaum hintergehbar ist: Auch wenn Noten nicht klassenöffentlich bekannt gegeben werden, können sich Schüler nach den Noten der anderen erkundigen, können das eigene Ergebnis mit den Resultaten der Mitschüler vergleichen und können vor dem Hintergrund des Vergleichs mit anderen Mitgliedern der Schulklasse Begründungen von der Lehrperson für die eigene Note einfordern. Deutlichster Ausdruck dieser Struktur ist der „Noten-“ oder „Klassenspiegel“, der alle in der Klassenarbeit oder in dem Test vergebenen Noten verzeichnet und der bei Klassenarbeiten immer öffentlich bekannt zu geben ist. Die Notengebung funktioniert als Vergleich der Mitglieder einer Schulklasse, sie wird so rezipiert und muss – wie auch schon oben beschrieben – als solcher legitimiert und pädagogisch gehandhabt werden. Dieser strukturellen Bestimmung entkommt man auch durch eine „privatere“ oder relativierende Handhabung der Notengebung nicht. Einige der besonders krassen und zugespitzten Szenen, die insbesondere von der Sekundarschule berichtet wurden, mögen für manche Leserin, die zum Beispiel an einem westdeutschen Gymnasium der
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1980er oder 1990er Jahre sozialisiert wurde, durchaus fremd erscheinen und möglicherweise als „Ausnahme“ abgetan werden. Doch genau betrachtet sind gerade diese Szenen als Effekte einer Struktur der Leistungsbewertung im Kontext der Schulklasse zu interpretieren, die letztlich unhintergehbar erscheint. Möglicherweise sind diese Effekte an der (ostdeutschen) Sekundarschule nur deutlicher und unverstellter zu beobachten. – Dann wäre der scheinbare Ausnahmefall methodologisch ein besonders interessanter Fall, da hier allgemeinere Muster in besonders ausgeprägter Weise zu beobachten sind. Sicher sprechen einige der protokollierten Szenen von Zynismus und von kaum zu rechtfertigendem Machtmissbrauch der handelnden Lehrpersonen. Andererseits erscheint es als deutlich zu kurz gegriffen, wollte man die harschen, demütigenden und entwürdigenden Praktiken allein den professionellen oder moralischen Defiziten einzelner Lehrpersonen zurechnen – sie sollten auf jeden Fall Anlass sein nach den strukturellen Problemen schulischer Leistungsbewertung zu fragen: Was macht diese Praxis so heikel, so prekär und so brisant? Auf diese Frage werden wir abschließend zurückkommen, zunächst soll es darum gehen, das Problem der Schulformspezifik in der Handhabung der Leistungsbewertung etwas genauer zu diskutieren. 5.6 Die Handhabung der Notengebung an Gymnasium und Sekundarschule im Vergleich: Zur Schulformspezifik der Leistungsbewertung Die beiden (bzw. vier) Schulen waren für das Forschungsprojekt ausgewählt worden, um Kontraste in die Untersuchungsanlage einzubauen und die erwartbare Varianz in der Handhabung schulischer Leistungsbewertung im kontrastierenden Vergleich in den Blick zu bekommen und um dabei zugleich, der Logik qualitativer Sozialforschung entsprechend, auf verallgemeinerbare Muster schließen zu können: Was sich in so unterschiedlichen schulischen Kontexten als Gemeinsamkeiten im praktischen Vollzug der Leistungsbewertung zeigen würde, so die Idee, würde einen hohen Grad an Verallgemeinerbarkeit aufweisen. Diese Idee und ihre methodologische Umsetzung haben sich auch durchaus als tragfähig und produktiv erwiesen, insofern eine ganze Reihe die verschiedenen Schulen übergreifende Muster zu beschreiben sind. Andererseits hat uns das Ausmaß der Unterschiedlichkeit in den Praktiken der Leistungsbewertung in den beiden vornehmlich fokussierten Schulen, dem ostdeutschen Gymnasium und der ostdeutschen Sekundarschule, überrascht und von Anfang an beschäftigt. Das hatten wir so nicht erwartet und diese Unterschiedlichkeit stellte den Forschungsprozess begleitend und bis zuletzt eine große Herausforderung für die Beschreibung und analytische Durchdringung dar. Wir haben im Zuge des ge-
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meinsamen Forschungsprozesses immer wieder auch schul(form)übergreifende Analysen entwickelt (Breidenstein/Meier/Zaborowski 2007, 2008), zugleich wurde immer deutlicher, dass das Interesse vor allem der Feldforschung nicht zuletzt der Spezifik ihres jeweiligen Feldes gilt, das heißt dem, was das Besondere und je Eigentümliche der Praxis der Leistungsbewertung im jeweiligen Feld, in der Sekundarschule und im Gymnasium, ausmacht. Daraus haben sich die beiden ethnographischen Studien zu den „Praktiken des Schulerfolgs“ und „An den Grenzen des Leistungsprinzips“ entwickelt, die auch den Hauptteil dieser Publikation ausmachen. Diese beiden Studien repräsentieren zunächst zwei relativ unabhängige ethnographische Analysen zweier unterschiedlicher schulischer Felder. Ihre volle Brisanz entfalten diese beiden Studien aber erst in der Gegenüberstellung (weshalb sie hier auch gemeinsam veröffentlicht werden): Die Ethnographie aus der Gymnasialklasse beschreibt die kooperative und systematische Produktion schulischen Erfolgs in der Etablierung klarer und transparenter Kriterien für Leistungsbewertungen, in der Abstimmung des Unterrichts auf Prüfungssituationen und nicht zuletzt in Kulanzpraktiken, die es ermöglichen auch zunächst ungünstigere Resultate in Erfolge zu verwandeln. Die Ethnographie aus der Sekundarschulklasse hingegen zeigt eine nahezu ebenso systematische Produktion schulischen Misserfolgs, indem dort Kriterien und Rahmungen von Leistungsbewertungssituationen intransparent sind, indem die Notengebung sehr eng mit der Verhaltensdimension verknüpft wird und indem letztlich die Erwartung des Misserfolgs vorherrscht. Während in der Gymnasialklasse zumindest im ersten halben Jahr fast nur gute und sehr gute Noten vergeben wurden, wurden in der Sekundarschule von Anfang an auch Fünfen und Sechsen erteilt. Dieser Befund ist überraschend, widerspricht er doch fundamental der Erwartung an die ‚leistungsbezogene‘ Verteilung der Schülerschaft auf die verschiedenen Schulformen. Dieser Erwartung zufolge müssten die besseren Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs, die nach der vierten Klasse auf das Gymnasium kommen, dort zumindest zum Teil schlechtere Noten bekommen, insofern sich die Noten jetzt in der leistungshomogeneren Gruppe neu verteilen und neue „Verlierer“ produzieren. In der Sekundarschule aber müssten zumindest einige Schülerinnen und Schüler bessere Noten als in der Grundschulzeit bekommen, weil sie von dem insgesamt niedrigeren Niveau „profitieren“. Solcherart Erwartungen werden durch die konkrete schulische Praxis an den jeweiligen weiterführenden Schulen aber gerade nicht erfüllt. Die Fünftklässler am Gymnasium genießen zunächst „Welpenschutz“, wie es eine Lehrkraft ausdrückte – sie sollen also nicht überfordert werden und sich an der neuen Schulform erst einmal einleben können. Demgegenüber werden die Fünftklässler an der Sekundarschule gleich mit Standards konfrontiert, die allerdings im Wesent-
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lichen Verhaltens- und nicht Leistungsstandards darstellen – sie sollen also nicht glauben, sich jetzt etwa ausruhen oder an der neuen Schulform „hängen lassen“ zu können. Doch die Differenzen in der Handhabung der Leistungsbewertung reichen noch weiter. In der Gymnasialklasse stellt die Prozessierung schulischer Leistungsbewertung zwar auch ein allgegenwärtiges und permanentes Thema dar, aber sie ist dabei doch durch eine gewisse Selbstverständlichkeit und Souveränität gekennzeichnet. Leistungsbewertung erscheint hier als eine zwar notwendige, aber manchmal auch etwas lästige „Pflichtübung“ aller Beteiligten. In der Sekundarschulklasse hingegen wirkt die alltägliche Praxis der Leistungsbewertung immer wieder prekär und in ihrer Bedeutsamkeit umkämpft. Die Praxis der Leistungsbewertung scheint hier von dem permanenten Verdacht getrieben, dass sie von den Schülerinnen und Schülern nicht hinreichend ernst genommen wird und dass diese den Ernst und die Bedeutsamkeit des Schulischen und schulischer Leistungsforderungen nicht anerkennen könnten. Leistungsbewertung stellt sich hier als ein Instrument dar, mit dem die grundlegende Anerkennung des Schulischen allererst erkämpft werden muss. Wenn man dieser Vermutung folgt, dass die Praxis der Leistungsbewertung als solche an den beiden Schulen tatsächlich in grundlegend unterschiedlicher Weise situiert und mit schulischen Ansprüchen verknüpft ist, werden auch die beobachtbaren Differenzen in der Handhabung der Leistungsbewertung verständlich: Das Gymnasium kann es sich „leisten“, Welpenschutz zu praktizieren, mal ein Auge zuzudrücken und auch mal Fünfe gerade sein zu lassen, denn es ist sich seiner Sache sicher. Es geht von einer grundsätzlichen Motiviertheit seiner Schülerschaft aus; es geht davon aus, dass die neuen Schülerinnen und Schüler sich gern und aufgrund ihrer Leistungen für diese Schulform entschieden haben und von sich aus das Bestmögliche erreichen wollen. Aus dieser Ausgangssituation resultiert am Gymnasium ein relativ unproblematisches und ungebrochenes Verhältnis zu schulischer Leistung. Die Sekundarschule muss demgegenüber davon ausgehen, dass die Schülerinnen und Schüler nicht freiwillig diese Schulform besuchen, sondern weil ihnen andere Optionen verwehrt geblieben sind. Die Sekundarschule muss befürchten, dass ihre Schüler von vornherein frustriert sind und wenig Motivation mitbringen. Deshalb geht es in der Sekundarschule potentiell um das „Ganze“, um die Anerkennung der Bedeutsamkeit von Schule und Unterricht schlechthin. Die Sekundarschule kann sich ihrer Sache nie sicher sein. Als eine Schulform, die mit negativ selektierter Schülerschaft arbeiten muss, entwickelt die Sekundarschule ein in sich gebrochenes Verhältnis zu schulischer Leistung: Sie besteht auf dem Anspruch an schulische Leistungen, aber sie traut ihren Schülern keine guten Leistungen zu.
5.6 Die Handhabung der Notengebung an Gymnasium und Sekundarschule im Vergleich
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Abschließend bleibt zu betonen, dass es sich bei den skizzierten Überlegungen um weit reichende Vermutungen handelt. Beobachtungen aus zwei bzw. vier Schulklassen sollen hier nicht vorschnell verallgemeinert werden und auch beobachtbare Unterschiede sind nicht unmittelbar auf die Schulform zurückzuführen. Andererseits ist der Verdacht auch nicht einfach von der Hand zu weisen, dass den beobachteten Differenzen im Umgang mit schulischer Leistungsbewertung die Struktur des Schulsystems zugrunde liegt und dass sich diese Struktur in der alltäglichen Praxis der Leistungsbewertung bestätigt und reproduziert. Nicht nur indem Leistungsunterschiede bestätigt werden, sondern vor allem indem sich in den verschiedenen Schulformen fundamental unterschiedliche Bezüge auf schulische Leistung herausbilden und im Zuge dessen schulischer Erfolg und Misserfolg produziert werden. Das Gymnasium ist in dem selektiven deutschen Schulsystem die Schulform, die per definitionem Schulerfolg hervorbringt. Das Gymnasium arbeitet mit einer positiv ausgelesenen Schülerschaft und ist darauf angewiesen, diese, um seines Selbstbildes und seines Auftrages willen, zum Erfolg zu führen. – Zumindest den größeren Teil seiner Schülerschaft: Auch am Gymnasium stellen sich problematische Leistungen und schlechte Zensuren ein, aber diese werden in aller Regel dem unzureichenden Leistungsvermögen oder Willen der betreffenden Schüler zugeschrieben, mit der Folge, dass diese Schüler in letzter Konsequenz das Gymnasium wieder verlassen müssen. Schüler, die den gymnasialen Schulerfolg nicht mit verbürgen können oder wollen, sind falsch in dieser Schulform und werden wieder aussortiert. So lassen sich zumindest die vorliegenden Zahlen über die so genannte „Abwärtsmobilität“ aus der Schulform Gymnasium interpretieren.102 Der „Erfolg“ des Gymnasiums beruht also, unserer Vermutung zufolge, auf einer Kombination aus der Selektion der Schülerschaft (am Eingang, aber auch im weiteren Verlauf) und einer sich selbst bestätigenden alltäglichen Handhabung der Praxis der Leistungsbewertung, die schulischen Erfolg zumindest für den größeren Teil der Schülerschaft möglich macht. Das Gymnasium ist auf jeden Fall die Schulform, die auf den Erfolg ihrer Schüler angewiesen ist. Die Sekundarschule hingegen arbeitet, ähnlich wie die westdeutsche Hauptschule, unter entgegen gesetzten Vorzeichen: Sie arbeitet mit einer negativ selektierten Schülerschaft und hat so von vorneherein ein gebrochenes Verhältnis zu schulischem Erfolg. Spiegelbildlich zum Gymnasium geht auch hier die Selekti102 Bellenberg u. a. (2004: 80): „Empirisch ist gut belegt, dass ein Wechsel der Schulform in den meisten Fällen einen Abstieg bedeutet (vgl. Bellenberg/Klemm 2000; Schümer/Tillmann/Weiß 2001). Aufsteiger kommen wesentlich seltener vor als Rückläufer. Im Jahr 2000 waren von den Schulformwechseln der 15-jährigen PISAPopulation 77 % Abstiege und nur 22,2 % Aufstiege.“ Auch der Bildungsbericht 2008 (66) erfasst fast fünfmal mehr „Absteiger“ als „Aufsteiger“, wobei der Aufstieg in das Gymnasium nach wie vor eine große Ausnahme darstellt.
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on nach der Eingangsselektion der Schülerschaft weiter: Die Sekundarschule fördert ihre besten Schüler, um sie möglicherweise noch auf das Gymnasium zu „bringen“, was allerdings die permanente Abwertung der eigenen Schulform impliziert und zugleich die Negativselektion auf Dauer stellt. Denn die Sekundarschule „verliert“ ihre besten Schüler an das Gymnasium, dafür bekommt sie die Schüler hinzu, die es am Gymnasium nicht geschafft haben. Aus dieser strukturellen Lage mag sich an manchen westdeutschen Hauptschulen die Suche nach einer alternativen, eher auf Gemeinschaft als auf Schulerfolg setzenden Bestimmung entwickeln, was in sich auch problematisch ist und sogar Schülern Chancen auf schulischen Erfolg und zum Beispiel den Aufstieg zur nächst höheren Schulform verbauen kann (vgl. Zaborowski/Breidenstein 2010 und Kap. 3.5.5). An der ostdeutschen Sekundarschule ist eine solche (Um-)Orientierung nicht zu erkennen, sie bleibt an einem klassischen Begriff von Schulleistung orientiert, auch wenn Schulerfolg strukturell kaum möglich scheint. Aus dieser in sich hoch problematischen Konstellation heraus entwickelt sich eine Praxis, die schulischen Erfolg tatsächlich verhindert, wie die ethnographischen Beobachtungen in eindrucksvoller Weise gezeigt haben. Angesichts dieser Überlegungen drängt sich die Verbindung zu dem Befund der differenziellen „Lern- und Entwicklungsmilieus“ auf, die die verschiedenen Schulformen in Deutschland kennzeichnen, wie er in der Folge der PISA-Studien herausgearbeitet wurde. Das „Lern- und Entwicklungsmilieu“ einer Schulform wird dabei folgendermaßen definiert: „Wenn wir von differenziellen Lern- und Entwicklungsmilieus sprechen, ist damit gemeint, dass junge Menschen unabhängig von und zusätzlich zu ihren unterschiedlichen persönlichen, intellektuellen, kulturellen, sozialen und ökonomischen Ressourcen je nach besuchter Schulform differenzielle Entwicklungschancen erhalten, die schulmilieubedingt sind und sowohl durch den Verteilungsprozess als auch durch die institutionellen Arbeits- und Lernbedingungen und die schulformspezifischen pädagogisch-didaktischen Traditionen erzeugt werden.“ (Baumert u. a. 2006: 98f.)
Dabei ist zwar zu beachten, dass sich die bei PISA diagnostizierten Schulformdifferenzen auf die gemessenen Schülerkompetenzen beziehen und nicht auf die Ergebnisse schulischer Leistungsbewertung, aber die Befunde passen insofern zusammen, als anzunehmen ist, dass die durch die Schulleistungsmessung erhobene Kompetenzentwicklung durchaus mit dem an einer Schule praktizierten Verständnis von Schulleistung und Leistungsbewertung zusammenhängt. Es erscheint plausibel, dass die kooperative Arbeit am schulischen Erfolg, die die gymnasiale Praxis kennzeichnet, günstigere „institutionelle Arbeits- und Lernbedingungen“ (s.o.) bereitstellt als der permanente Kampf um die Anerkennung der Bedeutung des Unterrichts und schulischer Leistung, wie er für die Sekundarschule herausgearbeitet wurde.
5.7 Noten als (letztes) Mittel im Kampf um die Anerkennung des Schulischen
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5.7 Noten als (letztes) Mittel im Kampf um die Anerkennung des Schulischen Am Gymnasium erscheint die Handhabung der Praxis schulischer Leistungsbewertung also sehr viel günstiger. Immerhin resultieren aus der gymnasialen Praxis Erfolgserlebnisse für fast alle Beteiligten. Ist in dieser Praxis also ein zu befürwortendes und verallgemeinerndes Modell für die Handhabung schulischer Leistungsbewertung zu sehen? Dem ist mindestens zweierlei entgegenzuhalten: Erstens ist auch in der gymnasialen Klasse der Erfolg für alle nicht von Dauer. Das Spektrum der Ergebnisse differenziert sich aus und spätestens in der siebten Klasse gibt es neben Erfolg auch Misserfolg. Es ist davon auszugehen, dass das Notenspektrum selbst auf Differenzierung drängt: Die vorgegebene Notenskala drängt darauf, ausgeschöpft zu werden und produziert quasi automatisch „Verlierer“, nämlich diejenigen, die im Vergleich mit den Mitschülern schlechter abschneiden. Hinzu kommt noch zweitens, dass sich auch das ungebrochene Mitmachen der Schüler in der kooperativen Produktion des Schulerfolgs nicht aufrechterhalten lässt (vgl. Kap. 2.5). Im Zuge einer größeren Streuung der Noten und mit zunehmender Dauer der schulischen Sozialisation entwickeln sich notwendigerweise Praktiken der Distanzierung von Noten. Mindestens diejenigen, die regelmäßig schlechte Noten bekommen, entwickeln Formen, sich von diesen zu distanzieren: die Noten nicht so ernst zu nehmen und schlechte Noten den Lehrern, ungünstigen Umständen oder der Irrelevanz des Themas zuzurechnen. Fend (1997) berichtet über Längsschnittuntersuchungen, die zeigen, dass sich die Entwicklung des generellen Selbstwertgefühls im Laufe der Adoleszenz vollständig von der Entwicklung der Noten abkoppelt. Das verweist darauf, dass es Jugendlichen durchaus gelingt, sich psychologisch von der Wirkung der Noten frei zu machen. Vor allem schwächt sich mit der schieren zeitlichen Dauer des Leistungsbewertungsgeschehens die Identifikation der Schüler mit ihren Noten ab. Je länger Schülerinnen und Schüler schulischer Leistungsbewertung in Form von Zensuren ausgesetzt sind, desto unwahrscheinlicher wird, dass sie diese im Sinne einer „Leistungsrückmeldung“ ernst nehmen. Das heißt nicht, dass Zensuren bedeutungslos würden. Wenn beispielsweise die Versetzung gefährdet ist, wird von Schülern sehr genau gerechnet und wenn es auf das Abitur zugeht, sind die Punktestände durchaus im Fokus der Aufmerksamkeit. Aber der Umgang mit den Noten insgesamt ist als zunehmend pragmatisch und instrumentell zu beschreiben. So legen Schüler mit zunehmender Erfahrung ein ausgesprochen ökonomisches Kalkül in der Dosierung ihres Einsatzes an den Tag und investie-
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ren nur dort, wo sich zensurenmäßig noch eine Verbesserung erreichen lässt (vgl. Breidenstein 2006: 252).103 Spätestens mit Beginn der Adoleszenz ist auch die Peerkultur der Schülerinnen und Schüler nicht mehr in unmittelbarer Übereinstimmung mit den schulischen Anforderungen und Normen, sondern entwickelt deutlich eigene Themen und Relevanzen. Die ungebrochene Affirmation des Strebens nach Schulerfolg lässt sich nicht mehr aufrechterhalten, sondern geht in einen insgesamt sehr viel distanzierteren Umgang mit den Anforderungen des Unterrichts über. Dabei kann sich die Peerkultur von Schülerinnen oder Schülern unterschiedlich zu schulischem Erfolg positionieren und am Gymnasium kann es auch weiterhin durchaus schulaffirmative Varianten von Peerkultur geben (vgl. Krüger u. a. 2008). Die Entwicklung muss also keineswegs in offene Auseinandersetzungen um die Sinnhaftigkeit des Unterrichts führen, gerade am Gymnasium ist eher die Entwicklung einer sehr pragmatischen und ökonomischen Handhabung der Unterrichtsanforderungen im Sinne des „Schülerjobs“ zu beobachten: Man tut, was von einem verlangt wird, geht aber auch keinesfalls darüber hinaus. Man kommt seinen Verpflichtungen nach, ohne grundsätzlich nach Sinn und Legitimität zu fragen, und das alltägliche Tun ist wesentlich von Routine und Pragmatismus geprägt (vgl. Breidenstein 2006). In Bezug auf Noten kann es passieren, dass schlechte Noten im Rahmen einer eher schuloppositionellen Schülerkultur sogar als Auszeichnung rezipiert werden, aber auch wenn dies nicht der Fall ist, scheint sich regelmäßig das Phänomen einzustellen, dass gute und sehr gute Noten im Rahmen der Peerkultur legitimationsbedürftig werden. Wer sehr gute Noten erhält gerät unter den Verdacht des „Strebertums“. Das Etikett des „Strebers“ muss nicht ständig aktualisiert werden, als Option ist es immer gegenwärtig. Dem „Streber“-Verdacht entkommt man nur, wenn man plausibel machen kann, dass man nichts für die gute Note kann. Man darf sich jedenfalls dafür nicht angestrengt oder gelernt haben, die gute Note muss Glück oder Begabung zu verdanken sein (vgl. Breidenstein/Meier 2004). Auch am Gymnasium entstehen also Brechungen des schulischen Leistungsprinzips, wie sie für die Sekundarschulpraxis von Anfang an kennzeichnend waren. Diese Brechungen erfolgen am Gymnasium offenbar in anderer Form, nicht so drastisch, nicht in offene Auseinandersetzungen mündend, insofern die Schüler (weiterhin) tun, was von ihnen verlangt wird, allerdings ohne sich inhaltlich damit auseinander zu setzen oder gar zu identifizieren. 103 In Fächern, in denen die Abschlusszensur aufgrund der bislang erbrachten Leistungen schon feststeht, ‚lohnt‘ sich zusätzliches Engagement nicht mehr. Das Mittel der Zensur verselbständigt sich also auch im Zuge seiner strategisch-ökonomischen Kalkulation gegenüber der Idee einer größtmöglichen Motivierung.
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Eindeutig ist, dass der Kampf um die Anerkennung des Schulischen an der Sekundarschule unter sehr viel ungünstigeren Bedingungen geführt wird als am Gymnasium, aber strukturell dürfte es sich um das gleiche Problem handeln, sobald Schüler Distanz zur Schule entwickeln oder ihnen diese Distanz unterstellt wird. Es scheint nun ein Kennzeichen der deutschen Unterrichtspraxis zu sein, dass Zensuren in das Zentrum der Auseinandersetzung um die Anerkennung der Bedeutung des Schulischen durch die Schüler rücken. Die Notengebung wird mobilisiert, um wenigstens ein Mindestmaß an Engagement von den Schülern zu erzwingen, darüber hinaus werden auch weiterreichendes Engagement und bedeutendere Leistungen von Schülerinnen oder Schülern in erster Linie durch gute Noten honoriert. Das Engagement von Schülerinnen und Schülern im Rahmen des Unterrichts wird wesentlich durch die Zensurengebung aufrechterhalten – allerdings zugleich auch begrenzt. Die Etablierung der Noten im Kern des Unterrichtsgeschehens als zentrales Mittel der Sanktionierung und Motivierung funktioniert fast unhinterfragt und erscheint doch ausgesprochen prekär. Die Realität der Noten als solche ist so etabliert und selbstverständlich, dass Schüler die Frage nach der Bedeutung von Noten kaum beantworten können – dies haben die im Eingangskapitel zitierten Interviews mit Schülern gezeigt. Es lassen sich nur sehr abstrakte und formelhafte Begründungen für die Relevanz von Zensuren angeben, zugleich werden Zensuren kaum in Frage gestellt. Und doch stellt sich der Status der Zensur als Repräsentant des Schulischen und der Anforderungen des Unterrichts als ausgesprochen gefährdet dar. Nicht in den Interviews, aber in der Beobachtung der alltäglichen Praxis: Wir haben vor allem an der Sekundarschule gesehen, wie Lehrpersonen sich komplexe Rituale ausdenken, um Kindern die Bedeutsamkeit von Zensuren zu vermitteln (vgl. das Paradebeispiel des „Zensurenkönigs“, Kap. 3.2.1); wie dünnhäutig Lehrpersonen reagieren, wenn die angemessen zerknirschte Reaktion auf eine schlechte Note ausbleibt und wie umkämpft die Anerkennung der Relevanz der Zensuren insgesamt ist. Vor allem in der Analyse der Praxis der Leistungsbewertung an der Sekundarschule zeigt sich, wie Zensuren im Kampf um die Anerkennung der Bedeutsamkeit des Schulischen und des Unterrichts durch die Schüler immer weiter ins Zentrum des Geschehens rücken und immer stärker aufgeladen und moralisiert werden. Dieser Kampf um die Anerkennung des Schulischen mit Hilfe der Zensurengebung stellt sich als sich selbst verstärkender Prozess dar: Das Streben nach guten Noten wird mit guten Noten belohnt und die Geringschätzung schlechter Noten wird mit noch härteren Noten bestraft. Ein weiteres Strukturmerkmal der Auseinandersetzung um den Ernstcharakter der Zensuren und der Anforderungen des Unterrichts besteht, wir hatten oben
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darauf hingewiesen, in der Öffentlichkeit der Schulklasse: Die Auseinandersetzung spielt sich zwar zwischen einzelnen Schülern und der Lehrperson ab – aber immer vor dem Publikum der Mitschüler. Das macht die Sache zusätzlich heikel, denn jeder Einzelfall ist potentiell verallgemeinerbar, die Verweigerung eines einzelnen Schülers kann jederzeit für die Verweigerung einer größeren Gruppe oder gar der ganzen Klasse stehen. Die Praxis der Zensurengebung entwickelt in diesem Prozess eine ungeheure Dynamik: Zensuren symbolisieren zwar schulische Anforderungen, haben aber inhaltlich kaum noch Bezug zu diesen. Zensuren lösen sich auch von der Funktion der Leistungsrückmeldung und erscheinen als reines Mittel zum Zweck, wobei der Zweck in der Aufrechterhaltung (eines Minimums) von Unterrichtsbereitschaft und in der Vermittlung des Ernstcharakters von Unterricht liegt. Dieser Zweck allerdings wird selbst wiederum gefährdet, wenn er sich nur noch mit dem Mittel der Zensurengebung erreichen lässt, denn die Note bleibt ein schwacher Ersatz für ein wie auch immer geartetes Interesse an der Sache des Unterrichts. Letztlich, so ist zu vermuten, verschiebt sich mit der Fokussierung schulischen Unterrichts auf die Zensurengebung auch auf Seiten der Schüler das Interesse vom Unterricht hin zu dessen „Ergebnissen“ in Form von Zensuren. Zensuren entwickeln auf diese Weise nicht nur ein reges und vielgestaltiges „Eigenleben“ (Breidenstein 2006), sondern werden auch in unmittelbarer und sehr gegenständlicher Art und Weise zum Objekt der Distanzierung, der Auseinandersetzung und des Kampfes um Anerkennung. Wenn man versucht das Sinnproblem schulischen Unterrichts mithilfe der Zensurengebung zu bearbeiten, handelt man sich weitreichende Folgeprobleme ein. In der Analyse der Sekundarschulpraxis jedenfalls zeigt sich wie der Kampf um die Anerkennung des Sinns von Schule und Unterricht groteske Formen annehmen kann. Zu befürchten ist, dass sich die Schule, indem sie immer unvermittelter und verzweifelter auf Zensuren als letztes Mittel in diesem Kampf setzt, in eine Auseinandersetzung verwickelt, die sie nicht gewinnen kann.
Anhang Hinweise zur Transkription […] (.) (..) (…) (4) (lachend) °leise° //Mhm// Kursiv [Geo-Unterricht] [unverstdl.] (meldet sich)
Auslassungen Pausen (1, 2, 3, 4 Sek. usw.) lachende Aussprache leise Aussprache Einschübe (z. B. Aufmerksamkeitsmarkierer) betonte Aussprache unsicherer Wortlaut unverständlicher Wortlaut Kommentare, Anmerkungen, Qualifizierungen (z. B. zu nicht verbalen Äußerungen)
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