Robert Lorenz · Matthias Micus (Hrsg.) Seiteneinsteiger
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Robert Lorenz · Matthias Micus (Hrsg.) Seiteneinsteiger
Göttinger Studien zur Parteienforschung Herausgegeben von Peter Lösche Franz Walter
Robert Lorenz Matthias Micus (Hrsg.)
Seiteneinsteiger Unkonventionelle Politiker-Karrieren in der Parteiendemokratie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Frank Schindler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16483-0
Inhalt
Einleitung Robert Lorenz / Matthias Micus Politische Seiteneinsteiger – Exoten in Parteien, Parlamenten, Ministerien ........................ 11
Experten und Vordenker Matthias Micus Ralf Dahrendorf – Scheitern eines Experiments .................................................................. 31 Frauke Schulz Werner Maihofer – im Zweifel für die Freiheit ................................................................... 61 Matthias Micus Kurt Biedenkopf – General bei Kohl, König in Sachsen ..................................................... 81 Felix Butzlaff Klaus Töpfer – der ewige Seiteneinsteiger ........................................................................ 115 Silke Schendel Ursula Lehr – „Ich muss ja nicht ewig Ministerin bleiben“ Die gescheiterte Seiteneinsteigerin .................................................................................... 140 Ina Brandes Paul Kirchhof – kein Seiteneinsteiger ................................................................................ 160
Interessenvertreter und Galionsfiguren Robert Lorenz Siegfried Balke – Spendenportier und Interessenpolitiker ................................................. 175 Ingar Solty Otto Schily – ein politischer Seiteneinstieg im Kontext der hegemonialen Kooptation und passiv-revolutionären Selbsteinschreibung von „1968“ in den Neoliberalismus ................................................................................................................. 206 Johanna M. Klatt Rita Süssmuth – vom politischen Stern zur prekären Politikerin ....................................... 223
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Inhalt
Stephan Klecha Walter Riester – der letzte klassische sozialdemokratische Seiteneinsteiger ..................... 240 Michael Lühmann Michael Naumann – Schröders Glanz und Hamburgs Gloria ............................................ 255 Katharina Rahlf Ursula von der Leyen – Seiteneinsteigerin in zweiter Generation ..................................... 274
Verwalter und Vertraute Franz Walter Ludger Westrick und Horst Ehmke – Wirtschaft und Wissenschaft an der Spitze des Kanzleramts ....................................................................................................................... 303 Benjamin Seifert Egon Bahr – zur besonderen Verwendung ......................................................................... 319 Christian Werwath Klaus Kinkel – „Ich kann auch aufhören, dann können die sich einen andern suchen.“.............................................................................................................................. 333 Christian Teevs Karl Lauterbach – die „rollende Kanonenkugel“ ............................................................... 348
Karrieren des Umbruchs Stine Harm Carlo Schmid – der politische Star und das sozialdemokratische Sternchen ..................... 363 Christina Gillessen / Ulrich Eith Ludwig Erhard – parteiloser Berufspolitiker und gescheiterter Volkskanzler ................... 390 Christina Gillessen Hans Leussink – Seiteneinsteiger für (fast) unlösbare Aufgaben ...................................... 402 Saskia Richter Gert Bastian – Seitenwechsel für den Frieden?.................................................................. 410 Michael Schlieben Angela Merkel – die Königin der Seiteneinsteiger ............................................................ 431 Felix Butzlaff Matthias Platzeck – der natürliche Seiteneinsteiger ........................................................... 456
Inhalt
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Konklusion Robert Lorenz / Matthias Micus Die flüchtige Macht begabter Individualisten .................................................................... 487
Anhang Personenregister ................................................................................................................. 507 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .......................................................................... 511
Einleitung
Politische Seiteneinsteiger – Exoten in Parteien, Parlamenten, Ministerien Robert Lorenz / Matthias Micus
Politische Seiteneinsteiger: Annäherung an eine Definition Die Ergebnisse der einschlägigen Erhebungen sind alarmierend, doch eindeutig: In der Bundesrepublik grassiert eine hartnäckige Politikerverdrossenheit. Die Bürger sind unzufrieden mit ihren politischen Repräsentanten in den Parlamenten, bemängeln die Arbeit der Regierung und hadern mit den Parteien. Es scheint schlecht um die politische Kultur Deutschlands bestellt zu sein. Jedenfalls wenn man den landläufigen Kritiken folgt. Da werden pessimistische Szenarien sich selbstgenügsam abschottender Parteipolitiker gezeichnet, ein „Kartell der Funktionäre“, das über die Vergabe politischer Positionen wache und eine über die Parteien gesteuerte Abschließung der Politik betreibe.1 Bis hin zu dem Vorwurf, die von den Parteien rekrutierten Nachwuchspolitiker, deren politische Karrieren oftmals schon in parteinahen Jugendorganisationen begannen, entbehrten jeglicher fachlichen Qualifizierung, bildeten insofern eine Art „negative Auslese“.2 Das Vertrauen in die Politiker ist zumindest gering, mehr noch: Es sank in den letzten Jahren scheinbar unaufhaltsam auf immer neue Tiefststände und droht bereits, das Vertrauen in die demokratischen Institutionen insgesamt zu gefährden.3 Politikverdrossenheit ist brisant, da sie auf die demokratischen Institutionen übergreift und das Vertrauen namentlich in die Parteien, in letzter Konsequenz aber gleichfalls in das demokratisch-parlamentarische Regierungssystem insgesamt erodieren lässt. Erstaunlich, auch unbegründet ist das im Übrigen nicht. Politische Professionalität ist eng an die Parteien gekoppelt, als zentrale Indikatoren gelten Politikwissenschaftlern die Anzahl parteipolitischer Ämter und die Dauer der Parteimitgliedschaft, kurzum: die Intensitätsgrade der Parteiarbeit. Zudem lässt sich in Deutschland eine Politikkarriere nur im Rahmen von Parteien verwirklichen, da letztere faktisch ein Monopol bei der Nominierung von Direkt- und Listenkandidaten besitzen. Zu bestreiten ist schließlich ebenso wenig, dass die Qualität und Leistungsfähigkeit der politischen Eliten gerade in Demokratien und hier wiederum in krisenhaften Übergangszeiten – wie wir sie laut kursierender Modeworte wie „Postmoderne“, „Postfordismus“, „Postdemokratie“, die allesamt von Abschied künden, angeblich erleben – von elementarer Bedeutung ist. Infolgedessen bliebe in der Tat das gesamte politische System nicht unberührt, wären seine führenden politischen Repräsentanten so amora-
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Vgl. Fahrenholz, Peter: Kartell der Funktionäre, in: Süddeutsche Zeitung, 12.04.2007. So etwa Tönnies, Sibylle: Die Spezies der Politiker bildet eine negative Auslese, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.03.2000. 3 Vgl. Walter-Rogg, Melanie: Eliten oder Nieten – Wie denken die Bürger über die (politischen) Führungsgruppen?, in: Gabriel, Oscar W./Neuss, Beate/Rüther, Günther (Hrsg.): Konjunktur der Köpfe? Eliten in der modernen Wissensgesellschaft, Düsseldorf 2004, S, 101-123, hier S. 106 ff. und S. 122. 2
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lisch, abgekoppelt und leistungsschwach, wie das von mittlerweile breiten Teilen der Bevölkerung geglaubt wird.4 Kein Wunder daher, dass gegenwärtig wieder lautstark nach einer Öffnung politischer Karrierewege, veränderten Rekrutierungsmechanismen, neuen Kandidaten, kurzum: Seitenbzw. Quereinsteigern gerufen wird.5 Vermag ihre systematische Berücksichtigung die Imagekrise von Parteien und Politikern zu überwinden und die perzipierte Repräsentanzlücke zu überbrücken? Mit diesen Politikertypen verbindet sich die Erwartung von Fachkompetenz und Sachverstand, schließlich haben Seiteneinsteiger vor ihrem politischen ComingOut bereits in einem politikfernen Beruf ihr Wissen und Können unter Beweis gestellt. Ebenso wird Seiteneinsteigern eine größere Bürgernähe, innere Unabhängigkeit und Orientierung in Sachfragen zugesprochen, da sie – so die Annahme – im Unterschied zu den Profi-Politikern mit den gesellschaftlichen Realitäten aus ihrer beruflichen Tätigkeit vertraut, materiell abgesichert sowie auf eine politische Karriere nicht angewiesen seien. Und als vertrauenswürdiger gelten sie ohnehin, da sie sich – finanziell unabhängig, wie sie zumeist sind – Altruismus und Gemeinwohlorientierung leisten könnten, das heißt nicht ausschließlich ihren eigenen Vorteil im Auge hätten, sondern die bestehenden Probleme sachrational zu lösen versprächen.6 Seiteneinsteiger bilden auf diese Weise die Kontrastfolie der klassischen Parteipolitiker. Noch direkter: Dass „der Quereinsteiger als unverbraucht gilt, bedeutet, dass die Tätigkeit in der Partei die Menschen verbraucht und unansehnlich macht“7. Diese Hymnen freilich stimmen sogleich skeptisch: Können Seiteneinsteiger die überschwänglichen Erwartungen überhaupt erfüllen? Was können sie eigentlich tatsächlich leisten? Und können Seiteneinsteiger als gerade nicht typische Politiker dem soeben beschriebenen Zustand nachhaltig entgegenwirken und das politische System der Bundesrepublik bei den Bürgern rehabilitieren? Wo liegen ihre Grenzen, wo andererseits Potenziale? Und: Was muss alles beachtet werden, damit Seiteneinsteiger-Karrieren auch wirklich im erhofften Erfolg münden und nicht schon im Ansatz kläglich scheitern? Doch zunächst: Was sind eigentlich Seiteneinsteiger? Der banalsten Bestimmung zufolge heben sich Seiteneinsteiger vom Normaltypus des Politikers dadurch ab, dass sie zum Zeitpunkt ihres Einstiegs in die Politik bereits Erfolge in anderen Berufsfeldern vorweisen können. Sie wechseln also von einem gesellschaftlichen Sektor, wie beispielsweise der freien Wirtschaft oder der Kultur in einen anderen, die Politik. Das für bundesrepublikanische Politiker typische Karrieremuster ist dagegen die sogenannte „Ochsentour“. Dieses Karrieremuster schafft in einem Klima der Unwägbarkeiten – Politikern droht in Demokratien fortwährend die Abwahl – ein gewisses Maß an Erwartungssicherheit. Es gewährleistet die Rekrutierung von Nachwuchspersonal und trägt zur Aufrechterhaltung des politischen Betriebs bei, indem kontinuierliches Engagement innerhalb der Parteien durch die Anwartschaft auf politische Positionen prämiert wird. Mandate und Ämter sind Motivation und
4 Vgl. Geißel, Brigitte: (Un-)Geliebte Profis? Politikerverdrossenheit und Professionalität. Daten von der lokalen Ebene, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 37 (2006) H. 1, S. 80-96. 5 Vgl. Gabriel, Sigmar: Links neu denken. Politik für die Mehrheit, S. 59 ff. (im Erscheinen). 6 Vgl. Guha, Anton-Andreas: Seiteneinsteiger oder die ungenutzte Chance der Parteien zur Regeneration, in: Vorgänge, Jg. 37 (1998) H. 2, S. 54-61, hier S. 59 f. 7 Zitiert nach Wolf, Armin: Promi-Politik. Prominente Quereinsteiger in der österreichischen Politik, Dissertation, Innsbruck/Wien 2005, S. 81.
Politische Seiteneinsteiger – Exoten in Parteien, Parlamenten, Ministerien
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politisches Honorar für Parteiaktivisten.8 Die Ochsentour zu bewältigen erfordert in erster Linie Geduld, Frustrationstoleranz und Beharrungsvermögen. Für viele junge, ehrgeizige, hochqualifizierte und vor allem an einem schnellen Karrieretempo interessierte Nachwuchskräfte stellt dieser zähe Prozess jedoch eine geradezu unerträgliche Tortur dar und wirkt in hohem Maße abschreckend. Zwar ist die Berechenbarkeit von Karriereverläufen in Deutschland durch die Sicherungsnetze und Leitplanken der Ochsentour verhältnismäßig groß, das Risiko politischer Laufbahnen relativ gering. Doch macht gerade das Politik und Parteien für ehrgeizige High Potentials eher unattraktiv. Seiteneinsteiger sind dagegen Leute, die keine Ochsentour absolviert haben. Dies schließt – selbst jahrzehntelange – Parteimitgliedschaften freilich nicht aus, solange sie passiv bleiben und nicht in politisches Engagement münden. Politische Abstinenz oder eine maximal passive Parteizugehörigkeit stellen somit notwendige Bedingungen für den Status eines politischen Seiteneinsteigers dar. Seiteneinstiege vollziehen sich daher per definitionem auf herausgehobenen Ebenen, die vorliegende Untersuchung konzentriert sich demzufolge auf politische Eliten. Dazu zählen typische Spitzenfunktionen wie das Bundestagsmandat, ein Kabinettsposten – ganz gleich ob als Minister oder Regierungschef – und Staatssekretäre. Kurzum: Personen, die ihr Politikengagement in derlei Positionen begonnen haben, sollen hier als Untersuchungsobjekte dienen und das Phänomen des Seiteneinsteigers explorierend erklären helfen.
Die Vereinigten Staaten von Amerika als Kontrastfolie In Deutschland sind politische Seiteneinsteiger quantitativ eine Rarität, was zu ihrem Status eines bevorzugten Objekts medialer Berichterstattung im Übrigen beiträgt. Doch es geht auch anders. Unter den Staaten mit längerer demokratischer Tradition gelten die Vereinigten Staaten von Amerika als das Land politischer Seiteneinsteiger schlechthin. Dort jedenfalls sind Politiker vom Typus Quereinsteiger erstaunlich häufig in allen nur denkbaren öffentlichen Ämtern – vom Gouverneur über Kongressabgeordnete bis hin zu Regierungsmitgliedern – zu finden. Worauf ist dieses auffällige Phänomen zurückzuführen, warum scheinen gerade in den USA Seiteneinsteiger in besonderem Maße erfolgreich zu sein, im Grunde sogar zur politischen Normalität zu gehören? Ein dezenter Blick auf die beiden politischen Systeme von BRD und USA verrät, dass hierbei keinesfalls eine gänzlich unterschiedliche Einstellung der Bürger zum politischen Engagement die maßgebliche Rolle spielt, sondern dass die Gründe für den markanten Unterschied in den systemischen Abweichungen auffindbar sind. In den USA sind Parteien traditionell schwach, ihre Bedeutung im politischen Alltag ist gering; ausdifferenzierte, mitgliederstarke Parteiapparate, wie sie in Mitteleuropa die Volksparteien darstellen, sind unbekannt – jedenfalls seit der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, nachdem sich zuvor die sogenannten Parteimaschinen durch überspannte Patronage und kriminelle Machenschaften diskreditiert hatten.9 Amerikanische Parteiorganisationen existieren mehr oder 8 Vgl. Wiesendahl, Elmar: Elitenrekrutierung in der Parteiendemokratie. Wer sind die Besten und setzen sie sich in den Parteien durch?, in: Gabriel/Neuss/Rüther (Hrsg.) 2004, S. 124-141, hier S. 136. 9 Vgl. zu diesem Absatz Wasser, Hartmut/Eilfort, Michael: Politische Parteien und Wahlen, in: Lösche, Peter/ Löffelholz, Hans Dietrich (Hrsg.): Länderbericht USA. Geschichte – Politik – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Bonn 2004, S. 319-352, hier S. 319-331 und S. 336-343.
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weniger nur rudimentär und erfüllen für ihre angehörigen Kandidaten im Wesentlichen Serviceleistungen, vor allem finanzielle und organisatorische Unterstützung in Wahlkämpfen. Ansonsten sind sie – schon in Ermangelung einer formalen Parteimitgliedschaft, die sich via Parteibuch ausweisen ließe – eher Labels, politische Marken, die den Wählern eine grobe normative und inhaltliche Einordnung der Kandidaten ermöglichen sollen. Da Parteiorganisationen selbst für die Kandidatennominierung weitgehend bedeutungslos sind, sind die Bedingungen für Seiteneinsteiger günstig. Langjähriger Aktivismus, intensives Engagement, Verdienste um die Partei sind dagegen entbehrlich. Die im Vergleich zu Deutschland gänzlich andere Rolle und Macht von Parteien wirkt sich in Hinsicht auf Seiteneinsteiger in mehrfacher Weise entscheidend aus. Zum einen im Hinblick auf die Rekrutierung des politischen Personals: Während in Deutschland in erster Linie die Delegierten einer Partei auf gesonderten Parteitagen über die Vergabe von Listenplätzen und Wahlkreiskandidaturen die Chancen einer erfolgreichen Wahl verteilen, hat sich in den USA historisch ein sehr viel stärker von Parteiorganisationen losgelöster Auswahlprozess herausgebildet. Die in den 1970er Jahren immer flächendeckender und verbindlicher eingeführte Institution der Vorwahlen – „Primaries“, an denen sich alle Interessierten, das heißt problemlos auch Nichtmitglieder beteiligen können – beraubte die Parteiführungen beinahe vollständig ihres Einflusses auf die Kandidatur bestimmter Bewerber. Das Prinzip der Vorwahlen liegt in der Innovation, dass nicht Parteioffizielle oder festgelegte Delegierte, sondern die Wähler als von Mandataren politisch repräsentierte Bürger über Kandidaturen entscheiden und damit zugunsten eines basisdemokratischen Votums den Nominierungsvorgang den politischen Organisationen entreißen und außerhalb solcher Organisationen stehenden Personen potenziell eine Einstiegsmöglichkeit verschaffen.10 Wer die Massen von seiner persönlichen Eignung für die Kandidatur zu einem bestimmten Amt rhetorisch oder fachlich überzeugen kann, benötigt kein über Loyalität und Fügsamkeit erreichtes Plazet irgendwelcher Parteipersönlichkeiten oder Führungsgremien, wird seltener Opfer von informellen Kungeleien und Proporzregelungen, ist weitgehend unabhängig. Zum anderen lässt das US-amerikanische Wahlsystem die Parteien in ihrer Bedeutung zurücktreten. Aufgrund des Mehrheitswahlrechts spielen Parteilisten – deren Aufstellung in der Bundesrepublik zu den vornehmsten Aufgaben der Parteien im Vorfeld des Wahlkampfs gehört – keine Rolle. Die plebiszitäre Wahl der Mitglieder des Repräsentantenhauses, von Senatoren und Präsidenten stattet den Amtsinhaber zudem mit einer parteiunabhängigen Extra-Legitimation aus. Obendrein bedingt die US-amerikanische Systemvariante ganz andere Voraussetzungen für die spätere Mandats- und Amtsausübung. In US-amerikanischen Parlamenten ist die Fraktionsdisziplin vergleichsweise schwach ausgeprägt. US-Abgeordnete können ihr Mandat weitgehend frei und ungebunden ausüben. Sie sind dem Wahlkreis, nicht dem Kreisvorstand verpflichtet. Von großer Relevanz ist stattdessen das Senioritätsprinzip, nach dem einflussreiche und daher begehrte Ausschussvorsitze vergeben werden. Nicht wer sich der Fraktionsführung beugt, sondern wer lange genug sein Mandat behält und möglichst viele 10 Vgl. Maisel, L. Sandy/Fowler, Linda L./Jones, Ruth S./Stone, Walter J.: Nomination Politics: The Roles of Institutional, Conextual, and Personal Variables, in: Maisel, L. Sandy (Hrsg.): The Parties Beyond, Boulder/San Francisco/Oxford 1994, S. 145-168, hier S. 155; Canon, David T.: Actors, Athletes and Astronauts. Political Amateurs in the United States Congress, Chicago 1990, S. 7; Schlesinger, Joseph A.: Political Parties and the Winning of Office, Michigan 1991, S. 53 ff.
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Legislaturperioden überdauert, erwirbt Ansprüche auf die Spitzenpositionen der legislativen Kammern. Das politische System der Vereinigten Staaten gewährt dem zur Kandidatur gewillten Bürger also ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, Autonomie und Raum für Eigeninitiative. Doch liegen in der Parteischwäche und plebiszitären Grundstruktur auch Gefahren, bilden sie doch die Quelle für neue Abhängigkeiten, für Korruption und Nepotismus ebenso wie für politischen Dilettantismus. US-amerikanische Politiker sind politische Unternehmer, Entrepreneure, die weitgehend auf sich allein gestellt ihre politische Karriere organisieren. Sie müssen daher vor allem exzellente Geldakquisiteure sein. Fundraising gehört aufgrund der großenteils privat zu tragenden Wahlkampfkosten zu den wichtigsten Fertigkeiten, steuern doch die Parteien nur verhältnismäßig geringe Gelder bei. Entsprechend stark ist der Einfluss, den Großspender auf die politischen Absichten von Kandidaten nehmen können, die Unabhängigkeit von Parteigremien kaschiert die eher problematischere Abhängigkeit von Geldgebern nur. Die weitreichende Verfügungsmacht plebiszitär legitimierter Ämter verführt zudem zu Vettern- und Günstlingswirtschaft. Und die mit dem Amateurcharakter US-amerikanischer Politik verbundenen ungeheuren Reibungsverluste waren – wie Max Weber schon 1919 schrieb – überhaupt nur in einem Land wie den Vereinigten Staaten verkraftbar, einer Nation mit „unbegrenzten ökonomischen Chancen“11. Davon abgesehen ist die Inangriffnahme einer politischen Karriere in den USA in hohem Maße riskant. Man muss sich deshalb stets Rückzugsmöglichkeiten in die private Erwerbstätigkeit offen halten, weshalb das US-System ressourcenstarke Sozialtypen begünstigt und sich, viel stärker noch als das deutsche System, in Richtung finanzschwacher sozialer Schichten verschließt. Vermögen, prominenter Familienname, öffentlicher Bekanntheitsgrad oder einflussreiche Beziehungen sind in den USA für den politischen Erfolg in ihrer Bedeutsamkeit kaum zu überschätzende Attribute.12 Das politische System der USA privilegiert eindeutig Angehörige höherer Gesellschaftsetagen. Die politische Führungsgruppe der USA ist daher noch weit weniger repräsentativ, als zu vermuten gewesen wäre und in der deutschen Debatte permanent suggeriert wird. Es reüssiert nur ein bestimmter, hinsichtlich eines Spektrums an spezifischen Merkmalen gut ausgestatteter Seiteneinsteiger-Typus. Gerade solche Personen, die außerhalb der Politik zu Reichtum, Prestige und Einfluss gelangt sind, haben die größten Erfolgschancen. Die gesellschaftlich hergestellten Ungleichheitsverhältnisse werden – anders als in Deutschland – 13 eben nicht durch Parteien kompensiert, sondern unverändert in den politischen Bereich übertragen.
Seiteneinsteiger und die Krise der Repräsentation Geht man jedenfalls von einem formalen Repräsentanzdefizit der Bevölkerung in den Parlamenten aus, davon, dass bestimmte gesellschaftliche Gruppen politisch nicht ausreichend 11
Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1980, S. 846. Vgl. Francis, Wayne L./Kenny, Lawrence W.: Up the Political Ladder. Career Paths in U.S. politics, Thousand Oaks 2000, S. 31 ff. 13 In Deutschland sind Parteiorganisationen „im Anspruch ein Partizipationskanal, der sozialstrukturelle Barrieren überbrückt, Teilhabechancen ausweitet und damit einander angleicht“; Niedermayer, Oskar/Schmitt, Hermann: Sozialstruktur, Partizipation und politischer Status in Parteiorganisationen, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 24 (1983) H. 3, S. 293-310, hier S. 293. 12
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vertreten sind, so lässt sich begründbar bezweifeln, dass Seiteneinsteiger diesem Missstand entgegenzuwirken vermögen und zumal die Präferenzen benachteiligter Sozialgruppen wirkungsmächtig zu artikulieren versprechen. Dagegen spricht nicht nur das Beispiel der USA, dieselbe Lehre hält auch der Blick in die eigene Geschichte bereit. Ein verengtes Sozialprofil mit einer deutlichen Schlagseite in Richtung der oberen Sozialschichten wiesen schon die politischen Eliten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik auf. Am Beispiel der damaligen SPD zeigt sich nun, dass vorzugsweise Akademiker über die Seite einstiegen, derweil sich die Arbeiter erst qualifizieren und mühsam hocharbeiten mussten, dass Seiteneinsteiger insofern die sozialstrukturelle Verengung der Politik am Beispiel der SPD des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts noch verstärkten. Dagegen spricht des Weiteren die Tatsache, dass sich die politische Elite verglichen mit anderen Teileliten – zum Beispiel der Verwaltungselite, der Kulturelite, vor allem aber der Wirtschaftselite – trotz aller sozialstrukturellen Verengungen durch eine bemerkenswerte Offenheit auszeichnet. Es ist die politische Elite, die Angehörigen sozial schwacher Elternhäuser in nicht geringem Maße Karrierechancen bietet; in keiner anderen Elite auch sind beispielsweise Frauen und Ostdeutsche in ähnlichem Ausmaß vertreten. Dadurch spiegelt die politische Elite in den Prägungen ihrer Mitglieder bis heute eine bunte Vielfalt, Aufstiegschancen auch und gerade tendenziell benachteiligten Sozialgruppen bietend. Die Einbindung der gesellschaftlichen Souterrains wird ermöglicht nicht zuletzt durch die weitgehende Unbestimmtheit der Anforderungen zur Ausübung politischer Ämter, das heißt den Mangel formaler Qualifikationserfordernisse. Das bedeutet freilich keineswegs, dass in politischen Führungsgremien die unterschiedlichen Bevölkerungssegmente proportional zu ihrem Anteil in der Gesamtgesellschaft vertreten wären oder es in der Politik keinen Mittelschicht-Bias gebe. Ebenso wenig ist hier das aus Elitestudien bekannte „Gesetz der zunehmenden Disproportionalität“ ausgeschaltet, demzufolge die Konzentration des Nachwuchses wohlhabender, bildungsreicher, statushoher Elternhäuser umso stärker ist, je höher die Posten angesiedelt sind. Und dennoch sind die Ahnengalerien politischer Spitzenämter reich an Vertretern niederer Herkunft – diese reüssierten nicht zuletzt, weil die politische Tätigkeit keinen Studienabschluss oder Ähnliches voraussetzte. Die verstärkte Rekrutierung von Seiteneinsteigern, also von Eliteangehörigen anderer Teilbereiche, für politische Führungspositionen droht in der Konsequenz dann aber den explosiven Charakter auch der politischen Elite zu verstärken und das Repräsentanzdefizit der politischen Klasse zu verschärfen. Dies ist ein demokratietheoretisch relevantes Problem. Denn die Vernachlässigung oder gar Unterdrückung gesellschaftlich minoritärer Interessen steht einer responsiven Beziehung zwischen Gesellschaft und Politik, wie sie dem Modell einer parlamentarischen Demokratie ideell zugrunde liegt, fundamental entgegen.14 Können also, so ist daher zu fragen, Seiteneinsteiger die Responsivität des politischen Systems erhöhen, wenn schon nicht nach unten, im Hinblick auf das sogenannte Prekariat, so doch in die Breite durch die verstärkte Rekrutierung zum Beispiel privatwirtschaftlicher Interessenvertreter – und sind sie überhaupt zur Übernahme politischer Ämter bereit? Politische Spitzenämter sind ein rares Gut, die Zugangschancen vergleichsweise gering. Dagegen spricht, dass hochqualifizierte Nachwuchskräfte sich häufig gegen einen Politikeinstieg entscheiden und stattdessen eine Karriere in der freien Wirtschaft starten. Dort fallen politikspezifische Opportunitätskosten – wie das schlechte Verhältnis von fi14 Vgl. Uppendahl, Herbert: Repräsentation und Responsivität. Bausteine einer Theorie responsiver Demokratie, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 12 (1981) H. 1, S. 123-134, hier S. 133 f.
Politische Seiteneinsteiger – Exoten in Parteien, Parlamenten, Ministerien
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nanzieller Vergütung und psychischem wie physischem Aufwand, die Gefahr des abrupten Mandatsverlusts oder auch die geringe gesellschaftliche Anerkennung – größtenteils weg.15 Von daher unterliegt die Politik in der Regel im Wettbewerb mit anderen gesellschaftlichen Bereichen um vielversprechendes Nachwuchspersonal. Doch müsste andererseits nicht gerade dies politisch ambitionierten Seiteneinsteigern sogar entgegen kommen? Durch die Reproduktion der immergleichen Politikertypen sollte sich doch gerade der Bedarf nach andersartigen, politikfernen Sphären entstammenden Kandidaten erhöhen. Speziell Parteiführungen können mit der Rekrutierung politischen Personals für Spitzenpositionen aus politikexternen Bereichen, von Leuten, die allein schon qua ihrer beruflichen Herkunft und Vita Innovationen verheißen, ein Zeichen des positiven Veränderungswillens setzen und Reformdruck durch symbolische Gesten abbauen. Zumal der Seiteneinstieg tatsächlich eine naheliegende Möglichkeit zur Anhebung des geistigen Niveaus zu bieten scheint, sofern man davon ausgeht, dass die in Frage kommenden Personen auf ihrem Gebiet herausragende Koryphäen oder intelligente Konstrukteure origineller Konzepte sind. Auch in anderer Hinsicht dürften Seiteneinsteiger zu einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit der sogenannten „politischen Klasse“ beitragen. Die Qualität der Performanz politischer Eliten wird in der Regel danach bemessen, inwieweit sie die Interessen der Bürger wahren und ihrem Handeln eine Gemeinwohlorientierung zugrunde legen.16 Weitverbreitet ist die Annahme, dies erfordere ein breites Spektrum unterschiedlicher sozialer Schichten, da sie in den Augen der Angehörigen der spezifischen Bevölkerungsgruppen als deren Sachwalter glaubwürdiger und vertrauensvoller als schichtfremde Politiker seien. Wenn dieser Bedarf nach heterogenen Herkunften, Werdegängen und Lebenserfahrungen von den Parteiorganisationen nicht mehr saturiert werden kann, so könnten doch Seiteneinsteiger Abhilfe schaffen. Überhaupt Glaubwürdigkeit und Vertrauen: Seiteneinsteiger haben bereits eine Karriere auf einem politikfernen Feld beschritten und sind insoweit ökonomisch arriviert und finanziell keinesfalls mittellos. Außerdem traut man ihnen unter Umständen auch ein besseres Verständnis gesellschaftlicher Wirklichkeit zu, da sie selbst im „realen“ Leben praktische Erfahrungen gesammelt haben. Sie stehen einesteils nicht unter Verdacht, einem weltabgewandten Mikrokosmos des Politischen zu entstammen und andernteils erscheint ihre Korrumpierungsanfälligkeit geringer. Könnte man daher von ihnen im Vergleich zu Berufspolitikern, die wesentlich von der Politik statt für die Politik leben, das heißt materiell in existenzieller Weise vom politischen Betrieb abhängig sind, nicht eine besondere Qualität, eine herzblütigere, charakterlich reifere, auch gemeinwohlorientiertere Einstellung erwarten, ein Mehr an Respektabilität? Personen können sich darüber hinaus im Rahmen einer bestimmten Tätigkeit ein Vertrauenskapital aneignen, das sie in die Politik mit hinüber nehmen. Das Vertrauen, das sie zum Beispiel als Wirtschaftsmanager oder Hochschullehrer bei bestimmten Personenkreisen gewonnen haben, bleibt – wenigstens anfangs – im Rahmen ihrer politischen Tätigkeit intakt. 15 Vgl. Wiesendahl 2004, S. 125 ff. und S. 134; Patzelt, Werner J.: Parlamentarische Rekrutierung und Sozialisation. Normative Erwägungen, empirische Befunde und praktische Empfehlungen, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 46 (1999) H. 3, S. 243-282, hier S. 250. 16 Vgl. Niedermayer, Oskar: Bürger und Politik. Politische Orientierungen und Verhaltensweisen der Deutschen. Eine Einführung, Wiesbaden 2001, S. 73.
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So wäre denkbar, dass Seiteneinsteiger von Parteiführungen ganz gezielt eingesetzt werden können, um bestimmte, bislang unerreichbare Wählersegmente elektoral zu erschließen. In ähnlicher Weise könnten Seiteneinsteiger, an der richtigen Stelle platziert, als Scharnier zu gesellschaftlichen Interessorganisationen fungieren, zu ihnen Kontakte knüpfen und sie als Kooperationspartner gewinnen. Die Option des Seiteneinstiegs eröffnet der Politik überdies die Möglichkeit, neue Rekrutierungswege zu erschließen. Der Anforderungskatalog der klassischen Parteikarriere schreckt ab und entmutigt. Aber die Öffnung für Seiteneinsteiger bietet die Gelegenheit, prinzipiell interessierten, von den Erfordernissen eines sukzessiven Aufstiegs allerdings verschreckten Personen einen Einstieg auf höherer Ebene zu ermöglichen. Die Aussicht eines direkten Zugangs zu politischen Top-Positionen kann das gängige Attraktivitätsmanko, das den des politischen Sektor in den Augen der Leistungsträger kennzeichnet, neutralisieren und ihnen ein Politengagement schmackhaft machen.
Umbruchphasen als Chance Seiteneinsteiger avancieren nicht sukzessive, sie stützen sich – mindestens anfangs – auf keine Hausmacht und erringen Führungspositionen daher kaum ohne fremde Hilfe. Seiteneinsteiger werden zunächst vielmehr von amtierenden Spitzenpolitikern gerufen, gewonnen, protegiert. Demzufolge ist es naheliegend, nach der Existenz von Gelegenheitsfenstern zu fragen, die sich in Abhängigkeit eines spezifischen Zeitgeists und der Stigmata einer besonderen Epoche ergeben. Kann eine konjunkturelle Nachfrage nach Sachkompetenz Seiteneinsteiger zeitweilig außergewöhnlich attraktiv werden lassen? Kann die Berufung von Seiteneinsteigern aufgrund aktuell besonders goutierter Fertigkeiten vorteilhaft sein, weil sie rhetorisch ausgefeilte Reden zu halten vermögen, einen distinguierten Habitus pflegen oder ihre Vita und Prägung der Epochenstimmung entgegenkommen? Für die Existenz zeitbezogener, temporärer Chancenfenster zum politischen Seiteneinstieg spricht der relativ hohe Anteil politisierender Professoren in den 1970er Jahren, ein Jahrzehnt, das für die zeitweilige Versöhnung von Geist und Macht steht und durch visionäre Grundsatzdebatten geprägt war. Auch die Relevanz eines Themas, einer zu bearbeitenden Frage oder Kontroverse steht in Abhängigkeit vorübergehender gesellschaftlicher Lagen, das heißt einem konkreten Zeitpunkt. Seiteneinsteiger hätten dann aussichtsreiche Chancen auf Erfolg, wenn sie ein akut vorherrschendes Bedürfnis befriedigen, eine bestimmte Rolle ausüben, ein bestimmtes Thema konzeptionell besetzen und kompetent bearbeiten können. Und Parteiführern ermöglichen sie, virulente Probleme durch einen Import bislang kaum oder ungenügend vorhandener Ressourcen, deren Träger der Seiteneinsteiger ist, zu beseitigen. Auch ist an die besonderen Möglichkeiten von Transitionsphasen zu denken. Wenn sich die Gesellschaft aufgrund einer historischen Zäsur gerade im Umbruch befindet, die alte Elite aufgrund moralischer Diskreditierung ausgewechselt und neue Systemstabilität hergestellt werden muss, wenn sich also Selektionskriterien, Rekrutierungsmuster und Führungsgruppen wandeln, dann sollte ein solcher Umbruch die Anreize für Seiteneinsteiger zum Wechseln in die Politik erhöhen. Derartige Sequenzen sozialer Entwicklung hat es mit dem Kollaps des Dritten Reichs und der deutschen Wiedervereinigung allein in der jüngeren deutschen Geschichte mehrmals gegeben. Für ostdeutsche Bürger übte die besondere Situation des politischen Um- und Aufbruchs während der Wendephase erst jüngst
Politische Seiteneinsteiger – Exoten in Parteien, Parlamenten, Ministerien
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einen nachdrucksvollen Reiz zum Engagement aus, der viele zum spontanen Einstieg in die Politik veranlasste.17 Kaum verwunderlich vor diesem Hintergrund, dass nahezu alle im Jahr 1990 in Ostdeutschland gewählten Abgeordneten politische Neulinge waren. Gleichfalls nachvollziehbar im Übrigen, dass die konkrete Gemengelage aus Regimetraditionen, Umbruchbedingungen und Berufsprestiges einen spezifischen Phänotypus des Seiteneinsteigers beförderte, im ostdeutschen Fall Politiker mit technisch-naturwissenschaftlichem Hintergrund.
Seiteneinsteiger im Spannungsfeld der Parteiorganisationen So wie es bestimmte, sich aus epochenspezifischen Besonderheiten ergebende Gelegenheitsstrukturen geben kann, ist auch an eine variierende Chancenkonstellation für den politischen Seiteneinstieg in Abhängigkeit von unterschiedlichen Parteifamilien zu denken. Zunächst einmal ist ganz allgemein der Parteieneinfluss auf politische Karrieren aus ersichtlichen Gründen enorm. Politische Karrieren lassen sich in Deutschland nur über Parteien verwirklichen, ihr Monopol auf die Nominierung von Direkt- und Listenkandidaturen lässt Fachwissenschaftler vom „Closed Shop“-Prinzip in der Politik sprechen. Parteifunktionen – stellten passend dazu Heinrich Best und Stefan Jahr fest – sind für die Aufstiegschancen und Karrieresicherheit eines Parlamentariers sogar wichtiger als die Ausübung lokaler Ämter.18 Sodann aber zeigen sich je nach Position, Wirkungsfeld und Parteistruktur unterschiedliche Bedingungen und Optionen, die Seiteneinsteiger wahlweise anziehen oder abstoßen, die sich ihnen öffnen oder verschließen und an sie ganz unterschiedliche Anforderungen stellen. Das beginnt bei den verschiedenartigen Selektionskriterien von Direkt- und Listenmandaten. Während für die Aufstellung als Direktkandidat eine vorangegangene Ochsentour oftmals unumgänglich ist, haben die Parteispitzen auf die Listengestaltung einen größeren Einfluss, spielen hier bei der Platzvergabe strategische und Proporzfragen eine größere Rolle. Kurzum: Listenplätze sind für Seiteneinsteiger leichter zu ergattern als Wahlkreise. Unterschiede gibt es aber auch zwischen Honoratioren- und Massenparteien. Jedoch sind die Zusammenhänge beider parteipolitischer Organisationstypen hinsichtlich der Offenheit für Seiteneinsteiger ambivalenter als zunächst vielleicht gedacht. Obgleich sowohl die rudimentäre Organisationsstruktur als auch ihr Name darauf hindeuten, dass Honoratiorenparteien Ochsentouren gemeinhin nicht erfordern und für Seiteneinsteiger ein günstiges Terrain darstellen, schufen doch gerade die alten Massen- und Milieuparteien in der Vergangenheit systematisch Aufstiegskanäle, die gesellschaftlich-politischen Außenseitern das Avancement in Elitepositionen ermöglichten. Erst mit dem Wegfall der Milieuverankerung glichen sich die Erfahrungsschätze, Werdegänge und biografischen Hintergründe der politischen Führungsstäbe dann kontinuierlich an. Ähnlich paradox stellt sich die Differenz zwischen Volks- und Kleinparteien im Hinblick auf die Offenheit für Seiteneinsteiger dar. Wohl bestätigt eine Partei wie die FDP weit17
Vgl. Patzelt 1999, S. 263. Vgl. Best, Heinrich/Jahr, Stefan: Politik als prekäres Beschäftigungsverhältnis. Mythos und Realität der Sozialfigur des Berufspolitikers im wiedervereinten Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 37 (2006) H. 1, S. 63-80, hier S. 69 ff. 18
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gehend die Vermutung über Kleinparteien, der zufolge sie aufgrund einer geringeren Mitgliederzahl zahlreiche Freiräume für spontan rekrutierte Kandidaten bieten. Die Partei der Freidemokraten ist von einer vergleichsweise kleinen Mitgliedschaft, folglich einer geringen Mitgliederdichte gekennzeichnet. Es gibt dort tendenziell weniger Bewerber um politische Positionen und eine relativ schwache Parteibasis, wodurch der Zugang zu höheren Ämtern erleichtert wird. Infolge einer wertmäßigen Hegemonie von klassisch bürgerlichen Tugenden wie Disziplin und Bereitschaft zur Unterordnung erfreut sich die Parteiführung darüber hinaus einer großen Autorität, kann also Seiteneinsteiger-Kandidaten gegenüber der Parteibasis leichter zur Durchsetzung verhelfen. Es ist im Übrigen auch gar nicht die Partei, sondern die Bundestagsfraktion, in welcher die Leitlinien freidemokratischer Politik bestimmt werden.19 FDP-Mitglieder zeichnet zudem ein ausgeprägtes Bewusstsein, Angehörige der gesellschaftlichen Elite zu sein, aus.20 Dieses Selbstverständnis könnten Seiteneinsteiger mit adäquaten Persönlichkeitsmerkmalen symbolisch zum Ausdruck bringen. Außerpolitische Berufserfahrung, wie sie für Seiteneinsteiger charakteristisch ist, wird in der FDP, in einem liberalen Klima von Individualitäts- und Honoratiorendenken, sogar besonders goutiert und kann sich folglich als enormer Vorteil erweisen. Die Norm der Ochsentour ist von allen im Bundestag vertretenen Parteien dort jedenfalls am schwächsten ausgeprägt. Leistungsethos, Prestige und Unabhängigkeit aus dem Privatberuf berechtigen in dieser Partei der traditionell Höherqualifizierten und Besserverdienenden zur öffentlichen Mandatsausübung. Dagegen die SPD: In der Sozialdemokratischen Partei lässt sich ein eher Seiteneinsteiger-feindliches Biotop erwarten. Nirgendwo waren die Mitgliederzahlen in der bundesdeutschen Geschichte höher als in der SPD, gab es ein solchermaßen dichtes Organisationsgeflecht. Jahrelange Parteimitgliedschaft und aktives Engagement – wenn nicht am Wahlkampfstand, so doch wenigstens in den Gremien – waren lange Zeit fast zwingende Voraussetzungen für den Anspruch auf über die Partei vermittelte Positionen in der Politik. Daraus ließe sich nun folgern, dass Kleinparteien im Gegensatz zu Volksparteien wesentlich affiner, durchlässiger, auch wohlwollender gegenüber Seiteneinsteigern eingestellt sind. Betrachtet man als weitere kleine Partei allerdings die Grünen, so muss man diese Annahme wohl relativieren. Bei den Grünen müssen die Führungspolitiker einen starken Basisbezug aufweisen, sich mit der Parteimitgliedschaft über die eigene Biographie oder einer persönlichen Authentizität rückkoppeln. Grüne sperren sich auch viel stärker gegenüber einem Oktroi der Parteiführung und sind von einer nicht geringen Elitenaversion geprägt. Obwohl es sich bei den Grünen ähnlich der FDP um eine kleine Partei handelt, scheinen die Chancen für einen erfolgreichen Seiteneinstieg zumindest hinsichtlich der Rahmenbedingungen demzufolge deutlich aussichtsloser zu sein. Andererseits können auch Volksparteien unter bestimmten Bedingungen Seiteneinsteigern auf höherer Ebene Zutritt gewähren. So gelangten mit Willy Brandt zum Beispiel gleich mehrere Quereinsteiger in höhere Positionen, und unter dem neuen Parteivorsitzenden Helmut Kohl wurde ebenfalls eine Riege von später erfolgreichen Politnewcomern in die CDU der 1970er Jahre eingeführt. Systematischer noch: Die Mitgliederstärke und Organisationsmacht von Großparteien mag sie gegenüber Seiteneinsteigern verschließen und 19 Vgl. Dittberner, Jürgen: Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S. 239. 20 Vgl. Heinrich, Roberto/Lübker, Malte/Biehl, Heiko: Parteimitglieder im Vergleich: Partizipation und Repräsentation, Potsdam 2002, S. 10.
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die permanente Gefahr selbstgenügsamer Abschottung und introvertierter Binnenorientierung implizieren. Doch sind andererseits Volksparteien für Karrieren von Repräsentanten auch sozialer Randgruppen sehr viel offener als bürgerliche Interessenparteien wie die FDP und die Grünen. Die breite Integrationsabsicht von Volksparteien, ihr Anspruch, die Gesellschaft gleichsam im Kleinen innerhalb ihrer Organisationsstrukturen abzubilden, zwingt sie zur Spiegelung der sozialen Heterogenität in ihrem Kandidatenangebot und also zur planmäßigen Öffnung für unkonventionelle Karriereverläufe. Dieser Anspruch kollidiert freilich mit der Tendenz potenzieller Mehrheitsparteien, die Mitte zu erobern sowie dauerhaft zu besetzen und folglich solides Mittelmaß hervorzubringen. Wie überhaupt die neueren Entwicklungen auf der Parteienebene der Durchsetzung genormter Berufspolitiker-Biografien Nachdruck verleihen. Der Bedeutungsverlust der Mitglieder, die Professionalisierung von Parteiarbeit und insbesondere Wahlkampfführung, die Orientierung auf Umfragewerte, Kurzfristerfolge und die Einflüsterungen von SpinDoktoren, mit einem Wort: der Wandel zu „professionalisierten Wählerparteien“ verschließt alte Rekrutierungskanäle und reduziert den Integrationsbogen der Volksparteien, indem er erfahrungsarme und austauschbare Managergestalten hervorbringt und Seiteneinsteigern den Einstieg verbaut. Gleichwohl: Es ist differenzierter als zunächst vielleicht erwartet, zu fragen, inwiefern bestimmte Parteitypen für Seiteneinsteiger durchlässig sind und inwieweit in Abhängigkeit der politischen Organisationsformen unterschiedliche Chancen für diesen Politikertypus bestehen.
Abhängigkeit von Mentoren Doch wie werden Seiteneinsteiger eigentlich für die Politik gewonnen, wie genau gestaltet sich ihre Rekrutierung? Im Gegensatz zu den bereits erwähnten USA verfügen in der BRD die Parteien zentral über die Allokation politischer Positionen. Für die Rekrutierung und Sozialisation politischen Personals besitzen sie ein kaum angreifbares Monopol.21 Im System der Bundesrepublik ist die typische Form des Aufstiegs in Ämter der politischen Beletage der Weg über kommunale Parteipositionen, hier allen voran der Kreisvorstand. Dies ist der Pfad der Ochsentour, den Seiteneinsteiger nach der diesem Band zugrunde liegenden Definition niemals beschritten haben dürfen. Doch wie kommen dann Seiteneinsteiger in Deutschland eigentlich in die Politik? Mit Ausnahme des Verfahrens offener Listen, wie es vornehmlich von der Linkspartei praktiziert wird, gelangen in der Regel nur verdiente Parteimitglieder auf die Wahllisten. Im politischen System Deutschlands sind die Bürger lediglich die zweite Entscheidungsinstanz bei der Mandatsvergabe. Dem „demos“ vorgeschaltet sind zumeist die Parteitagsdelegierten, die über Listenplätze entscheiden und somit eine verbindliche, für den parteiexternen Bürger nicht mehr beeinflussbare Vorauswahl treffen. Welches politische Personal an der Wahlurne überhaupt zur Disposition steht, entscheiden also Parteimitglieder. Will man als Außenstehender Zugang zu politischen Spitzenämtern ohne die langwierige Prozedur einer sukzessiven Parteikarriere erhalten, so benötigt man jemanden, der eben dies schon hinter sich hat: einen etablierten Positionsinhaber, der qua parteiintern erworbener Autorität das notwendige Durchsetzungsvermögen besitzt, um seine Wunschkandidaten 21 Vgl. Herzog, Dietrich: Der moderne Berufspolitiker, in: Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Eliten in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1990, S. 28-51, hier S. 34.
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für bestimmte politische Ämter und Mandate durchzusetzen. Bedürfen Seiteneinsteiger also zwangsläufig eines politischen Mentors, eines Türöffners? Der politische Mentor ist im Moment des Seiteneinstiegs für den jeweiligen Neupolitiker in der Regel die zentrale Figur schlechthin. Er lässt die Seiteneinsteiger an seiner persönlichen Machtstellung partizipieren, durch ihn können sie die konventionelle Einstiegsposition eines lokalen Parteiamts umgehen. Seiteneinsteiger sind während ihrer Initiationsphase also Protegés und stehen in starker Abhängigkeit von ihrem Mentor. Nicht nur verdanken sie ihm ihren Zugang, sie haben auch einen Teil seiner Autorität delegiert bekommen. Doch wie schnell und unter welchen Bedingungen müssen und können sich Seiteneinsteiger von ihrem Mentor emanzipieren? Was, wenn sie an Instrumentalisierungspotenzial für ihren politischen Mäzen verlieren und er sie kaltblütig fallen zu lassen droht? Das Verhältnis des Mentors zum Seiteneinsteiger und dessen weitere Entwicklung stellt zweifellos eine ganz relevante Untersuchungsdimension dar. Wie also muss die Autorität des Fürsprechers beschaffen, muss er unangefochten sein? Welches Kalkül verfolgt der Förderer, sollen durch die Berufung eines Seiteneinsteigers die innerparteilichen Experten oder Flügel geschwächt werden, verspricht er sich einen besonders handzahmen Zuarbeiter? Und welche Probleme ergeben sich für Seiteneinsteiger, wenn der Mentor wechselt oder ausfällt? Der Rekrutierungsprozess konstituiert überdies spätere Abhängigkeiten. Denn wem man sein Amt oder Mandant letztendlich zu verdanken hat, bestimmt auch, vor wem man sein Handeln zu verantworten hat, welche Autorität und Legitimität man erhält. Von Parteiführern – möglicherweise sogar gegen den Willen der Parteibasis – autoritär inthronisierte Seiteneinsteiger können lediglich auf eine äußerst labile Akzeptanz vertrauen und bei Verlust der Protektion sehr schnell scheitern. Insofern scheinen im Rekrutierungsverfahren bereits Gefahren strukturell angelegt zu sein. Es gilt zu prüfen, wo und inwiefern sich für Seiteneinsteiger aus ihrem Rekrutierungsmodus heraus Gefährdungspotenziale ergeben und wie sie diesen erfolgreich entgegen wirken können.
Beruf und Politik Schaut man sich einmal die Ausbildung bundesdeutscher Parlamentarier und Minister an, so erkennt man eine eindeutige Dominanz bestimmter Berufe. In Relation zur Bevölkerungsstruktur sind in Parlamenten und Parteien auch in dieser Hinsicht erhebliche Disproportionalitäten gegeben. Ganz generell wird man sagen können, dass Berufszweige umso stärker in der aktiven Politik vertreten sind, je größer die Affinität der berufsbezogenen Fähigkeiten zur politischen Praxis ist. Politik bedeutet Führung – dass Unternehmer, sprich: Wirtschaftsführer oftmals den Weg in die Politik wählten und wählen, erklärt sich auch daraus. Politik bedeutet aber auch Verhandlung, Überzeugung und Diskussion. Verwandt mit der politischen Tätigkeit sind daher ebenso die sogenannten redenden, überredenden, vermittelnden Berufe. Politisierende Professoren waren infolgedessen in der Vergangenheit keine Seltenheit, ein juristisches Studium gar die bevorzugte Ausbildung späterer Berufspolitiker. Die geradezu klassische Dominanz der Juristen freilich hängt noch mit einem weiteren Berufsmerkmal zusammen. Juristen sind Generalisten, zunächst jedenfalls erst einmal keine spezialisierten Fachleute, das Jurastudium vielmehr so eine Art Studium Generale. Politiker, jedenfalls Spitzenpolitiker, aber müssen ebenfalls Generalisten sein, sie müssen sich zu ganz unterschiedlichen Fragen kompetent äußern können – zumal heute, in Zeiten
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fortschreitender Spezialisierung des Wissens, in den politischen Schaltzentralen die Fähigkeit zur Synthese eher noch verstärkt nachgefragt wird. Eine markante Überrepräsentation besteht erst Recht bei Beamten, wobei die Gründe hierfür in der Sonderrolle dieser Statusgruppe liegen.22 Der Beamtenstatus prädestiniert für politisches Engagement, können sich Beamte doch beispielsweise für die Dauer ihrer Abgeordnetentätigkeit umstandslos beurlauben lassen und anschließend völlig gefahrlos ihren alten Job im öffentlichen Dienst wieder aufnehmen. Im Gegensatz zu sämtlichen anderen Berufstypen, vermögende Privatiers einmal ausgenommen, müssen sie keinen Jobverlust im Zuge ihrer politischen Tätigkeit befürchten und haben deshalb immer eine sichere Rückkehroption. Im Vergleich zu vielen Anstellungen in der freien Wirtschaft verfügen Beamte aufgrund geregelter Arbeitszeiten zusätzlich über eine für die Politik ganz elementare Ressource: Zeit. Die Legislative als Revier von Staatsbediensteten ist im Übrigen ein Zustand, der bereits auf frühparlamentarische Epochen zurückgeht, sich über Kaiserreich und Weimarer Republik bis hinüber zur Bundesrepublik tradierte und insoweit ein vom politischen System entkoppeltes Phänomen zu sein scheint.23 Freilich gibt es auch neuere Trends. Angestellte von Parteien und Fraktionen zum Beispiel gelangen immer häufiger in den Bundestag. Politische Organisationen in ihrer Rolle als Arbeitgeber erhalten – heutzutage, und das ist das eigentlich Neue, nicht mehr nur in der SPD, sondern auch in den anderen Parteien – für die Abgeordnetenrekrutierung seit einiger Zeit ein zunehmend stärkeres Gewicht.24 Arbeiter hingegen sind im Vergleich zur Bevölkerungsstatistik im Bundestag eklatant unterrepräsentiert. Es ist also zu erwarten, dass bestimmte Berufe und Tätigkeitsfelder stärker für den Gang in die Politik prädestinieren. Einige Berufe werden von der Politik mehr angezogen als andere. Das Tätigkeitsprofil eines Berufs kann eine größere Politiknähe aufweisen als dies bei anderen der Fall ist. Es ist demzufolge die Politikaffinität einzelner Berufe und ihre Befähigung zum Seiteneinstieg zu überprüfen. Ebenso, wie zu fragen ist, ob diese Nähe des erlernten Berufs zur Politik, ob berufliche Fertigkeiten, Praxen und Erfahrungen Lehren bereit halten, die nach dem Seiteneinstieg dann zu Stabilität und Erfolg der politischen Karriere beitragen. Und wie verhält es sich mit gemeinhin als politikfern angenommenen Berufen: Ist mit einer solchen Qualifikation das Scheitern gewissermaßen vorprogrammiert oder können von dieser Impulse für einen gänzlich neuen Politikstil ausgehen?
Rolle der Medien Medien postulieren und suggerieren laufend eine anhaltende Politikerverdrossenheit der Bevölkerung und rufen nach neuem, unverbrauchtem Personal. Doch oft genug sind es gerade die Redakteure der vielgelesenen Tageszeitungen dieser Republik, die zuverlässig mit aggressiver Berichterstattung und stets skeptischem Blick die Seiteneinsteiger auf Schritt und Tritt verfolgen und keine Gelegenheit auslassen, einen möglicherweise noch so belanglosen Fauxpas zu nutzen, um den politischen Akteur spektakulär zu demontieren. Seiteneinsteiger scheitern nicht selten an ihrem dilettantischen Umgang mit den Medien. Zu 22 Vgl. Kintz, Melanie: Daten zur Berufsstruktur des 16. Deutschen Bundestages, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 37 (2006) H. 3, S. 461-470, hier S. 463. 23 Vgl. Patzelt 1999, S. 251 f. 24 Vgl. Kintz 2006, S. 466.
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den Anforderungen eines jeden Politikers – gleichgültig ob Amateur oder Profi – gehört es, sich im Umgang mit den Medien zu üben, ihre Funktionsmechanismen zu durchschauen und für eigene Zwecke instrumentalisieren zu können. Zunächst: Gibt es womöglich ein allgemeines Verlaufsmuster der Medienberichterstattung über politische Seiteneinsteiger? Zu Beginn der Furor des Einstiegs, gefolgt von der Entwicklung eines stetig steigenden Medieninteresses an Person und Konzept, dem Auftauchen erster Kritiker, Skeptiker und Querulanten, dem Einsetzen verschärfter Medienberichterstattung und schließlich zunehmender Demontage bis hin zum Scheitern im Rückzug aus der Politik? Das Verhältnis zwischen Politikern und Journalisten bezeichnet in der Regel einen informellen Deal aus dem Tausch Information gegen Publizität. Man muss den Wert und die Gefahr von Informationspreisgabe zielsicher antizipieren können. Erfahrene Politiker wissen um diesen Handel und seine Gepflogenheiten, kennen seine Vorteile und die Tücken, die er bereit hält. Wie kommen damit aber Seiteneinsteiger zurecht, die möglicherweise im direkten Umgang mit der Presse noch völlig unbedarft sind und das heikle Spiel zumindest nicht allzu virtuos beherrschen? Denn die Medien sind wichtig, sie sind ein beinahe eigenständiger politischer Akteur, der Karriereverläufen entscheidende Wendungen geben kann. Schlechte Presse kann einen Politiker zu einem ungünstigen Zeitpunkt karrieristisch durchaus ruinieren. Schließlich entnehmen die Wähler nahezu vollständig ihre Informationen für die Deutung des politischen Alltags aus Zeitungen, dem Fernsehen und Rundfunk. Die Gesamtheit der Medien konstituiert mithin einen für Akzeptanz und Popularität eines Politikers eminent wichtigen Kommunikationsraum, in dem man sich für eine dauerhafte Karrierestabilität einigermaßen zurecht finden sollte.25 Für Seiteneinsteiger ist die Wirkung der Medien ambivalent. Einerseits sind sie es, die den Ruf nach Seiteneinsteigern überhaupt erst anstimmen. Zumindest aber verstärken sie die Nachfrage nach ungewöhnlichen Kandidaten, indem sie über Werteverfall, Abgehobenheit und Kompetenzmängel der bestehenden politischen Klasse, lamentieren, die Politikverdrossenheit schüren und einen Elitenwechsel fordern. Ihre anfänglich zumeist euphorische Berichterstattung erleichtert Seiteneinsteigern nicht selten auch, das Eis bei den Parteiaktivisten zu brechen und die ersten politischen Karriereschritte erfolgreich zu bewältigen. Wie ja überhaupt mit der Stärkung der Medien eine Schwächung der Parteiautonomie korrespondiert und Parteien, indem sie ihr Handeln zunehmend auf die mediale Berichterstattung abstellen, auch bei der Personalrekrutierung sukzessive an Unabhängigkeit einbüßen. Eben das aber sollte – vergegenwärtigt man sich die Introvertiertheit erfolgsverwöhnter Parteien mit selbstbewussten Mitgliedschaften – Seiteneinsteigern den Einstieg erleichtern. Doch sind die Medien andererseits selbst Teil des politischen Komplexes, weshalb Journalisten für gewöhnlich zur politischen Klasse hinzugezählt werden. So scharf die Kritik aus den Redaktionsstuben an den politischen Parteien, an Abgeordneten und Regierenden immer ausfallen mag, Bundespolitiker und Hauptstadtjournalisten bevölkern dasselbe Stadtviertel, besuchen dieselben Bars und Restaurants und verbringen erst Recht einen Großteil ihres Arbeitstags miteinander. Beide Gruppen beschäftigen sich mit denselben Themen und führen ähnliche Diskussionen. Politiker und Journalisten teilen dadurch die 25 Vgl. Wagner, Jochen W.: Politische Elite unter Medieneinfluss: Politikerimages in der Mediengesellschaft – Eine strukturfunktionale Beschreibung, in: Gabriel/Neuss/Rüther (Hrsg.) 2004, S. 295-305, hier S. 297 ff.; WalterRogg 2004, S. 114.
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gleiche Problemsicht – abgesehen davon, dass sich bei der Vielzahl an Kontakten und Gesprächen natürlich auch Sympathien, Naheverhältnisse und Freundschaften herausbilden. Seiteneinsteigern dagegen ist diese Welt fremd. Sie bewegen sich in dem ungewohnten Umfeld von Berlin-Mitte zunächst ungelenk, weshalb auch die Medien – und nicht nur ihre erfahreneren, doch ihretwegen übergangenen Parteikollegen – alsbald mit ihnen fremdeln, über sie spotten, sie herunter zu schreiben beginnen. Gerade Seiteneinsteiger sehen sich daher bereits nach kurzer Zeit häufig regelrechten Medienkampagnen ausgesetzt. Die Medien gefährden Quereinsteiger erstens durch eine besonders scharfe Kritik. Und zweitens sind Seiteneinsteiger gegen ein negatives Presseecho aufgrund ihrer Newcomersituation und des Fehlens eines belastbaren innerparteilichen Rückhalts weit weniger gefeit. Als Politiker steht man zudem unter medialer Dauerbeobachtung der Öffentlichkeit. Dies führt nicht zuletzt dazu, dass man persönliche Angriffe wegstecken, beizeiten auch gekonnt parieren können muss. Unerlässlich scheint infolgedessen die Entwicklung einer öffentlichen Darstellungskompetenz zu sein. Man muss sich mit den Medien arrangieren, sich mit ihren Bedürfnissen, Tücken und Möglichkeiten ausgiebig vertraut machen, etwaige Fallstricke erkennen, auch (instinktsicher) vorauszuahnen lernen. Gefragt ist die Fähigkeit, politische Aktivität vorteilhaft zu inszenieren, die Sensationslust der Presse auszunutzen und sich über Schlagzeilen positiv in das Bewusstsein der Wähler zu manövrieren. Ziel ist die „Aufmerksamkeitsmaximierung“ unter Einsatz von „Dramatisierung, Erzählung, Unterhaltungsartistik, Personifikation, Mythologisierung, Ritualisierung“.26 Kurzum: Politiker sollten zum jeweiligen Mediensystem kompatibel sein.27 Allein die Bedeutung der Medien rückt die Frage in den Vordergrund, ob sich Seiteneinsteiger irgendwann auf die politikeigenen Reglements einlassen müssen und sich unter Aufgabe ihres Amateurismus zu professionalisieren haben.
Außenseiterstatus versus politische Professionalisierung Wollen Seiteneinsteiger ihr politisches Engagement nicht nur episodisch erleben, sondern einen langfristigen Verbleib in der Politik anstreben, sollten sie sich daher nach einer gewissen Eingewöhnungszeit Gedanken über eine Konsolidierungsstrategie zur Absicherung ihrer neuen Karriere machen. Denn sie können nicht darauf vertrauen, dass die Bedingungen ihres Einstiegs in die Politik – der Mentor, die Konjunktur ihrer Expertise etc. – dauerhaft gegeben sind. Und je länger man in der Politik tätig und je wichtiger die besetzte Position ist, desto weniger Zeit bleibt noch für außerpolitische Erwerbstätigkeit. Die mit der Ausübung eines Mandats oder Amts verbundene Intensität an persönlich betriebenem Aufwand resultiert in einer Entfremdung vom Herkunftsberuf. Die ernsthaft betriebene politische Tätigkeit kommt aus Gründen begrenzter Energien und Zeitkontingente einer Aufgabe des zuvor ausgeübten Berufs gleich, kann die Rückzugswege in private Arbeitsverhältnisse versperren.28 Schon deshalb scheint die Sicherung einer dauerhaften Politikkarriere für 26 Zitiert nach Wiesendahl, Elmar: Zum Tätigkeits- und Anforderungsprofil von Politikern, in: Brink, Stefan/Wolf, Heinrich A. (Hrsg.): Gemeinwohl und Verantwortung. Festschrift für Hans Herbert von Arnim zum 65. Geburtstag, Berlin 2004, S. 167-188, hier S. 184 f. 27 Vgl. Patzelt 1999, S. 268. 28 Vgl. ebd., S. 254 f.
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manche Seiteneinsteiger angebracht. Entfallen die Rückkehroptionen in politikexterne Tätigkeitsfelder, so erhöht sich die Notwendigkeit, Alternativen zu erschließen und innerhalb der Partei, zum Beispiel als Mitglied im Kreis- oder Bezirksvorstand, vorsorglich Auffangplattformen zu errichten und Refugien zu schaffen.29 Gemeinhin bezeichnet man dies als „vertikale Ämterkumulation“, ihre Anwender als Partei- oder Berufspolitiker.30 Daraus ergibt sich für einen Seiteneinsteiger die schwierige Frage, in welcher Richtung er seine politische Karriere fortführt. Ist es von Vorteil, sich allmählich den Gepflogenheiten des Politikbetriebs anzupassen, sich den Parteimentalitäten zu fügen, kurzum: sich zu assimilieren? Oder ist es letztlich doch besser, die Grundlage des bisherigen Erfolgs, das exotische Flair des Seiteneinsteigers mit all seiner Nonkonformität, dem unkonventionellen, daher erfrischenden Stil, beizubehalten? In dieser neuralgischen Entscheidungssituation bewegen sie sich in einem brisanten Spannungsfeld zwischen der Beibehaltung des außergewöhnlichen Seiteneinsteiger-Status und einer allmählichen, an die Norm angepassten Professionalisierung. Auf den ersten Blick scheint eine professionellere Ausrichtung keine schlechte, ja beinahe sogar eine notwendige Bedingung für langfristigen Erfolg zu sein. Der politische Alltag erfordert nämlich eine ganze Reihe von genuin politischen Fertigkeiten, die aus anderen gesellschaftlichen Orten stammende Seiteneinsteiger höchstwahrscheinlich nur sporadisch ihr Eigen nennen dürften. Da wäre neben der bloßen Fachkompetenz – die sich aus einem ausgeprägten Wissen über das Thema, eine tiefe Kenntnis der zu behandelnden Materie speist – die „Methodenkompetenz“ zu nennen, eine „prozedurale Expertise“, die einen zur Umsetzung seiner inhaltlichen Arbeit befähigt: etwa der Umgang mit Gremien, das Kennen von relevanten Entscheidungskanälen, die Berücksichtigung bestimmter Verfahrensregeln. Man muss für effektives politisches Handeln zum Experten von Konsensfindung und Kompromissbildung avancieren. Denn gerade die spezifisch bundesrepublikanische Konstellation unzähliger Vetospieler und Störfaktoren macht einen großen Kooperationsaufwand nötig und resultiert in langwierigen Entscheidungsprozessen.31 Es genügt nicht alleinig die Sachverständigenexpertise, man muss auch Mehrheiten organisieren und die Irrationalität politischer Konsensergebnisse akzeptieren können. Die Demokratie bringt es mit sich, dass Maßstäbe der Vernunft nur eingeschränkt gelten und für notwendig befundene Entscheidungen nicht unbedingt qua Amt und Autorität, sondern nur per Mehrheitsbeschluss zur Umsetzung gelangen. Entscheidungen können nicht einfach rational getroffen und effizient umgesetzt werden. Für viele Seiteneinsteiger wird es deshalb ungewohnt sein, viel Zeit und Energie für vergleichsweise unproduktive Tätigkeiten aufzuwenden. Dies kann enervieren, der anfängliche Enthusiasmus ob des politischen Abenteuers kann dann sehr schnell verfliegen und eine Zermürbung durch den politischen Alltag an dessen Stelle treten. Seiteneinsteiger müssen daher die eigentümlichen Logiken und Funktionsweisen der Institutionen, innerhalb derer sie agieren, erlernen und mit ihnen umzugehen wissen.32 Dazu zählt nicht zuletzt auch die Partei, von deren Unterstützung man in nicht geringem Maße abhängig ist. Es ist mehr als hilfreich, sich für die Befindlichkeiten der Parteifreunde 29
Vgl. Borchert, Jens/Stolz, Klaus: Die Bekämpfung der Unsicherheit: Politikerkarrieren und Karrierepolitik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Politische Vierteljahresschrift, Jg. 44 (2003) H. 2, S. 148-173, hier S. 164 f. 30 Vgl. hierzu ebd., S. 159 und S. 165 f.; Herzog 1990, S. 37. 31 Vgl. Schmidt, Manfred G.: Das politische System Deutschlands. Institutionen, Willensbildung und Politikfelder, München 2007, S. 184-191. 32 Vgl. Patzelt 1999, S. 248.
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zu sensibilisieren, wertvolle Insiderkenntnisse zu akkumulieren und potenzielle Gefahrenherde wittern zu lernen. Man sollte wissen, wann man die Toleranzgrenze der Partei überschreitet, seinen Kredit zu arg strapaziert. Und schließlich wird noch die Fähigkeit verlangt, soziale Kontakte und Netzwerkbeziehungen politisch nutzbar zu machen und in Wählerstimmen, in politische Unterstützung zu transformieren.33 Seiteneinsteiger haben als anfängliche Nichtpolitiker des Weiteren ganz originär mit Defiziten zu ringen. Die Verwurzelung in Wahlkreis und Partei ist für deutsche Politiker normativ von großer Bedeutung und wird für die Berufung in höhere Positionen fast schon als obligatorisch betrachtet.34 Für Seiteneinsteiger kann dies Akzeptanzprobleme unter ihren Kollegen bescheren, widerspricht ihr politischer Werdegang doch ganz krass dieser Karrierenorm. Ist eine Professionalisierung des politischen Handelns, so könnte man nun fragen, mit Blick auf die persönliche Verwundbarkeit als Seiteneinsteiger in die Politik am Ende womöglich unumgänglich? Ohne das Zertifikat der Ochsentour und ausgestattet mit dem privilegierten Status eines Protegés von Parteiautoritäten kann man als Newcomer schnell für Unmut bei blockierten Parteimitgliedern, die sich unter Umständen trotz Engagement und Disziplinerfüllung schon jahrelang erfolglos um eine politische Spitzenposition bemühen, sorgen. Als Neueinsteiger auf hoher Ebene brüskiert man durch Verletzung des meritokratischen Prinzips, man provoziert Widerstände etablierter Cliquen, die sich in ihrem Kompetenz- und Machtbereich durch den prominenten Seiteneinsteiger bedroht fühlen. Ausgebliebene Absicherung durch Parteiämter, Außenseiterstatus in der eigenen Faktion und nicht zuletzt die fehlende Verwurzelung an der Parteibasis können dann mitunter sehr schnell zum politischen Karriere-Exitus, zum Ausstieg aus der Politik führen. Und müssen sich Seiteneinsteiger nicht vielleicht auch konzeptionell erweitern, neue Themenfelder entdecken und für sich intellektuell in Beschlag nehmen? Jede Aktualität hat ihr Verfallsdatum, so auch die eines bestimmten Problems, zu dessen Lösung der Seiteneinsteiger ursprünglich engagiert worden ist. Für die Bearbeitung einer spezifischen Frage in die Politik geholte Seiteneinsteiger laufen nach Erledigung ihrer Aufgabe Gefahr, entwertet zu werden, sie verlieren ihren Reiz, ihre Funktion. Autistische Expertenkompetenz kann für ein dauerhaftes Wirken in der Politik möglicherweise dequalifizieren. Sich gegen Attacken aller Art zu behaupten, formelle wie informelle Spielregeln zu beherrschen, Gelegenheitsfenster ebenso wie Stolperfallen zu antizipieren und schließlich durch Charisma oder einem innovativen Konzept seinen politischen Marktwert hoch zu halten. Bedürfen die individuellen Alleinstellungsmerkmale eines Seiteneinsteigers – wie Authentizität, Themenkompetenz oder Charisma – also dringlich einer Ergänzung durch politikspezifische Fertigkeiten? All diese Punkte spielen in den Aspekt der politischen Professionalisierung mit hinein. Wenn man den genannten Eigenschaften irgendwann entsprechen sollte, ist man schon längst kein politischer Amateur, kein grünschnabliger Seiteneineinsteiger mehr. Und: Professionalität per se muss einen Seiteneinsteiger nicht zwangsläufig in der Bevölkerung diskreditieren. Empirisch lässt sich jedenfalls kein wirkungsvoller Zusammenhang zwischen Politikerverdrossenheit und Professionalität feststellen.35 Wie gehen Seiteneinsteiger mit diesem Zwiespalt von Alleinstellungsmerkmal und Notwendigkeit einer Anpassung um? Wann sollten sie welchen Weg einschlagen? Ist es für Seiteneinsteiger 33
Zu diesem Absatz vgl. Wiesendahl, in: Brink/Wolff (Hrsg.) 2004, S. 178-184. Vgl. Patzelt 1999, S. 260. 35 Vgl. Geißel 2006. 34
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fruchtbar, gar alternativlos, die Station ihres Politikeinstiegs und die unmittelbare Folgezeit als eine Metamorphose vom Polit-Amateur zum Polit-Profi zu nutzen? Es ist auch zu fragen, ob es nicht auch für Seiteneinsteiger partout unzugängliche bzw. untaugliche Ressorts, Aufgaben und Positionen gibt, bei denen sie in irreversibler Ermangelung des notwendigen Rüstzeugs langjähriger Politroutiniers zwangsläufig scheitern? Die Voraussetzungen ihres Erfolgs, die Ursachen ihres Scheiterns, auch die Folgen, die von Seiteneinsteigern für die politische Kultur ausgehen, nimmt sich dieser vierte Band der „Göttinger Studien zur Parteienforschung“ zum Gegenstand seiner Betrachtung. Dabei greift er auf die bewährte, in den Vorgängerbänden als Analysegrundlage verwendete Faktorentrias von Person, Institution und Umwelt zurück.36 Politisches Handeln, politische Führung mithin, findet diesem Verständnis nach in der Interaktion und Korrespondenz dieser drei Kategorien statt. Neben den Orten politischen Handelns und Führens, den Institutionen und Strukturen (zum Beispiel Parlament, Partei, Ministerium) kommt es auf die gesellschaftliche Sphäre – kulturelle und lebensweltliche Determinanten sowie ökonomische und politische Prozesse – an; sodann spielen Prägung, Charaktereigenschaften und biografische Erlebnisse der Person eine wichtige Rolle.
* Entstanden ist der vorliegende Band in der AG Parteien- und Politische Kulturforschung. Die produktive Atmosphäre, verlässliche Hilfsbereitschaft und der vitale Meinungsaustausch dort boten für die Arbeit ein ausgesprochen anregendes Klima. Das Kolloquium zur Parteienforschung mit seinen lebendigen Diskussionen und inspirierenden Gesprächen war uns eine ergiebige Quelle kritischer Anregung. Viel zum Gelingen der Fallstudien haben gewiss auch die Archive beigetragen, die den Autorinnen und Autoren Zugang zu reichhaltigem Material verschafft haben – ganz besonders möchten wir hier Peter Munkelt, Astrid Stroh und Natalie Raima danken. Eine unermessliche Hilfe bei der Manuskripterstellung war uns überdies Katharina Rahlf. Auch sind wir unserem Lektor Frank Schindler für seine unkomplizierte Zusammenarbeit dankbar. Unser größter Dank gebührt allerdings Franz Walter, der uns zu diesem Thema ermuntert, großzügige Freiräume gewährt und nicht zuletzt Geduld und Vertrauen entgegen gebracht hat.
36 Vgl. hierfür Forkmann, Daniela/Schlieben, Michael: „Politische Führung“ und Parteivorsitzende. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Die Parteivorsitzenden in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 2005, Wiesbaden 2005, S. 11-21; Forkmann, Daniela/Richter, Saskia: Wenn politische Führung scheitert. Eine Einleitung, in: dies. (Hrsg.): Gescheiterte Kanzlerkandidaten. Von Kurt Schumacher bis Edmund Stoiber, Wiesbaden 2007, S. 15-26.
Experten und Vordenker
Ralf Dahrendorf – Scheitern eines Experiments Matthias Micus
In mehrfacher Hinsicht erscheint Ralf Dahrendorf als Prototyp des (gescheiterten) Seiteneinsteigers: In einem politikfernen Beruf in höchste Ämter emporgeklettert, wechselte er vom Rang eines Ordinarius der Soziologie aus in die Politik. Hier wurde er zeitgleich mit seinem Parteieintritt zum Landtagskandidaten in einem aussichtsreichen Wahlkreis gekürt und wenige Wochen danach bereits in den FDP-Parteivorstand gewählt. Keine zwei Jahre später war er als Bundestagsabgeordneter und Parlamentarischer Staatssekretär an den bundespolitischen Schalthebeln angekommen. Doch bald schon demissionierte er von seinen Ämtern und zog sich, an der ministeriellen Alltagsroutine verzweifelnd, mit seinen realen Wirkungschancen hadernd, die hochfliegenden Erwartungen seiner Sympathisanten jäh enttäuschend, aus der nationalen Politik wieder zurück – zunächst als Europa-Kommissar, später dann als Direktor der „London School of Economics“ (LSE). Indessen lässt sich ähnlich plausibel argumentieren, dass Dahrendorfs Werdegang zu exzeptionell ist, um als Muster für andere zu taugen. Noch aus der Gruppe der „Seiteneinsteiger“ ragt sein Lebenslauf heraus, selbst im Vergleich mit anderen unkonventionellen politischen Karrieren sind die Vielfalt und Prominenz seiner Ämter, das Kometenhafte seines politischen Aufstieges ebenso wie die Rasanz des Absturzes außergewöhnlich. Doch dürfte es eben dieses Übermaß an biografischer Opulenz sein, an spektakulären Wendungen, dramatischen Brüchen, unerwarteten Anfängen und überraschenden Abschieden, das Dahrendorfs Politikerkarriere als Beispiel interessant macht. Wie in einem Brennglas bündeln sich bei ihm die allgemeinen Chancen und Schwierigkeiten von Seiteneinsteigern in die Politik. Sowohl im Hinblick auf die Vorschusslorbeeren, mit denen Seiteneinsteiger bei ihrem Wechsel in die Politik regelmäßig bedacht werden, als auch bezüglich der Enttäuschungen, die ihr tatsächliches Agieren dann ebenso verlässlich hervorruft, profiliert das Dahrendorfsche Exempel unklarere generelle Trends.
Wunsch nach Wirkung: Dahrendorfs Einstieg in die Politik „Homo politicus“ Als die Landtagskandidatur Dahrendorfs im Herbst 1967 bekanntgegeben und zeitgleich sein Eintritt in die FDP publik gemacht wurde, da war sein Wechsel von der Wissenschaft in die Politik selbst den Regionalzeitungen von Freiburg bis Flensburg eine Meldung wert, so sensationell mutete er offenkundig an. Vorausgesehen worden war der Schritt, als er ihn dann ging, jedenfalls nicht. Doch lassen familiäre Einflüsse, wissenschaftliches Selbstverständnis und praktische Erfahrungen seinen Seitenwechsel im Rückblick wenn schon nicht zwangsläufig, so doch folgerichtig erscheinen. Bereits durch seine Eltern war Dahrendorf vielfältigen direkten und indirekten politischen Einflüssen ausgesetzt. Sein Vater Gustav war ein hochrangiger sozialdemokratischer
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Funktionär, hatte in der Endphase der Weimarer Republik gar als Abgeordneter im Reichstag gesessen. In seiner Kindheit waren Theodor Haubach und Carlo Mierendorff, vor allem aber Julius Leber regelmäßige Besucher im elterlichen Haus. Die Eigenwelt der organisierten Arbeiterbewegung bewahrte ihre prägende Kraft durch private Kontakte, Erziehungsmethoden und Verhaltensmaßstäbe selbst in den Jahren des Nationalsozialismus. Politik spielte in der Familie auch nach dem Zweiten Weltkrieg eine wichtige Rolle, da Gustav Dahrendorf beim Wiederaufbau zunächst der ostzonalen, später der Hamburger SPD ein zentraler Part zukam – nachdem zuvor schon die Verurteilung des Vaters als Mitglied der Verschwörer des „20. Juli“ bei seinem erstgeborenen Sohn Ralf einen Politisierungsschub bewirkt hatte. Jedenfalls sollte Ralf Dahrendorf später stets mit Hochachtung von der sozialdemokratischen Kultur sprechen, die Welt seines Vaters gar als „Inbegriff des Guten in der deutschen Tradition“ betrachten und mit Verweis auf seine Kindheit wieder1 holt betonen, recht eigentlich und zuallererst ein „homo politicus“ zu sein. Auch Dahrendorfs Selbstverständnis als politischer Soziologe und seine Einschätzung des Faches als einer „eminent praktischen Disziplin“2 legten es nahe, irgendwann einmal selbst in die politische Akteursrolle zu schlüpfen. Diese wissenschaftliche Grundorientierung wurde noch gestützt und verstärkt durch einen generellen Trend in der Soziologie der 1960er Jahre. Gegenstand der neuen Soziologie waren konkrete gesellschaftliche Probleme. Ihr Analysefokus war die Gegenwart und ihr Ziel die rationale Gestaltung des demokratischen Zusammenlebens, der sie mit quantitativ-empirischen Methoden näherzukommen hoffte. Von dieser Vorstellung, dass soziologische Forschung Einfluss auf gesellschaftliche Prozesse habe, dass mithin Sozialwissenschaftler nicht politische Abstinenz üben sollten, ja politisches Engagement von ihnen geradezu gefordert sei, blieb auch Dahrendorf nicht unberührt. Bereits in der ersten Hälfte des Jahrzehnts exponierte er sich in politischen Debatten – eine Neigung, die durch seine Vielschreiberei und Leidenschaft für journalistisches Arbeiten begünstigt wurde. Nie zog er sich in den universitären Elfenbeinturm abstrakter Gelehrsamkeit zurück, stattdessen betonte er die moralisch-politische Verpflichtung seines Fachs und verband in seinen Büchern wissenschaftliche Analyse mit politischem Plädoyer.3 Schon insofern ist Dahrendorfs nachmaliger Entschluss, die Politik zum Beruf zu machen, als Abgeordneter zu arbeiten und noch etwas später als Parlamentarischer Staatssekretär ein Büro im Außenministerium zu beziehen, nicht gar so erstaunlich. Dieser Schritt hatte sich obendrein durch eine sukzessive Annäherung Dahrendorfs an die praktische Politik bereits seit Mitte der 1950er Jahre angekündigt, unmerklich zunächst, dann aber zunehmend deutlicher. Dahrendorf, seinerzeit Assistent an der Universität Saarbrücken, erwog im Jahre 1955 mit einigen Freunden die Möglichkeit, die durch die strikt nationalliberale DPS gerissene Lücke im Parteiensystem an der Saar zu schließen und eine pro-europäisch ausgerichtete 1 Vgl. Dahrendorf, Ralf: Über Grenzen. Lebenserinnerungen, München 2002; Hinderer, Walter: Ein Aufklärer mit idealistischen Neigungen, in: Sonntagsblatt, 03.09.1967; im Gespräch mit dem Verfasser sagt Dahrendorf, „das Leben nach der Mitte der 1960er Jahre entspricht meinem Hintergrund und ist eigentlich ein politisches Leben gewesen“; Interview mit Ralf Dahrendorf am 05.08.2007 in Köln. 2 Allemann, Fritz René: Vom Unheilspropheten zum Retter?, in: Die Tat, 30.01.1968. 3 Vgl. Dahrendorf, Ralf: Eine neue Politik, in: Neue Rhein Zeitung, 30.09.1964; ders.: Die drei gefährlichen Gewißheiten der modernen Gesellschaft, in: Neue Zürcher Zeitung, 27.03.1967; Nellessen, Bernd: Ralf Dahrendorf: neuer FDP-Star, in: Die Welt, 09.01.1968.
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liberale Partei zu gründen. Doch verblieb dieses Projekt noch im diffusen Stadium einer „fixen Idee“4. Dahrendorfs Kandidatur für den Tübinger Gemeinderat im Jahr 1962 auf einer Liste der FDP besaß hingegen bereits eine andere Qualität. Zwar ist unklar, wie stark er sich mit der Partei identifizierte, ja ob er ihr zu dem Zeitpunkt überhaupt schon nahe stand.5 Doch zeitigte sein politisches Interesse jetzt zum ersten Mal Konsequenzen. Erstmals überwand er die Schwelle zum aktiven politischen Engagement und bestritt den ersten Wahlkampf seines Lebens.6
Prägekraft der 1960er Jahre Und schließlich begünstigte auch der Zeitgeist den Seiteneinstieg des prominenten Soziologen in die Politik. Die 1960er Jahre waren ein Jahrzehnt des Planbarkeitsglaubens. Vor dem Hintergrund stetigen Wirtschaftswachstums setzte sich die Gewissheit durch, Fortschritt sei machbar und die Zukunft ließe sich gestalten. Dieses Ziel aber setzte, wie Gabriele Metzler jüngst hervorhob, mehr voraus als die schlichte Überzeugung, die Folgen menschlicher Interventionen ließen sich exakt vorausberechnen. Man brauchte auch Instrumentarien und Kriterien, um diese Aufgaben zu erkennen und zu lösen.7 Allgemein implizierte die Forderung nach politischer Planung daher eine Verbindung von Wissenschaft und Politik, konkreter: die Berücksichtigung wissenschaftlicher Methodik und Erkenntnisse in politischen Entscheidungsverfahren. Es ist insofern kein Zufall, dass in den 1960er Jahren die wissenschaftliche Politikberatung einen ausgesprochenen Boom erlebte, politikbegleitende Expertengremien wie Pilze aus dem Boden schossen und sich zum Ende des Jahrzehnts zahlreiche Professoren als Abgeordnete, Staatssekretäre und Minister in der Politik tummelten.8 Was die Wissenschaft allgemein betraf, galt für die Soziologie im Speziellen. Als Gesellschaftswissenschaftlern kam den Soziologen eine besondere Bedeutung zu. Denn wenn man gesellschaftlichen Wandel beeinflussen können wollte, dann durfte sich die Gesellschaft nicht zufällig und unkontrolliert verändern, dann musste man vielmehr die Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung kennen. Hieraus resultierte das damalige Interesse der Politik an der Soziologie, die Expansion der Soziologie-Lehrstühle in jenen Jahren und der Aufstieg des Faches zur wissenschaftlichen Leitdisziplin. Zudem waren die 1960er Jahre ein Jahrzehnt der Reformen und des Wandels. Eine nachrückende Generation verschaffte sich jetzt mit aller Macht Platz und begann, die bundesrepublikanische Gründergeneration aus ihren Positionen zu verdrängen. Über den schlichten Austausch von Personal hinaus veränderten sich dadurch auch Umgangsstile, Denkweisen und kulturelle Praktiken.9 Statt auf dem traditionellen „Pathos der Entscheidung“ basierte Politik nun verstärkt auf Diskussion, Gesprächen, Kommunikation; pluralis4
Interview mit Dahrendorf am 05.08.2007 in Köln. Im Gespräch mit dem Verfasser jedenfalls deutet Dahrendorf an, dass ihm Anfang der 1960er Jahre die FDP „nicht besonders nah“ gestanden habe. Das hätte sich erst mit der Großen Koalition geändert, als in den Jahren 1966 ff.; Interview mit Dahrendorf am 05.08.2007 in Köln. 6 Vgl. ebd. 7 Vgl. Metzler, Gabriele: Am Ende aller Krisen? Politisches Denken und Handeln in der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Historische Zeitschrift, Bd. 275/2002, S. 57-103, hier S.73 f. 8 Vgl. Wadehn, Georg: Professoren in der Politik, in: Vorwärts, H. 3/1968. 9 Vgl. Herbert, Ulrich: Deutsche Eliten nach Hitler, in: Mittelweg 36, H. 3/1999, S. 80. 5
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tische Interessenvielfalt wurde zunehmend akzeptiert. Konflikte galten auch als Chance, Erwartungen eines Zustands prästabilierter Harmonie dagegen nicht mehr als realistisch. Die Leitworte des Jahrzehnts– Reform, Konflikt und Partizipation – waren aber auch die zentralen Axiome im wissenschaftlichen Werk von Dahrendorf. Der Professor war mithin zweifellos ein Kind des Geistes der 1960er Jahre. Seine wissenschaftlichen Arbeiten und journalistischen Wortmeldungen sollten in dem Beharren auf individueller Freiheit und Selbstbestimmung, gesellschaftlicher Offenheit zum Wandel und Mehrung von Teilhabechancen zeitlebens eben diese Dekade reflektieren. In dieser Zeit übte er den größten Einfluss aus und legte die Grundlagen seines Denkens. Auch die Thesen, mit denen er erst viel später hervortreten sollte, wurden bereits damals entwickelt – bis hin zum „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“.10 Wenig verwunderlich daher, dass auch Dahrendorfs Liberalismus-Verständnis durch die 1960er Jahre geprägt ist, deren Kennzeichen die Forderung nach einer „dynamischen Synthese [...] von Distanz und Zugehörigkeit, Entfremdung und Teilnahme, Kritik und Zustimmung“11 waren. Diese beiden Elemente waren das Signum der liberal-sozialdemokratischen Öffentlichkeit – und in eben diesem Sinne war auch Dahrendorf ein Liberaler beziehungsweise Sozialliberaler.
Dahrendorfs Weg in die FDP Dennoch führte ihn die so verstandene Liberalität nicht sofort zur FDP. Anfangs jedenfalls hatte er durchaus der SPD nahe gestanden. Ihr war er 1947 mit achtzehn Jahren beigetreten, gleichsam Ausfluss der familiären Sozialisation im Allgemeinen, des väterlichen Einflusses im Besonderen. Im Fahrwasser der Sozialdemokraten blieb er lange, deutlich länger jedenfalls als es die Geschichte um vergebliche Kontaktversuche des Parteikassierers während seines zweijährigen Aufenthalts in England suggeriert, nach der er wegen unbezahlter Beiträge still und leise irgendwann zwischen 1952 und 1953 von der Mitgliederliste gestrichen worden sei. Auch seine Rede auf dem SPD-Kongress „Junge Generation und Macht“ im Jahr 1960 markierte im Unterschied zu einer verbreiteten Deutung nicht den Bruch zwischen Dahrendorf und den Sozialdemokraten. Wohl begrüßte Ollenhauer ihn ausdrücklich als Nicht-Mitglied, Dahrendorfs Aufforderung an die SPD aber, sich zur „großen liberalen Partei zu entwickeln“12, ist eher Ausdruck seiner Hoffnungen, die er zu dem Zeitpunkt in die deutsche Sozialdemokratie setzte, als Zeichen eines Präferenzwechsels in Richtung FDP. Denn „liberal“ im Sinne einer grundsätzlichen liberalen Position war er spätestens seit den frühen 1950er Jahren durch die Erfahrungen in England – präzise: die Studien an der LSE und namentlich den Einfluss Karl Poppers. Doch machte sich seine Liberalität eben noch nicht an einer bestimmten Partei fest. Und wenn, dann richteten sich seine diesbezüglichen Hoffnungen 1960 noch eher auf die SPD als auf die Freidemokraten. Kein Zufall war es daher, dass er 1961 zum erweiterten Beraterstab Willy Brandts gehörte und den Kanzlerkandidaten der SPD im Wahlkampf unterstützte. Zwar ärgerte Dahrendorf an Brandt, dass der sich seinen ehrenamtlichen Wahlhelfern kein einziges Mal 10 Bereits 1968 erkannte Dahrendorf bei der SPD die „Erschöpfungssituation einer politischen Entwicklung“. Bereits damals meinte er, dass die Grundforderungen des Demokratischen Sozialismus in der Bundesrepublik erfüllt seien; vgl. hierzu Erdmann, Werner: „Wortführer der Zukurzgekommenen“, in: Die Welt, 26.07.1968. 11 Dahrendorf, Ralf: Gesellschaft und Demokratie, München 1967, S. 318. 12 Ders.: Über Grenzen. Lebenserinnerungen, Frankfurt am Main 2004, S. 119.
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zeigte, doch ließ er sich 1963 abermals für die SPD einspannen, diesmal als Teilnehmer am „Gesprächskreis Wissenschaft und Politik“, in dem führende Sozialdemokraten mit ausgesuchten Wissenschaftlern zusammenkamen und sich mit diesen über politische Zukunftsfragen austauschten. Noch im darauffolgenden Jahr, 1964, gab ihn die SPD zusammen mit einigen anderen Intellektuellen als parteinahen Wissenschaftler an – das freilich war mit ihm diesmal nicht abgesprochen gewesen, entsprach vielleicht auch nicht mehr seiner politischen Einstellung und wurde jedenfalls von ihm dementiert.13 Mittlerweile nämlich besaß Dahrendorf – seit 1961 Ordinarius in Tübingen – gute Kontakte auch zur CDU. Wer in den 1960er Jahren in Baden-Württemberg als Wissenschaftler aus der Universität heraus politischen Einfluss auszuüben anstrebte, ohne gleich den radikalen Schnitt riskieren und professionell in die Politik einsteigen zu wollen, der kam an den Christdemokraten kaum vorbei. Die CDU stellte den Ministerpräsidenten und den Großteil der Minister, auch den Kultusminister – und genau hier, rund um die Staatskanzlei und die Ministerien, entstanden die neuen Planungsstäbe und Beraterkreise, in denen die Politik den Rat von Experten suchte. Dahrendorf nun war, wie viele Hochbegabte, zwar durchaus selbstbewusst, suchte stets aber auch nach Anerkennung, Würdigung, Lob. Es schmeichelte ihm, wenn andere ihn brauchten und auf seinen Sachverstand angewiesen waren – auch daraus erklären sich seine vielfältigen Aktivitäten, seine häufigen Ortswechsel und beruflichen Neuanfänge. Wenn Dahrendorf gerufen wurde, sagte er ungern nein. Und in Baden-Württemberg rief nun einmal am lautesten die CDU. Kurzum: Als Tübinger Professor mit Schwerpunkt in der Bildungsforschung geriet Dahrendorf ab spätestens 1964 in das Fahrwasser der CDU. Im „Beirat für Bildungsplanung“ des Kultusministers Wilhelm Hahn beteiligte er sich an der Ausarbeitung eines „Hochschulgesamtplanes für Baden-Württemberg“, den er maßgeblich in der Öffentlichkeit vertrat, weshalb er in den Medien bald nur noch als „Dahrendorf-Plan“ firmierte. Und als 1965/66 die Planungen zur Gründung einer Modell-Universität in Konstanz konkrete Formen annahmen, war Dahrendorf auch hier an führender Stelle an der Konzeption beteiligt. Das Konstanzer Universitäts-Projekt freilich wäre nicht realisiert worden, wenn Kurt Georg Kiesinger sich nicht massiv dafür eingesetzt hätte. Überhaupt ist die Rolle des damaligen baden-württembergischen Ministerpräsidenten für Dahrendorfs Annäherung an die CDU kaum zu überschätzen. Kiesinger war in jenen Jahren ein reformfreudiger Ministerpräsident und speziell bildungs- bzw. hochschulpolitischen Fragen gegenüber aufgeschlossen. Vor allem aber: Er ließ den aufstrebenden Soziologen an der „Aura der Macht“ teilhaben, indem er ihn in seinen Beraterstab der – wie es hieß – „best an the brightest“ aufnahm; er adelte die Gedanken des jungen Professors, als er seine Regierungserklärung 1964 im bildungspolitischen Teil weitgehend an dessen Tübinger Immatrikulationsrede im selben Jahr anlehnte; und er bekundete seine Hochachtung, wenn er ihn zum entspannten Plausch bei Wein in seinen Amtssitz, die Villa Reitzenstein, einlud. Dahrendorf genoss dies und meinte zeitweise bei der CDU, personifiziert durch Kiesinger, gefunden zu haben, was er zuvor bei der SPD gesucht hatte, bei der FDP aber offensichtlich noch nicht zuallererst vermutete: Liberalität. Doch was bewirkte dann im Verlauf des Jahres 1967 seinen Schwenk hin zur FDP, warum setzte er jetzt plötzlich auf die Liberalen und trat gerade in diese Partei Ende Okto13 Vgl. ebd., S.120 f.; Metzler, Gabriele: Konzeptionen politischen Handelns von Adenauer bis Brandt, Politische Planung in der pluralistischen Gesellschaft, Paderborn u.a. 2005, S.193 f.; Schwarz, Karl. H.: Dahrendorf – ein „Wunderdoktor“?, in: Welt am Sonntag, 04.02.1968
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ber 1967 ein? Viel deutet darauf hin, dass Dahrendorfs parteipolitischer Farbwechsel mit den Studentenprotesten zusammenhing. Seit dem Juni 1967 und dem Tod Benno Ohnesorgs hatten sich die Fronten zwischen Regierenden und außerparlamentarischer Opposition verhärtet. Es spielte sich auf gesamtgesellschaftlicher Ebene damals ab, was im kleinen Maßstab aus alltäglichen Diskussionen wohlbekannt ist: je schroffer die wechselseitige Kritik ausfiel, desto unzugänglicher wurden beide Seiten für Gegenargumente, desto stärker schwand auch die Fähigkeit zur Selbstkritik – mit der Folge, dass sich schließlich Regierende wie Studenten auf die eigenen Konfliktwahrnehmungen versteiften und sich unfähig zeigten, aufeinander zuzugehen. In dieser Situation erwiesen sich für Dahrendorf die Regierungspartner der Großen Koalition als verkrustet und immobil.14 Er stand also bis zu einem gewissen Grad zwischen den Fronten, neigte aber letztlich doch eher den aufmüpfigen Jugendlichen zu. Wenn er auch die Forderungen der Protestierenden nicht durchweg teilte, ihre Dogmatik gar entschieden ablehnte, so blieb für ihn doch die Möglichkeit zur kritischen Infragestellung des Bestehenden ein elementares Recht und zentrales Merkmal der „offenen Gesellschaft“.
Spekulationen auf eine liberale Volkspartei Die Partei der Jugend aber war in diesen Monaten am ehesten noch die FDP. Das hing nicht etwa mit Sympathien der kritischen Studenten für das Führungspersonal oder die Programmatik zusammen, besagte auch nichts über inhaltliche Positionen, dagegen viel über die Stellung der Liberalen im Parteiensystem während der Großen Koalition. Das Verbindende bestand in erster Linie in der gemeinsamen Oppositionsstellung und der parlamentarischen Bedeutungslosigkeit der einen wie der anderen. Die Außerparlamentarische Opposition (APO) und die Freidemokraten waren Leidensgenossen in großkoalitionären Zeiten, nicht zuletzt deshalb solidarisierte sich die APO mit der FDP in der Auseinandersetzung um das Mehrheitswahlrecht, das für sie darüber hinaus den generellen Verdacht gegenüber den Regierenden erhärtete, jede Form von Opposition unmöglich zu machen und bei Bedarf zu unterdrücken.15 Eng mit dieser Oppositionsgemeinschaft von FDP und APO hing ein anderer Aspekt zusammen, der für Dahrendorf ebenfalls nicht ganz unwichtig gewesen sein dürfte. Die Sympathien des studentischen Jungbürgertums zogen die FDP aus dem Tal. Die Unterstützung der Studenten nahm ihr die Angst, durch den Machtverlust in Bonn und die geplante Wahlrechtsänderung vor dem politischen Aus zu stehen. Im Gegenteil schien jetzt sogar möglich, zur Partei des neuen, fortschrittlichen Bürgertums zu werden, als solche der Union ihren hegemonialen Platz im bürgerlichen Lager streitig zu machen und auf Augenhöhe mit den Volksparteien zu kommen. Diese Perspektive war für Dahrendorf bedeutsam, weil er stets beides wollte: „Eine liberale Position durchhalten – und wenn schon Partei, dann bitte eine Volkspartei“16. Die FDP/DVP in Baden-Württemberg kam diesen Vorstellungen im Übrigen weiter entgegen als jeder andere FDP-Landesverband. Die Region war ein klassisches Stammland 14 Vgl. Frank-Planitz, Ulrich/Hoffmann, Jens: Entwicklungshilfe für die Demokratie, in: Christ und Welt, 10.11.1967. 15 Vgl. Baring, Arnulf: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Berlin 1998, S. 113. 16 Interview mit Dahrendorf am 05.08.2007 in Köln.
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der Liberalen, die sich hier durch eben jene Volksnähe auszeichneten, die ihnen anderswo abging. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die dortige FDP/DVP mit Reinhold Maier den ersten und bisher einzigen liberalen Ministerpräsidenten gestellt, und bei Wahlen war sie auch in den 1960er Jahren noch erfolgsverwöhnt, so 1965, als sie im Rahmen der Bundestagswahl mit 13,1 Prozent im Landesdurchschnitt das beste Ergebnis aller FDPLandesverbände erzielte.17 Dahrendorf hat dies den Schritt in die FDP zweifellos erleichtert. Denn: Als er im Spätherbst 1967 der FDP beitrat, tat er dies in einem Moment und einem regionalen Umfeld, in dem die Hoffnungen auf eine erfolgreichere Zukunft der Partei wohl überaus ambitioniert, vielleicht auch vermessen, jedenfalls aber nicht vollkommen verrückt klangen. Denn natürlich: Karriere zu machen, im Rampenlicht zu stehen war Dahrendorf wichtig. Wie sonst wäre die Aussage, dass er in die Politik gegangen sei, weil „ich dem Temperament nach keine graue Eminenz [bin]“18, zu verstehen? Die Parteistrukturen der FDP kamen diesen Absichten entgegen, ermöglichen doch Kleinparteien ein schnelles Fortkommen sehr viel eher als mitgliederstarke Volksparteien, die vielfältige Interessendivergenzen in ihrer Anhängerschaft durch komplizierte Proporze auszutarieren und erheblich zahlreichere Ämteransprüche altgedienter Mitglieder zu befriedigen haben. Auch der genaue Zeitpunkt seiner Entscheidung für die FDP legt den Verdacht einer karriereorientierten Motivation nahe. Seinen Parteibeitritt erklärte er, nachdem ihm ein aussichtsreicher Landtagswahlkreis angetragen und ihm als Nachfolger des renommierten Kulturpolitikers Walter Erbe eine gewichtige Rolle in Aussicht gestellt worden war.19
„Ich habe mich hochgeredet“: Dahrendorfs politischer Aufstieg Chancen der Krise Wenig überzeugend sind dagegen Dahrendorfs eigene Begründungen für den Parteibeitritt. Sie dramatisieren seinen Schritt entweder, etwa wenn er behauptet, vor der Alternative gestanden zu haben, sich politisch einzumischen oder zu emigrieren. Kaum denkbar jedenfalls, dass eine Republik, mit deren Bundeskanzler er vertraut war und deren beiden Regierungsparteien er noch kurz zuvor nahe gestanden hatte, ihm tatsächlich derart bedrohlich erschienen wäre.20 Oder sie sind nur schwer mit der politischen Realität in Einklang zu bringen. Das Argument, eine einschränkungslos liberale, also „radikal-liberale“ Position in den Volksparteien nicht durchsetzen zu können und deshalb weder in CDU noch SPD eintreten zu wollen, leuchtet noch ein. Die Schlussfolgerung, stattdessen in die FDP einzutreten, da hier die reine Lehre eher zu vertreten sei, wirkt dagegen befremdlich.21 War doch
17 Vgl. Eith, Ulrich: Wählerverhalten in Baden-Württemberg, in: Eilfort, Michael (Hrsg.): Parteien in BadenWürttemberg, Stuttgart 2004, S. 219-229, hier S. 222; Adam, Uwe Dietrich: Politischer Liberalismus im deutschen Südwesten von 1945-1978, in: Rothmund, Paul/Wiehn, Erhard R. (Hrsg.): Die FDP/DVP in Baden-Württemberg und ihre Geschichte, Stuttgart u.a. 1979, S. 220-253, hier S. 227. 18 Zitiert nach o.V.: Professor Dahrendorfs politische Wahl, in: Handelsblatt, 02.11.1967. 19 Vgl. o.V.: FDP: Vieles Unheimlich, in: Der Spiegel, 15.01.1968. 20 Vgl. Jungermann, W.: „Radikale Freiheit“?, in: Ruhr-Nachrichten, 01.11.1967. 21 Vgl. Frank-Planitz, Ulrich/Hoffmann, Jens: Entwicklungshilfe für die Demokratie, in: Christ und Welt, 10.11.1967.
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keine Partei gegen Ende der 1960er Jahre innerlich derart zerstritten, gespalten und politisch-strategisch uneins wie die Liberalen. Behindert haben die parteiinternen Konflikte Dahrendorfs Aufstieg freilich nicht. Vielmehr dürften gerade die Führungsstreitigkeiten und Zukunftssorgen der FDP sowie ihre Suche nach Orientierung in einem veränderten Parteiumfeld sein politisches Avancement sogar befördert haben. Für einen ehrgeizigen Seiteneinsteiger waren das nachgerade optimale Bedingungen. Die Lage der Liberalen jedenfalls war bedrohlich. Zum einen befanden sie sich seit 1966 in der Opposition. Schon dies stellte die Freidemokraten vor Probleme, da wirtschaftsnahe Kreise – auf deren Gelder sie aufgrund ihrer niedrigen Mitgliederzahl besonders angewiesen waren – durch Spenden politische Entscheidungen zu beeinflussen versuchen und daher Regierungsparteien vorzugsweise begünstigen. Zudem entstammte die FDP-Kernanhängerschaft Mitte der 1960er Jahre weit überproportional dem sogenannten alten Mittelstand, den Gruppen der Selbstständigen, Freiberufler und auch Landwirte.22 Dieser Klientel stand die Regierungsrolle habituell näher, sie sahen sich selbst als die Leistungsträger der Gesellschaft, waren im Alltagsleben gewohnt, eigenverantwortlich zu entscheiden – und goutierten die parlamentarische Kritikerrolle infolgedessen nicht. Zum anderen sah sich die FDP zahlenmäßig mit fünfzig Abgeordneten als „MiniaturOpposition“ einer enormen Übermacht von 468 Mitgliedern der Regierungsfraktionen gegenüber. Eine solch geringe Anzahl an Parlamentariern vermochte schon physisch zwischen 1966 und 1969 unmöglich zu leisten, womit in der Legislaturperiode zuvor annähernd viermal so viele Sozialdemokraten beschäftigt gewesen waren und was funktionalistische Demokratietheorien der Opposition als Aufgabe zuschrieben: die Regierung effektiv zu kontrollieren, wirksam zu kritisieren und darüber hinaus außerdem durchdachte Alternativen anzubieten. Gravierender noch aber war, dass die Partner der Großen Koalition eine Wahlrechtsänderung verabredet hatten, durch die in Deutschland ein Mehrheitswahlrecht eingeführt und faktisch ein Zweiparteiensystem etabliert worden wäre. Für die Liberalen, die 1957 zuletzt einen Wahlkreis direkt gewonnen hatten, wäre diese Reform dem Untergang gleichgekommen. Zumal die FDP elektoral von ihrer Oppositionsrolle und dem verbreiteten Unbehagen über eine numerisch derart überlegene, unangreifbar scheinende Regierungskoalition nicht profitieren konnte. Bei den Landtagswahlen verlor sie nach dem Auseinanderbrechen des Bündnisses mit den Unionsparteien ein knappes Jahr lang ohne Ausnahme. Rudolf Wildenmann kam 1967 zu dem Ergebnis, die Identifikation der Wähler mit der FDP sei seit 1965 „schwächer und gleichzeitig negativ entschiedener“ und die Liberalen „zusehends als Identifikationsgröße uninteressanter“ geworden.23 In dieser Situation verschärften sich die Flügelkämpfe in der FDP erneut. Schon wurde wieder eine Spaltung der Partei für möglich gehalten, befördert durch diametral entgegengesetzte Liberalismusverständnisse in traditionell liberaldemokratischen und nationalliberalen Landesverbänden und begünstigt durch eine organisatorisch schwache, zur Integration widerstreitender Richtungen nur begrenzt fähige Bundespartei.24 Die Parteiführung war zunehmend umstritten, das etablierte Personal ob der Misere ratlos. 22 Vgl. Dittberner, Jürgen: Freie Demokratische Partei, in: Stöss, Richard (Hrsg.): Parteien-Handbuch, Band 2, Opladen 1984, S. 1311-1381, hier S. 1374. 23 Zitiert nach Zülch, Rüdiger: Die dritte Partei im Kräftefeld des Koalitionssystems. Von der FDP zur F.D.P., Köln 1971, S. 33. 24 Vgl. Lösche, Peter/Walter, Franz: Die FDP. Richtungsstreit und Zukunftszweifel, Darmstadt 1996, S. 66.
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All dies aber – Oppositionsrolle, Stimmungstief und Zukunftszweifel – kam Dahrendorf entgegen. In dieser Situation konnte er sich als Mutmacher einer entmutigten Basis inszenieren und Parteitage mit dem Anspruch begeistern, nicht nur Koalitionspartner sein zu wollen, sondern „dieses Land zu regieren“25. Gegen die Umfragebaisse propagierte er sein Bild der FDP – das Bild einer „Partei der Unruhe“, eines Sprachrohrs aller Unzufriedenen, kurz: einer Volkspartei jenes großen Teils der Bevölkerung, der Ende der 1960er Jahre mit der Großen Koalition haderte, den als abgehoben empfundenen Parteien distanziert gegenüberstand und darüber das Vertrauen in die Politik insgesamt zu verlieren schien.26 „Der Zeitpunkt“, kommentierte Dahrendorf Anfang 1968 treffend seinen Einstieg, „ist günstig, weil er traurig ist“27. Freilich: Als hellsichtiger Analytiker spürte er seit dem Herbst 1967, dass die FDP ihre Krise allmählich überwand, so dass er mit seinem Beitritt nicht auf ein schon verlorenes Spiel setzte. Schließlich zeichnete sich damals schon ab, dass die Sozialdemokraten die Wahlrechtsänderung verschleppten, weil Prognosen zufolge CDU und CSU die Hauptnutznießer der Reform gewesen wären. Ferner begannen die Liberalen nun von der bundesdeutschen Protestbewegung zu profitierten und konnten – wie Bremen im Oktober gezeigt hatte – auch bei Landtagswahlen wieder zulegen. Doch vorherrschend waren solche Einschätzungen seinerzeit nicht, kennzeichnend für die FDP-Anhänger waren vielmehr Gefühle der Ratlosigkeit. Und eben jene Stimmung machte sich Dahrendorf für seinen Aufstieg gekonnt zunutze. Den innerparteilichen Konfliktverläufen in der FDP ist zu einem Gutteil auch zuzuschreiben, dass Dahrendorf alsbald nach seinem Parteibeitritt dem linken Parteiflügel zugerechnet wurde. In der seit dem Hannoveraner Parteitag im April 1967 Frontstellung zwischen Gegnern und Unterstützern des damaligen Parteivorsitzenden reduzierten sich die Wahlmöglichkeiten für Partei-Liberale auf die Alternative pro und contra Erich Mende. Wer für Mende war, zählte zugleich zum nationalliberalen Flügel; seine Gegner firmierten pauschal als Reformer, Progressive oder Linksliberale. Mende nun galt als Exponent des freidemokratischen Bürgerblockdenkens. In seinen Augen war die FDP eine bürgerliche Partei, deren Platz im bundesdeutschen Parteiensystem auf den Regierungsbänken und hier wiederum notwendig an der Seite der Union war, wo sie die Rolle eines „liberal-konservativen Korrektivs der CDU/CSU“28 zu spielen hatte. Dahrendorf hingegen verlangte seit seinem Politikeinstieg landauf, landab nach einer programmatischen Selbstverständigung als Grundlage jeden politischen Handelns. Koalitionsvereinbarungen sollten auf sachlichen Erwägungen beruhen, darauf also, mit welchem Partner ein Maximum an freidemokratischen Inhalten würde umgesetzt werden können. Seinen eigenen Standort beschrieb er in dieser Zeit als „bewusst oppositionelle Position“29, der Gedanke an eine Regeneration der Partei auf den Oppositionsbänken erschien ihm in den Anfangsmonaten seiner Politikkarriere als durchaus reizvoll. Damit und mit seinen hochfliegende Visionen von einer kraftvollen dritten „Volkspartei“ differierte er von Mende. 25
Zitiert nach Pfau, Fritz D.: Eine rote Nelke macht die Liberalen munter, in: Allgemeine Zeitung, 31.01.1968 Vgl. Dahrendorf, Ralf: Politik der Liberalität statt Bündnis der Unbeweglichkeit. Rede zum 19. Bundesparteitag der Freien Demokraten in Freiburg am 30.01.1968, Bonn 1968. 27 Zitiert nach Sittner, Gernot: „Der Zeitpunkt ist günstig, weil er traurig ist“, in: Süddeutsche Zeitung, 20.01.1968. 28 Kaack, Heino: Zur Geschichte und Programmatik der Freien Demokratischen Partei. Grundriß und Materialien, Meisenheim am Glan 1976, S. 26. 29 Zitiert nach Nellessen, Bernd: Ralf Dahrendorf: neuer FDP-Star, in: Die Welt, 09.01.1968. 26
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Vor allem aber: Im Zusammenhang mit seinem Parteiverständnis stellte sich für Dahrendorf die Koalitionsfrage anders als für die Mende-Gruppe. Denn insofern er die FDP als Volkspartei konzipierte, durfte sie ein Anhängsel an die Unionsparteien nicht mehr sein; vielmehr. näherte er sie der SPD an. Aus der Einstellung zu freidemokratischen Bündnisoptionen wurde die generelle Verortung in der innerparteilichen Auseinandersetzung abgelesen, da für die öffentliche Meinung ebenso wie für führende liberale Politiker ein enger Zusammenhang „zwischen Koalitionspräferenz, Verteilung von Führungspositionen und programmatischer Richtungstendenz“30 bestand – und insofern war auch Dahrendorf ein Linksliberaler.
Erfolg aus eigener Kraft Gebraucht hat er die Unterstützung durch eine innerparteiliche Fraktion dagegen nicht. Auch von einem mächtigen Parteiführer musste er nicht protegiert werden, um in der Politik aufzusteigen. Dahrendorf war sich selbst genug, Erfolg hatte er aus eigener Kraft. Als frischgebackenes Mitglied hielt er keine drei Monate nach seinem Parteieintritt auf dem Landesparteitag der baden-württembergischen FDP, der traditionell am Dreikönigstag Anfang Januar in Stuttgart abgehalten wird, das Hauptreferat – und stellte damit alle anderen Wortbeiträge und die gesamte Parteiprominenz in den Schatten. Mit einer einzigen Rede avancierte Dahrendorf zum neuen Star der südwestdeutschen Liberalen. Delegierte und Medien waren sich nachher einig, dass Dahrendorf der Zusammenkunft „seinen Stempel aufgedrückt“, dass er „Herz und Verstand der Delegierten im Sturm“ erobert habe und das Dreikönigstreffen durch die Resonanz auf Dahrendorfs Vortrag zum „(Ein-)Königstreffen“ umfunktioniert worden sei.31 Dieser Auftritt war keine Eintagsfliege. Was ihm Anfang Januar 1968 in BadenWürttemberg gelungen war, wiederholte er bereits Ende desselben Monats – nun auf der nationalen Ebene – beim Bundesparteitag in Freiburg. Wieder stahl er allen die Schau. Erneut erhielt kein anderer Rhetor soviel Beifall wie er, und das, obwohl auf der Rednerliste diesmal gleich zwei Vorsitzende standen, ein scheidender (Mende), der seine Abschiedsrede hielt, und ein neuer (Scheel), dessen erster Auftritt als Vorsitzender von den Delegierten mit Spannung erwartet worden war. Beide Reden, die in Stuttgart und in Freiburg, zeitigten dieselbe Wirkung: Während vorher kaum einer über Dahrendorf gesprochen hatte, war er danach in aller Munde. Abermals bezog sich in Freiburg die Mehrzahl der Folgeredner auf seine Thesen, hinterließen seine Metaphern bei den Delegierten den nachhaltigsten Eindruck, zitierten die Medien am Folgetag ausdrücklich seine Parolen. Dahrendorf hatte seinen Aufstieg auf diese Weise selbständig bewältigt. Wenn er auf dem Dreikönigstreffen in Stuttgart sogleich in den Landesvorstand und in Freiburg im Anschluss an seine Rede gar in den Bundesvorstand der FDP gewählt wurde, dann verdankte er das folglich keinem Mentor. Im Gegenteil: Das Erscheinungsbild, das Scheel im Frühjahr 1968 abgab, war eher dazu angetan, in ihm einen Vorsitzenden von Dahrendorfs Gnaden denn in dem Soziologen einen Günstling des Mende-Nachfolgers zu sehen. Jedenfalls schnitt Scheel damals im direkten Vergleich stets schlechter ab als Dahrendorf. Seine Re30
Kaack 1976, S. 38. Treffz-Eichhöffer, Fritz: Dahrendorfs Start, in: National-Zeitung, 06.01.1968; Konnerth, Edwin: Wie Ralf Dahrendorf auf den Schild gehoben wurde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.01.1968. 31
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den erhielten weniger Beifall, das Medienecho war verhaltener, seine Anstöße verpufften rascher. Scheel selbst mochte im Rückblick übertreiben, wenn er von sich selbst sagt, zu Beginn seiner Amtszeit der schwächste Parteivorsitzende gewesen zu sein, den es je gegeben habe.32 Doch dürfte er Dahrendorf zumindest kaum imponiert haben. Dessen Stern strahlte in diesen Wochen hell, er überstrahlte auch den des Parteivorsitzenden. Was bereits die Beziehung von Dahrendorf zu Kiesinger kennzeichnete, wiederholte sich zwischen Scheel und Dahrendorf. Schon Kiesinger hatte sich Mitte der 1960er Jahre ausgiebig der klugen Einfälle Dahrendorfs bedient. Bei Scheel war dann später wiederum – jedenfalls dem Urteil Dahrendorfs zufolge – zwar die institutionelle Positionshierarchie eindeutig, die informelle Rangordnung aber durchaus unklar. Auch der FDP-Vorsitzende schien sich von Dahrendorf – wenigstens anfangs – Hilfe aus einer Position der Schwäche heraus zu erhoffen und bereitwillig dessen Empfehlungen zu folgen.33 Zu einer auf Patronage und Dankbarkeit gründenden Loyalität konnte sich Dahrendorf unter solchen Umständen Scheel gegenüber nicht verpflichtet fühlen. Eher schon sah er ihn in seiner Schuld stehen und sich selbst in der Rolle desjenigen, der Treue erwarten sowie beizeiten Gegenleistungen einfordern könne. Auch dies erklärt die leichte Verletzbarkeit und den schwachen Durchhaltewillen, seine beleidigten und fluchtartigen Rückzüge, als auf den imposanten Aufstieg die ersten Rückschläge folgten. 1968 galt das wissenschaftliche Wunderkind auch in seiner neuen politischen Umgebung als „Star“, Dahrendorf strotzte anfangs nur so vor Kraft. Doch war er bei genauerem Hinsehen selbst zu Beginn seiner politischen Karriere nicht gänzlich unangefochten. Seine innerparteilichen Gegner, zum Beispiel der konservative Liberale Josef Ertl, monierten, Dahrendorfs Reden nicht kommentieren zu können, da sie „nicht präzise genug (seien), um etwas dazu zu sagen“34. Bisweilen wurden ihm auch defizitäre Kenntnisse der freidemokratischen Parteipositionen vorgehalten – letztlich ebenfalls ein Vorwurf des Mangels an Substanz. Allerdings dürfte die Allgemeinheit und Deutungsoffenheit der Aussagen seinen Erfolg sogar noch gesteigert haben. Denn gerade durch seine Unbestimmtheit symbolisierte er, wie Heino Kaack konstatierte, die FDP in der Opposition; ihre „Öffnung zur Aufnahme von politischen Ideen und zur Verarbeitung von gesellschaftlichen Problemen“ einerseits; den „Anspruch, fortschrittlich zu sein, ohne eine allzu präzise Verortung im herkömmlichen politischen Koordinatensystem vornehmen zu müssen“ andererseits.35
Im Bunde mit dem Zeitgeist und der Jugend auf dem Weg zur „dritten Kraft“? Ohne dass er sich selbst wirklich einer innerparteilichen Struktur zugehörig gefühlt oder seine persönliche Unabhängigkeit zum Wohle einer übergeordneten Gruppenräson eingeschränkt hätte, war Dahrendorf so zum Exponenten des Reformer-Flügels in der FDP geworden. Diese Rolle hatte er seinen rhetorischen Leistungen, den intellektuellen Fähigkeiten und seinem wissenschaftlichen Hintergrund, kurzum: der Wirkung zu verdanken, die damals von professoralen Gedankenflügen auf die parteiinternen Reformkreise ausging. Als Leitreformer stand Dahrendorf nun mit starken Kräften im Bunde, die seinen weiterhin 32
Vgl. Baring 1998, S. 116. Vgl. Sittner, Gernot: „Der Zeitpunkt ist traurig, weil er günstig ist“, in: Süddeutsche Zeitung, 20.01.1968. 34 Zitiert nach Schwarz, Karl H.: Dahrendorf – ein „Wunderdoktor“?, in: Welt am Sonntag, 04.02.1968. 35 Vgl. Kaack 1976, S. 37. 33
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steilen Aufstieg – wir befinden uns im Frühjahr 1968, noch war er bloß Beisitzer im Landes- und Bundesvorstand – begünstigten. Da war zunächst und vor allem die Parteijugend, die sich im Verlauf der 1960er Jahre, den allgemeinen Generationsspannungen entsprechend, von einer angepassten Führungskräftereserve zu einem rebellischen Unruheherd gewandelt hatte. Der damalige liberale Jugendverband, die Jungdemokraten (Judos), mochte zwischen 1967 und 1969 regelrecht als Hausmacht Dahrendorfs erscheinen. Aus seinen Reihen kamen die begeisterungsfähigsten und lautstärksten Anhänger des politisch engagierten Soziologen. In ihren Parteitagsdiensten für den Freiburger Bundeskonvent 1968 feierten sie ihn als kenntnisreichen, überzeugungsstarken und glaubwürdigen Politiker, bewerteten ihn in ihrem „Kandidatentest“ für die Vorstandswahlen mit der Bestnote „sehr empfehlenswert“ und erkoren seine Ideen zum Leitbild der liberalen Parteireform.36 Auch in der Hochphase der Studentenproteste kam es nicht zu Störungen Dahrendorfscher Wahlkampfveranstaltungen, das durchweg weit überwiegend junge Publikum hörte vielmehr geduldig zu. So wussten nach Vorträgen des bundesweit gefragten Redners die Regionalzeitungen in Nord und Süd, Ost und West von aufmerksamen Auditorien, vollen Sälen und begeistertem Applaus zu berichten.37 Solche Veranstaltungen waren stets Erfolge, werbewirksame Selbstdarstellungen im Wahlkampf, Beispiele für die Problemsensibilität und intergenerative Vermittlungsfähigkeit gleichermaßen der FDP und Dahrendorfs. Den Parteinachwuchs als Unterstützer hinter sich zu wissen bedeutete seinerzeit, mit einer aufstrebenden Kraft im Bunde zu stehen. Ausgehend von der kommunalen Ebene drängte er damals überall in der FDP nach vorn. Inhaltlich bildeten die Jungdemokraten (Judos) von der Ostpolitik über die Annäherung an die Sozialdemokraten bis hin zur Kritik an Erich Mende eine Avantgarde, der die Gesamtpartei mit einigem Zeitverzug schließlich folgte. Da sie geschlossen auftraten, die FDP in den Untergliederungen zudem vielfach nur schwach organisiert war, konnten sie Ende der 1960er Jahre selbst in großen Landesverbänden wie Hessen die etablierte Führung gehörig unter Druck setzen und politische Richtungswechsel erzwingen.38 In Baden-Württemberg vollends konnten die Judos in den frühen 1970er Jahren ihre Kandidaten Karl Moersch und Martin Bangemann als Landesvorsitzende durchsetzen, nachdem sie schon 1964 maßgeblichen Anteil am Sturz des Landesvorsitzenden Haußmann gehabt hatten und die FDP von seinem Nachfolger Saam zur „Partei der jungen Generation“ ausgerufen worden war.39 Zeitgleich mit dem Vormarsch der Jungdemokraten und in engem Zusammenhang mit dem innerparteilichen Generationswechsel verschoben sich in der FDP die Kräfteverhältnisse zwischen linkem und rechtem Lager. Der Bruch der Liberalen mit ihrem nationalliberalen Traditionsstrang, der auf dem Bonner Parteitag im Juni 1970 mit der Abwahl der gesamten rechten Flügelprominenz aus dem Bundesvorstand einen Abschluss fand, war im Jahr 1967 durch das Hannoveraner Aktionsprogramm und seine deutschlandpolitische Kompromissformel, der zufolge „eine mögliche Zusammenführung der getrennten Teile Deutschlands nicht an territorialen Fragen scheitern“40 dürfe, noch zaghaft eingeleitet, 1968 bei den Vorstandswahlen auf dem Freiburger Parteitag dann aber schon entschlossener 36
Vgl. Pfau, Fritz D.: Eine rote Nelke macht die Liberalen munter, in: Allgemeine Zeitung, 31.01.1968. Vgl. zum Beispiel o.V.: Entwurf zu einer neuen Politik, in: Weser Kurier, 11.03.1968. Vgl. Körper, Kurt J.: FDP. Bilanz der Jahre 1960-1966, Köln 1968. 39 Vgl. Ortwein, Edmund: Jungdemokraten und Junge Liberale, in: Eilfort (Hrsg.) 2004, S. 184-190, hier S. 185 f. 40 Zitiert nach Kaack 1976, S. 36. 37 38
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fortgesetzt worden. Baden-Württemberg spielte hier wiederum eine gewisse Vorreiterrolle, indem die Liberalen im Südwesten als einziger FDP-Landesverband bereits vor der Bundestagswahl 1969 Kontakte mit der DDR ohne völkerrechtliche Vorbehalte zu suchen beschlossen und der Durchbruch der Reformer hier ein gutes Jahr früher einsetzte, bereits 1969 in einem „eindeutig linksliberalen Kurs der Landespartei“41 resultierend. Jedoch nahm Baden-Württemberg auch anderweitig Entwicklungen auf Bundesebene vorweg und kündete frühzeitig von einer neuen innerparteilichen Bruchlinie, welche den Reformern – und mit ihnen Dahrendorf – bald Probleme bereiten sollte. Verstimmt über den Linksruck des Landesverbandes, blieb die Parteiprominenz im Januar 1969 dem DreiKönigs-Treffen weitgehend fern. Kurz darauf dann zeigte sich auf einem außerordentlichen Landesparteitag zum Thema Mitbestimmung im März 1969, „dass die alte Frontstellung zwischen der jüngeren und der älteren Generation durch eine neue Grabenlinie ersetzt wurde, die pauschal mit ‚Mitte-Links‘ gegen ‚Links‘ umschrieben werden kann“42. Hier deutete sich der spätere Bruch zwischen den Reformern und den sogenannten Zentristen bereits an. In den späten 1960er Jahren waren sie noch gemeinsam auf dem Reformer-Flügel veranschlagt worden. Der gemeinsame nationalliberale Gegner überbrückte die inneren Differenzen, auch traf man sich in dem Wunsch nach „Veränderung“ und „Öffnung“. Nicht zuletzt spekulierten die pragmatischen zentristischen Machtpolitiker damals auf Wählerzuwächse aus der akademischen Jugend durch die Kooperation mit den „Radikalliberalen“43. Doch zerstritten sich beide Seiten alsbald über das Tempo des neuen Kurses und die Risiken, die dabei akzeptabel seien. Dahrendorf verkündete bereits im Sommer allerorten, die FDP könne auf die konservativen Kernklientele verzichten und in diesen Segmenten Wählereinbußen verschmerzen, da der Zulauf aus den Reihen der nachrückenden Generation die Verluste bei weitem übertreffen würde. Das nun bezweifelten die nüchterneren Zentristen.44 Jedenfalls wollten sie sichere Traditionswähler nicht vergraulen, ehe die Wachstumshoffnungen nicht durch Wahlergebnisse verifiziert worden wären. Allzu eindeutige Bekenntnisse zu reformerischen Absichten und sozialliberalen Perspektiven wollten sie daher vermeiden, stattdessen Offenheit nach beiden Seiten demonstrieren und den konservativen Flügel auf diese Weise in der Partei halten.45
Fronde gegen Dahrendorf Allzu kraftvoll fiel der Linksschwenk der Liberalen daher nicht aus. Ob überhaupt von einem Schwenk oder Ruck nach links gesprochen werden könne, darüber gingen die Meinungen schon im Hinblick auf den Freiburger Parteitag auseinander.46 Deutlich gebremst 41
Adam 1979, S. 241. Ebd. 43 Als „radikalliberal“ hatte Dahrendorf in frühen Interviews seine Position bezeichnet. Dieser Begriff bürgerte sich im Folgenden als Synonym für den linksliberalen Flügel ein; vgl. Frank-Planitz, Ulrich/Hoffmann, Jens: Entwicklungshilfe für die Demokratie, in: Christ und Welt, 10.11.1967. 44 Vgl. o.V.: „Professor Unrat“, in: Ruhr-Nachrichten, 07.08.1968. 45 Vgl. Hoff, Klaus: Der „Star“ mit der Nelke am Revers, in: Welt am Sonntag, 11.08.1968. 46 Baring beispielsweise bestreitet einen Linksruck, den Schollwer als gegeben ansieht; vgl. Baring 1998, S. 114; Schollwer, Wolfgang: „Da gibt es noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten...“. Aufzeichnungen aus der FDPBundesgeschäftsstelle 1966-1970, Bremen 2007, S. 105. 42
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wurde das Reformtempo dann aber insbesondere nach der Bundespräsidentenwahl.47 Nachdem konservative Parteikreise scharfe Kritik am Kurs der Bundesführung sowie der Festlegung auf den sozialdemokratischen Bundespräsidentenkandidaten geübt hatten und es zu einigen spektakulären Parteiaustritten auf Landesebene gekommen war, versuchte die Gruppe um Scheel, Genscher und Mischnick fortan alles zu vermeiden, was von den innerparteilichen Traditionalisten als Provokation hätte empfunden werden können. Der ursprüngliche Reformimpetus des Wahlprogramms, der sogenannten „Wahlplattform“, wurde an entscheidenden Stellen zurückgenommen, auf dem Nürnberger Parteitag 1969 schließlich ein von der Wahltaktik geprägtes Papier verabschiedet, das kein konzises Reformprogramm mehr darstellte und von Dahrendorf mit den Worten kommentiert wurde: „Ich finde das ganz mies.“48 Auch vor Modifikationen der Wahlkampfkonzeption machte das ängstliche Schwanken der Parteispitze zwischen Reform und Beharrung nicht halt. Ursprünglich mit dem Versuch gestartet, ein dynamisches, fortschrittliches Parteiimage zu begründen und mit peppigen Slogans („Wir schaffen die alten Zöpfe ab!“) für die Ansprache großstädtischer Neuwähler konzipiert, schrumpfte sie alsbald zur bloß technischen Weiterentwicklung der 1965er Kampagne, nachdem innovative Elemente wie der Zopf-Slogan mit Rücksicht auf Traditionswähler zurückgezogen und in der Wahlwerbung abermals konservativere Töne angestimmt worden waren.49 Dahrendorf sah sich deshalb ab dem Frühsommer 1968 bisweilen heftiger Kritik ausgesetzt. Ab dem April 1968 bis zum Bundestagswahltag im September 1969 ließen die sich vorübergehend wieder im Aufwind wähnenden Parteikonservativen kaum eine Gelegenheit aus, Dahrendorf eins auszuwischen. Von einer regelrechten Anti-Dahrendorf-Fronde war in diesen Tagen die Rede, die linksliberale Frankfurter Rundschau witterte eine konzertierte „Anti-Kampagne gegen Dahrendorf“ und berichtete über lancierte Falschmeldungen und gezielte Diskriminierungen des Senkrechtstarters durch führende Nationalliberale.50 Doch hatte Dahrendorf diese Kritik durch öffentliche Einlassungen selbst provoziert und den Kreis seiner Kritiker mutwillig vergrößert. Seit dem Frühjahr 1968 erhob er unabgesprochen die Forderung nach einer verfassungspolitischen Totalrevision und der Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes durch eine Nationalversammlung; kritisierte er freimütig die Parteistrukturen und verschiedene zentrale FDP-Positionen, von der Verjährungsfrist von Nazidelikten bis hin zur Oder-Neiße-Grenze; ließ er sich über Inhalte des noch unveröffentlichten FDP-Wahlprogramms aus, was eher die Sache des Parteivorsitzenden Scheel gewesen wäre.51 Insbesondere eine Pressekonferenz Dahrendorfs in Krefeld, Ende Juli 1968, sorgte für Aufruhr, weil Dahrendorf hier nicht nur inhaltliche Kritik geübt, sondern
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Vgl. Barks, Werner: Keine Pendelschläge in der FDP, in: Stuttgarter Nachrichten, 13.05.1969. Zitiert nach Bavendamm, Dirk: Bonn unter Brandt, Machtwechsel oder Zeitenwende, Wien 1971, S. 284; vgl. zur Wahlplattform auch Schröder, Karsten/Vonhausen, Wolfgang: Die Behandlung der Koalitionsfrage auf den Bundesparteitagen der FDP von 1967 bis 1969, in: Albertin, Lothar (Hrsg.): Politischer Liberalismus in der Bundesrepublik, Göttingen 1980, S.195-210, hier S. 206 ff. 49 Vgl. Seibt, Peter: Die Wahlwerbung der FDP im Bundestagswahlkampf 1969, in: Lehmbruch, Gerhard u.a. (Hrsg.): Demokratisches System und politische Praxis der Bundesrepublik, München 1971, S. 316-355. 50 Vgl. Ziegler, Gerhard: Kein Platz für Köpfe?, in: Frankfurter Rundschau, 09.08.1968. 51 Vgl. Laube, Horst: Dahrendorf arbeitet an seinem Profil, in: Neue Ruhr-Zeitung, 26.7.1968; o.V.: Bremsversuch, in: Stuttgarter Zeitung, 06.08.1968. 48
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auch die Mende-Gruppe frontal attackiert und ihr innerparteiliche Bedeutungslosigkeit attestiert hatte.52 Durch den Ruf nach Parteidisziplin ließ sich Dahrendorf nicht in die Pflicht nehmen. Der junge Dahrendorf war ein Egozentriker. Wenn er Ende der 1960er Jahre von der FDP sprach, sagte er oftmals „ich“, meinte also sich selbst, die eigenen Ansichten, sein individuelles Fortkommen. „Ich“, analysierte die Rheinische Post, „das ist der Soziologe und Sozialreformer, der seine Einsichten zur geschichtlichen Wirklichkeit werden lassen möchte“53 – und wertete eben diese Selbstbezogenheit Dahrendorfs als Quelle des „DahrendorfUnbehagens“ in der FDP. Hinzu kam, dass er glaubte, über einzelne Spitzenliberale, beispielsweise Scheel, hinaus, auch seiner Partei insgesamt nichts zu verdanken, folglich ihr Unterordnung nicht zu schulden, sondern ganz im Gegenteil selbst ihr größter Trumpf zu sein. Im Ergebnis widersprach seine politische Grundhaltung freilich den Erfordernissen einer funktionsfähigen Partei, die auf ein gewisses Maß an Geschlossenheit angewiesen ist, im Wahlkampf zumal.54 Zu seinen Kritikern gehörten seit dem Sommer 1968 daher immer wieder auch die ursprünglichen Verbündeten, die Zentristen aus der Parteiführung um Scheel, Genscher, Mischnick. Nicht, dass zwischen ihnen in erster Linie unterschiedliche Parteikonzepte oder Differenzen in der Koalitionsfrage gestanden hätten. Doch waren die Zentristen in erster Linie „Manager der Macht“. Mit der koalitionspolitischen Offenheit verfolgten sie zuallererst eine Verbesserung der strategischen Position der FDP, Aspekte der politischen Taktik nahmen bei ihnen folglich den breitesten, im engen Sinne programmatische Fragen den schmalsten Raum ein. Aus dieser Perspektive registrierten sie nun zunehmend besorgt, dass Dahrendorf die Rationalität der Wähler und die Möglichkeit, ihr Verhalten an der Urne zu bestimmen, zu planen und vorherzusagen, weit überschätzte. Hier sprach der universitäre Soziologe aus ihm, der mit seinen akademischen Deduktionen über gesellschaftliche Wachstumsgruppen und neue Wählerpotenziale der Freien Demokraten die tatsächlichen Probleme ihrer Gewinnung für die FDP übersah, insofern auf unsichere Kantonisten setzte, ihretwegen aber traditionelle Stammwähler bereitwillig vergraulte – und dadurch, wie Scheel und Co. es sahen, die Zukunft der FDP aufs Spiel setzte.
Erfolge als Wahllokomotive Eine Folge der gewachsenen Differenzen war, dass Dahrendorf vom Präsidium nicht in den Kreis der Redner zentral geplanter Kundgebungen im Bundestagswahlkampf erhoben wurde.55 Doch waren es gerade seine Erfolge im Wahlkampf und seine Talente als Stimmenfänger, die ihn in den ersten beiden Jahren nach seinem Politikeinstieg trotz aller Kritik stets als Kandidat für höchste Ämter erscheinen ließen und ihn im Verlauf des Jahres 1969 wieder in die Offensive brachten. Es war insofern von Vorteil für ihn, dass er sich – wie er im Rückblick betont – 1968/69 in einer Phase „immerwährenden Wahlkampfes“56 befand. 52
Vgl. o.V.: Über Dahrendorf verärgert, in: Frankfurter Neue Presse, 27.07.1968; o.V.: Gelächter beim CHIO, in: Der Spiegel, 29.07.1968. 53 Möller, Helmut: Zugpferd und Ärgernis, in: Rheinische Post, 03.08.1968. 54 Vgl. Zum Winkel, A.: Der Mann mit der Nelke, in: Lübecker Nachrichten, 31.01.1968. 55 Vgl. Brügge, Peter: „An die Frauen ist nicht ranzukommen“, in: Der Spiegel, 18.08.1969. 56 Dahrendorf 2004, S. 121.
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Dahrendorfs Fähigkeiten und Neigungen verbanden sich auf diesem Feld zu einer Erfolgsmischung. Er war ein leidenschaftlicher Disputant, liebte die geschliffene, originelle Argumentation und besaß ein Talent zur druckreifen Formulierung, ohne dass er dadurch an Schlagfertigkeit eingebüßt hätte. In Zeiten des Stimmenkampfes war er in seinem Element, von Sprunghaftigkeit in solchen Momenten keine Spur. Mit großer Ausdauer absolvierte er stattdessen mehrere Veranstaltungen täglich und bereiste systematisch seinen Wahlkreis. Dieser Eifer war von Erfolg gekrönt. Schon 1968 hatte er bei der Landtagswahl im Wahlkreis Stuttgart III sechs Prozentpunkte hinzugewonnen, weshalb der einzige Nachkriegs-Ministerpräsident der FDP, Reinhold Maier, in ihm ein politisches Ausnahmetalent zu erkennen geglaubt hatte. Im Bundestagswahlkampf 1969 strich er dann den „größten persönlichen Erfolg eines Wahlkreisbewerbers“57 überhaupt ein, indem er fast 21 Prozent der Erststimmen und damit mehr als doppelt so viele persönliche Stimmen gewann, wie die örtliche FDP Zweitstimmen erhielt (9,1 Prozent).58 Die Profis des Politischen mochten sich über seine Vornehmheit mokieren und mehr Ellbogen sowie Polemik fordern, oder über die rosa Nelke in seinem Knopfloch die Stirn runzeln – sofern all dies überhaupt ein Problem darstellte, machten Leidenschaft, Originalität und Ausdauer des Wahlkämpfers Dahrendorf diese Eigenarten mehr als wett. In den wahlkampfgeprägten Jahren 1968/69 – zunächst für das baden-württembergische Landesparlament, danach für den Bundestag – war eben dies auch innerparteilich letztlich Dahrendorfs großes Plus: der Ruf als Wählermagnet. Bei allem Misstrauen und jenseits aller aufgestauten Unzufriedenheit über seine freimütigen Interviews, glaubten die Liberalen auf ihn dennoch nicht verzichten zu können, wollte man neuen Anhang im linksliberalen Spektrum gewinnen. Vor allem die FDP-Basisaktivisten schätzten damals seine Anziehungskraft, veredelten ihre Veranstaltungen nur allzu gerne durch ein DahrendorfReferat und überhäuften ihn daher mit Anfragen und Einladungen. Seine Funktion als Wahllokomotive machte ihn zu einem Star des liberalen Parteiunterbaus und bewahrte ihn 1968/69 eine Zeit lang auch vor handfesteren Sanktionen durch die Bundespartei.
Stagnation: Dahrendorf im Auswärtigen Amt Probleme mit Scheel Insofern verwunderte seine Berufung zum Mitglied der Bundesregierung nach der Bundestagswahl 1969 und der Bildung der sozial-liberalen Koalition auch nicht. Überraschender schon waren für viele Beobachter zunächst Dahrendorfs Amt und Ressort, schien er doch aufgrund seiner Interessen und Kompetenzen wie geschaffen zur Leitung des Wissenschaftsministeriums. Überhaupt war ja die FDP in den Vorjahren im Bildungsbereich unter den etablierten Parteien die umtriebigste gewesen. Aber Dahrendorf wurde 1969 nicht Wissenschaftsminister, sondern zum Parlamentarischen Staatssekretär im Auswärtigen Amt ernannt. Auch dies nahmen zeitgenössische Beobachter freilich als – wenn auch gebremste
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Henkels, Walter: Von Bonn nach Brüssel – ein Zugvogel?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.06.1970. Vgl. Burchardt, Lothar: Konstanz zwischen Kriegsende und Universitätsgründung, Hungerjahre, „Wirtschaftswunder“, Strukturwandel, Konstanz 1996, S. 460. 58
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– Fortsetzung seines Aufstiegs wahr. Das Staatssekretärsamt im Außenministerium sei jedenfalls „kein unattraktiver Posten“59. Die Regierungserklärung Willy Brandts deutete ebenfalls auf ein Avancement Dahrendorfs hin, berief sich der neue Bundeskanzler doch wiederholt auf seine Leitideen und hievte ihn so unausgesprochen in die Rolle des Vordenkers der sozial-liberalen Koalition. Von einem „Bürgerrecht auf Bildung“ sprach Brandt und projektierte einen „Gesamtbildungsplan“ – an letzterem hatte Dahrendorf schon Jahre vorher in Baden-Württemberg federführend mitgearbeitet, ersteres ging gar als Wortschöpfung auf ihn zurück; die skizzierte Reform von Verwaltung und öffentlichem Dienst – ebenfalls langjährige DahrendorfForderungen; der gesamte Duktus der Erklärung, die hochfliegenden Ankündigungen und markanten Formulierungen im Verbund mit weit weniger spektakulären Detailforderungen – geradezu eine Entsprechung der Charakterisierungen, die Dahrendorf seit seinem politischen Einstieg begleiteten.60 Obendrein war die personelle Konstellation an der Regierungsspitze wie zugeschnitten auf den selbsternannten „Radikal-Liberalen“ und Spross eines sozialdemokratischen Spitzenfunktionärs. Willy Brandt kannte er seit der unmittelbaren Nachkriegszeit, als sie sich bei der Witwe Julius Lebers begegneten, deren Mann ein gemeinsamer Freund Brandts und der Familie Dahrendorf gewesen war. Ihn, Brandt, bewunderte Dahrendorf, ihm lag er nach eigenen Worten 1969 gar „zu Füßen“61. Dessen Vizekanzler, Walter Scheel, schließlich betrachtete er noch viele Jahre nach seinem Ausstieg aus der Politik als „enorm wichtigen Förderer“62. Hier begannen jedoch bereits seine Probleme. Scheel nämlich war 1969 keineswegs der Fürsprecher, zu dem ihn Dahrendorf in seinen Erinnerungen pauschal macht. Zweifellos hatte er seit Dahrendorfs Wahl in den Bundesvorstand wiederholt in den Führungsgremien Partei für ihn ergriffen, die Kritik der Nationalliberalen moderiert und sich schützend vor den politischen Neuling gestellt.63 Wenn er Dahrendorf aber bereits im März antrug, ihn im Falle eines Wahlsieges als Staatssekretär in das Außenministerium zu begleiten, dann drückte sich darin nicht seine Wertschätzung für Dahrendorfs politische Fähigkeiten aus. Von diesen hielt Scheel nämlich wenig. Vielmehr glaubte er, den ambitionierten Soziologen durch den angebotenen Posten aus dem eigentlichen politischen Geschäft entfernen und über das Staatssekretärsamt „an die disziplinierende Kette einer festen Bürotätigkeit“64 legen zu können. Nicht im Traum jedenfalls dachte Scheel daran, Dahrendorf etwa zum Minister zu machen – übrigens nicht erst im Frühjahr 1969, sondern bereits seit dem Frühsommer 1968. Bei einem gemeinsamen Besuch in Prag hatte Scheel Hans-Dietrich Genscher im Juni 1968 seine Vorstellungen zur liberalen Ministerriege im Falle einer Koalition mit der SPD nach der nächsten Bundestagswahl offenbart – von Dahrendorf aber war seinerzeit keine Rede.65 Schlaglichtartig zeigt sich an dieser Episode Scheels Verhältnis zu dem freidemokratischen 59
Lersch, Paul: Ralf Dahrendorf – ein passionierter Liebhaber der Bildungspolitik, in: Die Welt, 04.11.1969. Vgl. Jäger, Wolfgang: Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition 1969-1974, in: Bracher, Karl Dietrich/ders./Link, Werner: Republik im Wandel 1969-1974. Die Ära Brandt, Stuttgart u.a. 1986, S. 9-262, hier S. 25 ff. 61 Dahrendorf 2004, S. 121. 62 Interview mit Ralf Dahrendorf am 05.08.2007 in Köln. 63 Vgl. Archiv des Liberalismus: Bestand Bundesvorstand, Protokolle, 6-9/1969. 64 Baring 1998, S. 217. 65 Vgl. Filmer, Werner/Schwan, Heribert: Hans-Dietrich Genscher, Düsseldorf u.a. 1988, S. 134. 60
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Senkrechtstarter. Angesteckt von Dahrendorfs elektoralen Wachstumsprognosen und mit feinem Sinn für den Zeitgeist verbündete sich Scheel mit dem Reformer. Große Hoffnungen auch in dessen Anziehungskraft auf neue Wählersegmente setzend, erkannte er in ihm dennoch bereits damals eine Quelle zusätzlichen Streits, verschärfter Konflikte und permanenter Unruhe – weshalb er ihn überging, als es um die Besetzung der Ministerpostens ging und ihn, von diesem unbemerkt, rechtzeitig kaltstellte.
Das Staatssekretärsamt als Missverständnis Natürlich hingen Dahrendorfs Schwierigkeiten nach der Übernahme des Amtes als Parlamentarischer Staatssekretär nicht bloß mit Scheel zusammen, sondern hatten auch mit ihm selbst, seinen charakterlichen Eigenarten und seiner Arbeitsstelle, dem Auswärtigen Amt, zu tun. Als Staatssekretär von Walter Scheel tauschte er mit seinem Wechsel von der Wissenschaft in die hauptamtliche Politik die Rolle des international angesehenen Starsoziologen mit einer Position in der zweiten Reihe westdeutschen Regierungshandelns. Hier fand er sich ab Oktober 1969 in einer Rolle wieder, die er für sich bis dato mehrfach abgelehnt hatte: derjenigen des Stellvertreters. Dabei hatte er bereits gut drei Monate nach seinem Parteibeitritt mit dem freimütigen Bekenntnis: „Zur grauen Eminenz bin ich nicht geboren, und Chefideologe bin ich eigentlich auch nicht“66, erstaunlich unverblümt seinen generellen Anspruch auf den Parteivorsitz angemeldet. Im Rahmen des Landesparteitagss der badenwürttembergischen FDP hatte er dann noch am Dreikönigstag im Januar 1969 betont, nur Vorsitzendenfunktionen attraktiv zu finden.67 Nun war er Stellvertreter – einer unter mehreren zumal. Schon in diesem generellen Sinne kollidierte Dahrendorfs Funktion mit seiner Eitelkeit – dem Bedürfnis im Rampenlicht zu stehen – und seinem Eigensinn – das heißt der Unfähigkeit, sich unterzuordnen, in den Dienst anderer zu stellen und fremden Anweisungen zu folgen. Darüber hinaus stellte aber gerade das Scheel-Ministerium Verhaltensanforderungen, denen Dahrendorf nicht gerecht werden konnte. Stärker noch als in anderen Ministerien hatte man es im Umgang mit fremden Regierungen mit fragilen Beziehungen und überspannten Empfindlichkeiten zu tun. Mehr noch als anderswo kam es daher auf Berechenbarkeit, Verlässlichkeit, Geschlossenheit an. Das „Dienen“, resümierte Hans-Dietrich Genscher in seinen Memoiren, ist im Auswärtigen Amt „tägliche Praxis, und zwar auf allen Ebenen, von den sogenannten ‚kleinen Leuten‘, die sich oft als große Persönlichkeiten erweisen, bis hin zu den Staatssekretären“68. Nirgendwo sonst waren die Spielräume so eng bemessen, dominierten überkommene, penibel einzuhaltende Routinen die Arbeitsabläufe so sehr wie im verminten Gelände der Außenpolitik, dem starren Gefüge des Auswärtigen Dienstes.69 Mit den außenpolitischen Zwängen vertrugen sich weder Dahrendorfs Redseligkeit, noch seine Sprunghaftigkeit oder gar sein Hang zu fundamentalen Reformen, weshalb er schon bald Anzeichen für Ermüdung, Unzufriedenheit und Resignation erkennen ließ.
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Zitiert nach o.V.: „Wollen Sie Parteiführer werden?“, in: Der Spiegel, 05.02.1968. Vgl. Kuppel, Walter: „Etwas zuviel Sieg der Jungen“, in: Südwest-Presse, 07.01.1969. 68 Genscher, Hans-Dietrich: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 217. 69 Vgl. Allemann, Fritz René: Dahrendorfs Weg von Konstanz nach Brüssel, in: Die Tat, 05.06.1970. 67
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Da Scheel obendrein zeitgleich im Außenministerium als überfordert galt, in der Öffentlichkeit belächelt wurde und sich heftigen Angriffen seiner Parteifreunde ausgesetzt sah, konnte Brandts Kanzleramt zu Beginn der sozial-liberalen Koalition das Auswärtige Amt in der Außenpolitik in eine Nebenrolle drängen und die ostpolitischen Verhandlungen beinahe vollständig an sich ziehen. Gleichsam unvermeidlich ergaben sich hieraus Diskrepanzen zu einem anderen Charaktermerkmal Dahrendorfs, seinem Bedürfnis nach Federführung, Gestaltungsmacht und Einflussnahme. Unabhängig davon und entgegen seiner optimistischen Selbsteinschätzung hätte Dahrendorf allerdings als Chefunterhändler der deutschen Seite in den Verhandlungen mit den Ostblockvertretern, namentlich denen Moskaus, gar nicht getaugt. Denn als solcher hätte er seine eigene Bedeutung in der Öffentlichkeit uneitel herunterspielen können müssen; in dieser Funktion führte kein Weg an der Fähigkeit zu kategorischer Verschwiegenheit vorbei, sollte die Gegenseite nicht bloßgestellt und die Zwischenergebnisse nicht gefährdet werden; musste er das vollste Vertrauen des Kanzlers oder verantwortlichen Ministers genießen, absolut loyal und zutiefst verlässlich bzw. berechenbar sein. Doch eben dem standen Dahrendorfs Öffentlichkeitsdrang und Meinungsfreude ebenso wie dessen beständige Neigung zu unabgesprochenen Vorstößen entgegen. Abgesehen davon, dass er für so diffizile Verhandlungen, wie die deutsch-sowjetischen Konsultationen, auch des nötigen Vorwissens entbehrte, sprich: schlicht viel zu unerfahren war.70
Regierungskrach und innerparteiliche Isolierung Im Auswärtigen Amt fühlte sich Dahrendorf daher sehr bald schon zurückgesetzt. Bereits Ende des Jahres 1969 gab er zu Protokoll, als Parlamentarischer Staatssekretär „nicht einmal vollbeschäftigt“71 zu sein. Ab Ende Januar 1970 dann verschaffte sich Dahrendorfs Unzufriedenheit zunächst in Querschüssen gegen die eigene Regierung, später in Kollegenschelte und zuletzt gar in offener Kritik an den westlichen Verbündeten Luft. Seine Ausbootung in den ostpolitischen Verhandlungen beantwortete er mit Forderungen nach einer Volksbefragung zur Oder-Neiße-Grenze und eine gemeinsame Linie aller Parteien in der Ostpolitik.72 Der erste Einwand bestritt der Regierung die Befugnis zur Regelung der Grenzfrage, der zweite konnte als Kritik am Reformtempo gelesen werden, da selbst moderaten Christdemokraten die sozial-liberale Annäherung an den Ostblock viel zu überhastet erschien.73 Im April erhielten seine Interventionen schließlich eine neue Qualität. Im Rahmen der deutsch-englischen Gespräche in Cambridge warf Dahrendorf den westlichen Alliierten vor, in der Ostpolitik zu bremsen und dementsprechende Initiativen Bonns zu verzögern. Keine zwei Wochen später richtete er dann gegenüber dem Deutschland-Korrespondenten einer amerikanischen Zeitung scharfe Invektive gegen die USA. Die amerikanische Außenpolitik bezeichnete er in dem Gespräch als „plattitüdenhaft“ und wähnte die US-Regierung 70
Vgl. Baring 1998, S. 319. Bollmann, Werner: Kulturpolitik nach draußen. Der Staatssekretär bei Scheel erläutert seine Aufgaben, in: Stuttgarter Nachrichten, 08.11.1969. 72 Vgl. Bergdoll, Udo: Bonn hofft auf einen Ausgleich mit Polen, in: Der Tagesspiegel, 21.01.1970; Klein, Heinzgünther: Für Volksabstimmung über Oder-Neiße-Frage, in: Weserkurier, 16.03.1970. 73 Vgl. o.V.: Dahrendorf kritisiert Leussinks Hochschulpolitik, in: Südwest Merkur, 26.01.1970; o.V.: o.T., in: Bonner Rundschau, 19.03.1970. 71
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„weniger als je zuvor in den letzten 20 Jahren“ dazu bereit, ihrer politischen Verantwortung nachzukommen.74 Hiermit hatte er den Bogen freilich überspannt. Nach diesen Äußerungen brach ein Sturm der Entrüstung über den Parlamentarischen Staatssekretär herein. Die Opposition machte Dahrendorfs Einlassungen zum Thema einer parlamentarischen Fragestunde. Die eben erst durch Brandts Washington-Besuch aufpolierten deutsch-amerikanischen Beziehungen drohten erneut eingetrübt zu werden, auch Regierungskreise gingen daher auf Distanz. Scheel sah sich gar genötigt, die Angaben seines Stellvertreters in Form einer schriftlichen Erklärung richtigzustellen.75 Am Ende des Monats April war Dahrendorfs Stellung infolgedessen weiter geschwächt, sein baldiger Absprung zeichnete sich immer deutlicher ab. Zumal sich nun in problematischer Weise sein Mangel an Verbündeten bemerkbar machte. Der liberale Senkrechtstarter war im Frühjahr 1970 politisch isoliert. Aus den Regierungsreihen versuchte niemand, ihn zum Bleiben zu überreden, als sich sein Wechsel in die Europäische Kommission abzeichnete. Im Außenministerium hatten sie ihn schon länger als Belastung angesehen – seine Alleingänge, die Unbelehrbarkeit, die Gebärde als „Mit- oder Zweitminister“76. Entsprechend süffisant kommentierte der Regierungssprecher, Conrad Ahlers, Dahrendorfs Abgang nach Brüssel als weiteren Schritt des Soziologen auf dem Weg ins Kanzleramt. Jedoch: Nicht nur innerhalb der Regierung besaß Dahrendorf wenige Freunde, auch in der FDP rumorte es. In der Führungsspitze der Partei gab es schon seit dem Sommer 1968 heftige Kritik ob seiner egozentrischen Vorstöße. Selbst an der Basis, seiner ursprünglichen Kraftressource, wuchs jetzt das Unverständnis über seineAlleingänge. Eine kräftige Hausmacht hatte er hier in den zurückliegenden Jahren nicht aufgebaut, eine feste Verwurzelung auch gar nicht angestrebt. Zwar war er Kreisvorsitzender der Konstanzer Liberalen, daneben Landes- und Bundesvorstandsmitglied und darüber hinaus auch Abgeordneter im Deutschen Bundestag – und entpuppte sich insofern als regelrechter Multifunktionär. Doch blieb er parallel zur Politik weiterhin in der Wissenschaft aktiv, beriet u. a. den Regierungschef von Malta in Hochschulfragen und reiste fortgesetzt zu Forschungskongressen ins Ausland. „Pluripotenz“ bezeichnet er selbst im Rückblick als Konstante seiner Biografie, und pluripotent folgte Dahrendorf auch damals mehreren Wegen.77 Doch hinderte ihn eben diese rastlose, geradezu hypermobile Unstetigkeit am Aufbau breitgefächerter Beziehungen und belastbarer Unterstützernetzwerke. Im Kreisverband vertrat ihn oftmals sein Stellvertreter, bei Vorstandssitzungen war er regelmäßig verhindert und für Parteifreunde vor Ort in Konstanz selten zu erreichen.78 Als er nun in die Kritik geriet, mobilisierte das folglich keine Bataillone von Getreuen. Stattdessen sahen eine ganze Reihe von Basispolitikern durch die Eskapaden Dahrendorfs ihre zunächst bloß unbestimmten Ressentiments bestätigt, welche sein Blitzaufstieg bei jenen geweckt hatte, die sich seit Langem in den Parteiniederungen abrackerten und die von Anfang an weniger bewundernd als neiderfüllt auf den Durchmarsch des prominenten Soziologen geblickt hatten. Eine sichere Verankerung in der Partei wäre für Dahrendorf aber umso wichtiger gewesen, als er gleichfalls und vor allem in der Bundestagsfraktion Widersacher besaß. Unter 74
O.V.: Kritik Dahrendorfs an den Westmächten, in: Neue Zürcher Zeitung, 23.04.1970. Vgl. Kummer, Jochen: Die indiskreten Minuten des ungeduldigen Professors, in: Welt am Sonntag, 26.04.1970. Eschenburg, Theodor: Das „ich“ in Dahrendorf, in: Die Zeit, 13.03.1970. 77 Dahrendorf 2004, S. 102. 78 Vgl. Ney, Ernst: Dahrendorf gibt Mandat zurück, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 24.08.1970. 75 76
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den Abgeordneten blieb er bis zum Schluss ein Fremdkörper, dessen Fortgang in die EWGGremien von den liberalen Parlamentariern nicht als Verlust gesehen wurde. Das lag nicht zuletzt daran, dass die Fraktion parteiintern eine Hochburg konservativer Kräfte war. Doch dürfte letztlich entscheidend gewesen sein, dass er in der Fraktion kaum präsent war, dass der Fraktionsvorsitzende Mischnick die lückenhaften Informationen aus dem Außenministerium beklagte und es Dahrendorf folglich nicht gelang, die Verbindung zwischen dem Außenminister sowie Parteivorsitzenden Scheel und der FDP-Bundestagsfraktion zu pflegen.79
Die Tragik sich wiederholender Geschichte: Dahrendorfs politischer Abstieg Neuanfang in Brüssel? Dahrendorf hatte als Parlamentarischer Staatssekretär viel von dem ihm anfänglich gewährten Kredit verspielt. Er sah sich heftigen Angriffen von verschiedenster Seite ausgesetzt und trug daran durch sein eigenes Verhalten auch eine maßgebliche Mitschuld, insbesondere durch seine Attacken auf die westlichen Alliierten, speziell die USA. Im Mai 1970 war er politisch isoliert, was ihm den Entschluss, die Bonner Politikbühne zu verlassen, erleichterte. Noch entscheidender für seinen Rückzug aus dem Auswärtigen Amt aber dürfte letztlich ein anderer Grund gewesen sein. Scheel hatte mit seiner Annahme recht behalten, die Einbindung in ministeriale Strukturen stelle Dahrendorf „in die Zucht“80 und neutralisiere seine destruktiven, Unruhe stiftenden Potenziale. Doch war eben diese bürokratische Einhegung die Quelle seiner Unzufriedenheit, auch seines Leidens an der gouvernementalen Tätigkeit, letztlich: seiner zunehmend irrationalen Ausbruchsversuche. Charakteristisch in Dahrendorfs Biografie waren denn auch ansonsten genau gegensätzliche Rahmenbedingungen. Vor allem in der Bildungspolitik und besonders in den 1960er Jahren konnte er seinen Gedanken freien Lauf lassen, boten sich ihm weit geöffnete Optionsfenster für die Realisierung seiner Ideen. Das galt im Besonderen für die 1966 neu geschaffene Konstanzer Universität, in deren Gründungsausschuss Dahrendorf ab 1964 saß. Nicht einfach nur als „neue, sondern [als] Reformuniversität“81 konzipiert, legitimierte sich die Konstanzer Gründung im Unterschied zu anderen Neu-Universitäten nicht durch praktische Zwänge, d.h. die Bewältigung explodierender Studierendenzahlen, sondern durch theoretische Erwägungen. Denn quer zur Norm, Bildungspolitik an sozialen und ökonomischen Zielen auszurichten, stand in Konstanz die Förderung der wissenschaftlichen Forschung im Vordergrund. Insofern repräsentierte das Universitätsprojekt – in Dahrendorfs Worten – die „Weiträumigkeit des Gedankens“82, und entsprechend idealistisch waren die Pläne für dieses „Klein-Harvard am Bodensee“. Kurzum: Konstanz stand exemplarisch für die Gestaltungsmöglichkeiten, die Dahrendorf in den 1960er Jahren besaß und die für ihn selbstverständlich wurden.
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Vgl. o.V.: Dahrendorf, in: Flensburger Tageblatt, 30.05.1970. Zitiert nach o.V.: In der Zucht, in: Der Spiegel, 03.11.1969. Dahrendorf, Ralf: Über die Universität Konstanz, in: Konstanzer Blätter für Hochschulfragen, H. 4/1966, S. 514, hier S. 5. 82 Ebd., S. 14. 80 81
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Eingedenk Dahrendorfs Verlangen nach Freiräumen, Gestaltungsmacht und Bedeutsamkeit sprach auch in der Tat einiges für Brüssel. Zunächst einmal stieg er mit seinem Wechsel aus dem Außenministerium in die Kommission vom Stellvertreter zum Chef auf. Als Kommissar war er jetzt gleichsam selbst zu Ministerwürden gekommen. In der neuen Funktion agierte er als Leiter eines Ressorts innerhalb der europäischen Regierung, unterstellt nur dem Kommissionspräsidenten als Äquivalent des nationalen Regierungschefs. Seine Stellung war der Tendenz nach sogar stärker als die eines Ministers in Bonn, da die institutionellen Ressourcen des Kommissionspräsidenten vergleichsweise gering waren und dieser – von den Staats- und Regierungschefs bestimmt – weder über eine autonome Legitimationsquelle verfügte noch die Mitglieder seiner Kommission auswählte oder eine Richtlinienkompetenz besaß. Unabhängig davon war Dahrendorf in seiner neuen Funktion nicht mehr der Zuarbeiter eines anderen, sondern er verfügte über einen eigenen, „Kabinett“ genannten Mitarbeiterstab, der ihn bei der Amtsausübung unterstützte. Zudem befand sich Europa 1970 noch in seinen Anfängen. Die Europäische Gemeinschaft war noch im Entstehen begriffen, vieles war im Fluss, feste Routinen hatten sich dagegen kaum eingespielt. Das ließ Dahrendorf mutmaßen, Gestaltungschancen seien noch vorhanden, innovative Ideen gefragt und unkonventionelle Initiativen gewünscht. Schon wähnte er sich in der Rolle des Vordenkers und Impulsgebers einer über die wirtschaftliche Zusammenarbeit hinausgehenden politischen Einigung Europas.83 Und deutete nicht der zeitgleiche Generationswechsel in der Kommission an, dass sich die europäische Politik in einem fundamentalen Umbruch befand, dass Brüssel nun auch ehrgeizige Politiker mit Zukunft anzog und der Kommissarsposten keineswegs zwangsläufig das Karriereende bedeuten musste? War er nicht ohnehin aufgrund seiner Sprachkenntnisse prädestiniert für eine Tätigkeit im westeuropäischen Ausland? Bewies schließlich nicht auch die Höhe des Gehalts, die mit dem Wechsel verbundene deutliche Einkommenssteigerung, dass von einem Abstieg nicht gesprochen werden konnte, ganz im Gegenteil sogar?84 Freilich konnte, wer klaren Blickes die politische Bedeutung der Kommission und die Anforderungen der Europäischen Gemeinschaft analysierte, früh auch Zweifel an den optimistischen Erwartungen Dahrendorfs hegen, insbesondere auch daran, dass ausgerechnet er für das Amt eines Kommissars geeignet sein sollte. Das Argument, in der Vergangenheit seien die europäischen Gremien eine Versorgungsstelle für abgehalfterte ExSpitzenpolitiker gewesen, fiel dabei nicht weiter ins Gewicht. Die Karrieremuster mochten sich mit der Fortentwicklung der EG ebenfalls wandeln. Schwerer wog, dass auch die Kommission für kühne Entwürfe und Einzelgänge absehbar keinen Spielraum bot. Denn die wichtigen Entscheidungen im Hinblick auf Europa fielen immer noch in direkten Verhandlungen zwischen den Einzelstaaten, zwischen den Ministern und Regierungschefs, und die Kommission als supranationales Gremium hing insofern am kurzen Zügel des Europäischen Rates. Überhaupt war die politische Arbeit am Sitz der Kommission, einem Ort für penible Bürokraten und akribische Sachbearbeiter, „trocken und knochenhart“85. . Faszinationskraft, rhetorische Begabung und visuelle Überzeugungskraft waren für europäische Politi83
Vgl. Neumaier, Eduard: „Ich bin kein guter Mitmacher“, in: Publik, 26.06.1970. Vgl. o.V.: Ab nach Brüssel, in: Der Spiegel, 01.06.1970; o.V.: Ab nach Brüssel. Ein Gespräch mit Ralf Dahrendorf, in: Die Zeit, 12.06.1970. 85 Kraiker, Hans: Vom Herold zum Knecht, in: Frankfurter Neue Presse, 30.05.1970. 84
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ker lässliche Eigenschaften, konnten sie sich doch noch nicht einmal an ein Publikum wenden, das anzusprechen oder mitzureißen gewesen wäre. Nicht Visionen also waren in Brüssel gefordert, weder originelle Einfälle noch provozierende Formulierungen – stattdessen präzise Antworten, detaillierte Aktenkenntnis und langer Atem. Das waren natürlich denkbar ungünstige Bedingungen für einen Politiker wie Dahrendorf, mit seinen Stärken und Schwächen, Fähigkeiten und Defiziten.86 Von Selbstzweifeln jedoch war der scheidende Staatssekretär nicht angekränkelt. Und wenn, dann ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. Der Dahrendorf des Frühsommers 1970 entpuppte sich als regelrechter Illusionskünstler. Nach außen wie innen, im Zwiegespräch mit den Medien, offensichtlich aber auch sich selbst gegenüber unterdrückte er jeden Gedanken an einen Abstieg und deutete den Wechsel in die Europäische Kommission als einmalige Chance, klare Verbesserung und eindeutigen Bedeutungsgewinn. Seine Berufung zum Kommissar betrachtete er für sich selbst als „eine neue und wichtigere und größere Aufgabe“87 und im Hinblick auf Europa als „beispielgebende Personal-Entscheidung“88. Dass er zwar als „Außenkommissar“ bezeichnet wurde und für Außenhandelspolitik zuständig war, nicht aber für Beitrittsfragen, begründete er mit einem Mangel an Interesse seinerseits. In diesem Bereich sei vieles schon einmal ausgehandelt worden, daher bestünden kaum Gestaltungschancen. Der Versuch, eben jene Problemkomplexe als Mittelpunkt der politischen Agenda zu bezeichnen, mit denen er sich gerade beschäftigte, war charakteristisch für Dahrendorf. Auch seinen Einstieg in das Auswärtige Amt hatte er anfangs damit begründet, dass die innenpolitischen Reformen bereits abgeschlossen seien; nun, in der Europäischen Kommission gelandet, sah er eine Zeit gekommen, in der „die Westpolitik im Vordergrund stehen muss“89. Insofern lässt sich Dahrendorfs rhetorisches Eigenlob bei seinem Wechsel nach Brüssel in eine Kontinuitätslinie mit Eigenschaften stellen, die er schon bei seinem Amtsantritt im Scheel-Ministerium gezeigt hatte. Auch sonst springen die Parallelen ins Auge, scheinen sich in Vielem die Bonner Erfahrungen zu wiederholen und seine Stärken und Schwächen – wenig überraschend im Übrigen – dieselben geblieben zu sein. Wiederum entpuppte er sich als, wie Brandt ihn einmal genannt hatte, „in die Politik verirrter Professor“90; reagierte er mit Ungeduld, wenn sich die Wirklichkeit seinen theoretischen Annahmen nicht fügte. Auch als Kommissar blieb er ein origineller Denker, war er unverändert kein Mann der Tat, am tagespolitischen Einerlei weiterhin allenfalls oberflächlich interessiert.91 Wie zuvor schon bei seinen Engagements in Baden-Württemberg und Bonn, startete er auch jetzt furios, überraschte politische Beobachter durch seine schnelle Einarbeitungszeit in die ihm bis dahin fremden Außenhandelsfragen und imponierte abermals als Rhetoriker.92
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Vgl. ebd.; Allemann, Fritz René: Dahrendorfs Weg von Konstanz nach Brüssel, in: Die Tat, 05.06.1970. BPA-Kommentarübersicht: Interview mit Prof. R. Dahrendorf, 04.06.1970. 88 O.V.: Ab nach Brüssel, in: Der Spiegel, 01.06.1970. 89 BPA-Kommentarübersicht: Prof. Dahrendorf über seine Tätigkeit in der EWG-Kommission, 23.07.1970. 90 Zitiert nach Sittner, Gernot: Das Europa des Phantasten und Professors, in: Süddeutsche Zeitung, 03.08.1971. 91 Vgl. Löffelholz, Thomas: Der Fall Dahrendorf, in: Stuttgarter Zeitung, 05.08.1971. 92 Vgl. Ehrhardt, Carl A.: Auch in Brüssel ein Senkrechtstart, in: Handelsblatt, 04.12.1970. 87
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Durch „Wieland Europa“ ins Abseits Zum Jahresende 1970 schien es, als erfüllten sich die bei seinem Wechsel nach Brüssel von Dahrendorf formulierten Erwartungen. Als Kommissar konnte Dahrendorf nun zudem endlich selbst mit den Großen der Welt verhandeln. Und er schlug sich wacker, bewies, dass die Urteile aus Bonner Tagen, er könne das nicht, womöglich fehl gingen. Im Dezember 1970 jedenfalls bezeugten ihm auch die amerikanischen Verhandlungspartner Respekt für seinen Verhandlungsstil.93 Obendrein stand Dahrendorf zu Beginn seiner Brüsseler Zeit mit dem Glück im Bunde: Nachdem er die Zuständigkeit für die Außenhandelspolitik übertragen bekommen hatte, entwickelte sie sich aufgrund handels- und währungspolitischer Meinungsverschiedenheiten mit den USA zu einer wichtigen Frage, so dass Dahrendorf eine Schlüsselrolle in der Kommission spielen und vielbeachtete, richtungsweisende Forderungen aufstellen konnte.94 Doch die Freude währte nicht lange, schon Ende Januar 1971 kündigte sich neuer Ärger an, und abermals stand der deutsche Soziologieprofessor im Mittelpunkt. Dahrendorf war eine hohe Begabung, akademisch nicht zufällig schon in jungen Jahren hochdekoriert. Seinen Mitmenschen war er intellektuell in der Regel weit überlegen, er war belesener, gedankenreicher, beredsamer und schlagfertiger als sie. Die geistige Überlegenheit ließ Dahrendorf jedoch selbstgefällig annehmen, seine Vorschläge müssten überall als besonders klug auch sofort anerkannt, am besten zu Leitzielen erhoben und uneingeschränkt umgesetzt werden. Für ein Scheitern zumal war in seinem Selbstbild kein Platz. Wann immer sich in seinem Leben ein Wandel ergab und er das Tätigkeitsfeld wechselte, dann war – seinen eigenen Deutungen zufolge – stets er derjenige gewesen, von dem die Trennung ausgegangen war. Noch seinen Abschied aus dem Auswärtigen Amt begründete er im Rückblick mit Langeweile, die sich eingestellt habe, nachdem er die Arbeitsabläufe verinnerlicht hatte („Als ich‘s konnte, war mir klar, dass dies nicht mein voller Lebensinhalt sein würde.“95). Dadurch aber verbaute sich Dahrendorf leichterhand die Möglichkeit, aus seinen Fehlern zu lernen. Dahrendorfs Dünkel verleitete ihn darüber hinaus zur Geringschätzung seiner politischen Kollegen, denen er ganz allgemein nicht zutraute, ihm das Wasser reichen zu können. In der Einsamkeit der akademischen Schreibstube blieb eine solche Haltung folgenlos, in der Politik dagegen zeitigte sie folgenschwere Konsequenzen. Denn ihretwegen überschätzte er stets aufs Neue seine Einflussmöglichkeiten. Gleichzeitig verkannte er die Schwerfälligkeit politischer Gremien, die Schwäche der Kommission im europäischen Institutionengeflecht und die Reformwiderstände durch andere politische Akteure, kurzum: die Determinationskraft politischer Realitäten. Im Verbund mit einem realitätsfremden Politikverständnis führte Dahrendorfs selbstgefälliges Wissen um die eigenen Stärken auch zu leichter Verletzbarkeit und schneller Entmutigung. Immer wieder mal schwadronierte er daher vom „absehbaren Ende“, betonte, auch etwas anderes machen zu können und spekulierte bei Widerständen mit seinem Rückzug aus der Politik. Wobei ihm andererseits gerade das Wissen um die eigene Brillanz den Weg verbaute, sich zunächst untergründig anbahnende Gegnerbildungen, Intrigen und 93
Vgl. ebd. Vgl. Löffelholz, Thomas/Hill, Roland: Der Senkrechtstarter verläßt die Politik, in: Stuttgarter Zeitung, 19.09.1973. 95 Zitiert nach Sommer, Theo: Ein unruhiger, aber fruchtbarer Geist, in: Die Zeit, 20.09.1973. 94
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Anfechtungen rechtzeitig zu bemerken. Bereits 1968 als FDP-Bundesvorstand und auch 1970 als Parlamentarischer Staatssekretär hatte er sich selbst dann noch in Sicherheit gewogen, als Anzeichen innerparteilicher Anfeindungen längst offenbar geworden waren. Und auch in Brüssel glaubte er sich selbst dann noch fest im Sattel, als die Krise um „Wieland Europa“ ihrem Höhepunkt entgegen schritt. Unter dem Pseudonym „Wieland Europa“ hatte Dahrendorf am 9. und 16. Juli 1971 zwei Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit publiziert, in denen er den Zustand der Europäischen Gemeinschaft kritisierte und statt verbindlicher Verträge und einer extensiven Regelungswut der europäischen Institutionen für das Prinzip der Subsidiarität und informelle bzw. außer-institutionelle Treffen der nationalen Minister plädierte. Indem er die supranationalen Illusionen zu entlarven versuchte, unterminierte er vor allem die Stellung der wichtigsten supranationalen europäischen Einrichtung, der Europäischen Kommission, deren „unaufhaltsamen Machtverfall“ und „eher Mitleid als Respekt“ erregendes Erscheinungsbild er konstatierte. Als Regierung in spe gehöre die Kommission der Vergangenheit an, ihren Platz übernehme im „zweiten Europa“ die „gemeinsame Ausübung der Souveränität der europäischen Nationen“, d.h. der „Rat der Europaminister“.96 In diesen beiden Aufsätzen bündeln sich Dahrendorfs politische Eigenschaften wie in einem Brennglas. Zum einen seine Ungeduld: Die Frustrationen über ergebnislose Verhandlungen, lange Instanzenwege und Erfahrungen politischen Leerlaufs verarbeitete er in einer Kritik, die an den Wurzeln der europäischen Institutionen ansetzte, ihre Zukunftsfähigkeit grundsätzlich in Zweifel zog und insofern radikal bzw. maßlos ausfiel. Indem er insbesondere die Kommission mit Spott überzog, erwies sich Dahrendorf zweitens als illoyal gegenüber seinen Kollegen und eben jener Institution, der er ja schließlich selbst angehörte. Drittens zeichnete sich seine Kritik durch eine eloquente Investigation bestehender europapolitischer Mängel aus, bot aber dort, wo es um die Alternativen ging, nur wenig Konkretes, sondern stattdessen den einschlägigen Experten lange bekannte, in ihrem Nutzen obendrein ausgesprochen zweifelhafte Gedanken. Und schließlich deutete die laienhafte Camouflage durch das Pseudonym „Wieland Europa“ sowohl auf den Dahrendorfschen Öffentlichkeitsdrang wie die gedankenlose Unterschätzung seiner Umwelt hin. Dahrendorf war sich insofern selbst treu geblieben – doch das Umfeld hatte sich gewandelt. In Brüssel war er schon nicht mehr mit so vielen Vorschusslorbeeren gestartet wie ein Jahr zuvor in Bonn. Erst recht besaß er im Sommer 1971 auch unter den eigenen Parteifreunden erheblich mehr Gegner als zur Zeit seines Durchbruchs auf den FDP-Parteitagen im Januar 1968. Und genauso waren die Politikredaktionen ihm gegenüber nach den Erfahrungen im Auswärtigen Amt mittlerweile erheblich skeptischer eingestellt. Bereits im April 1970, nachdem die Alliierten-Schelte publik geworden war, hatten die Medien von ihren vormaligen Jubelfanfaren auf den universitären Seiteneinsteiger mit dem unkonventionellen Hintergrund, der Farbe in das politische Einheitsgrau zu bringen versprach und so erfrischend anders auftrat und redete, nichts mehr wissen wollen. Stattdessen wurde gefragt, ob für Spitzenämter nicht doch politische Vorerfahrungen vorausgesetzt werden müssten und Neulinge erst durch die Schule von Parteien und Parlamenten gehen sollten.97 Als nun, im Herbst 1973, Dahrendorf seinen Abschied aus der Politik und seine Rückkehr in den Wissenschaftsbetrieb ankündigte, kursierten vernichtende Urteile über den 96 Europa, Wieland: Über Brüssel hinaus, in: Die Zeit, 09.07.1971; ders.: Für ein zweites Europa, in: Die Zeit, 16.07.1971. 97 Vgl. o.V.: Isolierter Dahrendorf, in: Frankfurter Rundschau, 24.09.1971.
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dereinst gefeierten Soziologen. Ein „Irrlicht“ sei er, ein „Außenseiter“, bar jeder Menschenkenntnis, dem das nötige Sitzfleisch und – das Denkbare denkend statt das Machbare zu machen – beinahe alles zum „Politiker“ fehle.98 Die Konsequenzen, die Dahrendorf durch seine Eigenmächtigkeiten gewärtigte, fielen daher härter aus, sein Scheitern war jetzt endgültig. In die deutsche Politik konnte er jedenfalls nicht zurück, hier war er aber seit Jahren in den Regierungsreihen ebenso wie innerhalb der eigenen Partei völlig isoliert. Im Sommer 1971 beispielsweise, im Zusammenhang mit der Aufregung um Dahrendorfs „Wieland Europa“-Texte war es daher nicht die deutsche Bundesregierung, auch nicht die FDP, die den Kopf ihres Kommissars rettete. Im Gegenteil sogar: Um nicht in Verdacht zu geraten, Dahrendorf nur als Strohmann vorgeschickt zu haben und in Wirklichkeit selber hinter Europa-Kritik zu stecken, ließ die Regierung durch Katharina Focke eine Replik veröffentlichen, in der sie sich scharf von den Vorwürfen Wieland Europas distanzierte. Den Verbleib im Kommissarsamt verdankte Dahrendorf letztlich seinem niederländischen Kommissionskollegen Mansholt. Dieser hatte Dahrendorf übertrieben hart kritisiert und dem deutschen Kommissar damit ungewollt das Amt erhalten. Denn gegen die polemischen Attacken des impulsiven Mansholt vermeinten ihn die übrigen Kommissare in Schutz nehmen zu müssen und ließen es bei einer Entschuldigung Dahrendorfs bewenden.99 Nun mochte man diese Distanzierungen von Regierungsseite und das Schweigen der FDP-Spitze noch als bloß quantitative Veränderung sehen, waren doch schon während seiner Dienstzeit im Auswärtigen Amt spürbare Entfremdungserscheinungen zwischen der Koalitionsspitze und führenden Liberalen auf der einen, Dahrendorf auf der anderen Seite sichtbar geworden. Qualitativ neu hingegen war die Distanzierung der Jungdemokraten von Dahrendorf. Der Parteinachwuchs war sein festester Verbündeter gewesen, er hielt ihm auch am längsten die Treue. Den überraschenden Abschied aus der deutschen Politik im Mai 1970 aber nahmen sie ihm als „Verrat“ übel. Seine Entscheidung für Brüssel sahen sie als Beleg, dass Dahrendorf „zunehmend vergessen [hat], wo seine wahren Freunde stehen“ und als Anlass, ihm die Gefolgschaft aufzukündigen. Dahrendorfs Individualismus, seine Praxis, auch folgenschwere Entscheidungen nur mit sich selbst auszumachen und mit niemanden rückzubesprechen, hatte ihn schließlich auch die letzten Getreuen gekostet.100
Epilog Seit dem Juli 1971 war Dahrendorfs politische Karriere faktisch beendet. In der Aufregung um die Kritik „Wieland Europas“ endete eine Episode im Leben des gebürtigen Hamburgers, gelernten Soziologen und heutigen britischen Lords, während der er zwischen 1968 und 1971 als „Senkrechtstarter“ zunächst scheinbar unaufhaltsam weit nach oben bis hinein in die Regierungsränge katapultiert, danach aber beinahe ebenso schnell wieder in die Tiefe politischer Bedeutungslosigkeit hinabgezogen worden war. Obwohl er noch bis 1974 in 98
Löffelholz, Thomas/Hill, Roland: Der Senkrechtstarter verläßt die Politik, in: Stuttgarter Zeitung, 19.09.1973; o.V.: Ausweg aus der Sackgasse, in: Süddeutsche Zeitung, 20.09.1973 99 Vgl. Marienbroer, Johan van: Mansholt. Een biografie, Amsterdam 2004, S. 372 f.; Zodel, Chrysostomus: Das Neue reizt im Lauf nach hochgesteckten Zielen, in: Schwäbische Zeitung, 04.01.1974. 100 Zitiert nach o.V.: Enttäuschung über Dahrendorf, in: Stuttgarter Zeitung, 19.06.1970; vgl. auch: o.V.: Leserbrief des Landesvorsitzenden der Deutschen Jungdemokraten Schleswig-Holsteins, in: Der Spiegel, 22.06.1970.
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seinem Brüsseler Amt blieb, war das Verhältnis zu den übrigen Mitgliedern der Europäischen Kommission nach diesem Vertrauensbruch dauerhaft gestört, sein Einfluss seither merklich geschwunden – ein Sachverhalt, der sich nicht zuletzt an seinem Zugang zu den Kommissionspräsidenten ablesen lässt. Auf Malfatti folgte 1972 ausgerechnet Dahrendorfs Erzrivale Mansholt, dem er in herzlicher Abneigung verbunden blieb. Unter dessen Nachfolger Ortoli wurde er dann im folgenden Jahr zum Forschungskommissar degradiert – ebenfalls kein Zeichen gegenseitiger Wertschätzung und harmonischer Kooperation.101 Schließlich: Auch seinerseits wandte sich der Soziologe nun zunehmend von der Europapolitik ab, wie der Umzug der Familie Dahrendorf aus Brüssel zurück nach Konstanz im Juli 1971 illustriert.102 Doch wartete in Deutschland seinerzeit niemand auf ihn. Die Rückkehr in die deutsche Politik war ihm verbaut. Insofern kam es einer ausgesprochenen Überraschung gleich, dass um die Jahreswende 1982/83 herum kurzzeitig noch einmal ein politisches Comeback Dahrendorfs in der Luft lag. Hatte er sich doch in London, wo er seit 1974 beinahe zehn Jahre lang die renommierte „London School of Economics“ leitete, stets wohl gefühlt. Er hatte in der britischen Metropole die vielfältigen Anregungen und persönlichen Begegnungen genossen, sich in Großbritannien auch immer ein wenig unumstrittener anerkannt gefühlt als in Deutschland. Und hatte er nicht obendrein im Rahmen seiner jetzt wieder eher akademischen Tätigkeit gelegentlich durchblicken lassen, ganz allgemein seine Aufgabe in Zukunft im Bereich der liberalen Theorie als in ihrer Praxis zu sehen? Andererseits war Stetigkeit gerade kein den Dahrendorfschen Lebenslauf kennzeichnendes Verhaltensmerkmal. Bald schon hatte er sich nach hoffnungsfrohen Anfängen, kurzen Einarbeitungszeiten und anfänglichem Vergnügen an einer neuen Herausforderung bisher stets gelangweilt, unausgelastet, ja unterfordert gefühlt. Angesichts dessen war sein langjähriger Verbleib an der LSE schon außergewöhnlich. Doch verdeckt diese oberflächliche Konstanz, dass es auch in seiner Londoner Zeit wiederholt Gerüchte über eine wachsende Unzufriedenheit und einen bevorstehenden Abschied gab. Einmal, Ende der 1970er Jahre, soll er mit der Max-Planck-Gesellschaft schon einig und sein Wechsel an die Spitze des Starnberger Instituts für Sozialwissenschaften fest verabredet gewesen sein. Wirklich sesshaft, mit anderen Worten, war Dahrendorf in den 1970er Jahren auch in der neuen Funktion nicht geworden.103 Und so tauchte er Ende 1982 plötzlich wieder vermehrt in der deutschen Öffentlichkeit auf. Erneut war seine Basis der baden-württembergische Landesverband. Hier, in BadenWürttemberg, wollte er nach der kommenden Parlamentswahl abermals Landtagsabgeordneter werden; in Konstanz wollte er wieder als Professor lehren; und Stuttgart bot ihm mit dem Dreikönigstreffen im Januar 1983 das Forum für einen umjubelten Wiedereinstieg in die Politik. Bei seinen Bemühungen, wieder Fuß in der deutschen Politik zu fassen, war der baden-württembergische Landesverband der FDP sein wichtigster Fürsprecher, besonders
101 Vgl. Löffelholz, Thomas/Hill, Roland: Der Senkrechtstarter verläßt die Politik, in: Stuttgarter Zeitung, 19.09.1973. 102 Vgl. o.V.: Europaschmiede, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.07.1971. 103 Vgl. o.V.: Dahrendorf bleibt vorerst in London, in: Stuttgarter Zeitung, 25.11.1978; o.V.: Dahrendorf sagt ab, in: Süddeutsche Zeitung, 26.05.1979.
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dessen Vorsitzender, Jürgen Morlok, der sich von Dahrendorf eine größere Ausstrahlung auf breitere Wählerschichten versprach.104 In der – zu dieser Episode von Dahrendorfs Vita besonders spärlichen – Literatur gänzlich unklar ist dagegen, auf wessen Geheiß hin Dahrendorfs Rückkehr erfolgte; ob Walter Scheel oder Hans-Dietrich Genscher ihn baten, den Vorsitz der Friedrich-NaumannStiftung (FNSt) zu übernehmen, um dann im Frühjahr 1983 als Genschers Nachfolger zum Parteivorsitzenden gekürt zu werden. Fritz Fliszar behauptet, Genscher habe darin nach dem Wechsel der FDP in eine Koalition mit der CDU/CSU unter einem Kanzler Kohl, der sogenannten „Wende“ im Herbst 1982, und infolge seines persönlichen Popularitätseinbruchs die einzige Möglichkeit gesehen, die Vertrauenskrise der FDP zu überwinden und ihre Existenz zu stabilisieren.105 Plausibler freilich ist die Deutung, nach der Scheel, selbst schon im politischen Ruhestand, doch im Hintergrund weiter aktiv, aus Hader mit Genschers Kurs eine „Führungsreserve“ aufzubauen versuchte, um die seinerzeitige Führungsriege um Genscher abzulösen. In Scheels Strategie wiederum habe Dahrendorf als Zentralfigur dieser „Führungsreserve“ eine prominente Rolle eingenommen, weshalb der ehemalige Parteivorsitzende und vormalige Bundespräsident ihn in den FNSt-Spitzenposten gehievt habe – gleichsam als Ausgangspunkt für den Parteivorsitz, d.h. um ihn auf Höheres vorzubereiten.106 Jedenfalls schlug Dahrendorf bei seiner Rückkehr sofort eine gegenüber Genscher schroff kritische Linie ein. Regelrecht als personifizierter Gegensatz zum Vorsitzenden präsentierte er sich. Im Unterschied zu diesem könne er – so Dahrendorf – „nicht taktisch denken“107. Die Dominanz kurzfristiger Erwägungen unter Genscher habe zu einer „Einengung des Denkens“108 geführt, zur Wahrnehmung der FDP als einer programmlosen Funktionspartei, ein Dilemma, das nur durch eine gezielte programmatische Erneuerung zu überwinden sei. Unverblümte Genscher-Kritik stellten auch seine Klage über eine zunehmend autoritäre Organisationswirklichkeit und die Warnung vor einer Entwicklung hin zur „zentralistischen Kaderpartei“ dar.109 Auf niemand anderen als den Parteivorsitzenden zielte er schließlich, wenn er das Abschneiden bei der Bundestagswahl 1983, von dem angenommen wurde, Genschers Schicksal im Falle einer Niederlage zu entscheiden, umstandslos für verhältnismäßig unbedeutend erklärte; und freimütig explizierte, dass wirklich bedeutsam erst ein Erfolg bei der Wahl vier Jahre später sei, ein Scheitern vorher dagegen vielleicht sogar von Vorteil und für das eigene Fortkommen günstig sein könne („Dann gehört die Partei uns.“110). Genschers Schwäche war daher eine wesentliche Ressource Dahrendorfs im Moment seines politischen Wiedereinstiegs. Wie er überhaupt von Ratlosigkeit, Untergangsängsten, existenzieller freidemokratischer Not profitierte – ganz wie schon Ende der 1960er Jahre. Die FDP hatte seit Ende der 1970er Jahre, insbesondere im Zusammenhang mit der Wende 1982/83, verheerende Wahlniederlagen erlitten und war aus mehreren Landtagen heraus104
Vgl. Steuber, Heinz L.: Rückkehr in den Landtag?, in: Stuttgarter Nachrichten, 03.05.1983; o.V.: Lange geschwankt, in: Stuttgarter Zeitung, 03.05.1983. 105 Vgl. Fliszar, Fritz: Die FDP, Selbstdarsteller und Geschäftemacher zerstören eine politische Idee, Köln 2004. 106 Vgl. Bremel, Kurt/Bremer, Heiner: Der Mann nach Genscher, in: Stern, 06.01.1983. 107 Zitiert nach Rauhaus, Gerd: Dahrendorf: Hoffnungsträger ohne Sinn für Taktik, in: Frankfurter Neue Presse, 14.01.1983. 108 Zitiert nach Hartmeier, Peter: „Sozialdemokratie ist am Ende“, in: Weltwoche, 23.02.1983. 109 Vgl. Jäger, Wolfgang/Link, Werner: Republik im Wandel 1974-1982. Die Ära Schmidt, Stuttgart 1987, S. 121. 110 Zitiert nach Bernsdorf, Martin: Vom Jobhopper nur Ratschläge, in: Rheinischer Merkur, 10.01.1983.
Ralf Dahrendorf – Scheitern eines Experiments
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geflogen. Erneut tobten heftige Flügelkämpfe, viele profilierte Führungskräfte des linksliberalen Flügels hatten den Koalitionswechsel mit ihrem Parteiaustritt quittiert, und in Umfragen rangierten die Freidemokraten auch bundesweit bisweilen deutlich unterhalb der Fünf-Prozent-Hürde. In dieser Notsituation entfalteten die Dahrendorfschen Formeln abermals ihre verzaubernde Kraft; berauschte die Parole, „unorthodox denken, eine muntere Partei werden“, die Parteiaktivisten; riss Dahrendorfs selbstbewusster Führungsanspruch („Well, ich möchte nicht stellvertretender [Hervorhebung, M.M.] Parteichef werden.“) die verzagte Basis mit. Dennoch sprachen die Umstände 1982/83 letztlich eher gegen als für ein erfolgreiches Dahrendorf-Comeback. Obwohl er nach den Jahren in London wieder an (wissenschaftlichem) Renommee gewonnen hatte und durch die Abwesenheit von Bonn Anfang der 1980er Jahre plötzlich als letzter Überlebender der radikaldemokratischen FDP-Professoren aus linksliberalen Aufbruchszeiten übriggeblieben war, haftete ihm unverändert der Ruf eines unsteten politischen Luftikus an, der für das kleinteilige Tagesgeschäft und einen Konstanz sowie Ausdauer erfordernden Job – etwa den des Bundesvorsitzenden – gänzlich ungeeignet sei. Die Bundespartei, namentlich die Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle, aber auch das Gros des Parteivorstands, war ihm gegenüber weiterhin ablehnend gesinnt. Eingebunden in Regierungsverantwortung standen die Liberalen exaltierten Gedankenflügen sehr viel verschlossener gegenüber als zu Oppositionszeiten zwischen 1966 und 1969. Disziplin und Geschlossenheit zu üben aber war Dahrendorfs Stärke unverändert nicht, der insofern ein geborener Oppositionspolitiker blieb. Zudem fiel der Parteinachwuchs als Unterstützer diesmal von vornherein aus. Von den Judos hatte sich die Partei eben erst offiziell getrennt, nachdem diese einen extremen Radikalisierungsprozess durchgemacht hatten, der sie zum Schluss an der Seite der letzten RAFSympathisanten sah. Die neugegründeten Julis dagegen mussten schon aus Gründen der Abgrenzung von den Judos und also der eigenen Legitimation zunächst Parteidisziplin wahren, fielen also als Sturmspitze der Erneuerer ebenfalls aus. Schließlich und vor allem: Nach reformerischem Überschwang war den Liberalen 1982/83 nicht zumute, der Linksliberalismus war ja eben erst gescheitert. Dahrendorfs umfassende Veränderungsthesen stießen letztlich auf einen Verband, der eben diese Richtung zugunsten einer anderen, konservativeren verlassen hatte – und für den ein erneutes Umsteuern nun erst recht den sicheren Tod bedeutet hätte. Was im speziellen für die FDP galt, stimmte in einem allgemeineren Sinne für die bundesrepublikanische Gesellschaft in den 1980er Jahren überhaupt. Die 1960er Jahre waren ganz nach Dahrendorfs Geschmack ein Jahrzehnt der Reformen, Zukunftshoffnungen und wissenschaftlich fundierten Planungseuphorie in der Politik gewesen. Für die folgenden Jahrzehnte galt das nicht mehr, in den 1970er und 1980er Jahren verbreiteten sich Mentalitäten zunächst der Zukunftsfurcht – Kriegsangst, Klimawandel, nukleare Verseuchung – und später der schlichten ökonomischen, gesellschaftspolitisch ambitionslosen Wohlstandsmehrung. Damit aber kollidierten die 1980er Jahre mit Dahrendorfs Politikverständnis, das letztlich geprägt blieb von dem Jahrzehnt zwischen Spiegel-Krise und sozial-liberalem Bündnis. All jene Ideen, mit denen er an die Öffentlichkeit trat – von der Maximierung von Lebenschancen über die Forderung nach Umbau statt Ausbau, Melioration statt Expansion bis hin zu den „mündigen Bürgern“ als FDP-Zielgruppe und dem Gedanken, Opposition könne für die Liberalen ein Jungbrunnen sein –, hatten letztlich in den 1960er Jahren ihren Aus-
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gang genommen. Derweil er die 1960er Jahre geprägt hatte, war seine Ausstrahlung zwei Dekaden später infolgedessen merklich geringer. 1985 war sein zweiter Ausflug in die deutsche Politik daher auch schon wieder beendet. Hinzu kam, dass sich seine Pläne für ein Landtagsmandat inzwischen zerschlagen hatten. Die FDP hatte ihre tiefe Krise überwunden, mit Martin Bangemann hatte sie einen neuen Vorsitzenden, der den krisengebeutelten Genscher ablöste und mit dem die Liberalen auch bei Landtagswahlen wieder erfolgreich waren, nachdem zuvor schon bei der Bundestagswahl das befürchtete Desaster ausgeblieben und der Wiedereinzug in den Bundestag deutlich geschafft worden war. Ab 1985 war Dahrendorf wieder auf dem Sprung. Gleichwohl mag er mit seinem Abschied wenige Jahre später manchen Zeitgenossen abermals überrascht haben – wenn schon nicht durch seinen erneuten Umzug, so doch durch die scheinbar finale Konsequenz, die diesem Schritt diesmal anhaftete. Dahrendorf ging 1988 nicht nur zurück nach England, er trat diesmal auch aus der FDP aus, der er zuvor zwanzig Jahre angehört und in der er eine wechselvolle, an Höhen und Tiefen überaus reiche Laufbahn absolviert hatte.
Werner Maihofer – im Zweifel für die Freiheit Frauke Schulz
„Maihofer war der liberalste Bundesinnenminister, den die Bundesrepublik je hatte. Dass sie ihn nun nicht mehr hat, kennzeichnet auch diese Republik“1, urteilte Wolfgang Clement nach Maihofers Rücktritt in der Westfälischen Rundschau. Vier Jahre bekleidete Maihofer dieses Amt für die Liberalen, zuvor war er zwei Jahre Minister ohne Portefeuille im Kabinett Brandt gewesen. Sein Credo: Im Zweifel für die Freiheit! Dennoch stolperte er als Innenminister über Affären, die ihm den Ruf des Polizeiministers einbrachten. Wie kam es dazu? Was beeinflusste den Verlauf seiner politischen Karriere? Welche Rolle spielte dabei Maihofers Status als politischer Seiteneinsteiger? Werner Maihofer wurde am 20. Oktober 1918 in Konstanz als Sohn eines Verwaltungsdirektors und einer Bauerntochter geboren. Kurz darauf folgte ein jüngerer Bruder. Politik war kaum Thema bei den Maihofers, am südlichen Rand des Deutschen Reichs fühlte man sich fast als Schweizer. Seine Jugend sei ganz und gar unbürgerlich gewesen, so Maihofer selbst: Da die Familie freireligiös war, hörte er schon in seiner Kindheit jeden Sonntag eine philosophische Morgenandacht. Obwohl mit fünfzehn Jahren doch noch evangelisch getauft, bezeichnet er sich in Anlehnung an Ludwig Feuerbach als „fromme[n] Atheist“2. In Fragen von Religion und Kirche bezieht er sich ausweichend vor allem auf deren Freiheitsgedanken.3 Seine Mutter legte größten Wert auf die Freizeitgestaltung. Sie brachte die Kinder zum Musikunterricht, nahm sie mit zum Eislaufen, Skifahren, Baden und Tennisspielen. Sport war ein bedeutender Teil von Maihofers Jugend, er gehörte sogar zeitweise dem deutschen Olympia-Team für Eiskunstlauf an.4 Damit seine Leistungen in der Schule nicht litten, gewöhnte er sich einen Tagesrhythmus an, den er bis heute nicht abgelegt hat: Um vier Uhr klingelte sein Wecker, Hausaufgaben – wie später Vorlesungsvorbereitung und Aktenstudium – wurden in den frühen Morgenstunden erledigt. Später, als er in einem Trupp voll Absolventen des Elite-Internats Schloss Salem den Arbeitsdienst ableisten musste, entdeckte er seine Leidenschaft für Literatur. Der Spiegel bezeichnete ihn als „klassische Koalition aus Grips und Bizeps“5. 1937 bestand Werner Maihofer sein Abitur, wurde dann zur Heeresnachrichtentruppe einberufen. Er erlebte als Leutnant den Krieg in Frankreich, Russland und Ungarn, verlor an der Front seinen jüngeren Bruder. die Zeit prägte – typisch für die Kriegsgeneration – seine spätere Einstellung und weckte sein Interesse für Politik. Aus den Erfahrungen dieser Jahre stammten auch seine kritische Distanz zu Ideologien und seine stete Betonung der individuellen Freiheitsrechte. 1
Clement, Wolfgang: Maihofers Abgang, in: Westfälische Rundschau, 07.06.1978. Schreiber, Hermann: Ein Quadflieg als Sheriff, in: Der Spiegel, 09.12.1974. 3 Vgl. Zirngibl, Willy: Gefragt: Werner Maihofer, Bornheim 1975, S. 23. 4 Vgl. Serke, Jürgen: Vorsicht, denkender Minister!, in: Stern, 27.06.1974; Kämpf, Margret: Der Dünnhäuter auf dem Ministersessel, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 20.08.1977; Zirngibl 1975, S. 68. 5 Schreiber, Hermann: „Lächelnd ins Abseits“, in: Der Spiegel, 01.11.1971. 2
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1942 heiratete Werner Maihofer seine Jugendliebe Margrit Schiele, mit der er im Lauf der nächsten Jahre fünf Töchter bekam. Nach dem Krieg begann er das Jurastudium in Freiburg, promovierte und habilitierte. 1955 wurde er Professor für Rechts- und Sozialphilosophie, Strafrecht und Strafprozessrecht an der Universität Saarbrücken. Schon hier setzte er sich für freiheitliche Werte ein: Resozialisation statt Wegsperren von Straftätern, und mehr Autonomie für Hochschulen gehörten zu seinen Forderungen. Dort herrschte nach der Saar-Abstimmung eine Situation des Neubeginns. Maihofer beteiligte sich maßgeblich an der neuen, äußerst liberalen Universitätsverfassung. Von 1967 bis 1969 war er Rektor der Universität, 1968 wurde er darüber hinaus Vizepräsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz (WRK). Auch hier setzt er sich für freiheitliche Werte ein: Ein Mehr an Autonomie für die Hochschulen gehörte zu seinen Forderungen. Maihofer fiel Ende der 1960er Jahre dadurch auf, dass er in der Konfrontation mit protestierenden Studenten Ruhe bewahrte. Er ließ die Demonstranten gewähren, statt die Polizei zu rufen und riet ihnen sogar: „Engagiert euch in den Parteien!“6 1969 ging Maihofer selbst im Alter von 51 Jahren den Schritt in die Politik und wurde Mitglied der FDP. Sein anschließender politischer Aufstieg erscheint kometenhaft:7 Noch im Jahr seines Parteieintritts wurde er in den Bundesvorstand gewählt. Daraufhin leitete er die Kommission zur Ausarbeitung eines neuen Grundsatzprogramms und veröffentlichte 1971 die Freiburger Thesen. Ein Jahr später wurde er als Minister ohne Portefeuille ins Bundeskabinett berufen. Der rasante Erfolg war jedoch nicht von Dauer: Schon mit dem Umzug ins Innenressort 1974 begann der „Rücktritt in Raten“8 des Seiteneinsteigers. Zahlreiche Beobachter führten dies auf schlichtes Pech und mangelnde politische Fortune zurück. Einige handfeste Gründe für sein Scheitern werden jedoch in der folgenden Analyse erkennbar. Relevant dafür ist die Betrachtung des zeithistorischen Kontextes, der damaligen Lage der FDP sowie der persönlichen Eigenschaften Werner Maihofers – zunächst zur Zeit seines Aufstiegs, anschließend während seines langsamen Falls.
Der Aufstieg: Komet am blau-gelben Himmel Politisches Klima: Aufbruch und Reformeifer Im Rückblick dominierte in den 1960er Jahren ein allgemeines, erstmals in dieser Form in Deutschland aufkommendes Gefühl von Liberalisierung und Offenheit. Ein Wandel vollzog sich in der bundesdeutschen Gesellschaft, es war die Zeit der Hoffnung, des Wachstums und der Euphorie.9 Die ökonomische Lage schien seit dem sogenannten Wirtschaftswunder der 1950er Jahre gesichert. Dies bot einerseits die Rahmenbedingungen für den beginnenden Reformeifer: Nur gefüllte Staatskassen ließen eine tief greifende Umstrukturierung zu.10 Andererseits rückte die sichere ökonomische Grundlage weniger essenzielle Bedürf6
Palmer, Hartmut: Er will Experten um sich sehen, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 28.12.1972. Vgl. Ziegler, Gerhard: FDP-Professoren: Aufgestiegen wie ein Pulk Kometen, in: Welt der Arbeit, 15.06.1978. 8 O.V.: Rücktritt in Raten, in: Süddeutsche Zeitung, 26.05.1978. 9 Vgl. Bickerich, Wolfram: Mut zum Mitleid – Die Reformpolitik der sozialliberalen Koalition, in: ders. (Hrsg.): Die 13 Jahre – Bilanz der sozialliberalen Koalition, Hamburg 1982, S. 11-26, hier S. 11 f. 10 Vgl. Borowsky, Peter: Deutschland 1970-1976, Hannover 1980, S. 64. 7
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nisse in den Vordergrund. In der deutschen Innenpolitik ergaben sich daher in fast allen Bereichen Forderungen nach tief greifenden Reformen, „mit deren Hilfe die Bundesrepublik zu einer besonders fortschrittlichen und sozial gerechten demokratischen Republik entwickelt werden sollte“11. Dieser fundamentale Wandel in der kollektiven Mentalität forderte eine völlige Rekonstruktion und Umbesetzung der politischen Struktur. Äußerlich manifestierte sich der Neubeginn im Regierungswechsel: 1969 schieden die konservativen Unionsparteien erstmals aus der Regierung aus. SPD und FDP befanden sich somit in einer vollkommen neuartigen Bündniskonstellation, an die Personal und Programme erst einmal (wenn nötig nachträglich) angepasst werden mussten. Dies bedeutete, dass sowohl im Parteiensystem als auch innerhalb der Parteien eine Tabula-rasa-Situation herrschte. Bei den Liberalen kam die Besonderheit hinzu, dass eine parteispezifische Krisensituation12 den Zwang zur Erneuerung verstärkte. Wie entwickelte sich in dieser Lage die FDP als Organisation und als Teil des Parteiensystems? Inwiefern bestand ein Zusammenhang zwischen der – von einigen Beobachtern sogenannten – „Stunde Null“ der Freien Demokraten und dem Aufstieg des Seiteneinsteigers Werner Maihofer?
Die Lage der FDP: Aushängeschild gesucht! Werner Maihofer betrat die parteipolitische Bühne vor allem aus strategischen Bedürfnissen der FDP kurz vor Besiegelung der sozial-liberalen Koalition. Bei den Liberalen herrschte Krisenstimmung: Seit drei Jahren waren sie nun schon in der Opposition, neben Großer Koalition und APO schrumpften ihre Bedeutung und Macht. Die nationalliberale Stammklientel wurde merklich von rechts durch die neu gegründete NPD abgeworben.13 Für die Partei gab es nur einen Ausweg: den Schwenk nach links, die Besinnung auf die sozialliberalen Wurzeln. Der neue Vorsitzende Walter Scheel machte den ersten Schritt in diese Richtung, gab sich reformerisch und progressiv. Doch die Fraktion und weite Teile der Landesverbände wurden weiterhin von alteingesessenen Nationalliberalen beherrscht.14 Dies bedeutete für Scheel, dass eine offensichtliche Umstrukturierung zumindest des Bundesvorstands in Richtung Sozialliberalismus notwendig war, um im öffentlichen Bild den neuen Kurs der FDP zu verfestigen. Den passenden Kopf dafür holte Scheel persönlich ins Boot: Professor Doktor Werner Maihofer. Als Hochschulprofessor war Maihofer für die FDP ein attraktiver Zugewinn. Ein Habilitierter in den eigenen Reihen schmückte die Partei, verlieh ihr Seriosität –15 und Maihofer war nicht irgendein Professor. Er stand in gutem Verhältnis zur Studentenbewegung und zur APO. In den Reihen der Liberalen hatte bis dahin kaum jemand anziehend auf dieses 11
Sontheimer, Kurt/Bleek, Wilhelm: Grundzüge des politischen Systems Deutschlands, München 2004, S. 193. Vgl. Dittberner, Jürgen: FDP – Partei der zweiten Wahl. Ein Beitrag zur Geschichte der liberalen Partei und ihrer Funktionen im Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen 1987, S. 146. 13 Vgl. Schmollinger, Horst W./Müller, Peter: Zwischenbilanz. 10 Jahre sozialliberale Politik 1969-1979, Hannover 1980, S. 25; Kaack, Heino: Die Liberalen, in: Löwenthal, Richard/Schwarz, Hans-Peter (Hrsg.): Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart-Degerloch 1974, S. 408-432, hier S. 422. 14 Vgl. Kaack, Heino: Zur Geschichte und Programmatik der Freien Demokratischen Partei. Grundriß und Materialien, Meisenheim am Glan 1976, S. 41; Vorländer, Hans: Der Soziale Liberalismus der F.D.P., in: Holl, Karl/Trautmann, Günter/ders.: Sozialer Liberalismus, Göttingen 1986, S. 190-226, hier S. 207. 15 Vgl. Bernstorf, Martin: Maihofers Notstand, in: Deutsche Zeitung, 04.03.1977. 12
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Milieu gewirkt. Von dem Seiteneinsteiger Maihofer erhoffte sich die FDP daher eine Magnetwirkung auf Linke und Studenten.16 Zudem passte Maihofer ins Bild der neuen FDP, denn er hatte sich bereits in seiner vor-politischen Karriere durch kontinuierliche Einflussnahme als liberaler Reformer profiliert: 1956 gab er durch die Ausarbeitung der Universitätsverfassung in Saarbrücken erstmals Anstöße zur Erneuerung des Hochschulrechts. Zur Zeit der „Spiegel-Affäre“ sprach er sich sehr deutlich gegen das Vorgehen von Franz-Josef Strauß und für die Pressefreiheit aus. Als die Einführung der Notstandgesetze zur Debatte stand, ergriff Maihofer wieder das Wort: Für die individuellen Bürgerrechte und gegen eine Untergrabung der Grundgesetze von Seiten des Staates. In Fragen der Strafrechtsreform machte sich Maihofer als einer der sogenannten Alternativprofessoren einen Namen. Dieser Zusammenschluss junger und liberaler Strafrechtler erarbeitete ein Alternativkonzept zum konservativen Entwurf der Strafrechtsreform von Regierungsseite. Die zentrale Forderung: Resozialisation statt Wegsperren von Straftätern. Auch seine Stellung Vizepräsident der WRK nutzte Maihofer, um Reformen anzustoßen. Maihofer verkörperte aus sich heraus eben die Richtung, für die die FDP zukünftig einstehen wollte. In ihm fanden die Liberalen das gesuchte Signal an linksliberale Bevölkerungsschichten – an potenzielle neue FDP-Wähler.
Ideologie und Struktur: Was führte Maihofer zur FDP? Doch wieso entschied sich Maihofer für den Schritt in die aktive Politik? Und warum war ausgerechnet die krisengeschüttelte17 FDP die Partei seiner Wahl? Maihofer beschrieb seine Motivation folgendermaßen: „Wenn irgendwo eine neue Epoche praktischer Auseinandersetzung mit der Industriegesellschaft möglich ist, dann hier.“18 Zudem wurde Maihofer für die Partei aktiv geworben.19 Er hörte einen Vortrag des Professors auf dem Eisenhüttentag in Düsseldorf. Dieser sprach dort vor einem Auditorium von Gewerkschaftern und Unternehmern über die Revolte der Jugend in Ost und West.20 Er zitierte Marx und Brecht, redete über die Enttäuschung der Jugendlichen von Berkeley bis Peking, über die Trägheit, Ungerechtigkeit und Unfreiheit der Welt der Erwachsenen. Die Gesellschaft befinde sich in einer Zeit des Umbruchs und die Jugend sei anzusehen als Hoffnungsträger für eine „Demokratisierung unserer Gesellschaft im Sinne des freiheitlichen Rechtsstaates und Sozialstaates“21. Die ältere Generation müsse die politischen Ziele der Jüngeren ernster nehmen. Explizit nannte er dabei die SPD und die FDP als parlamentarisches Auffangbecken für derartiges Denken.22 Unter den Zuhörern war Walter Scheel, bei dem Maihofers Vortrag auf offene Ohren stieß: „Als ich den Vortrag hielt beim Eisenhüttentag, saß in der ersten Reihe ein älterer Herr, den ich noch nie gesehen hatte und der kam nach meinem Vortrag auf mich zu und 16
Vgl. Palmer, Hartmut: Er will Experten um sich sehen, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 28.12.1972. Vgl. Dittberner 1987, S. 146. Zitiert nach Sänger, Hartmut: Werner Maihofer – der große Obskure, in: Bayern Kurier, 03.11.1973. 19 Vgl. Diederichs, Werner: Freiburger FDP-Thesen tragen auch Maihofers Handschrift, in: Die Welt, 13.12.1972. 20 Vgl. Maihofer, Werner: Die Revolte der Jugend – für die Evolution der Gesellschaft in Ost und West, in: Szczesny, Gerhard (Hrsg.): Club Voltaire. Jahrbuch für kritische Aufklärung IV, Hamburg 1970, S. 94-111. 21 Maihofer 1970, S. 107. 22 Vgl. ebd., S. 103. 17 18
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der sagte, Herr Professor, was Sie da soeben vorgetragen haben… Sie sind einer der unseren! Ich lade Sie zum nächsten Dreikönigstreffen in Stuttgart ein! Da bin ich dann hingegangen und dann trat ich in die FDP ein.“23 Der Eintritt ins Licht der Öffentlichkeit der aktiven Politik wurde Maihofer obendrein durch seine vorpolitische Einflussnahme erleichtert. Bereits zu dieser Zeit arbeitete er eng mit der FDP zusammen, sie übernahm sogar weite Teile seiner Vorschläge zum Hochschulrecht.24 Auch die Konzepte der Alternativprofessoren flossen tatsächlich in die Staatsreform ein. Hinzu kam die bereits skizzierte Aufbruchsstimmung in der Partei. Führungswechsel und Neuorientierung bestimmten das Bild der Liberalen, eine gewisse Formbarkeit der Partei deutete sich an. Maihofer erkannte in dieser Lage die Möglichkeit, „der Epoche seinen Stempel aufzudrücken und der Partei seiner Wahl zum ‚Durchbruch’ zum liberalen Sozialismus“25 zu verhelfen. Maihofer zog es überdies in die FDP, da er eine Mitgliedschaft bei den beiden großen Parteien für sich aus ideologischen Gründen ausschloss. Parteien, die sich weltanschaulich dem Sozialismus oder aber dem Katholizismus verschrieben, wollte Maihofer sich nicht anschließen. SPD und CDU schieden also für Maihofer von vornherein aus. Auch daher zog es ihn zu den Liberalen. Machtpolitisch schließlich bot die FDP einen besonderen Vorteil für Maihofer: Sie war diejenige der etablierten Parteien, in der eine schnelle Karriere für einen Quereinsteiger wie ihn am ehesten möglich erschien: „Die geringe Mitgliederdichte [bewirkt] zusammen mit der starken Föderalisierung und geringen Bürokratisierung der Parteiorganisation aber auch eine relativ große personelle und politische Flexibilität der Partei.“26. Gerade in der Zeit des Umbruchs bei den Liberalen wurde deutlich, dass die Partei offen war für den schnellen Aufstieg eines viel versprechenden Protagonisten ihrer sozialliberalen Politik. Hätte Maihofer sich also für eine der Volksparteien entschieden, wäre ihm allein aus strukturellen Gründen wohl kein solch „kometenhafter“27 Aufschwung gelungen.
Die Freiburger Thesen: Schaustück in der Ausstellungsvitrine Durch seinen Quereinstieg war Maihofer in der FDP zunächst weitgehend auf sich allein gestellt, er verfügte weder über Netzwerke noch Seilschaften. Dennoch gelang ihm das für einen Seiteneinsteiger schwierige Kunststück, sich eine kleine Hausmacht in der Partei zu verschaffen: Er wurde zum Aushängeschild des progressiv-reformfreudigen Flügels.28 Dies erreichte er als Leiter der 1970 eingesetzten Programmkommission, die eine „theoretische
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Werner Maihofer im Gespräch mit der Autorin am 10.03.2008. Vgl. Palmer, Hartmut: Er will Experten um sich sehen, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 28.12.1972; Lösche, Peter/Walter, Franz: Die FDP. Richtungsstreit und Zukunftszweifel, Darmstadt 1996, S. 88; Goos, Diethart: Werner Maihofer – Minister ohne Fortune, in: Die Welt, 07.06.1978. 25 Sänger, Hartmut: Werner Maihofer – der große Obskure, in: Bayern Kurier, 03.11.1973. 26 Dittberner 1987, S. 195; vgl. auch Baring, Arnulf: Machtwechsel. Die Ära Brandt–Scheel, Stuttgart 1982, S. 98. 27 Kailitz, Steffen: Werner Maihofer, in: Kempf, Udo/Merz, Hans-Georg (Hrsg.): Kanzler und Minister 19491998, Wiesbaden 2001, S. 462-465, hier S. 462. 28 Vgl. Sobczyk, Peter: Werner Maihofer, in: Bernecker, Walther L./Dotterweich, Volker (Hrsg.): Persönlichkeit und Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Politische Porträts, Band 2, Göttingen 1982, S.72-79, hier S. 75 f. 24
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Begründung der sozialliberalen Koalition“29 von Seiten der FDP entwickeln soll. Das Ergebnis waren die „Freiburger Thesen“. Mit ihnen wird Maihofer bis heute verbunden, er gilt als ihr „geistiger Vater“30. Die auf dem Freiburger Parteitag 1971 vorgestellten Thesen zur Gesellschaftspolitik sind als Höhepunkt des Kurswechsels der FDP zu betrachten.31 Stellenweise enthielt das Programm – vor allem für konservativere Gemüter – fast sozialistisch anmutende Tendenzen. Deutlich äußerten die Autoren Kritik am kapitalistischen System und setzten sich beispielsweise für mehr Mitbestimmungsrechte für Arbeitnehmer ein. Die Grenzen der freien Marktwirtschaft wurden ebenso aufgezeigt wie die Notwendigkeit staatlicher Einflussnahme. So kommentierte der SPD-Vorsitzende Kurt Beck 2006 rückblickend: „Das Freiburger Programm liest sich über weite Strecken wie eine hochaktuelle Kritik am Neoliberalismus und seinem verengten Freiheitsverständnis.“32 Den Thesen kam einerseits eine Parteiensystemfunktion, andererseits eine Funktion auf innerparteilicher Ebene zu: Durch sie wurde einerseits der Regierungswechsel 1969 nachträglich legitimiert und die bestehende Koalition untermauert. Eine Verbindung zur Gesellschaftspolitik des Regierungspartners wurde hergestellt, wobei explizit liberale Standpunkte die FDP wiederum von der SPD abgrenzten. Innerparteilich festigten die Freiburger Thesen den eingeschlagenen sozialliberalen Kurs und spiegelten die Arbeit der neuen Führung. Der linke Flügel fand sich in dem Programm wieder, wohingegen der nationalliberale Teil endgültig abgestoßen wurde.33 Im öffentlichen Image gelang den Liberalen damit „die Wende von einer ‚Wirtschaftspartei’ zu einer linksliberalen Aufsteigerpartei“34. Bemerkenswert ist, dass den Freiburger Thesen – in verblüffender Parallele zu ihrem geistigen Vater Werner Maihofer – vor allem eines zugeschrieben wurde: der sinnbildliche Wert.35 Denn obwohl das Programm für die Profilierung der FDP in Öffentlichkeit und Medien eine enorme Bedeutsamkeit besaß, wurden auf praktisch-politischer Ebene kaum Elemente daraus realisiert, es war ein bloßes „Schaustück in der Ausstellungsvitrine der FDP“36. So scheiterte bezeichnenderweise Werner Maihofers Modell zur Mitbestimmung schon auf dem Freiburger Parteitag 1971, also just dem Parteitag der Programmverabschiedung, gegen das konservative Modell Horst-Ludwig Riemers.37 Sogar der selbsternannte Reformer Scheel und sein Stellvertreter Genscher versagten Maihofer die Unterstützung.38 Und selbst sein einziger prominenter Mitstreiter Karl-Hermann Flach gab später „heimlich 29
Lösche/Walter 1996, S. 88. Kailitz 2001, S. 462; vgl. auch Schmollinger, Horst W.: Veränderung und Entwicklung des Parteiensystems, in: Glaeßner, Gert-Joachim/Holz, Jürgen/Schlüter, Thomas: Die Bundesrepublik in den siebziger Jahren. Versuch einer Bilanz, Opladen 1984, S. 32-52, hier S. 43; Schmollinger/Müller 1980, S. 46. 31 Vgl. Lehnert, Detlef: Die sozial-liberale Koalition: Vom „historischen Bündnis“ zum wahltaktischen Bruch?, in: Glaeßner/Holz/Schlüter, S. 15-31, hier S. 27. 32 Beck, Kurt: Was heißt heute sozial-liberal?, in: http://www.zeit.de/2006/44/Freiburger-Thesen [eingesehen am 23.10.2007]. 33 Vgl. Vorländer 1986, S. 192; o.V.: Bis die Linke einig ist, in: Der Spiegel, 01.11.1971. 34 Löffelholz, Thomas: Seit Traubes Wanze wackelt Maihofers Stuhl, in: Stuttgarter Zeitung, 05.06.1978. 35 Vgl. Vorländer 1986, S. 213. 36 Serke, Jürgen: Vorsicht, denkender Minister!, in: Stern, 27.06.1974. 37 Vgl. Sobczyk 1982, S. 75. 38 Vgl. Diederichs, Werner: Freiburger FDP-Thesen tragen auch Maihofers Handschrift, in: Die Welt, 13.12.1972; Lösche/Walter 1996, S. 92. 30
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zu, dass ihm Riemers formaler Erfolg besser in die langfristige Partei-Strategie“39 passte. Während Maihofer in Freiburg noch den Beginn der „zweite[n] Phase der bürgerlichen Revolution“40 beschwor, wurde sein sozialliberaler Kurs auf praktischer Ebene in Wahrheit bereits dort im Keim erstickt.
Im Kabinett Brandt: der symbolische Minister Die Entscheidung, Maihofer 1972 ins zweite Kabinett Brandt zu berufen, fiel in koalitionstaktischen Verhandlungen: „Die einigende Formel – für die FDP eine spürbare Aufwertung, für Brandt annehmbar und für beide Seiten symbolkräftige Bekundung intensiver Partnerschaft – erspähte schließlich Walter Scheel, der gewissermaßen als Ausgleich und Äquivalent für Brandts Chefdenker Bahr Sitz und Stimme im Kabinett auch für seinen liberalen ‚Chefprogrammierer’ Maihofer empfahl.“41 Die Ernennung zum Sonderminister war symbolischer Beweis – einerseits für die gewonnene Stärke der Koalition nach dem gescheiterten Misstrauensvotum, andererseits für die exponierte Stellung des linken FDP-Flügels. Als Kopf der Parteilinken trug Maihofer bei den Liberalen zur Befriedung der Flügelauseinandersetzungen bei: Durch sie sollte die linke Strömung ausreichend in Partei- und Ministerämtern vertreten sein. Maihofer war also hauptsächlich als Sprecher dieses Parteispektrums von Bedeutung, weniger als eigenständiger Politiker. Für die Koalition entwickelte sich Maihofer in dieser Zeit zum sinnbildlichen Stützbalken von liberaler Seite.42 Denn er betonte immer wieder die Bedeutung des – nach seinen Worten – historischen Bündnisses zwischen Liberalen und Sozialdemokraten.43 Er diente als „Garant dafür, dass die FDP nicht abschwenkt in das Lager der Union“44. Auch die Medien erklärten Maihofer zum sozialliberalen Symbol45 und „Zugpferd“46. Journalisten fanden in ihm den „Hauslinke[n]“47, manche sogar den „Wehner der FDP“48. Nicht etwa der tatsächliche Nachfolger Mendes, Walter Scheel, sondern Werner Maihofer rückte als „FDP-Vorzeigestück dieser Tage“49 in den medialen Mittelpunkt. Zwar war er nicht
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O.V.: Bis die Linke einig ist, in: Der Spiegel, 01.11.1971. Ebd. Krumm, Karl-Heinz: Neben dem Chef sitzt der Chefdenker, in: Frankfurter Rundschau, 21.12.1972. 42 Dies verstärkte sich zunehmend nach dem Tod des Generalsekretärs Karl-Hermann Flach im Jahr 1973, der sich ebenfalls als linksliberaler Vordenker profiliert hatte; vgl. Leuschner, Udo: Die Geschichte der FDP. Metamorphosen einer Partei zwischen rechts, sozialliberal und neokonservativ, Münster 2005, S. 89. 43 Vgl. Augstein, Rudolf: Macht und Ohnmacht der Liberalen, in: Grube, Frank/Richter, Gerhard: (Hrsg.): Der SPD-Staat, München 1977, S. 302; Mörbitz, Eghard: Maihofers Problem heißt Maihofer, in: Frankfurter Rundschau, 31.05.1978; Goos, Diethart: Werner Maihofer – Minister ohne Fortune, in: Die Welt, 07.06.1978. 44 Serke, Jürgen: Vorsicht, denkender Minister!, in: Stern, 27.06.1974; vgl. auch Löffelholz, Thomas: Reformdenker im Kabinett der Macher, Stuttgarter Zeitung, 09.12.1974. 45 Vgl. Löffelholz, Thomas: Seit Traubes Wanze wackelt Maihofers Stuhl, in: Stuttgarter Zeitung, 05.06.1978; ders.: Maihofer – ohne Grundgesetz unter dem Arm?, in: Stuttgarter Zeitung, 04.03.1977; Ziegler, Gerhard: FDPProfessoren: Aufgestiegen wie ein Pulk Kometen, in: Welt der Arbeit, 15.06.1978;. 46 Kaiser, Carl-Christian: Ein Mitgeschleppter der Koalition, in: Die Zeit, 02.06.1978. 47 Leicht, Robert: Hegel im Geist, die Bratsche im Gepäck, in: Süddeutsche Zeitung, 28.09.1972. 48 Diederichs, Werner: Freiburger FDP-Thesen tragen auch Maihofers Handschrift, in: Die Welt, 13.12.1972. 49 Ziegler, Gerhard: FDP-Professoren: Aufgestiegen wie ein Pulk Kometen, in: Welt der Arbeit, 15.06.1978. 40 41
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wirklich Chef der Partei, die Presse machte ihn zumindest aber zu deren Chef-Ideologen.50 Der neue Sonderminister schien der wichtigste Mann für die Beziehung zwischen den Regierungspartnern zu sein. „Werner Maihofer war für viele der Kitt, ja gelegentlich sogar die Schlüsselfigur der sozial-liberalen Koalition.“51 In dieser Phase medialen Zuspruchs nahm Maihofer seine Arbeit als Minister ohne Portefeuille auf. Ihm fiel kein definiertes, eigenes Ressort zu – er betrachtete sich jedoch keineswegs als Minister ohne Verantwortungsbereich. Zwar verfügte er über vergleichsweise wenige Mitarbeiter und geringe finanzielle Mittel.52 Derlei formelle Macht war jedoch zu keinem Zeitpunkt das primäre Ziel des Seiteneinsteigers. Ihm war wichtig, etwas zu bewegen. Er machte es sich also zur Aufgabe, allerorts auszuhelfen und zu beraten, wo sein liberaler oder juristischer Beistand gefragt schien. Zumal das Arbeiten in einem kleinen Kreis von Mitarbeitern ihm lag, er war es aus seiner Zeit an der Hochschule gewohnt. Tatsächlich wurde seine Tätigkeit als Sonderminister die für ihn effektivste Zeit seiner Laufbahn: Er befasste sich „ohne Macht und oft auch ohne jede Zuständigkeit mit schwierigsten Problemen, belächelt von seinem persönlichen und politischen Umfeld, von Skepsis und Misstrauen begleitet – und war doch in jedem Fall erfolgreich“53.
Werner Maihofer: ein charismatischer Führer? Nur wenige Autoren bezeichneten Werner Maihofer explizit als charismatisch.54 Dennoch ist Eines bemerkenswert: Die Beschreibung Maihofers und des Verhältnisses anderer zu ihm deckte sich in der Wortwahl auffallend häufig mit den Attributen, die Max Weber einem charismatischen Führer zuschrieb, beispielsweise in Bezug auf die Anhängerschaft.55 Außergewöhnlich häufig bedienten sich Journalisten bei der Charakterisierung der Person Maihofers Formulierungen, die der Religion entlehnt waren: „Seine einstigen Jünger stießen ihn vom Podest eines Gralshüters des sozialen Liberalismus“56, er gebe der sozialliberalen Koalition eine „theologische Weihe“57, sein „FDP-Stern [sei] am Tage der Heiligen Drei Könige aufgegangen“58. Er habe „festen Glauben an seine Berufung“59, „im höhe-
50 Vgl. o.V.: Bis die Linke einig ist, in: Der Spiegel, 01.11.1971; Sänger, Hartmut: Werner Maihofer – der große Obskure, in: Bayern Kurier, 03.11.1973; o.V.: Weg vom Mythos, in: Der Spiegel, 09.09.1974; Mumme, Gerd: Zum zweitenmal verliert die FDP-Linke ihren Kopf, in: Welt am Sonntag, 13.03.1977; Krumm, Karl-Heinz: Neben dem Chef sitzt der Chefdenker, in: Frankfurter Rundschau, 21.12.1972. 51 Löffelholz, Thomas: Reformdenker im Kabinett der Macher, Stuttgarter Zeitung, 09.12.1974. 52 Vgl. Kailitz 2001, S. 463. 53 Krumm, Karl-Heinz: Ein liberaler Denker im Kabinett der Macher, in: Frankfurter Rundschau, 05.08.1974; vgl. auch Neumeier, Eduard: Ein Durchbruch für Minister Maihofer, in: Die Zeit, 28.02.1975; Kailitz 2001, S. 463 ff. 54 Vgl. Goos, Diethart: Werner Maihofer – Minister ohne Fortune, in: Die Welt, 07.06.1978; Merck, Johannes: Klar zur Wende? Die FDP vor dem Koalitionswechsel in Bonn 1980 bis 1982, Berlin 1989. 55 Vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen, 1972, S. 140; Kaiser, Carl-Christian: Ein Mitgeschleppter der Koalition, in: Die Zeit, 02.06.1978; Fromme, Friedrich-Karl: Werner Maihofer: Bis zuletzt ein Mann der eigenen Entschlüsse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.06.1978; Zundel, Rolf: Duell oder Duett?, in: Die Zeit, 27.09.1974. 56 Goos, Diethart: Werner Maihofer – Minister ohne Fortune, in: Die Welt, 07.06.1978. 57 Zundel, Rolf: Duell oder Duett?, in: Die Zeit, 27.09.1974. 58 Mumme, Gerd: Zum zweitenmal verliert die FDP-Linke ihren Kopf, in: Welt am Sonntag, 13.03.1977. 59 O.V.: Hinter dem Mond, in: Der Spiegel, 25.12.1972.
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ren Sinne, einen Auftrag“60. Er wurde als Idol61, Heiliger62, Prediger63 und liberaler Erzengel64 beschrieben, der einen Passionsweg65 beschreite. Auch andere Merkmale charismatischer Führung im Weberschen Sinn66 lassen sich im Fall Maihofer finden. So ließ sich das Auftreten charismatischer Führung in Krisenzeiten, wie gezeigt, auf die damalige FDP und Maihofer beziehen. Auch war Maihofer ein Visionär: „Er ist nie auf fahrende Züge aufgesprungen. Er hat sie in Bewegung gesetzt. […] Seine Stärke war das Anregen, die Skizze, nicht das Handbuch zur leichten Anwendung.“67 Seine Anhängerschaft nahm Maihofer als authentisch wahr, sein Auftreten als Sozialliberaler wirkte echt, nicht aufgesetzt. Gerade dies erklärt die herbe Enttäuschung, die viele später gegenüber dem Innenminister Werner Maihofer empfanden. Die Einordnung Maihofers als charismatischen Führer zeichnet bereits teilweise den weiteren Verlauf seiner Karriere vor: Denn dieser Form der Führung wird eine implizite Labilität zugeschrieben: Kann der Herrscher die überhöhten Bedürfnisse der Anhängerschaft nicht mehr ausreichend befriedigen, so versiegt die Quelle seiner Macht. Diese Veralltäglichung68 kommt einer Vernichtung des Charismas gleich, entzieht damit dem Herrschaftsverhältnis seine Grundlage. Bei einem Misserfolg ist die mystische Aura des Charismatikers beschädigt. Wird das visionäre Projekt – in Maihofers Fall das Experiment sozial-liberale Koalition – abgeschlossen oder abgebrochen, ist die Stunde des Retters vorüber.69
Scheel, Flach und Brandt: die Protektoren Walter Scheel persönlich warb Maihofer für die FDP.70 Er achtete in der folgenden Zeit – nicht zuletzt auf Außenwirkung bedacht – stets darauf, in engem Kontakt zu seinem neuen Star zu bleiben. So wurde Maihofer bei Konferenzen und Sitzungen räumlich stets in direkter Nähe zum Außenminister platziert.71 In der Zusammenarbeit mit Regierungspartner Brandt diente Maihofer Scheel als ständige Verstärkung. Besprechungen fanden unter dauernder Präsenz der beiden Berater statt: Werner Maihofer auf liberaler und Egon Bahr auf sozialdemokratischer Seite. Dies räumte Maihofer innerhalb der Regierung einen enorm hohen Stellenwert ein, höher als man von einem Sonderminister vermuten würde. Der Kanzler und sein Vize legten Wert auf Maihofers Anwesenheit, schätzten an ihrem neuen 60
Schreiber, Hermann: Ein Quadflieg als Sheriff, in: Der Spiegel, 09.12.1974. Vgl. Reiser, Hans: Maihofers später Abgang, in: Süddeutsche Zeitung, 07.06.1978. 62 Vgl. Fromme. Friedrich Karl: Wie es um Maihofer steht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.05.1978. 63 Vgl. Pruys, Karl Hugo: Maihofer hat dazugelernt, in: Münchner Merkur, 30.05.1978; Mörbitz, Eghard: Maihofers Problem heißt Maihofer, in: Frankfurter Rundschau, 31.05.1978. 64 Vgl. Fromme, Friedrich-Karl: Werner Maihofer: Bis zuletzt ein Mann der eigenen Entschlüsse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.06.1978. 65 Vgl. Kaiser, Carl-Christian: Ein Mitgeschleppter der Koalition, in: Die Zeit, 02.06.1978. 66 Vgl. Randow, Gero von: Narziß in der Rückkopplungsschleife, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.02.2002. 67 Serke, Jürgen: Vorsicht, denkender Minister!, in: Stern, 27.06.1974. 68 Vgl. Weber 1972, S. 144 ff. 69 Vgl. Randow, Gero v.: Narziß in der Rückkopplungsschleife, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.02.2002. 70 Vgl. Diederichs, Werner: Freiburger FDP-Thesen tragen auch Maihofers Handschrift, in: Die Welt, 13.12.1972. 71 Vgl. Krumm, Karl-Heinz: Neben dem Chef sitzt der Chefdenker, in: Frankfurter Rundschau, 21.12.1972. 61
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Minister vor allem die Kunst des Vermittelns und die Fähigkeit zum Kompromiss.72 Er selbst fand sich in gewohnter Arbeitsweise wieder, das Planen „im kleinen Kreis mit kollegialer Atmosphäre“73 war für ihn die ideale Praktik. Allgemein fügte sich Maihofer mit seinen Konzepten für Reformen und Neuerungen gut ins Kabinett Brandt ein. Der Sonderminister stand in einem Verhältnis persönlicher Hingabe zu seinem Regierungschef. Maihofer teilte Brandts Willen zu Aufbruch und Veränderung sowie sein visionäres Politikverständnis. Sie verband – ähnlich wie Maihofer und Scheel – ein freundschaftliches, herzliches und vertrauensvolles Verhältnis. Parteiintern fand Maihofer einen Unterstützer im ersten Generalsekretär der FDP, Karl-Hermann Flach.74 Flach war für seine linke Einstellung bekannt und galt wie Maihofer als liberales Herzstück der Koalition. Er stellte sich öffentlich hinter Maihofers Vorschläge und Konzepte – beispielsweise im Fall der Freiburger Thesen –, auch dort, wo die Parteispitze ihm die Unterstützung versagte.75 Für einen Seiteneinsteiger wie Maihofer war ein derartiger Schutz durch die Granden in Partei und Regierung enorm wichtig. Er selbst konnte nicht auf starke Netzwerke vertrauen, sondern verdankte seine starke Stellung wesentlich den helfenden Händen von ganz oben. Sein Erfolg war damit gekoppelt zum einen an das Wohlwollen, zum anderen aber auch schlicht an die eigenen Machtressourcen seiner Protektoren. Bemerkenswert war allerdings, dass es Maihofer trotz seines Seiteneinsteiger-Status‘ durchaus gelang, sich eine kleine Hausmacht in der FDP zu verschaffen: Er galt von Beginn an als Kopf der Linksliberalen und jungen Parteimitglieder.76 Seine Anhängerschaft war zwar in der FDP nicht mehrheitsbildend. Dennoch wurde sie beschrieben als „stark und vor allem sehr engagiert“. Diese Basis verschaffte Maihofer eine gestärkte Stellung in der FDP. Denn sobald es darum ging, dem linken Flügel in Personalfragen gerecht zu werden, wurde er als dessen Sprecher hofiert. Dennoch erwuchsen Maihofer eben daraus auch Schwierigkeiten. Seine Anhängerschaft war ideologisch enorm aufgeladen. Pragmatiker à la Hans-Dietrich Genscher fanden sich unter ihnen nicht. Daher war diese Gruppierung extrem unempfänglich für machtpolitische Schachzüge und ließ wenig Spielraum in moralischen und inhaltlichen Fragen. Es bedurfte also großer ideologischer Stringenz und absoluter politischer Übereinstimmung, um diese Basis zu halten. Dies führte zu Problemen, je höher Maihofer in der Ämterhierarchie aufstieg und je mehr er dadurch zu Kompromissen gezwungen war.
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Vgl. ebd. Krumm, Karl-Heinz: Ein liberaler Denker im Kabinett der Macher, in: Frankfurter Rundschau, 05.08.1974. Vgl. Werner Maihofer im Gespräch mit der Autorin am 10.03.2008. 75 Vgl. Diederichs, Werner: Freiburger FDP-Thesen tragen auch Maihofers Handschrift, in: Die Welt, 13.12.1972. 76 Vgl. Sobczyk 1982, S. 75 f. 73 74
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Der Fall: Abstieg auf Raten Politisches Klima: konservative Tendenzwende Die Jahre 1973 und 1974 markieren in der westdeutschen Gesellschaft eine Zäsur. Auf die Euphorie der späten 1960er Jahre folgte eine konservative Tendenzwende,77 die „Zeit der großen Ernüchterung“78. Ein Grund dafür war die seit Ende 1973 stagnierende Wirtschaft. Teure Reformvorhaben der Regierung mussten erst einmal auf Eis gelegt werden79 – und fanden häufig nicht wieder auf die Agenda zurück.80 Und auch die Bedürfnisse der Bevölkerung wandelten sich: Statt nach Reformen sehnten sich die Deutschen vor allem nun wieder nach traditionellen Werten wie Ordnung und Sicherheit.81 Andererseits: Überzeugten Anhängern linker Ideologie gingen zeitgleich die antiautoritären Tendenzen und reformerischen Gedanken der Regierung nicht weit genug. Als Folge wandten sie sich von den etablierten Organisationen ab und artikulierten ihre Ansichten in den entstehenden Bürgerrechtsbewegungen.82 Das Ergebnis für die Regierungskoalition war hier wie dort dasselbe: Die Unterstützung in der Bevölkerung nahm rapide ab. Das sozial-liberale Bündnis bestand zwar fast zehn weitere Jahre fort. Doch veränderte sich jetzt die Beziehung der Koalitionspartner zueinander. Die Väter des Bündnisses, Brandt und Scheel, wurden abgelöst und durch Politiker ersetzt, die vor allem für ihren Pragmatismus bekannt waren: Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher. Für die FDP bedeutete dies eine Abkehr von der bis dahin proklamierten einzig vorstellbaren, historischen Bündnisvariante mit den Sozialdemokraten. Zumal ein neuer Konkurrent im Parteiensystem der FDP die linke Wählerschaft streitig zu machen drohte: Die Gründung einer Umweltschutzpartei zeichnete sich ab. Langsam öffnete sich so wieder der Weg nach rechts und damit zur Union. Die Liberalen standen seither vor der schwierigen Aufgabe, ihren sozialliberalen Kurs nach außen hin weiter glaubwürdig zu vertreten, während parteiintern bereits neue Möglichkeiten ausgelotet wurden. In dieser Notsituation kam Werner Maihofer ins Spiel: Sein symbolischer Wert wurde dazu genutzt, Kontinuität zu suggerieren.83 Erreicht wurde dies durch eine scheinbare Aufwertung von Maihofers Stellung: Er wurde 1974 der Nachfolger Hans-Dietrich Genschers im Amt des Bundsinnenministers. Dies war der Moment der größten institutionellen Macht in Werner Maihofers Karriere. Tatsächlich aber schwand die Bedeutung des Sozialliberalen: Das veränderte politische Klima sorgte dafür, dass andere Anforderungen an die Politik gestellt wurden. Statt sozialer Visionen ging es Mitte der 1970er Jahre um tagespolitische Überlebensstrategien und pragmatische Konzepte. Schlagartig verloren die Parteien das Interesse an Grundsatzprogrammen und Zukunftskonzepten.84 Maihofer war in seiner 77 Vgl. Borowsky 1980, S. 122; Lösche/Walter 1996, S. 95 f.; Bracher, Karl Dietrich: Politik und Zeitgeist – Tendenzen der siebziger Jahre, in: ders./Jäger, Wolfgang/Link, Werner: Republik im Wandel 1969-1974. Die Ära Brandt, Stuttgart u.a. 1986, S. 285-406, hier S. 346. 78 Bracher 1986, S. 286 und S. 338. 79 Vgl. Borowsky 1980, S. 94 f.; Bracher, Karl Dietrich: Vom Machtwechsel zur Wende, in: ders./Jäger, Wolfgang/Link, Werner: Republik im Wandel 1969-1974. Die Ära Brandt, Stuttgart u.a. 1986, S. 7-12, hier S. 8. 80 Vgl. Lehnert 1984, S. 24; Sobczyk 1982, S. 78. 81 Vgl. Lehnert 1984, S. 20. 82 Vgl. Lösche/Walter 1996, S. 95. 83 Vgl. Sobczyk 1982, S. 78. 84 Vgl. Jäger, Wolfgang: Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition 1974-1982, in: ders./Link, Werner: Republik im Wandel 1974-1982. Die Ära Schmidt, Stuttgart 1987, S. 9-272, hier S. 14.
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Funktion als Parteiideologe und Pogrammatiker in dieser gesellschaftlichen Stimmung nicht mehr gefragt. Eine ähnliche vermeintliche Beförderung, die in Wirklichkeit eine Entmachtung bedeutete, war die Ernennung Maihofers zum Leiter der Perspektiv-Kommission. Deren Aufgabe war es zwar, die gesellschaftspolitische Linie der FDP weiter auszuformen. Jedoch besaß sie parteiintern tatsächlich kaum Gewicht, denn sie stand in ständiger Konkurrenz zur fast zeitgleich eingesetzten Wirtschafts-Kommission. Die Auswirkung: Ein zähes Ringen um den Vorrang von ökonomischen oder sozialen Aspekten, bei dem die Ökonomen eindeutig die Oberhand behielten.85 Ihren Kulminationspunkt fand die Entwicklung zum Wirtschaftsliberalismus in den Kieler Thesen von 1977, die endgültig das Ende der sozialliberalen Phase der FDP besiegelten.86 Die Jahre 1973/74 waren für Werner Maihofers Karriere ebenso bedeutsam wie das Jahr 1969. Die Mitte des Jahrzehnts bedeutete eine weitere tief greifende Veränderung für die bundesdeutsche Parteienlandschaft und ihre Politiker: Ökonomisch, politisch und gesellschaftlich geriet die Republik erneut in Bewegung. Fünf bedeutende Ereignisse veränderten die Karrierebedingungen Maihofers grundlegend:
eine konservative Wendung des politischen Klimas, der Wechsel der Regierungsspitze, ein neuer Vorsitzender der FDP, die Wahl zum stellvertretenden Bundesvorsitzenden sowie Werner Maihofers Amtsantritt und seine Arbeit als Innenminister.
Für Maihofer bedeuteten diese Jahre den Scheitelpunkt seiner Politikerlaufbahn: Paradoxerweise begann gerade mit dem scheinbar prestigeträchtigen Aufstieg ins Innenministerium sein langsamer Abstieg. Auch die personellen Veränderungen in Partei und Koalition bedeuteten für Maihofer eine spürbare Verschiebung der Machtverhältnisse – vor allem seiner eigenen Macht. Die drei wichtigsten Wegbereiter seines Aufstiegs verschwanden aus verschiedenen Gründen von der politischen Bühne: Überraschend starb der angesehene Linksliberale Karl-Hermann Flach im August 1973. Das für ihn geschaffene Amt des Generalsekretärs blieb zunächst vakant. Ein Mitstreiter von ähnlichem Stellenwert war nicht in Sicht. Scheel blieb zwar als Bundespräsident der Politik erhalten. Das rein repräsentative Amt brachte jedoch einen erheblichen Verlust an Einfluss und Bedeutung in Partei und Regierung mit sich. Nach dem Ausscheiden von Flach und Scheel als Stützen des sozialliberalen Kurses wurde diese Richtung von den Machthabern der FDP kaum noch vertreten.87 Willy Brandt wiederum wurde von Helmut Schmidt im Posten des Bundeskanzlers abgelöst. Er blieb zwar im Vorsitz der SPD, für die Zusammenarbeit mit den Liberalen jedoch war er nicht mehr von zentraler Bedeutung. Maihofer erahnte die Tragweite dieses Personalwechsels: Zur Verabschiedung Brandts trug er – als einziger der Minister – aus Betroffenheit eine schwarze Krawatte.88 85
Vgl. Jäger 1987, S. 28. Vgl. ebd., S. 114. 87 Vgl. Vorländer 1986, S. 217 f. 88 Vgl. Neumeier, Eduard: Ein Durchbruch für Minister Maihofer, in: Die Zeit, 28.02.1975. 86
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Diese Entwicklung beendete auf einen Schlag das Protektorat für Werner Maihofer. Zwar konnte er sich zunächst noch auf seine linksliberale Basis in der FDP berufen. Eine helfende Hand von oben gab es jedoch nicht mehr. Maihofer war von nun an in Partei und Kabinett auf sich allein gestellt, konnte sich nicht mehr auf eine Sonderstellung als Berater des Parteichefs oder auf zuverlässige Unterstützer in den höheren Rängen berufen. Stattdessen sah er sich mit einem neuen Parteivorsitzenden und einem neuen Regierungschef konfrontiert, die beide kaum bereit waren, auf den professoralen Theoretiker Rücksicht zu nehmen.
Im Kabinett Schmidt: Maihofer als Problemfigur Vom „Bannerträger der sozialliberalen Koalition“89 unter Brandt wurde Maihofer fast zur „Problemfigur“90 des neuen Kabinetts. Dies wurde verstärkt durch die mediale Darstellung der sachlichen, aber auch persönlichen Differenzen zwischen dem Innenminister und seinem Regierungschef.91 Schmidt nutzte den Medienberichten zufolge jede Gelegenheit, den „neuen Mann seine Abneigung spüren zu lassen“92. Höhepunkt der Auseinandersetzungen war die sogenannte Fernsehschelte des Kanzlers. In einem Interview äußerte sich Schmidt äußerst herablassend über seinen Minister: Maihofer arbeite sich in viele ihm bisher unbekannte Themengebiete ein, seine Kollegen versuchten, „ihm dabei zu helfen“93. Allgemein drängte sich für Beobachter der Eindruck auf, „dass der liberale Reformdenker ein Fremdkörper im Kabinett der Macher ist, ganz anders als im Reformkabinett Brandt“94. Die rigorosen Sparpläne Schmidts bedeuteten zudem das Ende der Reformvorhaben, an denen aber gerade Maihofers Herz hing.95 In Bonn wurde daher bereits Ende 1974 darüber spekuliert, wie lange Maihofer „noch die Nerven behalten wird“96. Auch der neue FDP-Vorsitzende passte in seiner politischen Arbeit und Philosophie nicht recht zu seinem neuen Innenminister. Wo der für Programme, Konzepte und Visionen stand,97 galt Genscher als „unideologisch, pragmatisch, machtorientiert. […] Genscher war offen – für alles, was den Freien Demokraten den größtmöglichen Einfluss einbrachte“98. Er schätzte nicht den Wert eines Theoretikers in seinen Reihen, die taktische Wirkung von Programmen verkannte der Pragmatiker.99 Zudem entwickelten sich die Liberalen unter Genscher in der Koalition verstärkt zum konservativen Korrektiv der sozialdemokratischen
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Kailitz 2001, S. 465. Melder, Heinz-Joachim: Maihofer – die Problemfigur des Kabinetts, in: Die Welt, 19.11.1974; Schreiber, Hermann: Ein Quadflieg als Sheriff, in: Der Spiegel, 09.12.1974; Kailitz 2001, S. 465. 91 Vgl. Schreiber, Hermann: Ein Quadflieg als Sheriff, in: Der Spiegel, 09.12.1974. 92 O.V.: Alle Menschen sind gut, in: Der Spiegel, 09.12.1974. 93 Zitiert nach o.V.: Aussprache brachte Teilerfolg, in: Frankfurter Rundschau, 26.11.1974. 94 Löffelholz, Thomas: Reformdenker im Kabinett der Macher, Stuttgarter Zeitung, 09.12.1974. 95 Vgl. o.V.: Spaß vorbei, in: Der Spiegel, 14.07.1975. 96 Beöczy, Siegfried v.: In Bonn regiert bedrücktes Schweigen, in: Stuttgarter Nachrichten, 11.12.1974. 97 Vgl. Serke, Jürgen: Vorsicht, denkender Minister!, in: Stern, 27.06.1974. 98 Lösche/Walter 1996, S. 69 f. 99 Vgl. ebd., S. 80. 90
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Politik.100 Vor allem nach der erneuten Bestätigung der rot-gelben Koalition 1976 verstärkte sich diese Tendenz, gekoppelt mit der Annäherung an die CDU.101 Für die Etablierung oder Weiterentwicklung eines Profils, wie Maihofer es immer wieder von der Partei forderte, blieb bei dieser Strategie kein Platz – insbesondere nicht für das sozialliberale Image, das Maihofer und seinen Anhängern für die FDP vorschwebte. Genscher sah den Machtfaktor der Liberalen darin, ausschlaggebende Kraft bei Wahlen zu sein, unentbehrlich für das Zustandekommen einer Regierung. Essenziell dafür war, dass die Option einer Koalition mit beiden Volksparteien offen stand.102 Maihofers Verständnis vom historischen Bündnis mit der SPD passte nicht in dieses Konzept. Das einst so gefragte sozial-liberale Image des Seiteneinsteigers wurde damit für die FDP unbrauchbar. Besonders offensichtlich wurden die gewandelten Kräfteverhältnisse innerhalb der FDP bei den Vorstandswahlen im Jahr des Führungswechsels 1974. Mit 190 zu 204 Stimmen unterlag Maihofer in einer Kampfabstimmung um das Amt des stellvertretenden Parteivorsitzenden seinem Konkurrenten, dem Wirtschaftsminister Hans Friderichs. Dabei galt Maihofers Wahl als gesichert, der Mitbewerber ließ sich erst in letzter Minute aufstellen – 103 eine deutliche Provokation aus dem mit dem sozialliberalen Flügel konkurrierenden wirtschaftsliberalen Lager. Es gelang Maihofer zwar, die Parteilinke hinter sich zu bringen. Auf die gesamte FDP bezogen blieb seine Anhängerschaft jedoch eine Minderheit.104 Obwohl das Ergebnis knapp ausfiel, kam der Wahl ein großer Stellenwert zu. Beobachter gingen sogar soweit zu sagen, der Fall Maihofer sei für die Liberalen die Personifizierung der Frage, ob die Koalition mit der SPD weiterhin als einzig mögliche Option gehandelt werden solle.105 Die Abstimmung wurde als deutliche Abwendung vom sozialliberalen Kurs angesehen.106 Maihofer selbst war von der unerwarteten Niederlage hart getroffen und von der Partei enttäuscht.107 Dies deutet an, wie wenig der Seiteneinsteiger sich an die Rolle des Berufspolitikers gewöhnt hatte. Rückschläge konnte er schwer hinnehmen, er fühlte sich stattdessen persönlich angegriffen und reagierte „bitter“108.
Im Innenministerium: Überforderung und Enttäuschung Als Innenminister konnte Werner Maihofer sein erfolgreiches Arbeiten in der Form, wie es ihm als Sonderminister gelungen war, nicht fortsetzen. Hierfür waren unterschiedliche Faktoren verantwortlich: Zum einen stand sein persönlicher Arbeitsstil im Gegensatz zu den Gegebenheiten, die das Innenministerium mit sich brachte. Zum anderen bestand ein großer Widerspruch zwischen den politischen Maßnahmen, die aus aktueller Sicht angebracht erschienen, und Maihofers eigentlichen politischen Grundsätzen. 100
Vgl. ebd., S. 94 f. Vgl. ebd., S. 98. 102 Vgl. ebd., S. 100; Sontheimer, Kurt/Bleek 2004, S. 62. 103 Vgl. Zundel, Rolf: Duell oder Duett?, in: Die Zeit, 27.09.1974. 104 Vgl. Bernstorf, Martin: Maihofers Notstand, in: Deutsche Zeitung, 04.03.1977. 105 Vgl. Herrmann, Ludolf: Das Dilemma der FDP heißt Maihofer, in: Deutsche Zeitung, 06.12.1974. 106 Vgl. Schmollinger 1984, S. 43. 107 Vgl. Lölhöffel, Helmut: Friderichs gewimmt knapp gegen Maihofer, Genscher erwartungsgemäß Vorsitzender, in: Süddeutsche Zeitung, 02.10.1974. 108 Zitiert nach Sobczyk 1982, S. 75. 101
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Er selbst gab sich zunächst als durchaus überzeugt von seiner Qualifikation für das neue Amt. Seine Begeisterung für Sport, Musik und Literatur erleichterten nach seiner Einschätzung den Zugang zu den Zuständigkeitsbereichen des Ressorts. In seiner Zeit als Soldat erkannte er eine Parallele zur Verantwortung für den Bundesgrenzschutz, die langjährige Erfahrung als Jurist wertete er als vorteilhaft für die Arbeit mit Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz. Kluge Kommentatoren vermerkten allerdings damals schon, dass all dies „zunächst nur gute Voraussetzungen [sind] – einen erfolgreichen Politiker machen sie allein noch nicht aus“109. Maihofer bewegte sich stets in seinem überschaubaren Kreis von Mitarbeitern, arbeitete als „Seminarist im Ministerrang“110. Das Innenministerium erwies sich als genaues Gegenteil: Im „Haus der tausend Zuständigkeiten“111 arbeiteten unzählige Beamte und Staatssekretäre, die nicht zu den persönlichen Vertrauten Maihofers zählten. Außerdem galt es, Tag für Tag neue dringliche Probleme und Fragen anzugehen.112 Diese Arbeitsweise und Aufgabenfülle konnte Maihofer nicht bewältigen. Der debattierfreudige, sanftmütige Württemberger fand sich in seiner Rolle einfach nicht zurecht, Entschlossenheit und Härte gehörten nicht zu seinen persönlichen Stärken.113 Es fiel ihm schwer, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen, Taktik war ihm ein Fremdwort.114 Als problematisch erwies sich zusätzlich, dass Maihofer trotz dieser Mängel ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein besaß. In den Medien wurden ihm ein Hang zum „Recht-haben-Wollen“115 sowie eine hartnäckige Beratungsresistenz116 nachgesagt. Auch inhaltlich konnte Maihofer seinen eigenen Ansprüchen nicht genügen. Sein oft zitierter liberaler Leitsatz lautete: „Im Zweifel für die Freiheit.“117 In der Hochphase des linken Terrors in Deutschland und in Anbetracht des Konservativtrends im politischen Klima konnte Maihofer dieses Credo kaum vertreten. Die tagespolitischen Ereignisse zwangen ihn dazu, seine freiheitliche Linie zu verlassen. Die Jahre 1974 bis 1978 waren in Deutschland gekennzeichnet von Anschlägen der Roten Armee Fraktion (RAF). Als Innenminister musste Maihofer auf diese Bedrohung reagieren. Das liberale Aushängeschild der Regierung musste für eine Verschärfung der Gesetze eintreten, die „aus liberaler Sicht bedenklich“118 erschien. Gemeint ist beispielsweise das Kontaktsperregesetz, das den inhaftierten RAF-Mitgliedern den Umgang mit ihren Anwälten verbot. Mit Maihofers eigenen politischen Vorstellungen war dies schwer vereinbar, er litt „unter den Zwiespälten, in denen er sich immer häufiger entgegentritt“119.
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Neumeier, Eduard: Ein Durchbruch für Minister Maihofer, in: Die Zeit, 28.02.1975. Fromme, Friedrich-Karl: Werner Maihofer: Bis zuletzt ein Mann der eigenen Entschlüsse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.06.1978. 111 Herrmann, Ludolf: Das Dilemma der FDP heißt Maihofer, in: Deutsche Zeitung, 06.12.1974. 112 Vgl. Fromme, Friedrich-Karl: Werner Maihofer: Bis zuletzt ein Mann der eigenen Entschlüsse, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.06.1978. 113 Vgl. Melder, Heinz-Joachim: Maihofer – die Problemfigur des Kabinetts, in: Die Welt, 19.11.1974. 114 Vgl. Herrmann, Ludolf: Das Dilemma der FDP heißt Maihofer, in: Deutsche Zeitung, 06.12.1974. 115 Fromme, Friedrich Karl: Der Sozialliberale, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.1974. 116 Vgl. Melder, Heinz-Joachim: Maihofer – die Problemfigur des Kabinetts, in: Die Welt, 19.11.1974. 117 Sobczyk 1982, S. 78; Zundel, Rolf: Maihofer – ein Idol ist zerstört, in: Die Zeit, 11.03.1977; o.V.: Fall Maihofer: „Um Kopf und Kragen“, in: Der Spiegel, 07.03.1977. 118 Leuschner 2005, S. 130. 119 Herrmann, Ludolf: Das Dilemma der FDP heißt Maihofer, in: Deutsche Zeitung, 06.12.1974. 110
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Problematisch für Maihofer war vor allem, dass Vorwürfe bald auch aus seiner Anhängerschaft laut wurden.120 Für seine Position in der FDP hatte dies fatale Folgen: Der linke Flügel, seine vormalige Hausmacht, versagte ihm die Unterstützung.121 Damit verlor Maihofer seine für die Parteispitze einzig relevante strategische Position innerhalb der Partei als Exponent des Reformerflügels. Um sich einen neuen funktional relevanten Status in der FDP zu verschaffen, war der Seiteneinsteiger zu wenig Taktiker. Das unbarmherzige Urteil über seine Arbeit war daher bereits nach sieben Monaten gefällt: „Obwohl noch niemand ihm eine Panne oder ein Versagen nachweisen konnte, gilt er bereits als erfolgloser Politiker.“122 Dabei war Maihofer anfangs überhaupt nicht für das Innenministerium vorgesehen. Mehrere Quellen deuten auf sein ursprünglich angestrebtes Ziel hin: „Justizminister wollte er werden, und hielt sich selber für einen der Besten auf diesem Stuhl.“123 Die Jungdemokraten sahen Maihofer bereits in diesem Amt,124 und auch Regierungschef Helmut Schmidt plante Maihofer zunächst für den Posten ein. Auch FDP-interne Akten belegen, dass noch 1973 der Name Maihofer in Verbindung mit dem Justizministerium fiel.125 Letztendlich jedoch sprachen machtpolitische Einwände der Liberalen gegen den logisch erscheinenden Schritt: „Sich mit dem Justizministerium zu begnügen, hätte für die Liberalen einen Qualitätsverlust ihrer Ministerämter bedeutet. So lehnte man das Justizministerium ab […] und da Werner Maihofer als Vertreter des linken Parteiflügels im Kabinett bleiben musste, wurde er ‚zwangsläufig’ Innenminister.“126 Anhand dieser Wendung zeigte sich erneut, dass Maihofers eigentlicher Wert für die FDP rein repräsentativ war, seine fachlichen Qualitäten weit weniger schwer wogen als seine funktionale Bedeutung für die Liberalen. Geradezu tragisch erscheint diese Entscheidung aufgrund einer Besonderheit des Justizministeriums: Tatsächlich war fast ausschließlich auf diesem Bereich ein Fachspezialist wie Maihofer überhaupt gefragt. Andere Ministerien, wie eben auch das Innenministerium, verlangten hauptsächlich nach einem fähigen Manager, einem Generalisten, fachliche Kenntnisse zählten dort weniger.127 Das Justizministerium dagegen erforderte andere Qualitäten: Spezialwissen und Fachkenntnisse. Für Maihofer schien dies ideal. Denn ein juristischer Fachmann, ein Experte auf seinem Gebiet, war er. Der kalkulierende, entscheidungsfreudige Organisator jedoch, den das Innenministerium verlangte, war er nicht.
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Vgl. o.V.: Alle Menschen sind gut, in: Der Spiegel, 09.12.1974. Vgl. Kailitz 2001, S. 464. 122 O.V.: Alle Menschen sind gut, in: Der Spiegel, 09.12.1974. 123 Sänger, Hartmut: Werner Maihofer – der große Obskure, in: Bayern Kurier, 03.11.1973; vgl. auch Löffelholz, Thomas: Reformdenker im Kabinett der Macher, Stuttgarter Zeitung, 09.12.1974. 124 Vgl. Baring 1982, S. 517. 125 Vgl. Archiv des Liberalismus (ADL), Bestand Karl-Hermann Flach, N 47 104. 126 Löffelholz, Thomas: Reformdenker im Kabinett der Macher, Stuttgarter Zeitung, 09.12.1974; vgl. auch Dreher, Klaus: In der FDP hält sich der Ruf nach personellen Konsequenzen, in: Süddeutsche Zeitung, 24.03.1977; Fromme, Friedrich Karl: Der Sozialliberale, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.10.1974. 127 Vgl. Kempf, Udo: Die Regierungsmitglieder als soziale Gruppe, in: ders./Merz, Hans-Georg (Hrsg.): Kanzler und Minister 1949-1998, Wiesbaden 2001, S. 7-35, hier S. 34 f.; Beyme, Klaus v.: Die politische Elite in der Bundesrepublik Deutschland, München 1971, S. 113. 121
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Die Abhöraffäre Traube: Maihofer ruiniert sein Image Das erste eindeutige Zeichen, das Maihofers Rücktritt einleitete, war die sogenannte Lauschaffäre Traube: Der Verfassungsschutz hatte Ende 1975 Abhörwanzen in der Wohnung des Atomphysikers Klaus Traube installiert, der angeblich Kontakte zu Mitgliedern der RAF unterhielt. Der Verdacht erhärtete sich nicht, die durchgeführte Maßnahme war illegal – gebilligt jedoch von Innenminister Maihofer. Nach Bekanntwerden der Aktion durch eine Titelgeschichte des Spiegel am 28. Februar 1977128 geriet Maihofer in Erklärungsnot. Gerade er, der die Freiheit immer zum höchsten Gut erklärt hatte, der das „liberal[e] Gewissen der Freien Demokraten“129 verkörperte, erschien nun als Initiator des Überwachungsstaats.130 Zu allem Überfluss verstrickte sich der Innenminister bei seinen Äußerungen in Widersprüche.131 Die Empörung in der eigenen Gefolgschaft war groß: Jusos und Liberaler Hochschulbund forderten den Rücktritt.132 Es war bezeichnend, dass sich gerade auch das junge Parteivolk der FDP, die Judos, enttäuscht von ihrem vormaligen Hoffnungsträger abwandte.133 Dabei hatte Maihofers sozialliberale Anhängerschaft als durchaus solide gegolten. Besonders für einen politischen Seiteneinsteiger hatte er sich eine beachtliche Hausmacht erarbeitet.134 Das Tückische an seiner Gefolgschaft war jedoch ihre linksliberale Ausrichtung. Als Innenminister stand Maihofer für sie fast in jeder Sachfrage – sei es beispielsweise bezüglich der Atomkraft oder der Terrorismusbekämpfung – auf der falschen Seite. Mit der Affäre Traube verlor Maihofer endgültig seine Basis in der FDP.135 Beim Gros der Partei fanden Maihofers politische Konzepte ohnehin schon lange keinen Anklang mehr und auch Regierungschef Schmidt stellte sich bereits zuvor nur ungern hinter seinen Innenminister.136 Dennoch überstand Maihofer die Krise und blieb noch über ein Jahr im Amt. Dies überrascht zunächst, da die Konstellation von politischem Klima, Parteilinie und Tagespolitik wie beschrieben eigentlich auf sein politisches Ende hindeutete. Es wurde ihm jedoch eine Gnadenfrist gewährt, da die unterschiedlichen politischen Akteure aus verschiedensten Gründen ein Interesse daran hatten, Maihofer nach der Abhöraffäre schonend zu behandeln. Kritik an Maihofer hagelte zwar von allen Seiten, doch ist „auffällig, dass sie nicht von Personen oder Gruppen kam, die sich in unmittelbarer politischer Verantwortung befinden“137. Die Regierungs- und Parteispitze schützte ihren Innenminister: Genscher ergriff sofort Partei für seinen Nachfolger, versuchte dazu, die Basis zu beschwichtigen. 138 Und auch Schmidt verkündete schließlich seine Loyalität gegenüber Maihofer.139 128
Vgl. o.V.: Der Minister und die „Wanze“, in: Der Spiegel, 28.02.1977. Goos, Diethart: Die innerparteiliche Machtprobe steht Maihofer noch bevor, in: Die Welt, 04.03.1977. Vgl. o.V.: Fall Maihofer: „Ohren anlegen und durch“, in: Der Spiegel, 14.03.1977. 131 Vgl o.V.: Fall Maihofer: „Um Kopf und Kragen“, in: Der Spiegel, 07.03.1977. 132 Vgl. Löffelholz, Thomas: Maihofer – ohne Grundgesetz unter dem Arm?, in: Stuttgarter Zeitung, 04.03.1977. 133 Vgl. o.V.: Bonn vor der Entscheidung über das politische Schicksal Maihofers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.03.1977. 134 Vgl. Löffelholz, Thomas: Seit Traubes Wanze wackelt Maihofers Stuhl, in: Stuttgarter Zeitung, 05.06.1978. 135 Vgl. ebd. 136 Vgl. o.V.: Fall Maihofer: „Um Kopf und Kragen“, in: Der Spiegel, 07.03.1977. 137 O.V.: Bonn vor der Entscheidung über das politische Schicksal Maihofers, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.03.1977. 138 Vgl. o.V.: Fall Maihofer: „Um Kopf und Kragen“, in: Der Spiegel, 07.03.1977; Tönshoff, Lothar: Maihofer, Wehner, die Wanzen und das wachsende Geraune in Bonn, in: Berliner Morgenpost, 12.03.1977. 139 Vgl. Zundel, Rolf: Maihofer – ein Idol ist zerstört, in: Die Zeit, 11.03.1977. 129 130
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Dieses Verhalten lässt sich folgendermaßen erklären: Die Regierungspartner waren 1977 noch darum bemüht, die Koalition aufrecht zu erhalten. Eine Tendenzwende in Richtung schwarz-gelber Koalition fand erst nach der erneuten Bestätigung des Bündnisses 1980 statt. Für FDP und auch SPD war es 1977 daher noch immens wichtig, das öffentlich wirksame Aushängeschild der sozial-liberalen Vereinigung nicht zu verlieren. Also stellte sich die Koalition in „mühsamer Solidarität“140 hinter Maihofer. Auch die Oppositionsparteien verhielten sich auffällig ruhig. Dies lag laut Beobachtern vor allem daran, dass der zukünftige Wunsch-Koalitionspartner FDP geschont werden sollte.141 Wichtig war jedoch für alle Beteiligten auch die Stimmung in der Bevölkerung, also das politische Klima: Sicherheit rangierte im Wählerempfinden Ende der 1970er Jahre weit vor Freiheit – und dessen waren sich die Spitzenpolitiker durchaus bewusst.142 Im Auftrag der Regierung wurde sogar eigens eine Blitzumfrage durchgeführt, die belegte, dass die Mehrheit der Deutschen das Verhalten Maihofers für angemessen hielt.143 Ein weiterer, rein pragmatischer Grund sprach zudem dafür, dass Maihofer seinen Posten behalten konnte: In der FDP war weit und breit kein Nachfolger für das Amt in Sicht. Für die allgemein angeschlagene Koalition konnte eine personelle Verschiebung der Spitze zu diesem Zeitpunkt eine enorme Gefährdung bedeuten, jede Veränderung wäre einer Zerreißprobe gleich gekommen.144 Maihofer profitierte von dieser personellen Notlage: Er durfte zunächst im Amt bleiben. Politisch jedoch war er bereits jetzt „zur Strecke gebracht“145.
Der Sündenbock: Maihofer stürzt Doch blieb die Traube-Affäre nicht Maihofers letzte Panne. 1977 erreichte der linke Terrorismus mit dem Deutschen Herbst seinen Höhepunkt. Terroristen entführten den Arbeitgeberpräsidenten Hanns-Martin Schleyer, um die Freilassung der sogenannten ersten Generation der RAF um Gudrun Ensslin und Andreas Baader aus dem Sicherheitsgefängnis in Stuttgart Stammheim zu erpressen. Anders als im vorangegangenen, ähnlichen Entführungsfall um Peter Lorenz ließ sich die Bundesregierung nicht auf das Tauschgeschäft ein. Letztendlich nahmen sich die Häftlinge in ihren Zellen das Leben, Schleyer wurde wenig später ermordet aufgefunden. Verhängnisvoll daran für Innenminister Maihofer: Es gab während der Gefangenschaft Schleyers einen Hinweis aus der Bevölkerung auf dessen Versteck. Durch Versäumnisse und schlechte Koordination der Ermittlungen wurde dem Tipp jedoch nicht rechtzeitig nachgegangen, die Rettung der Geisel misslang. Die Pannen im Fall Schleyer wurden durch eine Untersuchungskommission unter Hermann Höcherl aufgedeckt und im sogenannten Höcherl-Bericht veröffentlicht. Dieser fiel für Maihofer vernichtend aus: Seit „Hermann Höcherl seinen von der Regierung bestellten Untersuchungsbericht über die Fahndungspannen im Fall Schleyer vorgelegt hat, 140
Ebd. Vgl. o.V.: Fall Maihofer: „Um Kopf und Kragen“, in: Der Spiegel, 07.03.1977. 142 Vgl. ebd. 143 Vgl. o.V.: Fall Maihofer: „Ohren anlegen und durch“, in: Der Spiegel, 14.03.1977. 144 Vgl. Zundel, Rolf: Maihofer – ein Idol ist zerstört, in: Die Zeit, 11.03.1977. 145 Ebd. 141
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lässt sich Maihofers Versagen nicht länger verheimlichen“146. Das Image des Liberalen war nun vollends ruiniert. Laut Presseberichten nutzte Genscher die Krise Maihofers, um deutlich zu machen, dass dieser nun endgültig aus dem Kabinett scheiden müsste. Er wartete lediglich auf den richtigen Zeitpunkt, sich des lästigen Ministers zu entledigen.147 Die passende Gelegenheit, Maihofer endgültig los zu werden, boten dann die Wahlen zur Bürgerschaft in Hamburg und zum Landtag in Niedersachsen im Juni 1978. In beiden Bundesländern scheiterte die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde, ein desaströses Ergebnis. Dieser Rückschlag musste erklärt werden, Konsequenzen waren notwendig. Den Liberalen war jedoch daran gelegen, so wenig politische Köpfe wie möglich rollen zu lassen. Werner Maihofer als Sündenbock darzustellen, hatte für die Partei zwei Vorteile: Zum einen würde der lästige Minister endlich aus dem Weg geräumt sein. Zum anderen würde sichtbar auf die Wahlniederlagen reagiert werden. So kam es, dass sowohl Genscher als auch Lambsdorff ihren Innenminister öffentlich an den Pranger stellten: Die Affären um Maihofer wären für das schlechte Abschneiden verantwortlich. Zwei Tage später trat Maihofer zurück. Die politische Karriere des Seiteneinsteigers in der FDP war damit beendet. Doch lässt sich an seinem Weg nicht nur ein individuelles Schicksal ablesen, sondern zudem die Funktionsweise der gesamten Partei: „Die Begeisterung des sozial-liberalen Aufbruchs war im grauen Alltag schwerfälliger Machtverwaltung geschwunden, die vielversprechende Idee an der ernüchternden Realität zerschellt. In dessen Weg spiegelte sich der Sündenfall seiner Partei.“148
Fazit: Symbolwert mit begrenztem Nutzen In der Analyse konnte deutlich gemacht werden, wie sehr die Karriere Maihofers von seinem Nutzen für die Partei abhing. Die FDP passte sich durch ihn an den Zeitgeist an: Der Seiteneinsteiger wurde in einer innerparteilichen Nullstunde in das Boot geholt, als das alteingesessene Personal für die Liberalen nicht mehr ausgereicht hatte. Maihofers Image entsprach dagegen exakt den neuen Bedürfnissen der FDP. Er verkörperte deren sozialliberale Neuausrichtung, stand symbolisch für den Zusammenschluss mit den Sozialdemokraten und zog eine bisher unerschlossene Wählerschicht an. In dieser Funktion war er für die Liberalen sehr wertvoll. So stellten sich folgerichtig der Vorsitzende Scheel und sein Generalsekretär Flach schützend vor ihren Zugewinn. Maihofer blieb in der FDP jedoch immer nur ein Symbol. Dies erkennt man an seinem Werdegang: Als Sonderminister wurde er von Partei und Medien zum Stützpfeiler der Koalition erklärt. Tatsächlich jedoch besaß er kaum Machtressourcen. Die Beförderung zum Innenminister bewies, dass inhaltlich wenig von ihm erwartet wurde. Er verfügte weder über die persönlichen Attribute, noch über das politische Format eines erfolgreichen Innenministers. Dass er beste Voraussetzungen für das Justizressort erfüllte, interessierte bei der Postenvergabe nicht. Auch innerparteilich wurde Maihofer allein zur Außenwirkung eingesetzt. Seine Freiburger Thesen dienten schlicht der medialen Inszenierung des neuen Kurses, realisiert wurden sie hingegen nicht. Das einflussreiche Amt des stellvertretenden Bundesvorsitzenden 146
O.V.: Maihofer: Abgang gesucht, in: Der Spiegel, 05.06.1978. Vgl. ebd. 148 Jäger 1987, S. 116. 147
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wurde ihm vorenthalten, stattdessen unterstellte man ihm die quasi bedeutungslose Perspektiv-Kommission. Gelenkt wurde die Vorenthaltung von realer Macht für Maihofer ganz bewusst vom neuen Parteichef Genscher. Für den Pragmatiker kam es nicht in Frage, tatsächlich sozialliberale Politik zu betreiben. Stattdessen reagierte er auf den politischen Klimawandel in Deutschland und etablierte die FDP als Sprachrohr der Wirtschaft. Zugleich hatte er dennoch großes Interesse daran, Maihofer in der Partei und in vermeintlich hoher Position zu halten, um das sozial-liberale Bündnis weiter glaubhaft nach außen darzustellen. So setzte er auch nach den Affären Traube und Schleyer alles daran, den angeschlagenen Minister im Amt zu halten. Maihofer stürzte nicht aufgrund von inhaltlichen Verfehlungen. Er wurde erst dann abgestoßen, als es für die Partei strategisch sinnvoll erschien. Maihofers Weg verdeutlicht, wie die Parteispitze den weitgehend isolierten Seiteneinsteiger je nach Bedarf benutzte. Er wurde als einzig wahrer Sozialliberaler vor den Karren der FDP gespannt, von Scheel protegiert und gepusht. Unter Genscher wurde er noch so lange mühsam am politischen Leben gehalten, wie er einen Zweck erfüllte. Ohne Zögern wurde er danach fallengelassen. Die Karriere des Quereinsteigers Werner Maihofer: eine reine Nutzenkalkulation der FDP.
Kurt Biedenkopf – General bei Kohl, König in Sachsen Matthias Micus
Sinniert man heute über Kurt Biedenkopf, so wird der sächsische „König Kurt“ erinnert, der Prototyp aller parteiübergreifend beliebten Landesväter, der in den 1990er Jahren mit komfortablen absoluten Stimmenmehrheiten die Landespolitik in einem Ausmaß dominierte, wie es ansonsten allenfalls noch die christsozialen Regenten in Bayern vermochten. Ebenso kommt das spektakuläre Ende seiner Regierungszeit in den Sinn – die Konflikte mit seinem designierten Nachfolger Georg Milbradt, den Biedenkopf auch für Parteifreunde vollkommen überraschend schasste, der Öffentlichkeit fundamentale Zweifel an der politischen Eignung seines bisherigen Finanzministers mitteilend; die Selbstherrlichkeit, mit der das Ehepaar Biedenkopf zunächst alle Vorwürfe über zu niedrige Wohnungsmieten und die Vermischung privater und dienstlicher Angelegenheiten als Diffamierungskampagne abtat; vor allem aber die groteske Habgier, die namentlich die Frau des Ministerpräsidenten jede erdenkliche Vergünstigung annehmen, Rabatte fordern und die Kargheit des Ministerpräsidentengehalts beklagen ließ.1 Auch die Pressedarstellungen, die aus Anlass von Biedenkopfs Rücktritt die Karriere des gebürtigen Ludwigshafeners Revue passieren ließen, erwähnten nur stark gerafft die Jahre vor 1990. Entsprechend ratlos schilderten viele Porträtisten den abrupten Wandel des Ministerpräsidenten vom unangefochtenen sächsischen Übervater zum Skandal umwehten Raffke. Vielfach wurde der „Ingrid“-Faktor, also der übertriebene Ehrgeiz seiner ambitionierten Ehefrau, für sein rasches Scheitern verantwortlich gemacht,2 oftmals von Journalisten auch die eigene Überraschung nicht verhohlen. Nicht Wenigen galt Biedenkopfs Abschwung nach dem Jahrtausendwechsel als eklatanter Bruch, sein Scheitern als verblüffendere Einschnitt in seiner Biografie, als präzedenzlos oder – was dasselbe ist – als Ausdruck von Altersstarrsinn.3 Wird freilich die Betrachtungsperspektive erweitert und auch die Vorgeschichte der sächsischen Zeit – also die 1970er und 1980er Jahre – in den Fokus gerückt, so verliert der Einschnitt im Jahr 2002 viel von seiner Exotik. Vor dem Hintergrund der Karrierehöhepunkte 1973, 1980 und 1986 – als Biedenkopf zunächst Generalsekretär, später Ministerpräsidentenkandidat der CDU in Nordrhein-Westfalen und zuletzt Vorsitzender der vereinigten nordrhein-westfälischen Landesverbände Westfalen-Lippe und Rheinland wurde – und der Tiefschläge 1977, 1983 und 1987 – als er von seinen Ämtern jeweils abgewählt, ja richtiger: gegen seinen Willen herausgeworfen, von seinen Gegnern jedesmal mit regelrechten Verdammungsschwüren belegt –, dann erscheint Biedenkopfs Politikerlaufbahn
1 Vgl. Carstens, Peter: Wer ihn unterschätzt, sagt: Vielleicht kommt Biedenkopf gar nicht mehr zurück nach Dresden, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.04.2001. 2 Vgl. Schneider, Jens: Umzingelt von Bewunderern, in: Süddeutsche Zeitung, 14.02.2001. 3 Vgl. Burger, Reiner: Beratungsresistent, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.11.2001; Carstens, Peter: Ein Königspaar, das nicht abtreten will, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.12.2001.
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vielmehr als permanente Achterbahnfahrt und gerade die Diskontinuität, die jähen Brüche, scharfen Einschnitte und heftigen Wechsel als ihre eigentliche Konstante.4 Es stellt sich daher weniger die Frage, was Biedenkopfs Absturz zu Beginn des dritten Jahrtausends verursachte, als grundsätzlicher, woraus sich die Vielzahl von Aufs und Abs in seiner politischen Vita erklärt. Welche Eigenschaften ließen ihn immer wieder scheitern, welche ihn andererseits ebenso beständig auch für die höchsten Ämter in Frage kommen und geeignet erscheinen? Wovon hingen Erfolge und Niederlagen ab, welche Umweltbedingungen und Parteikonstellationen waren seinen Talenten günstig, welche ihnen abträglich? Und lassen sich über die Jahre hinweg neben dem bloß formalen Urteil der Wechselhaftigkeit bei Biedenkopf auch Konstanzen im Hinblick auf Politikverständnis, Führungsstil und Umgangsformen ausmachen?
Seiteneinstieg an die Parteispitze Im Juni 1973 wurde Biedenkopf auf dem CDU-Bundesparteitag in Bonn vom frisch gekürten Parteivorsitzenden, Helmut Kohl, als Generalsekretär vorgeschlagen und anschließend von den Delegierten mit großer Mehrheit gewählt. Zu diesem Zeitpunkt galt er unter gestandenen Christdemokraten als Seiteneinsteiger. Und unzweifelhaft war er durch eine systematische Basisarbeit bisher nicht aufgefallen, auch hatte er sich nie für die üblichen politischen Einstiegsämter – einen Posten im Kreisvorstand, die Wahl zum Delegierten eines Landes- oder Bundesparteitags, ein Mandat im Gemeinderat – beworben. Andererseits besaß er Anfang der 1970er Jahre bereits eine ganze Reihe von politischen Vorerfahrungen, die seinen bundespolitischen Einstieg wenn auch überraschend, so doch nicht aus dem absoluten Nichts heraus erfolgen ließen.5 1965 der Partei in seiner Wahl-Heimat Bochum beigetreten, wo er seit dem Vorjahr eine Universitäts-Professur bekleidete, hatte er schon in den Folgejahren verschiedentlich vor dem Einstieg in eine Spitzenposition der nordrhein-westfälischen Landespolitik gestanden. 1966 war er dann als Justizminister im letzten Kabinett von Franz Meyers im Gespräch, vier Jahre später schließlich präsentierte ihn der christdemokratische Oppositionsführer, Heinrich Köppler, als Mitglied seines Schattenkabinetts für die bevorstehende Landtagswahl. Zur gleichen Zeit legte die Mitbestimmungskommission dem Bundeskanzler Willy Brandt ihren Abschlussbericht vor, als deren Vorsitzender Biedenkopf seit 1968 – damals noch von Brandts Vorgänger Kiesinger ernannt – einer breiteren, politisch interessierten Öffentlichkeit bekannt geworden war. Im Rückblick hatte sich Biedenkopfs Annäherung an die Politik zum Zeitpunkt seiner Kandidatur für die Leitung der Bundesparteizentrale in zwei Etappen vollzogen. Eine wichtige Grundlage wurde zunächst während seines Studiums sowie im Rahmen der anschließenden wissenschaftlichen Beschäftigung gelegt. Der Frankfurter Professor für Volkswirtschaft, Franz Böhm, prägte Biedenkopf in dreierlei Hinsicht. Zunächst ganz grundsätzlich, durch das ordoliberale Denkmodell, zu dessen geistigen Vätern Böhm gerechnet wird. Der Leitgedanke des Ordoliberalismus, dass der freie Wettbewerb jeder Art von staatlicher Planung und Lenkung vorzuziehen sei, schimmerte zeitlebens hinter Biedenkopfs wirtschaftspolitischen Vorschlägen durch. Darüber hinaus beeinflusste Böhm Biedenkopf auch 4 5
Vgl. Honnigfort, Bernhard: Goldener Herbst in Sachsen, in: Frankfurter Rundschau, 26.01.2000. Vgl. zum Folgenden Wendt, Alexander: Kurt Biedenkopf. Ein politisches Porträt, Berlin 1994, S. 26.
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konkret thematisch durch seine Wirtschaftsseminare, in denen das Fundament für Biedenkopfs wiederholtes Nachdenken über Fragen des Kartellrechts, die Funktion sozialer Sicherungssysteme und die Sozialpflichtigkeit beziehungsweise Gemeinwohlbindung von Verbänden gelegt wurde. Wirkung schließlich zeitigte auch das persönliche Vorbild des Lehrers als CDU-Parteimitglied und – während Biedenkopfs Studienzeit und parallel zu seiner Professur – als Abgeordneter im Bundestag.6 Weitere Schritte in Richtung Politik ging Biedenkopf dann als Henkel-Manager, im Verlauf der kurzen, von 1970 bis 1973 dauernden Zeitspanne zwischen seinem Abschied aus dem Universitätsbetrieb und dem Einstieg in die Berufspolitik. Die wirtschaftliche Führungsrolle bot ihm Möglichkeiten, Entscheidungsträger kennen zu lernen, Kontakte zu knüpfen und Beziehungsnetzwerke aufzubauen. In diesen Jahren lernte er Hanns Martin Schleyer kennen; erhielt er Zutritt zum Kreis des Industriellen Ries, der sich damals die Förderung des damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten, Helmut Kohl, angedeihen ließ. Über diese beiden gemeinsamen großindustriellen Bekannten verdichteten sich nun auch die Kontakte zwischen Biedenkopf und Kohl.7 Peu à peu rückte Biedenkopf seither in die Rolle eines wichtigen Beraters des aufstrebenden Landespolitikers und späteren Bundeskanzlers auf und fungierte bereits seit 1970 als Kohls Stichwortgeber und Einflüsterer.8
Bürgerlicher Habitus und Karriereinteressen Aber warum landete Biedenkopf gerade bei den Christdemokraten, warum nicht bei der FDP – oder auch der SPD? Die Entscheidung für ein bürgerliches Politikangebot und gegen die sozialdemokratische Facharbeiterpartei ist bereits in seiner frühen Sozialisation angelegt und lässt sich plausibel mit seinem Herkunftsmilieu begründen. Sein Vater hatte in den frühen 1930er Jahren als Ingenieur bei der BASF rasch Karriere gemacht und war bis Kriegsbeginn 1939 zum Technischen Direktor des Buna-Werkes der IG Farben in Schkopau avanciert. Spätestens seit dem Umzug vom Rhein an die Saale gehörte die Familie Biedenkopf zur „gehobenen Gesellschaft“, konzentrierten sich ihre Kontakte auf die Gruppe des Wirtschaftsbürgertums, übernahmen sie die standestypischen Verhaltensweisen, Distinktionspraktiken, Repräsentationsformen. Biedenkopf konnte frei von finanziellen Sorgen sein Abitur bewältigen, anschließend ein Jahr Aufenthalt in den USA nehmen und nach seiner Rückkehr umstandslos ein Studium aufnehmen. Biedenkopfs Behauptung, in seiner Kindheit und Jugend ein elementares Verständnis für die Sorgen und Leistungen des „kleinen Mannes“ ausgebildet zu haben, entpuppt sich insofern als Legende.9 Wenn Biedenkopf sich unter den bürgerlichen Parteien für die CDU entschied, so mag das zum einen daran gelegen haben, dass es ihm bei der FDP an Buntheit, Vielfalt, sozialstruktureller Spannweite gefehlt hat. Größe und Erfolg der Christdemokratie beruhten ja auf ihrer lockeren Dachverbandsstruktur – und dass beides, elektoraler Siegeszug und Regierungsdominanz, auf Biedenkopf einen nachhaltigen Eindruck gemacht hat, ist durchaus 6
Vgl. ebd., S.16 f.; Köpf, Peter: Der Querdenker: Kurt Biedenkopf. Eine Biografie, Frankfurt am Main/New York 1999, S. 44 f. 7 Vgl. ebd., S. 78. 8 Vgl. Dreher, Klaus: Helmut Kohl. Leben mit Macht, Stuttgart 1998, S. 148 ff. 9 Vgl. Henkels, Walter: „In diese Partei wird ein neuer Geist kommen“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.06.1973.
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wahrscheinlich. Einem Engagement in der FDP stand auch seine katholische Erziehung mit ihrem Bekenntnis zum „christlichen Weltbild“ im Weg. Persönliche Einflüsse kamen hinzu, namentlich der des CDU-Politikers Hermann Josef Dufhues, der in Biedenkopfs Bochumer Nachbarschaft wohnte und in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre als verlässlicher Fürsprecher und Förderer des Neumitglieds auftrat. Überhaupt dürfte der Einfluss des Orts- und Arbeitsplatzwechsels, die Bedeutung des Umzugs nach Bochum und der Übernahme einer Professur an der neu gegründeten RuhrUniversität höher zu veranschlagen sein, als das bisher geschehen ist. Schon zeitlich fällt die Koinzidenz zwischen Biedenkopfs Ruf an die Bochumer Universität 1964 und seinem Parteibeitritt 1965 ins Auge. Darüber hinaus war die Universität Bochum eine konservative Hochschulgründung, die noch in der Kontinuität der ersten zwei Nachkriegsjahrzehnte stand, auf die Restauration traditioneller intellektueller Normen und Tugenden orientierte und auf die Beibehaltung klassischer Bildungsvorstellungen ausgerichtet war.10 Für die Unionspartei schlug auch zu Buche, dass sie als weitaus größte bürgerliche Partei ein geeignetes Wirkungsfeld für Biedenkopfs Selbstbewusstsein, Aufstiegsaspirationen und Geltungsbedürfnis darstellte. Und wenn er sich vor dem Jahr 1973 auch noch nicht systematisch in die aktive Parteipolitik einmischen sollte, so deutet sein Verständnis der Ämter als Universitätsrektor (1967 bis 1969) und in der Geschäftsführung des HenkelKonzerns (1971 bis 1973) doch zumindest auf eine wachsende Nähe zur Politik und ein zunehmend politisches Verständnis der ihm in Wissenschaft und Wirtschaft gestellten Aufgaben hin. Als Universitätsrektor setzte er sich für Reformen ein, die sich unter die zeitgeisttypischen Schlagworte Planung, Demokratisierung und Transparenz subsumieren lassen. Bereits zum Zeitpunkt seines Wechsels aus der Universität in die Wirtschaft wurde ihm daher verschiedentlich nachgesagt, „Wissenschaftler und Politiker“11 zu sein, wiewohl er zuvor seine Mitgliedsrechte allenfalls beiläufig wahrgenommen hatte und in politiknahe Funktionen bis dato stets in der Rolle als Wissenschaftler berufen worden war – mit Ausnahme allenfalls der Mitgliedschaft im CDU-Schattenkabinett für die nordrheinwestfälische Landtagswahl 1970. In seiner Zeit als Henkel-Manager beschränkte er sich dann keineswegs auf die Belange des Konzerns im engeren Sinne, sondern mischte sich aus der Unternehmenszentrale heraus regelmäßig mit Wortmeldungen in politische Debatten ein. In der Mitbestimmungsfrage lieferte er auch nach der Vorlage des Abschlussberichts durch die von ihm geleitete Mitbestimmungskommission Helmut Kohl für die Bundesparteitage in Düsseldorf (1971) und Hamburg (1973) die entscheidenden Stichworte. Auf dem Düsseldorfer Delegiertentreffen gerierte er sich zudem als vehementester Propagandist der Trennung von Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur. Und noch bevor Kohl ihn der Öffentlichkeit als seinen designierten Generalsekretär vorstellte, war er bereits durch Kritik an der Abhängigkeit der Partei von der Fraktion, dem Oppositionskurs der Union sowie ihrer konzeptionellen Leere aufgefallen.12
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Vgl. Lübbe, Hermann: Aufbau nach dem Wiederaufbau – Ein Rückblick auf die Gründung der Ruhr-Universität Bochum, in: Dietz, Burkhard/Schulze, Winfried/Weber, Wolfhard (Hrsg.): Universität und Politik. Festschrift zum 25jährigen Bestehen der Ruhr-Universität Bochum, Band 1, Bochum 1990, S. 315-330, hier S. 321. 11 O.V.: Biedenkopf sattelt um, in: Publik, 02.10.1970. 12 Vgl. Didzoleit, Winfried: Mit Biedenkopf im Rücken braucht man einen langen Atem, in: Frankfurter Rundschau, 16.05.1973.
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Aufgrund solcher inhaltlicher Forderungen und infolge seiner harschen Kritik an der Oppositions-CDU sowie der von Barzel angestrebten Ämterunion war Biedenkopf Kohl seit Ende der 1960er Jahre inhaltlich beständig näher gekommen. Beide stimmten Anfang der 1970er Jahre in ihrer Problemdiagnose überein, erhoben dieselben Forderungen und zielten damals in die gleiche Richtung, wiewohl sich auch ihre Grundverschiedenheit von Anfang an zeigte.
Komplementäre Ergänzung mit Helmut Kohl Doch war gerade das anfangs der große Trumpf des Gespanns Biedenkopf/Kohl: die Mischung aus Nähe und Verschiedenheit, die unterschiedliche Lagerung ihrer Talente, Stärken und Schwächen, kurzum: ihre Komplementarität. Biedenkopf war das, was üblicherweise als „Wissenschaftler in der Politik“ bezeichnet wird. Er dachte in großen, grundsätzlichen Linien, in Systemen, folgte einem Masterplan und besaß ein in sich geschlossenes Gedankengebäude, mit dem er auch jedes neu auftauchende, aktuell brisante Problem erklären zu können meinte. Typisch für einen Wissenschaftler war auch seine Neigung, die Notwendigkeit zu Verhandlungen, Kompromissen und Abstrichen von eigenen Maximalforderungen zu unterschätzen; war der beständige Anspruch, die Fundamente der CDU zu überprüfen und notfalls auch die tragenden Säulen des Parteigebäudes einzureißen.13 Biedenkopf glaubte an die Kraft des besseren Arguments, an die rationale Basis politischer Entscheidungen. Diesem Politikverständnis entsprach seine Methode der Intervention. In wichtige Debatten mischte er sich bevorzugt durch längere schriftliche Ausarbeitungen ein, brachte in Memoranden seine Kritik zum Ausdruck.14 Kohl dagegen war im Unterschied zum politisierenden Wissenschaftler Biedenkopf nicht bloß ein gewöhnlicher Laufbahnpolitiker, Kohl war einer der ersten „reinen Berufspolitiker“15. Der Zeitgeschichtsschreibung gilt er vielfach als Modell dieses neuen Politikertyps, bei dem die Beschäftigung mit der Politik bereits sehr früh einsetzt, das politische Engagement noch während der Ausbildungszeit zunehmend in den Mittelpunkt rückt und der vor dem endgültigen, erwerbsmäßigen Einstieg in die professionelle Politik Erfahrungen in einem anderen Beruf nicht gesammelt hat.16 Biedenkopf war ein Theoretiker, dem freilich die Theorie allein nicht ausreichte und der deshalb praktische Erfahrungen, letztlich: die Synthese aus Theorie und Praxis suchte, weshalb er zunächst den Hörsaal mit der Chefetage in der Henkel-Zentrale und dieses Amt anschließend mit dem Generalsekretärsposten im Konrad-Adenauer-Haus tauschte. Kohl dagegen war durch und durch ein politischer Praktiker. Beide landespolitische Prägungen aus den Jahren vor ihrer Zusammenarbeit auf Bundesebene sind insofern durchaus exemplarisch zu nennen. Kohl hatte sich seit seiner Wahl zum Landesvorsitzenden in RheinlandPfalz in der politischen Alltagsarbeit bewährt.17 Biedenkopfs reformerischer Impetus ab 1973 wiederum speiste sich aus der passiven Betrachtung der CDU in Nordrhein-West13
Vgl. o.V.: Leute von außen, in: Der Spiegel, 28.05.1973. Vgl. Schönbohm, Wulf: Die CDU wird moderne Volkspartei. Selbstverständnis, Mitglieder, Organisation und Apparat 1950-1980, Stuttgart 1985, S. 129. 15 Herzog, Dietrich: Der moderne Berufspolitiker. Karrierebedingungen und Funktion in westlichen Demokratien, in: Wehling, Hans-Georg (Hrsg.): Eliten in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1990, S. 28-51 16 Vgl. Dettling, Warnfried: Das Erbe Kohls. Bilanz einer Ära, Frankfurt am Main 1994, S. 30. 17 Vgl. Schönbohm 1985, S. 127 f. 14
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falen. Die Handlungsfähigkeit der Partei war durch das Fehlen eines einheitlichen Landesverbands und interne Auseinandersetzungen blockiert, die innerparteiliche Entscheidungsfindung durch den hohen Dezentralisierungsgrad paralysiert. Das Aktivitätsniveau der nordrhein-westfälischen Parteibasis war unterdurchschnittlich, politische Dynamik entfalteten die Landesverbände kaum, an der Parteispitze dominierten biedere Parteifunktionäre, weshalb Josef Schmid die NRW-CDU der 1960er und 1970er Jahre als „schlafenden Riesen“ charakterisierte.18 Konnte Kohl daher bei den Reformen der Bundespartei seit 1973 auf seine praktischen Erfahrungen in Rheinland-Pfalz verweisen, gründeten die Reformvorstellungen bei Biedenkopf auf außenstehender Anteilnahme an den Vorgängen in Nordrhein-Westfalen. Mit diesen jeweiligen Vorprägungen korrespondierten weitere Differenzen, die sich zunächst für beide Seiten als durchaus gewinnbringend erwiesen. Derweil Biedenkopf durch Prinzipienfestigkeit, Originalität und analytische Brillanz auffiel, besaß Kohl einen ausgeprägten Instinkt für das Machbare und die Wünsche großer Bevölkerungsgruppen.19 Während Kohl durch sein weitgespanntes Kontaktnetz einen direkten Draht zur Basis besaß, weshalb er Wandlungen des christdemokratischen Seelenhaushalts frühzeitig antizipieren und den Zusammenhalt der Partei sichern konnte, vermochten Biedenkopfs analytische Fähigkeiten den Blick für Zukunftsfragen zu schärfen, die Partei für neue Themen zu öffnen und die SPD durch Strategien zur Zeitgeistprägung in konservativem Sinne unter Druck zu setzen. Kohls symbiotisches Verhältnis zur CDU garantierte die Integration der Partei, Biedenkopfs Distanz verbesserte ihre Wettbewerbsfähigkeit in einer Gesellschaft im Umbruch.20 Als Resultat der unterschiedlichen Werdegänge und Politikstile ergab sich die innerparteiliche Rollenverteilung wie von selbst. Biedenkopf polarisierte, derweil Kohl moderierte. Dies wurde vollends offenbar in der Mitbestimmungsdiskussion des Jahres 1973. Während Biedenkopf – nachdem sich Kohl und der Parteivorstand das von ihm ausgearbeitete Modell zu eigen gemacht hatten – auf die Kritik aus den Reihen der CDU-Sozialausschüsse unnachgiebig, abweisend und belehrend reagierte, versuchte Kohl die innerparteilichen Gegner durch Gespräche und die Andeutung von Kompromissbereitschaft zu überzeugen.21 Wenn es auf den ersten Blick auch so aussehen mochte, als habe Biedenkopf Kohl in die Defensive getrieben, ja kompromittiert – unmittelbar vor dem Hamburger Bundesparteitag im November 1973 soll Biedenkopf dem schwankenden Kohl mit seinem sofortigen Rücktritt als Generalsekretär gedroht haben, sollte dieser von dem Vorstandsantrag abrücken –, so überwogen für den Parteivorsitzenden zumindest anfänglich die Vorteile dieser Aufgabenverteilung die Nachteile doch recht deutlich. Indem nämlich sein Generalsekretär vorpreschte und die Angriffe der Gegner auf sich lenkte, konnte er selbst sich zurückhalten, in die Rolle des Moderators schlüpfen, auf diese Weise Mehrheiten organisieren, ohne andererseits vom gemeinsamen Reformkurs allzu weit abzuweichen. Kohl profitierte 1973 daher beträchtlich von der Partnerschaft mit Biedenkopf – von dem Ruf, der dem designierten Generalsekretär vorauseilte übrigens kaum weniger als von 18
Vgl. Schmid, Josef: Die CDU. Organisationsstrukturen, Politiken und Funktionsweisen einer Partei im Föderalismus, Opladen 1990, S. 135 f. 19 Vgl. Kleinmann, Hans-Otto: Geschichte der CDU 1945-1982, Stuttgart 1993, S. 353 ff. 20 Vgl. Wendt 1994, S. 42 f.; Wirsching, Andreas: Abschied vom Provisorium. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland 1982-1990, München 2006, S. 174. 21 Vgl. o.V.: Kohl: Nun weitere Gespräche führen, in: Rheinische Post, 20.10.1973.
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seiner tatsächlichen politischen Arbeit. Die Biedenkopf zugesprochenen Eigenschaften, vor allem Brillanz und Intelligenz, aber auch Unkonventionalität, Eigensinn und Unbequemlichkeit, kaschierten zum Zeitpunkt des Bonner Juni-Parteitags 1973 als Defizite gewertete Charakterzüge des neuen Parteivorsitzenden: die ihm nachgesagte Profil- und Prinzipienlosigkeit einerseits, seine Biederkeit und langweilige biografische Geradlinigkeit andererseits.22 Vor allem aber bildete Biedenkopfs Weltgewandtheit – er hatte insgesamt mehrere Jahre in den USA gelebt, der amerikanische „way of life“ war ihm Sinnbild eines freien und ungezwungenen Lebens, ein fließendes Englisch sprach er ohnehin – ein Gegengewicht zu Kohls rheinland-pfälzischer Herkunft, die ihm in Bonn schnell den Spott als „provinzieller Tölpel“ eintrug.
Biedenkopfs Anfänge als Generalsekretär Freilich reichte es für eine erfolgreiche Dienstzeit als Generalsekretär nicht aus, bloß die Schwächen Kohls zu kompensieren, und sei die Ergänzung noch so ideal gewesen. Dazu musste Biedenkopf auch den Aufgaben und Anforderungen des Amts gerecht werden. Die Erwartungen an einen Generalsekretär beziehen sich, abstrakt formuliert, auf die Funktionsbereiche „Artikulation“, „Integration“ und „Kommunikation“. Für die Aufgaben eines Generalsekretärs war Biedenkopf aufgrund seiner Vorprägungen nicht schlecht gerüstet. Bei seinem Einstieg in die Berufspolitik 1973 strahlte er einerseits die Aura des Wissenschaftlers aus, andererseits besaß er Organisationserfahrung als Konzernmanager.23 Derweil die Universitätsvergangenheit seinem politischen Stil die unverwechselbare Note gab, bildete sich sein Politik- und Parteiverständnis in der Firmenzentrale des Düsseldorfer Waschmittelkonzerns heraus. Bei seiner Arbeit in der CDU-Bundesgeschäftsstelle folgte er der Zielprojektion, den Adenauerschen Kanzlerwahlverein in eine „Firma CDU“ zu transformieren. Der Parteienstreit war ihm dem Wettbewerb in der Marktwirtschaft vergleichbar, das Ringen der Parteien um Wählerstimmen nur das Äquivalent des Unternehmenskampfs um Marktanteile. Die Bedeutung, welche Biedenkopf der Sprache und zentralen Begriffen sowie ihrer konservativen Umdeutung beimaß, erklärt sich aus demselben Zusammenhang. Der Herrschaft über die politische Sprache ähnelte in der Produktkonkurrenz die Dominanz einer Werbebotschaft. Kein Zufall, dass nach Biedenkopfs Vorstellungen, die CDU strikt hierarchisch organisiert sein musste; dass er die Bundesgeschäftsstelle als Knotenpunkt der innerparteilichen Diskussion konzipierte, aus der heraus der Kurs der Partei vorgegeben werden müsse. Die Partei sollte Biedenkopf zufolge mit einer Stimme sprechen – derjenigen des Generalsekretärs.24
Egozentrischer Wissenschaftler mit Hang zu Alleingängen Wahrgenommen wurde Biedenkopf dennoch zuallererst als Wissenschaftler. Neuartig mutete an ihm vornehmlich sein universitärer Hintergrund an. Eben das, seine Eignung als Intellektueller und Vordenker, schien ihn als einen neuen Typus des Generalsekretärs aus22
Vgl. o.V.: Biedermann und Biedenkopf, in: Wirtschaftswoche, 18.05.1973. Vgl. o.V.: Vormarsch nach rückwärts, in: Der Spiegel, 18.02.1974. 24 Vgl. Köpf 1999, S. 94. 23
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zuweisen. Die professorale Neigung zum gelehrten Dozieren verminderte andererseits seine Wirkung auf Marktplätzen und vor Parteitagsauditorien. Biedenkopf vermochte Delegierte wie Anhänger durchaus zu beeindrucken, doch mitreißen konnte er auch das geneigte Publikum nur selten. Oftmals wurde über die Komplexität seiner Analysen, blasierte Ausdrucksformen und eine Überforderung der Zuhörer geklagt. Von „Vorlesungen“ des politischen Professors war dann die Rede, bisweilen auch von Gedanken, die zu artistisch seien, als dass sie innerparteilich reproduziert werden könnten.25 Doch wurde dieses Manko seiner Vortragsweise erst später deutlich empfunden, besonders in Wahlkampfzeiten, wo eher holzschnittartige Vereinfachung als professorale Überkomplexität gefragt ist. Zunächst war die Resonanz der Medien auf Auftritte Biedenkopfs ausgesprochen positiv, seine Beiträge wurden ausführlich rezipiert und imponierten den Journalisten – nicht zuletzt aufgrund der Kontrastfolie Helmut Kohls, der seinem Generalsekretär verbal weit unterlegen war und diesen daher umso glänzender dastehen ließ.26 Biedenkopfs größter Vorzug freilich war paradoxerweise ausgerechnet eine Eigenschaft, die für gewöhnlich in der Politik als Problem gilt, als Ursache politischen Scheiterns und Indiz des Niedergangs von Politikerkarrieren. Biedenkopf war äußerst selbstbewusst, die Grenzen zur Eitelkeit vielfach überschreitend. Er war – auch das zeigte sich rasch – egozentrisch, war für Vorgesetzte und Weggefährten daher ein notorisch unsicherer Kantonist und besaß einen ausgeprägten Hang zu Alleingängen. Vor allem war er ehrgeizig, sein Antrieb war ein mächtiger Gestaltungsdrang. Der Reiz der Politik bestand für ihn in der Macht, Vorgaben zu setzen, Veränderungen herbeizuführen, Wirkung zu erzielen.27 All das sollen Politiker eigentlich nicht sein, jedenfalls dürfen sie diese Verhaltensweisen nicht ostentativ herausstellen oder wie eine Monstranz vor sich hertragen. Schließlich richten sich Politiker an die Basisetagen der Gesellschaft, die in der Politik ohnehin stets Vetternwirtschaft, Selbstbereicherung und Abgehobenheit wittern, was für Politiker den Zwang potenziert, sich als bodenständig, bescheiden, verständnisvoll zu präsentieren. Im Konrad-Adenauer-Haus aber hatten sie mit eben diesem Typus zuvor kaum gute Erfahrungen gesammelt. Das Gewicht der Bundesgeschäftsstelle war im internen Machtspiel lange vernachlässigbar, da sie aus dem operativen Geschäft weitgehend herausgehalten, stattdessen mit der Auswertung von Wahlen und der Erstellung von Parteipublikationen betraut wurde. Die Verbannung des Konrad-Adenauer-Hauses in eine solche Nischenexistenz war mit einem Generalsekretär Biedenkopf nicht zu machen. Bereits vor seinem Wechsel in die Politik hatte er nie Zweifel an seinem eigenen Beitrag zu Erfolgen aufkommen lassen, vielmehr von jeher nach der Maxime gehandelt: „Tue Gutes und rede davon.“28 Ging es um die Sicherung des für richtig gehaltenen Kurses, auch: der eigenen Geltung, dann zeigte Biedenkopf, dass er nicht nur die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner suchte, sondern auch im innerparteilichen Disput die Ellenbogen einzusetzen verstand. Mit Biedenkopf kamen so ein frischer Wind und neues Selbstbewusstsein in die Bundesgeschäftsstelle. Anfangs war das ganz in Kohls eigenem Interesse. In dem Ruf stehend, 25 Vgl. Melder, Heinz-Joachim: Vom CDU-General Biedenkopf kommen keine Befehle, in: Die Welt, 29.01.1974; Herrmann, Ludolf: Von Biedenkopf zu Geißler. Wie Persönlichkeiten eine Partei prägen, in: Politische Meinung, H. 3/1977, S. 63-70, hier S. 67. 26 Vgl. Dönhoff, Marion: Die Union auf dem Weg nach links?, in: Die Zeit, 14.12.1973. 27 Vgl. Noack, Hans-Joachim: Der CDU-Professor und die Sehnsucht nach Führung, in: Frankfurter Rundschau, 25.05.1974; o.V.: Die neuen Leute in Bonn. So sind sie privat und so machen sie Politik, in: Praline, 18.07.1974. 28 Didzoleit, Winfried: Mit Biedenkopf im Rücken braucht man einen langen Atem, in: Frankfurter Rundschau, 16.05.1973.
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ein Neuling auf dem bundespolitischen Parkett zu sein, brauchte Kohl einen willensstarken, durchsetzungsfähigen und unabhängigen Kopf an der Spitze der Parteizentrale. Biedenkopf war daher nicht so sehr als Sekretär des Parteivorsitzenden in das Amt berufen worden, sondern eher als Generalmanager, Stabschef, Nachwuchsführer. Seine Rolle war dementsprechend auch nicht so sehr auf die organisatorische Binnenperspektive als vielmehr auf die Öffentlichkeit ausgerichtet.29 Dass er offenkundig ein Faible für publizitätsträchtige Äußerungen hatte, sich dagegen gerade nicht durch eine „innige Beziehung zum Schweigen“ auszeichnete und „den Marschallstab im Tornister“ trug,30 störte Kohl daher anfangs nicht. Auch die Kritik Biedenkopfs an Parteifreunden, der Streit und die Unruhe, die er dadurch in die eigenen Reihen trug, wurden billigend in Kauf genommen, namentlich wenn sie sich gegen die bayerische Schwesterpartei und die Bundestagsfraktion richteten. Denn eben jene – die Fraktion und Franz Josef Strauß – waren in dieser Zeit Kohls Hauptrivalen, als es darum ging, die eigene Stellung durch den Parteivorsitz auszubauen und Ansprüche auf höhere Posten – konkret: die Kanzlerkandidatur – zu erwerben.
Die Union wird „moderne Volkspartei“ Die Parteiorganisation wurde ab 1973 folglich allein schon durch die Person und das Amtsverständnis des neuen Generalsekretärs aufgewertet. Es kam der Partei in der Konkurrenz mit der Bundestagsfraktion zugute, dass sich Biedenkopf nicht auf administrative Aufgaben und die Rolle des Parteisekretärs beschränkte, sondern sich, ganz im Gegenteil, als „besoldeter Vordenker“ verstand und politisch Einfluss zu nehmen suchte.31 Mit der Ablösung Konrad Kraskes und dem Amtsantritt Biedenkopfs als Generalsekretär begann für die CDU infolgedessen eine Phase beschleunigten Wandels und hektischer Reformen.32 Unter Biedenkopf wandelte sich die Christdemokratie, verglichen mit der SPD bis dahin organisationsschwach und honoratiorenhaft, zu einer „modernen Volkspartei“33. Nach 1973 erlebte die Parteizentrale eine rapide Expansion, Umstrukturierungen erhöhten zudem die Effizienz des Organisationsapparats. Getreu Biedenkopfs Zielperspektive, das Konrad-Adenauer-Haus zu „Drehscheibe und Knotenpunkt der innerparteilichen Diskussion“34 zu machen, wurde ihr Zugriff auf die untergeordneten Parteigliederungen parallel zum Ausbau der Bundesgeschäftsstelle verstärkt. Die Bundesebene nahm jetzt – speziell in Wahlkämpfen – vermehrt über Direktiven Einfluss auf die Parteiarbeit, die Kommunikation zwischen den Organisationsebenen wurde verdichtet und die Autonomie der Landesverbände beschnitten. Das intensivierte Engagement der Bundesgeschäftsstelle für die niederen Parteiregionen stärkte auch die lokale Parteiebene, deren Professionalisierung einen weiteren Schwer29
Vgl. o.V.: Kohl-Gehilfe, in: Capital, H. 10/1975. Kremp, Herbert: General Biedenkopf ad Portam Westfalicam, in: Die Welt, 10.02.1977. 31 Vgl. hierzu die Memoiren von Peter Glotz, der seine Rolle diametral anders verstand, die Begriffe folglich in einem gegensätzlichen Sinne gebrauchte, nämlich um sein Verständnis der Generalsekretärsrolle als „Parteisekretär“ und gerade nicht als „besoldeten Vordenker der SPD“ zu kennzeichnen: Glotz, Peter: Von Heimat zu Heimat. Erinnerungen eines Grenzgängers, Berlin 2006, S. 198. 32 Vgl. hierzu und im Folgenden Yeomans, Silke: Das Amt des Generalsekretärs in der Christlich Demokratischen Union (CDU) auf Bundesebene 1967-1989, Augsburg 1995; Schönbohm 1985. 33 Schönbohm 1985. 34 Zitiert nach Köpf 1999, S. 94. 30
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punkt der Parteireformen darstellte. Im Ergebnis zeigt sich bei der Parteiarbeit der CDU in den 1970er Jahren ein Trend zur Bipolarisierung. Einer Zentralisierung der Parteiorganisation in konzeptionellen, strategischen und produktionstechnischen Fragen stand eine Dezentralisierung im Hinblick auf die Parteiaktivitäten gegenüber. Im Zuge der Reformen und als Folge einer professionalisierten Basispartei und insgesamt schlagkräftigeren Organisation verzeichnete die CDU ein rasantes Mitgliederwachstum. Allein in Biedenkopfs Amtszeit, zwischen 1973 und 1977, wuchs die CDU-Mitgliedschaft von rund 423.000 auf gut 652.000, d.h. um 230.000 Mitglieder oder 43 Prozent. Zwei von drei Christdemokraten des Jahres 1977 waren der Partei erst nach 1969 beigetreten.35 Imposante Zuwächse verbuchte die CDU nicht minder bei der Mitgliederpartizipation. Die CDU war 1977 nicht nur größer geworden ihre Basis war auch aktiver, mobilisierter.
Schwerpunkt programmatische Innovationen Welche Rolle Person und persönliche Präferenzen Biedenkopfs für die Parteientwicklung zwischen 1973 und 1977 spielten, lässt sich am Beispiel der inhaltlichen Reforminitiativen ablesen. Der inhaltlich-programmatische Bereich war – trotz des skizzierten Ausmaßes des Wandels in der Bundesgeschäftsstelle, bei der innerparteilichen Kommunikation und Basispartizipation – vielleicht das Segment mit den deutlichsten Veränderungen. Die Konzentration auf die hier gestellten Aufgaben lässt sich problemlos aus Biedenkopfs politischem Antrieb – dem Wunsch, eine geistig-politische Führungsrolle innezuhaben – und seinem Selbstverständnis als Innovator sowie Antreiber ableiten. „Artikulation“ war für ihn die Grundlage von parteiinterner Integration und öffentlicher Kommunikation. Nur wenn über die programmatischen Fundamente Einverständnis herrsche oder Einigung hergestellt werde, lasse sich Integration bewerkstelligen; ohne vorherige Klärung gemeinsam geteilter Grundwerte könne auch kein werbewirksames Außenbild erzeugt werden. Aus diesen Grundannahmen Biedenkopfs erklärt sich die zentrale Rolle, die „analytische und innovatorische Köpfe“36 unter seinen Vertrauten und in seinem Mitarbeiterteam in der Bundesgeschäftsstelle spielten; hieraus begründen sich der Aufbau und Stellenwert der Planungsgruppe, die von Biedenkopf im Konrad-Adenauer-Haus neu geschaffen, von Warnfried Dettling geleitet und direkt dem Generalsekretär unterstellt wurde; davon auch leitet sich die elementare Bedeutung der Sprache bzw. der Deutungshoheit über wichtige politische Begriffe ab, die Biedenkopf zur Chefsache erklärte und zum Schwerpunkt seiner Arbeit machte. Niederschlag fand diese Prioritätensetzung darüber hinaus in einer intensiven programmatischen Arbeit, in die sich der Generalsekretär mit der Ausarbeitung der auf dem Bundesparteitag 1975 verabschiedeten „Mannheimer Erklärung“ im Allgemeinen und der Verbreitung der „Neuen Sozialen Frage“ im Speziellen auch selbst einbrachte. Wenn schließlich die Konsultationsintensität auf Bundesebene unter Biedenkopf Rekorde brach, so lag das ganz wesentlich an der Reaktivierung der Fachausschussarbeit und der Austragung zahlreicher Fachkongresse. Diese dienten der Mobilisierung des politischen Sachverstands innerhalb wie außerhalb der Partei, sie sollten die innerparteiliche Diskussion beleben, das Profil der CDU verdeutlichen und sie als sachkompetente Partei darstellen.37 35
Vgl. Wendt 1994, S. 48 f. Bavendamm, Dirk: Ein Konzept der Macht und ihrer Zähmung, in: Süddeutsche Zeitung, 02.06.1973. 37 Vgl. Schönbohm 1985, S. 146 f. 36
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Durch die geschilderten Maßnahmen versuchte die Union unter Biedenkopfs Führung, wieder Anschluss zu finden an die Lebenswelten der neubürgerlichen Hochgebildeten, unter denen die CDU seit den späten 1960er Jahren zunehmende Akzeptanzprobleme gewärtigte.38 Doch natürlich ist es nicht allein der Persönlichkeit Biedenkopfs zuzuschreiben, wenn die Parteireform nach 1973 eine neue Dynamik gewann. Allgemeine gesellschaftliche Entwicklungen, der Zeitgeist, vor allem aber der Zustand der CDU nach der Wahlniederlage 1972 sind als Erklärungsfaktoren ebenfalls zu berücksichtigen. Die Politisierung der Gesellschaft in den späten 1960er und 1970er Jahren führte zu einem kräftigen Mitgliederwachstum und Partizipationsschub auch bei den Sozialdemokraten. Die parteipolitische Strategie, die Kompetenzwerte über die Ausrichtung von Themenkonferenzen unter breiter Beteiligung renommierter Wissenschaftler zu erhöhen, um sich auf diese Weise der Regierungsmacht anzunähern, war letztlich erfolgreich schon in der ersten Hälfte der 1960er Jahre von der SPD praktiziert worden. Auch die Arbeit an langfristigen Konzepten und grundsatzprogrammatischen Traktaten war nicht besonders avantgardistisch, sondern eher Mainstream, Ausdruck der allgemeinen Planungseuphorie und – auch hier wieder, wie die nachgeholte Parteibildung insgesamt – ein Nachahmen des sozialdemokratischen Vorbilds. Bezüglich des Zustands der CDU kam noch hinzu, dass die Niederlage bei der Bundestagswahl 1972 nun die Akzeptanz der Oppositionsrolle endgültig unvermeidlich machte und – indem die kurzfristige Rückeroberung der Macht durch einen Regierungssturz aussichtslos geworden war – eine längerfristige Strategie nahelegte. Schließlich erleichterten der Generationswechsel und Mitgliederzustrom, die beide schon Ende der 1960er Jahre einsetzten, die Parteireform, weil bei den Jüngeren ein ganz anderes Verständnis für grundlegende Reformen bestand, wodurch Verkrustungen an der Parteibasis aufbrachen und Hindernisse für Veränderungen beiseite geräumt wurden.
Überwindung von Reformblockaden Auch seine Vorgänger Josef Hermann Dufhues, Bruno Heck und Konrad Kraske hatten zu Adenauers Zeiten für die Parteireform in Form von Mitgliederwerbung, der Besetzung neuer Themen oder des Ausbaus des hauptamtlichen Parteiapparats Vorarbeiten geleistet.39 Gerade dies war jedoch das Problem der Parteireformen in der Vor-Biedenkopf-Ära gewesen. Zwar wurde viel konzipiert, geplant und gefordert – doch blieb Vieles eben im Planungsstadium stecken. Das lag nicht zuletzt an den jeweiligen Parteivorsitzenden, die eher Blockierer denn Förderer jeglicher Ansätze zur Parteireform waren. Daher war die CDU trotz aller Reformansätze letztlich in ihrer politischen und organisatorischen Entwicklung 1973 nicht viel weiter als zu Beginn der Oppositionszeit 1969. Erst Kohl sollte als Parteivorsitzender ein vitales Interesse an einer starken Parteiorganisation haben, da sie auf Bundesebene zunächst seine einzige Machtressource im Ringen mit seinen politischen Gegnern in der SPD, den Medien, aber auch der eigenen Partei darstellte. Diese veränderte Einstellung schlug sich in den Freiräumen Biedenkopfs und den Resulta38 Vgl. Eglau, Hans Otto: Außenseiter mit Ehrgeiz und Elan, in: Die Zeit, 22.06.1973; o.V.: „Union muß Partei der Arbeitnehmer werden“, in: Handelsblatt, 10.10.1973. 39 Vgl. hierzu und im Folgenden Franz, Corinna/Gnad, Oliver (Bearb.): CDU und CSU. Mitgliedschaft und Sozialstruktur 1945-1990, Düsseldorf 2005, S. 55-73.
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ten der Reformansätze nach 1973 nieder. Insofern auch kann man, aller schon zuvor bestehenden Veränderungsambitionen zum Trotz, davon sprechen, dass unter Kohl und Biedenkopf eine neue Ära der Parteireformen eingesetzt, mindestens aber eine sichtbare Intensivierung und Systematisierung der organisatorisch-inhaltlichen Erneuerung begonnen habe.
Die Parteikrise als Reformmotor Zumindest zu Beginn dieser Ära, zeitgleich mit den ersten Reformerfolgen Biedenkopfs, steckte die CDU allerdings in einer tiefen Krise. Derweil Biedenkopfs Stern zu leuchten begann, wirkte die christdemokratische Partei insgesamt zutiefst verunsichert, ja orientierungslos. Zum Einen hatte die Union seit 1966 sukzessive an Macht verloren, hatte sich zunächst in eine Große Koalition mit den Sozialdemokraten gerettet und war drei Jahre später dann als stärkste Bundestagsfraktion von SPD und FDP in die Opposition gezwungen worden. Zum Anderen hatte ein innerparteilicher Generationswechsel in den Reihen der Christdemokraten – wie in anderen Parteien auch – das Konfliktpotenzial erhöht. Eine zahlenstarke, ambitionierte und diskussionsfreudige Nachwuchskohorte traf auf verharschte Strukturen und ein überaltertes Parteiestablishment. Der CDU wurde daher ein Modernitätsdefizit nachgesagt, sie schien, vom gesellschaftlichen Wandel abgekoppelt, zu Beginn der 1970er Jahre eine Partei der ewiggestrigen Vergangenheit zu sein. Paradoxerweise sollten all diese Krisenanzeichen Biedenkopf nach seinem Amtsantritt die Arbeit eher erleichtern als erschweren. Der 1972 offenbar gewordenen Dauerhaftigkeit des Machtverlusts korrespondierte, dass die CDU nun endlich ihre Oppositionsrolle annahm und die Überwindung des bisherigen Selbstverständnisses als natürliche Regierungspartei als Aufgabe anerkannt wurde. Durch den Generationswechsel wurde die Diskussionsbereitschaft innerhalb der CDU gefördert und ihr Reformpotenzial gestärkt. Die ungelöste Führungsfrage wiederum legte im Sinne einer Trennung des Partei- und Fraktionsvorsitzes eine Verteilung der Führungsaufgaben auf mehrere Schultern nahe und erleichterte die Emanzipation der Partei von der Bundestagsfraktion. Und während das Modernitätsdefizit und die inhaltliche Desorientierung die programmatische Erneuerung letztlich erleichterten, konzentrierte sich der konkrete thematische Streit 1973 mit der Mitbestimmungsfrage auf ein Problemgebiet, in dem Biedenkopf Expertise besaß. Die Krise der Union kam Biedenkopf infolgedessen persönlich zugute. Zum einen aufgrund seines politischen Außenseiterstatus, konnte die Malaise doch zu einem Gutteil dem etablierten Parteipersonal zugeschrieben werden, das sich als offenkundig unfähig zur Problemlösung erwiesen und dadurch seine unmittelbaren Ansprüche auf Führungsämter verwirkt hatte. Zum anderen senkte die Krisenerfahrung den Erfolgsdruck auf Biedenkopf. Schlimmer konnte es schließlich kaum werden, egal, was er wie zu verändern beabsichtigte. Darüber hinaus kamen die Orientierungslosigkeit der Union und ihre Suche nach neuen Grundsätzen Biedenkopf entgegen. Dass er ein Mann mit Ideen sei, fähig, in großen Linien zu denken und übergreifende Zusammenhänge herzustellen, darüber bestand alleine schon aufgrund seines Professorentitels schließlich kein Zweifel. Und schließlich gehörte Biedenkopf als Intellektueller zu eben jener Gruppe, deren Abwendung von der Partei als Indiz ihres Niedergangs galt. Umso begeisterter fiel der Empfang für Biedenkopf aus, konnte
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seine Hinwendung zur Christdemokratie doch als Beleg für die Chancen auch in diesem Segment interpretiert werden.40
Biedenkopf: erfolgreich, gefeiert, gefürchtet Biedenkopf legte auch deshalb einen regelrechten Blitzstart hin. Ihm wurden viele Vorschusslorbeeren zuteil. Allgemein lobte man seine hohen Begabungen, die Kombination aus praktischer Managementerfahrung, analytischen Fähigkeiten und einer glänzenden Rednergabe.41 Obendrein entfalteten seine ersten Handlungen rasch Wirkung, stellten sich sogleich nennenswerte Erfolge ein. In der von ihm zu einem Hauptziel seiner Arbeit erhobenen Frage der “Wiedergewinnung der Initiative in der Auseinandersetzung um die zentralen politischen Begriffe“42 meldete er bereits zwei Jahre nach seinem Amtsantritt, auf dem Mannheimer Parteitag 1975, Vollzug. Gegen die – wie er selbst es nannte – Vereinnahmung der politischen Sprache durch die sozialliberale Koalition hatte Biedenkopf zum Gegenangriff angesetzt, hatte ein Team von Sprachforschern zu einem Set von Schlüsselbegriffen positive und negative Konnotationen niederschreiben lassen, diese nach einem Schwarz-Weiß-Schema Union und SPD zugeordnet und auf eine einheitliche Verwendung dieser Ausdrücke in den Reden führender Christdemokraten insistiert.43 Trotz der Gunst der gesellschaftlichen Tendenzwende und des auf den Wahlerfolg von 1972 bald schon folgenden Zustimmungstiefs der Sozialliberalen war die Rückeroberung der geistigen Offensive durch die Christdemokraten doch vor allem sein Verdienst, trug er den „Löwenanteil an jener systematischen Umfunktionierung der Begriffe, auf denen die sozial-liberale Herrschaft sicher und bequem ruhte“44. Jetzt auch, in der ersten Hälfte der 1970er Jahre unter Biedenkopf, wandelte sich die CDU im Hinblick auf die sozialstrukturelle Zusammensetzung ihrer Mitgliedschaft zur Volkspartei. Das wurde durchgängig als Erfolg gewertet und, allein schon aufgrund der zeitlichen Koinzidenz, Biedenkopfs Organisationsreformen gutgeschrieben. Die Veränderungen waren in der Tat beträchtlich. In der Hauptphase des Mitgliederzuwachses in den 1970er Jahren erhöhte sich, da die Wachstumskerne in den zuvor besonders mitgliederschwachen Landesverbänden in protestantischen Bundesländern lagen, die regionale und konfessionelle Repräsentativität der CDU-Mitgliedschaft. Der Anteil von Frauen unter den Mitgliedern stieg in diesem Zeitraum von 13 Prozent auf 21 Prozent, derjenige der Untervierzigjährigen an den Neueintritten sogar auf 56 Prozent. Auch im Hinblick auf die Berufsstellung der Mitglieder schließlich sorgte der Wachstumsschub für eine ausgewogenere Verteilung.45 Insofern veränderte sich die Zusammensetzung der CDU-Mitgliedschaft nicht bloß, die Veränderungen wiesen insgesamt auch eindeutig in Richtung Modernisierung. Kein Wunder daher, dass sich auch die politischen Gegner sehr bald schon intensiv mit Biedenkopf beschäftigten. Die Art, in der namentlich die SPD das tat, kam einer Adelung des Generalsekretärs gleich. Intern wurden in sozialdemokratischen Diskussionrunden 40 Vgl. o.V.: CDU: Vormarsch nach rückwärts, in: Der Spiegel, 18.02.1974; Fromme, Friedrich Karl: Der GeneralProfessor, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.11.1975. 41 Vgl. Pruys, Karl Hugo: Helmut Kohl. Die Biographie, Berlin 1995, S. 129 f. 42 Zitiert nach o.V.: Sprachlich rüber, in: Der Spiegel, 31.05.1976. 43 Vgl. o.V.: Sprachlich rüber, in: Der Spiegel, 31.05.1976. 44 Jäger, Wolfgang/Link, Werner: Republik im Wandel 1974-1982. Die Ära Schmidt, Stuttgart 1987, S. 122. 45 Vgl. Wendt 1994, S. 48 f.; Schönbohm 1985, S. 194 ff.
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die Veränderungen seit dem Wechsel im Parteivorsitz von Barzel zu Kohl beschworen und das hochqualifizierte technologische Management, das geschlossene Agieren sowie die taktische Bewegungsfähigkeit der CDU lobend hervorgehoben. Interessanterweise nun wurden diese Fortschritte nicht dem Parteivorsitzenden Kohl zugerechnet. Vielmehr wurde betont, die Veränderungen hätten „sich unter Biedenkopf vollzogen“46. In der Öffentlichkeit freilich griff die SPD Biedenkopf frontal an. In der Parteizeitung Vorwärts wurde er als rhetorischer Bluffer charakterisiert,47 die parteinahen Frankfurter Hefte unterstellten ihm gar, bewusst Konflikte zu schüren, auch einen „Religionskrieg“ in Kauf zu nehmen und letztlich einen autoritären Staat anzustreben.48 Mit Argusaugen jedenfalls betrachteten die Sozialdemokraten Biedenkopf, ihn erachteten sie als ihren gefährlichsten Rivalen. Und auch in zahlreichen Redaktionsstuben galt Biedenkopf Anfang 1974 als „Star“ und „Chefdenker“ der CDU.49 Biedenkopf, so wurde geurteilt, habe die CDU regelrecht „übernommen“, er sei in der Union allein auf weiter Flur, in der Rolle des „Merkers und Machers“ allemal unerreicht. Ihm wurde nachgesagt, was er anpacke, gelinge, er sei ein „Liebling der Götter“.50 Die Rollenverteilung mit Kohl schien in dieser Phase vertauscht, Biedenkopf eher Kohl zu lenken als umgekehrt und rollengemäß. Kurzum: Biedenkopf faszinierte die professionellen Politikdeuter, bei der Schilderung seiner Talente und seiner Leistungsbilanz als Generalsekretär schlugen sie oftmals eine geradezu euphorische Tonlage an.51 Nicht zuletzt wurde Biedenkopfs rhetorische Begabung gerühmt. Auf dem Bonner Parteitag im Juni 1973 habe er mit einer begeisternden Rede quasi im Alleingang das Ende der christdemokratischen Depression eingeläutet, alle anderen Redner in den Schatten gestellt und insofern konsequent bei seiner Wahl zum Generalsekretär auch mehr Stimmen erhalten als der neue Vorsitzende Kohl.52 Weitere Superlative erntete Biedenkopf dann ein halbes Jahr später. Sein Vortrag auf der der Tagung der Münchener Katholischen Akademie wurde als „sensationeller Höhepunkt“ bejubelt, als „außerordentliche Leistung“ und „der seit langem erste, gelungene Versuch eines maßgeblichen Unionspolitikers [gefeiert], eine plausible Gegenposition zum demokratischen Sozialismus aufzubauen“.53 Kohl dagegen erntete das vergiftete Lob, seine größte Stärke liege in der Mitarbeiterauswahl und das größte Geschick habe er mit der Bestallung seines Generalsekretärs bewiesen. Ansonsten wurde seine Rede eine „veritable Enttäuschung“ und „nur mäßig erhellend“ genannt, nicht vergleichbar mit dem Auftritt Biedenkopfs. Je schwächer der Parteivorsitzende in den ersten Monaten nach seiner Wahl wirkte, umso heller erstrahlten die Talente seines Generalsekretärs. Ebenso wurde Biedenkopfs Vorpreschen in Streitfragen auch deshalb so einheitlich als mutig und profiliert wahrge46
Zitiert nach Schröder, Georg: Die CDU ist der SPD nicht mehr geheuer, in: Die Welt, 22.01.1974. Geiss, Imanuel: Unter der Stromlinienform ein altes Fahrgestell, in: Vorwärts, H. 3/1974. 48 Vgl. Stehl, Jan: Kurt H. Biedenkopf: Positionen und Begriffe, in: Frankfurter Hefte, H. 8/1974, S. 556-564, hier S. 560 und S. 563. 49 Henkels, Walter: Der Chefdenker der CDU, in: Hessische Allgemeine Zeitung, 21.03.1974. 50 Noack, Hans-Joachim: Der CDU-Professor und die Sehnsucht nach Führung, in: Frankfurter Rundschau, 25.05.1974. 51 Vgl. Bracher, Karl Dietrich/Jäger, Wolfgang/Link, Werner: Republik im Wandel 1969-1974. Die Ära Brandt, Stuttgart 1986, S. 105 ff. 52 Vgl. Dreher 1998, S. 168. 53 Diese und die folgenden zitiert nach Riehl-Heyse, Herbert: Die Union kämpft mit der Profil-Neurose, in: Süddeutsche Zeitung, 10.12.1973; vgl. hierzu auch Dönhoff, Marion: Die Union auf dem Weg nach links?, in: Die Zeit, 14.12.1973. 47
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nommen, weil Kohl gleichzeitig auffallend zauderte und zögerte. Biedenkopfs mangelnde Konsensbereitschaft erschien als dezidierte Kursbestimmung, Polarisierungsgefahren wurden ausgeblendet.54
Glänzende Karriereaussichten Der Generalsekretär hatte damals viele Freunde. Die Medien beklatschten seine Auftritte und Äußerungen, selbst dem amerikanischen Nachrichtenmagazin Time galt er als „potentieller Minister oder Kanzler“55. Unter den Intellektuellen galt er ohnehin mehr als Kohl. Auch in den Unionsparteien besaß er in dieser Phase weit mehr Unterstützer als Gegner. Selbst seine Rivalen, zum Beispiel der Nachwuchs der Sozialausschüsse, die „Jungen Arbeitnehmer in der CDU“, titulierten Biedenkopf Anfang 1974 resignierend als den „wahren CDU-Vorsitzenden“. Und in München klagte sein Intimfeind, der CSU-Vorsitzende Strauß, gegenüber Journalisten, eine ähnliche Kapazität in seinem eigenen Generalsekretär nicht zu besitzen.56 In den Topetagen der Wirtschaft genoss er ebenfalls viele Sympathien, nicht wenige Spitzenmanager hätten ihn damals gerne als kommenden Kanzlerkandidaten und Bundeskanzler gesehen.57 Dementsprechend glänzend schienen Biedenkopfs Karriereaussichten. Im Falle einer Niederlage Kohls bei der Bundestagswahl 1976 wurden ihm Chancen auf die Kohl-Nachfolge im Bundesparteivorsitz ausgerechnet, bei einer Rückeroberung der Regierungsmacht durch die CDU glaubte man in ihm einen designierten Superminister à la Karl Schiller vor sich zu haben.58 Von derart viel Zustimmung getragen, in seiner Eitelkeit durch ein scheinbar grenzenloses öffentliches Zutrauen geschmeichelt, brach sich Biedenkopfs Selbstvertrauen ungebremst Bahn. „Dass ich eine eins bin“, kommentierte er etwa die Ernennung zum „Krawattenmann des Jahres 1973“, bei der ihm eine Krawatte verliehen wurde, auf deren Rückseite die Ziffer „1“ gestickt war, „davon gehen die Leute aus.“59 Dazu passend, sind für den Herbst des Jahres 1974 gleich mehrere Begebenheiten überliefert, die auf ernsthafte Kanzlerambitionen Biedenkopfs hindeuten. So soll er bei einem Klassentreffen einem ehemaligen Schulkameraden gestanden haben, bei etwas mehr Körpergröße schon längst Bundeskanzler zu sein. Bei einer Buchpräsentation seines Werkes „Fortschritt in Freiheit“ sagte er einem Zuhörer, Kanzler werden zu wollen, zunächst aber gerufen werden zu müssen. Und dem Wortlaut eines 1975 publik gewordenen Telefongesprächs mit Helmut Kohl im Oktober 1974 zufolge, waren auch diesem solche Gerüchte zugetragen worden, die er für glaubhaft genug hielt, um von Biedenkopf eine öffentliche Klarstellung zu fordern.60 Gerade aus diesem Selbstbewusstsein freilich erwuchsen Biedenkopf andererseits Probleme. Seine unkaschiert zur Schau gestellte rhetorische Überlegenheit bei gemeinsamen Auftritten konnte Kohl auch als Respektlosigkeit, Illoyalität, ja unfreundlichen Akt deuten. Die nichtdementierten Kanzlerambitionen seines Generalsekretärs weckten zudem 54 Vgl. Didzoleit, Winfried: Biedenkopfs Doppelstrategie, in: Frankfurter Rundschau, 16.11.1973; o.V.: Die Alternative, in: General-Anzeiger, 16.11.1973. 55 Zitiert nach Ohnesorge, Henk: Menschen, die man auch morgen nicht vergißt, in: Die Welt, 08.07.1974. 56 Vgl. o.V.: CDU: Vormarsch nach rückwärts, in: Der Spiegel, 18.02.1974. 57 Vgl. o.V.: Bei „3“ meldet sich Kohl, in: Wirtschaftswoche, 07.06.1974. 58 Vgl. o.V.: CDU: Vormarsch nach rückwärts, in: Der Spiegel, 18.02.1974. 59 Zitiert nach Keil, Evi: Bonn-Krawatte für CDU-„General“, in: Kölnische Rundschau, 16.01.1974. 60 Vgl. Köpf 1999, S. 100 f. und S. 118 f.; o.V.: Die Abhör-Affäre, in: Stern, 19.06.1975.
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sein Misstrauen, ließen ihn in Biedenkopf sukzessive einen ernsthaften Konkurrenten heranwachsen sehen. Die öffentlichen Lobeshymnen über seine Fähigkeiten, Ideen und Arbeitsresultate verleiteten Biedenkopf zudem dazu, sein zentralistisches Führungsverständnis ohne Modifikationen vom Henkel-Konzern auf die Politik zu übertragen, es mit seinen autoritären Vorgaben zu übertreiben, Andersdenkende ohne Not vor den Kopf zu stoßen und Kompromissmöglichkeiten nicht einmal mehr zu suchen.61
Mangelnde Parteinähe und wachsendes Misstrauen Kohls Es dauerte daher nicht lange, bis die ersten Schwierigkeiten Biedenkopfs offenbar wurden. Biedenkopf war ein regelrechtes „Glückskind“, von der Natur mit einer hohen Intelligenz, raschen Auffassungsgabe und der Fähigkeit zur geschliffenen Rede ausgestattet. Wie er in der Universität, später dann in der Wirtschaft höchste Positionen erklommen hatte, reüssierte er auch zügig und problemlos in der Politik. Seinem Aufstieg legten sich keine Hindernisse in den Weg, alles gelang ihm zunächst mit einer seltenen Leichtigkeit. Die Kehrseite dieser Medaille freilich war eine geringe Konfliktresistenz des jungen Generalsekretärs. Sobald er auf machtbewusste Konkurrenten traf, hatte er diesen wenig entgegenzusetzen, bei handfesten Widerständen knickte er beständig und vorhersehbar ein. Vollblutpolitikern, wie dem CSU-Vorsitzenden Strauß oder auch Kohl, der in seiner politischen Vita frühzeitig mit Rückschlägen umzugehen gelernt hatte, war Biedenkopf bei Machtkämpfen daher chronisch unterlegen. Die Schwäche Biedenkopfs in Auseinandersetzungen resultierte auch aus seiner grundsätzlichen, habituell angelegten, nie überwundenen Distanz zur eigenen Partei. Biedenkopf war zeitlebens ein Einzelgänger, hatte schon in seiner Kindheit wenig Wert auf einen großen Freundeskreis gelegt, später als Student dann wieder bei seinen Eltern gewohnt und zu keiner Zeit Anteil etwa an den Geselligkeiten seiner Kommilitonen genommen. Die Partei, in der er mit Ausnahme allenfalls Kohls keine Duz-Freunde besaß,62 und Biedenkopf blieben sich eigentlich immer fremd. Krisenfeste Bündnisse und Loyalitäten hatten sich allein aus Bewunderung der Basis für Biedenkopfs Eloquenz und Intelligenz nicht aufbauen können. Die Wirkung von Biedenkopfs Ideen blieb infolgedessen ebenfalls begrenzt, programmatisch à la longue merkwürdig folgenlos. Das mangelnde Verständnis für seine eigene Partei hinderte Biedenkopf letztlich an der rechtzeitigen Einleitung vertrauensbildender Maßnahmen beziehungsweise an effizienten Mehrheitsbildungen im Vorfeld umstrittener Entscheidungen.63 Auch hierin liegt insofern seine häufige Unterlegenheit in Auseinandersetzungen mit fest verankerten Parteirivalen begründet. Doch deuteten sich die aus Biedenkopfs mangelhafter Konfliktfähigkeit und seiner fehlenden Nähe zu den eigenen Parteifreunden resultierenden Schwierigkeiten 1974/75 allenfalls subkutan an. Schwerer wog schon damals das sich verschlechternde Verhältnis zwischen Biedenkopf und Kohl. Denn trotz der zunächst sehr erfolgreichen wechselseitigen Ergänzung bestanden von Anfang an auch Enttäuschungen und Differenzen zwischen dem Vorsitzenden und seinem Generalsekretär. Die ersten Probleme ergaben sich im Zusammenhang mit der Mitbestimmungsfrage auf den Parteitagen in Düsseldorf (1971) und 61
Vgl. Didzoleit, Winfried: Der Mann – der die CDU übernahm, in: Welt der Arbeit, 11.01.1974. Vgl. o.V.: Bei „3"“meldet sich Kohl, in: Wirtschaftswoche, 07.06.1974. 63 Vgl. Herrmann 1977, S. 67. 62
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Hamburg (1973). Jedes Mal ging es um das Ausmaß hinzunehmender Verwässerungen der von Biedenkopf ausgearbeiteten und von Kohl zunächst in die Gremien und dann auf dem Parteitag eingebrachten Vorschläge. Meinungsverschiedenheiten existierten ebenfalls über die Kompetenzen und Zuständigkeiten des Generalsekretärsamts. Kohl wollte auf dem Bonner Wahl-Parteitag 1973 den Generalsekretär auf politisch eher passive Funktionen beschränken, es sollte ausdrücklich „nicht die Aufgabe des Generalsekretärs [sein], die Politik zu formulieren“. Biedenkopf dagegen betonte an gleicher Stelle gerade die politischen Möglichkeiten des Amts. Den politischen Stellenwert des Generalsekretärs wollte er ebenso ausdrücklich nicht auf die formalen, statutarisch fixierten Zuständigkeiten beschränkt wissen, sondern auch vom politischen Selbstverständnis des Amtsinhabers bestimmen lassen. Das Verhältnis zwischen Biedenkopf und Kohl drohte schon 1974 phasenweise in offene Feindseligkeiten umzuschlagen. Jedenfalls war Kohl im Oktober des Jahres zutiefst misstrauisch bezüglich Biedenkopfs Ambitionen, wie das ein halbes Jahr später veröffentlichte Wortprotokoll eines Telefonats zwischen den beiden zeigt (siehe oben). Wie heftig die Konflikte zwischen beiden 1974/75 zum Teil waren, darauf deutet unfreiwillig ein Resümee Biedenkopfs hin, der im September 1975 im Stern sein Verhältnis zu Kohl mit den Worten beschreibt: „Wir haben uns zusammengerauft und sind jetzt Freunde.“64 Im weiteren Verlauf entwickelte sich aus dem polarisierenden Politikstil Biedenkopfs neues Konfliktpotenzial. Einerseits sah sich Kohl in innerparteilichen Konflikten immer wieder genötigt, sich in die Niederungen parteiinterner Auseinandersetzungen zu begeben, um dem Generalsekretär beizuspringen und sich schützend vor ihn zu stellen. Dies schwächte auf Dauer auch Kohls eigene Position, da seine Führungsautorität durch den Generalsekretär unterminiert zu werden drohte.65 Andererseits sah Kohl seine einzige Möglichkeit, 1976 Helmut Schmidt als Bundeskanzler abzulösen, in einem Bündnis mit den Liberalen, deren Führung er daher offensiv umwarb. Auch unter diesem Gesichtspunkt widersprach Biedenkopfs aggressive Verdrängungsstrategie Kohls Interessen, drohten die Angriffe aus der Parteizentrale doch die FDP zu verprellen und nur noch fester in das Bündnis mit den Sozialdemokraten zu treiben.66
Wechselseitige Enttäuschungen Letztlich beruhten die Differenzen wohl auf wechselseitigen Fehleinschätzungen. Kohl hatte geglaubt, mit der Berufung eines politischen Neulings, der durch Basisarbeit zuvor nicht aufgefallen war und in der Partei über keine Hausmacht verfügte, einen loyalen Gefolgsmann zu rekrutieren.67 Biedenkopf wiederum vermeinte, bei Kohl ein ehrliches Interesse an inhaltlicher, programmatischer Arbeit erkennen zu können, er dachte in ihm einen anderen Politikertypus vor sich zu haben als Barzel, den er als Machtpolitiker apostrophierte.68 Derweil nun aber Kohl nicht nur Loyalität, Solidarität und Vertrauenswürdigkeit hoch schätzte, sondern auch ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber jeglicher Eigenmächtigkeit 64
Zitiert nach P. D'hein, Werner/Heilemann, Werner: Kein Platz für Wunderknaben, in: Stern, 18.09.1975. Vgl. Yeomans 1995, S. 251. Vgl. o.V.: CDU: Vormarsch nach rückwärts, in: Der Spiegel, 18.02.1974. 67 Vgl. Bösch, Frank: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart/München 2002, S. 111. 68 Vgl. Eglau, Hans Otto: Außenseiter mit Ehrgeiz und Elan, in: Die Zeit, 22.06.1973 65 66
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seiner Vertrauten hegte69 – weshalb allein schon die Partnerschaft mit Biedenkopf nicht dauerhaft gelingen konnte –, glaubte Biedenkopf ganz im Gegensatz dazu, unter Kohl die Rolle des eigentlichen Parteivorsitzenden spielen zu können. Das in der Tat war der Kern seines Rollenverständnisses. Biedenkopf sah sich Kohl überlegen, mindestens aber gleichwertig. Er dachte, Kohl steuern zu können, was sich in seinem vergifteten Lob der Vorzüge Kohls spiegelte, zuhören und Gehörtes umsetzen zu können sowie talentierte Männer neben sich zu dulden.70 Die intellektuellen Defizite des Vorsitzenden sah er wohl; ebenso, dass die CDU eine langfristige Orientierung benötigte. Bloß nahm er fälschlich an, deswegen hänge das Schicksal der Partei vorzugsweise an ihm selbst, deshalb müsse auch jeder andere gleich die „politisch-pädagogische Mission“71 erkennen, auf der er selbst sich sah. Zwangsläufig waren daher schließlich sowohl Kohl als auch Biedenkopf enttäuscht vom jeweils anderen. Kohl, weil er sich als Förderer Biedenkopfs verstand, dem die ihm gebührende Loyalität versagt blieb; Biedenkopf, weil er mit seinem Wechsel in die Politik ein Risiko eingegangen sei und Gehaltseinbußen hingenommen habe, alles auf der Grundlage eines wenn vielleicht auch unausgesprochenen Versprechens, dass der Generalsekretärsposten nur die erste Stufe auf der politischen Karriereleiter sei.72 Mit Strauß freilich – wie gelegentlich unterstellt – machte Biedenkopf vor 1978/79 nie, auch 1975 nicht, gemeinsame Sache. Sicher, erst seit Ende April 1975, nachdem Biedenkopf Kohl als Kanzlerkandidaten ausgerufen hatte, eskalierten die Konflikte. Doch schon zuvor hatte Biedenkopf den CSU-Chef als für die Kanzlerkandidatur untauglich beschieden73 und Strauß seinerseits zum Beispiel zentrale Gedanken des 1974 erschienenen Biedenkopf-Buchs „Fortschritt in Freiheit“ mit einem schroffen Verdikt, „Schwachsinn in Reinkultur“74, gebrandmarkt. Im Übrigen funktionierte das Tandem zwischen Kohl und Biedenkopf insgesamt zunächst durchaus gut. Die Differenzen blieben der Öffentlichkeit zumeist verborgen und beide profitierten von der Zusammenarbeit – jedenfalls galt dies bis zur Bundestagswahl 1976. Danach freilich spitzten sich die Konflikte zu und die Fronten verhärteten sich. Das hatte mehrere Gründe. Erstens stellen Wahlen immer einen disziplinierenden Zielpunkt dar. Nach dem Wahltag steht jeder Generalsekretär vor dem Problem, zu entscheiden, was er nun machen und ob er etwas Neues beginnen will. Zweitens bedeutete der Wechsel von Kohl aus der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei in den Vorsitz der Bundestagsfraktion seinen Umzug von Mainz nach Bonn. Allein schon die stärkere physische Präsenz Kohls in der Bundeshauptstadt und der Parteizentrale schränkte Biedenkopfs Autonomie empfindlich ein. Durch die Übernahme des Fraktionsvorsitzes durch Kohl zerbrach drittens die Interessengemeinschaft zwischen Parteichef und Generalsekretär in der Frage der Stärkung der Partei in der internen Machtbalance mit der Fraktion. Viertens spielte auch Kohls anfängliche Unsicherheit in Bonn eine Rolle. Diese ließ ihn noch dünnhäutiger werden und auf Kritik oder auch nur die Vermutung von Illoyalität besonders nachtragend reagieren. Und schließlich waren, fünftens, mit den Wirtschaftsführern Fritz Ries und Hanns-Martin 69
Vgl. Wirsching 2006, S. 179 und S. 183 f. Vgl. o.V.: Leute von außen, in: Der Spiegel, 28.05.1973. Bavendamm, Dirk: Ein Konzept der Macht und ihrer Zähmung, in: Süddeutsche Zeitung, 02.06.1973. 72 Vgl. hierzu die Passage des Wortprotokolls von dem abgehörten Telefongespräch zwischen Kohl und Biedenkopf, in der letzterer von den mit seinem Wechsel in die Politik verbundenen Risiken spricht, in: o.V.: Die AbhörAffäre, in: Stern, 19.06.1975. 73 Vgl. Neumaier, Eduard: Speerspitze – doch zeitweilig ohne Schaft, in: Die Zeit, 17.10.1975. 74 Zitiert nach Voss, Friedrich: Den Kanzler im Visier. 20 Jahre mit Franz Josef Strauß, München 1999, S. 87. 70 71
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Schleyer 1977 zwei gemeinsame Freunde gestorben, die als Gastgeber regelmäßiger Zusammenkünfte immer wieder entspannte Gesprächsmöglichkeiten jenseits des politischen Tagesgeschäfts geboten und schon aufgrund ihrer persönlichen Autorität als verlässliche Klammer im Verhältnis zwischen Kohl und Biedenkopf fungiert hatten.
Biedenkopf auf dem Zenit seines Einflusses: die Parteitage in Mannheim und Hannover Zuvor noch aber erlebte Biedenkopf in den Jahren 1975/76 den Höhepunkt seines Einflusses in der CDU – jedenfalls im Verlauf seiner ersten politischen Karriere, sein späteres Comeback als sächsischer Ministerpräsident nach 1990 an dieser Stelle nicht berücksichtigend. Exemplarisch mögen die Parteikonvente jener Jahre genannt werden. Auf dem Mannheimer Parteitag im Juni 1975 wurde Biedenkopf begeistert beklatscht, wiewohl es im Vorfeld auch in der CDU kritische Stimmen zu den Modalitäten der Akklamation Helmut Kohls zum Kanzlerkandidaten gegeben hatte. Nach außen zumindest war Biedenkopf in dieser Frage vorgeprescht, ohne Rücksicht auf die Parteieinheit zumal. Doch hatte ausgerechnet die CSU aufgrund ihrer überharten Kritik an Biedenkopf die Lage des Generalsekretärs noch rechtzeitig vor dem Parteitag stabilisiert und so eine Solidarisierung der Delegierten mit ihm bewirkt, welchen Biedenkopf darüber hinaus zahlreiche Erfolgsnachrichten und Vollzugsmeldungen liefern konnte.75 Doch standen im Zentrum der Mannheimer Zusammenkunft nicht Details der Arbeit eines Generalsekretärs, sondern die Diskussion und Verabschiedung der von Biedenkopf verfassten „Mannheimer Erklärung“. Brisanz entfaltete vornehmlich ein Unterpunkt, die sogenannte „Neue Soziale Frage“, mit der die Union soziale Sensibilität beweisen wollte. Vor allem aber versuchte sie, den natürlichen Kompetenzvorsprung der Sozialdemokraten in dieser Frage zu unterminieren, indem argumentiert wurde, in modernen Gesellschaften verlaufe die Bruchlinie zwischen Privilegierten und Benachteiligten nicht mehr zwischen Kapital und Arbeit, sondern zwischen organisierten und nicht-organisierten Interessen. Die neuen Benachteiligten seien daher nicht mehr die Arbeitnehmer, sondern die Nichtorganisierten, konkret: kinderreiche Familien, alleinstehende Mütter, alte Menschen, Behinderte und Gastarbeiter.76 Zwar enthielt die Erklärung kaum konkrete Vorschläge.77, gleichwohl wurde der Mannheimer Parteitag als Ausdruck eines Linksrucks der CDU gedeutet.78 Ebenso galten die seinerzeit „linken“ Bundesvereinigungen als Gewinner des Delegiertentreffens, der Jugendverband “Junge Union“ nicht anders als die Arbeitnehmervertreter vom CDA und die Frauen-Vereinigung.79 Als großer Triumphator und Kopf des Linksschwenks aber wurde der Autor der „Mannheimer Erklärung“, Vordenker der „Neuen Sozialen Frage“ und Generalsekretär in Personalunion dargestellt – Kurt Biedenkopf. 75
Vgl. König, Dieter von: „CDU muß Alternativen bieten“, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 25.06.1975. Vgl. zur Definition der „Neuen Sozialen Frage“ Geißler, Heiner: Mut zur Alternative, München/Berlin 1981, S. 90. 77 Vgl. König, Dieter von: „CDU muß Alternativen bieten“, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 25.06.1975. 78 Schneider, Hans-Roderich: Plötzlich griff Kohl nach Stoltenberg und stellte Biedenkopf in die Ecke, in: Welt am Sonntag, 14.09.1975. 79 Vgl. o.V.: Thema Nr.1: Die soziale Demontage, in: Handelsblatt, 25.06.1975. 76
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Frenetischen Jubel erntete Biedenkopf auch auf dem Wahl-Parteitag in Hannover 1976, wohingegen es Kohl, rhetorisch abermals weit unterlegen, erhebliche Mühe kostete, Stimmung bei den Delegierten zu erzeugen.80 Das Parteitagsauditorium nahm Biedenkopf mit seinen Erläuterungen des Slogans „Freiheit statt Sozialismus“ – die CSU plakatierte in Bayern die Ursprungsversion „Freiheit oder Sozialismus“ – für sich ein. Innerhalb der CDU bereitete diese Parole, auf der die bayerische Schwesterpartei bestanden hatte, vielen Bauchschmerzen. Zu plump schien sie zu sein, gänzlich unglaubwürdig angesichts eines sozialistischer Umsturzabsichten unverdächtigen Kanzlers Schmidt, durch ihre spalterische Wirkung außerdem inkompatibel mit der zeitgleichen Sympathiewerbung für Helmut Kohl. Kurz zuvor selbst noch ein erklärter Gegner dieser Formel, begründete Biedenkopf den Sozialismus-Slogan nun derart schlüssig, dass auch die in der CDU-Führung vorhandenen Zweifel an seinem Gebrauch und Nutzen verflogen.81 Dies zeigt: Immer wenn, wie in Mannheim und Hannover, inhaltliche Innovationen gefragt waren und Begründungen gesucht wurden, war Biedenkopf unangefochten, kam an ihm niemand vorbei, war er der Star.
General in der Defensive Nun sind Volksparteien träge Organisationen, für die sich nicht zufällig die Metapher von den schweren, unbeweglichen Tankern verbreitet hat.82 Thematische Innovationen, organisatorische Reformen, ja Erneuerungen allgemein sind hier eine vorhersehbare Ursache für Streit. Denn durch Prozesse des Wandels werden die Gewissheiten und das Selbstverständnis zahlreicher langjähriger Aktivisten verletzt, welche die überkommenen Ideen und Praktiken verinnerlicht haben, und die lieber am Bewährten festhalten würden. Streit, so könnte man im Umkehrschluss andererseits sagen, sorgt für Reibung, ist die Quelle von Spannung und schützt Organisationen vor Erstarrung, hält sie also über längere Zeiträume hinweg erst lebendig.83 Streit und Dynamik hängen jedenfalls vielfach zusammen. Und wenig überraschend gab es infolgedessen Streit, Konflikte und Spannungen auch in der Ära Biedenkopf zuhauf. Im Zentrum der Kritik standen dabei gerade die Eigenschaften und Verhaltensweisen Biedenkopfs, eben jene Elemente seines Politikstils, die an anderer Stelle bereits erwähnt, dort jedoch als Katalysatoren des Reformprozesses und Fundament der parteiorganisatorischen Emanzipation gekennzeichnet wurden. Die Kritik bezog sich also auf die Kehrseite seiner Stärken, und Biedenkopf ist insofern ein gutes Beispiel dafür, wie leicht beziehungsweise schnell Stärken in Schwächen umschlagen können. Seine Begabung zur scharfsinnigen Analyse konnte mit dem gleichen Recht als Abgehobenheit und Arroganz wahrgenommen, die Unbefangenheit des wissenschaftlich informierten, durch parteipolitische Routinen unbelasteten Ideenproduzenten genauso gut als Mangel an politischer Erfahrung gebrandmarkt werden. Biedenkopfs ausgeprägter Ehrgeiz lief von Anfang an Gefahr, die
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Vgl. Linnenbrügger, Kurt: Selten fiel Biedenkopfs Name so oft wie in der Niedersachsenhalle, in: Neue Westfälische, 25.05.1976. 81 Vgl. Kutschke, Peter: „General“ auf dem Vormarsch, in: Express, 25.05.1976. 82 Vgl. Glotz, Peter: Die Beweglichkeit des Tankers, Die Sozialdemokratie zwischen Staat und neuen sozialen Beziehungen, München 1982. 83 Vgl. Dettling 1994, S. 149.
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Amtskompetenzen zu überdehnen, und seine Erfahrungen als Wirtschaftsmanager standen stets vor dem Dilemma, für die Führung einer Partei untauglich zu sein.84 Für die Parteireformen waren Biedenkopfs Ideenreichtum und seine Neigung zu bisweilen auch unabgesprochenen Alleingängen eine wichtige Triebfeder. Doch weckte die Vielzahl an Vorschlägen andererseits den Verdacht, in dem Generalsekretär einen Opportunisten vor sich zu haben, der auf veränderte Bedingungen und Konstellationen sogleich mit einem neuen Vorstoß reagierte. Und sein Solistenstatus erschwerte ihm die Bildung von Gefolgschaften, gar Freundschaften in der eigenen Partei, die bei umstrittenen Entscheidungen als Hausmächte aber wichtige Hilfestellungen hätten leisten und die Funktion eines Blitzableiters hätten übernehmen können. Der Solist dagegen erntete bei Erfolgen zwar den ganzen Ruhm, in Konfliktfällen konzentrierten sich die Angriffe aber gleichfalls ausschließlich auf ihn.85 Sucht man einen Zeitpunkt, um den Umschlag in der Wahrnehmung Biedenkopfs und das Aufkommen wachsenden Unmuts an seiner Amtsführung zu datieren, stößt man paradoxerweise auf den Mannheimer Parteitag 1975 – ausgerechnet auf jenes Datum also, das andererseits den Höhepunkt seiner innerparteilichen Macht markierte. Insofern lässt sich an Biedenkopf auch die ambivalente Wirkung von Erfolgen zeigen. Denn ausgerechnet der Triumph bei dem Delegiertentreffen in Mannheim mobilisierte seine Gegner. Gerade Biedenkopfs Medienpräsenz und intellektuelle Strahlkraft befeuerten Kohls Misstrauen und seine Unzufriedenheit mit dem eigenen Generalsekretär. Nach dem Mannheimer Parteitag und parallel zur Biedenkopf-Kritik von innerparteilichen Größen wie Ludwig Erhard und Gerhard Stoltenberg, nominierte Kohl Stoltenberg als Wirtschaftsmann für seine Regierungsmannschaft, für jenen Posten also, der Biedenkopf zuvor fest versprochen schien. Von dem Generalsekretär war bei der Bekanntgabe der Entscheidung nicht mit einer Silbe die Rede, auch anderswo schien für ihn nun plötzlich kein Platz mehr frei zu sein, weshalb über seine Metamorphose vom „Wunderknaben“ zum „wunden Knaben“ gespöttelt wurde.86 Biedenkopfs Gegner formierten sich, und Gegner besaß er in den eigenen Reihen eine ganze Menge. Da waren zunächst die Sozialausschüsse, deren Vertreter Biedenkopf schon aufgrund Herkunft und Werdegang auf der Seite der Arbeitgeber vermuteten und die ihm seit den Auseinandersetzungen um das Mitbestimmungsmodell der CDU nachhaltig gram waren, im Übrigen auch Biedenkopfs Kritik übermächtiger Interessenorganisationen nicht teilten, hinter der sie eine einseitige Gewerkschaftsschelte witterten.87 Alsdann waren da natürlich Biedenkopfs Erzfeinde von der CSU. Obwohl Strauß den CDU-Generalsekretär insgeheim durchaus respektierte, eckten sie von Anfang an aneinander. Schon im Herbst 1973 empfahl Strauß Biedenkopf, weniger Interviews zu geben und endlich mit der Arbeit anzufangen, nachdem dieser zusammen mit Kohl den außenpolitischen Sprecher der CDU gegen das Votum von Strauß ernannt hatte.88 1975 eskalierten die Konflikte dann, beruhigten sich in der Folgezeit etwas, flammten nach der Bundestagswahl 1976 in Verbindung mit dem Trennungsbeschluss von Kreuth – die CSU-Landesgruppe kündigte seinerzeit kurzzeitig die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU im Bundestag – wieder auf, um alsdann erneut 84
Vgl. Bracher/Jäger/Link 1986, S. 105 ff. Vgl. Jäger/Link 1987, S. 131 f.; Neumaier, Eduard: Speerspitze – doch zeitweilig ohne Schaft, in: Die Zeit, 17.10.1975. 86 Vgl. P. D'hein, Werner/Heilemann, Werner: Kein Platz für Wunderknaben, in: Stern, 18.09.1975. 87 Vgl. o.V.: Leute von außen, in: Der Spiegel, 28.05.1973; o.V.: CDU: Vormarsch nach rückwärts, in: Der Spiegel, 18.02.1974. 88 Vgl. o.V.: Rüge für CDU-Strategen, in: Der Spiegel, 01.10.1973. 85
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abzuebben. Grundsätzlich aber bestanden sie bis 1978/79 fort, als Biedenkopf sich zum Fürsprecher für eine Kanzlerkandidatur von Strauß 1980 aufschwang. Die Eskalation und Befriedung in Verbindung mit Entscheidungen über die Kanzlerkandidaturen 1976 und 1980 zeigt an, dass hinter den persönlichen Auseinandersetzungen letztlich tiefere politische Meinungsverschiedenheiten über den politischen Kurs und die personelle Aufstellung der Unionsparteien steckten.89 Nicht zu unterschätzen sind ferner Biedenkopfs Rivalitäten mit einzelnen Spitzenpolitikern der Union. Neben Strauß wäre hier Stoltenberg zu nennen – beide hatten sich Hoffnungen auf die Kanzlerschaft 1976 gemacht hatten und verübelten Biedenkopf das Vorpreschen zugunsten Kohls. Dazu gesellten sich Kohl selbst, der seinem Generalsekretär zunehmend misstraute; Barzel, der Biedenkopf nicht verzieh, dass er ihm den Spitzenplatz auf der nordrhein-westfälischen Landesliste für die Bundestagswahl 1976 abgenommen hatte; später auch Heiner Geißler und in NRW die landespolitischen Größen Windelen, Worms, auch wohl Köppler.90 Hinzu kamen kleinere, zeitlich befristete Scharmützel mit der Jungen Union, die eine zeitlang analog zu den Sozialausschüssen Biedenkopf als Vertreter des unternehmerfreundlichen Flügels befehdete, sowie mit der katholischen Kirche, der Biedenkopfs Lebenswandel, seine öffentlich ausgelebte Affäre mit seiner späteren zweiten Ehefrau ein Dorn im Auge war, rund um den Mannheimer Parteitag darüber hinaus mit dem Wirtschaftsflügel. Diesem war er 1975 zu links, den Parteilinken hingegen davor und danach zu rechts beziehungsweise. wirtschaftsliberal. Woran sich einerseits ablesen lässt, dass Biedenkopf in seiner politischen Ausrichtung durchaus flexibel war; und andererseits, dass das Fehlen einer eindeutigen Lagerzugehörigkeit ihn nicht überall beliebt machte, sondern im Gegenteil die Anzahl seiner Gegner verdoppelte. Plötzlich trübte sich auch Biedenkopfs Bilanz als Generalsekretär ein. Biedenkopf, so wurde 1975 in der Bundesgeschäftsstelle kolportiert, sei ein Anschieber, aber kein Umsetzer, ständig reiße er neue Ideen an, für deren Realisierung er sich dann nicht interessiere. Von Frustrationen im Parteiapparat wurde jetzt berichtet, eine schreiende Diskrepanz zwischen Ankündigungen und Resultaten, Rhetorik und tatsächlicher Substanz beklagt. Biedenkopf sei, so wurde weiter berichtet, ein Mann des Apparats nie geworden, vielmehr in der Bundesgeschäftsstelle unverändert fremd. Überhaupt erledige die eigentliche Organisationsarbeit für den zumeist abwesenden Generalsekretär der Bundesgeschäftsführer, zu dem Biedenkopf jedoch zu allem Übel eine tiefe Abneigung hege, weshalb viele Initiativen versandeten, konkrete organisatorische Impulse aus der Parteizentrale Mangelware blieben und die CDU ein Jahr vor der Bundestagswahl für den Wahlkampf schlecht gerüstet sei. Hier zeigte sich die Sprunghaftigkeit des Hochbegabten. Biedenkopf war zumindest in der Frühphase seiner ersten politischen Karriere, in den 1970er Jahren, immer auf der Suche nach neuen Lernzwängen, zusätzlichen Optionen und weiteren Herausforderungen. Daraus erklären sich seine notorische Unzufriedenheit mit dem Erreichten und das beständige Drängen nach neuen Ufern, Herausforderungen, Ämtern. In der Kritik aus der Bundesgeschäftsstelle an Biedenkopfs Führung spiegelt sich auch das Problem von maßloser Selbstgewissheit, arroganter Selbstüberschätzung sowie der Unfähigkeit, Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Seiner singulären Qualitäten sicher, verprellte der Generalsekretär durch sein herrisches Auftreten die Mitarbeiter der Bundesgeschäftsstelle und machte man89 90
Vgl. o.V.: Biedenkopf gibt „Meinungsverschiedenheiten“ zu, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.05.1975. Vgl. Wendt 1994, S. 90 f.
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chem den Dienst zur Qual, worunter das gesamte Betriebsklima und infolgedessen der Arbeitseinsatz auch nicht betroffener Beschäftigter litt. Keine Grenzen für sein Leistungsvermögen anerkennend, verhedderte sich der Generalsekretär zudem auf zu vielen Konfliktfeldern. Sein auftrumpfendes Selbstgefühl nervte Parteifreunde und provozierte dadurch unnötig Widerstände. Er beging Fehler, die leicht zu korrigieren gewesen wären, hätte sich sein Ego nicht gegen deren Eingeständnis gesträubt.
Die Bundestagswahl 1976 Ein Spiegelbild der Erfolge bei der organisatorischen und strategischen Parteientwicklung sowie der Modernisierung des CDU-Images unter Biedenkopf, aber auch der Problematik, die mit seinen Alleingängen und seiner politischen Polarisierungsstrategie verbunden war, lieferten der Wahlkampf und Ausgang der Bundestagswahl 1976. Diverse Indikatoren deuten an, dass die CDU/CSU drauf und dran war, die politische Mitte zurückzuerobern. Mochte das Gros der kulturellen Eliten, zum Beispiel der Journalisten, 1976 noch der SPD nahe stehen, das gesellschaftliche Meinungsklima insgesamt hatte sich gewandelt und konservativ eingefärbt. Die Union war aus der Defensive herausgekommen, die Bekenntnisfreude ihrer Anhänger war groß. In einer Umkehrung der Verhältnisse von 1972 gab jetzt die Union über weite Strecken des Wahlkampfs den Ton an.91 Entsprechend des moderneren Images der Union und ihrer Rückeroberung der politischen Mitte-Position verzeichnete sie bei der Wahl überproportionale Zuwächse bei Jungwählern wie auch im neuen Mittelstand der – mehrheitlich katholischen oder konfessionell gemischten – Großstädte.92 Doch muss die Erfolgsmeldung an dieser Stelle sogleich wieder relativiert werden. Obwohl die CDU einerseits spezielle Zielgruppenkampagnen durchführte, trotz also beispielsweise der Veranstaltungsreihe „Offensive für die Frau“93, und wiewohl andererseits insbesondere Biedenkopf auf liberale Wählerschichten durchaus Anziehungskraft entfaltete, blieben die Zugewinne in diesen Segmenten nichtsdestotrotz begrenzt. Die Wählerhochburgen waren 1976 weitestgehend dieselben wie vier Jahre zuvor, die Partei auch unter Biedenkopf die Vertretung der Katholiken, des alten Mittelstands, von Selbständigen und Landwirten sowie „der ländlich-kleinstädtischen Wähler, die sich gegen die Umbrüche in den Ballungsräumen abgrenzten“94. Im Übrigen war der Unions-Wahlkampf keineswegs fehlerlos. Der Slogan „Freiheit statt/oder Sozialismus“ erreichte zwar in puncto Bekanntheit einen Spitzenplatz, doch mobilisierte die Gegenüberstellung von Freiheit und Sozialismus unglücklicherweise den Gegner stärker als die eigenen Leute. Zudem ging seiner Verkündung ein langer parteiinterner Streit voraus, konnten Einigkeit und Geschlossenheit über Wochen nicht hergestellt werden. Obendrein gelang es den Christdemokraten nicht, den Wahlkampf mit konkreten Themen zu unterlegen und die SPD so in die Breduille zu bringen. Ganz zu schweigen davon, dass sie auf die Präsentation einer „Mannschaft“ verzichteten und sich ein Plebiszit über die Kanzlerkandidaten aufzwängen ließen, wiewohl die Unionsparteien über die grö-
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Vgl. Jäger/Link 1987, S. 50. Vgl. ebd., S. 49 f. 93 Vgl. Schell, Manfred: Die CDU wirbt um die Frauen, in: Die Welt, 19.5.1976. 94 Bösch 2002, S. 212. 92
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ßere Zahl attraktiver Spitzenpolitiker verfügte, Kanzler Schmidt im direkten Vergleich seinem Rivalen Kohl dagegen deutlich überlegen war.95 Schwächen im Wahlkampf offenbarte auch Biedenkopf selbst. Gerade in Vorwahlzeiten wäre der Volkstribun gefragt gewesen, der Zuspitzer, Vereinfacher und Draufhauer – vor allem angesichts eines stark polarisierenden Wahlkampfs. Doch vermochte Biedenkopf eben das auch jetzt nicht zu leisten, konnte er auch bei Wahlkampfveranstaltungen den Wissenschaftler nicht verbergen. Stets um Differenzierung bemüht, Probleme sachlich und mit niveauvollen Argumenten analysierend, porträtierte ihn die Westdeutsche Allgemeine Zeitung als den „leisesten Wahlkämpfer der christlichen Union“96. Sein Wahlkampfstil fand in den Medien – partiell zumindest – aufgrund seiner Nüchternheit inmitten hitziger Wahlgefechte und seiner rhetorischen Noblesse zwar durchaus Anerkennung, doch vermochte der Mangel an Polemik keine Begeisterung unter den Zuhörern aufkommen zu lassen, geschweige denn Leidenschaften und Enthusiasmus zu entfachen. Freilich: Dass er es nicht versucht hätte, wird man ihm nicht vorhalten können. In Nordrhein-Westfalen focht er durchaus mit dem Säbel statt dem Florett und polarisierte dadurch die Wählerschaft. Aus zwei Gründen führte Biedenkopf hier einen Schwerpunktwahlkampf. Zum einen, weil er in Bochum seinen Wahlkreis hatte und die Landesliste der hiesigen CDU anführte. Zum anderen, weil NRW das bevölkerungsreichste Bundesland war und Biedenkopf annahm, die Wahlen würden zwischen Rhein und Ruhr entschieden.97 Er ließ im Vorfeld Analysen anfertigen, welche die Schwachstellen der nordrhein-westfälischen CDU bilanzierten, der Verflechtung von SPD und Gewerkschaften nachspürten und die Sprachgewohnheiten im Ruhrgebiet entschlüsselten. Ausschließlich für die Koordination des NRW-Wahlkampfs wurde ein spezielles Gremium gegründet, zudem extra eine Mitgliederwerbeaktion gestartet und eine eigene Wahlkampfzeitung unter die Bevölkerung gebracht.98 Biedenkopf selbst absolvierte in der heißen Wahlkampfphase mit allgemein beachteter Ausdauer zahllose Wahlveranstaltungen, besuchte die Ortvereine und verschob extra für den Wahlkampf seinen Urlaub.99 Die erreichten 44,5 Prozent in NRW waren von der erhofften absoluten Stimmenmehrheit aber weit entfernt und enttäuschten. Bedenkt man, dass gegen den Trend auch die Mitgliederwerbekampagne erfolglos blieb und auch Biedenkopf persönlich in seinem Wahlkreis nur 2,8 Prozentpunkte hinzugewann, dann war die Gesamtbilanz für NRW ernüchternd, ja enttäuschend – und im Übrigen tatsächlich wahlentscheidend. Denn ein Anteil von fünfzig Prozent oder mehr in NRW hätte der CDU/CSU auch bundesweit zu einer absoluten Mehrheit verholfen und einen Regierungswechsel bedeutet. Letztlich entscheidend für diese Niederlage war unter anderem das mangelnde politische Gespür Biedenkopfs, sein geringer Themen-Instinkt, die zu große mentale Distanz zur Parteibasis, kurzum: das Fehlen einer langjährigen parteipolitischen Sozialisation. Die von Biedenkopf gestartete Kampagne gegen die wechselseitige Verflechtung von SPD und Gewerkschaften und die daraus entstehende Verfilzung speziell im Ruhrgebiet mochte faktisch richtig und durch seine Analyse gedeckt sein, Kommunalpolitiker freilich rieten 95 Vgl. Kleinmann 1993, S. 374 und S. 378; Kaltefleiter, Werner: Der Gewinner hat nicht gesiegt, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 50/1976, S. 3-35, hier S. 28 ff. 96 Bonhorst, Rainer: Keiner kämpft so gedämpft, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 29.04.1975. 97 Vgl. Suhrbier, Hartwig: Biedenkopfs Anspruch steckt zwischen den Zeilen, in: Frankfurter Rundschau, 24.03.1976. 98 Vgl. Schell, Manfred: Die CDU wirbt um die Frauen, in: Die Welt, 19.05.1976; Yeomans 1995, S. 266 ff. 99 Vgl. Köpf1999, S. 128 ff.
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dennoch von Attacken auf die „Filzokratie“ ab, da sie als Angriff auf arbeitnehmerschaftliche und wohlfahrtsstaatliche Strukturen missverstanden, auch vom eigenen Arbeitnehmerflügel abgelehnt und insofern – analog zu der „Freiheit statt Sozialismus“-Parole auf Bundesebene – auch in NRW den Gegner stärker mobilisierten als die eigenen Anhänger.100 Ein Polit-Profi hätte auch keine Sprachstudie anfertigen lassen, wie Biedenkopf es tat. Biedenkopf versuchte das instinktive Gespür der Graswurzelpolitiker, das ihm abging, durch wissenschaftliche Traktate zu kompensieren. Das Ergebnis war eher kabarettreif. In seinen öffentlichen Auftritten im Ruhrgebiet tilgte Biedenkopf als Reaktion auf die Sprachstudie Fremdworte so weitgehend aus seinen Ansprachen, dass er selbst gebräuchliche Begriffe umständlich übersetzen musste. Um ganz sicher zu gehen, vom kleinen Mann verstanden zu werden, ließ er seinen Chauffeur die Reden gegenlesen.101 Doch wirkte seine Anpassung gerade deswegen gekünstelt, ungelenk und unpassend. Nähe, Sympathien, gegenseitiges Verständnis zwischen Bevölkerung, Zuhörern und Rednern stellte sich so nicht ein. Noch dazu rechnete er sich den NRW-Wahlkampf gegen die Fakten als Erfolg schön und gab die Schuld an dem mit bundesweit 48,6 Prozent denkbar knapp verpassten Regierungswechsel anderen – den NRW-Medien mit ihrer verzerrten Berichterstattung zum Beispiel – bloß eben nicht sich selbst.
Der Bruch mit Kohl Nach der Bundestagswahl 1976 kam es zum endgültigen Bruch zwischen Biedenkopf und Kohl. Am Wahlabend fiel der Zwang zur Geschlossenheit weg, außerdem war die wichtigste Aufgabe des Generalsekretärs – die Planung und Durchführung des Bundestagswahlkampfs – nach dem Urnengang erledigt.102 Biedenkopf konnte obendrein durchaus selbstbewusst zurückblicken. Betrachtete man das Wahlergebnis, das Mitgliederwachstum und die Organisationsentwicklung, dann hatte sich die Partei unter seiner Ägide positiv entwickelt. Es lag insofern nahe, dass Biedenkopf in dieser Situation neue Herausforderungen und die Emanzipation von Kohl suchte. Klar war daher auch, dass die Veränderung mit einer neuen Karrierestufe einhergehen sollte, auf der er noch weitgehender als bisher in die Umsetzung von Politik eingebunden war und noch stärker im politischen Rampenlicht stand. Deswegen sammelte er nun Ämter und Posten. In der Bundestagsfraktion strebte er eine Führungsposition an, wollte Ausschussvorsitzender und Mitglied im Fraktionsvorstand werden. In NRW versuchte er sich gleichzeitig eine eigene Hausmacht zu schaffen, indem er sich für die Nachfolge Windelens als Vorsitzender des Landesverbands bewarb. Und als Generalsekretär forderte er von Kohl ebenfalls ein Mehr an Kompetenzen, darunter einen stärkeren Zugriff auf die KonradAdenauer-Stiftung (KAS), außerdem die Einbindung des von ihm gegründeten „Instituts für Wirtschaft und Gesellschaft“ (IWG) in die Strukturen der KAS.103 Es verwundert schon von daher nicht, dass Kohl hinter Biedenkopfs Ämterhäufung sinistere Absichten witterte und fürchtete, sein Generalsekretär versuche sich abermals, nun 100
Vgl. Jäger/Link 1987, S. 48 f. Vgl. Wendt 1994, S. 80 f. Vgl. Bewerunge, Lothar: Biedenkopfs neuer Weg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.1977. 103 Vgl. Dreher 1998, S. 199 f.; Bösch 2002, S. 111 f.; Bewerunge, Lothar: Biedenkopfs neuer Weg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.1977. 101 102
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mit besonderem Nachdruck sowie – ließe man ihn gewähren – guten Erfolgsaussichten, als Konkurrent aufzubauen. Diese Aussicht musste ihn umso heftiger umtreiben, als er sich in der unmittelbaren Nachwahlphase noch mit anderen Konfliktherden konfrontiert sah. Trotz des sehr guten Resultats überwog bei den Christdemokraten die Enttäuschung über den verpassten Regierungswechsel. Kohls Autorität war durch den Wahlausgang nicht gestärkt, eher bröckelte sie in dieser Zeit durch die fortgesetzte Strategiedebatte und Führungsdiskussion sowie enttäuschende Bundestagsreden des neuen Partei- und Fraktionsvorsitzenden in Personalunion und allgemein den schlechten Start der Unionsparteien in die neue Legislaturperiode weiter ab.104 Kohl reagierte auf mögliche Gefahren gerade in dieser Phase hochsensibilisiert: Nicht nur blockierte er den von Biedenkopf angestrebten Ausschussvorsitz im Bundestag, er verhinderte auch eine Ausweitung der Befugnisse des Generalsekretärs, versuchte diese sogar zu beschneiden. Im Zusammenhang damit verschärften sich die Spannungen zwischen Biedenkopf und Kohl. Von einer Ergänzung ihrer unterschiedlichen Stile und Talente konnte jetzt keine Rede mehr sein. Durch Kohls Übernahme des Fraktionsvorsitzes wurden ganz automatisch die Gestaltungsfreiräume des Generalsekretärs eingeengt.105 Biedenkopf, der sich bis dahin als „geschäftsführender Vorsitzender“ hatte gebärden können, fühlte sich nun auf die Rolle eines Parteisekretärs zurückgestuft. Und schließlich: Der Partei- und Fraktionsvorsitzende Kohl setzte nach der Bundestagswahl 1976 angesichts einer die ultimative Auseinandersetzung suchenden bayerischen Schwesterpartei sowie aufgrund der eigenen Vertrauenskrise noch einseitiger auf Moderation, Integration und Konfliktbereinigung. Biedenkopf dagegen reizte die CSU ununterbrochen, heizte die Konflikte im konservativen Parteilager durch kompromisslose Redebeiträge noch zusätzlich an.106 Da die Stellungnahmen des Generalsekretärs immer auch auf seinen formalen Vorsitzenden, den Parteivorsitzenden, zurückfielen, dieser aber ohnehin schon umstritten war und sich in einer Position der Schwäche befand, musste sich Kohl in dieser Phase nach Alternativen zu Biedenkopf umsehen.
Biedenkopfs Leistung in der Landespolitik Als am 19. Januar 1977 bekannt gegeben wurde, dass Biedenkopf und Kohl zukünftig getrennte Wege gehen würden und der Generalsekretär auf dem nächsten Parteitag im März nicht noch einmal für das Amt des Generalsekretärs kandidieren werde, bedeutete diese Entscheidung für Biedenkopf – wie ein kluger Kommentar der FAZ bemerkte – zugleich einen Rückschlag wie eine Chance. Der Autor folgerte, der Wechsel von der Führungsbrücke der Parteizentrale in den Bundestag und die nordrhein-westfälische Landespolitik verweise ihn auf das „mühsame Pflegen eines kargen Ackers“. Den Niedergang der CDU im Ruhrgebiet zu stoppen, könne seiner Karriere andererseits „nachträglich das sichere Fundament“ geben.107
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Vgl. Jäger/Link 1987, S. 122. Vgl. hierzu und im Folgenden Pruys 1995, S. 143 und S. 215. Vgl. Capell, Gottfried: Ist die Trennung Kohl/Biedenkopf nicht nur ein Problem der CDU?, in: GeneralAnzeiger, 22.01.1977. 107 O.V.: Biedenkopf geht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.01.1977. 105 106
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Dass Biedenkopf in seinem neuen Engagement vor allem eine Möglichkeit sah, durch den Umweg über die Landespolitik seiner Karriere noch einmal einen Schub zu geben, ist sofern eine einleuchtende Schlussfolgerung. Biedenkopf wandte sich also Nordrhein-Westfalen zu. Dort fand er die Perspektive, über den Umweg der Landesebene vielleicht noch einmal ein Comeback in der Bundespolitik zu schaffen, aus der er zunächst einmal von übermächtigen Konkurrenten verdrängt worden war. Und er konnte versuchen, sich in NRW eine Hausmacht aufzubauen und dadurch eine – von einem Mentor unabhängige – Stellung zu erlangen. Zumal: Durch Albrechts Machtwechsel in Niedersachsen mit Hilfe der FDP bestand plötzlich eine realistische Machtperspektive auch in NRW – derweil die Niederlage bei der Bundestagswahl gleichzeitig die Übernahme von Regierungsämtern im Bund auf absehbare Zeit verbaute.108 Biedenkopfs Einstieg in die nordrhein-westfälische Landespolitik vollzog sich auf für ihn charakteristische Art und Weise. Typisch war zunächst das Zusammenspiel aus Vorstößen und Rückzügen. Zunächst meldete Biedenkopf durch einen furiosen Auftritt und unter dem Beifall der Delegierten auf einem Parteitag seinen Führungsanspruch an. Nachdem er aber von Seiten der Amtsinhaber für seinen Auftritt Kritik geerntet und der verärgerte Fraktionsvorsitzende und bisherige Spitzenkandidat der CDU, Heinrich Köppler, Biedenkopf verärgert zur Rede gestellt hatte, machte der Generalsekretär einen Rückzieher und behauptete, falsch verstanden bzw. zitiert worden zu sein.109 Typisch für Biedenkopfs politische Karriere war auch seine anfängliche Machtressource. Wie schon bei seinem Einstieg in die Bundespolitik einige Jahre zuvor, so legitimierte auch jetzt, in der NRW-CDU, die Krise der etablierten Strukturen, Verhältnisse und Funktionsträger die Ansprüche des Einsteigers von außen. Die einst stolze CDU in Nordrhein-Westfalen war 1976 in einem desolaten Zustand.110 Wenig überraschend daher, dass Biedenkopf seinen Aufstieg mit harscher Kritik an Landes-CDU und christdemokratischem Spitzenpersonal unterlegte. Für die NRW-CDU forderte er wiederholt „eine neue und bessere Politik“111, und entgegen einer von ihm selbst verbreiteten Legende war auch sein Verhältnis zu Köppler – wie erst recht zu Windelen – nicht ungetrübt.112 Windelen und Köppler hatten die Ochsentour absolviert, sie waren sukzessive aufgestiegen und fest in dem katholischen Milieu verankert.113 Biedenkopf dagegen kam von außen, irrationale, auf Emotionen und Traditionen basierende Bindungen waren ihm weitestgehend fremd. Kaum vorstellbar, dass harmonische Wanderungen der Art, wie Biedenkopf sie schilderte, zwischen ihm und Köppler wirklich stattfanden. Köpplers enger Vertrauter Windelen jedenfalls spielte ganz entgegen seiner ursprünglichen Absichten mit einer abermaligen Kandidatur für den westfälischen Landesvorsitz.114 Und der CDU-Parlamentsgeschäftsführer während Köpplers Fraktionsvorsitz, Ottmar Pohl, insinuierte gar eine Mit108
Vgl. Hertz-Eichenrode, W.: Premierenapplaus für Biedenkopf, in: Die Welt, 23.03.1976. Vgl. Suhrbier, Hartwig: Biedenkopfs Anspruch steckt zwischen den Zeilen, in: Frankfurter Rundschau, 24.03.1976. 110 Vgl. P. D'hein, Werner: Der General will an die Macht, in: Stern, 01.04.1976. 111 Zitiert nach Wauschkuhn, Franz: Für Biedenkopf beginnt jetzt der Kampf um die CDU-Basis, in: Die Welt, 14.02.1977. 112 Vgl. Windelen, Heinrich: Die Union in Rheinland und Westfalen, Ein schwieriger Weg, in: Kronenberg, Friedrich/Vogel, Bernhard (Hrsg.): Heinrich Köppler. Christ und Politiker 1925-1980, Düsseldorf 1990, S.137-162, hier S. 150 und S. 158. 113 Vgl. Müchler, Günter: Gefragt: Heinrich Windelen, Bornheim 1986, S. 27. 114 Vgl. Windelen 1990, S. 157. 109
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schuld Biedenkopfs an Köpplers plötzlichem Tod. Von seinem Konkurrenten ständig bedrängt, habe dieser sich in kräftezehrenden Auseinandersetzungen aufgerieben, die seine anfällige Gesundheit zusätzlich angegriffen hätten.115 Letztlich war Biedenkopfs Übernahme von Spitzenämtern in NRW durch fünf Merkmale gekennzeichnet. Erstens durch eine gezielte Verunsicherung der bisherigen Spitzenpolitiker, die sie angstvoll zurückweichen und den Weg für Biedenkopf zusätzlich freimachen ließ. Windelen selbst verhalf Biedenkopf sogar in der entscheidenden Fraktionssitzung zu einem Sitz im Bundestagswirtschaftsausschuss – in der Hoffnung, dadurch seine Energien zu binden, faktisch jedoch mit dem Ergebnis, ihn für ein NRW-Führungsamt weiter aufzubauen.116 Zweitens hatte Biedenkopf sich akribisch auf sein neues Betätigungsfeld vorbereitet und im Vorfeld seiner Kandidatur für den westfälischen Landesparteivorsitz als Universitätsprofessor und Wahlkämpfer sowie durch die Analysen seiner Sprachstudie zahlreiche Erkenntnisse über die Bevölkerung des Reviers gesammelt.117 Drittens konnte er sich auf die Schützenhilfe des Großteils der Journalisten verlassen, deren mediales Echo ein wesentlicher Grund bereits für die beinahe kampflose Kapitulation Windelens gewesen war.118 Aus all diesen Gründen eroberte Biedenkopf, viertens, NRW geradezu im Sturm. Bereits auf einer Sondersitzung der westfälisch-lippischen CDU am 22. Januar 1977, also zeitgleich mit dem Aufkommen der ersten Gerüchte über Biedenkopfs politischen Ortswechsel, legten sich die Christdemokraten dem scheidenden Generalsekretär zu Füßen. Windelen verkündete bereits hier seinen – später kurzzeitig zurückgenommenen – Verzicht auf den Landesvorsitz zugunsten Biedenkopfs, Barzel dagegen war bereits damals aus dem Rennen um die Führung der NRW-CDU gewesen.119 Dennoch formierte sich, fünftens, auch in NRW Widerstand gegen Biedenkopfs Übernahme der Landes-CDU. Kampflos jedenfalls sollte die Westfalen-CDU Biedenkopf nicht übergeben werden. Dazu verfügten die NRWLandesverbände über eine zu stolze Tradition, dafür waren auch die Rivalitäten aus Biedenkopfs Zeit als Generalsekretär noch zu lebendig. Mitte Februar 1977 konnte sich der westfälisch-lippische Vorstand zu keiner Empfehlung für die Vorsitzendenwahl auf dem kommenden Parteitag durchringen.120 Die CDU-Gewerkschafter verabschiedeten darüber hinaus einen formellen Beschluss, Biedenkopf als westfälischen Landesvorsitzenden verhindern zu wollen, da er „eine sachliche und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Arbeitnehmern und ihren Gewerkschaften (erschwere)“121. Auch ein einige Medien – Biedenkopf gegenüber ansonsten mehrheitlich positiv eingestellt – sahen frühzeitig mögliche Probleme durch seine Übernahme der Partei. Zwar könne die CDU ein politisches Naturwunder wie Biedenkopf gut gebrauchen, doch benötige sie auch Solidität und Kontinuität. Einen schneidigen Wahlkampf führen zu können habe der Generalsekretär 1976 zwar bewiesen. Aber um die Gewerkschaften in Bedrängnis
115 Vgl. Pohl, Ottmar: Die CDU-Landtagsfraktion 1970-1980: Opposition ohne Chance?, in: Kronenberg/Vogel (Hrsg.) 1990, S. 185-210, hier S. 207. 116 Vgl. Breuer, Helmut: Jetzt drängt Kurt Biedenkopf verstärkt nach NRW, in: Rheinische Post, 20.01.1977. 117 Vgl. Piel, Dieter: Kurt Biedenkopf, in: Die Zeit, 21.05.1976. 118 Vgl. Nahrendorf, Rainer: Biedenkopf kommt, in: Christ und Welt, 18.02.1977. 119 Vgl. Clement, Wolfgang: Neu-Westfale Biedenkopf, in: Westfälische Rundschau, 22.01.1977. 120 Vgl. Wauschkuhn, Franz: Für Biedenkopf beginnt jetzt der Kampf um die CDU-Basis, in: Die Welt, 14.02.1977. 121 O.V.: Die Verfilzten, in: Rheinischer Merkur, 25.02.1977.
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zu bringen, helfe kein kurzzeitiges Aufbäumen, sondern nur langfristig angelegtes Tiefenpflügen.122
Höhen und Tiefen in NRW Diese kritischen Stimmen just im Moment des Erfolgs – einer Phase also, in der gemeinhin die positiven Eigenschaften, die Stärken, Begabungen und Leistungen überpointiert, die Defizite dagegen unterbelichtet werden – waren bereits kein gutes Omen. Und in der Tat hielt NRW für Biedenkopf zwar einige Erfolgsmomente bereit, etwa die glänzenden Wahlergebnisse auf dem Parteitag der Westfalen-CDU 1977 und dem Fusionskonvent des neugebildeten nordrhein-westfälischen Landesverbandes 1983. Angesichts der Zerstrittenheit der CDU im bevölkerungsreichsten deutschen Bundesland – sowohl zwischen Westfalen und Rheinländern als auch innerhalb der beiden Regionalverbände selbst – galten jedenfalls die 87-prozentige Zustimmung 1977 in Herne, erst Recht aber die 91,5 Prozent in Düsseldorf sechs Jahre später als „beeindruckende“ Siege und „überwältigende“ Voten.123 Doch blieben solche Erfolge flüchtig, Triumphgefühle stellten sich bei Biedenkopf in Nordrhein-Westfalen insgesamt nur selten ein und verflogen jeweils rasch. Selbst Versuche zur Imagekorrektur und Ansätze zur Beherzigung gutgemeinter Ratschläge zeitigten allenfalls kurzfristig positive Effekte. So verzichtete Biedenkopf im Rahmen der Fusionsverhandlungen zwischen rheinischen und westfälischen Christdemokraten im Vorfeld des Vereinigungsparteitags auf arrogante Auftritte. Er vermied Gesten intellektueller Überlegenheit und zeigte sich in seinen Äußerungen loyal. Entgegen seiner Gewohnheit strahlte er jetzt Ruhen und Verlässlichkeit aus. Überrascht wurde seine emotionale Annäherung an die Parteibasis kommentiert, deren Fundament in einer fleißigen Reisetätigkeit in die Kreisorganisationen gesehen wurde und deren Resultat eine erhöhte Glaubwürdigkeit Biedenkopfs bei den einfachen Parteimitgliedern und umgekehrt bei ihm eine zuvor nicht gekannte Bereitschaft sei, sich in den Dienst der NRW-CDU zu stellen.124 Doch auch die wechselseitige Annäherung von Partei und Biedenkopf, selbst die erfolgversprechenden Ansätze, die NRW-CDU als Hausmacht zu gewinnen, vermochten doch nur vorübergehend die insbesondere im Mittelbau der Partei fortbestehenden Gegnerschaften zum Vorsitzenden und die auch nach der Vereinigung – „vereinigt doch nicht vereint“, wie Kenner über die CDU zwischen Rhein und Weser spöttelten – weiter schwelenden Konflikte zwischen Arbeitsgemeinschaften, Bezirksfürsten und insbesondere den Landsmannschaften, mithin die für kommende Explosionen bereits gelegte Lunte zu kaschieren. Die Verbündeten Biedenkopfs jedenfalls waren unsichere Kantonisten und obendrein nicht eben zahlreich. An seiner westfälischen Basis hatte er über alle Wechselfälle hinweg durch die gesamten 1980er Jahre hindurch beträchtliche Obstruktionskräfte und einflussreiche Frondeure gegen sich. Auch die Westfalen-CDU – zu schweigen von der Partei in Gesamt-NRW – war daher Hausmacht für Biedenkopf allenfalls punktuell. Am treuesten noch 122 Vgl. Wauschkuhn, Franz: Für Biedenkopf beginnt jetzt der Kampf um die CDU-Basis, in: Die Welt, 14.02.1977. 123 Ziegler, Hasso: Biedenkopfs Position ist stärker geworden, in: Stuttgarter Zeitung, 06.06.1977; o.V.: Überwältigendes Votum für Biedenkopf nach dem Zusammenschluß in Nordrhein-Westfalen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.03.1986. 124 Vgl. Dreher, Klaus: Aufbruch mit gewaltiger Hausmacht, in: Süddeutsche Zeitung, 10.03.1986; Breuer, helmut: Phönix Biedenkopf, in: Rheinischer Merkur/Christ und Welt, 24.08.1985.
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waren die Münsterländer, die den ehemaligen CDU-Generalsekretär lange unterstützten, im entscheidenden Moment freilich ebenfalls absprangen, als sie Biedenkopf 1987 zum Rücktritt vom Landesvorsitz zugunsten von Norbert Blüm aufforderten.125 Bezeichnend für Biedenkopfs innerparteiliche Einsamkeit jedenfalls war, dass sogar sein Erzrivale Kohl phasenweise zu seinen wichtigsten Unterstützern gezählt wurde. Eine Einschätzung, für die bereits die strategische Einbindung Biedenkopfs als wirtschaftspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion ausreichte, mit der Kohl in einem Moment eigener Schwäche im Sommer 1978 einen potenziellen Rivalen neutralisieren wollte, nicht ohne freilich die Gestaltungsräume des Letzteren durch die parallele Ernennung Gerhard Stoltenbergs zum wirtschaftspolitischen Sprecher der CDU sogleich einzuschränken.126 Für Biedenkopf überwogen in den nordrhein-westfälischen Jahren daher die Widerstände, Rückschläge und Niederlagen. Seine auch in dieser Zeit stets anerkannten Fähigkeiten, die Begabung zu intellektueller Analyse, ausgefeilter Rhetorik und visionärem Gedankenflug wogen seine Defizite, die politisch problematischen Seiten seines Charakters nicht auf. In NRW hatte er aus seinem Scheitern in der Parteizentrale nichts gelernt. Abermals überschätzte er seine Fähigkeiten grandios, traute sich alles zu und am besten auf einmal. 1980 beispielsweise mochte er sich nicht zwischen seinem Bundestagsmandat und der Übernahme der Oppositionsführerschaft im Düsseldorfer Landtag entscheiden und versuchte beides gleichzeitig wahrzunehmen. 1987 plante er dann zwar eine Zeit lang seinen Wechsel nach Bonn – in der festen Erwartung auf eine Spitzenposition in der Bundestagsfraktion oder einer CDU-geführten Regierung. Als die Parteifreunde ihn dort aber in das zweite Glied und auf die hinteren Bänke des Parlaments zwangen, blieb er auch in der Folgezeit Doppelmandatar. Für den Fall des Ganges in die Bundeshauptstadt hatte er im Übrigen geplant, einen Statthalter in Düsseldorf einzusetzen, um auch von Bonn aus weiter die Fäden in NRW ziehen zu können. Biedenkopfs Ehrgeiz und Grandiositätsempfinden paarte sich hier mit einem fast manischen Wunsch nach Karrieresicherheit. Für den Fall des Scheiterns wollte Biedenkopf sich Ausweichmöglichkeiten offen halten, jeder erdenklichen Kalamität durch Ämterkumulation rechtzeitig vorbeugen. Zu Recht misstrauten ihm daher seine CDU-Kollegen, zugetraut wurden ihm in der Öffentlichkeit ohnehin seit Langem alle Ämter bis hinauf zu dem des Bundeskanzlers – ein Urteil, das wiederum die parteiinterne Skepsis gegenüber seinen wahren Absichten nur bestärkte. Hinzu kamen auch jetzt, wie schon in seiner Zeit im Konrad-Adenauer-Haus, ein Mangel an politischem Fingerspitzengefühl, gerne als fehlende politische Klugheit apostrophiert, und der Hang zu unabgesprochenen Alleingängen, seinerseits verknüpft mit geringer Konfliktfähigkeit. Wiederholt preschte er mit fundamentaler Kritik gegen die Bundesparteispitze im Allgemeinen und Kohl im Speziellen vor, verpflichtete einen ob unzureichender Absprachen ohnehin grummelnden Westfalen-Vorstand auf Loyalität und zog dann urplötzlich – nachdem er vom Funktionärsmittelbau seines Verbands in öffentlichen Erklärungen bereits gestützt worden war – seine Bedenken zurück, stimmte bei entscheidenden Abstimmungen im Bundesvorstand entgegen seiner zuvor geäußerten Absichten für die Beschlussvorlage, enthielt sich nicht einmal der Stimme und ließ seine Gefolgsleute dadurch allein und ratlos im Regen stehen.127 125
Vgl. o.V.: Erneute Schlappe für Biedenkopf, in: Neue Ruhr Zeitung, 14.05.1987. Vgl. o.V.: Versöhnung mit Widerhaken, in: Stern, 21.09.1978. 127 Vgl. Iserlohe, Norbert: Beim Wohlbefinden bekam Biedenkopf den Schnupfen, in: Bonner Rundschau, 12.06.1978. 126
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Vor allem aber blieb Biedenkopf ein Solitär, der polarisierte, statt zu integrieren und Menschen weder zu führen, noch erst Recht zusammenzuführen vermochte. Das hätte ihm an exponierter Stelle überall in der CDU Probleme bereitet, dieses Führungsunvermögen kollidierte jedoch im Besonderen mit den Ansprüchen, Bedürfnissen und Erwartungen der NRW-CDU. Gerade die dortige CDU – zerstritten und tribalisiert, wie sie ohnehin schon war – brauchte an der Spitze Einen, der Ruhe ausstrahlte und Geschlossenheit herstellte. Stattdessen eskalierten unter Biedenkopf die Konflikte, nicht zuletzt eben aufgrund dessen politischen Stils und persönlicher Umgangsformen. Für die NRW-CDU wurde Biedenkopf dadurch bald untragbar und wäre wohl schon viel früher geschasst worden, hätten die Christdemokraten damals über einen anderen Politiker von Format verfügt, den sie freilich nicht besaßen, weshalb ihre personelle Auszehrung in Verbindung mit der verheerenden Wahlniederlage bei der Landtagswahl 1985 ein Comeback Biedenkopfs ermöglichte, der 1983 bereits vor dem Abgrund seiner politischen Karriere gestanden hatte. 1987 schützte ihn dann jedoch auch seine Leuchtturmstellung in der NRW-CDU nicht mehr vor dem unfreiwilligen Sturz. Biedenkopf, den bodenständigen und katholischen Nordrhein-Westfalen ohnehin zu intellektuell, undurchschaubar und wendig – nicht zuletzt in seinem Privatleben, wo ihm gerade noch das Scheitern seiner Ehe, nicht jedoch seine Affäre und die unverblümte Präsentation seiner Geliebten verziehen wurden –, wurde zum Rücktritt gezwungen und zum Verzicht auf weitergehende Ambitionen in NRW genötigt. Biedenkopf stand daher in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre einem mächtigen Bündnis heterogener Rivalen gegenüber, einig allein in dem Wunsch, den gebürtigen Ludwigshafener, gewesenen Generalsekretär und amtierenden NRW-Vorsitzenden loszuwerden. Da waren einerseits die normalen Gegnerschaften verdrängter Konkurrenten, die mit einem Aufstieg immer und zwangsläufig verbunden sind, als da wären insbesondere Heinrich Köppler und mit ihm auch über seinen Tod hinaus relativ geschlossen die rheinische CDU sowie Heinrich Windelen, in dessen Windschatten ebenfalls ein starker Flügel der westfälischen CDU in Distanz zu Biedenkopf verharrte, was ihn in Auseinandersetzungen mit rheinischen CDU-Führern nachhaltig schwächte. Hinzu kamen schon traditionelle Gegner – die Sozialausschüsse sowie Kohl und das Konrad-Adenauer-Haus. Als vehementeste Biedenkopf-Kritiker aber entpuppten sich die Fraktionen im nordrhein-westfälischen Landtag und im Bundestag. Kaum überraschend: Die Abgeordneten mussten die konkreten politischen Entscheidungen treffen, sie mussten den christdemokratischen Kurs in Parlamentsdebatten verteidigen und waren die Protagonisten der politischen Alltagsarbeit. Biedenkopfs permanente Alleingänge und Profilierungen gegen die Parteilinie brachten gerade sie in Erklärungsnöte und infolgedessen gegen ihn auf.128 Ende der 1980er Jahre jedenfalls schien Biedenkopf politisch am Ende zu sein. Zugeschrieben wurde das Scheitern vor allem seinen Eigenschaften beziehungsweise Defiziten. Er galt als flexibel, alert und unberechenbar, wo Parteien und insbesondere Volksparteien in erster Linie Nähe und Verlässlichkeit, Ruhe und Zuwendung brauchten. Er stelle – so wurde diagnostiziert – laufend Fragen, während politische Gruppen Antworten suchten; sei abgehoben, arrogant und unnahbar, derweil politischer Erfolg auf Kompromissfähigkeit, Gespür und Vernetzung basiere. Die Abgesänge kulminierten im Vorwurf, Biedenkopf sei recht eigentlich „unpolitisch“, da er einem realitätsfremden Politikverständnis anhänge, zur Integration unfähig sei und durch seine ständigen Vorstöße, Undiszipliniertheiten und Soli128 Vgl. Vielain, Heinz: Biedenkopf soll sich vor seiner Partei erklären, in: Die Welt, 22.06.1977; o.V.: Der goldene Topf, in: Der Spiegel, 08.12.1986.
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daritätsverweigerungen dem Machtstreben jeder Partei eher schade als nutze, also das Hauptziel jeglicher Politik nicht verinnerlicht habe.129
Der Karrierehöhepunkt als Abspann: Biedenkopf in Sachsen Doch wie erklärt sich dann sein Comeback in Sachsen, wie war die Biedenkopf-Renaissance möglich, warum konnte er im Jahr 1990 wie Phönix aus der Asche wieder aufsteigen? Es lag, ganz knapp, an den Rahmenbedingungen. Rahmenbedingungen, die sogar vergessen machten, dass Biedenkopfs Start mit mehreren Hypotheken belastet war – war er doch nur eine Verlegenheitswahl, zum Zuge gekommen einzig durch die Absage mehrerer anderer Anwärter, ein Kandidat obendrein, der eine Hausmacht nicht besaß, dessen innerparteiliche Stellung alles andere gefestigt war und den zu guter letzt auch Kohls Feindschaft immer noch verfolgte und blockierte.130 Allerdings vermochte sogar Kohls Warnung vor dem „Traumtänzer“ Biedenkopf weder dessen Ernennung zum Ministerpräsidentenkandidaten der Sachsen-CDU zu verhindern, da schlechterdings niemand Anderes gefunden werden konnte, weil alle sächsischen Optionen im Flügelstreit zwischen ehemaligen „Blockflöten“ und Wendereformern zerrieben worden waren und von den gefragten auswärtigen Politikern zuvor nur Absagen eingetroffen waren; noch vermochte sie Biedenkopfs Wahlerfolg bei der Landtagswahl 1990 zu unterbinden. Die Sachsen-CDU war aufgrund eines großen Zustroms an Reformkräften intern zwar zerstritten, sie war eben deshalb jedoch auch besonders stark, nach außen vermittels der Wendepolitiker einerseits, der alten Ost-CDUler andererseits einen breiten Integrationsbogen spannend. Wobei die Blockparteivergangenheit der neugebildeten CDU Strukturen, Personal und Erfahrungen bereitstellte, auf die sie in der Wendephase zurückgreifen konnte und durch die sie in der turbulenten Anfangszeit stabilisiert und gestärkt wurde.131 Auch die ersten Erfolge stellten sich beinahe automatisch ein, dass Sachsen bald als ostdeutsches Musterländle galt, hätte wohl auch ein anderer Ministerpräsident nicht verhindert. Schließlich besaß Sachsen von den neuen Bundesländern die größten Potenziale und die günstigsten Voraussetzungen für einen baldigen Wirtschaftsaufschwung. Es war die am dichtesten besiedelte Region der ehemaligen DDR, in seinen Grenzen fand sich die größte Wirtschaftskraft, hier gab es mehr Hochschulen und Forschungseinrichtungen, mehr zukunftsfähige Industrie und selbstständiges Handwerk als anderswo im Beitrittsgebiet.132 Die Umstände harmonierten zudem mit bereits skizzierten, in der Vergangenheit aber sein Scheitern forcierenden Charaktereigenschaften, Talenten und Ambitionen Biedenkopfs. Sein „wacher Sinn für das, was in der Luft liegt“, verhalf ihm im Osten zum Durchbruch, hatte er sich doch frühzeitig in eben jene Richtung gewandt, weshalb er nun bei den Sachsen einen Glaubwürdigkeitsbonus besaß. Biedenkopfs Gestaltungsdrang öffnete sich in Sachsen obendrein ein weites Betätigungsfeld, da nach dem Umbruch zahlreiche Strukturen neu geschaffen und eine Landesregierung aus dem Nichts aufgebaut werden musste. Des Weiteren hatte er jetzt ein Amt, war er als Ministerpräsident im Land der Erste, konnte also 129 Vgl. Bewerunge, Lothar: Steckt Professor Biedenkopf in einer Zustimmungskrise?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.08.1979; Becker, Kurt: Eine Talfahrt, in: Die Zeit, 31.08.1979. 130 Vgl. Wendt 1994, S. 103 ff. 131 Vgl. Köpf 1999, S. 195 ff. 132 Vgl. Stamm, Rudolf: Kurt Biedenkopf, Wahlsachse, in: Neue Zürcher Zeitung, 01.10.1991.
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seine Ideen verwirklichen. Einer übergeordneten Autorität war er nicht mehr verpflichtet, ebenso wenig auf die Rolle des bloß mahnenden, anklagenden, einfordernden Oppositionsführers beschränkt. Und Biedenkopfs Selbstvertrauen in die eigene Herrlichkeit traf auf wenig Kritikbereitschaft in Sachsen. In der Landespresse, die überwiegend aus ehemaligen SED-Organen bestand, wurde er geradezu servil behandelt. Der landesväterliche Gestus, aus der Perspektive des Westens als paternalistisches Relikt verschrien, bot der Bevölkerung im Osten eine Orientierungsmarke und ein Identifikationsangebot, das heißt Sicherheit, Halt und Stabilität in einer radikalen Umbruchsituation. Auch die Landespartei übte kaum Widerspruch, erstmals in seiner Karriere selbst die Fraktion nicht, verdankten die Abgeordneten ihre Mandate doch ganz wesentlich Biedenkopfs Popularität in der Wahlbevölkerung. Sich als gütiger, allwissender Landesvater, als „König Kurt“ zu gebärden, wie es Biedenkopf behagte, korrespondierte außerdem lehrbuchhaft mit der „monarchischen Ader“ der Sachsen, die mit den Vettinern das älteste deutsche Königsgeschlecht vorweisen konnten und ein Jahrzehnt nach dem roten Gegenkönig August Bebel nun einen Schwarzen auf den Thron hievten. In Sachsen versöhnten sich für Biedenkopf Widersprüche, endlich war er nicht mehr nur respektiert, angesehen und als Vordenker geschätzt, sondern gleichfalls beliebt. Die Sachsen schauten zu Biedenkopf auf, gleichzeitig liebten sie ihn.133 Dieser Wandel der öffentlichen Wertschätzung, seine Unumstrittenheit und allseitige Beliebtheit, wirkten auf Biedenkopf zurück und veränderten ihn, jedenfalls dem Anschein nach. Sein Ehrgeiz war mit der Übernahme der sächsischen Staatskanzlei befriedigt, Biedenkopf mit sich und der Welt versöhnt. Nach Kohls Abwahl und der Spendenaffäre der CDU konnte er sich zudem in dem Gefühl wiegen, letztlich als Sieger aus dem Zweikampf mit dem zuvor stets übermächtig scheinenden Bundeskanzler hervorgegangen zu sein, ja historisch Recht behalten zu haben. Biedenkopf schien über diese Ereignisse ein Anderer geworden zu sein. Jedenfalls beschrieben ihn politische Beobachter mit Attributen, die ihm sonst nicht zugedacht worden waren. Umgänglich und nahbar sei er, kein arroganter Dozierer mehr, der krampfhaft den Eindruck zu erwecken suche, alles besser zu wissen, sondern innerlich gelöst und frei. In Sachsen war der notorische Querulant zum großen Mutmacher mutiert, seine Querschüsse auf Bundesebene wurden jetzt als Stärke und Dienst für das Bundesland Sachsen gerühmt. Und auch der Lohn für sein Bemühen floss reichlich, dreimal gewann Biedenkopf komfortable absolute Mehrheiten für seine Landes-CDU. Kurzum: Sachsen war Biedenkopfs Arkadien Traumumfeld. Dass er dennoch der alte geblieben war und eher gewandelte Umstände als ein verändertes Naturell und Politikverständnis seine Erfolge erklären, zeigt sein Ende als Ministerpräsident. Plötzlich kennzeichneten ihn abermals eben jene Eigenschaften, die ihn seine gesamte politische Karriere hindurch begleiteten: Selbstherrlichkeit, ein elitäres PrimusGehabe, die Zurschaustellung intellektueller Überlegenheit und ein notorisches Zaudern, wo rasche Entscheidungen gefragt wären. Die Kritik an Biedenkopf, die jetzt, im neuen Jahrtausend, aufkam, erklärt sich aus dem Ende der Übergangszeit nach dem Zusammenbruch der DDR, das die höfische Regierungs- und Repräsentationsweise von Biedenkopf und seiner Frau nun als überholt erscheinen ließ; sie basierte des Weiteren auf einer Regierungsbilanz, die längst nicht so glänzend war, wie durch die wolkig-optimistischen Ansprachen Biedenkopfs permanent suggeriert. Auf diese Kritik, welche die sächsischen Verhält133
Vgl. Ross, Jan: Schröders Lehrmeister, in: Die Zeit, 16.09.1999.
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nisse den nordrhein-westfälischen Zuständen anverwandelte, reagierte Biedenkopf nun ähnlich wie Jahrzehnte zuvor bereits in NRW. Abermals zeigte er sich kritikresistent, schottete er sich herrisch ab und kommentierte die gegen ihn erhobenen Vorwürfe abfällig als „Diffamierungskampagne“. Jetzt auch zeigte sich, dass sein Verhältnis zur eigenen Landespartei über die Jahre hinweg nur wenig von seiner Distanz eingebüßt hatte. Jedenfalls kündigten zahlreiche Parteifreunde und namentlich der Mittelbau nun zügig und unsentimental ihrem Übervater die Gefolgschaft – auch hier zeigen sich unverkennbar Analogien zu NRW, wobei problemverschärfend jetzt das durch seine eigene Rücktrittsankündigung nach dem Wahlsieg 1999 entstandene Machtvakuum in der Landespolitik, die dennoch ungeregelte Nachfolgefrage sowie seine machtbewusste und gestaltungsehrgeizige Ehefrau wirkten. Jetzt schließlich wurde ebenfalls der Blick darauf frei, dass sich die charakterlichen Kontinuitäten bereits frühzeitig, im Grunde seit 1990 gezeigt hatten – beispielsweise in der Dünnhäutigkeit, die er seinem einzigen nennenswerten Kritiker im Landtag, dem PDSFraktionschef Peter Porsch, gegenüber gezeigt hatte.134 Letztlich bleibt infolgedessen festzuhalten, dass Biedenkopfs Fähigkeiten und Leistungen sowohl für die CDU als auch Sachsen unbestreitbar sind. Jedoch wurde die Leistungsbilanz von seinen Anfängen im Konrad-Adenauer-Haus bis zum Rücktritt als Ministerpräsident beständig durch fundamentale Schwächen Biedenkopfs eingeschränkt – die ironischerweise gerade die Kehrseite seiner Talente und Begabungen waren. Die Sprunghaftigkeit und Beratungsresistenz, ebenso auch die Unfähigkeit, sich selbst Fehler einzugestehen, korrespondierten mit Biedenkopfs hohen Begabungen, seinem herausgehobenen Intellekt, der Überlegenheit gegenüber Parteifreunden, nicht zuletzt auch Kohl. Sein Einzelgängertum, die Neigung zur Polarisierung und der herrische Auftritt waren Ursache und Folge seiner Fremdheit zur eigenen Partei und deren Funktionsträgern. Gerade die daraus resultierende Unbefangenheit und Bindungslosigkeit hatten den Generalsekretär zu radikalen Reformen befähigt. In Zeiten eigener Anfechtung allerdings destabilisierte das Fehlen krisenfester Bindungen, Loyalitäten und Verpflichtungsverhältnisse, kurzum: einer Hausmacht seine Stellung ebenso, wie es bei umstrittenen Fragen die Durchsetzung der gewünschten Linie gegenüber Konkurrenten erschwerte.
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Vgl. Köpf 1999, S. 201.
Klaus Töpfer – der ewige Seiteneinsteiger Felix Butzlaff
1986 schlug das Restrisiko zu und zumindest in Teilen der politischen Landschaft Deutschlands war nichts mehr so, wie es vorher gewesen war. Der ukrainische Reaktorunfall von Tschernobyl im Frühjahr und die kaum enden wollende Serie von Chemieunfällen am Rhein im Spätherbst – angefangen vom Brand in einem Baseler Chemielager bis hin zu einer Kette von mehr oder weniger zufälligen Einleitungen von „Restmengen“ deutscher Chemieproduzenten – ließen bei großen Teilen der Bevölkerung den Eindruck entstehen, die rein nach Wachstum und Produktionsausdehnung strebende Wirtschaftsweise der Bundesrepublik und der gesamten industrialisierten Welt sei an einem Scheidepunkt angelangt. Die Reaktionen der Politik auf diese „Störfälle“1 waren allerdings nicht dazu geeignet, die aufkeimende Angst, oft nah am Rande zur Panik, einzuhegen. Das Informationschaos in den Wochen nach der Explosion des ukrainischen Reaktors war kaum zu überbieten:2 Kaum ein Lebensmittel erschien vollkommen sicher und unverstrahlt, fast immer gab es irgendeine Behörde oder ein Institut, die zuvor als nicht gesundheitsgefährdend bezeichnete Belastungswerte infrage stellten. Das Vertrauen in die Beschwichtigungen und Beruhigungsversuche der Politik schwand daher rasch und nach den Vorfällen am Rhein und den Vertuschungsversuchen der Chemiekonzerne war auch der Glaube an den Anstand von Politik und Wirtschaft schwer angeschlagen. Die Vorfälle beherrschten wochenlang die Medien, die öffentliche Diskussion und die Gespräche bis in die Familien hinein.3 Die vormals nur ganz abstrakte Gefahr von Umweltkatastrophen hatte eine „nicht gekannte Eindringlichkeit gewonnen“4 und die Wahrscheinlichkeitsrechnungen der Unfallstatistiken strahlten mit ihren geringen Zahlenwerten keine beruhigende Wirkung mehr aus. Das sogenannte Restrisiko war erfahrbar geworden. Die Unfälle und ihre versuchten Vertuschungen stellten sich zudem nicht als exzeptionelle Katastrophen und als worst case heraus, sondern – so entstand nach und nach der Eindruck – eher als Normalfall einer strikt wachstumszentrierten Wirtschaftsweise.5 Klaus Töpfer hatte die politische Bühne schon lange vor diesen Geschehnissen betreten; nichtsdestotrotz spielen die Umweltkatastrophen des Jahres 1986 bei der Betrachtung Klaus Töpfers politischer Karriere speziell unter dem Gesichtspunkt des politischen Quereinstiegs eine immens wichtige Rolle. Denn für die meisten Menschen in Deutschland trat Klaus Töpfer erst im Frühjahr 1987 ins Licht einer bundesweiten Öffentlichkeit, als er als Nachfolger des glück- und farblosen Walter Wallmann zum Bundesminister für Umwelt, 1 O.V.: Deutsche Behörden völlig unzureichend auf großen Chemiestörfall vorbereitet, in: Der Tagesspiegel, 21.08.1987. 2 Vgl. Weyland, Ulrich: Die Entwarnung kam zu früh, in: Stern, 03.07.1986. 3 Vgl. Wirth, Hans-Jürgen: Vorwort, in: ders. (Hrsg.): Angst, Apathie und ziviler Ungehorsam. Über den Umgang mit existentiellen Bedrohungen am Beispiel von Tschernobyl, Gießen 1999, S. 7-10, hier S. 7. 4 Meyer-Abich, Klaus: Keine Angst zu haben, ist lebensgefährlich, in: Mediatus. Zeitschrift für handlungsorientierte Friedensforschung, Jg. 6 (1996) H. 6, S. 1-5. 5 Vgl. o.V.: Wallmann: Ein Minister wird vorgeführt, in: Der Spiegel, 01.12.1986.
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Naturschutz und Reaktorsicherheit ernannt wurde.6 Wie ein Politiker wirkt oder wie eine Person in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird, hängt nun aber stark von der jeweils herrschenden politischen, ökonomischen, in diesem Fall auch der ökologischen Situation und der Gemütslage der Bevölkerung ab. Charakterzüge und Qualifikationen einer politischen Führungsfigur können in einer bestimmten historischen Konstellation geradezu Verehrung und Hochachtung hervorrufen, während dieselben Eigenschaften ihn bei veränderter Gemengelage wesentlich weniger positiv erscheinen lassen. Besonders bei politischen Seiteneinsteigern spielen sich aus Vita und fachlicher Ausbildung ableitende Verhaltensweisen und -merkmale eine große Rolle, da die Öffentlichkeit mangels allseits bekannter politischer Vorbetätigung in diesem Fall keine „Vorerfahrung“ bei der Beurteilung einer Person hat. So liegt vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Problemlage die Akzeptanz und Anerkennung eines neu auf die politische Bühne tretenden Quereinsteigers hauptsächlich in der Sicht auf seine vorpolitische Rolle begründet. Klaus Töpfers Weg, sein Gang als politikfremder Professor bis in das Kohlsche Kabinett, soll hier eingehend betrachtet werden. Auffällig ist, dass er sich dort lange halten konnte, länger als die allermeisten anderen Ressortchefs.7 Ist er folglich einer der wenigen makellos erfolgreichen Seiteneinsteiger im Rahmen des vorliegenden Projekts? Ist er gar Beispiel für einen nicht im rein akademischen Denken verhafteten, sondern von der Politik assimilierten Wissenschaftler, der die Spielregeln des politischen Betriebs schnell aufgenommen und verinnerlicht hatte, wissenschaftliche Prägungen und Erfahrungswerte rasch als überflüssigen Ballast abwarf?
Kindheit und Familie: als Schlesier in Höxter Klaus Töpfer wurde 1938 inmitten des Waldenburger Berglands im niederschlesischen Kohlerevier geboren und mit seiner Familie von dort bei Kriegsende vertrieben.8 Die Familie landete in Höxter, im erzkatholischen, konservativen Teil Nordrhein-Westfalens. Er wuchs mit zwei Geschwistern wohlbehütet in kleinen Verhältnissen auf, der Vater war als Sekretär bei der Kreisverwaltung beschäftigt. Als Schüler zeigte er mittelmäßige Leistungen und blieb in der siebten Klasse wegen schlechter Noten in Latein und Englisch sitzen, schloss seine Schulausbildung am König-Wilhelm-Gymnasium in Höxter aber 1959 mit dem Abitur ab.9 In seiner Familie finden sich „herkömmliche Unionsindizien“10: die Herkunft, die Bedeutung des familiären Zusammenhalts, das Aufwachsen und die Schulzeit im tiefschwarzkatholischen Höxter, auch die Mitgliedschaft im Bund „Neudeutschland“, einer 1919 von Jesuiten gegründeten katholischen Schüler- und Jugendbewegung, die sich an Zielen und Themen der Bündischen Jugend ausrichtete und in der Töpfer es bis zum bescheidenen Rang eines Fähnleinführers brachte.
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Vgl. Brill, Klaus: „Wenn wir lauter solche Leute hätten wie den Herrn Töpfer…“, in: Süddeutsche Zeitung, 09.04.1986. 7 Vgl. Bernarding, Bernard: In Kohls Kabinett einer der alten Hasen, in: Saarbrücker Zeitung, 07.05.1997. 8 Vgl. Neander, Joachim: Der Fernpendler, in: Die Welt, 06.02.1986. 9 Vgl. Diekmann, Kai: Zu Hause heißt der Herr Minister nur „Tö“, in: Bild am Sonntag, 24.04.1988. 10 Spörl, Gerhard: Ein Novize im Wartestand, in: Die Zeit, 17.04.1987.
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In die Parteimitgliedschaft der Union aber sollte es ihn erst viel später drängen. Zu stark waren lange Zeit seine Abneigungen gegenüber allzu „überzogenen Ableitungen“11. Das Misstrauen derjenigen, die die Übel des Krieges noch halbwegs mitbekommen hatten – bei ihm die Erinnerungen an die Vertreibung aus der schlesischen Heimat und die Ausschreitungen und Racheakte an den abziehenden Deutschen – ließen ihn zunächst Abstand nehmen von dezidierten politischen Standpunkten und Engagements. Noch lange später bemühte er sich um „Ideologielosigkeit“12, wurde das Streben nach Sachlichkeit, Nüchternheit und Argwohn gegenüber allem Gravitätischem zu einem Markenzeichen seiner Laufbahn in der Politik. Er gehörte in der Nachkriegsgeneration zu denjenigen – wie er sagte –, die „mit dem Lauf der Dinge einverstanden war[en], weil sie [ihnen] Chancen boten, zu werden, was sie werden wollten“13. Und in der Tat machten die Kinder der Töpfers Abitur, konnten studieren. Zwar lehnte der Vater die Studienwünsche zunächst ab, Germanistik zu studieren und anschließend Journalist werden zu wollen entsprach dann doch nicht so ganz den Vorstellungen der Eltern. Etwas Solideres sollte es sein, eine Inspektorenlaufbahn im Öffentlichen Dienst oder ähnliches. Politiker zu werden jedenfalls stand nicht auf dem Wunschzettel des jungen Töpfer. Der große Bruder setzte schließlich Volkswirtschaftslehre als Studienfach für beide bei den Eltern durch, was der Bodenhaftung und Bescheidenheit der heimischen Verhältnisse eher entsprach.14 Nach der Ableistung der Wehrpflicht wurde Klaus Töpfer als Leutnant der Reserve entlassen und konnte sich 1960 an der Universität Mainz im Diplomstudiengang Volkswirtschaftslehre immatrikulieren. Auch im Studium fand er weder Zeit noch Muße für Parteipolitik oder ein entsprechendes Engagement, er finanzierte sich die Ausbildung mit einer Arbeit als Dachdecker,15 die familiären Verhältnisse erlaubten keine allzu große Unterstützung der studierenden Sprösslinge. Klaus Töpfer studierte zunächst in Mainz, dann in Frankfurt am Main, schließlich legte er seine Diplomprüfung zum Volkswirt 1964 an der Universität Münster ab, wo er anschließend eine Assistentenstelle am Zentralinstitut für Raumforschung und Landesplanung annahm. Unter den Einfluss der entstehenden 68er Bewegung an den Universitäten geriet er nicht. Während seiner Studienzeit in Frankfurt war der Ausbruch der späteren Proteste an den Seminaren noch nicht abzusehen, sein späterer Studienort Münster sicherlich keine der Hochburgen studentischen Aufbegehrens. Zudem gehörte er nach seinem Diplom 1964, mehr noch nach seiner folgenden Dissertation, schon eher zum kritisierten Establishment der Universitäten. Die Promotion zu Fragen der Regionalpolitik und Standortentscheidungen privater Unternehmen16 schloss er 1968 bei Prof. Hans Karl Schneider ab, bis 1970 der Leiter des Münsteraner Raumforschungsinstituts. Schneider war Energieexperte und in den 1970er
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Ebd. Ebd. 13 Ebd. 14 Vgl. Courts, Gerd: Der größte Ramscher der Nation, in: Kölner Stadtanzeiger, 27.06.1987; siehe auch Löckel, Walter: Umweltpolitik muss vorausschauen, in: Allgemeine Zeitung, 03.04.1985. 15 Vgl. Matthies, Corinna/Uphoff, Lisa: „Ich bin ein barocker Mensch und genieße das Leben“, in: Berliner Morgenpost, 17.08.1997. 16 Vgl. Töpfer, Klaus: Regionalpolitik und Standortentscheidung: die Beeinflussung privater Pläne, dargestellt an der unternehmerischen Standortentscheidung, Bielefeld 1969. 12
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Jahren während der Ölkrisen ein gefragter Interviewpartner.17 Der 1964 erst ein Jahr zuvor zum ordentlichen Professor und Institutsdirektor ernannte, mit 44 Jahren noch recht junge, aufstrebende Professor wurde für Töpfer zu einer ersten fachlichen Führungsfigur.18 Auch die spätere Verflechtung von Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik fand Töpfer hier zum Teil vorgelebt: Schneider forschte und schrieb nicht allein über abgehoben theoretische wirtschaftswissenschaftliche Konstruktionen und Problemstellungen, sondern arbeitete in einem volkwirtschaftlichen Fachbereich, der viele Anknüpfungspunkte zur Politik bot.19 Wie Töpfer später suchte auch Schneider den Kontakt zur Umsetzung der wirtschafts- und energiepolitischen Forschungsergebnisse und zur Beratung der Politik: Seit 1968 gehörte er dem Beirat des Wirtschaftsministeriums an, arbeitete an OECD-Berichten zu alternativen Energiestrategien mit und wurde Anfang der 1980er Jahre vom Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff zum Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ernannt.20 Dem universitären Elfenbeinturm jedenfalls versuchte er aus dem Weg zu gehen. Nach dem Abschluss seiner Promotion 1968 blieb Klaus Töpfer am Münsteraner Raumforschungsinstitut, fing an, eine Habilitation vorzubereiten, nahm auch Lehraufträge an der Wirtschaftsakademie Hagen und der Universität Bielefeld an. 1968 heiratete er seine Jugendfreundin. Mit dem Weggang seines Mentors Prof. Schneider an die Universität Köln übernahm Klaus Töpfer 1970 dann für ein Jahr die volkswirtschaftliche Abteilung des Zentralinstituts für Raumforschung, er veröffentlichte weiter zu Themen der Standortentscheidungen und Infrastrukturpolitik, aber auch Überlegungen zu Ausbildung von zukünftigen Raumplanerstudenten.21
Erste Politikvorbilder und Erfahrungen: im Saarland Über die weiteren Vorbereitungen seiner Habilitationsschrift und die anstehenden Recherchen geriet er an die Staatskanzlei des Saarlandes, wo seit 1959 der ehemalige Schulmeister und Romanist Franz Josef Röder als Ministerpräsident amtierte.22 Töpfers eigentliches Ziel war es, Material zu sammeln über die praktische Umsetzung von Planungspolitik. Stattdessen entdeckte er schnell, dass ihm die Arbeit lag und er nicht untalentiert war, weshalb ihm die Leitung der Abteilung „Planung und Information“ der Staatskanzlei in Saarbrücken angetragen wurde.23 Röder war Anfang der 1970er Jahre einer der dienstältesten Ministerpräsidenten Deutschlands, ein erfahrener Politiker, in vielem geradezu ein Prototyp des Patriarchen und Landesvaters.24 Eigentlich war die rasche Übernahme des jungen, parteilosen Töpfer auf 17
Vgl. beispielsweise o.V.: „Viele haben ihre Hand dazwischen“, in: Der Spiegel, 03.12.1973. Vgl. Löckel, Walter: Umweltpolitik muss vorausschauen, in: Allgemeine Zeitung, 03.04.1985. So promovierte Schneider mit einer Arbeit über Energiepreisbindungen und habilitierte sich mit einer Schrift zum gleichen Thema. 20 Vgl. Heck, Heinz: Energie in Rat und Tat, in: Die Welt, 15.06.1982. 21 Vgl. Töpfer, Klaus: Überlegungen zur Qualifizierung qualitativer Standortfaktoren, Münster, 1969; ders./David, Carl-Heinz/Schäfers, Bernhard: Studie über Planerausbildung: Vorschlag zu einem sozialwissenschaftlich orientierten Raumplanerstudium, Bonn 1970; ders./Jansen, Paul Günter: Zur Bestimmung von Mängeln der gewachsenen Infrastruktur, in: dies.: Theorie und Praxis der Infrastrukturpolitik, Berlin 1970, S. 401-426. 22 Vgl. Kauntz, Eckhart: Zwanzig Saarbrücker Jahre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.06.1979. 23 Vgl. Spörl, Gerhard: Ein Novize im Wartestand, in: Die Zeit, 17.04.1987. 24 Vgl. Scherer, Marie-Luise: „Nur gudd fürs Hennesje ze mache“, in: Der Spiegel, 09.06.1975. 18 19
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einen strategisch wichtigen Posten innerhalb der Staatskanzlei etwas verwunderlich, Röder hatte sich zuvor und auch noch danach immer wieder dafür ausgesprochen, dass „bei gleicher Qualifikation Staatsstellen an politisch Engagierte zu vergeben seien“25, sprich: an Leute mit der „richtigen“ Parteizugehörigkeit. Doch Töpfer schien mit seinem wissenschaftlichen Profil genau der richtige Mann zu sein für Röders Langzeit- und Wunschprojekt: eine neue Wasserstraße von der Saar bis an den Rhein, die eine kräftige Spritze für die darbende Bauindustrie und eine Anschlussstelle für die Auflockerung der allzu auf der Kohle- und Schwerindustrie beruhenden Saarwirtschaft bedeuten würde.26 Vergleichbar seinem Doktorvater in Münster in der Wissenschaft, so wurde in Saarbrücken Franz Josef Röder zu einer Orientierungsfigur, zu seinem politischen Ziehvater. Dies ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Töpfers wissenschaftlicher und politischer Karriere: Die Orientierung an Leitpersonen und Mentoren, von denen er lernt, die auch Halt und Unterstützung sichern, ist stets wichtiger als eine Idee oder eine Partei, die ihm oft ein wenig suspekt bleiben.27 Und von Röder konnte er viel lernen. Die langjährige Regierungszeit im Saarland hatte den vormaligen Pädagogen und saarländischen Kultusminister Erfahrungen sammeln lassen, von denen ein junger Politikeinsteiger lange zehren konnte. Röder schien ins Saarland zu passen wie kaum ein anderer, er beherrschte die Klaviatur der politischen Auseinandersetzung über lange Zeit nahezu perfekt. Er war geschickt in Diskussionen, schlagfertig, agierte taktisch klug, und stellte – wenn es die Situation verlangte – mühelos um auf einen dialektgeschwängerten und polternden Festzeltton: scharfsinnig und volksnah, wenn man so will.28 Wie schon bei seiner Zeit am Münsteraner Raumforschungsinstitut kann man bei Klaus Töpfer eine ganze Reihe möglicher Lernerfahrungen herausstreichen, die er in seinen Saarbrücker Jahren gemacht hatte, und die sich im Laufe seines weiteren Aufstiegs als nahezu unverzichtbar erweisen sollten. Zunächst einmal – ganz banal – ist da die politische Planung und Umsetzung wissenschaftlich fundierter Ergebnisse in einem Administrativapparat wie der Staatskanzlei, das Kleinklein der täglichen Verwaltung. Als Leiter der Abteilung Planung und Information, als Saarbrücker Pressesprecher, lernte Klaus Töpfer zudem das öffentliche „Verkaufen“, das Darstellen und Anpreisen eines Vorhabens, auch – und vielleicht noch wichtiger – das Kaschieren von etwaigen Misserfolgen. In Kürze: Er erwarb die Sprache der öffentlichen Darstellung. Bei Franz Josef Röder lernte er diese Kniffe, „mit List den Vorteil in der politischen Auseinandersetzung zu suchen“29, schlagfertig eigene Erfolge der Presse zu verdeutlichen, den Kompromiss und auch Misserfolge in der Außendarstellung stets in ein positives Gesamtbild einer Regierung einzupassen. Dabei ermöglichte es die Atmosphäre des eher kleinen, beschaulichen und von den ganz großen und ungemütlichen Kämpfen der Bundespolitik oft weit entfernten Saarlandes wahrscheinlich, in Ruhe Erfahrungen zu sammeln, ohne dem „Haifischbecken“ der überregionalen Presse allzu stark ausgesetzt zu sein. Erst auf dem Höhepunkt der Willy-Brandt-Euphorie 1972, mit 34 Jahren, trat er in die CDU ein, weil ihm – wie er es darstellt – die überschäumende Begeisterung der Deutschen 25
O.V.: Wahlkampferfahrungen, in: Deutsche Tagespost, 12.05.1972. Vgl. Pfitzer, Albert: Augenmaß und politische Weitsicht unter Beweis gestellt, in: Saarbrücker Zeitung, 20.07.1974. 27 Vgl. Spörl, Gerhard: Ein Novize im Wartestand, in: Die Zeit, 17.04.1987. 28 Vgl. Kölling, Heinz: Schon fast ein Denkmal an der Saar, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.04.1975; siehe auch Scherer, Marie-Luise: „Nur gudd fürs Hennesje ze mache“, in: Der Spiegel, 09.06.1975. 29 Kauntz, Eckhart: Schadensbegrenzer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.04.1987. 26
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für ihren Bundeskanzler unheimlich geworden sei.30 Wieder verweist dies auf seinen Argwohn gegen übermäßig gefühlsbetonte Politik- und Lebensweisen, Töpfer blieb ein Anhänger der Nüchternheit und Sachlichkeit, der ruhigen Argumentation, wenn er auch diesmal den Abstand zu politischen Parteien – zunächst formell – aufgab. Selbst wenn seine Arbeit für einen Unions-Ministerpräsidenten bei seiner Entscheidung keine unwichtige Rolle gespielt haben wird, er vielleicht gar sanft gedrängt worden ist, doch der Partei beizutreten, so passt seine persönliche Begründung doch ins Bild. 1977 boxte Röder den „Außenstehenden“ Töpfer dann als Kreisvorsitzenden des Kreisverbandes Saarbrücken durch; eine Seltenheit im Saarland, dass ein Nicht-Saarländer, noch dazu kein altgedienter CDU-Veteran, sondern ein vergleichbar Unbekannter, den wichtigsten Kreisverband des Landes übernahm.31 Dort begegnete Klaus Töpfer zum erstem Mal einem politischen Konkurrenten, mit dem er gut zehn Jahre später auf anderer Ebene noch einmal aufeinander treffen würde: Oskar Lafontaine stieg während der 1970er Jahre in der saarländischen SPD auf und wurde 1976 zum Saarbrücker Oberbürgermeister gewählt.32 In den Landtagswahlen 1990 und 1994 sollten die beiden im Saarland als Spitzenkandidaten ihrer Parteien gegeneinander antreten. Im Jahr vor Röders Tod 1979 nahm Klaus Töpfer, nach sieben Jahren in der Saarbrücker Staatskanzlei, einen Ruf als ordentlicher Professor an die Technische Universität Hannover an. Dort leitete er ab 1978 das Institut für Landesplanung und Raumforschung. Zunächst hatte es Spekulationen gegeben, er solle die Planungsabteilung des niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht übernehmen;33 stattdessen wurde er Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen und kam so erstmalig direkt mit Fragen der Umweltökonomie und dem in der Zukunft für seine Laufbahn zentralen Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie in Berührung. Über die Gründe seines Weggangs aus Saarbrücken kann nur spekuliert werden. Einige Korrespondenten mutmaßten ein Zerwürfnis mit Röder.34 Dies ist allerdings nicht sonderlich wahrscheinlich. Töpfer hatte noch in den späten 1980er Jahren ein Porträtfoto Röders in seinem Arbeitszimmer stehen, was ein etwas ungewöhnliches Zeichen nach einer Trennung im Streit wäre. Wahrscheinlich aber ist, dass Klaus Töpfer aus Saarbrücken den Eindruck eines Amtsinhabers mitnahm, der den günstigen Zeitpunkt seiner Demission längst verpasst hatte, der stur auf seine unverzichtbare Erfahrung pochte und dickköpfig versuchte, den Wechsel zu einer jüngeren Generation noch zu verhindern. Das Klammern Röders an seine Machtposition führte in Saarbrücken am Ende dazu, dass in den Nachrufen zwar dessen Verdienste nicht verschwiegen wurden, dass eine gewisse Erleichterung über das Ende der dann fast zwanzigjährigen Amtszeit andererseits allerdings kaum zu übersehen war.35 30
Vgl. Spörl, Gerhard: Ein Novize im Wartestand, in: Die Zeit, 17.04.1987. Vgl. Karle, Wolf-Jürgen: Kompetenz für Ökologie und Ökonomie, in: Saarbrücker Zeitung, 16.03.1985. 32 Vgl. Micus, Matthias: Die „Enkel“ Willy Brandts. Aufstieg und Politikstil einer SPD-Generation, Frankfurt am Main/New York 2005, S. 109. 33 Vgl. o.V.: Töpfer soll Planungschef in Hannover werden, in: Saarbrücker Zeitung, 14.09.1978. 34 Vgl. Halbig, Heiko: Geschätzt von Freund und Feind, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 08.04.1987; vgl. auch Schön, Alfred: Warten auf den Hoffnungsträger, in: Saarbrücker Zeitung, 02.12.1987. 35 Vgl. Flottau, Heiko: Röder: Ich gehe spätestens 1980, in: Süddeutsche Zeitung, 06.12.1977; vgl. auch Flottau, Heiko: Röder möchte seinen Platz 1979 nicht räumen, in: Süddeutsche Zeitung, 10.02.1978; vgl. Widera, Joachim: Ein Mann, der das Saarland prägte, in: Kölnische Rundschau, 27.06.1979; Kauntz, Eckhart: Zwanzig Saarbrücker Jahre, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.06.1979. 31
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Über die Universität zur Umwelt: die Mainzer Jahre Nach kaum einem Jahr in Hannover erreichte Töpfer ein Anruf des seit 1977 als Sozial-, Gesundheits- und Sportminister in Rheinland-Pfalz fungierenden Georg Gölter. Ministerpräsident Bernhard Vogel, nach Helmut Kohls Weggang aus Mainz nach Bonn diesem nachgefolgt, ließ fragen, ob Töpfer es sich vorstellen könne, Umweltstaatssekretär zu werden. Bei einem gemeinsamen Spaziergang mit Gölter sagte er dann zu, nach der Landtagswahl 1979 als Staatssekretär in einem um den Umweltbereich erweiterten Sozialministerium unter Gölter zu arbeiten. Vogel hatte schon seit Anfang seiner Amtszeit immer wieder versucht, seine Partei für intellektuelle Köpfe und Denker zu öffnen, um frischen Wind und neue Ideen in seine Landespolitik zu bringen.36 Bernhard Vogel selbst hatte bis zu seiner Wahl in den Bundestag in den 1960er Jahren und seinen Einstieg in Kohls Landeskabinett vorgehabt, sich in Politikwissenschaft zu habilitieren, hatte in Heidelberg mit Helmut Kohl gemeinsam bei Dolf Sternberger studiert.37 Der Sohn einer Münchner Professorenfamilie kannte das Leben und Denken in der Wissenschaft aus eigener Anschauung. Auch für neue Themen besaß er ein gutes Gespür. Vogel war offen für Verschiebungen in der Wahrnehmung der Menschen, für Veränderungen in der Wichtigkeit von gesellschaftlichen Problemen und Fragen.38 Als einer der ersten in der Christdemokratie hatte er warnend und immer wieder darauf hingewiesen, die Ängste der Menschen vor sich verschlechternden Umweltbedingungen nicht zu ignorieren.39 Gerade in Rheinland-Pfalz, wo große Naturgebiete des Pfälzer Waldes und der immer mehr zur Kloake verkommende Rhein auch geografisch nah beieinander zu finden waren, traten diese Fragen und Sorgen deutlich hervor. Die Schlussfolgerung, andernfalls das gesamte, in der öffentlichen Aufmerksamkeit immer gewichtiger werdende thematische Feld der Umweltbewegung und den Bürgerinitiativen zu überlassen, ließ ihn den Umweltbereich als einen festen Bestandteil in seine Landespolitik aufnehmen. Die Wahlen im Frühsommer 1979 gewann die CDU dann doch deutlich, gar mit einem Zuwachs an absoluten Stimmen, da die FDP aber wieder in den Landtag einzog, war die absolute Unions-Mehrheit denkbar knapp geworden. Obwohl Vogel bei seiner Wahl zum neuen Ministerpräsidenten im Landtag die – nun auch nötige – volle Unterstützung seiner Fraktion erhielt, gab es bei der Bestätigung seines vorgeschlagenen Kabinetts in geheimer Wahl bei den christdemokratischen Landtagsabgeordneten Widerstand. Mehrere Minister wurden mit nur mehr sehr geringer Zustimmung abgestraft, und auch die Auslösung des Umweltbereichs aus dem Landwirtschaftsressort und seine Eingliederung in das Sozialministerium löste ein Grummeln aus. Etliche Abgeordnete waren enttäuscht, einige sicherlich auch verprellt darüber, dass Vogel bei der Neubesetzung von Staatssekretärsposten bis auf eine Ausnahme an der Fraktion vorbeigegangen war.40 Hier hatte er versucht, die postulierte Öffnung hin zu unkonventionellen Köpfen in die Tat umzusetzen, hatte neben Klaus Töpfer auch einen parteilosen Völkerrechtler als Staatssekretär ins Justizministerium beru36
Vgl. o.V.: Umweltschutz bleibt ständiger Begleiter, in: Die Rheinpfalz, 13.03.1978; vgl. auch o.V.: Ein Vogel auf dem Leim: zwitschernd, in: Frankfurter Rundschau, 14.08.1978. 37 Vgl. Neander, Joachim: Zigarre wie Churchill, Schule wie Strauß, in: Die Welt, 17.02.1979. 38 Vgl. o.V.: Bernhard Vogel. Herausforderung für die eigene Partei, in: Deutsche Zeitung, 29.09.1978. 39 Vgl. o.V.: Vogel will Staat mit „menschlicherem Gesicht“, in: Trierischer Volksfreund, 12.02.1979. 40 Vgl. Parade, Heidi: Bernhard Vogel – „Allen wohl und niemandem weh“, in: Stuttgarter Zeitung, 02.06.1979.
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fen.41 Die Berufung Töpfers war jedenfalls ein Novum: Einen eigenen Staatssekretär für den Umweltbereich hatte es bis dato nicht gegeben.42 Klaus Töpfers Antritt in Mainz stand, was die Rahmenbedingungen anging, dennoch unter einem günstigen Stern. Zum einen gerade weil er der erste nur für den Umweltbereich zuständige Staatssekretär in Rheinland-Pfalz war. Somit hatte er die Möglichkeit, das Amt zu prägen, ohne mit einem erfolgreichen Vorgänger verglichen zu werden oder sich mit dessen Erbhöfen auseinander zu setzen. Zudem ging es in dieser Umweltpolitik der ersten Stunde nicht um die Gestaltung eines umweltpolitisch tragenden Rahmens für den Gegensatz zwischen Ökologie und Ökonomie, gar um Grenzen eines umweltverträglichen Produktionswachstums. Die Umweltpolitik dieser Jahre war rein als politische Reaktion auf Katastrophen und Unglücksfälle entstanden. Es ging vornehmlich nicht darum, gestalterisch tätig zu sein, sondern lediglich um das Management von Unfällen, um die Beruhigung der Öffentlichkeit nach umweltgefährdenden Störfällen und das Signalisieren von politischer Aktivität und Betroffenheit; um ein Zeichen, dass die Politik sich der Missstände annahm. In diesem Sinne war es für einen Seiteneinsteiger im Umweltbereich in einem gewissen Maße einfacher, sich zu bewegen, da eben nicht die prompte Umsetzung eines wissenschaftlichen Leitbildes, für die jemand bekannt geworden war, erwartet wurde. Klaus Töpfer war – wie erwähnt – erst im Jahr zuvor mit konkreten umweltpolitischen Fragen in Kontakt gekommen, als Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen. Ein konzises und tragendes systematisches Gesamtbild oder -konzept für einen gesetzgeberischen Rahmen besaß er daher nicht. Eine Art umweltpolitische Feuerwehr abzugeben, das entsprach dagegen ziemlich genau dem, was er mitunter in seinen Jahren unter Franz Josef Röder gelernt hatte: das Verkaufen von Politik, die beruhigende Reaktion auf öffentliche Besorgnis. Diese Rolle als Ansprechpartner für umweltpolitische Probleme, als Vermittler der Politik zwischen Industrie und Bevölkerung, mit seinem Ruf als Professor und Wissenschaftler zu unterfüttern, wurde jedenfalls zu einem Erfolgsrezept seiner Zeit in RheinlandPfalz und unter Bernhard Vogel. Die Beurlaubung von seiner Professorenstelle in Hannover verschaffte Töpfer darüber hinaus die nötige Sicherheit für die Durchsetzung etwaiger unbequemer Entscheidungen und erlaubte ihm zusätzlich, seine Unabhängigkeit gegenüber der CDU aufrecht zu erhalten und auch glaubhaft zu verkörpern.43
Bewährung und Aufstieg: Landesminister Anfang der 1980er Jahre ging es in Rheinland-Pfalz für Klaus Töpfer eher um lokale Umweltprobleme; die Fragen um internationale Zusammenhänge von Umweltverschmutzung, Zerstörung von Lebensräumen und Wasserknappheiten sollten erst später in sein Blickfeld und das der deutschen Umweltpolitik überhaupt geraten.44 Hauptsächlich handelte es sich um Müllkippen, die schlampig abgedichtet waren; um illegal deponierten Giftmüll; um die 41
Prof. Walter Rudolf, Hochschullehrer für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Mainz, vgl. ebd. 42 Vgl. Löckel, Walter: Umweltpolitik muss vorausschauen, in: Allgemeine Zeitung, 03.04.1985. 43 Vgl. Brill, Klaus: „Wenn wir lauter solche Leute hätten wie den Herrn Töpfer…“, in: Süddeutsche Zeitung, 09.04.1986. 44 Vgl. Kauntz, Eckhart: Voller Tatendrang, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 09.10.1984.
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Entwicklung des Waldsterbens in den Pfälzer Waldgebieten und um kleinere Skandale um die falsche Kennzeichnung von Fleisch etc.45 Der größte Erfolg während seiner Jahre als Staatssekretär gelang Klaus Töpfer im Zusammenhang der Sanierung einer Giftmülldeponie in Gerolsheim, und Töpfers Vorgehensweise hier steht vielleicht beispielhaft für sein Ansehen als Umweltpolitiker. Der Georg Gölter als Umweltminister nachgefolgte Rudi Geil, der im Vergleich zu Töpfer immer etwas „oberlehrerhaft“46 wirkte, überließ seinem Staatssekretär die „heiklen Aufgaben“47, schickte ihn in die Diskussionen mit aufgebrachten Bürgern und wütenden Umweltschützern.48 Und Töpfer versteckte sich nicht. Er stellte sich den Protesten, suchte geradezu Gespräch und Kontakt, um Handlungsbereitschaft zu suggerieren. Er versuchte gar nicht erst, die Ängste der Bürger wegzuwischen, sondern ging offensiv mit Fehlern der Industrie und auch der Administrative um. Diese entwaffnende Offenheit auch in der Pressepolitik wurde von den Zeitungen und Umweltverbänden begeistert aufgenommen. Töpfer hörte den Bedenken zu, wägte ab, sparte auch Selbstkritik nicht aus und sprach in einem „beruhigenden und keineswegs unangenehm belehrenden Tonfall“49. Trotz der geschilderten Feuerwehrfunktion, dem lediglich reagierenden Charakter der Umweltpolitik, gelang es Töpfer, eine zeitweise doch klar erkennbare Handschrift bei seinen Problemlösungsansätzen zu entwickeln, die Fortsetzung seiner volkswirtschaftlichen Ansichten in die politische Praxis. Im Fall der Gerolsheimer Sondermülldeponie hieß dies: Töpfer entwickelte ein Sanierungskonzept, exemplarisch für diese eine Sanierung, aber als Präzedenzfall auszudehnen auf das ganze Land. Durch die Erhöhung von Deponiegebühren, mit Zuschüssen vom Land sowie freiwilligen Beiträgen der Industrie sollte die Sanierung der Sondermülldeponie finanziert werden. Mittels eingezogener Betonschutzwände bis in wasserundurchlässige Schichten hinab wollte man ein Eindringen von giftigem Sickerwasser in das Grundwasser vermeiden.50 Das Verursacherprinzip lag hier zu Grunde, wer den Müll produzierte, zahlte mehr; zudem wirkten die erhöhten Gebühren als Anreiz, den Anfall von Sondermüll durch technische Neuerungen in der Produktionsweise zu verhindern. Als Wirtschaftswissenschaftler versuchte Töpfer, umweltpolitische Maßnahmen nicht gegen die Unternehmen zu organisieren.51 Die Wirtschaftsverbände blieben ihm gegenüber allerdings noch misstrauisch, der Argwohn gegenüber jeglicher Umweltpolitik wog noch schwer.52 In den Jahren bis 1985 wurde im Rahmen der immer mehr ins Zentrum der Politik rückenden Umweltproblematik aus dem Tandem Geil-Töpfer eines der Lieblings-Duos der Lokalpresse, avancierten beide aufgrund der Blässe vieler weiterer Minister – zu den meistbeachteten Mitgliedern des Vogelschen Kabinetts.53 Es war nur nahe liegend, dass Bernhard Vogel dieser Beliebtheit Rechnung tragen und bei der Kabinettsumbildung (nach der Landtagswahl 1985) beide zu Ressortleitern machen würde. Zumal immer wieder kritisiert 45
Vgl. ebd. Parade, Heidi: Vogels neue Ministerrunde ist keine reine Männerriege mehr, in: Stuttgarter Zeitung, 15.03.1985. 47 Karle, Wolf-Jürgen: Kompetenz für Ökonomie und Ökologie, in: Saarbrücker Zeitung, 16.03.1985. 48 Vgl. Parade, Heidi: Vogels neue Ministerrunde ist keine reine Männerriege mehr, in: Stuttgarter Zeitung, 15.03.1985. 49 Lersch, Paul/Palmer, Hartmut: “Bisher nur Pipifax und Geplauder“, in: Der Spiegel, 10.04.1989. 50 Vgl. Kauntz, Eckhart: Zwei gegensätzliche Wegweiser aus dem Umweltschlamassel, 14.04.1986. 51 Vgl. Brunowsky, Ralf-Dieter: Umweltpolitik: Töpfer contra Leinen, in: Wirtschaftswoche, 08.08.86. 52 Vgl. Kohl, Hans-Helmut: Regiert in Mainz ein Panikorchester?, in: Frankfurter Rundschau, 08.02.1985. 53 Vgl. ebd. 46
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worden war, es fehle an Glanz, die Ministermannschaft sei die personifizierte Mittelmäßigkeit und vollkommen uninspirierend.54 Vogel teilte das Sozialministerium daher 1985 auf: Töpfer übernahm ein Ministerium für Umwelt und Gesundheit. So konnte der Forderung der Umweltverbände nach einem eigenen Ressort für die Umweltpolitik Rechnung getragen werden. Zudem konnte Vogel wieder Innovationskraft beweisen: Das neue Mainzer Ministerium war das erste in der Bundesrepublik, das sich auf Umwelt und Gesundheit konzentrierte, somit ausschließlich alle für die Umweltpolitik relevanten Bereiche auf einem Ministersessel vereinte. Auch die so wichtige kausale Verbindung zwischen Umwelt und Gesundheit wurde damit offiziell anerkannt.55 Rudi Geil wechselte ins Wirtschaftsministerium, und so konnte Bernhard Vogel mit der bis dato unbekannten Ärztin Ursula Hansen zusätzlich eine Frau als Sozialministerin ins Kabinett berufen.56 Töpfers Ministeramt in Mainz verlief im Grunde genommen wie eine Fortsetzung seiner Arbeit als Staatssekretär. Die Tatsache, dass er wiederum ein Amt ohne direkt vergleichbaren Vorgänger innehatte, erleichterte ihm abermals die Arbeit ein Stück weit. Um dem Vorwurf zu begegnen, bei der öffentlichkeitswirksamen Schaffung eines neuen, „reinen“ Umweltministeriums handle es sich lediglich um eine Publicitymaßnahme und eine leere Geste, wollte Vogel Töpfer weiter freie Hand lassen, die Ressortkompetenzen jedenfalls nicht von vornherein beschneiden oder einengen.57 Der Universität widmete Klaus Töpfer sich ebenfalls wieder, er trat zum Wintersemester 1985/86 in Mainz auf Vorschlag der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät eine Honorarprofessur für Umwelt- und Ressourcenökonomik an, um die Verbindung zwischen Theorie und Praxis nicht abreißen zu lassen. So näherte er sich auch akademisch immer mehr der von ihm betriebenen Umweltpolitik.58 Auch was die inhaltlichen Gesichtspunkte anbelangt, so verlief seine Amtszeit als Minister als Fortführung seiner Zeit als Staatssekretär. Die von ihm zu betreuenden Unfälle und Umweltskandale ähnelten sich in Charakter und Ursachen, weiteten sich aber aus, was Reichweite und öffentlichen Widerhall anbelangte. Als frühe „Feuertaufe“59 könnte der Glykolskandal im Sommer 1985 – nach einigen Monaten im neuen Amt – gesehen werden: Das Auftauchen von Diäthylenglykol als Zusatzstoff im Wein war kein auf Rheinland-Pfalz begrenztes Phänomen, nahm auch seinen Anfang in Österreich und in anderen Weingegenden. Doch waren im traditionsreichen rheinlandpfälzischen Weinanbaugebiet besonders viele Winzer und eine ganze Region von dem darauf folgenden Vertrauensverlust und der Erschütterung der Konsumenten betroffen. Im Gegensatz zu Bernhard Vogel und Landwirtschaftsminister Ziegler brach Klaus Töpfer sofort seinen Urlaub ab und räumte ein, nicht schnell genug gewarnt und gehandelt zu haben. Das Ministerium präsentierte rasch neue toxikologisch spezialisierte Lebensmittel-
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Vgl. o.V.: Überraschung aus der Eifel, in: Rheinischer Merkur, 16.03.1985. Vgl. o.V.: Erstmals in einer Hand: Umwelt und Gesundheit, in: Staats-Zeitung, 25.12.1985. 56 Vgl. Parade, Heidi: Vogels neue Ministerrunde ist keine reine Männerriege mehr, in: Stuttgarter Zeitung, 15.03.1985. 57 Vgl. Neander, Joachim: Die Umbildung seines Kabinetts bereitet Vogel noch Kopfzerbrechen, in: Die Welt, 09.01.1985. 58 Vgl. o.V.: Umwelt- und Ressourcenökonomik, in: Allgemeine Zeitung, 13.09.1985. 59 Brill, Klaus: „Wenn wir lauter solche Leute hätten wie den Herrn Töpfer…“, in: Süddeutsche Zeitung, 09.04.1986. 55
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chemiker und sechzehn neue Weinkontrolleure, die von nun an für das Umweltministerium die rheinland-pfälzische Weinqualität überwachen sollten.60 Zudem erreichte Töpfer bei Vogel, dass er von nun an die kompletten Regelungskompetenzen für den Weinanbau überwiesen bekam und nahm damit die volle Verantwortung für ein neu zu schaffendes Weingesetz auf sich. In einem weiteren Schritt, und durchaus nicht nur zur Freude der Winzer, verschärfte er die Qualitätskontrollen in Rheinland-Pfalz zum Teil spürbar, um – wieder der schon entwickelten Logik folgend – das Vertrauen in rheinland-pfälzischen Wein wieder herzustellen.61 Auch wenn er dabei auf Gegenwehr stieß, der Problemdruck durch die jeweiligen Skandale gab ihm auf Landesebene Durchsetzungskraft. Zudem sorgte der Charakter der Umweltunfälle für so große öffentliche Aufmerksamkeit, dass Töpfer seine mangelnde politische Verwurzelung innerhalb seiner Partei und damit auch seine Angreifbarkeit für politische Gegner der Industrie und Unternehmerverbände wettmachen konnte. Der Handlungsdruck angesichts von umweltpolitischen Skandalen, die die Bürger bewegten, war nicht leicht vom Tisch zu wischen. 1986, das Jahr nach Töpfers Amtsantritt als Landesumweltminister sollte dann das Jahr werden, in dem er die Bühne der Landespolitik langsam verließ. Mit dem Tschernobyl-Unfall im Mai sowie einer Reihe von Flussvergiftungen ab dem Sommer riss die Reihe von Umweltskandalen, die immer größere Ausmaße annahmen, nicht mehr ab. Und was für einen Umweltminister nicht gerade von Nachteil war: So gut wie alle Skandale nahmen ihren Anfang weit außerhalb des Verantwortungsbereichs der Mainzer Landesregierung. Die Ukraine war weit weg; auf die Schweizer Brandschutzverordnung hatte man tatsächlich keinen Einfluss;62 die Vergiftung der benachbarten Saar durch einen kriminellen LKWFahrer konnte man höchstens dem dortigen Kollegen Leinen in die Schuhe schieben63 und die weiteren Störfälle in rheinland-pfälzischen und hessischen Chemiewerken konnten leicht den Großkonzernen zugerechnet werden.64 In seinen Reaktionen konnte Klaus Töpfer also Profil, Handlungsbereitschaft und den Willen beweisen, die Schaffung einer zukünftigen Umweltpolitik zu forcieren, welche stärker als bislang Gesundheit und Wohlergehen der Bevölkerung sowie den Erhalt der deutschen Naturlandschaften zum Ziel hatte. Auch hier verfuhr Klaus Töpfer nach dem bewährten Schema. Er suchte nicht schnell einen Buhmann, um ein Exempel zu statuieren und Unbestechlichkeit sowie Abstand von den Industrieverbänden zu demonstrieren – wie es seinen Kollegen Leinen und Fischer vorgeworfen wurde –, sondern baute auf seine „hochtrainierte Art der Beschwichtigung, verbunden mit einer kritischen Bestandsaufnahme“65. Als Reaktion auf die nicht ganz zufälligen giftigen Einleitungen des BASF-Werks Ludwigshafen in den Rhein beispielsweise ließ er die sogenannten Wasserbücher, d.h. die Protokolle der genauen Abwassereinleitungen, veröffentlichen. So gab er Bürgern und Umweltschutzverbänden die Möglichkeit der Information über die tatsächliche, „normale“ Belastung des Rheinwassers und konnte me60
Vgl. ebd. Vgl. Halbig, Heinrich: Geschätzt von Freund und Feind, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 08.04.1987. 62 Bei einem Brand im Baseler Chemiekonzern Sandoz liefen hochgiftige Chemikalien in den Rhein, die diesen auf seiner gesamten Länge vergifteten. 63 Ein LKW-Fahrer hatte im Juli 1986 mehrere Fässer mit Zyanid in die Saar gekippt, weil ihm der Weg zur Entsorgungsdeponie zu weit gewesen war. Jo Leinen reagierte vergleichsweise spät auf den Unfall, was ihm herbe Kritik einbrachte. 64 Bei mehreren „Vorfällen“ bei BASF in Ludwigshafen sowie bei der Hoechst AG in Frankfurt am Main wurden ebenfalls hochgiftige Chemikalien in den Rhein eingeleitet. 65 Kurz, Felix: Ein Zocker für das Kabinett, in: die tageszeitung, 07.04.1987. 61
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dienwirksam dem Konzern die Möglichkeit einräumen, sich durch Transparenz öffentliches Vertrauen selbst wieder zu erarbeiten. Klaus Töpfer nutzte die Öffentlichkeit als Machtbasis; sein auf Intellekt und Volksnähe beruhendes Auftreten half ihm dabei, als kompetenter und vertrauenswürdiger Politiker zu wirken, der sich bewusst abseits der mit Misstrauen beäugten, den Industrieverbänden freundschaftlich verbundenen Parteien hielt. So schaffte er es, bei Skandalen im Gespräch zu bleiben, wo andere Politiker längst gestolpert wären; man lastete ihm die verspätete Reaktion beim Glykolwein nicht kritisch an, und man glaubte ihm seine Beteuerungen bei den Sondemülldeponien und den Chemieeinleitungen in den Rhein.66 Da er von der Universität in die Politik gekommen war, konnte er diese Rolle viel leichter annehmen und seine Handlungsbeschränkungen durch die Politik glaubhafter benennen.
Klaus Töpfer als Seiteneinsteiger? Ob man Klaus Töpfer bei einem derartigen Lebensweg und einer solchen Abfolge von Karrierestationen – Leiter einer Abteilung einer Staatskanzlei, Staatssekretär, später Landesminister, dann Bundesminister – ernsthaft noch politikwissenschaftlich als Seiteneinsteiger bezeichnen darf, ist durchaus fraglich. Die Stationen seines Werdegangs in der Politik jedenfalls erlaubten ihm die Akkumulation von Erfahrungen und Einblicken, ein langsameres Lernen, als es bei Quereinsteigern typischerweise der Fall ist. Eigentlich langsamer, als es für einen Seiteneinsteiger sein dürfte, denn konstituierendes Merkmal von Seiteneinsteigern ist immer auch das Unbedarfte, vielleicht gerade die politische Unerfahrenheit, die manchmal Grund für Erfolg und weitreichende Wirkung und manchmal Ursache für klägliches Scheitern sein kann. Und auch die Tatsache, dass er zunächst jahrelang ein wenig abseits der ganz großen Öffentlichkeit arbeiten und den politischen Betrieb in all seinen Facetten kennen lernen konnte, mag geradezu ein Ausschlusskriterium sein. Es gibt bei Klaus Töpfer aber mehrere Argumentationspunkte, nach denen sein Platz in der Reihe der Quereinsteiger durchaus gerechtfertigt sein könnte, er auch einen gewissen Wert für die Betrachtung politischer Seiteneinsteiger allgemein besitzt. Zunächst weist Klaus Töpfers selbst gewählte Parteiferne, die er auch noch bis in die späten 1980er Jahre beibehielt,67 darauf hin, dass er über eine lange Zeit seiner beruflichen und politischen Laufbahn Parteien nicht als bevorzugtes Karriere- und Aufstiegsvehikel betrachtete. Die beschriebene Skepsis gegenüber allzu politischen, polemischen, auch als einengend empfundenen Argumentationen, die sich bei Töpfer aus Lebenslauf, Sozialisation und fachlicher Ausbildung speiste, ließ ihn davon Abstand nehmen. Ebenfalls dazu beigetragen haben mag ein Bedürfnis nach Unabhängigkeit, welches er immer wieder geltend machte. Seine Berufung zum ordentlichen Professor erlaubte ihm dies auch materiell, indem er sich für seine weiteren politischen Betätigungen nur beurlauben ließ, weiterhin aber die Sicherheit einer stets möglichen Rückkehr besaß. In seinem Selbstverständnis blieb er lange eher der Professor und Wissenschaftler, der für eine Übergangszeit Politik betrieb, als hauptberuflicher Politiker.
66
Vgl ebd. Nach seiner kurzen Zeit als Kreisvorsitzender in Saarbrücken 1977 bis 1979 sollte Töpfer erst 1987 wieder ein Parteiamt übernehmen, den Kreisvorsitz des Kreisverbands im Hunsrück. 67
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Zweitens blieb Klaus Töpfer während seiner späteren Zeit als Minister noch den universitären Sphären weiterhin treu: Immer wieder übernahm er Lehraufträge an verschiedenen Universitäten, versuchte die Theorie mit der Praxis zu verbinden, Erkenntnisse aus der Praxis zurück zu vermitteln, aber auch neue Anstöße in seine Politik mit aufzunehmen. Diese Zweigleisigkeit bot sich in seinem Fall durchaus an. Ist seine wissenschaftliche Heimat, die Volkswirtschaftslehre und speziell die Planungs- und Raumforschung doch auf eine besondere Art und Weise mit der Politik verknüpft, in der Politik per Definition eines ihrer Hauptuntersuchungsobjekte findend. Auch in seinem Politikstil war er um Abstand zur klassischen Parteipolitik bemüht. Zwar lernte er in der Saarbrücker Staatskanzlei rasch die Bedeutsamkeit von Loyalitäten und die Wichtigkeit der richtigen Präsentation und des geeigneten Moments der eigenen Politik. Das Polemisieren gegen den politischen Gegner aber, das Überzeichnen und Aufwiegeln lag ihm ganz und gar nicht, seine wenigen späteren Versuche wirkten geradezu unbeholfen. Angst und Panik verboten sich für ihn als Politikmittel,68 umweltpolitische Probleme – so argumentierte er – bedürften einer sachlichen Argumentation und fachlichen Lösung.69 Darüber hinaus, vielleicht als gewichtigstes Argument für einen politischen Seiteneinsteiger Klaus Töpfer, ist sein Ansehen in der Öffentlichkeit zu nennen. Dort blieb er über die Jahre stets der Quereinsteiger, der fachlich hoch qualifiziert von der Universität den Weg in die Politik und zur praktischen Anwendung seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse gefunden hatte. Das Image des Nichtpolitikers pflegte er sehr sorgfältig. Er versuchte zu vermitteln, dass man sich bei ihm sicher sein könne, nach welchen Kriterien er eine Situation analysiert und begreift; dies sei eben zuallererst die Sachlage, und nicht die polittaktische Konstellation. Kurzum: Er blieb der Umweltprofessor.
Die Umwelt nach dem Gau: ein neues Ministerium Der CDU-Bundesregierung unter Helmut Kohl waren die besorgten Reaktionen auf die beschriebenen Unfälle und Skandale und das Anwachsen der Umweltbewegung natürlich nicht entgangen. Bis zum Unglück von Tschernobyl 1986 war allerdings die Schaffung eines Bundesumweltministeriums nicht ernsthaft erwogen oder als politische Priorität angesehen worden. Die Entscheidung für Walter Wallmann als erstem Umweltminister erlaubt Rückschlüsse auf die Erwartungen Helmut Kohls. Wallmann (und auch Kohl) hielt die Panik und die Angst vieler Menschen nach Tschernobyl für völlig übertrieben, folglich könne man sie auch mit „Placebo-Medizin“70 bekämpfen. Die Aufgabe Wallmanns war klar: Er sollte die Rolle des Beschwichtigers spielen, des „politischen Verpackungskünstlers“71, die Stimmung im Land dämpfen, die Emotionen glätten, gleichzeitig Kurs halten bei der deutschen Atom- und Chemiepolitik.72 Dass dieses Modell einer lediglich symbolischen Politik gegenüber Umweltschutzverbänden, Bürgerinitiativen und verängstigten Bürgern auf lange Sicht – wenn überhaupt – nur dann fruchten konnte, wenn das Thema 68
Vgl. Courts, Gerd: Der größte Ramscher der Nation, in: Kölner Stadtanzeiger, 27.06.1987. Vgl. Brill, Klaus: „Wenn wir lauter solche Leute hätten wie den Herrn Töpfer…“, in: Süddeutsche Zeitung, 09.04.1986. 70 O.V.: Wallmann: Ein Minister wird vorgeführt, in: Der Spiegel, 01.12.1986. 71 Bergdoll, Udo: Schöne Verpackung, magerer Inhalt, in: Süddeutsche Zeitung, 01.10.1986. 72 Vvgl. Strack, Gerda: Der Verpackungskünstler im Dienste seines Kanzlers, in: Frankfurter Rundschau, 16.09.1986. 69
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Umweltschutz und Bedrohung durch Umweltkatastrophen alsbald aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwinden würde, sich die Aufregung um die deutschen Atomkraftwerke und Chemiefabriken wieder legen würde, lag eigentlich auf der Hand.73 Schon nach den ersten einhundert Tagen seiner Amtszeit mehrten sich daher die kritischen Stimmen, die eine kritische Auseinandersetzung mit der Atomindustrie vermissten.74 1986 aber flaute die Welle der umweltpolitische Vorfälle und der Unfälle nach dem Gau von Tschernobyl erst einmal nicht mehr ab. Es vertiefte sich der Eindruck, erst durch die vermehrte Berichterstattung und durch den wachsenden öffentlichen Druck auf die Atom- und Chemieindustrie würden die Vorfälle überhaupt publik. Wallmanns Beschwichtigungen nahm schnell niemand mehr so richtig ernst. Er wirkte hilflos gegenüber den Verbänden der Chemieindustrie und seine Beteuerungen, er glaube noch an „das Gute im deutschen Chemie-Unternehmer“75, machten einen eher deplatzierten Eindruck. Selbst seine eigene Bundestagsfraktion war stets schneller mit Reaktionen zu Hand, erarbeitete Konzepte zur besseren Überwachung der Einleitungen und zur Verhinderung zukünftiger Unfälle, noch bevor der zuständige Minister reagierte.76 Kohl verlor daher bald die Geduld mit seinem Umwelt-Feuerwehrmann; die Umweltverbände ließen auch kein gutes Haar am neuen Minister; und die industriellen Verbände nahmen ihn erst recht nicht ernst, seine Scheingefechte in der Rolle des Bändigers der Großindustrie waren allzu durchsichtig.77 Als Walter Wallmann dann im Frühjahr 1987 die Landtagswahl in Hessen gewann, verschwand er schnell wieder aus der Umweltpolitik. Kohl brauchte einen neuen, glaubwürdigeren Beschwichtiger.
Mit viel Lob nach Bonn: Bundesminister Schon 1985 hatte man im Kanzleramt Klaus Töpfer für eine größere Rolle innerhalb der Union im Auge gehabt. Die CDU im Saarland hatte in jenem Jahr nach drei Jahrzehnten an der Macht die Regierung an die SPD unter Oskar Lafontaine verloren. Da er im Saarland seine ersten politischen Erfahrungen gesammelt hatte und die Saarbrücker CDU gut kennen gelernt, schien er geeignet, den Vorsitz des Saar-Landesverbandes zu übernehmen, und der am Boden liegenden CDU dort wieder auf die Sprünge zu helfen. Besonders Heiner Geißler hatte sich 1985 für einen Wechsel Töpfers an die Saar stark gemacht, doch Bernhard Vogel hatte sich einem Weggang eines seiner beliebtesten Minister verweigert.78 1987 jedoch, nach dem Ausscheiden Wallmanns, brauchte Kohl aus zwei Gründen Klaus Töpfer in Bonn: Zunächst einmal gab es in der Union keinen renommierteren Umweltpolitiker, und das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Bundesregierung in umweltpolitischen Fragen war über das Jahr 1986 gründlich beschädigt worden. Zudem war abzusehen, dass sich Saar-Ministerpräsident Oskar Lafontaine anschicken würde, bei der nächsten Bundestagswahl gegen Kohl anzutreten, und nach einer Reihe von Niederlagen bei 73
Vgl. Bergdoll, Udo: Schöne Verpackung, magerer Inhalt, in: Süddeutsche Zeitung, 01.10.1986. Vgl. ebd.; vgl. auch Strack, Gerda: Der Verpackungskünstler im Dienste seines Kanzlers, in: Frankfurter Rundschau, 16.09.1986. 75 O.V.: Wallmann: Ein Minister wird vorgeführt, in: Der Spiegel, 01.12.1986. 76 Vgl. ebd. 77 Vgl. Kriener, Manfred: Entsorger Wallmann, in: Die Tageszeitung, 04.12.1986; vgl. auch Broichhausen, Klaus: Kein Umweltminister im Hubschrauber, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.12.1986. 78 Vgl. Reitz, Ulrich: CDU Saar favorisiert Töpfer als Vorsitzenden, in: Die Welt, 02.12.1985. 74
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Landtagswahlen und dem schlechten Ergebnis für die Union bei den Bundestagswahlen 1987 sah es für den Bundeskanzler in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre nicht sehr rosig aus.79 Da 1990 Landtagswahlen im Saarland anstanden, lag es auf der Hand, einen starken Kandidaten für den nach dreißig Jahren Regierungsverantwortung nun in der Opposition auseinander fallenden Landesverband an der Saar zu suchen. Klaus Töpfer sollte diese Aufgabe übernehmen, nach dem Vorbild Wallmanns sich auf bundespolitischer Bühne profilieren, um dann Lafontaine auf Landesebene zu stellen oder zumindest so zu beschädigen, dass er danach bei der Bundestagswahl gegen Kohl nicht als strahlend siegreicher Ministerpräsident antreten konnte.80 War es Töpfer in Rheinland-Pfalz noch möglich gewesen, sich auf seine Rolle als in der Politik kooptierter Professor zurückzuziehen, so war dies mit seinem Wechsel nach Bonn immer mehr erschwert. Zwar konnte er – und sei es auch nur gedanklich und in der Theorie – weiterhin die Möglichkeit der vollständigen Rückkehr an die Universität wahren. Mit seiner Aufnahme ins Kabinett der Bundesregierung und der Ankündigung seiner Kandidatur an der Saar machte der Umweltpolitiker in seiner Rolle in Partei und Öffentlichkeit allerdings einen Wandel mit.81 Er war nun nicht mehr der allein der Sache und wissenschaftlichen Entscheidungskriterien verpflichtete Experte, sondern wurde Stück für Stück auch zum Saar-Kandidaten im Wartestand, zum von Kohl für Parteiaufgaben verpflichteten Fachmann. Besonders in der Kommentierung und Berichterstattung über seine Arbeit als Minister rückte neben der Umweltpolitik eben auch die Bedeutung bestimmter Entscheidungen für seinen kommenden Wahlkampf gegen Lafontaine in den Fokus.82 Der Erwartungsdruck wurde größer und fächerte sich auf, der parteiferne Seiteneinsteiger war nicht mehr die einzige Rolle Töpfers, es gab nun auch den Kandidaten der Partei. Hatte er zuvor immer vermieden, Verpflichtungen einzugehen, die über einen überschaubaren Zeitraum hinausgingen oder sich fest in jemandes Hand zu begeben, so musste er nun zwangsläufig davon Abschied nehmen, nachdem er sich zur Doppelrolle des Ministers und des angehenden Kandidaten bereit erklärt hatte.83 Auch das noch junge Ressort in Bonn hielt gegenüber seiner Mainzer Wirkungsstätte einige zusätzliche Schwierigkeiten bereit, die in der Art und der Intention seiner Entstehung begründet lagen. Kohl hatte sich nach Tschernobyl spontan für ein Umweltministerium entschieden; die Zusammenführung der entsprechenden Abteilungen aus verschiedenen Ministerien wie dem Innen-, dem Gesundheits- und dem Landwirtschaftsressort war nicht von langer Hand geplant worden. Daraus folgte, dass die jeweiligen Ressortleiter Personal zum neuen Ministerium abstellten mussten und mitunter – ganz verständlich – nicht ihre fähigsten und bewährtesten Mitarbeiter an das noch ganz provisorisch im Palais Schaumburg untergebrachte Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
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Vgl. Dreher, Klaus: Helmut Kohl. Leben mit Macht, Stuttgart 1998, S. 381. Vgl. Reitz, Ulrich: Mit einem Grand ohne vier beginnt Töpfer sein Spiel gegen Lafontaine, in: Die Welt, 08.09.1989. 81 Die Kandidatur für die CDU Saarland als Spitzenkandidat bei den Landtagswahlen 1990 wurde zwar erst Ende Juni 1989 offiziell verkündet, Töpfer erst im September 1989 auf einem Parteitag zum Kandidaten gewählt; dass Kohl aber beabsichtigte, ihn als Lafontaine-Herausforderer an die Saar zu schicken, wurde mit seiner Berufung zum Bundesumweltminister publik und nie dementiert. 82 Vgl. Jacobs, Volker: Der Hoffnungsträger, in: Saarbrücker Zeitung, 08.05.1987. 83 Vgl. Reitz, Ulrich: Mit einem Grand ohne vier beginnt Töpfer sein Spiel gegen Lafontaine, in: Die Welt, 08.09.1989. 80
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(BMU) abgaben.84 Mit dem Ruf und dem Ansehen seiner Mitarbeiter war es erst einmal nicht weit her, seine Beamten galten bestenfalls als nicht besonders talentiert. In seinen Amtsjahren mussten dann auch mehrmals Gesetzesentwürfe ans Justizministerium abgegeben werden, da den verantwortlichen Abteilungen im Umweltministerium „der Durchblick fehlte“85. Auch gab es anfangs keinen behördlichen Unterbau, der dem Ministerium zuarbeitete. Zudem hatte – ebenfalls ein wenig anders als in Mainz – der Bereich der Umweltpolitik in Kohls Regierungspolitik einen nur untergeordneten Rang inne. Der Ausstattungsrahmen beanspruchte nur einen winzig kleinen Anteil am Gesamtetat und auch personell war das Ministerium deutlich schlanker als die „wichtigen“ Ministerien; allein das Wirtschaftsministerium verfügte über einen gut viermal so großen Apparat. Obendrein wurde im Herbst 1986, ein knappes halbes Jahr nach der Gründung, schon wieder die erste ernsthafte Mittelkürzung in Aussicht gestellt. Der Anspruch Kohls an Töpfers Amtsführung blieb zunächst der gleiche wie bei seinem Vorgänger; die Beschwichtigungspolitik Wallmanns war das „Role-model“86. Lediglich das weitaus höhere Ansehen Töpfers umweltpolitischen Sachverstands in der Öffentlichkeit sollte der Umweltpolitik größere Glaubwürdigkeit verleihen. Ein Schwenk hin zu mehr Diskussion über Leitlinien und die zukünftige Gestaltung der Wirtschaftspolitik, ein Paradigmenwechsel gar, stand nicht auf dem Programm.87 Doch heizte Töpfer die Hoffnung, die Rolle des Umweltministers möge sich vom reinen Beruhiger bei Unfällen hin zum Vordenker einer qualitativ anderen Umweltpolitik ändern, alsbald nach Kräften selber an. Er betonte nach seiner Berufung nach Bonn, die Umweltpolitik müsse in Deutschland nun von der reinen Bewältigung von Unfällen und Katastrophen hin zu einer systematischen Betrachtung der gesamten Umweltsituation übergehen. Er wolle den Krisen nicht nur „nachlaufen“88, das Vorsorgende sollte zur Normalität werden, ein Reaktionsinstrumentarium erstellt und ein gesetzgeberischer Rahmen, ein Umweltgesetzbuch, entworfen werden. Mit dem Anspruch, seine umweltpolitischen Ideen, denen er in Rheinland-Pfalz nur zum Teil Geltung verschaffen konnte – weil die Beschäftigung mit den Katastrophen des Jahres 1986 im Vordergrund stand und weil ein Bundesland nicht für alle relevanten Bereiche Regelungskompetenzen besitzt –, in Bonn für die ganze Bundesrepublik weiter zu entwickeln und umzusetzen, glaubte Töpfer eine logische Fortsetzung seines politischen Wirkungskreises gefunden zu haben.89 Er gab sich als „Überzeugungstäter“90 zu erkennen, hatte während der Mainzer Jahre in der Umweltpolitik ein Verhältnis zu seinem „Fachgebiet“ aufgebaut, welches deutlich über das in der CDU übliche Maß an Umweltbewusstsein und Wachstumsskepsis hinaus ging.91 Bei den Töpfers zu Hause sah es in den späten 1980er Jahren eher ein wenig aus wie 84
Vgl. Lersch, Paul/Palmer, Hartmut: “Bisher nur Pipifax und Geplauder“, in: Der Spiegel, 10.04.1989. Ebd. 86 O.V.: Kohl will Töpfer nach Bonn holen, in: Die Welt, 07.04.1987. 87 Vgl. Lersch, Paul/Palmer, Hartmut: “Bisher nur Pipifax und Geplauder“, in: Der Spiegel, 10.04.1989. 88 Brandt, Michael: „Nicht nur Katastrophen nachlaufen“, in: Kölner Stadtanzeiger, 09.05.1987. 89 Vgl. Halbig, Heinrich: Geschätzt von Freund und Feind, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 08.04.87; vgl. auch Reitz, Ulrich: Mit einem Grand ohne vier beginnt Töpfer sein Spiel gegen Lafontaine, in: Die Welt, 08.09.1989. 90 O.V.: Mann mit Beule, in: Der Spiegel, 27.01.1992. 91 Vgl. Krause-Brewer, Fides: Klaus Töpfer. Vertrauen durch Information. „Marktwirtschaftlichen Spielraum lassen“, in: trend, H. 6./1988, S. 91 ff., hier S. 92. 85
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in einem Haushalt eines Parteimitglieds der Grünen: Müll wurde getrennt in allen Variationen (Glas, Plastik, Papier, Kompost, Aluminium, Batterien, etc.), Putz- und Hausmittel waren selbstverständlich ökologisch abbaubar und der Garten ihres späteren Hauses in Saarbrücken enthielt ein kleines Feuchtbiotop.92
Immer mehr Hindernisse: nicht alle für die Umwelt Schon bald machte Klaus Töpfer jedoch seine veränderte Rolle zu schaffen. In Mainz hatte er sich unter dem Problemdruck der Skandale gegen Gegner in der Partei und in den Industrieverbänden durchsetzen können; eine sensibilisierte Öffentlichkeit hatte geradezu nach Konsequenzen und politischen Reaktionen verlangt. Zudem hatte er in Rheinland-Pfalz mit Bernhard Vogel unter einem Vorgesetzten gearbeitet, der das Thema Umweltschutz selbst aufgegriffen hatte, es für wichtig erachtete. Auch hatte er als Landesminister den Vorteil, dem Ministerkollegen im Wirtschaftsressort gut auszukommen – Rudi Geil war sein Studienkollege und bis 1985 vier Jahre lang sein Vorgesetzter im Umweltministerium gewesen. Gerade ein guter Draht zum Wirtschaftsministerium kann für erfolgreiche Initiativen im Umweltschutz von entscheidender Bedeutung sein. Zwar beschränkte sich seine Arbeit als Landesumweltminister (und als Staatssekretär) oft auf den Umgang mit Unfällen und dem Umwelt-Fehlverhalten anderer. Dennoch konnte er substanzielle Erfolge vorzeigen: So verdoppelte sich zum Beispiel während seiner Zeit in Mainz die Anzahl der ausgewiesenen Naturschutzgebiete im Bundesland. In Bonn nun aber gingen ihm viele Faktoren seines Erfolges in Mainz verloren. Sein politischer Mentor in Bonn – Helmut Kohl – hatte keine einschneidende Veränderung der umweltpolitischen Großwetterlage im Sinn. Der Bundeskanzler hatte in seiner Zeit vor der professionellen Politik bei einer Chemieindustrie-Vereinigung in Ludwigshafen gearbeitet, besaß noch immer beste Verbindungen zu diesem Zweig deutscher Wirtschaftskraft.93 Auch für die Atomkraft hatte er sich stets stark gemacht. In den Verhandlungen mit den „großen“ Ministerien im Kabinett hatte Töpfer daher einen schweren Stand. Seine Vorhaben einer verbindlichen ökologischen Rahmengesetzgebung stießen darüber hinaus bei den Ressorts für Wirtschaft, Verkehr und Landwirtschaft auf zum Teil erbitterten Widerstand. Auch die industriellen Interessenverbände versuchten ihn zu bremsen bzw. gar nicht erst Fahrt aufnehmen zu lassen. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Wallmann traute man Töpfer durch seine umweltpolitische Erfahrung und als Professor für Volkswirtschaftslehre eine Menge Eifer und Veränderungswillen zu. Man fürchtete zudem seine Strahlkraft in der Öffentlichkeit. Zudem besaß in der Regierungskonstellation von Bonn die Union – anders als in Mainz – keine absolute Mehrheit, sondern war auf die FDP als Koalitionspartner angewiesen. Die Freien Demokraten wollten von einer Abwägung zwischen wirtschaftlichen und umweltpolitischen Argumenten allerdings nichts wissen, sperrten sich im Kabinett gegen viele Initiativen Töpfers, und Helmut Kohl sprang ihnen oft bei.94 1987 geschahen auch zunächst keine Aufsehen erregenden Umweltunfälle mehr, dadurch fehlte Klaus Töpfer jetzt der öffentliche Druck, der ihm spektakuläre Aktionen in 92 Vgl. Weckbach-Mara, Friedemann: Am liebsten hätt´ ich ´ne Kneipe, in: Express, 12.03.1989; vgl. auch Diekmann, Kai: Zu Hause heißt der Herr Minister nur „Tö“, in: Bild am Sonntag, 24.04.1988. 93 Vgl. Dreher 1998, S. 49 f. 94 Vgl. Lersch, Paul/Palmer, Hartmut: “Bisher nur Pipifax und Geplauder“, in: Der Spiegel, 10.04.1989.
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Rheinland-Pfalz – wie die Veröffentlichung der BASF-Wasserbücher – noch ermöglicht hatte. Gerade im vorsorgenden Umweltpolitikbereich war dies aber auch ungleich schwieriger. Eine Maßnahme auf einen Umweltskandal oder Unfall hin anzukündigen und damit zu begründen, leuchtete oft ein, konnte gut „verkauft“ und vermittelt werden. Ein Gesetz durchzusetzen, mit dem vielleicht Skandale oder Unfälle in der Zukunft verhindert würden und eine sauberere Umgebung langfristig erreicht werden könnte, erforderte wesentlich mehr Überzeugungs- und Durchsetzungskraft, da ja die zu erwartenden Erfolge nicht beziffert werden können (Wie viele Unfälle wurden denn verhindert?), die Einschnitte aber im Hier und Jetzt genauer geschätzt werden. Hier wurde dann auch die Tatsache, keine innerparteiliche Hausmacht, keine Bataillone zur Verfügung zu haben, zum Nachteil. Für unbequeme Entscheidungen, die – wie in der Umweltpolitik fast stets – kraftvolle Interessengruppen innerhalb und außerhalb der Parteien als Opponenten haben, ist die Unterstützung durch Parteifreunde und die Öffentlichkeit unabdingbar. Zudem war die von Klaus Töpfer nun ins Auge gefasste, über die Feuerwehrfunktion hinausweisende konzeptuelle Umweltpolitik viel kontroverser als die bloß reagierende Politik, deren Notwendigkeit unmittelbar einleuchtete. Zwar erwarteten viele Menschen in Deutschland weiterhin deutliche und ernsthafte Schritte in Richtung einer größeren Wertschätzung ökologischer Argumente in der Politik; einen Druck aber, der Klaus Töpfer es ermöglicht hätte, seine Vorstellungen und Ideen in einer Koalition aus Union und FDP und gegen den eigenen Bundeskanzler hätte durchsetzen können, gab es nicht. Töpfer versuchte dieses Manko durch eine Steigerung der Geschäftigkeit auszugleichen; es gab kaum Symbolhaftes in der Umweltpolitik, das von ihm ausgelassen wurde.95 Öffentlichkeitswirksam grub er im ostfriesischen Wattenmeer nach Würmern, posierte traurig vor verendeten Robben, ließ sich tief im Schacht von Gorleben mit ernsthaftbesorgter Miene fotografieren, durchquerte den Rhein gar zweimal: einmal entlang des Flussbodens in einer Taucherglocke mit Joschka Fischer, ein anderes Mal vor großer Kulisse den Strom mit Schwimmflossen, Taucheranzug und am Ende stark geröteten Augen durchschwimmend. Anfangs konnte der Kanzler wirklich zufrieden sein. Töpfer erfüllte seine Aufgabe, und angesichts ständiger Medienpräsenz entstand zunächst der Eindruck, die Umweltpolitik habe an Stellenwert gewonnen. Selbst die Grünen, der BUND und die SPD zollten dem „ökologischen Facelifter“96 Respekt. Doch Töpfers fehlender Rückhalt in Partei und Kabinett blieben nicht lange verborgen. Kohl legte oft sein Veto ein, wenn der Umweltminister seine Pläne präsentierte. Im Zweifel wurde stets mit dem Wirtschaftsministerium entschieden.97 Seine Abfallverordnungen wurden im Kanzleramt und Justizministerium so lange verwässert, bis sie nicht mehr wieder zu erkennen waren, der FDP-Wirtschaftsminister Möllemann verhinderte eine im Koalitionsvertrag festgeschriebene Abgabe auf den CO2-Verbrauch, das Verkehrsministerium sperrte sich bei dem Plan, den Abgasverbrauch durch deutsche Autos ins Auge zu
95 Vgl. Grabenströer, Michael: Töpfer fand es im Rhein nicht schön, in: Frankfurter Rundschau, 15.09.1988; vgl. auch – polemisch, aber beispielhaft – o.V.: Lieber Klaus Töpfer!, in: Vorwärts, H. 6/1988. 96 Lersch, Paul/Palmer, Hartmut: “Bisher nur Pipifax und Geplauder“, in: Der Spiegel, 10.04.1989. 97 Vgl. ebd.
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fassen.98 Zur Halbzeitbilanz konstatierte der Spiegel: „Von 66 Ankündigungen habe er gerade 15 auf den Weg gebracht, […] fünf davon seien tatsächlich vollendet [worden].“99 Dass er den Konflikt im Kabinett dennoch nicht suchte, nicht darum rang, mit heftigeren Angriffen und schärferen Begründungen für seine Projekte zu werben, mag nicht nur an seinem Naturell gelegen haben. Auch seine neue, zunächst noch nicht offiziell ausgerufene, aber doch bekannte Rolle als künftiger Spitzenkandidat an der Saar könnte ihm ein selbstbewussteres Auftreten als Umweltminister verbaut haben. Denn wirtschaftsfeindlich durfte er keineswegs wirken, wollte er überhaupt eine Chance haben, sich gegen Lafontaine durchzusetzen. In einem von Arbeitslosigkeit und sterbender Kohleindustrie geprägten Saarland waren Erfolge beim Umweltschutz nicht per se auch Pfunde, mit denen man wuchern konnte. In diesem Fall also standen sich beide Rollen Klaus Töpfers ein wenig im Weg. Öffentlichen Druck auf Kanzler und Kabinett konnte der Umweltpolitiker nicht aufbauen; zum einen war er ja als in der Partei kaum wirklich verwurzelter „Quereinsteiger“ doch von Lob und Tadel seines „Mentors“ Kohl abhängig; zum anderen war seine Rolle eben nicht nur auf das Beschwichtigen von Umweltängsten und die Lösung von ökologischen Problemen begrenzt, man erwartete auch wohlfeiles Verhalten im Hinblick auf sein Antreten an der Saar. Zudem sank sein Stern bald, denn der vorgelegte Aktivismus wirkte dann bei ausbleibendem Erfolg bluffend, die Betriebsamkeit wurde hektisch, seine Reisetätigkeit effektheischend. Und die immergleiche Mischung aus durchaus kluger Analyse der Situation und der Betroffenheitsgeste, die angesichts seiner Machtlosigkeit eher ein Achselzucken suggerierte, wurde zum Manko, Klaus Töpfer zum „Ankündigungsminister“100.
Ein neuer Auftrag: zurück an die Saar Im Juni 1989 verlor die Saar-CDU bei den Kommunal- und Europawahlen nochmals deutlich, kurz danach erklärte Töpfer dann öffentlich, an der Saar gegen Lafontaine zu kandidieren.101 Auf dem Bundesparteitag in Bremen stärkte ihm die Partei den Rücken und wählte ihn mit dem besten Ergebnis aller Mitglieder (inklusive des Kanzlers) erstmals in den Bundesvorstand.102 Fast zeitgleich wurde er vom Landesparteitag im Saarland mit großer Mehrheit zum Spitzenkandidaten für die Landtagswahl im Januar 1990 gewählt.103 Dass er innerhalb der Partei zuvor keinen exponierten Posten bekleidet hatte, sich keinem Flügel klar zurechnen ließ und sich erst recht nicht mit den auf dem 1989er Parteitag aufbegehrenden Späth, Geißler, Süssmuth gegen Kohl solidarisiert hatte, kam ihm hier zugute. Er war beliebt, war das Aushängeschild der Union in Sachen Umweltschutz, der lebendige Beweis, dass man keine umweltfeindliche Partei war.
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Vgl. o.V.: Mann mit Beule, in: Der Spiegel, 27.01.1992. Lersch, Paul/Palmer, Hartmut: “Bisher nur Pipifax und Geplauder“, in: Der Spiegel, 10.04.1989. 100 Schweitzer, Eva: Ein Reformer, der hart im Nehmen ist, in: Der Tagesspiegel, 07.05.1997. 101 Töpfer legte zeitgleich seinen Kreisverbandsvorsitz in Neuwied/Rheinland-Pfalz nieder, den er seit 1987 inne gehabt hatte; vgl. Hildisch, Volker: Frei nach der Fabel La Fontaines gegen Lafontaine, in: Stuttgarter Zeitung, 28.06.1989. 102 Vgl. UiD, 14.09.1989; vgl. auch Dreher 1998, S. 441. 103 Vgl. dpa-Meldung: Wochenendzusammennfassung. Töpfer tritt bei Saar-Landtagswahl 1990 gegen Lafontaine an, 10.09.1989. 99
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Der Wahlkampf im Saarland verlief dann aber eher unglücklich für den frischgebackenen Kandidaten. Lafontaines durchaus konfrontativer Kurs gegenüber der Bundesregierung in Bonn fand Gefallen bei den Wählern, gab den Saarländern Aufwind und neues Selbstbewusstsein; dies mit noch gesteigerten Angriffen gegen den eigenen Bundeskanzler übertrumpfen zu wollen war kaum Erfolg versprechend.104 Töpfer präsentierte sich bei Wahlkampfauftritten vielmehr ambivalent. Seine Kandidaturrede auf dem Nominierungsparteitag der Saar-CDU war beispielhaft für den anlaufenden Wahlkampf. Einerseits versuchte er, scharf mit Lafontaine ins Gericht zu gehen: Die Rückeroberung einer absoluten Mehrheit sei das Ziel. Der Ministerpräsident habe mit seinem allzu defensiven Kurs in der Wirtschafts- und Strukturpolitik weder den bundesweiten ökonomischen Aufschwung für das Saarland nutzen können, noch einen ökologischen Umbau vorangetrieben. Direkt nach der Parteiveranstaltung aber räumte Töpfer im Westdeutschen Rundfunk andererseits nachdenklich ein, die Ablösung Lafontaines werde „sehr schwer“105 sein. Immer wieder wiederholte sich dieses Muster, wobei Töpfers Angriffe auf Lafontaine nur schwer zündeten; zu sehr fremdelte er letztlich mit dem polarisierenden WahlkampfTonfall, wirkte unbeholfen und konnte oft den polternden Reden und kraftstrotzenden Gesten Lafontaines nicht viel entgegensetzen106 Machthungrig, zielstrebig, selbstbewusst wirkte Töpfer nicht gerade. Die verhältnismäßig abgesicherte Rückzugsposition des Ministers in Bonn, der zusätzlich noch die Möglichkeit besaß, wieder an die Hochschule zurückzukehren, schaffte vielleicht eine Hypothek in einem Wahlkampf, in dem es auch darum ging, sich mit aller Kraft und Energie dem Stimmenfang zu widmen. Klaus Töpfer versuchte, sich als bessere Interessenvertretung für die Saarländer darzustellen, als Kabinettsmitglied säße er an ganz entscheidender Stelle, insofern trete er gar nicht als Bundespolitiker, sondern als Saarbrückens Mann in Bonn an.107 Als „Kümmerer“ und Landesvater aber konnte er so nicht wirken. Töpfers Auftritte auf bundespolitischem oder gar europäischem und internationalem Parkett wurden von den Saarländern nicht mit der heimischen Union in Verbindung gebracht, im Gegenteil: die hauptsächlich bundespolitische Aufgabe Töpfers als Minister machte es Lafontaine leicht, ihm Gefühl für die saarländische Lebensweise abzusprechen.108 Zudem lieferte er Lafontaine eine weitere Vorlage, indem er erst drei Wochen vor dem Urnengang mit seiner Familie nach Saarbrücken zog.109 Auch die Tatsache, dass er sich nicht eindeutig äußerte, ob er im Falle einer Niederlage in Saarbrücken die Oppositionsführung übernehmen wolle, machte es dem Amtsinhaber leicht, Töpfers Kandidatur als bundespolitisch gewollte Entscheidung zu brandmarken. Seine Rolle als Umweltminister war in einem von Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsthemen dominierten Wahlkampf110 ebenfalls nicht zwangsläufig von Vorteil. Den Nimbus der 104
Vgl. Schön, Alfred: Warten auf den Hoffnungsträger, in: Saarbrücker Zeitung, 02.12.1987. dpa-Meldung: Wochenendzusammennfassung. Töpfer tritt bei Saar-Landtagswahl 1990 gegen Lafontaine an, 10.09.1989. 106 Vgl. Reitz, Ulrich: Mit einem Grand ohne vier beginnt Töpfer sein Spiel gegen Lafontaine, in: Die Welt, 08.09.1989. 107 Vgl. Fuchs, Volker: Sachantworten vorlegen, in: Saarbrücker Zeitung, 21.11.1990. 108 Vgl. Röder, Matthias: Rheinschwimmer Töpfer ging auch an der Saar baden, in: dpa-Meldung, 28.01.1990; vgl. auch Jungmann, Michael: Töpfer hat Probleme – nicht nur mit dem Terminkalender, in: Saarbrücker Zeitung, 26.09.1990. 109 Vgl. Röder, Matthias: Rheinschwimmer Töpfer ging auch an der Saar baden, in: dpa-Meldung, 28.01.1990. 110 Die Umweltpolitik wurde von den vor der Wahl befragten Bürgen nach der Arbeitslosigkeit, der Kohle- und Stahlpolitik sowie der Sozialpolitik erst an vierter Stelle der wichtigsten Probleme genannt; vgl. Sandschneider, 105
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Bremse für Industrie und wirtschaftlichen Aufschwung war die Umweltpolitik noch nicht losgeworden. Beim einzigen eindeutig umweltpolitischen Wahlkampfthema von Bedeutung gelang es Lafontaine noch, Töpfer an Konsequenz zu übertrumpfen. Lafontaine hatte die Atompolitik der Bundesregierung stark kritisiert, damit die Ängste vieler Menschen – gerade auch durch die räumliche Nähe zur Nuklearanlage Cattenom – aufgegriffen.111 Töpfer weigerte sich jedoch – trotz Drängens einiger saarländischer Parteifreunde –112 nachzuziehen und von der Linie Kohls in der Atomfrage abzuweichen. Er wollte sich gerade nicht dem Vorwurf der Wirtschaftsfeindlichkeit aussetzen und plädierte weiter für einen „Konsens zwischen Kohle und Kernenergie“.113 Dem Amtsinhaber Lafontaine blieb er damit unterlegen, der ihn als verlängerten Arm der Bundesregierung darstellen konnte, als jemand, der die Saarländer nicht verstehen würde und das Saarland lediglich als Gegenstand seiner persönlichen Machtavancen (und der seines Kanzlers) sähe.114 Im Ergebnis verlor die CDU nochmals, erreichte nur mehr 33,4 Prozent. Selbst die eigenen Anhänger hatten von Anfang an nicht richtig an die Möglichkeit eines Wahlsieges geglaubt, gar 67 Prozent der CDU-Wähler vor der Wahl den amtierenden Ministerpräsidenten als wahrscheinlichen Sieger genannt.115 Das Ziel, Lafontaine auch nur zu beschädigen, hatte Töpfer auf der ganzen Linie verfehlt.116
Gegen den Tribun ohne Chance: der Fremde aus Bonn Der Versuch, über das „Seiteneinsteigertum“ hinaus zum Generalisten-Politiker zu werden, war für Klaus Töpfer gescheitert. Zu sehr unterlegen war er doch im Konflikt mit einem Vollblut-Landespolitiker wie Oskar Lafontaine in den späten 1980er Jahren. Er musste letztlich erkennen, dass er geachtet und respektiert wurde als Fachmann, auch als politisch geschickter und versierter Experte. Jedoch reichten die in der Umweltpolitik erworbenen Meriten und seine darin wurzelnde Glaubwürdigkeit nicht aus, um ihm eine Stellung und Karriere als Politiker auf der dem Spezialgebiet übergeordneten Ebene abzusichern. In der Konfrontation und der durch eine viel breitere Themenpalette geprägten Wahlkampfauseinandersetzung strahlten seine Kenntnisse in der Umweltpolitik nicht genügend Souveränität aus, um überzeugend ein ganzes Bundesland, nicht nur ein Politikfeld zu vertreten. Zudem fielen in dieser Situation auch die Argumente weg, die er mit seinem Lebenslauf und seiner Ausbildung, seinem „Quereinstieg“ in der Umweltpolitik quasi verkörperte. Als Kandidat für den Ministerpräsidenten konnte er eben nicht Experte für jedes wichtige Thema sein, sondern verlor damit die unbestrittene Sachkenntnis als Quelle seiner hohen Vertrauenswürdigkeit. Persönliches Machtstreben und Parteitaktik, zudem als „Import“ aus Bonn, waren im Saarland-Wahlkampf an die Seite der persönlichen Überzeugung für die Sache der Umwelt getreten. Somit waren aber die Faktoren, in denen das hohe Ansehen Klaus Töpfers als Umweltpolitiker wurzelte, nicht mehr in der früheren Form gegeben. Eberhard: Die saarländische Landtagswahl vom 28. Januar 1990: Ein Sieg der SPD ohne bundespolitische Signalwirkung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 3/1990, S. 418-429, hier S. 420. 111 Vgl. Micus 2005, S. 119. 112 Vgl. Kudera, Michael: Spitzenkandidat der Saar-CDU, in: Bonner Rundschau, 12.08.1989. 113 Ebd. 114 Vgl. Sandschneider 1990, S. 421. 115 Vgl. ebd., S. 419. 116 Vgl. Röder, Matthias: Rheinschwimmer Töpfer ging auch an der Saar baden, in: dpa, 28.01.1990.
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Nichtsdestotrotz gab es in der CDU im Saarland keine alternative politische Führungsfigur, die es an Bekanntheitsgrad und Erfahrung mit Klaus Töpfer hätte aufnehmen können. Eine neue Generation an politischen Eigengewächsen, die die Christdemokraten wieder aus der Opposition hätte heraus führen können, war noch nicht in die oberste Landesebene hinein gewachsen. Klaus Töpfer wurde daher im Mai 1990, vier Monate nach der verlorenen Wahl zum neuen Parteivorsitzenden im Saarland gewählt.117 Zudem übernahm er einen Wahlkreis in Saarbrücken und zog bei den Ende 1990 folgenden Bundestagswahlen erstmals in den Bundestag ein. Die Konstellation mit Töpfer als oft abwesendem Vorsitzenden und einem Saarbrücker Statthalter in Person des Fraktionsvorsitzenden und Ex-Parteivorsitzenden Peter Jacoby mutete aber eher an wie eine Übergangslösung. Zwar schmückte man sich gerne mit dem bekannten Bundesminister, bewunderte seinen „Aktionsradius“118 und die Weihen höherer Politik, die er mithin ausstrahlte. Dass die alltägliche Oppositionsarbeit aber mit Töpfer nicht einfach war, wurde schnell klar. Allein der Terminkalender des Bundesumweltministers machte eine kontinuierliche Aufbauarbeit im Landesverband mehr als schwierig: Viele Vorstandssitzungen mussten nach einem regulären Bonner Arbeitstag im Anschluss nachts stattfinden. Zudem agierte Töpfer naturgemäß fern der Niederungen der Landespolitik, äußerte sich zu vielen Themen spät oder gar nicht.119 Bei den Landtagswahlen 1994 trat Töpfer dann erneut gegen Lafontaine an. Auch wenn die bundespolitische Ausgangslage vier Jahre nach der deutschen Einheit für die Christdemokraten wesentlich besser aussah als noch 1990, so kam Klaus Töpfer über einen Achtungserfolg und fünf Prozentpunkte Zugewinn nicht hinaus. Der Ablösung der Landesregierung näherte er sich nicht einmal ansatzweise. Oskar Lafontaine konnte seine absolute Mehrheit knapp verteidigen. Das Problem, als Bundespolitiker dem sozialdemokratischen Landesvater, und als Experte für Umweltpolitik dem Generalisten Lafontaine unterlegen zu sein, hatte Töpfer nicht aus der Welt schaffen können.120 Zudem war eine überwiegende Mehrheit der Landesbürger mit der Amtsführung ihres Ministerpräsidenten zufrieden, schrieben die Saarländer trotz großer Probleme auf dem Arbeitsmarkt und des Strukturwandels in der Kohleindustrie der SPD immer noch weit größere Kompetenzen zu als den Christdemokraten. Die Versuche der Union, die Bundespolitik ins Zentrum des Wahlkampfes zu stellen, fruchteten nicht, da es der SPD parallel gelang, nicht erreichte Ziele in der Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik eben jener Bundesregierung anzukreiden.121
Die Einheit als Markstein: neue Prioritäten Das Jahr 1990 aber hatte zudem eine weitere Zäsur für Klaus Töpfer und die deutsche Umweltpolitik bereitgestellt. Der Fall der Mauer zwischen der DDR und der Bundesrepublik 117 Vgl. Jungmann, Michael: Töpfer hat Probleme – nicht nur mit dem Terminkalender, in: Saarbrücker Zeitung, 26.09.1990. 118 Ebd. 119 Vgl. ebd.; vgl. auch Krumenacker, Thomas: Bei den Saarländern konnte Töpfer nie recht landen, in: ReutersHintergrundmeldung, 20.06.1995. 120 Vgl. Krumenacker, Thomas: Bei den Saarländern konnte Töpfer nie recht landen, in: Reuters-Hintergrundmeldung, 20.06.1995. 121 Vgl. Winkler, Jürgen: Die saarländische Landtagswahl vom 16. Oktober 1994: Bestätigung der SPD-Mehrheit, Debakel der FDP, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 2/1995, S. 249-261, hier S. 252.
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ließ für eine gute Zeit jegliche Umweltprobleme in ihrer Relevanz in den Hintergrund treten. Auch wenn die Problematik der Altlastensanierung der Kasernen und Industriegebiete in den Neuen Bundesländern unzweifelhaft von großer Wichtigkeit war, so trat diese Frage vor dem Problemdruck von Währungsumstellung, Wiedervereinigung und Wirtschaftswachstum Ost ganz klar zurück.122 Im Kabinett und der öffentlichen Auseinandersetzung um etwaige umweltpolitische Fragen geriet Töpfer vermehrt in die Defensive, die ökonomische Entwicklung als alles andere an Wichtigkeit überragender Faktor machte ökologische Argumentationen zunehmend schwieriger. Zudem hatte Helmut Kohl erfahren, wie sicher er den 1990er Wahlkampf mit dem Thema der Deutschlandpolitik gewonnen hatte; das Thema „Umwelt“ rückte vor diesem Hintergrund in der Prioritätenrangfolge des ersten gesamtdeutschen Kabinetts weit nach hinten. Klaus Töpfer schien darüber langsam aber sicher das Wohlwollen seines Förderers Kohl zu verlieren. Zwar war seine Position im Kabinett nie solcher Art, dass Kohl mit seiner Richtlinienkompetenz den töpferschen Umweltkonzepten Vorrang eingeräumt hätte. Nun aber wurde der politische Gegenwind für Klaus Töpfer stärker; Verkehrsminister Krause und die freidemokratischen Wirtschaftsminister Haussmann und Möllemann torpedierten angriffslustig jeden Vorschlag, der im Umweltministerium entworfen wurde. Stets musste Töpfer klein beigeben: Sein Vorstoß für ein Sprit sparendes Tempolimit auf deutschen Autobahnen wurde wieder einkassiert; die zunächst ehrgeizigen Pläne zu einer Rücknahmeverpflichtung für Verpackungsmüll wurden Stück für Stück zum Dualen System, damit zu einer weiteren Einnahmequelle für Industrie und Handel, eingedampft; Klaus Töpfers Diskussionsanstöße für eine Reduzierung des CO2-Ausstoßes in Deutschland als „Desaster“123 abgekanzelt. Kanzler Kohl kreidete Töpfer an, dass er die ihm zugeteilte Aufgabe im Saarland nur ungenügend erfüllt hatte. Zudem war immer wieder spekuliert worden, ob Töpfer nicht über das Umweltministerium hinaus zu Höherem fähig sei.124 Neben anderen wurde er auch immer wieder für eine mögliche Kohlnachfolge ins Gespräch gebracht – ein zweifelhaftes Lob, das seine Position gegenüber dem Kanzler unterhöhlte, der solcherart heranwachsende Konkurrenz naturgemäß nicht schätzte.125 Selbst als Umweltminister geriet er nun in die Kritik: Er sei ein „guter Populist“, so Kohl, aber eben nicht mehr, lasse „keine programmatischen Fähigkeiten“126 erkennen. Dies vor dem Hintergrund, dass sämtliche programmatische Aktivität auf dem Feld der Umweltpolitik im Grunde unerwünscht gewesen war. Gegen den weiteren Rangverlust im Kabinett begehrte Töpfer nicht auf, warf weiterhin – wenn auch mit etwas nachlassendem Schwung – Themen, Diskussionsanregungen und Gesetzesvorschläge in die Öffentlichkeit, suchte auf umweltpolitisch problematische Sachverhalte hinzuweisen und begnügte sich ansonsten mit seiner noch mehr gesunkenen Durchsetzungskraft im Kabinett. Früh schon mutmaßte er selbst, dass er wohl nach 1994 nicht mehr das Umweltministerium leiten würde. Nach der Bundestagswahl 1994 entließ ihn Kohl dann tatsächlich als Umweltminister, setzte ihn aber auf den Posten des Bundesbauministers. Töpfers selbst geäußerten Wunsch, Fraktionsvorsitzender im Bundestag zu
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Vgl. o.V.: Mann mit Beule, in: Der Spiegel, 27.01.1992. O.V.: Mann mit Beule, in: Der Spiegel, 27.01.1992. Vgl. Bernarding, Bernhard: In Kohls Kabinett einer der alten Hasen, in: Saarbrücker Zeitung, 07.05.1997. 125 Vgl. o.V.: Mann mit Beule, in: Der Spiegel, 27.01.1992. 126 Ebd. 123 124
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werden, verwehrte er ihm dagegen.127 Die „politische Rendite“128, die der Kanzler sich von Töpfers Engagement versprochen hatte, war zuletzt immer kleiner geworden. In der bundesrepublikanischen Politik konnte er als Architekt einer allumfassenden Umweltpolitik nicht reüssieren, da in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren jenseits der Grünen und Teilen der Sozialdemokraten der Gedanke der nachhaltigen Entwicklung und des ökologischen Wirtschaftens noch nicht selbstverständliches Allgemeingut der Politik war. Töpfer biss schlichtweg auf Granit bei politischen Gegnern im Kabinett, in seiner Partei und in Wirtschaftsverbänden. Auf der internationalen Ebene hingegen war ein Politiker gern gesehen, der über die Grenzen des momentan akzeptierten Standes der ökologischen Politik weit hinauszeigte, da es vielmehr um Werbung und Bewusstmachen, denn um praktische Realisierung ging. Der eher unverbindliche Charakter der Diplomatie und der internationalen Konferenzen kam dabei den Ideen Klaus Töpfers entgegen.129 Die Wissenschaft rückte gegenüber der rein politischen Betätigung zwar nicht in den Vordergrund, gewann jedoch wieder etwas an Bedeutung. Am Ende war es nur folgerichtig, eine Stellung im Gefüge der Vereinten Nationen anzustreben. Ob Kanzler Kohl ihn letzten Endes fallen ließ, ob Töpfer selbst – genervt von den ihm gesetzten Grenzen und Beschränkungen – sich auf die ihn wesentlich wärmer empfangende internationale Ebene zurückzog, bleibt fast gleich. Gegen Ende des Jahres 1997 jedenfalls mehrten sich Gerüchte, UN-Generalsekretär Kofi Annan würde den Deutschen gerne auf den Posten des Leiters des UN-Umweltprogramms berufen. Kohls Interesse Töpfer gegenüber war in jedem Fall erloschen. Zusätzlich zu den schon erwähnten Gründen der Saarland-Niederlagen und der geringer werdenden Bewunderung für Töpfer als führendem Umweltpolitiker galt der Bauminister zunehmende auch als Kohl-kritischer Kopf innerhalb der Union, auch wenn er sich nie damit exponiert hatte.130
Fazit und Rückschau Es war Klaus Töpfer zeit seiner Karriere gelungen, den Ruf des nicht ganz in der Politik aufgehenden Seiteneinsteigers aufrecht zu erhalten. Seine Amtsführung in den verschiedensten Positionen, die er seit den 1970er Jahren bekleidet hatte, zeichnete sich auch immer durch einen gewissen Abstand zur „klassischen“ Parteipolitik aus. Selbst als Spitzenkandidat der Union bei den Landtagswahlen im Saarland erweckte er bisweilen den Eindruck, sich in der Rolle des Hoffnungsträgers der Union nicht wohl zu fühlen und die sachliche Erörterung der polarisierenden Auseinandersetzung mit seinem Gegenüber von der SPD eindeutig vorzuziehen. Die Rolle, in der Klaus Töpfer in der deutschen Politik aufleben konnte, sich zehn Jahre im Kabinett Kohl halten konnte – so lange wie kaum ein anderer Minister –, war die des eher am Rand der Parteipolitik stehenden Wissenschaftlers. Damit sicherte er sich auch langfristig etwas andere Kriterien, nach denen sein politisches Tun in der Öffentlichkeit und in der eigenen Partei beurteilt wurde. Er versuchte nicht, mit der Brechstange neuen Themen und Ideen zum Durchbruch zu verhelfen, mit Wucht und Macht auf seine Interessen zu 127
Vgl. Bernarding, Bernhard: In Kohls Kabinett einer der alten Hasen, in: Saarbrücker Zeitung, 07.05.1997. Ebd. 129 Vgl. Schweitzer, Eva: Ein Reformer, der hart im Nehmen ist, in: Der Tagesspiegel, 07.05.1997. 130 Vgl. Lambeck, Martin: Beliebter Spieler überreizt sein Blatt, in: Die Welt, 15.11.1997. 128
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drängen. Diese Strategien wären für einen Quereinsteiger ohne Hausmacht und stark protegierende Rückendeckung durch einen entsprechenden Mentor viel zu offensiv gewesen, hätten seinen Urheber zu stark exponiert. Das „Seiteneinsteigerhafte“ an Klaus Töpfer war auch der Tonfall, den der in der öffentlichen Darstellung geschulte Töpfer leise hielt, nachdenklich, und damit auf eine eigene Weise eindringlich. Denn zum Nimbus des fachlich versierten Wissenschaftlers gehörte eben das einleuchtende Argumentieren, nicht aber das Poltern und Polarisieren. Gleichzeitig wurde er aber nicht zu einem der – in diesem Band auch behandelten – Beispiele allzu verkopfter, intellektuell etwas abgehobener Professoren, die an der politischen Alltagsarbeit verzweifelten. Seine Ausbildung bei einem an der Politik interessierten und ausgerichteten Volkswirtschaftlers und der Beginn seiner politischen Karriere in der saarländischen Staatskanzlei hatten ihn Erfahrungen sammeln lassen, mit denen er derlei Klippen umschiffen konnte. Nichtsdestotrotz ist es Klaus Töpfer auch als langjährig erfahrenem Politiker nie richtig gelungen, sich von diesem Image des Quereinsteigers freizumachen. Es blieb stets dies die Basis seiner überdurchschnittlich großen Anerkennung bei seiner eigenen Partei und in der Öffentlichkeit. In diesem Sinne vereinte er die „positiven“ Seiten des Seiteneinsteigertums auf seiner Person: ein im Vergleich eher unabhängiger, glaubwürdiger Politiker, geschätzt auf vielen Seiten der politischen Debatte. Die negativen Aspekte der fehlenden Verwurzelung innerhalb der Christdemokratie und der daraus folgenden engen Grenzen seiner Gestaltungsmacht im Kabinett Kohl wurden ihm aber auch rasch aufgezeigt. Der Versuch, den Schritt über die Figur des Fachpolitikers hinaus zu machen, misslang gründlich. Die Verstetigung seines Seiteneinstiegs hin zu einem klassischen Parteipolitiker gelang Töpfer nicht. Dass er nach seinen Saarniederlagen nicht aus der Politik verschwand, sondern sich auf der Ministerebene halten konnte, mag auch damit zusammen hängen, dass er sich als Bauminister wieder an ganz konkreten Problemen und Aufgaben von überschaubarer Reichweite und – vor allem – ohne übermächtige Gegner beweisen konnte. Auch sein Wechsel auf die Ebene der Vereinten Nationen war für ihn von Vorteil. Denn dass er als „Denker“ einer künftigen Umweltpolitik fungieren wollte, hatte er in den Jahren als Bundesumweltminister gezeigt. In Nairobi maß man ihn an eben jenen Gedanken und Konzepten, nicht an deren pragmatischer Umsetzung. Die Tatsache, dass die Thematik der Umwelt, ihrer Bedrohung und ihres Schutzes, über lange Jahre immer wichtiger wurde in der deutschen Politik, hat den Boden geschaffen, dass ein der Politik nicht originär nahe stehender Mann wie Töpfer über so lange Zeit Ansehen und Ämter behalten konnte. Die überaus lange Präsenz auf der Bühne der deutschen Politik könnte man darüber hinaus mit Töpfers Karriereverlauf, mit seinem für einen Quereinsteiger langsamen Lernweg und den darüber gesammelten Erfahrungen begründen. Dass er sich nach seinen – nicht in Gänze freiwilligen – Versuchen, Ministerpräsident des Saarlandes zu werden, wieder auf die Fachpolitikerposition zurückzog, mag auch in eben jenen Erfahrungen verwurzelt sein. Und dass er nach seinem Rückzug aus den Vereinten Nationen wieder den Weg an die Universitäten suchte und fand sowie das Angebot abschlug, in Berlin als Spitzenkandidat erneut für die CDU anzutreten, ebenso.
Ursula Lehr – „Ich muss ja nicht ewig Ministerin bleiben“1. Die gescheiterte Seiteneinsteigerin Silke Schendel
Ursula Maria Lehr war eine erfolgreich Professorin der Alternsforschung, als sie im Dezember 1988 als Familienministerin vereidigt wurde. Die 58-jährige Heidelberger Wissenschaftlerin besaß zu dieser Zeit kein politisches Mandat, keine innerparteiliche Hausmacht und war erst seit zwei Jahren CDU-Parteimitglied. Warum berief der Bundeskanzler und CDU-Parteivorsitzende Helmut Kohl damals ausgerechnet Ursula Lehr in sein Kabinett? Was befähigte gerade sie, einerseits biografisch und beruflich, andererseits politisch zu diesem Ministeramt, das vorher Rita Süssmuth inne hatte? Zwei Aspekte sollen in diesem Beitrag bei der Ursachenerkundung im Fall Lehr von besonderem Interesse sein: Erstens macht diese umstrittene Ministerberufung programmatische und personalpolitische Konfliktlinien in der CDU sichtbar. Sie steht symptomatisch für den Führungsstil und die Machtmuster des „Systems Kohl“2 und gibt somit Auskunft über die machtpolitischen Konstellationen an der CDU-Spitze Ende der 1980er Jahre. Und zweitens steht die überraschende Berufung Ursula Lehrs, ihre mangelnde innerparteiliche Verankerung sowie ihre relativ kurze Amtszeit von rund zwei Jahren beispielhaft für das Dilemma eines fachlich kompetenten, doch politisch scheiternden Seiteneinsteigers.
Lebenslauf und Karriere Ursula Lehrs: selbstverständlich emanzipiert Der Lebensgeschichte und Glaubwürdigkeit der Ministerin kam bei der Besetzung des Familienministeriums eine große Bedeutung zu. Mehr als bei anderen Ministerien wurden die Eigenschaften der Ressortchefin mit den Erwartungen an ihre Politik verknüpft. Auf diese Weise besaßen eigentlich private Merkmale wie der Familienstand, die Anzahl der Kinder und die Konfession in einem ideologisch umkämpften und das Privatleben so stark widerspiegelnden Politikfeld einen starken Vorbildcharakter.3 Habitus und Lebensweg der Kandidatin standen auch deswegen stärker im Vordergrund, weil das Ressort, im Vergleich zu den mächtigeren Wirtschafts- und Finanzressorts, mit wenigen realen Kompetenzen ausgestattet war. Die Ministerin besaß gewissermaßen die Aufgabe, die Machtdefizite dieses Ressorts mithilfe einer möglichst präsentablen Persönlichkeit zu kompensieren. Nicht zuletzt waren die Eigenschaften, die sie verkörperte, gewissermaßen ein Spiegel für die vorherrschenden frauen- und familienpolitischen Vorstellungen innerhalb der CDU/CSU. Die Ministeriumsbesetzung symbolisierte, dass das Frauenthema von der Regierung auf1 Zitat der Bundesministerin Ursula Lehr für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit (Dezember 1988 bis Januar 1991) nur drei Monate nach Amtsbeginn, in: o.V.: Ratlos gelassen, in: Der Spiegel, 20.02.1989. 2 Zum „System Kohl“ vgl. Bösch, Frank: Macht und Machtverlust, München 2002, S. 108 ff. 3 Vgl. Münch, Ursula: Familienpolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Maßnahmen, Defizite, Organisation familienpolitischer Staatstätigkeit, Freiburg im Breisgau 1990, S. 200.
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gegriffen wurde und sollte auf diese Weise Wählbarkeit bei der christdemokratischen Klientel herstellen.4 Ursula Lehrs persönliche Entwicklung und ihre berufliche Situation wirkten vor diesem Hintergrund zunächst wie Musterbeispiele. Als Kohl sie Ende November 1988 als Kabinettsmitglied auswählte, hatte Lehr scheinbar beste Ausgangsvoraussetzungen, eine erfolgreiche Ministerin zu werden. Die 1930 in Frankfurt geborene Ursula Leipold wuchs als Tochter eines Bankkaufmanns und einer Hausfrau in einem bildungsbürgerlich-konservativen, katholischen und geordneten Elternhaus auf. Sie wurde schon früh als begabt und intelligent charakterisiert, übersprang eine Gymnasialklasse und legte ihr Abitur mit sehr guten Noten auf dem Mädchengymnasium Offenbach ab. Bereits mit neunzehn Jahren heiratete sie Helmut Lehr und absolvierte alle Stationen ihrer raschen wissenschaftlichen Karriere als Ehefrau und Mutter.5 Als 21-Jährige bekam die Studentin der Psychologie, Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte ihren ersten Sohn, und während ihrer Promotionszeit wurde sie Mutter eines zweiten Sohnes. Auf die Promotion 1954 – Thema: „Beiträge zur Psychologie der Periodik im kindlichen Verhalten“ – folgten verschiedene wissenschaftliche Assistentenstellen an Psychologielehrstühlen in Bonn und Frankfurt. Lehr, die als berufstätige Mutter von ihrem Mann stets in ihrer wissenschaftlichen Karriere unterstützt wurde, habilitierte sich 1968 an der Psychologischen Fakultät Bonn. Das Thema liest sich wie ein programmatischer Titel zu ihrem persönlichen Werdegang: „Berufs- und Lebensschicksal – die Berufstätigkeit der Frau aus entwicklungs- und sozialpsychologischer Sicht“. Ein Jahr später machte sie ihr Examen als Diplom-Psychologin und erfüllte Lehraufträge für Pädagogik und Psychologie an den Universitäten Bonn und Köln. 1986 erhielt sie den bundesweit ersten Lehrstuhl für Altersforschung und wurde Direktorin des Heidelberger Gerontologie-Instituts. Für ihre Forschungsverdienste wurde sie 1987 mit dem Bundesverdienstkreuz Erster Klasse ausgezeichnet, zählte noch im gleichen Jahr zu den Gründungsmitgliedern der Berliner Akademie der Wissenschaften und erhielt 1988 die Ehrendoktorwürde der Universität Fribourg/Schweiz.
Forschung und Thesen: „Berufstätigkeit ist die beste Altersvorsorge der Frau“ Im Laufe ihrer akademischen Karriere hat sich Ursula Lehr vor allem auf zwei Forschungsschwerpunkte spezialisiert, nämlich auf die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie auf die Gerontologie, d.h. die Alternsforschung. Lehr hat auf das „n“ stets viel Wert gelegt, da sie im Sinne ihrer lebenslaufpsychologisch orientierten Wissenschaft das Alter nicht als statischen Zustand verstand (und alte Menschen nicht als homogene Gesellschaftsgruppe), sondern als Alternsprozess, dessen Verlauf sich aus dem bisherigen individuellen Lebenslauf und den sozialen und persönlichen Strukturen des alternden Menschen begreifen lässt.6
4
Vgl. Münch 1990, S. 195 und S. 200. Vgl. Gerlach, Irene: Ursula Lehr, in: Kempf, Udo/Merz, Hans-Georg (Hrsg.): Kanzler und Minister 1949-1998, Wiesbaden 2001, S. 421-424. 6 Vgl. Schmitz-Scherzer, Reinhard u.a. (Hrsg.): Altern: ein lebenslanger Prozess der sozialen Interaktion. Festschrift zum 60. Geburtstag von Frau Professor Ursula Maria Lehr, Darmstadt 1990, S. 3-6. 5
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Vehement hat sie gegen den demografischen Terminus der „Überalterung der Gesellschaft“ gekämpft, die nach ihren Erkenntnissen eigentlich eine „Unterjüngung“ darstellte.7 In Ursula Lehrs Wissenschaft bestand zwischen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf (insbesondere bei Frauen) und dem menschlichen Alternsverlauf ein direkter Zusammenhang: Soziale Strukturen und Lebensentscheidungen eines Menschen im ersten und zweiten Lebensdrittel dachte sie stets ausgehend von seiner Lebenssituation im Alter.8 In ihren Studien vertrat Lehr die These, dass Eheleute grundsätzlich als gleichberechtigte Partner in Arbeit, Haushalt und Erziehung begriffen werden sollten, weil es sowohl die Erziehung als auch die Kommunikation zwischen den Ehepartnern und schließlich das letzte Lebensdrittel einer Frau positiv beeinflusse, wenn sie als Mutter auch berufstätig sei. Die vollzeitliche häusliche Erziehung von Kleinkindern bezeichnete sie als „Mythos Nestwärme“ und als „Betüttelung“, konsequent wendete sie sich gegen die „Glorifizierung der Mutter- und Gattinnen-Rolle“.9 Ihre Studien stellten die außerhäusliche Betreuung von Vorschulkindern nicht nur als eine zeitliche, sondern auch als eine soziale Notwendigkeit für die Entwicklung des Kindes als Person dar. Vor allem aber würde die Kinderbetreuung der Mutter nützen. Die Berufstätigkeit sei zudem „die beste Altersvorsorge der Frau“10, denn eine Frau könne nur dann selbstbestimmt altern, wenn sie sich zeitlebens nicht auf die Rolle als Ehefrau und Mutter beschränke, sondern die Strukturen einer außerfamiliären Berufstätigkeit als soziale, ökonomische und kommunikative Altersvorsorge begreife („Geroprophylaxe“11). Dabei waren Lehrs gesamte wissenschaftliche Veröffentlichungen von einem positiven Menschenbild durchzogen: Sowohl das Kind, der Mann und die Frau in Ehe und Beruf, aber vor allem der alternde Mensch sollten in der Familie stets in gleichberechtigter Partnerschaft zueinander stehen. Ihrem Ideal nach sollten die Menschen – der Kohortenspezifität ihres Verhaltens und Erlebens angemessen – ohne Bevormundung, kompetent, aktiv, leistungsfähig, interessiert und selbständig agieren können.12 Sowohl für das Verhalten und Kommunizieren von Frauen und Männern, von Älteren und Jüngeren, in der Familie wie im Beruf galt dabei die Prämisse: „Wer etwas leistet, setzt sich durch.“13
7
Lehr, Ursula: Die Jugend von gestern – und die Senioren von morgen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B. 20/2003, S. 3 ff., hier S. 3. 8 In ihrem 1972 erstmals erschienenen Standardwerk „Psychologie des Alterns“ behandelt sie die individuellen Verlaufsformen des Alterns, die von der bisherigen Lebensentwicklung eines Menschen bestimmt werden; vgl. Lehr, Ursula: Psychologie des Alterns, Wiebelsheim 2007. 9 Lehr, Ursula: Ist Frauenarbeit schädlich? Im Spannungsfeld von Familie und Beruf, Zürich 1979, S. 38; dies.: Zur Situation der älterwerdenden Frau. Bestandsaufnahme und Perspektiven bis zum Jahre 2000, München 1987, S. 5. Zur kritischen Auseinandersetzung mit Lehrs Thesen vgl. Brunner, Reinhard: Eine unbarmherzige Psychologie. Anmerkungen zur Familien- und Gerontopsychologie Ursula Lehrs, Frankfurt am Main u.a. 1990. 10 Reitz, Ulrich: „Die Signale der CDU-Frauen kamen beim Kanzler nicht an“, in: Die Welt 30.11.1989. 11 Ursula Lehr in: Protokoll des CDU-Bundesparteitags in Essen 1985, S. 339. 12 Vgl. Schmitz-Scherzer, Reinhard 1990, S. 3-6. 13 Lehr zitiert nach Jansen, Mechthild: Porträt Ursula Maria Lehr, in: Deutsche Volkszeitung, 09.12.1988.
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Die Professorin als Politikberaterin: CDU-verbunden und progressiv Obwohl ihre Thesen nicht unmittelbar dem gängigen Frauenbild der CDU zu entsprechen schienen,14 wirkte Ursula Lehr doch als Ministerin und damit Repräsentantin einer christdemokratischen Frauenpolitik plausibel. Denn erstens war sie für das Frauen-, Familienund Seniorenressort fachlich äußerst qualifiziert, zweitens gab sie sich in ihren Veröffentlichungen und Äußerungen niemals feministisch-kämpferisch. Sie lebte und lebt ihr Berufsund Privatleben, wie selbstverständlich, emanzipiert. Mechthild Jansen nennt ihre Geisteshaltung „unideologisch aufgeklärt modern“15. Denn aus stabilen, gebildeten und wohlhabenden Verhältnissen stammend, musste Ursula Lehr nie für ihren Aufstieg kämpfen oder ihre Anerkennung einfordern, sondern hatte stets die Möglichkeit, kompetent, aktiv und partnerschaftlich im Sinne ihrer eigenen Terminologie zu leben. Kurz: Sie verkörperte und verkörpert den Anspruch an einen Lebensweg, den sie anderen Frauen und Familien ermöglichen wollte. Lehrs Schwerpunkte Frauen- und Alternsforschung, in der Wissenschaftslandschaft fast Alleinstellungsmerkmale, hatten in den gesellschaftlichen und politischen Diskussionen der 1970er und 1980er Jahre an Bedeutung gewonnen. Claus Leggewie bündelte die Vorstellungen in der fortschrittlichen Strömung der CDU, welche die Aufgaben von Frauen nicht mehr allein in den Betätigungsfeldern „Kinder-Küche-Kirche“ sah, Ende der 1980er Jahre so: „Die Frauen-Fraktion der Christdemokratie spekuliert auf moderate Frauen, denen die SPD zu traditionalistisch […] auf Angleichung an das männliche Lebensmodell fixiert erscheint und die bei den Grünen […] der radikale ‚Emanzenjargon’ abschreckt. Eine Art Brigitte-Modell der Emanzipation soll es sein.“16 Die „Gerontologin der ersten Stunde“17 Lehr war eine gefragte Beraterin zunächst im Familienbeirat des Familienministeriums der sozialliberalen Koalition. Nach dem Koalitionswechsel 1982 beriet sie auch das unionsgeführte Familienministerium und wurde 1985 Beraterin des damaligen Familienministers und CDU-Generalsekretärs Heiner Geißler, dem Initiator des Modernisierungskurses innerhalb der Union. Unter seiner Federführung war sie Mitverfasserin der „Leitsätze der CDU für eine neue Partnerschaft zwischen Mann und Frau“ und nahm mit einem progressiven Redebeitrag am ersten Frauenparteitag der CDU in Essen 1985 teil.18 Lehr und ihre Vorgängerin im Amt, Rita Süssmuth, waren zudem Mitautorinnen des Geißler-Bandes „Abschied von der Männergesellschaft“19. Doch nicht nur Geißler nahm von der Heidelberger Gerontologie-Professorin Notiz. Auch Kanzler Kohl wollte das aufkommende „Frauenthema“ für die CDU wahltaktisch besetzen. Bereits 1985 14 „Die christdemokratische Sicht der Frau war geprägt vom Bild der Andersartigkeit der Frau. […] Die erste und höher stehende Tätigkeit der Frau war die als Mutter und Hausfrau. Erst dann folgten in der Bewertung die berufliche und politische Arbeit.“ Süssmuth, Hans: Kleine Geschichte der Frauen-Union. Erfolge und Rückschläge 1948-1990, Baden-Baden 1990, S. 157. 15 Jansen, Mechthild: Das Claudia-Nolte-Phänomen, Bonn 1997, S. 31. 16 Leggewie, Claus: Der Geist steht rechts. Ausflüge in die Krise der Union, Frankfurt am Main 1990, S. 131. 17 Hebestreit, Steffen: Ursula Lehr. Uni-Karriere, in: Frankfurter Rundschau, 07.12.2007. 18 „Heutzutage – und da kann ich eine Reihe fundierter Untersuchungen bringen – bedeutet die außerhäusliche Tätigkeit, die in vielen Fällen Berufstätigkeit ist, die aber auch außerhäusliches Engagement in Partei, Kommune, Kirche, Gemeinde usw. sein kann, die beste Geroprophylaxe. Tatsache ist, dass heute ausschließlich familienzentrierte Frauen den schlechtesten Alternsprozess haben.“ Ursula Lehr in: Protokoll des CDU-Bundesparteitags in Essen 1985, S. 338 f. 19 Geißler, Heiner (Hrsg.): Abschied von der Männergesellschaft. Mit dem dokumentarischen Anhang der „Leitsätze der CDU für eine neue Partnerschaft zwischen Mann und Frau“, Frankfurt am Main 1986.
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war Ursula Lehr deshalb seine Favoritin für das Amt der Familienministerin, doch Geißler war zu diesem Zeitpunkt innerparteilich noch stark genug, um Rita Süssmuth als seine Nachfolgerin durchzusetzen.20 Lehr verfügte zudem über gute Verbindungen zum Südwest-Landesverband der CDU: Sie gehörte dem „Tonbacher Kreis“ an, einem Beraterstab aus Wissenschaftlern und Publizisten um den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Lothar Späth. Letzterer verhalf Lehr zu ihrem Heidelberger Lehrstuhl und setzte seine Landsmännin gezielt für seine wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Modernisierungskampagnen ein.21 Nur zwei Wochen vor ihrer Ministerkür machte er Lehr zur wissenschaftlichen Leiterin des Stuttgarter Zukunftskongresses zum Thema „Altern“ sowie zur Mitherausgeberin des zweibändigen Werkes „Altern als Chance und Herausforderung“.22 Trotz dieser Kontakte zum politischen Personal und zu politischen Institutionen ihres Fachgebiets kann man Ursula Lehr zum Zeitpunkt ihrer Vereidigung als politische Seiteneinsteigerin bezeichnen. Denn obwohl sie sich durch ihre Beratertätigkeiten der CDU angenähert hatte, verstand sie sich als Wissenschaftlerin, nicht als Parteipolitikerin. Ihre Ambitionen waren vor allem auf die Etablierung ihres Fachgebietes und der öffentlichen Verbreitung ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse bezogen, die sie ja ebenfalls dem SPDFamilienministerium gewährte – nicht auf Parteipolitik oder gar Parteikarriere.
Erwartungen an die neue Ministerin: gemilderte Süssmuth Lehrs Einstieg in die aktive Politik war die Folge einer politischen Kettenreaktion im November 1988. Nachdem Bundestagspräsident Philipp Jenninger infolge seiner Parlamentsrede zum fünfzigsten Jahrestag der Reichspogromnacht zurücktreten musste, berief Kanzler Kohl die als Familienministerin zu widerspenstig gewordene Rita Süssmuth zu dessen Nachfolgerin.23 Mit der überraschenden Entscheidung für die progressive Heidelberger Professorin Ursula Lehr konnte Kohl zum einen die Modernisierer in der Union befriedigen, die nach dem Weggang Süssmuths um ihren einzigen Sitz im Kabinett bangten.24 Zum anderen demonstrierte Kohl mit seinem Quasi-Alleingang seinen Machtanspruch sowie seine Handlungsfähigkeit. Zudem trug er dem Parteiproporz und vor allem den damaligen innerparteilichen Machtverhältnissen Rechnung. Zu dieser Zeit, im Jahr 1988, war nämlich der baden-württembergische Landesverband des scheidenden Jenninger mit Ministerpräsident Späth an der Spitze der einzige, der der kriselnden Union einen Landtagswahlerfolg mit absoluter Mehrheit beschert hatte. Auf der Suche nach Süssmuths Nachfolgerin war die erfolgreiche, stets freundlich wirkende Gerontologin und verheiratete Mutter aus Baden-Württemberg also ganz nach Kohls Geschmack. Ihr neues Bundesministerium zählte nicht nur all ihre Forschungs- und Interessengebiete praktisch in einer Reihe auf und deckte damit die wichtigen Unionswäh20
Vgl.: o.V.: Wer etwas leistet, setzt sich durch, in: Der Spiegel, 09.12.1988. Vgl. Lukoschat, Helga: Kohl fand die neue Frau, in: die tageszeitung, 30.11.1988; Leggewie 1990. Späth, Lothar/Lehr, Ursula (Hrsg.): Altern als Chance und Herausforderung, Stuttgart 1990. 23 Bundestagspräsident Jenninger schaffte es in seiner missverständlichen Bundestagsrede vom 10. November 1988 nicht, sich rhetorisch ausreichend von den NS-Verbrechen zu distanzieren. Einige Abgeordnete verließen im Eklat über das „Faszinosum“ Hitler das Plenum; vgl. Dreher, Klaus: Helmut Kohl. Leben mit Macht, Stuttgart 1998, S. 397ff.; Casdorff, Stephan-Andreas: Die Frau aus dem Zylinder, in: Süddeutsche Zeitung, 30.11.1988. 24 Vgl. Schöller, Gunhild: Nur ein Symbol, in: die tageszeitung, 01.12.1989. 21 22
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lerschichten Frauen und Senioren ab.25 Sie stand auch fachlich ganz in der Kontinuität Süssmuths, ihr Schwerpunkt „Altern und Demografie“ schien jedoch dem unionsinternen Konsens mehr entgegenzukommen und versprach weniger widerspruchsträchtig zu werden als die Steckenpferde ihrer weggelobten Vorgängerin. Die damaligen Erwartungen an Lehrs Auftreten und Stil lassen sich somit auf den Begriff „gemilderte Süssmuth“ bringen.26
Ministerin ohne Hausmacht: von Kohl abgeleitete Autorität Bei ihrem Einstieg in die aktive Politik besaß Lehr zwar die Ressource großer wissenschaftlicher Glaubwürdigkeit, sie hatte jedoch außer der Unterstützung Einzelner keine politischen Ressourcen, keine parteipolitischen Netzwerke innerhalb der CDU. Sie genoss zwar die fachliche Anerkennung Kohls, Geißlers und Späths, war jenseits der Parteispitze in der CDU jedoch weitgehend unbekannt und damit ohne machtpolitischen Rückhalt, kurz: ohne eine politische Hausmacht. Ihr Quereinstieg entsprach in diesem Sinne der von Bösch analysierten Kohlschen „informellen Führung“27, in deren Zentrum die Personalpolitik als wichtigstes Machtmittel stand. Seit Kohls Amtsantritt als Kanzler (und der Personalidentität als Parteivorsitzender) wurden die personalpolitischen Entscheidungen immer weniger aus der CDU-Parteizentrale, sondern vor allem aus dem Kanzleramt heraus entschieden. Die von Kohl geförderten Persönlichkeiten waren oft eigenständige Denker, jedoch ohne eigenständige Machtbasis, stammten aus dem Südwesten und waren relativ unbekannt, bis Kohl sie mit sicherem Gespür entdeckte: „Kohl erhoffte sich so, zugleich loyale und innovative Politiker hervorzubringen.“28 Die Seiteneinsteiger waren infolge dieses von Kohl bewusst eingesetzten Machtmusters bei der Personalauswahl allein von seiner politischen Gunst als Kanzler und Parteivorsitzendem abhängig und verfügten in ihrem Amt lediglich über eine von ihm „abgeleitete Autorität“.29 Dieses Machtmuster bezieht sich nicht nur auf die Person Ursula Lehrs wie im vorliegenden Fall, sondern verstärkt sich noch durch den geringen Stellenwert ihrer Institution, dem Familienministerium. Traditionell wurde das damals mit geringen Kompetenzen ausgestattete Ministerium für Jugend, Frauen, Familie und Gesundheit häufig mit Seiteneinsteigern besetzt, die nach der Legislaturperiode wieder ausgetauscht wurden, je nach Proporzsituation und Personalbesetzungstaktik gern mit einer „Quotenfrau“ im Kabinett.30 Innerhalb der Machtarchitektur des Regierungskabinetts besaß das Familienministerium laut Münch zudem die strukturelle Schwäche, grundsätzlich nur unter „Kanzlervorbehalt“, in diesem Fall also unter der Zustimmung Kohls persönlich, agieren zu können. Somit war der sach- und machtpolitische Einfluss des Ministeriums von der persönlichen Beziehung zwischen Kanzler und Ministerin abhängig.31 Dieses Machtdefizit vergrößerte sich noch durch die Konstellation, in der sich das Familienministerium als „Querschnittsressort“ befand. Es musste gleichzeitig mehrere Zuständigkeiten abdecken, für deren 25
Vgl. o.V.: Ein Stück Pionierarbeit für Familie und Beruf, in: Bonner General-Anzeiger, 30.11.2004. Jansen 1997, S. 35. Bösch 2002, S. 121. 28 Ebd., S. 111. Neben Lehr stehen auch Kurt Biedenkopf, Bernhard Vogel, Norbert Blüm und Geißler beispielhaft für diese Machtmethode Kohls. 29 O.V.: Wer etwas leistet, setzt sich durch, in: Der Spiegel, 08.12.1988. 30 Vgl. Münch 1990, S. 242. 31 Vgl. ebd., S. 252. 26 27
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Durchsetzung es aber lediglich mit einem geringem finanziellen Spielraum und geringen eigenen Federführungsrechten ausgestattet war. Außerdem besaß (und besitzt) es mit dem Justiz-, Wirtschafts- und vor allem dem Finanzministerium mächtige Gegenspieler innerhalb des Kabinetts.32 Um sich gegen diese konkurrierenden Interessen durchzusetzen, benötigte die jeweilige Ministerin im Konfliktfalle umso dringender die Unterstützung des Kanzlers. Da für dessen Politikprämissen beispielsweise die Zahl der Arbeitsplätze zumeist schwerer wog als wohlfahrtsstaatlich anmutende Familienpolitik, war die Chance einer Kanzler-Rückendeckung für die Familienministerin denkbar gering und die Wahrscheinlichkeit eines offensiven Eintretens für die Frauen- und Familienpolitik gegenüber den anderen Ressorts folglich sehr begrenzt.33 Die Institution des Ministeriums stand deshalb stets unter dem Verdacht, die Frauen- und Familienpolitik zwar symbolisch zu besetzen, während reale Veränderungen im Grunde unerwünscht waren. Um sich in dieser ungünstigen Machtarchitektur dennoch zu positionieren, benötigte die jeweilige Ressortchefin eine starke Rückendeckung also umso dringender; entweder in Form einer großen öffentlichen Popularität oder einer mächtigen Interessengruppe als Hausmacht.34 Die Lehr-Berufung war für Kohls Rekrutierungsmuster auch insofern exemplarisch, als dass sich der Kanzler zum vierten Mal mit einem Professor in seinem Kabinett schmückte. Lehrs Kür ist insgesamt der fünfte Quereinstieg in Folge gewesen, mit dem Kohl erneut verhinderte, dass ein verdientes Fraktionsmitglied in ein exekutives Amt aufsteigen konnte.35 Hinzu kommt, dass Kohl lediglich die Kandidatin Ursula Lehr selbst sowie Ministerpräsident Späth bei seiner Personalentscheidung konsultierte. Erst nach deren Zusagen hatte er die CDU-Fraktion informiert.36 Dass Kohl, wie schon bei der Süssmuth-Einsetzung drei Jahre zuvor, die 245 Abgeordneten der Bundestagsfraktion, darunter die neunzehn Fraktionsfrauen sowie die Fraktionsführung, bei dieser Personalentscheidung gänzlich überging, wirkte wie eine Niederlage der Fraktion gegenüber der Macht des Kanzleramts. Der Affront der wiederholten Berufung eines/r Nicht-Abgeordneten in ein exekutives Amt ließ auf diese Weise die programmatischen und personellen Konfliktlinien innerhalb der CDU-Spitze aufbrechen.37
32 Vgl. Gerlach, Irene: Familie und staatliches Handeln. Ideologie und politische Praxis in Deutschland, Opladen 1996, S. 180. 33 Vgl. Münch 1990, S. 252 und S. 254. 34 Vgl. ebd., S. 252 ff. und S. 258. 35 Weitere Professoren im Kabinett waren Kanzleramtsminister Waldemar Schreckenberger, Staatsrechtsprofessor Rupert Scholz (Verteidigungsminister 1988-1989) und die Erziehungswissenschaftlerin Rita Süssmuth (Familienministerin 1985-1988); vgl. Dreher 1998, S. 397 f. Die Seiteneinsteiger vor Lehr waren Frankfurts Oberbürgermeister Walter Wallmann (Umweltminister 1986-1987), Raumordnungsprofessor Klaus Töpfer (Umweltminister 1987-1994) sowie Rita Süssmuth; vgl. o.V.: Wer etwas leistet, setzt sich durch, in: Der Spiegel, 09.12.1988. 36 Vgl. Bannas, Günter: Enttäuschung in der Unionsfraktion nach Kohls Entscheidung für Frau Lehr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.1988; Reitz, Ulrich: Kohl landet Überraschungscoup: Professorin Lehr wird Ministerin, in: Die Welt, 30.11.1988. 37 Vgl. Winter, Martin: Die Unionsfrauen spielen keine Rolle, in: Frankfurter Rundschau, 30.11.1988. Siehe auch Bösch 2002, S.75 f.
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Konflikthafter Einstieg: Frauen-Aufstand und Dregger-Krise Die Debatte um die Lehr-Berufung lässt einen Vertrauensschwund zwischen Kanzler und Fraktion erkennen, der in beide Richtungen verlief: Auf der einen Seite bildet die Rekrutierung einer Außenstehenden wie eine „Kontrastfolie“ ab, dass das Vertrauen von Kohl in das Potenzial seiner eigenen Bundestagsfraktion geschwunden war. Denn die Fraktionsfrauen, mit Rita Süssmuth an der Spitze, hatten Kohl zuvor eine eigene Wunschkandidatin für das Familienministerium vorgeschlagen: Roswitha Verhülsdonk, langjähriges CDUFraktionsmitglied und zudem Vize-Vorsitzende der Frauen-Union. Doch weil die Fachpolitikerin eine entschiedene Vertreterin der traditionellen Frauenpolitik war, erschien sie Kohl, der zu diesem Zeitpunkt den Modernisierungskurs seines Generalsekretärs Geißler noch mittrug, „zu farblos, zu katholisch, nicht modern genug.“38 Die Fraktionsfrauen reagierten mit Enttäuschung, Wut und Neid, da ihre eigene Partei bei der Besetzung entscheidender Stellen auf eine Seiteneinsteigerin zurückgriff.39 Zudem sahen sie durch den Alleingang Kohls ihre aktive langjährige Fraktionsarbeit sowie die Glaubwürdigkeit ihres Engagements grundsätzlich infrage gestellt. Verhülsdonk kritisierte Kohl offen und warf ihm Undankbarkeit vor, da sich in der Fraktion der entmutigende Eindruck durchsetzte, „man müsse Professorin sein und von außerhalb der Fraktion kommen, um in Bonn Ministerin zu werden. Wer in der Partei diene, habe keine Chance.“40 Ebenso fragten sich die Vorsitzende der Fraktionsfrauen Ursula Männle und die stellvertretende Vorsitzende Leni Fischer frustriert, was die Fraktionsfrauen noch leisten müssten, um von Kohl berücksichtigt zu werden.41 Sein Verhalten verunsichere die Basis und behindere das Bemühen der Unionsfrauen, junge Frauen zur aktiven Parteipolitik zu motivieren. Rita Süssmuth, Bundesvorsitzende der Frauen-Union, drückte zwar ihre fachliche Wertschätzung gegenüber Ursula Lehr aus, schloss sich dennoch dem „Frauen-Aufstand“ gegen Kohl an: „Es müsse geklärt werden, wie diese Entscheidung in Bezug auf die Qualifikation von Fraktionsfrauen für ein Ministeramt zu verstehen sei.“42 Jenseits der enttäuschten Personalwünsche hatten die Vorwürfe gegen Kohl noch einen umfassenderen Hintergrund. Denn der Essener CDU-Parteitag 1985, wegen seines Schwerpunkts auch „Frauenparteitag“ genannt, hatte die christdemokratischen Frauen hoffen lassen, dass ihr Stellenwert innerhalb der CDU dauerhaft und messbar steigen würde. Doch bislang hatten sie sich vergeblich für einen spürbaren Kompetenzzuwachs des Frauenressorts, für die innerfraktionelle Frauenquote sowie eine Erhöhung des Frauenanteils in Spitzenämtern eingesetzt.43 Der Handlungsbedarf in der Union stieg auch deshalb an, weil sich die CDU gerade den Wählerinnen als wichtige Zielgruppe nicht mehr sicher sein konnte. Diese hatten lange 38 In der Diskussion wurde zusätzlich Verhülsdonks NSDAP-Mitgliedschaft als Gegenargument angeführt; vgl. Lukoschat, Helga: Ministerkandidatin war in der NSDAP, in: die tageszeitung, 25.11.1988; Herles, Helmut: Überraschung und leise Enttäuschung über die Entscheidung des Kanzlers, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.12.1988; Casdorff, Stephan-Andreas: Die Frau aus dem Zylinder, in: Süddeutsche Zeitung, 30.11.1988. 39 Vgl. Winter, Martin: Die Unionsfrauen spielen keine Rolle, in: Frankfurter Rundschau, 30.11.1988. 40 Reitz, Ulrich: Die Signale der CDU-Frauen kamen beim Kanzler nicht an, in: Die Welt, 30.11.1989. 41 Vgl. ders.: Kohl landet Überraschungscoup: Professorin Lehr wird Ministerin, in: Die Welt, 30.11.1988. 42 Heptner, Bernd: Frau Lehr befürchtet soziale Konflikte, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.12.1988; Banners, Günther: Frauen-Union enttäuscht und verärgert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.12.1988. 43 Die CDU hatte mit weniger als zehn Prozent den geringsten Frauenanteil; vgl. Leggewie 1990, S. 131; o.V.: Frau Süssmuth: Die CDU muss mehr Frauen mit Ämtern betrauen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.01.1989.
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als „sichere Bank“ gegolten, die der CDU einen quasi-automatischen Stimmenanteil von ca. 47 Prozent bescherten. Doch seit Beginn der 1970er Jahre wendeten sich vor allem jüngere Frauen zwischen achtzehn und 34 Jahren der SPD Willy Brandts zu.44 Auf der anderen Seite machte die Lehr-Berufung auch sichtbar, dass das Vertrauen der Fraktion zu Fraktionschef Dregger und zum Kanzler geschwunden war. Denn dass der CDU-Fraktionsvorsitzende und Kohl-Getreue Alfred Dregger das Votum für Verhülsdonk, und damit die Interessen und den Unmut seiner Fraktionsmitglieder gegenüber dem Kanzler, nicht vertreten hatte, werteten die Abgeordneten als Schwäche und Mutlosigkeit. Diese „Dregger-Krise“45 setzte sich in einem Machtkampf zwischen Dregger und dem Fraktionsvize Volker Rühe fort. Dieser warf Dregger Bequemlichkeit vor, forderte mehr Mitentscheidungsbefugnisse für die Abgeordneten und reklamierte für sich, die Fraktionsinteressen gegenüber dem Kanzler selbstbewusster geltend machen zu können.46
Der Krabbelstuben-Konflikt 1989: fortschrittlicher als die CDU erlaubt Aufgrund der Konflikte, die ihre Berufung in der Fraktion ausgelöst hatte, besaß die designierte Ministerin Ursula Lehr trotz ihres Sachverstands denkbar ungünstige Ausgangsvoraussetzungen, sich einen Rückhalt in den Reihen der CDU aufzubauen. Sie bewies in ihren ersten Amtstagen zudem wenig politisches Fingerspitzengefühl, sich auf die Regeln ihres neuen, politisch dominierten Umfelds einzustellen. In der Manier einer Professorin, die sich in Fachfragen überlegen weiß, empfand sie es als Zumutung, sich rechtfertigen zu müssen. So legte sie in ihrer ersten Fraktionssitzung den verdutzten Abgeordneten eine Leseliste mit ihren Publikationen vor und fordert sie auf, diese abzuarbeiten. Auch bei Kritik von Mitarbeitern oder Journalisten verwies sie stets auf eine ihrer sechshundert Veröffentlichungen.47 Nur zwei Monate nach ihrem umstrittenen Amtsantritt verhinderte ein progressiver Vorschlag Lehrs, dass weitere innerparteiliche Unterstützung entstehen konnte. Im sogenannten „Krabbelstuben-Konflikt“ fand das gegenseitige Unverständnis zwischen der Union und der Familienministerin seinen Höhepunkt. Indem Lehr entsprechend ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse forderte, Kindergärten auch für unter Dreijährige zu öffnen, um ihren Müttern eine frühe Berufstätigkeit zu ermöglichen, kollidierte sie mit den „Heim-undHerd“-Konservativen in der Union sowie verschiedenen unionsnahen und katholischen Verbänden. Vor allem aus den Reihen der wertkonservativen CSU, die befürchtete, ihre Kernwählerschaft würde sich in der Frauenfrage nicht mehr in der Union wiederfinden, wurde Lehr scharf attackiert. Das christsoziale Parteiorgan „Bayernkurier“ warf Lehr vor, dass Kinder gar nicht früh genug von Müttern weggebracht werden sollen und fragte sich, ob die „Frühablieferung von Zweijährigen“ nun das „verbindliche neue Mutter- und Kinderbild der Bundesregierung oder gar der Union“48 sei. Die bayerische Staatsregierung mit Ministerpräsident Max Streibl an der Spitze ging sogar so weit, Lehrs Vorschlag mit DDR44 Vgl. Leggewie 1990, S. 126; Schönbohm, Wulf: Wie die Essener Leitsätze entstanden sind und was sie bewirkt haben, in: Geißler (Hrsg.) 1986, S. 178-189. 45 Geis, Matthias: Der Minister als Kiebitz, in: Die Zeit, 16.12.1988. 46 Vgl. o.V.: Finger im Wind, in: Der Spiegel, 12.12.1988; Reitz, Ulrich: Rühe: Die Fraktion ist nicht das Schmieröl der Regierung, in: Die Welt, 05.12.1988. 47 Vgl. Jansen 1997, S. 57; o.V.: Ratlos gelassen, in: Der Spiegel, 20.02.1989. 48 O.V.: Scharfe Attacke gegen Ursula Lehr, in: Süddeutsche Zeitung 26.01.1989.
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Verhältnissen zu vergleichen.49 Ihre Vorgängerin, Rita Süssmuth, gab der Familienministerin in diesem Konflikt zwar fachlich Recht, machte jedoch Lehrs undiplomatisches Auftreten dafür verantwortlich, dass sich auch vorher Wohlgesonnene von ihr abwendeten. Das galt vor allem für ihren zuvor entschiedensten Fürsprecher Kanzler Kohl, dem zentralen Faktor für Lehrs politisches Standing.50 Dieser versagte ihr in diesem innerparteilichen Konflikt die Rückendeckung, weil er einsehen musste, dass Lehr mit ihren konkreten Forderungen nicht die ihr zugedachte Rolle als widerspruchslose Repräsentantin im Kabinett, als Wählerinnenmagnet für die CDU-Klientel spielen konnte. Als die CDU im Zuge von Geißlers Modernisierungskurs die Wünsche moderner Frauen in ihr Programm einbezogen hatte, waren die Traditionalisten diesem Wandel nur widerwillig gefolgt – nämlich solange, wie daraus keine konkreten Schlussfolgerungen gezogen wurden. Lehrs Krippenvorschlag ließ diese Konfliktlinie nun zu Tage treten; ihr Vorschlag wurde „von den Traditionalisten, nicht selten in gewolltem Missverständnis, als Anschlag auf Familie und Mutterschaft verstanden“51.
Die CDU verlässt den Modernisierungskurs: Druck von Rechts und Links Kohl befand sich seit Mitte der 1980er Jahre in dem Dilemma, die Interessen der traditionellen CDU-Kernwählerschaften und gleichzeitig den modernen Frauenkurs vertreten zu wollen. Dass Kohl die Öffnung seiner Partei Anfang 1989 nicht mehr weiterverfolgte und somit die progressiven Forderungen seiner erst kürzlich berufenen Ministerin als Illoyalität ansah, fand vor dem Hintergrund der andauernden Wahl- und Popularitätsverluste statt, welche die Union in Bezug auf ihr Spitzenpersonal, ihr Selbstverständnis und ihre programmatische Ausrichtung tief verunsichert hatten. Schon seit der verlorenen Bundestagswahl 1987 sah die Union ihre strukturelle Mehrheitsfähigkeit auf Bundesebene gefährdet – vor allem die gesunkenen Stimmenanteile der CDU waren verantwortlich für das schlechteste Unionswahlergebnis von 44,3 Prozent seit 1949. 1987 wurde „das Krisenjahr der Union“52. Die schleswig-holsteinische BarschelAffäre und der darauf folgende Verlust der Kieler Landesregierung an die SPD im Mai 1988 verstärkten die allgemeine Krisenstimmung und den Abwärtstrend der CDU noch. Die Christdemokraten lagen in Wahlumfragen regelmäßig hinter der SPD, ebenso sanken die Zustimmung zur Koalition und zu Kohl persönlich (seine Popularität erreichte 1989 den Tiefstand von 27 Prozent), der sich verstärkter innerparteilicher Kritik sowohl von Seiten der Konservativen als auch der Modernisierer ausgesetzt sah.53 Als die CDU im Januar 1989 in einem Erdrutschverlust von 9,1 Prozent die Regierungsmehrheit in West-Berlin überraschend an einen rot-grünen Senat verlor und zudem die Republikaner erstmals ins Abgeordnetenhaus einzogen, brachen sich die programmatische Verunsicherung sowie der Ruf nach einem Kurswechsel der CDU vollends Bahn. Weil sich die CDU nun nicht mehr nur von links (SPD und Grüne), sondern auch vom rechten Rand (Republikaner) angegrif49
Vgl.: o.V.: Ratlos gelassen, in: Der Spiegel 20.02.1989. Vgl. ebd. Siehe auch o.V.: Nicht zu früh in den Kindergarten, in: Süddeutsche Zeitung 08.02.1989; Jansen 1997, S. 56; o.V.: CSU attackiert Ministerin Lehr, in: Frankfurter Rundschau, 26.01.1989. 51 Zundel, Rolf: Rückwärts in die Offensive, in: Die Zeit 21.04.1989. 52 Becker, Felix: Kleine Geschichte der CDU, Stuttgart 1995, S.154 ff. 53 Vgl. Niclauß, Karlheinz: Kanzlerdemokratie. Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Paderborn u.a. 2004, S. 25, S. 250 und S. 272; Becker 1995, S. 156 f. 50
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fen fühlte, wurde Kohl, vor allem aber dem Generalsekretär Geißler die vorangetriebene Linksöffnung der CDU vorgeworfen.54 Der CSU-Parteivorsitzende Waigel sah die Modernisierungsbemühungen der Union als gescheitert an und forderte als Konsequenz, sich von Geißler zu distanzieren. Die Union solle sich lieber auf die klassischen, wertkonservativen Stammwähler rückbesinnen, darunter die von der neuen Frauen- und Familienpolitik verunsicherten Wählerinnen.55 Die Berufung der Seiteneinsteigerin Lehr im Dezember 1988 samt ihrer ersten Amtsmonate fand also mitten in einem innerparteilichen Wandlungsprozess statt, in welchem sich die Union bereits wieder von dem Mitte der 1980er Jahre begonnenen Modernisierungskurs, in dessen politisches Fahrwasser auch Lehrs Berufung einzuordnen ist, abwendete.
Die Professorin als Politikerin: sachkompetent und kompromisslos Vor diesem Hintergrund betrachtet, argumentierte das neue Kabinettsmitglied Lehr in der Krippenfrage zu Beginn des zweiten christdemokratischen Krisenjahres 1989 jenseits der damaligen politischen Durchsetzbarkeit und des (sich neu orientierenden) christdemokratischen Konsens’. Sie erweist sich somit als Paradebeispiel für die Ambivalenz des Phänomens „politische Seiteneinsteiger“: Lehrs große Stärken als Wissenschaftlerin, ihre Sachkompetenz verbunden mit Kompromisslosigkeit, bedeuteten gleichzeitig die Schwächen der Politikerin Lehr. Sie konnte nicht akzeptieren, dass politischer Erfolg vor allem mit der Aushandlung mehrerer kleiner Fortschritte erreicht werden konnte, anstatt darauf zu bestehen, einen – möglicherweise zu progressiven – Vorschlag sofort und umfassend durchzusetzen. Für die Seiteneinsteigerin wirkte es sich nachteilig aus, dass sie mangels Verwurzelung in der CDU keine Strukturen, kein funktionierendes „Warnsystem“, keine Mahner und Berater besaß. An dieser Stelle wird deutlich, dass Lehr eben keine Ochsentour durch die verschiedenen Parteigliederungen der CDU absolviert hatte, mithilfe derer sie mit den zentralen Personen und Gegnern ihres Politikfelds, den mitunter langwierigen Entscheidungsfindungsprozessen, der Kompromisshaftigkeit, den Mechanismen, kurz: den Spielregeln von Parteipolitik, vertraut gewesen wäre. Ähnlich wie zuvor Süssmuth, zeigte sie sich im Verlauf der Diskussion nicht fähig, Zugeständnisse zu machen.56 Darin liegt der Kern zum Verständnis ihres „Scheiterns“ als Ministerin. Denn ihrer Ansicht nach waren ihre Überzeugungen wissenschaftlich und empirisch belegbar, damit wahr, und nicht – auch nicht politisch – verhandelbar. Mit ihrer mangelnden Anpassungsbereitschaft verhielt sie sich, mit politischen Maßstäben gemessen, unprofessionell, was ihre trotzige Reaktion auf die Kritik einmal mehr zeigte: „Sie werde 54
Vgl. Becker 1995, S. 156 f. Vgl. Kaiser, Carl-Christian: Viel Asche, doch keine Buße, in: Die Zeit, 10.02.1989. 56 Süssmuth über ihre Konflikte mit Kohl: „Meine Aussagen und Konzepte, die es den Frauen durch einen Ausbau der Kinderbetreuung und Ganztagsschulen ermöglichen sollten, Beruf und Familie besser oder überhaupt erst verbinden zu können, stießen in Teilen der CDU auf heftige Ablehnung. Dies entspreche nicht dem Verständnis der Union, Kinder seien am besten in der Familie aufgehoben. Und auch der Kanzler mahnte: Ich sollte mich unbedingt stärker zurückhalten und meine politische Arbeit stärker an den Familienmüttern ausrichten, weniger an den erwerbstätigen Müttern.“ Süssmuth, Rita: Wer nicht kämpft, hat schon verloren – Meine Erfahrungen in der Politik, München 2000, S. 129. 55
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ihre Ansicht nicht ändern und ganz bestimmt nicht kuschen. Je mehr sie angefochten werde, desto aggressiver werde sie.“57 Bereits drei Monate nach ihrem Amtsantritt als Politikerin stellte die Professorin lakonisch fest: „Ich muss ja nicht ewig Ministerin bleiben.“58 Und tatsächlich war bereits im April 1989 unter anderen auch Lehrs Ministerposten Gegenstand innerparteilicher Diskussionen, als der Kanzler mit einer großen Kabinettsumbildung auf die anhaltenden Wahlverluste und Krisensymptome reagieren wollte.59 Doch nach fünf Amtsmonaten wollte Kohl sie nicht bereits wieder austauschen. Dass im Zuge dieser Personaldebatten vor allem die innerparteiliche Bedeutung Heiner Geißlers als CDUGeneralsekretär zur Disposition stand, entzog Ursula Lehrs ohnehin kleinem Kreis politischer Unterstützer einen weiteren, vormals mächtigen Fürsprecher. Ein weiterer Faktor, der zu Lehrs Schwierigkeiten bei der Etablierung einer eigenen Machtbasis wesentlich beitrug, stellte die zunehmende Verärgerung der eigenen Ministeriumsmitarbeiter über ihre Ressortchefin dar. Diese beklagten wiederholt den fehlenden Willen Lehrs, sich über die unter ihrer Vorgängerin Süssmuth erarbeiteten Gesetzesvorlagen zu informieren und monierten in ihrer Amtszeit immer wieder, dass die Ministerin sich auf politische Forderungen beschränke, statt konkrete Gesetzesvorhaben auszuarbeiten.60 Einen sicheren Indikator für das gestörte innerministerielle Vertrauensverhältnis und die daraus resultierende – buchstäbliche – fehlende „Haus-Macht“ stellten darüber hinaus die Versuche der Beamten und Mitarbeiter aus ihrem unmittelbaren politischen Umfeld dar, ihre Ministerin zu diskreditieren und zu skandalisieren.61 So wurde ihr aus dem eigenen Hause heraus öffentlich vorgeworfen, sie missbrauche den Ministeriumsetat für Forschungsgelder und -aufträge für ihre eigenen akademischen Kollegen. Schließlich wurde der Dienstherrin angelastet, sie kümmere sich zu wenig um das Innenleben des Hauses, verbreite „Desorganisation und Missmanagement“; die Ministerin sei eine „unzugängliche Insel“.62 Als Tiefpunkt von Lehrs politischen Führungsqualitäten kann die Absicht ihres Ministeriumspersonalrats betrachtet werden, gegen die Familienministerin wegen eklatanter Verletzung der Mitbestimmungsrechte vor dem Verwaltungsgericht zu klagen.
Geringe öffentliche Unterstützung: Süssmuth dominiert Ob ein Politiker, insbesondere ein Seiteneinsteiger, sich auf der politischen Bühne etablieren kann, hängt nicht nur vom parteipolitischen und innerministeriellen Kontext, sondern auch von seiner Wahrnehmbarkeit ab. Dabei sind die Häufigkeit sowie der Tenor der medialen Berichterstattung mitentscheidend dafür, wie der Politiker von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Mehr als bei der Berufung eines „durchschnittlichen“ Berufspoliti57 O.V.: Aus CDU und FDP Forderungen auf mehr familienpolitische Leistungen, in: Der Tagesspiegel, 01.02.1989. 58 O.V.: Ratlos gelassen, in: Der Spiegel, 20.02.1989. 59 Die grundsätzliche Kritik konnte Kohl mit dem Revirement jedoch nicht mehr abwenden, sein Rücktritt wurde mittlerweile fast von der Hälfte aller Wahlberechtigten gefordert; vgl. Niclauß 2004, S. 272; o.V.: Kommt jetzt die Kurskorrektur?, in: Der Spiegel, 27.02.1989. 60 Vgl. o.V.: Ratlos gelassen, in: Der Spiegel, 20.02.1989. 61 Zur Bedeutung der „strapazierfähigen Hausmacht“ für einen skandalierten Politiker siehe Geiger, Thomas/Steinbach, Alexander: Auswirkungen politischer Skandale auf die Karriere der Skandalierten, in: Jarren, Otfried/Schatz, Heribert/Weßler, Hartmut (Hrsg.): Medien und politischer Prozess. Politische Öffentlichkeit und massenmediale Politikvermittlung im Wandel, Opladen 1996, S. 119-133. 62 O.V.: Mein Lieblingskind, in: Der Spiegel, 31.07.1989; o.V.: Unzugängliche Insel, in: Der Spiegel, 12.02.1990.
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kers hat ein Seiteneinsteiger durch das verstärkte mediale Interesse zunächst gute Ausgangsvoraussetzungen, sich und seine Themen im öffentlichen Bewusstsein zu platzieren. Denn sein Auftreten auf der politischen Szene, das die Strukturen der parteilichen Personalrekrutierung umgeht, entspricht den Erfordernissen der medialen Berichterstattung von Personalisierung, Zuspitzung und Dramatisierung optimal. Das Neue, Unkonventionelle, vielleicht sogar Exotische der Person und der Biografie des Seiteneinsteigers sind an sich mindestens eine Schlagzeile sowie einen Hintergrundbericht wert. Da Lehrs Auftritt auf der politischen Bühne wie schon beschrieben ein „Überraschungscoup“ des Kanzlers Kohl darstellte, griffen diese medialen Mechanismen in ihrem Fall und verschafften Lehr einen Aufmerksamkeitsvorsprung. Die Neu-Politikerin konnte das große mediale und öffentliche Interesse an ihrer Berufung jedoch nicht dauerhaft für sich nutzen. Vielmehr blieben die in Lehrs Amtszeit öffentlich diskutierten Themen, die nicht ihrem unmittelbarem Interesse als Altersforscherin entsprachen, d.h. Einzelbereiche der Frauen-, Familien- und Gesundheitspolitik wie die Abtreibungsdebatte, das Gleichberechtigungsgesetz, die Frauenquote und die Vergewaltigung in der Ehe, von ihrer Amtsvorgängerin besetzt.63 Süssmuth hatte zwar offiziell das Amt der Bundestagspräsidentin inne, blieb jedoch mit dem Frauenthema präsent und genoss in der Öffentlichkeit nach wie vor große Popularität als Wegbereiterin und Verkörperung einer modernisierten CDUFrauenpolitik.64 Ihre Kompetenz und ihr Expertenrat in Themenbereichen, die nun offiziell in Lehrs Ressort gehörten, waren in den Medien nach wie vor sehr gefragt.65 Das lag zum einen daran, dass Lehr bei ihrem Amtsantritt verkündete, die Politik ihrer Vorgängerin in den wichtigen Fachfragen fortsetzen zu wollen.66 Damit signalisierte sie, dass sie Süssmuth als Referenzpersönlichkeit anerkannte und somit auf eine eigene Profilierung verzichtete, mit Ausnahme ihrer Schwerpunktsetzung auf der Alternspolitik. Nach Jansen blieben auch unter Lehrs Ministerschaft die von Süssmuth formulierten politischen Ansprüche „Bezugspunkt und Maßstab für das, woran CDU- und Regierungspolitik gemessen werden. Rita Süssmuth ist die einflussreichste und wirkungsvollste CDU-Frau geblieben.“67 Die anhaltende Dominanz Süssmuths in Frauenthemen lag nicht zuletzt in einem innerparteilichen Aspekt begründet. Diese hatte 1986, zusätzlich zu ihrem Ministerium, den Vorsitz der Frauen-Union übernommen, d.h. der innerparteilichen Vereinigung der BundesCDU, welcher automatisch jedes weibliche Parteimitglied angehört. Auf diese Weise konn63 Vgl. Jansen 1997; vgl. im Einzelnen Graupner, Heidrun: Der Aufstand der Unionsfrauen. Das Gleichberechtigungsgesetz soll nicht länger vor sich hindümpeln, in: Süddeutsche Zeitung, 29.01.1992; Flothmann, Karin: Vergewaltigung in der Ehe ist immer noch nicht strafbar, in: die tageszeitung, 13.01.1995; o.V.: Frau Süssmuth: Die CDU muss mehr Frauen mit Ämtern betrauen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.01.1989; o.V: Kommt jetzt die Kurskorrektur?, in: Der Spiegel, 27.02.1989. 64 Vgl. Leggewie 1990, S. 128 ff.; Bösch 2002, S. 253 ff. Zur Popularität Lehrs wird auch ihre Kritik an der beliebten Fernsehserie „Schwarzwaldklinik“ nicht beigetragen haben: Lehr kritisierte im Januar 1989 eine Folge, in der ein Kleinkind an einer Verhaltensstörung leidet, weil seine Mutter voll berufstätig ist. Die Kritik steht exemplarisch für Lehrs Frauen- und Kinderbild: „Schwarzwaldklinik propagiert ein überaltertes Rollenklischee. Als Entwicklungspsychologin […] kann ich zu dieser Sendefolge nicht schweigen. Die drastische Darstellung der Verhaltensstörung […] ist dazu angetan, eine breite Öffentlichkeit falsch zu informieren, negative Einstellungen gegenüber jungen berufstätigen Müttern zu erzeugen und damit diese selbst zu verunsichern.“ Ursula Lehr zitiert nach: Brunner 1990, S. 38. 65 Vgl. Süssmuth, Rita: „Für viele Altvorderen zuviel verlangt“, in: Der Spiegel, 20.02.1989. 66 Statt vieler vgl. Reitz, Ulrich: Kohl landet Überraschungscoup: Professorin Lehr wird Ministerin, in: Die Welt, 30.11.1988; Lukoschat, Helga: Kohl fand die neue Frau, in: die tageszeitung, 30.11.1988. 67 Jansen 1997, S. 52.
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te sie sich ein Mindestmaß an innerparteilichem Rückhalt sichern.68 Als Ursula Lehr Frauenministerin wurde, ließ sie wiederum diese Möglichkeit der innerparteilichen Machtabsicherung verstreichen, denn Süssmuth weigerte sich anlässlich ihres Ausscheidens aus dem Ministeramt, den Vorsitz der Frauen-Union automatisch an ihre Nachfolgerin abzutreten. Lehr kümmerte sich andererseits auch nicht aktiv um eine Vorsitzkandidatur gegen Süssmuth und die damit verbundene Chance, die Gunst und den Rückhalt der Frauen-Union zu erringen.69 Diese Konstellation lässt sich in zwei Sätzen so zusammenfassen: Erstens: Süssmuth schien als „Nur-Vorsitzende“ der Frauen-Union einflussreicher zu sein als die eigentlich zuständige Ministerin Lehr.70 Zweitens: Lehr blieb als Ministerin ganz im Schatten des frauenpolitischen „Originals“, ihrer Vorgängerin Rita Süssmuth.
Kaum eigenes Profil: Vorschläge, Maßnahmen, Gesetze Wie dargelegt, bewegte sich Ursula Lehr in einer Konstellation aus zum Teil selbstverschuldeten, teilweise kontextbedingten machtpolitischen Defiziten. Was konnte sie in ihrer 26-monatigen Amtszeit als Bundesministerin trotzdem politisch durchsetzen? In vielen, eher symbolisch bleibenden Forderungen, Empfehlungen und Publikationen ergriff sie im Sinne ihrer Forschungsergebnisse deutlich Partei für die Vereinbarung der beruflichen Entwicklung der Frauen neben oder nach der Erziehungsaufgabe, indem sie sich vor allem für neue Rollenbilder, mehr Möglichkeiten der Teilzeitarbeit und der Wiedereingliederung sowie die Schaffung neuer sozialversicherungspflichtiger Stellen für Frauen im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs aussprach. Tatsächliche, materielle Verbesserungen konnte sie in der Kontinuität der Süssmuthschen politischen Schwerpunkte vor allem in drei Bereichen bewirken: Familienpolitik, Kinderbetreuung und soziale Sicherung.71 Die Familienpolitik hatte sich seit dem Regierungswechsel 1982 in einer Phase der Neuorientierung befunden, die einerseits den Familienlastenausgleich umstrukturiert und das duale Organisationsprinzip aus Kindergeld und Steuerfreibeträgen wieder eingeführt hatte. Vor allem seit der verstärkten Wahrnehmung von Familienpolitik ab 1985 war das Instrumentarium des Ministeriums um eine Reihe neuer Elemente erweitert worden, die erst unter Süssmuths, dann unter Lehrs Ägide ausgebaut wurden. Dazu zählen die Gesetze zur Erhöhung des Erziehungsgeldes und des Erziehungsurlaubs in zwei Etappen und der Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung. Zudem wurden unter Lehr die steuerliche Absetzbarkeit einer Haushaltshilfe und die Anhebung der Steuerfreibeträge für Familienhilfen realisiert.72 In den frauenpolitischen Bereich ihrer Amtszeit fallen zwei bereits unter Süssmuths Führung initiierte Berichte zur „gezielten Frauenförderung in Unternehmen“ (1988) und zur „Umsetzung der Richtlinie zur beruflichen Förderung von Frauen in der Bundesverwal68
Vgl. Süssmuth 1990. Vgl. Reitz, Ulrich: Frau Süssmuth sieht Gefahr der Demotivation bei CDU-Frauen, in: Die Welt, 03.12.1988. 70 Zur Dominanz Süssmuths vgl. Bösch 2002, S. 253 ff. 71 Vgl. o.V.: Frau Lehr sieht verbesserte Berufschancen für Frauen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.01.1989; Jansen 1997, S.56 ff. und S. 63. 72 Vgl. Gerlach 2001; Jansen 1997, S. 57; Becker 1995, S. 170. 69
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tung“ (1990) sowie ein Gesetzentwurf zur Verbesserung der „Gleichbehandlung von Frauen und Männern am Arbeitsplatz“.73 Zudem wurden in Lehrs Amtszeit gemäß ihrem gerontologischen Schwerpunkt die ersten Maßnahmen zur steuerlichen Berücksichtung von Pflegeleistungen in Familien und die Bezahlung von Pflegezeiten an betreuende Angehörige durchgesetzt.74 Lehrs Beitrag zur Jugendpolitik besteht in der Neuordnung des 65 Jahre alten Jugendhilfegesetzes, welche schon über mehrere Legislaturperioden vorbereitet worden war und die, trotz des offenkundigen Mangels an Kinderbetreuungsplätzen, immer wieder verzögert wurde. Im Zuge dessen versprach die Ministerin als Kernstück der Reform die Durchsetzung eines klaren Rechtsanspruchs auf einen Kindergartenplatz, der sich nicht nur aufgrund der Zuständigkeit der Länder (und nicht des Bundes) für die Kinder- und Jugendhilfe nicht durchsetzen ließ.75 Wie schon beschrieben, opponierten vor allem konservative Christdemokraten und die Christsozialen in der Union – mit Verweis auf den Geldmangel des CSUFinanzministers Waigel – gegen dieses Gesetz, das sie als schleichende Demontage ihres Familienbildes zugunsten einer Vergesellschaftung der Kindererziehung betrachteten.76 Vor allem der ausgetragene Konflikt um den Krabbelstuben-Vorschlag der Ministerin führte dazu, dass ihr Gesetzesentwurf in Bezug auf die Kinderbetreuung schließlich nur verwässert durchgesetzt werden konnte. Die zum 1. Januar 1991 in Kraft tretende „Neuordnung des Kinder- und Jugendhilferechts“ enthielt schließlich vor allem Hilfen zur Unterstützung der Erziehungskraft innerhalb der Familien und lediglich unverbindliche Empfehlungen an die Bundesländer zum Angebot von außerfamiliären Betreuungsplätzen.77 Obwohl die Gesundheitspolitik einen expliziten Teil von Lehrs Ressort ausmachte, blieb sie gerade Ende der 1980er Jahre in gesellschaftlich breit diskutierten Fragen dieses Politikfelds eher passiv. Sie beabsichtigte zu Beginn ihrer Amtszeit zwar, die von Süssmuth gesetzten Schwerpunkte weiterzuführen, aber gerade in dem sozial und politisch besonders umstrittenen Umgang mit den Problemen AIDS und Schwangerschaftsabbruch (Paragraf 218) blieb ihre Amtsführung ohne eigenes Profil und ohne konkrete Ergebnisse.78 Auch die Probleme des zu dieser Zeit unter Skandalen und Unregelmäßigkeiten leidenden Bundesgesundheitsamts vermochte die Ministerin Lehr nicht entschieden einzudämmen und zu kontrollieren.79
Lehr verliert ihre Förderer: Bremer Putsch und Deutsche Einheit Durch die genannten innerparteilichen Konstellationen und Umstände zu Beginn ihrer Amtszeit hatte die Seiteneinsteigerin Lehr viele innerparteiliche Gegenspieler, aber nur wenige Fürsprecher. Wie bereits beschrieben, hatte die Ministerin bereits bis zum Sommer 73 Vgl. Vierhaus, Rudolf/Herbst, Ludolf (Hrsg.): Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949 – 2002, Band 1 A – M, München 2002, S.292 f. 74 Vgl. Gerlach 1996, S. 202; dies. 2001. 75 Vgl. Jansen 1997, S. 56 f. 76 Vgl. o.V.: Nicht gewachsen, in: Der Spiegel, 22.05.1989. 77 Vgl. Vierhaus/Herbst (Hrsg,) 2002, S. 292 f. 78 Vgl. Gerlach 2001, S. 423; Bannas, Günter: Enttäuschung in der Unionsfraktion nach Kohls Entscheidung für Frau Lehr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.11.1988; o.V.: Gesundheitsministerin Lehr warnt vor Ablehnung des AIDS-Tests, in: Der Tagesspiegel, 24.01.1989. 79 Vgl. Graupner, Heidrun: Gesundheitsschutz muss unabhängig sein, in: Süddeutsche Zeitung, 15.01.1994.
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1989 im Zuge ihres kompromisslosen Politikstils die Rückendeckung ihres Förderers Kohl verloren. Zudem war der politische Stellenwert ihres sachpolitischen Befürworters Geißler wegen des Kurswandels in der verunsicherten CDU gesunken. Lehrs Förderer und Parteifreund, der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth, war zwar stets ein innerparteilicher Kritiker Kohls gewesen. Doch „Cleverle“ Späth sah sich in der kriselnden CDU durch gute Wahlergebnisse und landespolitische Erfolge innerparteilich gestärkt. Nach Kohls weiteren Wahlschlappen und der verlorenen Europawahl im Juni 1989 wurde Späth zum christdemokratischen „Hoffnungsträger“ und „Reservekanzler“ stilisiert.80 Er verbündete sich mit dem bereits desavouierten Geißler zu einer machtpolitischen und programmatischen „Interessenidentität“ gegen Kohl, denn, so Dreher: „Der Zeitpunkt für eine Erneuerung der Partei war günstiger, als er es je zuvor gewesen war.“81 Auf diese Weise wurde auch der erstarkende Späth zu einem innerparteilichen Intimfeind Kohls, der zusammen mit Geißler, Süssmuth, Biedenkopf und dem niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht eine innerparteiliche Fronde anführte. Diese bündelte den Unmut und die Empörung gegen Kohls autokratischen Machtstil und erreichte ihren Höhepunkt im sogenannten „Bremer Putsch“ auf dem Bundesparteitag im September des CDU-Krisenjahres 1989. Da es den Modernisierern im entscheidenden Moment an Mut, Konsequenz und Unterstützung in den eigenen Reihen fehlte und Kohl sein immer noch gut ausgebautes Machtnetzwerk aktivieren konnte, schaffte es der Kanzler, als Parteivorsitzender – mit nur mäßigem Ergebnis – wiedergewählt zu werden und seine Kritiker zu entmachten. Geißler wurde nach zwölf Jahren als Generalsekretär durch den loyaleren Volker Rühe ersetzt und dem im Ländle so erfolgreichen Späth wurde der stellvertretende Parteivorsitz entzogen.82 Da er durch die plötzlich veränderten Machtverhältnisse seinen bundespolitischen Einfluss in der CDU eingebüßt hatte, verlor auch Ursula Lehr das – gerade für eine Seiteneinsteigerin so wichtige – politische Gewicht der Unterstützung ihres dritten und vormals machtvollen Mentors. Nach nur anderthalb Jahren im Amt sah sich die Ministerin den Voraussetzungen ihres lediglich kurzen Anfangserfolgs entzogen. Die eigentlich sachkompetente Seiteneinsteigerin konnte nicht nur den Verlust ihrer Förderer nicht kompensieren, sondern hatte keinen Platz im Kabinett, keine Hausmacht, keine Popularität bei ihrer Wählerklientel und kein programmatisches Profil etablieren können: „Das Wort der Ministerin hatte kein politisches Gewicht.“83 Bereits im Juli 1990, im Zuge der Vorbereitungen der Bundestagswahlen im Dezember, stand für den Kanzler fest, dass Professorin Lehr nicht erneut für ein Amt als Familienministerin im vierten Kabinett Kohl infrage kommen sollte.84 Die Deutsche Einheit und die damit einhergehenden Erfordernisse der Kabinettsumbildung waren dem Kanzler schließlich ein willkommener Anlass, die in seinem Sinne kontraproduktive Ministerin loszuwerden. Und tatsächlich erwies sich das Querschnittsministerium erneut als Spielball koalitionsinterner Überlegungen bei der Zusammensetzung des Einheitskabinetts. Um lands80
Vgl. Leicht, Robert: Ein Mann zwischen Angst und Ambition, in: Die Zeit, 14.04.1989; Becker 1995. Dreher 1998, S. 399 und S. 415. 82 Vgl. Bösch 2002, S.130 ff.; Dreher 1998, S. 401; Bösch, Frank/Brandes, Ina: Die Vorsitzenden der CDU. Sozialisation und Führungsstil, in: Forkmann, Daniela/Schlieben, Michael (Hrsg.): Die Parteivorsitzenden in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 2005, Wiesbaden 2005, S. 23-63, hier S. 50 f.; Niclauß 2004, S. 294. 83 Jansen 1997, S. 57. 84 Vgl. Biedenkopf, Kurt H.: 1989 – 1990. Ein deutsches Tagebuch, Berlin 2000, S. 270. 81
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mannschaftlichen Interessen und dem Geschlechterproporz Rechnung zu tragen, wurde es dazu benutzt, gleich drei weibliche Kabinettsplätze zu schaffen: Angela Merkel als ebenfalls quereinsteigende „Ostfrau“ erhielt ein Bundesministerium Frauen und Jugend, der CSU-Ministerin für Städtebau, Gerda Hasselfeldt, wurde nun das Ressort Gesundheit zugeordnet und der hessischen CDU-Bundestagsabgeordneten Hannelore Rönsch der Bereich Familie und Senioren.85 Jansen bewertet die Entwicklung der Besetzungsreihe des Frauenministeriums von Süssmuth über Lehr und Merkel bis Claudia Nolte in mehrfacher Hinsicht als „kontinuierlichen Abstieg“86. Dies betreffe sowohl die Popularität der jeweiligen Ministerin, die Fähigkeit, eigene Impulse zu setzen als auch das politische Standing innerhalb des Kabinetts und vor allem gegenüber ihrem gemeinsamen Chef Kohl. Die Rekrutierung dieser Ministerinnenriege verdeutliche symptomatisch, welche konservative Gegenwende in diesem Politikfeld Ende der 1980er Jahre stattgefunden hat, infolgedessen der rechte Flügel der CDU die frauenpolitische Definitionsmacht dem linken Flügel wieder abgenommen habe.87
Vom Seiteneinstieg profitiert: die Grand old Lady der Gerontologie Zwar gab Ursula Lehr nach ihrem Ausscheiden aus dem Ministeramt ihre politische Tätigkeit nicht ganz auf; 1990 wurde sie über den sicheren achten Listenplatz der hessischen CDU-Landesliste für eine Legislaturperiode in den Bundestag gewählt.88 Ihren Schwerpunkt aber legte die Professorin ab 1991 wieder auf ihre wissenschaftliche Laufbahn. Sie war als Seiteneinsteigerin in der Politik gescheitert, als Wissenschafterin jedoch profitierte sie von ihrem Zwischenspiel als Ministerin.89 Sie konnte nicht nur wieder auf ihren Heidelberger Lehrstuhl zurückkehren, sondern es gelang ihr sogar, unmittelbar an ihre wissenschaftliche Karriere anzuknüpfen. Gleichzeitig mit ihrer Bestellung zur Ministerin 1988 hatte sie sich von Ministerpräsident Späth die Unterstützung für ihre spätere Forschungsstätte, das Deutsche Zentrum für Altersforschung (DZFA), zusichern lassen. Dessen Finanzierung sollte in Kooperation Späths mit Kanzler Kohl von Bund und Land gemeinsam getragen werden. Die Verhandlungen zu den Einzelheiten der Finanzierung hatten sich jedoch, auch wegen des beschädigten Verhältnisses von Kohl und Späth, fast über sieben Jahre hingezogen – erst 1995 wurde Lehr als treibende Kraft der zähen Verhandlungen schließlich Gründungsdirektorin des DZFA. Darüber hinaus wurde sie 1997 zur Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie gewählt. Zum Zeitpunkt ihrer Emeritierung 1998 war die Gerontologie-Expertin Ehrenmitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften, Gastprofessorin, Ehrendoktorin und Trägerin diverser Auszeichnungen in ihrem Fachgebiet. Gemäß ihrer lebenslang vertretenen wissenschaftlichen Devise des aktiven, kompetenten Alterns, nutzt sie auch ihre eigene nachberufliche Lebensphase als Vortragsrednerin, CDU-Wahlkampfhilfe, Autorin und Interviewpartnerin. Bis in die Gegenwart hinein wirbt sie für die aktive Gestaltung der immer länger 85
Vgl. Gerlach 2001; dies. 1996, S. 202. Jansen 1997, S. 30. 87 Vgl. ebd., S. 30-33. 88 Das Mitglied des Bundestages Lehr war, gemäß ihrer Forschungsschwerpunkte, Mitglied im Ausschuss für Bildung und Wissenschaft sowie stellvertretendes Mitglied im Ausschuss für Familie und Senioren. 89 Vgl. Vierhaus/Herbst (Hrsg.) 2002, S. 292 f. 86
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werdenden letzten Lebensphase, ein Miteinander der Generationen und die gesellschaftliche Verankerung eines neuen Alter(n)sbewusstseins. Gleichzeitig warnt sie vor den Folgen einer demografischen „Unterjüngung“.90
Zusammenfassung: Misserfolg trotz Kompetenz Welche Erkenntnisse kann die Analyse des Falls Lehr nun zur Theorie über „politische Seiteneinsteiger“ beitragen? Zunächst: Die bloße fachliche Kompetenz nützt dem Seiteneinsteiger für seinen Erfolg im neuen politischen Umfeld wenig. Dieser ist lediglich einer von mehreren Faktoren, die im Zusammenspiel über seinen Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Ein weiterer wichtiger Faktor ist der machtpolitische Rückhalt von Seiten seiner Förderer in der Parteispitze, der Fraktion oder anderen innerparteilichen Gruppen. Falls seine Mentoren sich jedoch abwenden, weil sich ihre politischen Prioritäten gewandelt haben oder die politischen Ziele des Seiteneinsteigers nicht (mehr) opportun sind, verliert dieser seinen zentralen machtpolitischen Rückhalt. Als dritter Faktor ist deshalb seine eigene Motivation wichtig, sich darüber hinaus in der Partei eine Hausmacht zu organisieren sowie öffentliche Zustimmung zu erhalten. Viertens trägt der politische Wille des Seiteneinsteigers, sich die Taktiken und Spielregeln der politischen Entscheidungsprozesse anzueignen, zu seinem Erfolg auf der politischen Bühne bei. Wenn diese Voraussetzungen ganz oder teilweise fehlen, führen sie zum Misserfolg von Seiteneinsteigern in der Politik. Diese Konstellation lässt sich an den Mechanismen im Fall Lehr fast exemplarisch durchdeklinieren. Wie schon häufig wandte Helmut Kohl bei der Lehr-Berufung seine Machtmethode an, eine erfolgreiche Wissenschaftlerin ohne innerparteilichen Rückhalt zu rekrutieren, die somit vor allem auf seine Fürsprache angewiesen war. Die anfängliche Unterstützung Kohls und ihrer beiden anderen Mentoren Geißler und Späth verlor die Ministerin jedoch innerhalb weniger Monate, weil sich die programmatischen und machtpolitischen Konstellationen in der CDU Ende der 1980er Jahre veränderten. Nach einer langen Reihe verlorener Wahlen war die Union verunsichert und entfernte sich bereits wieder von dem innerparteilichen Modernisierungskurs – zu dem Lehrs Rekrutierung gezählt werden kann – und wandte sich auch in der Familienpolitik wieder einem klassisch-konservativen Kurs zu. Die gewandelte innerparteiliche Großwetterlage spiegelte sich in den personellen Konstellationen wider, die die Ministerin Lehr direkt betrafen. Denn entweder wandten sich ihre früheren Mentoren – wie Kohl – wegen inhaltlicher Differenzen von ihr ab, oder büßten innerhalb der CDU an machtstrategischer Bedeutung ein – so wie Geißler und Späth. Auch in der CDU-Fraktion war der machtpolitische und inhaltliche Rückhalt für Ursula Lehr von Beginn an begrenzt. Weil der Kanzler die Unionsabgeordneten bei dieser Personalie zum wiederholten Male übergangen hatte, waren die Ausgangsvoraussetzungen für ein tragfähiges Verhältnis der Ministerin Lehr zur Fraktion schwierig. Hier gab es bereits eine Sollbruchstelle, noch bevor die Ministerin überhaupt vereidigt war. Die Differenzen zwischen der Fraktion und der neuen Ministerin verschärften sich im „Krabbelstuben90 Vgl. Lehr, Ursula: Die Kunst des Alterns, in: Welt am Sonntag, 22.07.2007; dies. 2003; Bergsdorf, Wolfgang: Aktivität schützt vor Verkümmerung. Ursula Lehr zum 75. Geburtstag, in: Die Politische Meinung, H. 6/2005, S. 8.; o.V. Ursula Lehr: Der „alte Bellheim“ täte unserer Gesellschaft gut. Die CDU im Kreis Neuwied thematisiert den demografischen Wechsel, in: Bonner Generalanzeiger, 08.10.2005; Bühlmann, Beat: Interview Ursula Lehr. Den Generationenkrieg nicht herbeireden, in: Tages-Anzeiger, 06.04.2005.
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Konflikt“, als Lehrs familienpolitische Vorstellungen den konservativen Abgeordneten zu weit gingen Ursula Lehr war jedoch selbst nicht aktiv und engagiert genug, um diese Vertrauensverluste auszugleichen und sich neue Hausmachtstrukturen, beispielsweise in der Frauenunion, aufzubauen. Zudem hatte sie es versäumt, die zunächst bestehende Loyalität ihrer Ministerialbeamten aufrechtzuerhalten. Ebenso konnte sie das große Medieninteresse am „Überraschungscoup“ ihrer Berufung nicht dauerhaft für sich nutzen. Dazu kam, dass in der öffentlichen Wahrnehmung ihre Vorgängerin Rita Süssmuth die dominierende Figur für die Frauenpolitik blieb. Insgesamt befand sich Lehr daher in einer machtpolitischen Konstellation, in der die positiven Faktoren, also ihr anfänglicher Rückhalt in der Parteispitze und den Medien, innerhalb kurzer Zeit verschwanden, während die nachteiligen Faktoren weiter bestehen blieben. Der eigene politische Wille ist eine wesentliche Bedingung für den Erfolg eines Seiteneinsteigers in der Politik. Seine Fähigkeit, sich die Regeln der politischen Entscheidungsfindung anzueignen und gleichzeitig sein Alleinstellungsmerkmal zu behalten, bestimmen, ob und wie lange er seine politischen Ziele durchsetzen kann. Ursula Lehr fehlte dieser Wille. Ihr politisches Scheitern als CDU-Familienministerin stellt einen offenkundigen Gegensatz zu ihrem außerordentlichen Erfolg als Wissenschaftlerin dar. Was unterscheidet nun also die Fähigkeiten der Wissenschaftlerin von denen der Politikerin? Lehrs Ehrgeiz galt allein ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Sie wurde von Kohl wegen ihrer fachlichen Kompetenz, progressive sowie sachorientierte Forschung zu betreiben, in ihr politisches Amt berufen. Während sie als Professorin primär der Wahrheitsfindung nachging, ließen sich ihre wissenschaftlichen Prinzipien nicht ohne Reibungsverluste auf den politischen Betrieb übertragen. Sie besaß präzise Vorstellungen von den Inhalten ihres Ressorts, jedoch fehlte ihr das politische Handwerkszeug, Fingerspitzengefühl und Verhandlungsgeschick, um diese auch tatsächlich politisch umzusetzen. Ihre Kompromisslosigkeit bedeutete in ihrem Fall, fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse als nicht verhandelbar anzusehen. Auf diese Weise fehlte ihr die zentrale politische Fähigkeit, sich Rückhalt zu organisieren, Mehrheiten zu suchen und Beschlüsse auszuhandeln. Weil sie ihren Platz ohnehin in der Wissenschaft sah, besaß sie das politische Machtbewusstsein nicht, ihren Kabinettsposten gegen Widerstände zu verteidigen. Diese Widerstände bei der Umsetzung von Lehrs wissenschaftlichen Ergebnissen stellen sich auch nach über zwanzig Jahren noch immer als konflikthafte Wiedergänger dar. Bis heute scheinen sich die Konfliktlinien in der Kinderbetreuungsdebatte nicht wesentlich geändert zu haben. Angesichts der Diskussionen um eine „Herdprämie“, Vätermonate sowie flächendeckende frühe Krippenbetreuung um die derzeitige CDU-Familienministerin Ursula von der Leyen – ebenfalls eine Seiteneinsteigerin – sind Gesetzesvorhaben zu denselben Themen noch immer nicht ohne den innerparteilichen Widerstand der konservativen Unionsanhänger möglich. An deren Gegenargumenten, so scheint es, hat sich seit Lehrs Amtszeit ebenfalls wenig geändert. Abschließend lässt sich feststellen, dass Ursula Lehr in ihrem politischen Amt wenig bewirken konnte, während sie in eigener Sache, als Wissenschaftlerin, direkt von ihrer Zeit und ihren Kontakten als aktive Politikerin profitierte. Denn unmittelbar nach ihrer Ministerzeit verwirklichte sie mithilfe ihrer politischen Mentoren Kohl und Späth ihr großes Projekt: ein Wissenschaftszentrum für Alternsforschung in Heidelberg aufzubauen und dessen Leiterin zu werden. Insofern verwundert es nicht, dass ihre Äußerung „Ich muss ja
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nicht ewig Ministerin bleiben“, bereits vorwegnahm, dass der politische Seiteneinstieg der Professorin Ursula Lehr lediglich eine Episode bleiben sollte.
Paul Kirchhof – kein Seiteneinsteiger Ina Brandes
Mit der Nominierung Paul Kirchhofs für ihr Kompetenzteam gelang Unions-Kanzlerkandidatin Angela Merkel ein wirklicher Coup. Vollkommen überraschend für die Öffentlichkeit insgesamt und somit auch den politischen Gegner holte die CDU-Vorsitzende den wohl anerkanntesten und meist geachteten Experten für deutsches Steuerrecht in ihr Team. Das allein wäre schon eine beachtliche politisch-strategische Leistung in dem nun so plötzlich ausbrechenden Wahlkampf gewesen – einen Seiteneinsteiger aus dem Hut zu zaubern, der offenkundig alles das mitbrachte, was die deutsche Öffentlichkeit in ihrer natürlichen Skepsis gegenüber der politischen Klasse von einem Seiteneinsteiger erwartet: Glaubwürdigkeit, Vertrauenswürdigkeit, Kompetenz. Noch viel wichtiger als die Präsentation eines echten intellektuellen „Promi“ als Aushängeschild für die CDU war für Merkel freilich Folgendes: Sie hatte sich mit dieser Entscheidung auf einen Schlag des (scheinbar) größten Problems entledigt, das der CDU in diesem Wahlkampf zu drohen schien – der personellen Repräsentanzlücke der Union im Bereich der Finanzpolitik.1
Das „Original Kirchhof“ statt der „Kopie Merz“ Als der Bundeskanzler Gerhard Schröder nach dem Debakel der Sozialdemokratie bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen am 22. Mai 2005 beschloss, mit dieser – der rotgrünen – parlamentarischen Konstellation nicht mehr regieren zu können, schien die Lage für die CDU mehr als günstig zu sein:2 Gerade hatte man das letzte sozialdemokratische Stammland eingenommen, die Umfragewerte für die SPD im Bund schwankten um die dreißig Prozent, während der CDU in den „Sonntagfragen“ regelmäßig absolute Mehrheiten versprochen wurden.3 Auch die kurze Vorbereitungszeit für die Wahl schien dank eben dieser guten Werte verkraftbar, finanziell und personalpolitisch war man leidlich vorbereitet. Allerdings mit dieser einen, großen Ausnahme: Merkel hatte keinen Finanzministerkandidaten. Gewiss, das Finanzministerium fiel ohnehin meist in die Hände eines der Regierungspartner, oft der CSU, gelegentlich der FDP.4 Dennoch: Ohne einen Ministerkandidaten von hinreichendem öffentlichen Ansehen und Gewicht konnte man einen Wahlkampf, der sich zentral um das angebliche haushalterische Unvermögen und die grundsätz1 Vgl. Lahnstein, Manfred: Die gefesselte Kanzlerin. Wie die Große Koalition sich selbst blockiert, Bergisch Gladbach 2006, S. 44 f. 2 Vgl. Malzahn, Claus Christian: Selbstmord aus Angst vor dem Tod, in: http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/0,1518,357088,00.html [eingesehen am 25.03.2008]. 3 Siehe u.a. o.V.: Absolute Mehrheit für die Union, in: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518, 358746,00.html [eingesehen am 25.03.2008]. 4 Einzige Ausnahmen waren Franz Etzel (1957-1961), Kurt Schmücker (November 1966) und Gerhard Stoltenberg (1982-1989) – die CDU stellte somit nur in elf ihrer 36 Regierungsjahre bis 2005 den Finanzminister.
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liche finanzpolitische Verantwortungslosigkeit der amtierenden Regierung drehen sollte, nicht führen. Die einzige Person in der Union mit einem solchen Ansehen und politischen Können hatte Merkel einige Jahre zuvor selbst demontiert. Mit Friedrich Merz hatte sie 2002 den Finanzexperten der Union von der Bundestagsfraktionsspitze verdrängt und damit das persönliche Verhältnis zu ihm so nachhaltig gestört, dass eine enge Zusammenarbeit in einem Bundestagswahlkampf, geschweige denn in einer Bundesregierung, fortan ausgeschlossen war.5 Einen Finanzpolitiker aus der zweiten Reihe der Bundestagsfraktion zu nehmen, verbot sich. Denn es wäre zu offensichtlich der Versuch gewesen, den eigentlichen Fachmann Merz zu umgehen, als dass diese Person eine wirkliche Chance gehabt hätte, sich in diesen wenigen Monaten bis zur Wahl zu einer ernsthaften finanzpolitischen Autorität zu entwickeln. Und auch aus den Bundesländern konnte Merkel niemand Geeigneten rekrutieren: Die Hessen hatten ihr Kontingent an wichtigen Posten im Schattenkabinett mit Landtagsfraktionschef Franz Josef Jung ebenso ausgeschöpft wie die Baden-Württemberger mit ihrer Ministerin Annette Schavan. Niedersachsen steuerte Ursula v. d. Leyen bei und die anderen CDU-geführten Regierungen hatten keinen Kandidaten, der sich aufdrängte. Blieb der bayerische Finanzminister Kurt Faltlhauser. Er verfügte sicher über das nötige politische Format und fachliche Wissen. Doch auch er konnte aufgrund des Proporzes nicht zum Zuge kommen: Nachdem Ministerpräsident Edmund Stoiber als seinen Statthalter den bayerischen Innenminister und stellvertretenden Ministerpräsidenten Günther Beckstein als Kandidaten für das Bundesinnenministerium in das Kompetenzteam entsandt hatte, war auch die CSU mit dem einen ihr zustehenden wichtigen Ministerium versorgt. Wie also konnte Merkel dieses Dilemma lösen? Es blieb nur eine Persönlichkeit von außen, ein Seiteneinsteiger. Paul Kirchhof schien dafür der perfekte Kandidat zu sein: Er genoss einen untadligen Ruf als glaubwürdiger, kompetenter, rhetorisch begabter Wissenschaftler. Darüber hinaus war er katholisch und konservativ, was ihn nicht zuletzt für die CSU akzeptabel machte und vermittelte – vielleicht als erster Finanzministerkandidat seit dem Ende des „Wirtschafswunders“ überhaupt – die ruhige Sicherheit, dass er tatsächlich in der Lage sein würde, den Gordischen Knoten des deutschen Steuersystems – das außer ihm vielleicht noch vier Menschen in der Republik einigermaßen überschauen konnten – zu durchschlagen. Gewiss: einige CDU-Politiker, gerade aus der Bundestagsfraktion, beklagten hinter vorgehaltener Hand, dass man mit Friedrich Merz eines der größten politischen Talente der CDU außen vor ließ. Aber war nicht die Merz´sche Steuerweisheit, nicht zuletzt seine „Bierdeckelsteuererklärung“ im Grunde ein Derivat der Erkenntnisse Kirchhofs? Bekam man nicht auf diese Weise das wissenschaftlich anerkannte Original, statt einer politisch verfälschten Kopie? So argumentierten die Anhänger des Neu-Politikers Kirchhof nicht ohne Überzeugungskraft. Hinzu kam die überschwängliche Begeisterung des Wunsch-Koalitionspartners FDP: Hermann Otto Solms schwärmte über die Nominierung Kirchhofs, dies sei „eine ausgezeichnete Nachricht“, man habe nun einen der „brillantesten Steuerrechtler“ im Kompe-
5 Bösch, Frank/Brandes, Ina: Die Vorsitzenden der CDU. Sozialisation und Führungsstil, in: Forkmann, Daniela/Schlieben, Michael (Hrsg.): Die Parteivorsitzenden in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 2005, Wiesbaden 2005, S. 23-63, hier S. 61.
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tenzteam.6 Nicht zuletzt waren die Liberalen begeistert von der Aussicht, dass man eine Renaissance des Begriffs „Freiheit“ im Sinne einer politischen Kategorie bevorzustehen schien. Dennoch – oder gerade deshalb – können wohl gerade die Liberalen dankbar sein, dass sie nicht erfahren mussten, was es für ihre Existenzberechtigung bedeutet hätte, wenn der wirtschafts- und steuerpolitisch „freiheitlichste“ Minister in der Geschichte der Bundesrepublik nicht aus der FDP, sondern aus der CDU gekommen wäre. In jedem Fall: Es war ein Überraschungscoup, der den alsbald ob eines offenkundig hochgradig vorhersehbaren Wahlkampfs gelangweilten Journalisten endlich etwas Spektakuläres gab, über das zu berichten sich lohnte. So rief Kirchhofs Auftritt auf der politischen Bühne denn auch den gewünschten „Schub an positiver Berichterstattung“7 für die Union hervor.
Biografische Prägung: katholisch, konservativ, gebildet Paul Kirchhof. Die Engländer haben für Persönlichkeiten seiner Art Worte wie „accomplished“ oder „sophisticated“ erfunden – die Quintessenz des Bildungsbürgertums: kultiviert, gebildet, wohlerzogen, weltklug, erfahren. Analysiert man seine Biografie anhand der Kategorien, die Hans-Peter Schwarz entwickelt hat, um die für das Handeln politischer Persönlichkeiten maßgeblichen biografischen Prägungen zu ermitteln, ergibt sich ein Bild, das auf viele Mitglieder der (politischen) Elite Nachkriegsdeutschlands zutrifft: Er gehört nicht zu denen, deren prägende Erlebnisse und Einflüsse in „dramatischen Geschichtserfahrungen“ liegen oder in der politischen Sozialisation durch eine Generation.8 (1968 demonstrierte Kirchhof nicht, er bewachte die Bücher im juristischen Seminar der Heidelberger Universität.9) Nein, Kirchhof wurde zum einen geprägt durch den familiären Hintergrund eines spezifischen sozialmoralischen Milieus und zum anderen durch seinen Berufsstand. Kirchhof, 1943 geboren, wuchs auf als zweites von sechs Kindern eines Richters am Bundesgerichtshof, Bruder eines Richters am Bundesgerichtshof und (inzwischen) eines Richters am Bundesverfassungsgericht. Seit seiner Kindheit ist der gelehrte rechtswissenschaftliche Diskurs Teil seines Lebens; der Vater nahm ihn mit zu den Auschwitz-Prozessen, abends diskutierte man über Schuld und Sühne. Kurz nach dem Abitur antwortete Kirchhof auf die Frage nach seinem Berufswunsch: "Professor und Verfassungsrichter“10. Nun, Professor wurde er mit 32 Jahren und jüngster Verfassungsrichter aller Zeiten mit 44. Die zweite entscheidende Prägung durch die Familie war die Religion: Kirchhof wurde katholisch erzogen, war während des Studiums Mitglied einer katholischen Studentenverbindung, Stipendiat der Bischöflichen Studienförderung Cusanuswerk, deren Ver6 Slangen, Christoph: „Mr. X“ ist ein Seiteneinsteiger, in: www.main-rheiner.de/welt/neuwahlen/ objekt.php3?artikel_id=2005083 [eingesehen am 25.03.2008]. 7 Brettschneider, Frank: Bundestagswahlkampf und Medienberichterstattung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 51-52/2005, S. 19-26, hier S. 23. 8 Vgl. Schwarz, Hans-Peter: Die Bedeutung der Persönlichkeit in der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, in: Hrbek, Rudolf (Hrsg.): Personen und Institutionen in der Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland. Symposium am 27. Oktober 1984 aus Anlaß d. 80. Geburtstages von Theodor Eschenburg, Kehl u.a. 1985, S. 719, hier S. 10 f. 9 Vgl. Wolff-Doettinchem, Lorenz: Paul Kirchhof: der Fassungslose, in: http://www.stern.de/politik/deutschland/ Paul-Kirchhof-Der-Fassungslose/546026.html [eingesehen am 25.03.2008]. 10 Zitiert nach ebd.
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trauensdozent er heute ist. Diese Prägung wirkt sich auf seine Ansichten zur gesellschaftlichen Bedeutung von Ehe und Familie ebenso aus, wie sie wohl für seine Ablehnung der rechtlichen Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften mit der Ehe verantwortlich zeichnet. Ein derart verstockt konservatives Bild von der Rolle der Frau, wie es ihm im Bundestagswahlkampf vorgehalten wurde, lässt sich aus seiner Biografie allerdings nicht ableiten. Die Tatsache, dass seine Mutter Hausfrau war und keinen Beruf ausübte, ist aufgrund der weiten Verbreitung dieses Rollenmodells ein nur schwacher Beleg. Die modernen Lebensentwürfe seiner insgesamt vier Töchter und Schwiegertöchter, die allesamt Beruf und Familie vereinbaren, sprechen stattdessen eindeutig dagegen. Aus der familiären Prägung des Richtersohns entwickelte sich nahtlos die berufliche des Professors und Verfassungsrichters. Sie verursachte oder verstärkte bestimmte persönliche Eigenschaften Kirchhofs, die für seine „Karriere“ als Seiteneinsteiger nicht ohne Bedeutung waren: So sind beide Professionen nicht dazu dienlich, persönliche Angriffe, wie sie in der Politik alltäglich sind, gut einstecken und erwidern zu können. Neben dem Bundespräsidenten ist der Bundesverfassungsrichter wohl die einzige Instanz in Deutschland, die über beinahe jeden Zweifel erhaben ist. So ist es ungeschriebenes Gesetz, dass die Politik Entscheidungen des Verfassungsgerichts nicht kritisiert, sondern sich auf seine überlegene Urteilskompetenz verlässt. Als Professor ist es ähnlich: Die Studenten sitzen in den überfüllten Vorlesungen mit ehrfürchtigem Gesicht vor dem Professor, der sie in die Geheimnisse der bundesdeutschen Rechtslogik einführt – in kaum einem Fachgebiet ist die hergekommene Ordinarienuniversität noch so lebendig wie an den juristischen Fakultäten gerade der altehrwürdigen deutschen Universitäten. Wohl gibt es zuweilen gelehrte Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Rechtsauffassungen, die in Fachzeitschriften oder vielleicht in Podiumsdiskussionen ausgetragen werden. Wohl muss man sich in den universitären Gremien gelegentlich gegen konkurrierende Lehrstuhlinhaber zur Wehr setzen, die zum Beispiel etwas an der eingeworbenen Drittmittelquote auszusetzen haben. Die entscheidende Erfahrung ist jedoch die der Unantastbarkeit – als Professor wie als Bundesverfassungsrichter. Daraus resultiert ein gewisses Maß an Eitelkeit (nicht selten auch Überheblichkeit), der Glaube an die unbedingte Logik (und damit Richtigkeit) der eigenen Überzeugungen und eben paradoxerweise eine nicht unbeträchtliche Portion Naivität. All dies sollte in den sechs Wochen politischer Betätigung Kirchhofs zutage treten, als er mit Anforderungen konfrontiert wurde, auf die er biografisch in keiner Weise vorbereitet war. Interessant ist, wie sich an einer Stelle Kirchhofs berufliche und familiäre Prägung miteinander verzahnten: Als er mit 44 Jahren Richter am Bundesverfassungsgericht wurde, geschah das vor einem für diese Karrierestation eher atypischen familiären Hintergrund: als Vater vierer schulpflichtiger Kinder waren seine alltäglichen Erfahrungen andere, als die seiner Kollegen, die alle in einem höheren Lebensalter standen. Sicher ist in dieser aktuellen biografischen Situation eine Ursache dafür zu sehen, dass er sich mit großer Energie seinem ersten „Lebensthema“ zuwandte: der Besserstellung von Familien mit Kindern. Die von ihm als Berichterstatter bearbeiteten Entscheidungen brachten den damaligen Bundesfinanzminister Theo Waigel dazu, ihn als „seinen teuersten Richter“11 zu bezeichnen: So zwangen sie die Regierung Kohl unter anderem, das steuerfreie Existenzminimum und das Kindergeld zu erhöhen. 11
Knapp, Ursula: Einer, der gerne etwas bewegt, in: Frankfurter Rundschau, 27.11.1999.
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Mithilfe dieser öffentlichkeitswirksamen Themen und Entscheidungen wurde Kirchhof bald zu einem der wenigen „Stars“ seiner Spezies: Er war redegewandt, intelligent, originell. In ihm vereinte sich ein starker politischer Gestaltungswille mit der Fähigkeit, seine Überzeugungen und Entscheidungen mediengerecht und -wirksam darzustellen. Mithin, Kirchhof war ein sehr angesehener Rechtsgelehrter, hatte alles erreicht, was man in seinem Beruf in der Bundesrepublik erreichen kann. Aus der komfortablen und geschützten Position des Richters und Professors heraus nahm er sehr aktiv an der Gestaltung unseres Rechtssystems und damit auch der politischen Wirklichkeit teil. Was also erwartete er sich noch von einem Wechsel in die Politik? Oder, wie man sich in Kenntnis des Resultats fragen muss, warum tat er sich das an? Zu erklären ist dies mit zweierlei Gründen. Zum einen war da sein zweites „Lebensthema“, dem er sich nach seinem Ausscheiden aus dem Bundesverfassungsgericht fünf Jahre lang widmete: die große Steuerreform. „Gern und oft, manchmal geradezu missionarisch hat Kirchhof seine Vorstellungen von einem einfachen, klaren und gerechten Steuerrecht vorgetragen.“12 Was ihn in die Politik zog, waren diese Überzeugungen, die er nur als aktiv Handelnder in die Wirklichkeit umsetzen zu können glaubte. Es war ihm klar, dass seine Pläne für eine Steuerreform selbst von einem Finanzminister wie Friedrich Merz, der ihm inhaltlich sehr nahe stand, verwässert und durch politische Kompromisse ihrer bestechenden Logik, wie er sie empfand, beraubt werden würden. So war es aus seiner Perspektive nur folgerichtig, dass er selbst den Schritt in die Politik wagen wollte.13 Damit direkt verwandt ist das Verlangen nach Selbstbestätigung, wie er selbst zugab. Wenn es die Chance gebe, das, was man theoretisch erdacht habe, zu wesentlichen Teilen demnächst im Bundesgesetzblatt zu lesen, dann nutze man sie. „Ich bin“, so Kirchhof, „in das Kompetenzteam hineingegangen, weil ich die einmalige Chance sehe, das, wofür ich jetzt fünf Jahre gearbeitet habe, ganz wesentlich zu befördern.“14 Der zweite Grund war, dass er sich den Erfolg in dieser neuen Arena ohne Weiteres zutraute. Ein Mensch von Kirchhofs Intelligenz (und Eitelkeit) hätte ein solches Abenteuer nicht begonnen, hätte er ernsthaft die Gefahr des Scheiterns gesehen. Zumal die Tatsache, dass er keinerlei Erfahrung in praktisch-politischer Arbeit vorweisen konnte, in der Euphorie während und nach seiner Berufung ohnehin keine Rolle spielte. Im Gegenteil, man nahm ihn dank seines „politischen Wirkens“ beim Bundesverfassungsgericht und in zahlreichen Beratungsgremien, aber auch dank seiner rhetorischen Fähigkeiten bereits als genuin politischen Akteur wahr. Niemand sah die Gefahr, dass die Faszination, die von seinem Genius ausging, den Arenenwechsel nicht unbeschadet überstehen würde. Warum also scheiterte dieser Versuch dennoch? Welche Ereignisse und Faktoren sorgten dafür, dass die Verfallszeit zwischen dem „Furor des Einstiegs“ und der Demontage samt anschließendem Rückzug im Falle Paul Kirchhofs nur vom 16. August bis zum 18. September 2005 dauerte? Wie konnte es dazu kommen, dass Kirchhofs Engegement im
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Kerschner, Helmut: Paul Kirchhof – Bundesverfassungsrichter und Hüter der Familien, in: Süddeutsche Zeitung, 20.01.1999. 13 So erklärte es Prof. Kirchhof selbst in seinem Auftritt in der Sendung „Sabine Christiansen“ am 24.09.2006 in der ARD. 14 Zitiert nach Wolff-Doettinchem, Lorenz: Paul Kirchhof: der Fassungslose, in: http://www.stern.de/politik/ deutschland/:Paul-Kirchhof-Der-Fassungslose/546026.html [eingesehen am 25.03.2008].
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Wahlkampf am Ende einer der entscheidenden Gründe war, die die Meinungsforscher für die Wahlniederlage der CDU ermittelten?15 Die Rasanz dieser Entwicklung ist, wenn überhaupt, höchstens mit seinem Wissenschaftlerkollegen Ralf Dahrendorf vergleichbar – aber eben auch wieder nicht, denn Dahrendorf schaffte immerhin den Einstieg. Kirchhof aber konnte nie den Fuß über die Schwelle zwischen Wissenschaft und Politik setzen.
Gründe des Scheiterns: die Person, das Thema, der Gegner Für Kirchhofs Scheitern lassen sich drei Hauptursachen ausmachen, die sehr eng miteinander verwoben sind und sich zum Teil gegenseitig verstärken. Zum einen sind da die persönlichen Eigenschaften, Defizite und Motivationen Kirchhofs; zum anderen die spezifischen Probleme, die sein politisches Projekt an sich mit sich brachte, und zum dritten sein politischer Hauptgegner, der amtierende Bundeskanzler Schröder und die Sozialdemokratie.
Seine Person Kirchhof verfügte, wie in der Darstellung seiner beruflichen Erfahrung deutlich geworden ist, über keinerlei Kenntnisse in Bezug auf politische Abläufe, Strategien und Tricks. Das ist an sich zunächst kein Problem, liegt es doch in der Natur der Sache des Seiteneinstiegs. Problematisch wurde es erst, als das Wahlkampfmanagement der Union diese Unkenntnis vollkommen unterschätzte. Die Begründung für diesen entscheidenden Fehler lieferte die Frankfurter Allgemeine Zeitung schon im Jahr 2001: „Der Richter und Rechtsgelehrte Paul Kirchhof, der nie Mitglied einer politischen Partei war, ist dennoch einer der wichtigsten Politiker in der deutschen Nachkriegsgeschichte.“16 In diesem einen Satz liegt das zentrale Missverständnis über Kirchhofs Überlebensfähigkeit in der politischen Welt: Hier verwischt sich der fundamentale Unterschied zwischen dem Ergebnis von Politik in Form eines Maßnahmenvollzugs sowie einer Gestaltungsleistung und Politik als Prozess, als Verhandlung, Kompromissbildung, Überzeugung, kurz: Bildung von Mehrheiten. So erhielt der angebliche „Politiker“ Kirchhof keine wahlkampfstrategische Unterweisung, bekam nicht erläutert, was eine „Sprachregelung“ ist oder wie man einer Aussage ihr „Verhetzungspotenzial“ nimmt. Man schickte ihn ohne das nötige Rüstzeug und strategisch vollkommen unvorbereitet in den Kampf um Wählerstimmen. Gewiss wäre es in diesem speziellen Wahlkampf angesichts der Kürze der Vorbereitungszeit ohnehin schwierig gewesen, einen Kandidaten von außen umfassend zu unterrichten, und Kirchhof gehört sicher nicht zu der Sorte Persönlichkeiten, die sich gern unterweisen lassen. Dennoch wäre ein Mindestmaß an Sensibilisierung nötig gewesen, um schwerwiegende politische oder kommunikativer Fehler, wie sie Kirchhof während des Wahlkampfs unterliefen, zu vermeiden: Da war zum einen Kirchhofs Undiszipliniertheit in der öffentlichen Kommunikation, welche die inhaltlichen Differenzen zwischen dem Wahlprogramm 15 Vgl. Kailitz, Susanne: Der Wähler ist unberechenbar – und unzufrieden mit seiner Wahl, in: http://www.dasparlament.de/2005/38-39/thema/003.html [eingesehen am 25.03.2008]. 16 Zastrow, Volker: Systemveränderer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.05.2001.
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der CDU und seinem eigenen Konzept zu einem bestimmenden Wahlkampfthema werden ließ. Während zum Beispiel die CDU betonte, man werde das Steuersystem schrittweise reformieren, mit einer Senkung des einkommensabhängigen Steuersatzes auf mindestens zwölf und maximal 39 Prozent, beharrte Kirchhof auf der Umsetzung seines ursprünglichen Konzepts „in einem großen Wurf“ mit einem „faktischen Einheitssteuersatz“ von 25 Prozent. „Wer Einnahmen erzielt, soll darauf Steuern zahlen – ohne jede Ausnahme. Und der Steuersatz kann im Gegenzug auf 25 Prozent gesenkt werden. Für Erwachsene und Kinder gibt es hohe Freibeträge ("8000 Euro ab dem ersten Schrei"), und ansonsten werden Löhne, Gewinne und Zinsen gleich besteuert.“17 Während zum zweiten die CDU beteuerte, das umlagefinanzierte Rentensystem beibehalten zu wollen, sprach Kirchhof diesem System jede Funktions- und Zukunftsfähigkeit ab – man müsse vielmehr so schnell wie möglich zu einer kapitalgedeckten Rentenversicherung kommen.18 Diese öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzungen sorgten dafür, dass sich die Union und ihr Ministerkandidat fortwährend mit sich selbst statt mit dem politischen Gegner beschäftigten. Schließlich sah sich die Parteiführung gar gezwungen, dem eigenen Ministerkandidaten deutlich zu machen, dass er sich nur zu einem Thema, seiner Steuerpolitik, zu äußern habe – und zwar im Sinne des Wahlprogramms der Union. Wie die SPD daraus Kapital schlug, wird noch zu behandeln sein.
„Die Unbefangenheit des Professors“ Zum anderen waren da die inhaltlichen Einlassungen Kirchhofs, die den Elfenbeintum akademischer Forschung bis zum Ende des Wahlkampfs nicht so recht verlassen mochten: So verursachte er zum Beispiel das Kommunikationsdesaster um die deutsche „Durchschnittssekretärin“: Kirchhof hatte erklärt, dass in seinem Steuersystem eine Sekretärin mit einem Jahresbruttoeinkommen von vierzigtausend Euro (hier könnte schon die Frage aufkommen, ob das tatsächlich die durchschnittlichen Einkünfte einer deutschen Sekretärin sind) lediglich viertausend Euro an Steuern zu zahlen habe. Nun musste er sich ausgerechnet vom für Finanzpolitik zuständigen CDU-Bundestagsfraktionsvize Michael Meister, in dieser Funktion Nachfolger von Friedrich Merz, korrigieren lassen: Kirchhofs Berechnung sei falsch, die ledige Sekretärin habe vielmehr 6.750 Euro zu zahlen. Darauf ließ Kirchhof durch einen Mitarbeiter erwidern: Es handele sich hier nicht um eine tatsächlich existierende Sekretärin, die verheiratet oder ledig, kinderlos oder dreifache Mutter sei, sondern um eine rein rechnerische Größe, die „Durchschnittssekretärin“. Man unterstelle in dieser Berechnung, dass die Frau 1,3 Kinder habe und zu einem gewissen Anteil verheiratet sei.19 Allein an diesem Beispiel nicht ganz volksnaher Rhetorik wurde deutlich – und Kanzler Schröder wurde nicht müde darauf hinzuweisen –, wie wenig Kirchhof eigentlich in seiner neuen politischen Rolle angekommen war.
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O.V.: Eine Menge Spielraum – Schäuble zu Kirchhof, in: http://www.n-tv.de/569596.html [eingesehen am 25.März 2008]. 18 Vgl. o.V.: Kirchhof will Rentensystem umstellen, in: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,druck372275,00.html [eingesehen am 15.04.2008]. 19 Vgl. Zylka, Regine: „Durchschnittssekretärin mit 1,3 Kindern“, in: http://www.berlinonline.de/berlinerzeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/2005/0901/politik.html [eingesehen am 15.04.2008].
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Das zeigte sich auch in Kirchhofs Einlassungen zur Rentendebatte in seinem Vergleich einer privaten Zusatzrente mit der Autoversicherung. Auf Kritik an seinen Äußerungen rechtfertigte sich Kirchhof, er habe in einem Interview „mit der Unbefangenheit des Professors“ die Frage erörtert, ob das Ansparen einer Zusatzrente zur Pflicht werden solle, „wie bei der Kfz-Versicherung“. Wenn nun der Kanzler behaupte, „ich würde Menschen mit Kfz verwechseln, dann haben wir keinen gemeinsamen Verstehenshorizont mehr“. Die Abwesenheit eines gemeinsamen „Verstehenshorizonts“ dürfte Schröder nicht sonderlich irritiert haben. Aber „die Unbefangenheit des Professors“ lieferte ihm zuverlässig rhetorische Vorlagen. Unmittelbar im Anschluss an diese Vorfälle wurde darüber hinaus bekannt, dass Kirchhof bereits eine konkrete Liste ausgearbeitet hatte, die alle 418 Ausnahmetatbestände im deutschen Steuersystem enthalte, die er abzuschaffen beabsichtigte. Während SPD und Grüne energisch nach der Veröffentlichung dieser Liste riefen, ließ die CDU-Parteizentrale hektisch verkünden, die Liste sei noch überarbeitungsbedürftig. Es wäre für die Unionswahlkämpfer nicht auszudenken gewesen, wie viel Munition man dem politischen Gegner mit dieser Liste in die Hände gegeben hätte. Jede beliebige Interessensgruppe hätte man mit der Aussicht auf die Beseitigung eines bestimmten Steuerprivilegs gegen die Union aufbringen können. Die Konsequenz war, dass die CDU fortwährend in die Defensive getrieben wurde und sich ständig in Abwehrkämpfe verstrickt sah, da die SPD es geschickt verstand, Angst vor dem Wahlprogramm und nicht zuletzt dem Schattenfinanzminister zu schüren, ihn zu diffamieren und lächerlich zu machen.20 Kirchhofs Kommunikationspolitik war in ihrer Naivität für jeden professionellen Wahlkämpfer der Union ein Alptraum.
Sechs Wochen Urteilsbegründung Hinzu kam Kirchhofs mangelnde politische Überzeugungsfähigkeit, die wohl im Wesentlichen in seiner beruflichen Erfahrung ihre Ursache hatte. Er konnte seine Ideen und Entscheidungen wissenschaftlich begründen, aber er konnte sie nicht werbewirksam „verkaufen“. Er war es nicht gewöhnt, ihre Mehrheitsfähigkeit im Auge zu behalten. Vielmehr benahm er sich im Wahlkampf so, als wäre die Wahl im Grunde schon gewonnen – er warb nicht um Zustimmung für seine Konzepte, nahm die Ängste der Bevölkerung nicht ernst. Er holte sie nicht dort ab, wo sie stand, wie man im Wahlkampfdeutsch sagen würde, sondern trug sechs Wochen lang seine Urteilsbegründung vor. Als besonderes Problem erwies sich in diesem Zusammenhang paradoxerweise die große Stärke Kirchhofs, die Menschen in seinen Wahlkampfveranstaltungen mitzunehmen. Eine Wahlkampfrede von Paul Kirchhof – näher können Auftritte in einer Demokratie einem spirituellen Erweckungserlebnis kaum kommen. Hier hatte er seine Arena, in den für Wahlkampfverhältnisse eher gediegenen Veranstaltungsräumen der deutschen Groß- und Universitätsstädte, vor überwiegend akademischem Publikum, das seinen Worten andächtig lauschte, ihm gelegentlich verstehend zunickte. Hier konnte er sich verstanden wissen, wenn er forderte: „Niemand sollte sich in Zukunft noch vor dem modernen Geßler-Hut des 20 Vgl. Reiermann, Christian: Nervös in den Schlussspurt, in: http://www.welt.de/print-wams/article132190/ Nervoes_in_den_Schlussspurt.html [eingesehen am 25.03.2008].
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Steuerrechts verbeugen müssen.“21 Natürlich hatte man hier Schillers „Wilhelm Tell“ gelesen – und wenn nicht, nickte man umso eifriger. Diese Atmosphäre, diese Kulisse hielt Kirchhof offenkundig für Wahlkampf – nicht die dröhnenden Angriffe des Bundeskanzlers, die er im Nachhinein als „menschliche Niedertracht“ geißelte. So entstand die Fehlwahrnehmung, dass das Wahlvolk tatsächlich verstand und zustimmte, während es die Angriffe Schröders als ebenso degoutant empfand, wie Kirchhof selbst es in seiner gediegenen Wohlerzogenheit getan haben muss.
Die Kraft der „sachlich richtigen Reform“ Diese mangelnde Überzeugungsfähigkeit hatte ihre Ursache aber sicher auch in Kirchhofs Glauben, ein Problem „durch die sachlich richtige Reform“22 lösen zu können, ; in seiner Sicherheit, dass ein Konzept allein schon deshalb Anspruch auf Umsetzung zu reklamieren vermag, weil es in der Theorie logisch und schlüssig ist – etwas durch und durch Wissenschaftliches, dass die delikaten Mehrheitsfindungs- und Überzeugungsprozesse einer Verhandlungsdemokratie schlicht negiert. Kirchhof galt schon seit seinen Tagen beim Bundesverfassungsgericht als „Stimme der Vernunft“23. Bloß kann „Vernunft“ in einer Demokratie nur schwer als Entscheidungsgrundlage dienen. Wer schließlich hat zu bestimmen, was „vernünftig“ ist; wer, um bei dem konkreten Beispiel zu bleiben, hat zu entscheiden, ob der Anspruch des deutschen Steuersystems, durch Umverteilung soziale Gerechtigkeit herzustellen, „unvernünftig“ ist. Kirchhof argumentierte auch hier mit seiner Lieblingskategorie: der Freiheit. „Heute brauchen die Bürger zwölf Samstage im Jahr, um aus den Belegen in ihrem Schuhkarton eine Steuererklärung zu fertigen. Nach meinem Modell werden es noch zehn Minuten sein. Ich gebe den Bürgern elf Tage, 23 Stunden und fünfzig Minuten Freiheit zurück.“24 Natürlich war die Argumentation Kirchhofs an sich von einer bestechenden Logik: Ein Staat, der seine Bürger zwingt, ihre Freizeit dazu zu verwenden, Geld wiederzubekommen, das ihnen der Staat zuvor unrechtmäßig abgenommen hat, müsste objektiv betrachtet in Rechtfertigungsnöte kommen. Subjektiv betrachtet lassen sich allein mit dem Versprechen, diesen Misstand zu beseitigen, in Deutschland keine Wahlen gewinnen. Zu sehr haben sich die Menschen in Deutschland an dieses System und seine individuell günstig erscheinenden Privilegien gewöhnt. Der sportliche Anreiz, Schlupflöcher zu finden, der Nervenkitzel des Austestens, ob man „damit durch kommt“ bereitet vielen sogar eher Vergnügen als Unwillen.Mit dieser Fehlwahrnehmung erreicht man die Schnittstelle zum zweiten großen Problem des Wahlkampfs von Paul Kirchhof.
21 Wolff-Doettinchem, Lorenz: Paul Kirchhof: der Fassungslose, in: http://www.stern.de/politik/deutschland/ :Paul-Kirchhof-Der-Fassungslose/546026.html [eingesehen am 25.03.2008]. 22 Wagner, Gerd G.: Professoren und die Politik, in: Freitag 40, 07.10.2005. 23 Zastrow, Volker: Systemveränderer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.05.2001. 24 So Paul Kirchhof in einem Interview mit Sven Afhüppe und Jan Fleischhauer, in: Der Spiegel, 22.08.2005.
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Sein Thema Die von Kirchhof energisch geforderte „große Steuerreform“ brachte zum einen ein Problem mit sich, das alle Vorschläge dieser Art haben: Sie verunsichern die Menschen, die Neuem, gerade wenn es aus der Politik kommt und kein schlichtes finanzielles Entlastungsversprechen beinhaltet, meist ablehnend gegenüber stehen. Wenn eine Reform umgesetzt ist und Erfolge einbringt, wird sie von den Menschen akzeptiert und gewollt. Wenn aber eine Reform von der Radikalität des Kirchhof´schen Steuerkonzepts im Wahlkampf neu eingebracht wird, und zwar von einem Menschen, der in der politischen Kommunikation eher ungeübt ist, sind Schwierigkeiten mit der Akzeptanz grundsätzlich zu erwarten. Dieses generelle Problem wurde im Konkreten verstärkt durch die „gefühlte Ungerechtigkeit“ dieses Reformvorschlags, wie sie der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff – der in solchen Fragen durchaus über eine hohe Sensibilität verfügt – auf den Punkt brachte: „Ein einheitlich niedriger Steuersatz widerspricht dem deutschen Gerechtigkeitsgefühl“.25 Die CDU hätte für die Integration des Seiteneinsteigers Kirchhof und seines komplizierten Konzeptes in die politische Wirklichkeit mindestens noch die Zeit bis zum regulären Wahltermin 2006 gebraucht.26 Wenn es denn angesichts der übrigen äußeren Bedingungen überhaupt gelungen wäre:
Der Gegner Das dritte und sicher größte Problem, das Kirchhof der Union verursachte, war die direkte Folge der ersten beiden: seine Rolle für den inhaltlichen und taktischen Wahlkampf der SPD. Die SPD brauchte genau zwei Tage, um Kirchhof in den Mittelpunkt ihres Wahlkampfs zu stellen und ihr gesamtes „negative campaigning“ auf ihn auszurichten; schon am 18. August geißelte der amtierende Finanzminister Hans Eichel Kirchhofs Steuermodell als unsozial und sein Familienbild als antiquiert. Für derlei Angriffe konnte die SPD aus gleich zwei Quellen schöpfen: Zum einen waren da frühere Äußerungen Kirchhofs, die in seinen zahlreichen Veröffentlichungen nachzulesen waren („die Mutter macht in ihrer Familie Karriere“27), und die es den Redenschreibern der SPD nicht eben schwer machten, ihm ein „Kinder, Küche, Kirche“-Frauenbild zu unterstellen. Dass Kirchhof diese Angriffe entsetzt von sich wies und die Zitate als aus dem Zusammenhang gerissen bezeichnete, machte es kaum besser. Die unbekümmerte Angriffslust des Gegners verunsicherte den ungeübten Wahlkämpfer eher noch weiter. Zum anderen waren da seine bereits beschriebenen Stellungnahmen während des Wahlkampfs: Sie waren es, welche die SPD erst wieder in ihre historisch gewachsene Rolle brachten, die sie dank Schröders Reformpolitik gänzlich verloren zu haben schien: die Rolle der Partei der sozialen Gerechtigkeit. So half Kirchhof der SPD-Führung, von ihrer 25
O.V.: Stoiber stellt sich klar gegen Kirchhof-Modell, in: http://www.spiegel.de/politik/debatte/0,1518, 371891,00.html [eingesehen am 25.03.2008]. 26 Vgl. Emundts, Corinna: Visionen, Juwelen und Paul Kirchhof, in: www.zeit.de/online/2005/37/email_31 [eingesehen am 25.03.2008]. 27 So Paul Kirchhof im Vorwort zu Liminski, Jürgen und Martine: Abenteuer Familie: Erfolgreich erziehen: Liebe und was sonst noch nötig ist, Augsburg 2002.
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vor allem in den eigenen Reihen als höchst unsozial empfundenen Reformpolitik der vergangenen Jahre abzulenken und die ohnehin in ihrer Wahlkampfstrategie angelegte „Tendenz zur Resozialdemokratisierung des Parteiimages“28 zu verstärken. Allein durch Kirchhof gelang der SPD eine Personalisierung und Emotionalisierung des Wahlkampfs, die ohne ihn – mangels Angriffsfläche in der Union – kaum möglich gewesen wäre. Kirchhof als „Mann der Kälte“ und der „Grausamkeiten“ wolle den Deutschen „an die Rente“, seine Pläne würden zu einer „kalten, unsolidarischen und unmenschlichen Gesellschaft führen, den „inneren Frieden“ des Landes zerstören.29 In jeder Rede führte Schröder genüsslich die angebliche soziale Absurdität des Kirchhofschen Steuersystems vor: dass die Sekretärin und ihr Vorstandsvorsitzender denselben Steuersatz von 25 Prozent zu zahlen hätten. Auch die „Durchschnittssekretärin“ brauchte Kanzler Schröder zum Beispiel in seiner Rede auf dem Berliner Wahlparteitag der SPD kaum zu erläutern. Die politischen Stolpereien des weltfremden, unsozialen Theoretikers, wie ihn die SPD-Delegierten aus derlei Äußerungen erkannten, reichten, um Grölen, Johlen und Lachtränen hervorzurufen.30 Und Schröder kommentierte listig: „Das ist schon ein Grund zur Fröhlichkeit, aber auch zur Nachdenklichkeit. Die nachdenkliche Frage muss zweierlei heißen: Erstens. Kann man einem solchen Menschen das Finanzministerium anvertrauen? Die zweite Frage geht weiter. Frau Merkel hat ja erklärt, die Vorschläge, die da gemacht würden, müssen wir ja nicht gleich verwirklichen; die könne man ja mal ausprobieren. Die Frage stellt sich doch wohl: Kann man einer solchen Frau, die so etwas ausprobieren will, das Kanzleramt anvertrauen? – Man kann es eben nicht.“31 So wurde Kirchhof zu Merkels Problem und damit zum Wahlkampfschlager der SPD. Wenn in Schöders Wahlkampfreden ein Satz mit „Der Herr Professor aus Heidelberg…“ begann, wussten die Genossen: “Jetzt gibt´s Hohn und Spott, also, so sind die Menschen nun einmal, was zu lachen.“32 Das für die CDU besonders verheerende daran war, dass die SPD auf diese Art und Weise bei den Kompetenzwerten im Bereich der Steuerpolitik in den Umfragen Woche für Woche zulegte, ohne selbst programmatisch in diesem Bereich etwas Substanzielles zu bieten zu haben. Allein die Kampagne gegen Kirchhof reichte dafür aus. Schröder geißelte die „niederschmetternde Wirkung für die kleinen Leute“, die von Kirchhofs Reform ausgehen würde. Die Zeche für die Einheitssteuer hätten Pendler, Schichtarbeiter und Krankenschwestern zu zahlen, deren Zuschläge besteuert würden. Kirchhof beklagte angesichts dieser Offensive gegen ihn selbst, man habe „in den letzten Wochen eine Fehlinformationskampagne der anderen Seite erlebt“33.
28 Niedermayer, Oskar: Der Wahlkampf zur Bundestagswahl 2005, in: Brettschneider, Frank/ders./Weßels, Bernhard (Hrsg.): Die Bundestagswahl 2005, Analysen des Wahlkampfes und der Wahlergebnisse, Wiesbaden 2007, S. 21-42, hier S. 27. 29 Zitiert nach ebd., S. 33. 30 Vgl. o.V.: Vorwärts bis es vorbei ist, in: http://www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/703/59644/print.html [eingesehen am 15.04.2008]. 31 Zitiert aus der Wahlkampfrede von Bundeskanzler Gerhard Schröder auf dem Außerordentlichen Parteitag der SPD in Berlin am 31.08.2005, in: http://www.spd.de/show/1687985/310805_Rede_Wahlparteitag_Schöder.pdf [eingesehen am 25.03.2008]. 32 Dausend, Peter: Paul Kirchhof rechnet mit der Politik ab, in: Die Welt, 22.12.2005. 33 Reiermann, Christian: Nervös in den Schlussspurt, in: http://www.welt.de/print-wams/article132190/Nervoes_ in_den_Schlussspurt.html [eingesehen am 25.03.2008].
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Es war der SPD gelungen, die steuer- und ordnungspolitische Diskussion, die Kirchhof angestoßen hatte, in eine Diskussion über soziale Gerechtigkeit zu verwandeln, deren Emotionalität weder Kirchhof noch die CDU insgesamt gewachsen waren. So konnte Schröder sich allein an Kirchhof wieder aus dem Tal der Tränen des 22. Mai 2008 heraus ziehen: auf dem SPD-Parteitag, im TV-Duell mit Angela Merkel und schließlich in den Umfragen. Eine Woche vor der Wahl übte sich Merkel denn auch in Schadensbegrenzung und deutete an, was koalitionspolitisch ohnehin wahrscheinlich war: dass das Finanzministerium im Falle einer schwarz-gelben Koalition eher nicht an die CDU gehen würde. Am Ende war gar von einer „Tandem-Lösung“ mit Friedrich Merz die Rede. Das allein reichte jedoch kaum mehr aus, um das „Problem Kirchhof“ beherrschbar zu machen. Letztlich stürzte die Union in der Bundestagswahl auf 35,2 Prozent ab und musste sich mit der SPD auf eine große Koalition verständigen – natürlich ohne Kirchhof. Das Scheitern des Rechtsgelehrten wurde in der politischen Kaste insgesamt nicht ohne Häme zur Kenntnis genommen; war doch wieder einmal der Beweis erbracht, dass selbst die größten intellektuellen und rhetorischen Fähigkeiten allein das Überleben im politischen Raum nicht zu garantieren vermögen. Oder wie es der Berliner Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit ausdrückte: „Na, ich glaube, dass da eigentlich gar nichts besonderes passiert ist, sondern Herr Kirchhof hat gemerkt, dass es ein Unterschied ist, als Professor in eine Talkrunde zu gehen, oder als Politiker. Das sind Welten, die dazwischen liegen.“34 So zog sich Kirchhof denn auch als Professor wieder nach Heidelberg zurück, um seiner eigentlichen Berufung nachzugehen: „die Politik heilsam zu beunruhigen“35.
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Klaus Wowereit in der Sendung „Sabine Christiansen“ am 24.09.2006 in der ARD. Paul Kirchhof in der Sendung „Sabine Christiansen“ am 24.09.2006 in der ARD.
Interessenvertreter und Galionsfiguren
Siegfried Balke – Spendenportier und Interessenpolitiker Robert Lorenz
Blättert man in den einschlägigen Monografien und Darstellungen über die Adenauer-Zeit, so wird man den Namen Balkes dort nicht im Übermaß finden. Im Gegenteil: Man gewinnt die Vorstellung, als sei er ein völlig unbedeutender Mann gewesen. Franz Josef Strauß erwähnt ihn in seinem 560 Seiten dicken Erinnerungswerk nur dreimal in belanglosen Aufzählungen von Kabinettskollegen, in Adenauers Erinnerungen taucht Balke gar nicht erst auf und die Personenregister der Literatur über die Bonner Politik in den 1950er und frühen 1960er Jahren zählen nicht gerade viele Seiten, auf denen Balkes Name vermerkt ist.1 Verwunderlich ist das schon, denn immerhin bekleidete Balke über neun Jahre ein Ministeramt in drei Kabinetten Adenauers. Dem Lebenslauf nach muss es sich bei Siegfried Balke zudem um eine imposante Persönlichkeit gehandelt haben. Er führte nach dem Zweiten Weltkrieg in Bayern Firmen der chemischen Industrie und half bei dem Wiederaufbau der Wirtschafts- und Unternehmerverbände mit. Hauptberuflich war er ein Industriechemiker, der nach dem Krieg in die Unternehmensleitung aufrückte. Nach seiner Promotion zum Dr.-Ing. im Jahre 1925 begann er seine berufliche Laufbahn, die ihn 1927 zur Chemischen Fabrik Aubing führte, deren Technischer Leiter er 1945 wurde. 1952 wechselte er in die Unternehmensführung der Wacker-Chemie GmbH, bei der er im April 1953 zum Direktor avancierte. Die Liste seiner Titel, Ämter und Funktionen liest sich wie die eines wilhelminischen Kaisers: Balke war Vorsitzender des Vereins der Bayerischen Chemischen Industrie, Präsidialmitglied des Landesverbandes der Bayerischen Industrie, Vizepräsident des Verbandes der Chemischen Industrie, Vorsitzender der Europäischen Föderation der nationalen Ingenieurvereinigungen, schließlich Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände; weiterhin amtierte er als Senator der Max-Planck- und der FraunhoferGesellschaft, war Vorstandsvorsitzender des Deutschen Museums, saß im Kuratorium des Instituts für Wirtschaftsforschung, wurde Mitglied des Wirtschafts- und Sozialausschusses der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Auch der Vorsitz der Vereinigung der Technischen Überwachungsstellen zählt zu seinem Ämterfundus. Balkes Abstecher in die Bonner Regierungspolitik nimmt sich vor diesem Hintergrund geradezu unscheinbar aus: 1953 wurde er Minister für das Post- und Fernmeldewesen, 1956 wechselte er in das Ministerium für Atomfragen (später Atomkernenergie) und war von 1957 bis 1969 Mitglied des Deutschen Bundestages. Als Siegfried Balke im November 1953 der Öffentlichkeit als neuer Minister für das Post- und Fernmeldewesen präsentiert wurde, geriet seine Ernennung zum Coup, mit dem niemand gerechnet hatte; wie auch, denn kaum jemand war dieser Name eines Mannes der chemischen Industrie überhaupt ein Begriff.2 Es handelte sich um keinen Prominenten, den 1 Vgl. Strauß, Franz Josef: Die Erinnerungen, Berlin 1989; Adenauer, Konrad: Erinnerungen (Bände 1-4), Stuttgart 1965-1968. 2 Vgl. o.V.: Bundesminister Prof. Balke 60 Jahre alt, in: Deutschland-Union-Dienst, 01.06.1962.
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man da ins Kabinett holte, zudem war er nicht einmal formell Mitglied einer Partei. Nur in Fachkreisen war Balke einigermaßen bekannt. Dies verdankte er vor allem den zahllosen Ehrenämtern, die er zu diesem Zeitpunkt bekleidete.
„…plötzlich ein ganz anderes Echo“: Annäherung über Parteifinanzierung Siegfried Balke war zwar der Definition nach ein waschechter Seiteneinsteiger, doch tat sich ihm die Politik nicht als Terra incognita auf. Mit Parteien hatte er nicht viel zu tun – so könnte man in Anbetracht seiner Biografie jedenfalls vermuten. In innerparteilichen Strukturen hatte sich der Bayern-Immigrant tatsächlich nicht aufgehalten. Doch Balke war der Politik zum Zeitpunkt seines Seiteneinstiegs keineswegs fern gestanden. Vielmehr hatte eine Annäherung über zwei Wege stattgefunden. Zunächst gehörte er dem am 14. Juni 1948 gegründeten Wirtschaftsbeirat der Union an. Dabei handelte es sich um einen eingetragenen Verein, der Unternehmern die Möglichkeit zur Einflussnahme auf die Wirtschaftspolitik verschaffen oder anders ausgedrückt: eine „fruchtbare Begegnung zwischen Wirtschaft und Politik“3 herbeiführen sollte.4 Ganz explizit war dies ein juristisch eigenständiges Gremium der Wirtschaft, nicht der Partei. Unternehmer konnten sich auf diese Weise, formal außerhalb der Partei stehend, diskret parteinah organisieren, zumal die Wiedergründung der großen überregionalen und branchenübergreifenden Arbeitgeberverbände, wie zum Beispiel der „Vereinigung der Arbeitgeberverbände in Bayern“, zum damaligen Zeitpunkt noch bevor stand. Im Wirtschaftsbeirat sollten sich Wirtschafts- und Parteiführer treffen, austauschen, absprechen und gemeinsame Linien ausarbeiten. Allgemein ging es den Firmenchefs darum, mit der Unterstützung und Beeinflussung bestimmter Parteien die politische Linke auf Distanz zu Regierungsämtern zu halten und den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft zur politischen Durchsetzung zu verhelfen. Aufgrund ihrer Wahlerfolge wurden die Unionsparteien dabei zu Hauptadressaten dieser Bestrebungen. Für die CSU galt dies genauso wie für die CDU. Der in Bayern angesiedelte Wirtschaftsbeirat der Union agierte daher „in engster Kooperation mit führenden CSU-Politikern gegen DGB und SPD“5 und nahm Einfluss auf die Landtagsfraktion und die Parteiführung. Er fiel demzufolge unter die Rubrik „interessenspezifische Sonderorganisationen“6 der freien Wirtschaft, wie sie innerparteilich auch die Arbeitsgemeinschaft des Mittelstands darstellte. Wer in diesem Kreis verkehrte, kam ganz automatisch in Kontakt mit der CSU, ja bemühte sich sogar um Gespräche und Absprachen mit führenden CSU-Funktionsträgern. Vor allem, wenn es sich – wie bei Balke – um ein Mitglied in den Vorständen der wichtigsten Vereine und Verbände des bayerischen Unternehmerlagers handelte. Darüber hinaus beteiligte sich Balke rege an der Wahlkampffinanzierung der CSU. Zum einen als Vorsitzender der im Sommer 1952 gegründeten Volkswirtschaftlichen Gesellschaft in Bayern, einem Berufsverband, über den bayerische Unternehmer zentral Spen-
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Mintzel, Alf: Die CSU. Anatomie einer konservativen Partei 1945-1972, Opladen 1975, S. 213. Vgl. ebd., S. 212 ff.; ders.: Geschichte der CSU. Ein Überblick, Opladen 1977, S. 191-194. 5 Ders. 1975, S. 214. 6 Ebd. 4
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den für bürgerliche Parteien sammelten.7 Als solcher war er für die Bittsteller der CSUFührung um den Parteivorsitzenden Hans Ehard wichtigster Ansprechpartner für die Zuteilung von Wahlkampfgeldern. Zum anderen über den Verein der Bayerischen Chemischen Industrie (VBCI), dem Balke ebenfalls vorsaß und der durch die sozialdemokratischen Wahlergebnisse bei den im März 1952 abgehaltenen Gemeindewahlen alarmiert worden war. Um die Gefahr zu bannen, die SPD könne im nächsten Bundestag eine Mehrheit erlangen und mit ihren Sozialisierungsvorhaben der freien Wirtschaft ein Ende setzen, ventilierten Vereinschef Balke und sein Geschäftsführer unter anderem die Idee einer „massenpsychologischen Beeinflussung“ – zum Beispiel, indem die Firmen unmittelbar auf den Etiketten ihrer Produkte die Vorzüge der Marktwirtschaft priesen und die drohende Gefahr einer Sozialisierung anprangerten.8 Freilich entschloss man sich schließlich zu der eher konventionellen Methode, der CSU in ihrer Rolle als Bonner Koalitions- und bayerischer Regierungspartei Gelder aus der Industrie zukommen zu lassen. Für die Bundestagswahl 1957 beispielsweise stellte allein der Bayerische Chemieverein 236.000 DM zur Verfügung.9 Die Chemieorganisation leistete aber daneben noch eine ungleich direktere Zuweisung finanzieller Mittel, bei deren Abwicklung Balke getrost als ein Protagonist bezeichnet werden kann. Um den Interessen der bayerischen Chemiebetriebe in Bonn stärkere Geltung zu verschaffen, versuchte der VBCI, direkten Einfluss auf einen CSU-Politiker jüngeren Alters mit aussichtsreichen Karrierechancen zu nehmen: Franz Josef Strauß. Strauß, Träger eines Bundestagsmandats, Chef der CSU-Landesgruppe und Generalsekretär der CSU, wurde allem Anschein nach von Balke und seinen Chemiekonsorten auserkoren, ihre Interessen – „die Unterstützung der sozialen Marktwirtschaft und die Förderung wirtschafts- und sozialpolitischer Interessen Bayerns und bestimmter außerbayerischer Wirtschaftskreise“10 – in der provisorischen Bundeshauptstadt politisch zu vertreten. Dazu wurde in Bonn Anfang September 1951 auf Kosten des VBCI ein „repräsentatives Büro“11 zu „politischen Zwecken eingerichtet.12 Balke war es, der die Aktion leitete und sich – nicht ohne Amüsement – als „Finanzminister“13 titulierte. Zusätzlich schloss Balke als „alleinbevollmächtigter Vertreter“ des Landesverbandes der bayerischen Industrie mit Strauß einen Vertrag über die Einrichtung eines „Wirtschafts- und Sozialpolitischen Instituts“ in Bonn.14 Strauß verpflichtete sich „namens der Landesgruppe CSU das Institut 7 Vgl. Moser, Eva: Unternehmer in Bayern. Der Landesverband der Bayerischen Industrie und sein Präsidium 1948 bis 1978, in: Schlemmer, Thomas/Woller, Hans (Hrsg.): Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973, Bayern im Bund Band 2, München 2002, S. 25-86, hier S. 52-55; Balcar, Jaromír/Schlemmer, Thomas (Hrsg.): An der Spitze der CSU. Die Führungsgremien der Christlich-Sozialen Union 1946 bis 1955, München 2007, Fußnote 43 auf S. 436; Schlemmer, Thomas: Aufbruch, Krise und Erneuerung. Die Christlich-Soziale Union 1945 bis 1955, München 1998, S. 472 f.; Pfeil, Moritz: Balkan in Bonn?, in: Der Spiegel, 03.10.1962. 8 Vgl. hier und folgend Abschrift Brief (Unterzeichner: Geschäftsführer Henze) Verein der Bayerischen Chemischen Industrie e.V. an den Arbeitsring der Arbeitgeberverbände der Deutschen Chemischen Industrie vom 09.04.1952, in: Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), NL Balke, I-175-033/3. 9 Vgl. Brief Geschäftsstelle des Vereins der Bayerischen Chemischen Industrie e.V. an die Vorstandsmitglieder vom 17.10.1955, in: ebd. 10 Vgl. Vertrag zwischen Balke, Peters, Strauß und Limmer, in: ACDP, NL Balke, I-175-044/4. 11 Brief der Geschäftsstelle des Landesverbandes der Bayerischen Industrie e.V. an Balke vom 29.09.1951, in: ebd. 12 Vgl. Brief Balke an Bender vom 07.10.1951, in: ebd.; Aktennotiz Balkes vom 11.11.1951, in: ebd.; Brief Balke an Generaldirektor Otto Seeling vom 24.09.1951, in: ebd. 13 Brief Balke an Bayer vom 29.08.1951, in: ebd. 14 Vgl. hier und folgend Vertrag zwischen Balke, Peters, Strauß und Limmer, in: ebd.; Weber, Petra: Föderalismus und Lobbyismus. Die CSU-Landesgruppe zwischen Bundes- und Landespolitik 1949 bis 1969, in: Schlemmer,
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in jeder Hinsicht zu unterstützen“; im Gegenzug sollte er die Einkünfte aus dem Institutsorgan Nachrichten aus Wirtschaft und Politik „ungeschmälert für Parteizwecke“ verwenden dürfen. Über den Vertrieb einer Zeitschrift Gelder einzuwerben, war ein von der CDU bereits seit 1949 mit großem Erfolg angewendetes Prinzip der Parteifinanzierung.15 Bei diesem Verfahren abonnierten Unternehmen zu horrenden Preisen ein zumeist wenige Blätter umfassendes Organ eines Instituts oder einer Stiftung, das für gewöhnlich lediglich allgemein bekannte Wirtschaftsdaten von geringem Informationswert enthielt. Neben den Einkünften aus dem Zeitschriftenverkauf sollte Strauß bei der Bayerischen Creditbank zusätzlich ein Konto eröffnen, auf das zukünftig Zahlungen von interessierten Wirtschaftskreisen eingehen würden und für das er die alleinige Berechtigung erhalten sollte.16 Von 3.500, später 5.000 DM waren die Rede, welche allein die Volkswirtschaftliche Gesellschaft Bayerns unter der Ägide Balkes Strauß zukommen ließ.17 In diesem Zusammenhang erhellt sich auch der Grund, weshalb Balke zum Zeitpunkt seiner Ministerernennung keine Parteimitgliedschaft besaß. Aus Gründen der Diskretion sollte er die Angelegenheit „Büro Bonn“ möglichst inoffiziell abwickeln, sodass man ihn „für die CSU parteilich nicht allzu auffällig“18 herausstellte. Offiziell wurde ein Anderer als Leiter des Büros deklariert. Balkes Parteilosigkeit war demnach systematisch durchdacht worden, um ihm „gewisse Aufgaben“ zu erleichtern. Auch als verantwortlicher Redakteur des Nachrichtenblatts wurde Balke getarnt, auch hier fungierte ein Anderer als Inhaltsverantwortlicher. Klar ist jedoch: Der Bayerische Chemieverband finanzierte die Aktivitäten Franz Josef Strauß‘ in Bonn und Siegfried Balke führte dabei Regie. Wenn sich Balke mit Strauß über Probleme und Interessenlagen der bayerischen Industrie unterhielt, dann ging es nicht bloß um vage Kursbestimmungen, sondern um ganz konkrete politische Fragen, wie etwa die Ablehnung einer erhöhten Aufwandsteuer zugunsten einer leicht höheren Umsatzsteuer – eben das Treffen politischer Entscheidungen im Sinne von Bayerns Wirtschaft. Balke versuchte unter Drohung von Geldentzug,19 nach Meinung der Wirtschaftsverbände „völlig unsinnige“20 Gesetzentwürfe zu verhindern. Balke fungierte folglich einige Zeit als Kommunikationsbrücke zwischen bayerischen Wirtschaftsorganisationen und der CSU, und dort speziell zu Strauß.21 Balke trat also in den beiden Jahren vor seinem Einstieg in die professionelle Politik als Finanzier des CSU-Mannes Franz Josef Strauß auf, in Bonn die aus Geld und Politik Thomas/Woller, Hans (Hrsg.): Politik und Kultur im föderativen Staat 1949 bis 1973, Bayern im Bund Band 3, München 2004, S. 23-116, hier S. 33 f. 15 Vgl. dazu Bösch, Frank: Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945-1969, Stuttgart/München 2001, S. 215-221. 16 Vgl. Brief Balke an Bender vom 07.10.1951, in: ACDP, NL Balke, I-175-044/4. 17 Vgl. o.V.: Schafkopfen lernen, in: Der Spiegel, 23.11.1970. Offenbar bediente Balke damit das „geheimnisvolle Sonderkonto I“, auf das für Strauß von 1952 bis 1964 regelmäßig Gelder flossen. Die Diäten für Bundestagsmitglieder betrugen Mitte der 1950er Jahre um die 2.000 DM; vgl. o.V.: Das Geld, die Macht und FJS, in: Der Spiegel, 22.07.1996. 18 Hier und folgend Brief Bayer an Balke vom 24.08.1951, in: ACDP, NL Balke, I-175-044/4. 19 Vgl. Brief Balke an Generaldirektor Otto Seeling vom 24.09.1951, in: ebd. 20 Ebd. 21 Balke bilanzierte, dass „uns das Unternehmen Bonn brauchbares Material bringt […] und dass vor allem die gesteigerte Aktivität der CSU (die von uns ermöglicht wurde), für die bayerische Wirtschaft in Bonn plötzlich ein ganz anderes Echo geschaffen hat. Es mehren sich die Besuche höchster Herrschaften bei mir persönlich, um als Klimaanlage zu wirken.“ Brief Balke an Bender vom 07.10.1951, in: ebd.
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vermittelte Reziprozitätsbeziehung zwischen CSU und bayerischer Wirtschaft koordinierend. Damit schloss Balke nicht nur persönliche Bekanntschaft mit Strauß, der zum damaligen Zeitpunkt das Fundament seiner späteren Machtstellung innerhalb der CSU goss. Sondern er leistete vor allem einen wichtigen Beitrag zum politischen Erfolg der Christlich Sozialen in Bayern – handelte es sich bei dieser doch um eine mitgliederschwache Honoratiorenpartei, die stark auf externe Gelder angewiesen war.22 In den Jahren 1950 bis 1953 halbierte sich die Mitgliederzahl annähernd auf rund 33.000, die Landesgeschäftsstelle finanzierte sich seinerzeit zu über achtzig Prozent aus Spenden. Hätte sich die CSU – übrigens genau wie ihre christdemokratische Schwesterpartei – allein auf die Zahlungsmoral der Parteibucheigner verlassen, so hätte sie es wohl kaum zu der „Staatspartei“ geschafft, zu der sie in den 1950er Jahren heranreifte.23 Die Unterstützung von Männern wie Balke war dementsprechend von existenzieller Bedeutung. Dies – die Mitgliedschaft im Wirtschaftsbeirat der Union sowie die unmittelbare Zuweisung von Geldern für Strauß im Speziellen und die CSU im Allgemeinen – waren folglich zwei elementare Berührungspunkte Balkes mit der CSU, für die er schließlich in den folgenden neun Jahren einen Ministerplatz ausfüllen sollte. Dies alles zusammengenommen lässt sich, wenn man so will, als vorpolitische Qualifikation Balkes bezeichnen. Denn indem Balke Industriegelder auf Strauß’ Konto transferierte, Wahlkampfspenden für die CSU akquirierte und auch sonst als enger Kontaktmann zwischen Partei und Verbänden fungierte, erwarb er sich parteiintern Meriten. Balke musste keinen Bezirksverband führen oder ein anderes hochrangiges Parteiamt bekleiden, um nach Bonn geholt zu werden. Im Falle Balkes handelte es sich gewissermaßen um eine alternativ erbrachte Parteiarbeit. So war es denn auch der Zahlungsempfänger Strauß, der Balke in Bonn der CSULandesgruppe vorschlug und gegen Widerstände durchsetzte.24
Konfessionsproporz und Interessenvertretung: der Moment des Seiteneinstiegs Doch erklärt dies freilich den Seiteneinstieg Siegfried Balkes noch nicht zufriedenstellend. Sicher, Balke hatte der CSU Gelder zugeschanzt und „beriet“ sie in wirtschaftspolitischen Fragen. Aber Balke hatte noch mehr vorzuweisen, er besaß auch Fähigkeiten, die ihn für eine politische Karriere prädestinierten. Der Wirtschaftsmanager galt in Fachkreisen als formidabler Rhetor, im wurde eine „blendende Sprachkultur“25 attestiert. Kurzum: Die im Rahmen seiner Verbandstätigkeit gehaltenen Vorträge und Berichte auf Jahreshauptversammlungen, Fachkongressen und Konferenzen hatten Balke für eine politische Tätigkeit ein Stück weit empfohlen. Das Amt eines Bundesministers erfordert darüber hinaus die Fähigkeit zur politischen Führung. Als Vorstand großer Unternehmen, zudem herausgehobener Funktionsträger in 22 Vgl. etwa Notiz zur CSU-Landesvorstandssitzung vom 13.04.1951, abgedruckt als Dokument Nr. 42b in: Balcar/Schlemmer (Hrsg.) 2007, S. 283 f.; Schlemmer 1998, S. 456-464 sowie S. 471 f. 23 Vgl. Mintzel 1977, S. 66 f. 24 Die für gewöhnlich als geschlossen geltende CSU-Landesgruppe akzeptierte Balke nicht unumstritten mit 31 zu zwölf Stimmen bei sieben Enthaltungen; vgl. o.V.: Den Balke im Auge, in: Der Spiegel, 25.11.1953; Weber, Petra: Balke, Siegfried, in: Kempf, Udo/Merz, Hans-Georg (Hrsg.): Kanzler und Minister 1949-1998, Wiesbaden 2001, S. 113-117, hier S. 113. 25 Beide Zitate aus Lauer, A.: Dr. Siegfried Balke Bundespostminister, in: Deutsche Apothekerzeitung, 24.12.1953.
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einigen Verbänden und Vereinen, brachte Balke Einiges an Erfahrung in der Leitung von Administrationen und der Führung von Untergebenen mit nach Bonn. Die Atmosphäre von Gremiensitzungen sowie das Klima von Büroräumen und Sitzungssälen waren ihm hochvertraut. Außerdem erklang im Postministerium 1953 der Ruf nach einer Stärkung marktwirtschaftlicher Handlungsprinzipien, um die miserable Etatsituation zu überwinden. Balke, der sich selbst als „Kaufmann“26 begriff und geübt im Analysieren von Bilanzen war, schien auch dafür eine angemessene Personalie zu sein.27 Ohne Weiteres ließ sich Balke dennoch nicht in einem Ministeramt unterbringen. Zu diesem Schritt bedurfte es im Falle des Wacker-Managers noch anderer Faktoren, so vor allem der spezifischen Situation während der Regierungsbildung nach der im September 1953 abgehaltenen Bundestagswahl. In diesem Zusammenhang wirkten sich vor allem zwei wesentliche Bedingungen vorteilhaft für die Rekrutierung Balkes aus. Da wäre, erstens, die gestärkte Position der CSU im Bonner Parlament zu nennen. Die Christsozialen steigerten beim zweiten westdeutschen Urnengang ihren Stimmenanteil von 5,8 Prozent im Jahre 1949 um ganze drei Prozentpunkte auf 8,8 Prozent. Damit leisteten sie nicht nur einen bedeutsamen Beitrag zur anschließend weit über ein Jahrzehnt währenden Unionsdominanz im Bundestag.28 Strauß verlangte für die CSU infolgedessen gleich drei Ministerposten sowie die Vizekanzlerschaft.29 Letzteres ließ sich zwar nicht durchsetzen, dafür entsandten die Bayern mit Richard Jaeger aber erstmals einen von drei Stellvertretern in das Bundestagspräsidium und wurden proportional zu ihrem Mandatsanteil am Kabinett beteiligt.30 Daneben erleichterte die besondere Rolle der CSU innerhalb der Bundestagsfraktion der C-Parteien die Durchsetzung der Personalie Balke.31 Der Sonderstatus der CSULandesgruppe in der Unionsfraktion, heute etabliert, war 1953 aber noch keineswegs dauerhaft gesichert.32 Umso resoluter vertrat die CSU daher ihre Ansprüche und Forderungen gegenüber der eigentlichen Kanzlerpartei, umso deutlicher wollte sie nicht als „Appendix der CDU“33 erscheinen. Kaum etwas aber konnte den Souveränitätsanspruch derart akzentuieren, wie die Berufung eines Politikfremden und Parteilosen. Doch wie kam Balke ausgerechnet in das Postministerium? Der amtierende Minister für das Post- und Fernmeldewesen, der CSU-Politiker Hans Schuberth, machte schließlich zu Beginn der Koalitionsverhandlungen keine Anstalten, seinen Posten freiwillig zu räumen. Die Vakanz des Ministeriums, das die CSU auch weiterhin für sich beanspruchte, erwies sich dennoch als das letztlich entscheidende Gelegenheitsfenster für Siegfried Balke. Drei Gründe legten einen Ministerwechsel nahe: Erstens konnte Schuberth nach vier Jahren keine sonderlich gute Bilanz vorweisen. Im Gegenteil, die Bundespost befand sich wegen 26
O.V.: Das marktwirtschaftliche Porto, in: Der Spiegel, 16.06.1954. Selbst von kritischen Augen wurde Balke als reiner Fachmann gesehen; vgl. Pritzkoleit, Kurt: Die neuen Herren. Die Mächtigen in Staat und Wirtschaft, Wien u.a. 1955, S. 291 und S. 310. 28 Vgl. Oberreuter, Heinrich: Konkurrierende Kooperation – Die CSU in der Bundesrepublik, in: Hanns-SeidelStiftung (Hrsg.; verantwortlich: Baumgärtel, Manfred): Geschichte einer Volkspartei. 50 Jahre CSU 1945-1995, Grünwald 1995, S. 319-332, hier S. 325. 29 Vgl. Tagebucheintrag Heinrich Krones vom 14.09.1953, in: Krone, Heinrich: Tagebücher. Erster Band: 19451961, Düsseldorf 1995, S. 126. 30 Vgl. Mintzel 1977, S. 367. 31 Vgl. dazu allgemein Dexheimer, Wolfgang F.: Die CSU-Landesgruppe. Ihre organisatorische Stellung in der CDU/CSU-Fraktion, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 3 (1972) H. 3, S. 303-313. 32 Vgl. Müchler, Günter: CDU/CSU. Das schwierige Bündnis, München 1976, S. 112 f. sowie S. 144. 33 Zitiert nach ebd., S. 119. 27
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ihrer umstrittenen Tarif- und Personalpolitik in den frühen 1950er Jahren in einer tiefen Krise.34 Absichten einer Gebührenerhöhung erregten die Öffentlichkeit und lenkten den Fokus auf Fehler in der Betriebsführung. In Zeiten einer sich kontinuierlich rationalisierenden Wirtschaft stieß die Bundespost auf Unmut, da sie ihren Beschäftigtenstand während der Nachkriegszeit von 200.000 auf 300.000 Personen erweitert hatte. Harte Fakten wie ein Verlust von 51 Millionen DM 1952, der sich 1953 zu einem Defizit von 192 Millionen DM ausweitete, unterstrichen den desolaten Zustand, in dem sich einer der größten öffentlichen Dienstleister befand. Die von Schuberth politisch verantwortete Situation der Bundespost widersprach damit dem Trend von Stabilität und volkswirtschaftlicher Prosperität, der die Adenauer-Regierung in den 1950er Jahren bei den Wählern so populär machte. Eine Besserung der Situation war, zweitens, unter Schuberth nicht zu erwarten, da dieser krankheitsbedingt seinen Ministerverpflichtungen nur unzureichend nachkam und – Schuberth fehlte allein 1951/52 in 61 Kabinettssitzungen – auch an der Kabinettsarbeit kaum teilnehmen konnte.35 Dem physisch schwachen Mann ermangelte es schlichtweg an Agilität und Energie, die der zwar methusalemisch alte, aber trotzdessen vitale Adenauer seinen Ministern nun einmal abzuverlangen pflegte. Angesichts dessen sah sich der Bundeskanzler unter Zugzwang gesetzt, den unglücklich agierenden Postminister abzulösen, um auf diese Weise einen Ansehensverlust der gesamten Regierungsarbeit abzuwenden. Für Balke sprach im Vergleich mit Schuberth des Weiteren, drittens, die Konfession.36 Die Ära Adenauer war bekanntermaßen auch eine Ära der Proporzregelungen.37 Möglichst alles und jeder musste angemessen in den Führungsgremien repräsentiert sein. Besonders die Religionszugehörigkeit war dabei ein maßgeblicher Parameter für die Ministerauswahl.38 Schließlich sah man sich ob des angeblich übermächtigen Einflusses der katholischen Kirche anhaltender Kritik seitens evangelischer Geistlicher oder Parteifreunde ausgesetzt. Wichtige Amts- und Würdenträger – wie der Bundestagspräsident Hermann Ehlers – mahnten Ende 1953 die geringe Repräsentanz evangelischer Wähler auf der Ministerbank an, da doch eben erst bei der Bundestagswahl gerade protestantische Gebiete so fleißig für die Union gestimmt hätten.39 Es grassierte in protestantischen Wählergruppen mitunter eine veritable „Katholikenfurcht“40. Adenauer versuchte, diese Stimmungen nach der Bundestagswahl auf die gewohnte Art zu entkräften: mit der Zuweisung politischer Führungsämter an Protestanten. Von den acht bis neun Ministerkandidaten der Union aber waren nur zwei evangelischen Bekenntnisses. Der Katholik Schuberth als einer der verwundbarsten Amtsinhaber wurde von Adenauer daher bedrängt, seinen Posten für einen Protestanten freizumachen. Da weder Schuberth noch die CSU anfangs zu solch einem Schritt Bereitschaft zeigten, wurde das zweite Bundeskabinett am 20. Oktober 1953 zunächst noch ohne einen Postminister gebildet. Schuberth gab zwar eine Woche darauf mit seinem Amtsverzicht 34
Vgl. hierzu Beyrer, Klaus: Post im 20. Jahrhundert, in: DAMALS, H. 5/1997, S. 26-31. Vgl. Weber 2004, S. 41. 36 Vgl. Henkels, Walter: 99 Bonner Köpfe, Düsseldorf/Wien 1963, S. 29; Radkau, Joachim: Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945-1975. Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse, Hamburg 1983, S. 140. 37 Vgl. dazu Bösch 2001, S. 110-118, S. 159 ff. und S. 421. 38 Vgl. Domes, Jürgen: Bundesregierung und Mehrheitsfraktion. Aspekte der Verhältnisse der Fraktion der CDU/CSU im zweiten und dritten Deutschen Bundestag zum Kabinett Adenauer, Köln/Opladen 1964, S. 82. 39 Vgl. o.V.: Ehlers: Zu wenig evangelische Minister, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.10.1953. 40 Bösch 2001, S. 113. 35
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nach, bloß stand man anschließend vor dem nicht unerheblichen Problem, einen bayerischen CSU-Mann evangelischer Konfession aufzutreiben. Doch der CSU ermangelte es in dieser Hinsicht an ministrablem Personal. Der fränkische Protestant und stellvertretende CSU-Vorsitzende Karl Sigmund Mayr war der Kandidat Adenauers. Da sich die Partei aber partout „nicht dem Kommando eines fremden Parteichefs“41 als „Vasallen des Kanzlers“42 unterwerfen wollte, sich in ihrer Entscheidungsautonomie bevormundet sah und Mayr zudem als Interna ausplaudernder Informant des Kanzleramts galt, wurde er von der Parteispitze zum Verzicht gedrängt.43 Weitere, rar gesäte Alternativen, wie etwa der evangelische Landtagsabgeordnete Paul Nerreter, erteilten für ein Engagement in Bonn Absagen, was die CSU-Führung unversehens in Verlegenheit brachte.44 Schließlich waren zwei Monate verstrichen und das vakante Ministerbüro musste schleunigst besetzt werden. Siegfried Balke war es letztlich, der die ungewöhnlichen Anforderungen erfüllte: Ein Mann evangelischer Konfession, der Bayern zumindest als Wahlheimat betrachtete und der CSU immerhin „schon seit langem nahe gestanden“45 hatte. Balkes Berufung war dennoch in mehrfacher Hinsicht ein Kuriosum, durchbrach sie doch – ganz Seiteneinsteiger-typisch – gängige Rekrutierungsmuster sowohl hinsichtlich der Bundesregierung als auch der CSU. Erstens zeichneten Balke CSU-untypische Merkmale aus:46 Er war eben Protestant, westfälischer Herkunft und nicht einmal ordentliches Parteimitglied. Das ließ ihn eher preußisch denn bayerisch anmuten. Zweitens verfügte er im Vergleich zu seinem direkten Amtsvorgänger Schuberth, der ganz klassisch innerhalb der Post Karriere gemacht hatte und aus der höheren Beamtenschaft kam,47 über keine unmittelbare Kompetenz zur Führung des Postministeriums. Drittens gehörte Balke als Einziger im Kabinett nicht gleichzeitig dem Bundestag an – was herausstach, da das Bundestagsmandat neben einer bisherigen Zugehörigkeit zum Kabinett und einer Position im Fraktionsvorstand damals der wichtigste Zugangsschlüssel zur Regierung war.48 Das Eignungskriterium Konfession galt letztlich aber desgleichen für die CSU, der Balke zum damaligen Zeitpunkt durchaus gelegen kam. Denn nicht nur im Bundeskabinett des „Alten“ aus Rhöndorf galt der Proporz etwas, auch in der CSU selbst bestand ein Bedarf an protestantischen Persönlichkeiten auf der Führungsebene. Obwohl sich die CSU in Bayern bereits dabei war, sich zur dominanten Partei zu entwickeln, existierten doch noch einige Diasporagebiete, in denen die Christsozialen als „die von der Gegenreformation“49 41
Zitiert nach Mintzel 1977, S. 366. Protokoll der Sitzung des CSU-Landesvorstands vom 07.11.1953, abgedruckt als Dokument Nr. 59b in: Balcar/Schlemmer (Hrsg.) 2007, S. 397. 43 Vgl. hierzu das Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden Landesvorstands der CSU vom 24.10.1953, abgedruckt als Dokument Nr. 58a in: ebd., S. 383 ff.; Protokoll der Sitzung des CSU-Landesvorstands vom 07.11.1953, abgedruckt als Dokument Nr. 59b in: ebd., S. 394 ff.; Köhler, Henning: Adenauer. Eine politische Biographie, Frankfurt am Main/Berlin 1994, S. 802 ff.; Mintzel 1977, S. 366 f.; o.V.: Staub zum Wirbeln, in: Der Spiegel, 28.10.1953; o.V.: Elf sind genug, in: Der Spiegel, 04.11.1953. Chronistischen Eingang in die Unionsgeschichte fand dieses Geplänkel als die „Mayr-Schuberth-Affäre“. 44 Vgl. das Protokoll der Sitzung des CSU-Landesvorstands vom 07.11.1953, abgedruckt als Dokument Nr. 59b in: Balcar/Schlemmer (Hrsg.) 2007, S. 398 f.; Müchler 1976, S. 116. 45 O.V.: Balke tritt CSU bei, in: Die Neue Zeitung, 19.01.1954. 46 Vgl. v. Zühlsdorff: Ein moderner Postminister, in: Die Zeit, 17.12.1953. 47 Vgl. o.V.: Laien im Postministerium, in: Der Tagesspiegel, 16.01.1954. 48 Vgl. Domes 1964, S. 80 ff. 49 Höpfinger, Renate: Zeitzeugen-Interviews, in: Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.; verantwortlich: Baumgärtel) 1995, S. 523-632, hier S. 529 (Interview mit Werner Dollinger). 42
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beargwöhnt wurden. Die CSU galt in solchen Zonen als durchweg katholische Partei, was sie der Konfession ihres Spitzenpersonals nach ganz überwiegend auch war. Nicht zuletzt zog sich die CSU in diesen Zeiten regelmäßig den Unbill des evangelischen Landesbischofs zu.50 Es galt folglich, die protestantische Bevölkerung durch verschiedene Maßnahmen von der Überparteilichkeit der CSU zu überzeugen. Noch im November 1953, kurz vor Balkes Rekrutierung, konstituierte sich der „Evangelische Arbeitskreis in der CSU“, dem die Aufgabe zukam, die Distanz der Partei zu den evangelischen Wählern zu verkürzen.51 Auch die Besetzung exponierter Positionen, etwa eines Bundesministeriums, mit Protestanten diente dem Ziel, die CSU in bisher parteifernen Wählergruppen attraktiver zu machen. Im Übrigen entsprach eine Personalpolitik der konfessionellen Ausgewogenheit auch dem Politikverständnis des damaligen Parteivorsitzenden Hans Ehard, der um die Möglichkeiten des Proporzes zur Integration der protestantischen Strömungen wusste.52 Aufgrund eines jüdischen Vaters Opfer nationalsozialistischer Diskriminierung – Balke blieb eine universitäre Akademikerkarriere vorenthalten, Ruhpoldinger Bergbauern mussten ihm außerhalb Münchens gelegentlich Unterschlupf gewähren –, war Balke zudem jemand, von dem es hieß, er habe während der Hitler-Diktatur „ein beachtliches Maß an Zivilcourage bewiesen“53. Doch gerade parteiintern fehlte es an politisch unbelastetem Personal aus dem protestantischen Glaubensspektrum, nachdem gerade im evangelischen Franken ein großer Personenkreis aufgrund der NS-Vergangenheit mit politischem Betätigungsverbot belegt worden war.54 In der CSU tummelten sich daher nicht unbedingt viele Protestanten mit dem Format für politische Spitzenämter. Balke war für die Partei also ein echter Zugewinn. Eine Partei, die sich damals ohne Weiteres als Honoratiorenpartei charakterisieren ließ, durch wenige Mitglieder und einen rudimentären Organisationsaufbau gekennzeichnet; die dezentral und ehrenamtlich verwaltet war55 sowie „im Wesentlichen auf das Charisma, die Autorität und Zugkraft ihrer staatlichen ‚Würdenträger‘ baute“56. Eine Partei auch, in der es nach Auskunft ihres Generalsekretärs Friedrich Zimmermann Mitte der 1950er Jahre „keine Geschäftsstellen [gab], keine Räume, keine Akten, keinen Apparat, gar nichts.“57 Für Balke waren dies zweifellos exzellente Bedingungen. Die Parteistrukturen waren schwach, die Mitgliederdichte überschaubar, und den Mangel an hauptamtlichem Parteipersonal konnte besonders Balke dieses notorische Infrastrukturdefizit der CSU kompensieren, indem er vermittels seiner herausragenden Stellung in der bayerischen Chemieindustrie mit
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Vgl. ebd., S. 626. Vgl. Mintzel 1975, S. 216-221. 52 Vgl. Müller, Kay: Zwischen Staatskanzlei und Landesgruppe. Führung in der CSU, in: Forkmann, Daniela/Schlieben, Michael (Hrsg.): Die Parteivorsitzenden in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 2005, Wiesbaden 2005, S. 215-262, hier S. 226. 53 Raegener, Karl Heinrich: Prof. Dr. Siegfried Balke – der Repräsentant der Arbeitgeber, S. 11, Textwiedergabe nach einer Tonbandaufnahme vom 31.10.1969, in: ACDP, NL Balke, I-175-001/2; vgl. auch Angaben über die sozialpolitische Tätigkeit von Siegfried Balke vom 07.01.1974, in: ACDP, NL Balke, I-175-001/1, S. 1; Berghahn, Volker: Unternehmer und Politik in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 1985, S. 68; Moser 2002, S. 43. 54 Vgl. Mintzel 1975, S. 217. 55 Vgl. ebd., S. 248. 56 Ebd., S. 249. 57 Höpfinger, Renate: Zeitzeugen-Interviews, in: Hanns-Seidel-Stiftung (Hrsg.; verantwortlich: Baumgärtel) 1995, S. 624 (Interview mit Friedrich Zimmermann). 51
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einer eigenen Sekretärin samt Büro in München und einem persönlichen „Dispositionsfonds“ in Höhe von jährlich 40.000 DM (zur „Etablierung in Bonn“58) aufzuwarten wusste.59 Im Vergleich zu anderen Parteimitgliedern besaß er mit diesen Privilegien einen nicht zu unterschätzenden Vorteil und konnte infolgedessen auch anfangs auf ein Bundestagsmandat mit den dazugehörigen Annehmlichkeiten verzichten. Zumal die CSU in den 1950er Jahren sehr darauf bedacht war, gute Kontakte zur Industrie zu unterhalten und den Wünschen wichtiger Wirtschaftskreise nach direkterem politischen Einfluss nachzukommen, um unverzichtbare Geldgeber nicht zu verprellen. Der Berufung Balkes zu einem von drei CSU-Ministern im Bundeskabinett folgte knapp ein Jahr später auch deshalb die Inthronisierung Hanns Seidels als Parteivorsitzendem, da dieser im Gegensatz zu seinem Vorgänger Hans Ehard in industriellen Kreisen wohlgelitten war.60 Kurzum: Balkes Seiteneinstieg verdankte sich der Koalitionsarithmetik, dem Mangel der CSU an eigenem Personal, dem Honoratiorenformat der Partei, aber eben auch der Verdienste, die er sich für die bayerische CDU-Schwester durch die Bereitstellung von Industriegeldern erworben hatte. Das Gelegenheitsfenster zum Einstieg in die Politik stand offen für einen aus der NS-Zeit unbelastet hervorgegangenen protestantischen Spitzenmanager mit CSU-Nähe. Doch vermag die Nachfrage nach einem Mann wie ihm, Balkes Einstieg in die Politik nicht hinreichend zu erklären. Er musste den Schritt schließlich auch selbst gehen wollen, musste zum Tätigkeitswechsel bereit sein. Welches Motiv also verleitete den gut bezahlten Wirtschaftsführer Balke zum Engagement im professionellen Politikbetrieb für die CSU, zur Übernahme eines Ministeriums der Bundesregierung?
Die CSU: Partei des Unternehmerlagers Zunächst der Parteieinstieg: Dass Balke als überzeugter Verfechter der freien Marktwirtschaft nicht mit der SPD sympathisierte, erscheint wenig verwunderlich. Die Mitgliedschaft im Wirtschaftsbeirat der Union und die finanzielle Unterstützung für Strauß gründeten eben hierauf, auf dem politischen Kampf gegen DGB und SPD.61 Bliebe noch die FDP als ernst zu nehmende Alternative. In ihrer Programmatik präsentierten sich die bayerischen Freidemokraten prononciert antisozialistisch und marktwirtschaftlich.62 Allerdings war die FDP im Unterschied zur CSU wählerschwach. Die enge Bindung der bayerischen Industriellen im Allgemeinen und Balkes im Besonderen an die CSU speiste sich folglich nicht zuletzt aus pragmatischen Erwägungen, mit welchem politischen Partner realiter mehr Einfluss auszuüben war. Die Parteiwahl traf Balke somit aus zweierlei Erwägungen: Zum einen positionierte sich die CSU mit ihrer prinzipiellen Bejahung des kapitalistischen Systems, spezifisch: der Sozialen Marktwirtschaft, programmatisch ganz nach dem Gusto Balkes und der bayeri58
Schreiben Kolke an Balke, Gammert und Heisel vom 09.04.1954, in: ACDP, NL Balke, I-175-045/1. Vgl. Schreiben Balke an Kolke, Heisel und Gammert vom 26.09.1955, in: ebd. Vgl. das Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden CSU-Landesvorstands vom 08.01.1955, abgedruckt als Dokument Nr. 68b in: Balcar/Schlemmer (Hrsg.) 2007, S. 484; Groß, Hans Ferdinand: Hanns Seidel 1901-1961. Eine politische Biographie, München 1992, S. 105; Müller 2005, S. 231. Der Präsident des Landesverbandes der Bayerischen Industrie schätzte Seidel sehr, vgl.: Moser 2002, S. 51 sowie S. 54 f. 61 Vgl. Mintzel 1975, S. 214. 62 Vgl. hier und folgend Mintzel 1977, S. 191-194; ders. 1975, S. 212 ff. 59 60
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schen Chemiewirtschaft. Zum anderen war sie politisch wirkungsmächtig, stellte in Bayern als weitaus stärkste Partei mit Hans Ehard den Ministerpräsidenten und war in Bonn mit einer durchaus souveränen Landesgruppe und einer stattlichen Abgeordnetenzahl an der Regierungskoalition beteiligt. Es handelte sich somit um eine Partei, die eine stattliche Macht ausübte sowie vielerlei Ämter und Mandate zu vergeben hatte.
Balke: Vertrauensmann der Wirtschaft Die Wahl der CSU als Partei für den Seiteneinstieg ist also keinesfalls rätselhaft. Doch was war der persönliche Beweggrund Balkes für die Übernahme des Postministeriums? Zeitgenössische Beobachter schrieben, Balke „ging ins Postministerium mit einer bestimmten Passion: Er wollte die Post wirtschaftlich auf Schwung bringen, sie von ihrem chronischen Defizit heilen, und er wollte es, wenn man so sagen will, mit marktwirtschaftlichen Maximen tun, denn darauf verstand sich der erfolgreiche Wirtschaftler ausgezeichnet.“63 Auch im Rückblick hieß es, Balkes Ehrgeiz sei es gewesen, „dieses zweitgrößte Wirtschaftsunternehmen des Bundes zu rationalisieren und so unbürokratisch wie möglich nach den Grundsätzen einer großen Privatgesellschaft wirtschaftlich zu führen.“64 Sicherlich war die freudlose Lage der Post für einen ambitionierten Manager ein reizvolles Betätigungsobjekt65 und bot günstige Möglichkeiten zur persönlichen Profilierung. Balke selbst gab an, ohnedies das Konzept eines finanziell unabhängigen, vom Ruch des Postenjägers freien, parteipolitisch unbelasteten und nicht kompromittierten Ministers zu mögen.66 In seinem Hauptwerk, „Vernunft in dieser Zeit“ aus dem Jahre 1962, kleidete Balke sein Motiv zudem in die Pflicht des Unternehmers, „sowohl innerhalb seines von seiner ursprünglichen Aufgabenstellung her gegebenen eigenen Wirkungsbereiches wie auch außerhalb in […] jenen Institutionen, die die Demokratie zur politischen Willensbildung bereitstellt“67, seine spezifischen Kompetenzen und Fähigkeiten zum Nutzen der Gesellschaft einzubringen. „In einer Zeit“, so Balke weiter, „in der politisch denkende Menschen, Menschen mit politischem Instinkt, mit entsprechenden Begabungen und Fähigkeiten selten sind, muss aber auch der Unternehmer alle Kräfte und Reserven mobilisieren, die zur Lösung gesellschaftspolitischer und politischer Aufgaben allgemein beitragen können.“68 Nicht Funktionäre, so Balkes Auffassung, sondern Unternehmer sollten die elementaren Fragen der Gesellschaft lösen. Unternehmerpersönlichkeiten sollten das Schicksal der Wirtschaft nicht Parteipolitikern anvertrauen,69 sondern es vielmehr selbst in die Hand nehmen – auch im Rahmen von Ämtern in staatlichen Institutionen. Demnach wäre Balke bei der Entscheidung zum Quereinstieg in die Politik einer selbst auferlegten staatsbürgerlichen Pflicht nachgekommen, um Staat und Gesellschaft mit seiner im Berufsleben gewonnenen Expertise zu dienen. 63
O.V.: …überdies Minister, in: Deutsches Monatsblatt, Mai 1959, S. 6. O.V.: Im Dienste technischen und sozialen Fortschritts, in: Handelsblatt, 31.05.1967. 65 Vgl. o.V.: Zwischen Bundespost und Kernspaltung, in: BMD, Nr. 45/4. Jg., 06.11.1956, S. 4 ff. 66 Vgl. Balke, Siegfried: Warum ich mich für dieses Amt zur Verfügung stelle, in: Süddeutsche Zeitung, 12./13.12.1953. 67 Balke, Siegfried: Vernunft in dieser Zeit. Der Einfluss von Wirtschaft, Wissenschaft und Technik auf unser Leben, Düsseldorf/Wien 1962, S. 24. 68 Ebd., S. 23. 69 Ebd., S. 29. 64
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Ob Balke tatsächlich die Grundüberzeugung, nach der Naturwissenschaftler und Unternehmensführer eine herausgehobene Mitverantwortung für die Gestaltung der Gesellschaft übernehmen sollten, zu personifizieren suchte, erscheint jedoch höchst fragwürdig und muss mit einiger Kritik gesehen werden. Dem widersprechen nämlich die Schilderungen zeitgenössischer Beobachter mit intimem Einblick in die Bonner Politikszenerie, nach denen Balke – ein eher apolitischer Mensch, wie es hieß – erst mühsam hätte überredet werden müssen.70 Strauß habe ihm nach einem gemeinsamen Frühstück auf der Tagung des Bundesverbands der Chemie einen Antrag machen, seine Verbandskollegen ihn drängen müssen.71 In informierten Kreisen war es wohl kein Geheimnis, dass die beiden CSUGranden in Bonn, Fritz Schäffer und Franz Josef Strauß, „geduldig an ihm haben kneten müssen, ehe sich der Chemiker aus dem Labor und dem Direktionszimmer entschloss, den angebotenen Platz in Bonn anzunehmen.“72 Stimmte dies, so hatte Balke keinen besonderen Ehrgeiz erkennen lassen, als sich die Möglichkeit zu der von ihm später so gepriesenen Übernahme von „Mitverantwortung“ ergab. Kaum verwunderlich: Es handelte sich bei Siegfried Balke schließlich um einen wichtigen Akteur der bayerischen Wirtschaftsorganisation. Nicht nur oblag ihm als „Hausmeier“73 der Wacker-Erben die Unternehmensleitung eines der traditionsreichsten Industriebetriebe Bayerns, der Alexander Wacker Chemie. Balke saß auch dem VBCI vor, war im Präsidium des Landesverbandes der Bayerischen Industrie und Vorstandsvize der Vereinigung der Arbeitgeberverbände Bayern. Bereits in den wenigen Jahren bundesrepublikanischer Demokratie war es eine gängige Praxis der Wirtschaftsverbände, Organisationsangehörige anstelle von Beamten oder Parteipolitikern in Ausschüsse, Referate, ja sogar Ministerien einzuschleusen.74 Und so sollte wohl auch Balke in seinem politischen Amt „große Dienste“ für die chemische Industrie vollbringen und „den Einflüssen aller Gruppeninteressen eisernen Widerstand“ entgegensetzen.75 Die anlässlich seiner Berufung in die Bundesregierung aufgekommene Vermutung, Balke käme als Interessenvertreter der bayerischen Wirtschaft und Industrie in das Kabinett,76 erscheint deshalb durchaus plausibel. Schon in den 1960er Jahren nahmen politikwissenschaftliche Forscher an, dass Interessenorganisationen über die „materielle Wahlkampfhilfe mancherlei Art“77 hinaus „Vertrauensleute des eigenen Verbandes“ in Parlament und Fraktion einzuschleusen versuchten, um auf diese Weise noch direkter ihre Vorstellungen von Wirtschafts- und Finanzpolitik vorbringen zu können. Indizien für diese These gab es zuhauf. So war der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Gustav Stein, 1961 in den Bundestag eingezogen und ließ sich drei Jahre später in den Unionsfraktionsvorstand kooptieren.78 Stein war es auch, der 1954 die Unternehmer konspirativ zur Besetzung politischer Ämter und Funktionen, ja zur Eroberung der 70 So beispielsweise Henkels, Walter: Bundespostminister Dr. Siegfried Balke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.01.1955. 71 Vgl. o.V.: Das marktwirtschaftliche Porto, in: Der Spiegel, 16.06.1954. 72 O.V.: …überdies Minister, in: Deutsches Monatsblatt, Mai 1959, S. 6. 73 O.V.: Das marktwirtschaftliche Porto, in: Der Spiegel, 16.06.1954. 74 Vgl. beispielhaft die Aktivität Dr. Theurers als Vertreter des württembergischen Chemieverbandes im Bundeswirtschaftsministerium, Brief Balke an Guido Bayer vom 07.10.1951, in: ACDP, NL Balke, I-175-044/4. 75 Brief Balke an Guido Bayer vom 07.10.1951, in: ebd. 76 Vgl. o.V.: Dr. Balke zum Postminister vorgeschlagen, in: Deutsche Tagespost, 20./21.11.1953. 77 Hier und folgend Domes 1964, S. 84. 78 Vgl. Franz, Corinna (Bearbeiterin): Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 19611966, Zweiter Teilband September 1963 - Juli 1965, Düsseldorf 2004, S. XI-XCIV, hier S. XXXVII f.
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politischen Schlüsselstellungen aufgerufen hatte.79 In demselben Jahr hatte der BDIPräsident Fritz Berg in Verbandskreisen die Parole ausgegeben, auf der Ebene von Wahlkreisen „den unternehmerischen Einfluss im Verhältnis seiner Bedeutung“80 zu entfalten und eine Renaissance des politisch aktiven Industriellen, der für das freie Unternehmertum eintrete, eingefordert.81 Weiter fällt auf, dass sich die chemische Industrie seit Beginn der 1950er Jahre öffentlich mit der staatlichen Forschungsförderung höchst unzufrieden zeigte und dies durch einen eigenen „Wirtschaftsfonds“ unterstrich, über den sie an Universitäten demonstrativ Geld zuwenden ließ und den so bloßgestellten Fiskus zu eigenen Maßnahmen animieren wollte.82 Balke saß im Vorstand der „Arbeitsgemeinschaft Chemische Industrie“, die bereits im April 1950 die Unternehmen der chemischen Industrie zu Abgaben für einen „Fonds der Chemie“ aufrief.83 In diesem Postulat fand sich an zentraler Stelle die Auffassung, der Bund habe die „oberste Pflicht“ Wissenschaft und Forschung großzügig mit öffentlichen Geldern zu fördern. Balkes Bestreben, aus dem später von ihm übernommenen Atomministerium ein Wissenschafts- und Forschungsförderungsministerium zu machen, ist in diesem – lobbyistischen – Zusammenhang zu sehen. Als Kopf eines solchen Ministeriums hätte er die finanziellen Bedürfnisse seines beruflichen Herkunftsbereichs und der von ihm selbst mitgeführten Organisationen der Chemieindustrie befriedigen, hätte einen stattlichen Etat ausschöpfen können. Das Wort vom „Vertrauensmann“, dem die Förderung von Bayerns Unternehmen obliege, ging anlässlich Balkes Ministerernennung nicht zufällig in den Medien herum.84 Und in der Tat: Gönnt man sich Einsicht in die Kabinettsprotokolle der Adenauer-Ära, so fällt auf, dass Balke als Post- und Atomminister sehr häufig zu politischen Fragen Diskussionsbeiträge leistete, die sein Ressort kaum tangierten. Dabei vertrat er prononciert unternehmerfreundliche Konzepte. Einmal trug er „gewisse Bedenken“ gegen eine Einschränkung der degressiven Abschreibung vor, weil „nicht nur an die Industrie zu denken sei, die Investitionsgüter produziere, sondern auch an die Unternehmungen, die solche benötigen.“85 Dann wieder lehnte er eine Dynamisierung der Unfallversicherung nach dem Muster der Rentenversicherung – Kopplung der Unfallrenten an die aktuellen Löhne und Gehälter – ab,86 da die Leistungsverbesserungen von den versicherten Unternehmen hätten bezahlt werden müssen. Zeitgleich votierte Balke gegen eine Arbeitszeitverkürzung,87 for79
Vgl. o.V.: Der Interessen-Bündler, in: Der Spiegel, 02.11.1960. Zitiert nach ebd. 81 Vgl. ebd. 82 Vgl. Verband der Chemischen Industrie e.V. (Hrsg.): 5 Jahre Fonds der Chemischen Industrie zur Förderung von Forschung, Wissenschaft und Lehre. Ein Rechenschaftsbericht des Verbandes der Chemischen Industrie überreicht anläßlich einer akademischen Feier in Bonn am 15. April 1955, Frankfurt am Main 1955, S. 23 f.; o.V.: Mehr Mittel für die Chemieforschung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.10.1953. 83 Der Aufruf ist als Faksimile abgedruckt in: Verband der Chemischen Industrie e.V. (Hrsg.) 1955, S. 7. 84 Vgl. o.V.: Dr. Balke zum Postminister vorgeschlagen, in: Deutsche Tagespost, 20./21.11.1953; Pritzkoleit deutete 1955 an, dass Balke „sich der Wahrnehmung der ihm an vertrauten Interessen mit nicht geringerem Ernst widmet als der Erfüllung seiner ministeriellen Aufgaben“; Pritzkoleit 1955, S. 288. 85 Protokoll der 99. Kabinettssitzung am 09.03.1960, in: Behrendt, Ralf/Seemann, Christoph (Bearbeiter): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Band 13.1960, in: „Kabinettsprotokolle der Bundesregierung online“. 86 Vgl. das Protokoll der 169. Kabinettssitzung am 30.01.1957, in: Enders, Ulrich/Henke, Josef (Bearbeiter): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Band 10.1957, in: ebd. 87 Protokoll der 23. Kabinettssitzung am 30.04.1958, in: Enders, Ulrich/Schawe, Christoph (Bearbeiter): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Band 11.1958, in: ebd. 80
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derte eine „Bändigung der Lohn- und Tarifpolitik“88 und trat für die staatliche Übernahme von Entwicklungskosten in Geld verschlingenden Sparten wie der der Kernenergieforschung ein, da diese von der Industrie nicht geleistet werden könnten.89 Vieles deutet zudem darauf hin, dass Balke unmittelbar im Postministerium Interessen der freien Wirtschaft durchsetzen sollte.90 Das Bundespostdefizit sollte nicht durch eine seit Längerem drohende Gebührenerhöhung,91 sondern durch einen massiven Personalabbau bekämpft werden. Als Balke in das Ministerium kam, gehörte der rationellere Einsatz von Arbeitskräften – Personaleinsparungen also – folglich nicht ohne Zufall zu den ersten und wichtigsten Absichten des neuen Ministers. Und die später von Balke tatsächlich vorgenommene Preiserhöhung bei postalischen Dienstleistungen traf zuvorderst den gewerblichen Handel sowie Lotterie- und Versandunternehmen, am wenigsten aber die Industrie. Des Weiteren plante Balke das lukrative Fernmeldewesen zu privatisieren, es also privaten Unternehmen zugänglich zu machen, wogegen sich gewerkschaftlicher Protest erhob. Auch agierte er als spezifischer Sachwalter der bayerischen Industrieunternehmen, indem er sich Ende der 1950er Jahre im Kabinett gegen eine Heizölsteuer und Subventionen der kriselnden Ruhrkohle aussprach.92 Damit verschaffte Balke nicht nur der Linie der bayerischen CSU-Landesregierung, sondern auch und besonders bayerischen Firmen im Kabinett politische Repräsentanz. Eben dies: Akteur im Zentrum der politischen Entscheidungen als Interessenvertreter der Wirtschaft zu sein, muss als die basale Idee angesehen werden, die hinter Balkes Seiteneinstieg steckte. Bis dahin hatte man mit den Spenden der Volkswirtschaftlichen Gesellschaft und den geheimen Zahlungen des VBCI zwar immer konkrete politische Forderungen verbunden; und im Wirtschaftsbeirat der Union wurde die Arbeit der CSU-Landesgruppe im Bundestag besprochen und vorstrukturiert.93 Doch mit eigenen Händen, ohne den Umweg über Berufspolitiker wie Strauß, die Apparaturen in den Regierungsstellen zu bedienen, war nicht gelungen. Allee Versuche, direkten Zugriff auf politische Entscheidungen zu erheischen, waren zunächst ohne befriedigenden Erfolg geblieben, da sich erstens in den eigenen Reihen keine Bereitwilligen fanden und zweitens die Industriespitzen nicht einfach ohne Amt und Funktion in Parlaments-, Kabinetts- und Fraktionssitzungen auftauchen konnten. Dass sich kein namhafter Manager von seinem Chefsessel in die Politik bequemen wollte, darüber klagte 88 Protokoll der 11. Kabinettssitzung am 23.01.1962, in: Rössel, Uta/Seemann, Christoph (Bearbeiter): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Band 15.1962, in: ebd. 89 Vgl. das Protokoll der 55. Kabinettssitzung am 28.11.1962, in: ebd.; Stamm, Thomas: Zwischen Staat und Selbstverwaltung. Die deutsche Forschung im Wiederaufbau 1945-1965, Köln 1981, S. 207. 90 Zum Folgenden vgl. Beck, Hans Jürgen/Scherzer, Joachim: Deutsche Postgewerkschaft 1949 – 1974. Eine Chronik, in: Hauptvorstand der Deutschen Postgewerkschaft (Hrsg.): 25 Jahre Deutsche Postgewerkschaft. Reportagen, Interviews, Chronik, Frankfurt am Main 1974, S. 55-116, hier S. 77; o.V.: Das marktwirtschaftliche Porto, in: Der Spiegel, 16.06.1954; Rittershofer, Werner: Die Deutsche Bundespost als Teil der Gemeinwirtschaft, Frankfurt am Main/Köln 1978, S. 54 91 Balkes Amtsvorgänger Schuberth hatte diverse Dienstleistungen um zwanzig bis fünfzig Prozent verteuern wollen; vgl. o.V.: Investition über Portokasse, in: Der Spiegel, 09.07.1952. 92 Vgl. das Protokoll der 78. Kabinettssitzung am 16.09.1959, in: Henke, Josef/Rössel, Uta: Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Band 12.1959, in: „Kabinettsprotokolle der Bundesregierung online“; Deutinger, Stephan: Eine „Lebensfrage für die bayerische Industrie“. Energiepolitik und regionale Energieversorgung 1945 bis 1980, in: Schlemmer, Thomas/Woller, Hans (Hrsg.): Die Erschließung des Landes 1949 bis 1973, Bayern im Bund Band 1, München 2001, S. 33-118, hier S. 67 und S. 70-74. 93 Vgl. Weber 2004, S. 33.
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man im LBI-Präsidium in den frühen 1950er Jahren doch sehr.94 Mit Balke wurde dies erstmals anders. Und da führende Christsoziale damals kaum etwas mehr als den Entzug von Spendengeldern seitens der Wirtschaft fürchteten, fiel es bayerischen Wirtschaftsgranden durchaus leicht, der CSU im Bedarfsfall Kandidaten vorzuschreiben. Dass bei der Entsendung eines Wirtschaftsvertreters in die Regierung die Wahl auf Balke fiel, erklärt sich aus drei Aspekten. Erstens gab es – wie gesagt – kaum Interessenten für diese Mission. Und zweitens war Balke durch Ämterhäufung innerhalb der Unternehmens- und Arbeitgeberorganisationen stark vernetzt, kannte die wichtigsten Persönlichkeiten und hatte über die zahlreichen Gespräche und Treffen außerdem einen guten Kontakt zu zentralen CSU-Politikern. In Unternehmerkreisen gefiel Balke, drittens, weil er „ohne je auch nur einen Deut der bekannten Forderungen der Industrie aufzugeben“95 zu verhandeln pflegte. Die Ministerschaft Balkes war aus Sicht der Wirtschaftsverbände also ein Experiment, die politische Elite in deren Entscheidungen nicht mehr bloß indirekt, aus dem Hintergrund ominös über die Zuweisung von Geldmitteln und Foren zu beeinflussen, sondern unmittelbar in den Räumen politischer Führungsgremien präsent zu sein. Das konkrete Ressort war dabei weniger wichtig, als die Möglichkeit, im Amt eines Ministers jederzeitigen Zugang zum Kabinettstisch erlangt zu haben.96 Damit ging man aus Sicht der unternehmerischen Interessenorganisationen offensiv ein störendes Manko an. Bis 1956 existierte – im Gegensatz zu den Arbeitnehmern – innerhalb der Unionsfraktion keine besondere Gruppe von Abgeordneten, keine Faktion, die bewusst Interessen der Unternehmer vertreten hätte. Es gab „keine Gruppe der ‚Unternehmer-Abgeordneten‘“97. Daher war Balke nicht nur in Kabinettssitzungen zugegen war, sondern ließ sich zudem in solche CSU-Gremien, die als einigermaßen wichtig angesehen werden konnten, kooptieren: die Landesvorstandschaft und die geschäftsführende Landesvorstandschaft (ab 1968 das Präsidium). Noch etwas erscheint bedeutungsvoll: Bis hinein in die 1960er und 1970er Jahre schrieben und beklagten etwa Ralf Dahrendorf und Rolf Rodenstock, Unternehmer stellten die unbekannteste Elitegruppe dar, die geheimnisvoll und undurchschaubar, mindestens also dem Normalbürger suspekt sei.98 Dementsprechend negativ empfanden sich die Manager und Firmeneigner als intransparente Träger gesellschaftlicher Macht öffentlich wahrgenommen. Bereits seit Ende der 1940er Jahre gab es deshalb in Verbandskreisen des Arbeitgeberlagers Bemühungen, das nach eigenem Empfinden in den Medien und der öffentlichen Wahrnehmung verzerrte Bild vom Unternehmer als Profitgeier und Arbeiterpeiniger aufzubessern.99 Auch Balke erklärte schon Ende 1953, gegen das Klischee ankämpfen zu wollen, die Wirtschaft kritisiere zwar stets die Politik, stelle ihrerseits aber „dennoch höchst
94 Vgl. Moser 2002, S. 54. Die westdeutsche Wirtschaftselite betätigte sich nur ganz selten aktiv politisch; vgl. Zapf, Wolfgang: Die deutschen Manager. Sozialprofil und Karriereweg, in: ders. (Hrsg.): Beiträge zur Analyse der deutschen Oberschicht, München 1965, S. 136-149, hier S. 148 f. 95 Lauer, A.: Dr. Siegfried Balke Bundespostminister, in: Deutsche Apothekerzeitung, 24.12.1953. 96 Balke musste sich dadurch nicht mehr umständlich Audienzen beispielsweise im Bundeswirtschaftsministerium beschaffen; vgl. beispielhaft Telegramm vom 21.11.1951, in: ACDP, NL Balke, I-175-044/4. 97 Domes 1964, S. 38. 98 Vgl. Moser 2002, S. 26. 99 Hier und folgend vgl. Moser, Eva: Bayerns Arbeitgeberverbände im Wiederaufbau. Der Verein der Bayerischen Metallindustrie 1947-1962, Stuttgart 1990, S. 144-147.
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selten und ungern Männer aus ihren Reihen für die Regierungsarbeit ab“100. Diese Vorwürfe gelte es „durch die Praxis zu entkräften“ und das kollektive Bild vom Unternehmer aufzuwerten, weshalb er sich zur Verfügung stelle. Derartige Öffentlichkeitsarbeit und Medienpräsenz, zusätzlich gestützt auf wissenschaftliche Ausarbeitungen eigener Institute, wie beispielsweise das „Deutsche Industrieinstitut“, aber sind für den Lobbyismus typische Druckmittel zur Einflussnahme auf die Politik.101 So wie auch der primär von Balke in den frühen 1950er Jahren gehaltene Kontakt zu Strauß selbst heute noch eine lobbytechnische Kernkompetenz ausmacht.102 Dass Balke, wie es in hagiografischen Darstellungen oft heißt, von Adenauer gezielt als abseits von Parteien stehender Experte für Wissenschaft und Technik berufen wurde,103 erweist sich somit als falsch. Balke kam stattdessen im Gewande der CSU als Lobbyist der bayerischen Industrie nach Bonn.
Als Hoffnungsträger begrüßt Bei Siegfried Balke handelte es sich gleichsam um eine Blitzberufung. Wie aus dem Nichts rückte der Chemieindustrielle mit seiner Ernennungsurkunde in die Regierungsmannschaft ein, um die von Schuberth hinterlassene Lücke nach beinahe drei Monaten endlich zu füllen. Doch verbanden sich mit der Rekrutierung Balkes in das Regierungsteam durchaus Erwartungen und Hoffnungen. Balke versprach betriebswirtschaftliche Kompetenz in die Spitze der Bundespost einzubringen;104 er galt doch als „guter Organisator“ und „nüchterner Wirtschaftspolitiker“, noch dazu als „unabhängiger und kritischer Denker, mit Energie geladen und von unermüdlicher Arbeitskraft“105. Die Hoffnungen richteten sich auf einen „Mann des freien Wettbewerbs“, der „frischen Wind in den ein wenig erstarrten Monopolbetrieb bringen“106 und in seinem Amt „jeden staatskapitalistischen Tendenzen und wirtschaftlichen Verstaatlichungsversuchen entgegentreten“107 würde. Es war also durchaus so, dass man Balke die Qualifikation eines Managers zuschrieb, der – anders als der Postbeamte Schuberth – in der Lage sein würde, die Bundespost gehörig zu reformieren und ihr die Modernität eines marktwirtschaftlich agierenden Unternehmens zu verleihen. Überdies galt Balke, wieder im Gegensatz zu seinem Amtsvorgänger, als äußerst energisch. Den Journalisten imponierte sein Status als Selfmademan, der sich „mit wacher Nüchternheit durch die schweren Inflationsjahre durchgeschlagen“108 und als Werkstudent
100 Hier und folgend Balke, Siegfried: Warum ich mich für dieses Amt zur Verfügung stelle, in: Süddeutsche Zeitung, 12./13.12.1953. 101 Vgl. Haacke, Eva: Wirtschaftsverbände als klassische Lobbyisten – auf neuen Pfaden, in: Leif, Thomas/Speth, Rudolf (Hrsg.): Die fünfte Gewalt. Lobbyismus in Deutschland, Wiesbaden 2006, S. 164-187, hier S. 177 f. 102 Vgl. Leif, Thomas/Speth, Rudolf: Zehn zusammenfassende Thesen zur Anatomie des Lobbyismus in Deutschland und sechs praktische Lösungsvorschläge zu seiner Demokratisierung, in: dies. (Hrsg.) 2006, S. 351-354, hier S. 353. 103 So zum Beispiel der Nachruf der Georg-Agricola-Gesellschaft, vgl. Hermann, Armin: In memoriam Siegfried Balke, in: Kultur und Technik, Jg. 9 (1985) H. 2, S. 118. 104 Vgl. v. Zühlsdorff: Ein moderner Postminister, in: Die Zeit, 17.12.1953. 105 O.V.: Der Postminister der CSU, in: Süddeutsche Zeitung, 18.11.1953. 106 Von Zühlsdorff: Ein moderner Postminister, in: Die Zeit, 17.12.1953. 107 O.V.: Dr. Balke zum Postminister vorgeschlagen, in: Deutsche Tagespost, 20./21.11.1953. 108 O.V.: Der Bundespostminister, in: Hamburger Abendblatt, 09.12.1953.
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„zäh und fleißig“109 trotz mittelloser Eltern binnen fünf Jahren sein Diplom, anschließend seinen Doktortitel regelrecht errungen hätte.110 1902 in Bochum als ältester von vier Söhnen geboren, war er in bemitleidenswerten Verhältnissen aufgewachsen – der Vater Schneider, die Mutter Hausangestellte.111 Durch ebenso ehrgeizig wie anstrengend betriebenen Privatunterricht schaffte es Balke, mit Hilfe des Dorfpfarrers als Externer an der Oberrealschule Gummersbach die Reifeprüfung abzulegen. Von da an kletterte Balke die soziale Leiter empor: Studium und Promotion an der Technischen Hochschule München, anschließend Berufstätigkeit als Chemiker. Daneben beeindruckte das stattliche Aufkommen von Ehrenämtern, die Balke scheinbar wie ganz nebenbei bekleidete, ebenso seine Tätigkeit als Publizist.112 Wie bei vielen Seiteneinsteigern üblich, wurde Balke darüber hinaus von den Zeitungsschreibern bei seinem Amtsantritt als Politik-Novize und Träger besonderer Kompetenzen bejubelt und die Erwartungen an ihn dadurch hochgeschraubt. Ferner dürften die der Berufung vorangegangene Kontroverse um die Besetzung des Postministeriums, ebenso wie auch die weihnachtliche Zeit die mediale Zuwendung zur Personalie Balkes begünstigt haben.
Nicht ohne Erschwernis: die Bedingungen des Amtsantritts Doch machte ihm diese außerordentlich positive Resonanz in den Medien das Ministerleben nicht unbedingt einfacher. Denn schließlich waren derartige Erwartungen auch gleichzeitig Bürde, drohten die Hoffnungen im Falle eines Misserfolgs in Enttäuschungen umzuschlagen. Im Ministerium empfing man Balke darüber hinaus nicht gerade mit offenen Armen, kam der neue Minister doch entgegen herrschender Konvention nicht aus dem Beamtenapparat der Post, nicht einmal aus der Politik, sondern quasi von ganz außerhalb. Die Berufung nährte jedenfalls eine große Skepsis in den Kreisen der höheren Postbeamten und verdichtete sich in den Räumen des Ministeriums zu einer anfangs eher abweisenden Atmosphäre.113 Balke hatte mangels langjähriger Verwaltungstätigkeit in den Strukturen der Bundespost von den „Postgeheimnissen“ als Außenseiter eben nicht bloß wenig Ahnung, sondern seine Berufung desavouierte schließlich ferner andere Kandidaten aus der Apparatsspitze und entwertete herkömmliche Aufstiegskanäle. Alsdann stand der neue Minister vor dem Problem der erfolgreichen Krisenbewältigung, dem Erfordernis, den ramponierten Ruf des maroden Staatsunternehmens zu rehabilitieren und die Post zurück in die viel beschworenen „schwarzen Zahlen“ zu führen.
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O.V.: Kurz vorgestellt, in: Die Welt, 10.12.1953. Vgl. Henkels, Walter: Bundespostminister Dr. Siegfried Balke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.01.1955; o.V.: Siegfried Balke, in: Telegraf, 12.12.1953. 111 Zum Folgenden vgl. allgemein Heinen, Hans-Günther: Herr Minister ließ bitten, in: Schwarz auf Weiß, 2/Juli 1956, S. 4, in: ACDP, NL Balke, I-175-001/1; Strobel, Robert: Nicht nur Fachminister, in: Die Zeit, 27.09.1956; o.V.: Balke, Siegfried, in: Interpress Archiv, 30.05.1967; Vierhaus, Rudolf/Herbst, Ludolf (Hrsg.): Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949 – 2002, Band 1 A – M, München 2002, S. 32 f. 112 Vgl. o.V.: Der Bundespostminister, in: Hamburger Abendblatt, 09.12.1953. 113 Vgl. o.V.: Laien im Postministerium, in: Der Tagesspiegel, 16.01.1954; o.V.: Zwischen Bundespost und Kernspaltung, in: BMD, Nr. 45/4. Jg., 06.11.1956, S. 4 ff. 110
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Als Rationalisierer und Fachmann im Post- und Atomministerium Balke startete im Postministerium mit viel Elan. Rasch fiel er auf, weil er so unkonventionell agierte, wie es seine Herkunft zu versprechen schien. „Frisch, forsch, unbekümmert – sehr unbekümmert“114 begann er seine Arbeit. Im Kabinett mokierte er sich über die „weitgehende Politisierung der höheren Beamtenstellen“, darüber, dass Spitzenpositionen in der staatlichen Verwaltung nicht den „fachlich Tüchtigsten“ vorbehalten blieben.115 In der Bundespost – deren Mitarbeiter gewissermaßen das Musterklischeebild des Staatsbediensteten hergaben – beabsichtigte Balke das der freien Wirtschaft entstammende Leistungsprinzip einzuführen.116 An die Spitze des Verwaltungsrats der Bundespost berief er erfahrene Leute aus der Privatwirtschaft, einen in Aufsichtsräten erfahrenen Steueranwalt und einen Mann der Handwerksverbandsspitze.117 Auf Redenschreiber verzichtete er gänzlich, mit der Bemerkung: „Meine Reden mache ich selber“ verdutzte er seine Referenten.118 Auch rhetorisch stach er heraus. Balke suchte „seine Worte so behutsam, als gelte es, ein zartes Pflänzchen vor den rauen Winden der Wirklichkeit zu schützen“119. Die Bonner Journalisten rühmten „die Vollendung der sprachlichen Ausdrucksfähigkeit“120 und goutierten seinen Witz und Humor.121 Balke nahm man guten Glaubens ab, auf Bluff zugunsten sachlicher Argumentation zu verzichten. Insoweit erwies sich die außerpolitische Herkunft, die langjährige Tätigkeit in der Wirtschaft, als Quelle von Authentizität.
Anmerkungen zu Balkes politischem Erfolg Vielen Seiteneinsteigern kann man attestieren, relativ früh und vergleichsweise drastisch gescheitert zu sein. So Paul Kirchhof, aber auch Quereinsteiger-Typen wie Ralf Dahrendorf oder Hans Leussink. Bei Balke war dies anders. Schon rein statistisch schaffte es der ehemalige Chemiker, neun Jahre im Bundeskabinett auszuhalten und bis 1969 – im Zuge eines freiwilligen Ausscheidens – im Bundestag auszuharren. Gescheitert beziehungsweise erfolglos kann man diese politische Karriere also sicherlich nicht nennen. Und auch die Darstellungen im Anschluss an seine Ministerzeit, die oftmals kritische Retrospektive, zeichnet ein Bild des Erfolgs. Balke gestand man zu, die Bundespost binnen drei Jahren rationalisiert und modernisiert zu haben, um dann anschließend als Atomminister die Grundlagen für die westdeutsche Atomindustrie zu bereiten.122 Zur Erfolgsbilanz zählt auch, dass unter Balke die
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O.V.: Sehr unbekümmert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.01.1957. Protokoll der 69. Kabinettssitzung am 02.02.1955, in: Hollmann, Michael/Jena, Kai v. (Bearbeiter): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Band 8. 1955, in: „Kabinettsprotokolle der Bundesregierung online“. 116 Vgl. Henkels, Walter: Bundespostminister Dr. Siegfried Balke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.01.1955. 117 Vgl. das Protokoll der 169. Kabinettssitzung am 12.03.1954, in: Hüllbüsch, Ursula/Trumpp, Thomas (Bearbeiter): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Band 7. 1954, in: „Kabinettsprotokolle der Bundesregierung online“. 118 Vgl. o.V.: Zwischen Bundespost und Kernspaltung, in: BMD, Nr. 45/4. Jg., 06.11.1956, S. 4 ff. 119 Bayern, Konstantin Prinz von: Atomenergie und Raumfahrt, in: Deutsche Zeitung, 25.07.1962. 120 Henkels, Walter: Bundespostminister Dr. Siegfried Balke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.01.1955. 121 Laupsien, Hermann: Eine Persönlichkeit – stets dem Gemeinwohl verpflichtet, in: Handelsblatt, 11.12.1969. 122 O.V.: Siegfried Balke 65 Jahre alt, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 01.06.1967. 115
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Rationalisierung und Automatisierung, zusammengefasst: die Modernisierung der Post konsequent vorangetrieben wurde.123 Beispielsweise ließ Balke Hausbriefkästen im Parterre einführen, um seinen Zustellern fortan lange Wege durch die bundesrepublikanischen Treppenhäuser zu ersparen. Auf diese Innovation war er bei einem mehrwöchigen Aufenthalt in den USA aufmerksam geworden. Da die Post für die Erzwingung derartiger Briefkastensysteme keine juristische Gewalt besaß, sondern auf die Kooperationsbereitschaft der Bürger angewiesen war, unterstützte Balke die Umstellung mit hohen Zuschüssen, die einen ausreichend attraktiven Anreiz entfalteten.124 Des Weiteren ließ er Ingenieure an der Normung von Briefformaten und der maschinellen Erfassung des Adressfelds tüfteln und verhalf der Automatisierung in dem Traditionsunternehmen zum Durchbruch. Dem vorherrschenden Mangel an hochqualifizierten Arbeitskräften versuchte Balke beizukommen, indem er „Headhunter“ an die Tore der Fachschulen entsandte.125 Die auch von ihm als unumgänglich betrachtete Gebührenerhöhung bürdete er in erster Linie den Großkunden aus der Wirtschaft auf, wodurch sie achtzig Prozent der Kosten trugen. Da die Preissteigerungen sich in erster Linie auf den Versand von Werbung, den Vertrieb von Zeitungen und die Gebühren für Fernschreiben bezogen, blieb die Industrie von ihnen freilich weitestgehend verschont. Die dadurch entstandenen Mehreinnahmen reinvestierte Balke, hier ganz Unternehmer, umgehend in Maßnahmen zur Verbesserung der Servicequalität, wie zum Beispiel den Ausbau der telefonischen Leitungsinfrastruktur. Überhaupt wollte Balke das Fünfhundertmillionendefizit nur zu einem Drittel über Preiserhöhungen tilgen.126 Dennoch wurde das Defizit von 220 Millionen DM unter seiner Ägide getilgt und die Post in eine Gewinnzone von 150 bis 160 Millionen DM geführt.127 Geht man von der Annahme aus, dass sich das Image der Bundespost in der Bevölkerung aus der Qualität des Aufgabenvollzugs und dr Höhe des Gebührenniveaus bestimmte,128 die Aufgaben eines Postministers darin bestehen, „in den täglichen Einzelentscheidungen die unterschiedlichen Erwartungen von Kunden, Personal, Wirtschaft und Politik so zu koordinieren, dass bei ihrer Erfüllung die Wirtschaftlichkeit der Post und die Funktionsfähigkeit des Kommunikationssystems in der Bundesrepublik Deutschland erhalten bleibt“129, so erwiesen sich die Maßnahmen Balkes als durchaus erfolgreich. War Balke im defizitären Postministerium durch seine berufliche Vergangenheit als Prokurist und Firmendirektor als geeignet erschienen, so ließ ihn seine Berufsausbildung als Chemiker für das im Oktober 1956 von Franz Josef Strauß übernommene Ressort der 123
Zum Folgenden vgl. Beck/Scherzer 1974, S. 77; Beyrer 1997, S. 26-31; Gscheidle, Kurt: Damit wir in Verbindung bleiben. Porträt der Deutschen Bundespost, Stuttgart-Degerloch 1982, S. 62-68; Henkels, Walter: Bundespostminister Dr. Siegfried Balke, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.01.1955; o.V.: Das marktwirtschaftliche Porto, in: Der Spiegel, 16.06.1954; Rittershofer, Werner: Der Vorwurf der Mißwirtschaft ist unbegründet, in: Hauptvorstand der Deutschen Postgewerkschaft (Hrsg.) 1974, S. 126-139, hier S. 130; Vierhaus/Herbst (Hrsg.) 2002, S. 32; Weber 2001, S. 114. 124 Vgl. o.V.: Briefe im Parterre, in: Der Spiegel, 16.10.1957. 125 Vgl. o.V.: Werber vor den Schulen, in: Der Spiegel, 25.04.1956. 126 Vgl. das Protokoll der 21. Kabinettssitzung am 04.03.1954, in: Hüllbüsch/Trumpp (Bearbeiter). 127 Hier und folgend Strobel, Robert: Nicht nur Fachminister, in: Die Zeit, 27.09.1956; Schaubild 3 bei Rittershofer, Werner: Die gemeinwirtschaftliche Verpflichtung des Öffentlichen Dienstes – dargestellt am Beispiel der Deutschen Bundespost, in: WSI Mitteilungen H. 10/1974, S. 414-429, hier S. 423. 128 Vgl. Rittershofer 1978, S. 33 f. 129 Gscheidle, Kurt: Damit wir in Verbindung bleiben. Porträt der Deutschen Bundespost, Stuttgart-Degerloch 1982, S. 53.
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Atomkernenergie hervorragend geeignet qualifiziert sein. Auch von dieser Amtszeit hieß es später einhellig, Balke habe „Hervorragendes geleistet“130 und „politisch wie verwaltungsmäßig, national wie international die Weichen für die Zukunft der deutschen Atomwirtschaft gestellt“131. Und tatsächlich: Wieder hinterließ Balkes – diesmal atompolitisches – Handeln einen souveränen Eindruck. Gleich nach seinem Amtsantritt bereiste er die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Kanada, um sich dort, in den technologisch am weitesten fortgeschrittenen Staaten des Westens, die Entwicklungsstände im Bereich der technischen Atomenergieverwertung zu vergegenwärtigen.132 Dabei versuchte er, im Bewusstsein des Rückstands der BRD, gegenüber dem Ausland die eigene Inkompetenz auf dem Feld der Kernenergieverwertung – den Status als „ausgesprochene Nichtwisser“133 – zu verbergen. Um dem akuten Mangel an Fachkräftenachwuchs zu begegnen, verfolgte Balke, wenn auch letztlich erfolglos, das Vorhaben, an westdeutschen Gymnasien Atomphysik unterrichten zu lassen.134 Mit Erfolg drängte er im Kabinett dagegen auf ein Atomgesetz, setzte die erste Strahlenschutzverordnung durch und machte sich öffentlich stark für den baldmöglichsten Aufbau einer international konkurrenzfähigen Atomindustrie.135. Ferner nahm sich Balke früh und noch vor deren Aktualität – insofern weitsichtig – der Brisanz radioaktiver Abfallbeseitigung an, indem er sein Ministerium nach geeigneten Prozeduren fahnden ließ.136 Im Zuge des vierten Adenauer-Kabinetts wurde Balke Ende 1961 zusätzlich zu seinen bisherigen Befugnissen die ministerielle Kompetenz über die Weltraumforschung zugesprochen. Hier erreichte er, dass sich die Bundesrepublik als Gründungsmitglied an einer europäischen Organisation zur Entwicklung von Weltraumfahrzeugen, der European Launcher Development Organisation (ELDO), beteiligte.137 Daneben brachte er die Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Weltraumforschung“ durch das Kabinett.138 Auf diversen Auslandsreisen erschloss er der westdeutschen Wirtschaft neue Absatzgebiete. Als Postminister redete er in damals für den gemeinen Bürger exotischen Orten wie Teheran, Istanbul und Beirut über Fragen der Fernmeldetechnik und zog potenzielle Aufträge im Rahmen von fünfzig bis sechzig Millionen DM an Land.139 In Indien, im Nahen Osten und in Südamerika machte er zukünftige Vertriebsmärkte für westdeutsche Atomtechnik aus.140
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Leonhardt, Rudolf Walter: Was erwarten wir vom neuen Wissenschaftsminister?, in: Die Zeit, 21.12.1962. O.V.: Für Gesellschaft und Staat, in: Handelsblatt, 31.05.1972. Vgl. Radkau 1983, S. 55. 133 Zitiert nach ebd., S. 152. 134 Vgl. ebd., S. 204 f. 135 Vgl. ebd., S. 163. 136 Vgl. Tiggemann, Anselm: Die „Achillesferse“ der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland: Zur Kernenergiekontroverse und Geschichte der nuklearen Entsorgung von den Anfängen bis Gorleben 1955 bis 1985, Lauf an der Pegnitz 2004, S. 126-133. 137 Vgl. das Protokoll der 153. Kabinettssitzung am 28.06.1961, in: Enders, Jürgen/Filthaut, Jörg (Bearbeiter): Die Kabinettsprotokolle der Bundesregierung, Band 14.1961, in: „Kabinettsprotokolle der Bundesregierung online“ sowie Protokoll der 19. Kabinettssitzung am 16.03.1962, in: Rössel/Seemann (Bearbeiter). Dies erweist sich insofern als weitsichtig, als dass die BRD noch in der Gegenwart mit europäischen Partnern nach den Vorzügen einer von Russland und den USA unabhängigen bemannten Raumfahrt strebt; vgl. Stirn, Alexander: Hoffen auf Merkel, in: Süddeutsche Zeitung, 03.06.2008. 138 Vgl. das Protokoll der 25. Kabinettssitzung am 02.05.1962, in: Rössel/Seemann (Bearbeiter). 139 Vgl. das Protokoll der 89. Kabinettssitzung am 06.07.1955, in: Hollmann/v. Jena (Bearbeiter). 140 Vgl. Radkau 1983, S. 166 f. 131 132
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Der wohl nachhaltigste Verdienst, den man Balke anrechnen muss, findet sich in den Bemühungen zur Gründung eines Wissenschafts- und Forschungsministeriums.141 In unzähligen Aufsätzen, mit denen Balke an die Öffentlichkeit trat, thematisierte er die Bedeutsamkeit von Wissenschaft, indem er Investitionen in Forschung und Bildung als gesellschaftlich unerlässliche Vorsorgemaßnahmen darstellte.142 Balke kämpfte energisch für eine staatliche Betreuung der Forschung durch den Bund – mit Erfolg, mündeten die Bestrebungen des Atomministeriums anlässlich der Regierungsneubildung Ende 1962 doch tatsächlich in ein Forschungsressort. Und noch etwas gelang Balke: Der aus der Wirtschaft gekommene Quereinsteiger schaffte es in all den Jahren seines politischen Wirkens frei von Skandalen, Eklats und Affären zu bleiben.143 Den Medien bot er, im Unterschied zu manch anderem Seiteneinsteiger, in neun Jahren als Minister und weiteren sieben als einfacher Abgeordneter keinerlei Angriffsfläche. Kurzum: Auch wenn der politische Erfolg eines Bundesministers kaum akkurat zu messen ist, so sprechen im Falle Balkes doch mehrere Kennziffern für eine ansehnliche Performanz des Quereinsteigers. Doch es gab auch Schattenseiten. Als nach der Regierungsbildung 1957 Balkes Ressort zum „Ministerium für Atomkernenergie und Wasserwirtschaft“ umbenannt und erweitert wurde, hatten sich nicht nur die ehemaligen „Atomfragen“ zur „Atomkernenergie“ konkretisiert, vielmehr war mit der Wasserwirtschaft ein weiteres Handlungsfeld hinzu gekommen. Obwohl später geschrieben wurde, Balke habe auch in dieser Angelegenheit „energisch die langfristigen Maßnahmen gegen die Wasserverschmutzung eingeleitet“144, muss man hier zu einem kritischeren Urteil gelangen. Zwar beantragte Balke im Kabinett Anfang 1959 zwanzig Millionen DM für Interventionen in den Sektoren Wasserversorgung, städtische Abwasserbeseitigung und Gewässerschutz,145 doch hatte er zuvor über ein Jahr benötigt, um überhaupt innerhalb seines Ministeriums eine eigene Wasserwirtschaftsabteilung einzurichten.146 Und die von ihm beschworene Atomwirtschaft blieb in seiner Amtszeit reine Fiktion, das erste offizielle Regierungsprogramm kam erst nach 1963 zustande.147 Wollte man am Beispiel Balkes den Nachweis führen, dass Seiteneinsteiger eine sinnvolle Innovation für die Politik sein können, so scheint man dabei einige Indizien vorlegen zu können. Zuallererst wären seine weitreichenden Kenntnisse zu nennen, denn Balkes Expertise in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen war profund. Was aber waren weitere Grundlagen dieser augenscheinlich erfolgreichen Seiteneinsteigerschaft? Balke standen sowohl im Post-, als auch im Atomministerium versierte Staatssekretäre zur Seite, die ihm die Koordination mit dem gouvernementalen Behördengeflecht abnahmen. Zusammen mit Balkes betriebswirtschaftlichen und wissenschaftlichen Kompetenzen ergab sich daraus 141
Vgl. zu diesem Aspekt Bayern, Konstantin Prinz von: Atomenergie und Raumfahrt, in: Deutsche Zeitung, 25.07.1962; Weber 2001, S. 116 f.; o.V.: Die Bedeutung der Forschung. Für Schaffung eines Bundesorgans zur Betreuung – Forderungen an die Allgemeinheit, in: Bulletin, Nr. 226, 07.12.1962, S. 1924. 142 Vgl. Balke 1962, S. 266. 143 Vgl. Raegener, Karl Heinrich: Prof. Dr. Siegfried Balke – der Repräsentant der Arbeitgeber, S. 11, Textwiedergabe nach einer Tonbandaufnahme vom 31.10.1969, in: ACDP, NL Balke, I-175-001/2. 144 Laupsien, Hermann: Eine Persönlichkeit – stets dem Gemeinwohl verpflichtet, in: Handelsblatt, 11.12.1969. 145 Protokoll der 56. Kabinettssitzung am 25.02.1959, in: Henke/Rössel (Bearbeiter). 146 Vgl. Stamm 1981, S. 228. 147 Vgl. Radkau 1983, S. 256.
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eine insgesamt komplementär wirkende Personalkonstellation in den Ministeriumsspitzen. Weiterhin rekrutierte er ausgewiesene Fachleute wie den Chemiker Hans Sauer, der Balke auf dessen Auslandsreisen begleitete und persönliche Kontakte mit wichtigen Entscheidungsträgern und Prominenten der Atomenergieentwicklung in den USA und Frankreich unterhielt.148. Balke sprach fließend englisch, französisch, italienisch sowie spanisch und konnte sich als ein solcher Polyglott glänzend auf internationalem Parkett bewegen.149 Durch seine Tätigkeit als Verbandsfunktionär verfügte er zudem über Erfahrungen mit internationalen Zusammenkünften.150 Für den Chef eines Ministeriums, das sich ständig in internationalen Verhandlungen befand und dessen Repräsentanten im Ausland Messen und Fachkonferenzen besuchten, war dies ein gewichtiger Vorzug. Generell war Balke eine gewinnende Persönlichkeit, die habituell wie charakterlich schnell Sympathien auf sich zu ziehen wusste. Bescheidenheit, Dogma-Ferne, pathosfreie Artikulation und Nüchternheit machten ihn populär.151 Man attestierte ihm die Neigung zum „britischen Understatement“ und glaubte ihm, die amtsmäßig verliehene Macht nicht zu missbrauchen.152 Von Balke ist auch nicht bekannt, dass er in seinem Ministerium cholerisch schrie, Untergebene gängelte oder sich beratungsresistent verschloss. Als Atomminister amtierte er überdies in einer Phase finanzieller Prosperität. Die vollen Kassen des Staats erlaubten ihm, vergleichsweise große Geldsummen zu verteilen. Über die Atom-, später auch die Weltraumforschungskommission befriedigte er das Partizipationsbedürfnis wissenschaftlicher Großorganisationen, wie der Max-Planck-Gesellschaft und der Deutschen Forschungsgemeinschaft.153 Bei Siegfried Balke handelte es sich sodann um einen Mann, der von einer starken Faszination, aber auch Sensibilität für die Problematik moderner Technologien und ihrer Wirkung auf die Gesellschaft getrieben war.154 Davon legen seine unzähligen Vorträge und Aufsätze beredtes Zeugnis ab. Balke philosophierte beispielsweise über „Die technische Entwicklung und der Mensch“ oder „Grenzschichtprobleme in Wissenschaft und Politik“. Für die mit Rationalisierungsmaßnahmen konfrontierte Bundespost, noch mehr aber für das Atomkernenergieministerium waren Balkes wissenschaftshistorische Kenntnisse und sozio-
148 Vgl. Krauch, Helmut: Bildung und Entfaltung der Studiengruppe für Systemforschung 1957 – 1973 (Vortrag vom 10.04.2000 am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse im Forschungszentrum für Technik und Umwelt in Karlsruhe), in: http://www.usf.uni-kassel.de/usf/archiv/dokumente/krauch/studiengruppe.pdf [eingesehen am 20.03.2008], S. 9. 149 Vgl. Kilgus, Rudi: Atomminister Balke 60 Jahre, in: Mannheimer Morgen, 01.06.1962; o.V.: Wissenschaftler im Bundeskabinett, in: Bremer Nachrichten, 02.06.1962. 150 Vgl. o.V.: Wer ist’s?, in: Chemie-Ingenieur-Technik, S. 196, unbekanntes Datum, in: ACDP, NL Balke, I-175001/1. 151 Vgl. Bayern, Konstantin Prinz v.: Atomenergie und Raumfahrt, in: Deutsche Zeitung, 25.07.1962; Henkels, Walter: Zivilcourage und Grütze im Kopf, in: Aachener Nachrichten, 10.08.1957; ders.: Ein Minister ohne Ellbogen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.03.1960; Iserlohe, Norbert: Ehrlich und ohne Pathos, in: Bonner Rundschau, 26.06.1964; Kilgus, Rudi: Atomminister Balke 60 Jahre, in: Mannheimer Morgen, 01.06.1962; Lauer, A.: Dr. Siegfried Balke Bundespostminister, in: Deutsche Apothekerzeitung, 24.12.1953. 152 Vgl. Raegener, Karl Heinrich: Prof. Dr. Siegfried Balke – der Repräsentant der Arbeitgeber, S. 10 f., Textwiedergabe nach einer Tonbandaufnahme vom 31.10.1969, in: ACDP, NL Balke, I-175-001/2. 153 Vgl. Balke, Siegfried: Förderung von Forschung und Nachwuchs, in: Deutschland-Union-Dienst, Nr. 2/03.01.1961; Heisenberg, Werner: Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik, in: Max-Planck-Gesellschaft: Jahrbuch 1971, München 1971, S. 46-89, hier S. 79 f.; Radkau 1983, S. 202. 154 Vgl. Balke 1962; Berghahn 1985, S. 298 ff.
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logische Reflexionen über die Arbeits- und Lebenswelt von morgen bestimmt nicht ohne Nutzen und ihm bei der Ausübung des Ministersamts fachlich von Vorteil. Als Atomminister wurde ihm außerdem das Glück zuteil, sich keines zivilgesellschaftlichen Protests gegen eine im Aufbau begriffene Atomindustrie erwehren zu müssen. Die Anti-Atombewegung nahm sich während Balkes Amtszeit im Vergleich zu späteren Jahrzehnten dezent aus und beschränkte sich auf die Gegnerschaft zu Atomwaffen. Kernkraftwerke rückten als Objekte des Argwohns dagegen erst viel später in den Fokus gesellschaftlicher Opposition, schon allein weil sie noch gar nicht existierten.155 Als Atomminister konferierte Balke zudem weniger mit Politikern als mit Wirtschaftsbossen, Bankiers und Wissenschaftlern. Und als Kenner der in den Chefetagen der bundesrepublikanischen Konzerne kultivierten Businessgepflogenheiten, zumal durch seine Dozententätigkeit an der Universität mit dem akademischen Habitus vertraut, eignete sich Balke erheblich besser als ein konventioneller Berufspolitiker für die atompolitische Arbeit. Balke fügte sich dadurch überaus kompatibel in die damalige Situation, in der weniger das Ministerium als eine diesem extern angegliederte Kommission die politischen Weichenstellungen vornahm.156 Balke kam alsdann zugute, dass er sich seiner Ministertätigkeit mit vollen Kräften ohne Rücksicht auf das Private widmete. Für Politiker in hohen Positionen ist die ausriechende Reservierung von Arbeitszeit eine wichtige Arbeitsvoraussetzung und Erfolgsressource. Balke war in dieser Hinsicht ein versessener Workaholic, sein Arbeitsstil für die Politikertätigkeit wie geschaffen. Balkes Leistungspensum war enorm: „Morgens der erste und abends der letzte“, berichteten seine Mitarbeiter.157 „Mit der 40-Stunden-Woche ist es also nichts!“ teilte er verschmitzt mit und bezeichnete seinen Tagesablauf selbst als „strapaziöses Zigeunerleben“158. Am Wochenende befand er sich dann de facto stets auf Reisen. Balke, kinderlos, lebte einen protestantisches Leistungsethos in Vollendung. Aufstieg allein nach Leistungsnachweis im Berufsleben war sein Credo; als Deutschland in Trümmern lag, erregte er sich über „Menschen in Deutschland, die sich eingebildet haben, nach Kriegsende [...] müsse eitel Wohlstand eintreten“159. Mit Elend und Entbehrungen, das hatte ihn seine eigene Jugend gelehrt, galt es alleine fertig zu werden, weshalb er weitere Ämter und Funktionen nie ablehnte, „weil gewisse Arbeiten eben geschehen müssen“160. Herzinfarkte Ende der 1960er Jahre waren schließlich die physischen Tributzölle.161
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Vgl. Radkau 1983, S. 434 ff. Vgl. ebd., S. 144-148. Ähnliches gilt für das Postministerium, in dem er mit Großkunden aus der freien Wirtschaft und mit Gewerkschaftern verhandeln musste – Personentypen, die ihm aus Verbandstätigkeit geläufig waren. 157 Vgl. o.V.: …überdies Minister, in: Deutsches Monatsblatt, Mai 1959, S. 6. 158 Brief Balke an Daue vom 16.03.1969, in: ACDP, NL Balke, I-175-043/1. Die Frage nach seiner Ehefrau beantwortete Balke mit den Worten: „I‘m not married, but my wife is.“ Heinen, Hans-Günther: Herr Minister ließ bitten, in: Schwarz auf Weiß, 2/Juli 1956, S. 4, in: ACDP, NL Balke, I-175-001/1. 159 Brief Balke an Petersen vom 11.05.1947, in: ACDP, NL Balke, I-175-045/2. 160 Brief Balke an Petersen vom 14.09.1946, in: ebd. 161 Vgl. Brief Daue an Balke vom 16.03.1969 sowie Balkes Antwort vom 31.05.1969, in: ebd. 156
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Unabhängig und ohne Hausmacht: Anmerkungen zur Professionalisierung Balke verschrieb sich mental nie gänzlich der Politik, zu sehr identifizierte er sich mit seinem Beruf des Chemikers. Dies unterstrich er auch durch Taten: An der Universität München hielt er als Honorarprofessor gut besuchte Vorlesungen und er betätigte sich als Herausgeber von Fachzeitschriften und einer Enzyklopädie.162 Gerne bezeichnete er sich daher Journalisten gegenüber als deren „Kollege“.163 Er pflegte die Distanz zur Politik so stark, dass es von ihm noch Jahre später hieß, Balke sei „trotz neunjähriger Tätigkeit als Bundesminister immer in erster Linie Wirtschaftler und Wissenschaftler geblieben“164 und im Kabinett trete er weniger als Politiker denn als Wissenschaftler auf.165 Für die Medien blieb er daher der Seiteneinsteiger und der Fachminister, für den es nur falsche und richtige Entscheidungen gebe und der das „Gesicht eines Mannes der Technik, nicht der Politik“166 zeigte. Der negativen Attribute, mit denen Politiker auch damals schon assoziiert wurden, konnte sich Balke dadurch erwehren. Seine Ankündigung, das Atomministerium werde in Kürze überflüssig, da es schließlich auch kein „Dampfkesselministerium“ gebe, entlockte den Journalisten ebenso ein ehrfürchtiges Raunen, wie die als nonkonformistisch wahrgenommene Absicht, den Ministerposten freiwillig wegen persönlichem Dissens mit dem politischen Kurs der Regierung zu räumen.167 Auch öffentliche Verstöße gegen die Regierungsräson, etwa im Zuge seiner Unterstützung für die regierungskritischen Atomforscher im April 1957, werteten die Pressekommentatoren als überaus vorbildlichen Schritt gegen „die nackte Erfolgsgier“ und die politische „Kunst des Kompromisses“168. So positiv sich dies auf Balkes Reputation auswirkte, so nachteilig erwies es sich im Hinblick auf die Stabilität seiner politischen Karriere. Im alleinigen Vertrauen auf seine Sachkompetenz und seine Beziehungen zu Industriemagnaten, so schreibt Radkau, habe Balke es nicht für nötig befunden, sich eine autonome politische Hausmacht aufzubauen.169 Im Verlauf der 1950er Jahre prädestinierten aber immer stärker bestimmte Wirkungsräume, wie der Fraktionsvorstand, denen Balke nicht angehörte, für einen Platz im Kabinett.170 Offenbar wog sich Balke in Sicherheit, war er sich doch bewusst, der CSU-Führung in den 1950er Jahren gleichsam als Relais für eine halbwegs harmonische Beziehung der Partei zur Wirtschaft zu dienen. Wann immer sich die Verhältnisse zwischen den CSU-Granden und den Wirtschaftsrepräsentanten kritisch verschlechterte, bemühte man Balke als Kommunikator.171 Und auch weiterhin gebot Balke als Verbandschef und Vorsitzender der
162 Vgl. Heinen, Hans-Günther: Herr Minister ließ bitten, in: Schwarz auf Weiß, 2/Juli 1956, S. 4, in: ACDP, NL Balke, I-175-001/1. 163 Vgl. o.V.: Sehr unbekümmert, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.01.1957. 164 O.V.: Siegfried Balke 65 Jahre alt, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 01.06.1967. 165 Vgl. o.V.: Wissenschaftler im Bundeskabinett, in: Bremer Nachrichten, 02.06.1962. 166 Strobel, Robert: Nicht nur Fachminister, in: Die Zeit, 27.09.1956. 167 Vgl. Henkels, Walter: Zivilcourage und Grütze im Kopf, in: Aachener Nachrichten, 10.08.1957; o.V.: Siegfried Balke: Mann mit Kopf und Herz, in: Chemische Industrie, Nr. 6/1967, S. 299; o.V.: Balke, in: Die Welt, 05.08.1957. 168 Zitate aus o.V.: Im Gewissenskonflikt, in: Die Welt, 06.05.1957. 169 Vgl. Radkau 1983, S. 141. 170 Vgl. Domes 1964, S. 81 f. 171 Vgl. beispielsweise das Protokoll der Sitzung des geschäftsführenden CSU-Landesvorstands vom 08.01.1955, abgedruckt als Dokument Nr. 68b in: Balcar/Schlemmer (Hrsg.) 2007, S. 481 f.
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Volkswirtschaftlichen Gesellschaft in Bayern über den finanziellen Wahlkampfproviant der CSU.172 Doch dies galt eben nur begrenzt für den Bereich der CSU. Für die CDU-Strategen war dies kaum von Belang, Balke nicht wie Strauß eine per se ernst zu nehmende, weil durch Verankerung und Rückhalt schwer zu missachtende Größe. Balke gehörte nicht zu den CSU-Protagonisten, denen man bei Koalitionsgesprächen Gehör schenken musste. Ohne Förderer – Mentoren – und deren Kraft war seine Stellung gefährdet. In der Absicherung seiner politischen Positionen versagte Balke auf ganzer Linie. Vielleicht war dieser Verzicht auf eigene Parteibataillone der Unabhängigkeit geschuldet, der sich Balke erfreute. Denn in seinem Ministerschreibtisch lagerte eine schriftlich festgehaltene Rückkehroption in die Wacker-Unternehmensleitung.173 Die Eventualität des Verlusts einer Elitenposition oder gar des materiellen Komforts brauchte Balke daher nicht zu ängstigen. Trotzdem: Der CSU trat er eilends im Januar 1954 bei. Gleich 1957 besorgte er sich mit München-Nord einen eigenen Wahlkreis und erhielt hinter Schäffer und Strauß an dritter Stelle einen todsicheren Platz auf der CSU-Landesliste. Wie aber kam Balke an sein Mandat? In der Honoratiorenpartei CSU, die in den 1950er Jahren nicht gerade ein basisdemokratischer Auswuchs an Mitgliederpartizipation kennzeichnete,174 besaß Balke keine Mühen, sich eine Kandidatur zu beschaffen – solange er von Parteiautoritäten nur ausreichend protegiert würde. Für München war dies der Bezirksvorsitzende Josef Müller. Bezirksvorsitzende waren in der CSU gleichsam königliche Machthaber, deren Wort bei der Vergabe von Kandidaturen für öffentliche Wahlämter innerhalb ihres Reviers faktisch Gesetz war.175 Balke indes war nicht ein nur fleißiger Geldakquisiteur für die CSU, sondern schrieb gelegentlich Münchner Firmen mit der Bitte an, den lokalen CSU-Kandidaten für das Oberbürgermeisteramt – kein Geringerer als der „Ochsensepp“ Müller – großzügig zu unterstützen.176 Allein der MAN-Vorstand bewilligte auf Drängen Balkes eine Zuwendung in Höhe von 10.000 DM. Dazu förderte Balke als Bundesatomminister nach Kräften den Forschungsstandort München und setzte sich beispielsweise für die Umsiedlung von renommierten Max-Planck-Instituten ein.177 In Schwabing, seinem späteren Wahlkreis, erwarb sich Balke Sympathien, als er die Strahlenabteilung des lokalen Krankenhauses wie auch die kernphysikalische Ausbildung im Oskar-von-Miller-Polytechnikum mit Bundesgeldern bezuschusste. Zusammengefasst: Balke nutzte zuerst seine Verbandspositionen sowie Wirtschaftskontakte und anschließend sein Ministeramt zur innerparteilichen Erschließung von Wahlkreiskandidaturen. Klassische Parteiarbeit leistete er hingegen kaum. Das Mandat gewann Balke anschließend souverän gegen seine Kontrahenten Walter Seuffert (SPD) und Thomas Dehler (FDP). Mit 49,9 Prozent der Erststimmen lag er knapp ein Prozent über dem Zweitstimmenergebnis und über elf Prozent vor dem SPD172 Vgl. zum Beispiel das Protokoll der Besprechung des CSU-Landesvorsitzenden mit den Vorsitzenden der Bezirksverbände und den Bezirksgeschäftsführern vom 13.09.1954, abgedruckt als Dokument Nr. 64 in: ebd., S. 436 f. 173 Vgl. o.V.: Das marktwirtschaftliche Porto, in: Der Spiegel, 16.06.1954; o.V.: Alarm in der Leitung, in: Der Spiegel, 18.11.1959. 174 Vgl. Mintzel 1977, S. 125. 175 Vgl. ebd., S. 119. 176 Vgl. o.V.: Siegfried Balke (Rubrik Personalien), in: Der Spiegel, 09.12.1959; Parlamentarisch-Politischer Pressedienst vom 25.11.1959; Brief MAN-Vorstand an Balke vom 06.09.1962, in: ACDP, NL Balke, I-175-042/2. 177 Vgl. hier und folgend o.V.: o.T., in: Süddeutsche Zeitung, 07.09.1965.
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Kandidaten. Gegenüber Parteigranden wie Strauß, Dollinger und Niederalt, die in ihren Wahlkreisen jeweils weit über fünfzig Prozent einfuhren, nahm sich Balkes Ergebnis einerseits bescheiden aus, andererseits war es innerhalb der Stadtgrenzen Münchens für die CSU elektoral das einträglichste gewesen.178 1961 wiederholte Balke den Gewinn eines Direktmandats, erst 1965, als die Sozialdemokraten die urbanen Räume Bayerns eroberten, zog er über die Landesliste in den Bundestag ein. In seinen Jahren als Politiker verwehrte sich Balke auch nicht den Pflichten eines anständigen Wahlkämpfers. Wahlkampf aber ist eine ganz elementare Disziplin eines ProfiPolitikers. Im Abstand weniger Tage absolvierte Balke innerhalb eines Monats mehr als zwanzig Veranstaltungen in Cafés, Brauereien und Gaststätten, oft an der Seite lokaler Parteigrößen.179 Gelegentlich vertrat er zusätzlich verhinderte Redner auf diversen Veranstaltungen. Auch der „koordinierten Zusammenarbeit“, in deren Rahmen Adenauer seine Minister für einige Tage im Monat für Wahlkampfveranstaltungen einzusetzen pflegte, verschloss Balke sich nicht.180 Er ließ Pamphlete drucken, in denen er mit einem eigenständig verfassten Text mitsamt Porträtbild für seine Wahl warb und darin die Vorbehalte gegen seine Herkunft aus der Wirtschaft zu seinem Vorteil wendete, indem er „politischen Vorgängen besonders kritisch gegenüber“181 stehe. Balke inszenierte sich als Mann, der jahrzehntelang im Beruf gestanden hatte, beizeiten selbst gegen seine politischen Freunde wettere und daher besonders unabhängig sein müsse. Der Status des Seiteneinsteigers wurde von ihm positiv herausgestellt.
Mangelhafte Kompetenzen: Balkes Schwierigkeiten mit der Politik Wie man es von Seiteneinsteigern erwarten könnte, hatte auch Balke seine Probleme mit der Politik. Als Postminister schalten die Kabinettsmitglieder Balke für sein eigenmächtiges Vorgehen bei den Tarifverhandlungen mit der Postgewerkschaft,182 durch das er seinen für die Bundesbahn zuständigen Ministerkollegen in Verlegenheit brachte. Mit manchen Eigenheiten des Politikbetriebs, den mannigfaltigen Abstimmungszwängen, aufgesplitterten Zuständigkeiten und begrenzter Handlungsfähigkeit haderte Balke ebenfalls. Dass er, zum Beispiel, beschränkt auf ein Bundesrahmengesetz, den Ländern keine konkreten Vorschriften zum Wasserschutz machen konnte, erachtete er als „bedauerlich“183. Eine für das deutsche Regierungssystem charakteristische Restriktion – eben die föderale Struktur – stand Balkes Entscheidungsstil entgegen – zentralistische Systeme wie Frankreich beneidete er deshalb.184 Daneben beklagte er sich über die mangelnde „Bereitschaft unter den Politikern, sich über die Legislaturperioden hinaus für eine langfristige Forschungspolitik zu 178
Vgl. Daten in: Statistisches Bundesamt (Hrsg.): Die Wahl zum 3. Deutschen Bundestag am 15. September 1957, Heft 1, Allgemeine Wahlergebnisse nach Ländern und Wahlkreisen, Stuttgart 1957, S. 72-75. Vgl. Terminkalender. Endgültige Übersicht über die Versammlungen des Bundestagswahlkreises MünchenNord vom 13.08.1957, in: ACDP, NL Balke, I-175-043/1. 180 Brief Adenauers an die Bundesminister, Dok. Nr. 173, in: Mensing, Hans Peter (Bearbeiter): Adenauer. Briefe 1959-1961, Paderborn 2004, S. 202 ff. 181 Wahlkampfpamphlet vom September 1965, in: ACDP, NL Balke, I-175-043/1. 182 Balke privilegierte die Postarbeiter gegenüber den Bahnbeschäftigten durch eine Rationalisierungszulage; vgl. das Protokoll der 61. Kabinettssitzung am 01.12.1954, in: Hüllbüsch/Trumpp (Bearbeiter). 183 O.V.: Alarm in der Leitung, in: Der Spiegel, 18.11.1959. 184 Vgl. das Kurzprotokoll der 13. Sitzung der Deutschen Atomkommission vom 21.04.1961, in: ACDP, NL Balke, I-175-007/1, S. 8. 179
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interessieren“185. Effiziente Strukturen, rasche Entscheidungsfindung, präzise Vorgaben und Ziele sowie eindeutige Kompetenzen: All diese Balke aus seiner vorpolitischen Tätigkeit bekannten Merkmale des Willensbildungsprozesses in Wirtschaftsunternehmen sind in der Politik, der parlamentarisch-demokratischen noch dazu, ganz anders ausgeprägt.186 Schließlich Konrad Adenauer: Der Bundeskanzler zeigte sich chronisch desinteressiert an Balkes ambitionierten Atompolitikplänen.187 Für Adenauer war die Atompolitik stets Mittel zum Zweck; er interessierte sich für Angelegenheiten der Kernenergieentwicklung erst und nur solange, wie sie ihm konkret von militärischem oder außenpolitischem Nutzen waren. Etwa, wenn er durch eine deutsche Atomwaffenproduktion für die Bundesrepublik Ranggleichheit mit Frankreich beanspruchen oder über internationale Organisationen wie der EURATOM europapolitische Strategien verfolgen konnte.188 Genauso wenig begeisterte sich Adenauer für Balkes Pläne der Wissenschaftsförderung, die dieser hingegen als unumgänglich zur Wahrung der internationalen Konkurrenzfähigkeit Westdeutschlands ansah.189 Im Sommer 1957 scheiterte dann im Bundestag das Atomgesetz an der eigenen Fraktion,190 Balkes wichtigstes Prestigeprojekt. Zwei Jahre musste der so brüskierte Minister der erfolgreichen Umsetzung harren. Für einen an schnelle und frühzeitige Entscheidungen gewöhnten Mann aus der Wirtschaft mussten diese langsamen, oft irrationalen Mechanismen des Politikbetriebs geradezu drangsalierend wirken. Auf dem CSU-Wahlparteitag in Nürnberg machte Balke in einer wütenden Rede seinem Ärger Luft und sprach sein Bedauern über die Bonner Verhältnisse aus, den Vorfall als symptomatisch für seine Arbeitsbedingungen bezeichnend.191 In Bonn munkelte man alsbald, Balke sei mit der Politik der Bundesregierung unzufrieden. Schon Adenauers polittaktisches Paktieren mit dem DGB hatte er zu Beginn der 1950er Jahre missbilligt.192 Es war der Vorrang genuin politischer Maßstäbe gegenüber rationalen Erfordernissen, der ihn störte.193 Im April 1957 kursierte dann erstmals das Gerücht einer freiwilligen Demission Balkes und vor der Presse verkündete Balke, sobald wie möglich in seinen Chemikerberuf zurückehren zu wollen.194 Seine Androhung freilich, „unter keinen Umständen wieder ein Ministeramt übernehmen“195 zu wollen, machte er dann doch nicht war. Doch deutete sich zu diesem Zeitpunkt bereits der spätere Bruch mit der Adenauer-Regierung an. Im Rückblick bemerkte Balke Ende der 1960er Jahre, der
185 Kurzprotokoll der 14. Sitzung der Deutschen Atomkommission vom 11.07.1962, in: ebd., S. 9; vgl. auch Radkau 1983, Anmerkung 757 auf S. 507. 186 Vgl. Schüler, Manfred: Führung in Politik und Wirtschaft, in: Lahnstein, Manfred/Matthöfer, Hans (Hrsg.): Leidenschaft zur praktischen Vernunft. Helmut Schmidt zum Siebzigsten, Berlin 1989, S. 421-434, hier S. 421426. 187 Balke beschwerte sich, Adenauer habe sich nicht ein einziges Mal nach den Belangen seines Ressorts erkundigt; vgl. Huber, Martin: Der Einfluss der CSU auf die Westpolitik der Bundesrepublik Deutschland von 19541969 im Hinblick auf die Beziehungen zu Frankreich und den USA, München 2008, S. 147 ff. 188 Vgl. Radkau 1983, S. 187 ff. 189 Vgl. o.V.: Bayrisches Befremden, in: Der Spiegel, 26.12.1962. 190 Vgl. hierzu Radkau 1983, S. 188. 191 Vgl. o.V.: Balke macht seinem Ärger Luft, in: Die Welt, 08.07.1957; Brief Balke an Georg Heindl vom 17.07.1957, in: ACDP, NL Balke, I-175-043/1. 192 Vgl. Aktennotiz Balkes vom 04.09.1951, in: ACDP, NL Balke, I-175-044/4. 193 Vgl. Parlamentarisch-Politischer Pressedienst, Informationsbrief vom 24.04.1957. 194 Vgl. o.V.: Balke will nicht mehr, in: Telegraf, 05.05.1957; o.V.: Balke will nicht mehr Minister werden, in: Die Welt, 06.05.1957. 195 Henkels, Walter: Zivilcourage und Grütze im Kopf, in: Aachener Nachrichten, 10.08.1957.
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Abschied von Bonn sei ihm nicht schwer gefallen, sein Mitleid mit den Unionsparteien nehme sich angesichts deren unklarer Linie begrenzt aus.196
Der Proporz gab, der Proporz nahm: Balkes Entlassung Was genau dann aber zu Balkes unfreiwilligem Ausscheiden aus der Regierung führte, bedarf einer genaueren Zuwendung. Die Umstände von Balkes Entlassung nahmen sich reichlich kurios, ja skurril aus. Als Balke am 11. Dezember 1962, ziemlich genau neun Jahre nach seiner Berufung in das Bundeskabinett, sein Ministerium betrat, erfuhr er über den aus dem Rundfunk informierten Pförtner von seiner abrupten Entlassung.197 Dies verlieh dem in den Medien ohnehin als skandalös aufgefassten Vorfall noch ein Mehr an Drastik.198 Als der Kanzler die Entscheidung auf der CDU/CSU-Fraktionssitzung bekannt gab, brach starke Unruhe aus; der Fauxpas, nicht verhindert zu haben, dass die neue Ministerliste vorab an die Öffentlichkeit gelangte, begründete die Missstimmung der Abgeordneten und Betroffenen Adenauer gegenüber.199 Ganz besonders Balke zeigte sich über den Bundeskanzler erzürnt. Dem Abschiedsempfang und dem anberaumten Abschiedsdiner blieb Balke ostentativ fern,200 die in den Schreibstuben der Gazetten willkommene Anekdote, Balke habe seine Entlassung vom Ministeriumspförtner erfahren, lancierte er gerne.201 Doch eine Laune Adenauers war ganz sicher nicht der ausschlaggebende Grund für Balkes Abgang. Zwar war der Kanzler kein Sympathisant des Seiteneinsteigers, der sich gelegentlich als Querkopf erwies. An politischen Meinungsverschiedenheiten mit dem Kabinettschef, etwa im Streit um den atompolitischen Kurs der Bundesregierung, bei dem sich der Atomminister auf die Seite der Adenauer-kritischen „Göttinger Achtzehn“ stellte, hat es während Balkes Amtszeit wahrlich nicht gemangelt. Solange aber die CSU stark war, Strauß als Protektor Balkes auftrat, solange brauchte sich letzterer für seine mit Adenauer oft divergierenden Auffassungen keine Polster zu verschaffen, brauchte nicht Klüngelartige Kontakte zu Entscheidungsträgern in Kanzleramt und Fraktion zu entwickeln. Die CSU jedoch befand sich, obwohl sie im Anschluss an die „Spiegel-Affäre“ aus der Landtagswahl in Bayern gestärkt hervorgegangen war, wegen eben dieser auf der Bundesebene in einer Position der Schwäche.202 Die CSU konnte Strauß nicht im Amt halten und verlor das Verteidigungs- und Atomressort, für die sie im Ausgleich lediglich das Schatzund Bundesministerium zugesprochen bekam. Die Stellung der CSU in der Verhandlungskommission zur Bildung einer Koalition mit den Liberalen war infolgedessen mit jener in 196
Vgl. Brief Balke an Carstens vom 24.11.1969, in: ACDP, NL Balke, I-175-045/2. Vgl. Diepholz, Otto: Der Pförtner wusste über den Rücktritt eher Bescheid als der Minister, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.12.1962. 198 Vgl. o.V.: Siegfried Balke 65 Jahre alt, in: Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 01.06.1967. 199 Vgl. CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 11.12.1962, abgedruckt in: Franz (Bearbeiterin) 2004 (Zweiter Teilband), S. 489 f. 200 Dies ließ er nicht über sein Abgeordnetenbüro, sondern über die Informationsstelle der bayerischen Wirtschaft der Öffentlichkeit mitteilen; vgl. o.V.: Balke nicht zu Adenauers Empfang, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.12.1962. 201 Vgl. o.V.: Balke meidet Adenauer, in: Telegraf, 20.12.1962; o.V.: Balke meidet den Bundeskanzler, in: Frankfurter Rundschau, 20.12.1962; Krones Tagebucheintrag vom 20.12.1962, in: Krone, Heinrich: Tagebücher. Zweiter Band: 1961-1966, Düsseldorf 2003, S. 133. 202 Vgl. Schröder, Dieter: Der Kulissenkampf um Franz Josef Strauß, in: Süddeutsche Zeitung, 16.11.1962. Zur „Spiegel“-Affäre und der damit verbundenen Neubildung des Kabinetts vgl. Köhler 1994, S. 1157-1183. 197
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den Tagen und Wochen nach den Bundestagswahlen 1953, 1957 und 1961 nicht vergleichbar. Dieser Effekt wurde analog durch die außergewöhnliche Stärke der FDP intensiviert. Die Liberalen hatten 1961 mit 12,8 Prozent ihr historisch bestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl errungen. Kein Wunder daher, dass die CSU-Landesgruppe die 1962er Kabinettsformierung als „den ersten Rückschlag“203 seit 1949 empfand. Es erscheint außerdem wahrscheinlich, dass die CSU-Repräsentanten in der Verhandlungskommission am Ende nicht doch Balke den Gegebenheiten opferten – nicht zuletzt aus egoistischen Motiven. Auffällig jedenfalls war: Fast alle Mitglieder der Verhandlungskommission hatten sich einen Platz im neuen Kabinett ergattert.204 Einer der Profiteure, Werner Dollinger, war dafür bekannt, „forsch und rücksichtslos insbesondere mit älteren Landesgruppenmitgliedern“205 – wie Balke es mittlerweile war – umzuspringen. Und da es sich erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik um ein innerhalb der laufenden Legislaturperiode vorgenommenes Kabinettsrevirement handelte, galt es, die Angelegenheit möglichst zügig, also unter erheblichem Zeitdruck der Öffentlichkeit, zu bewältigen.206 Und allgemein war die Verhandlungskommission stärker den Interessen der Fraktion verpflichtet und bedachte zuallererst jüngere, aufstrebende, innerhalb der Fraktion vernetzte Personen wie Bruno Heck, Rainer Barzel oder Werner Dollinger mit Kabinettsposten. Erschwerend kam hinzu, dass sich Balke mächtigen Gegnern seiner Person gegenüber sah. Die erstarkte nordrhein-westfälische CDU plante seit Längerem, das Gewicht der CSU zu ihren Gunsten zu reduzieren.207 Übrigens war es die NRW-CDU, deren Mandanten die Ruhrkohlefirmen waren, die sich in Bonn gegen die bayerische Wirtschaftspolitik und deren energiepolitisch nach Autarkie strebende Chemieunternehmen stellte,208 damit aber auch den Atomminister Balke ins Visier nahm. Diesem haftete der Ruf an, mit der Atomwirtschaft vornehmlich bayerische Strukturpolitik zu betreiben. Die nordrhein-westfälischen Energieversorger machten ihren Einfluss im Kanzleramt geltend und versuchten, Balke der Atom-Utopie zu überführen.209 Was man gemeinhin als Ironie der Geschichte bezeichnet, wurde Balke zuteil. Wieder war es der Proporz, der den letztlich entscheidenden Impuls gab. Nach Strauß’ Abgang hätte die CSU-Ministergruppe konfessionell zur einen Hälfte aus Katholiken, zur anderen aus Protestanten bestanden, wodurch die Unter- in eine eklatante Überrepräsentanz der evangelischen Bevölkerungsteile umgeschlagen wäre. Die alte Relation von einem Protestanten und drei Katholiken galt es aber zu bewahren, weshalb der katholisch getaufte Alois Niederalt für Balke in das Ministerkontingent der CSU nachrückte210 und Balke in den 203 Zitiert nach Franz, Corinna: Die CDU/CSU-Fraktion des Deutschen Bundestages 1961-1966. Einleitung, in: dies. (Bearbeiterin): Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1961-1966, Erster Teilband September 1961 - Juli 1963, Düsseldorf 2004, S. XXIX. 204 Vgl. CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 11.12.1962, abgedruckt in: Franz (Bearbeiterin) 2004 (Zweiter Teilband), S. 465. 205 Weber 2004, S. 37. 206 Vgl. Adenauer, der um das Kapital der Zuverlässigkeit und Kontinuität Bonner Regierungen bangte, in: o.V.: Wer geht ins Kabinett?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.12.1962; auch Krone notierte, die Kabinettsbildung müsse unbedingt vor der Weihnachtszeit zum Abschluss gebracht sein, vgl. Krones Tagebucheintrag vom 07.12.1962, in: Krone 2003, S. 129. 207 Vgl. Information Nr. 138, Exclusiv-Informationen aus Politik-Wirtschaft-Kultur, 7. Jg. o.D. 208 Vgl. Mintzel 1977, S. 257 ff. 209 Vgl. Radkau 1983, S. 121 ff. 210 Vgl. o.V.: Minister Lenz will die Arbeit von Balke fortsetzen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.12.1962; Reiser, Hans: Zwei weißblaue Bundesminister, in: Süddeutsche Zeitung, 13.12.1962.
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Medien folgerichtig als Opfer eines „parteiinternen Koalitionsproporz[es]“211 ausgemacht wurde. Fachliche Gründe spielten dagegen keine Rolle. Niederalt besaß keine sonderlich herausragende Kompetenz, die ihn für ein Ministeramt qualifiziert hätte. Der „Loisl“, wie Balke spät (1953) der CSU beigetreten, hatte von seiner Berufung erst in letzter Sekunde erfahren,212 war folglich ein aufgrund seiner Konfession gerade passender Reservist des CSU-Führungskaders gewesen.213 Der direkte Amtsnachfolger Balkes, Hans Lenz, war studierter Philologe, der einst einen Verlag für wissenschaftliche Publikationen gegründet hatte.214 In der FDP-Fraktion war er ebenso wie in der Partei zum Vize aufgestiegen und galt unter den Abgeordneten wegen seiner Vermittlerrolle als „Klimaanlage“. Dies genügte als Qualifikation, um für das soeben in den Koalitionsverhandlungen erworbene, vom Atom- zum Wissenschaftsministerium aufgewertete Ressort in Frage zu kommen. Zumal sich die Aufgabenstellung des Ministers kaum veränderte und somit ebenfalls keinen Personalwechsel rechtfertigte: Eine umfassende Kompetenzerweiterung des Ressorts scheiterte an nämlich verschiedenen Widerständen.215
Balke als Exemplar eines erfolgreichen Elitentransfers Der Umgang mit Balke zeichnet kein angenehmes Bild von der politischen Realität. Er wurde vielmehr als Bestätigung der klischeehaften Vorstellungen von Politik als unsachgemäßer, primär an eigentümlichen Prioritäten wie der Proporzbalance und egoistischen Machtmotiven einzelner Akteure, dem Gebot taktischer Kalküle statt sachlicher Erfordernis, aufgefasst. Bedauernswert lautete die Folgerung, Balke sei eben zu sehr als Fachmann und zu wenig in der Parteipolitik engagiert gewesen, um sich dauerhaft einen Kabinettsplatz zu sichern.216 Überdies wurde in der Presse Adenauers ebenso kühler wie lapidarer Kommentar bekannt, dass Koalitionsverhandlungen eben „stets Kompromisse, die nicht nach allen Seiten hin voll befriedigen könnten“217, erforderten. Schon Balkes, primär konfessionsbedingte, Berufung hatte allerdings Skepsis wach gerufen, sodass zu beiden Zeitpunkten, dem Ein- und Austritt Balkes im Kabinett, der Eindruck von den Rekrutierungsmustern ein negativer sein musste. Mal diente Balke der CSU als Statussymbol ihrer Autonomie, mal war seine Personalie Instrument des Proporzes. Die Demission als Bundesminister ging allerdings nicht mit einem völligen PolitExitus Balkes einher und geriet keinesfalls fundamental. Die offene Desavouierung ließ Balke beinahe gestärkt aus der Situation hervorgehen. In seinem Büro gingen rund 2.000 Sympathie und Bedauern bekundende Zuschriften ein. Die Presse feierte ihn als aufrichti-
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Thilenius, Richard: Regierung im Übergang, in: Süddeutsche Zeitung, 13.12.1962. Vgl. Henkels 1963, S. 229 f. 213 Niederalt war 1961 stellvertretender Vorsitzender der CSU-Landesgruppe geworden. 214 Zu Lenz vgl. Henkels 1963, S. 191 ff. 215 So zeichneten sich in den Staatskanzleien der Länder sofort föderalistische Widerstände gegen eine Okkupation von kultusministeriellen Zuständigkeiten seitens der Bundesregierung ab und Innenminister Höcherl verweigerte kategorisch die Abtretung von Teilen seines Ressorts für das neue Ministerium; vgl. Leonhardt, Rudolf Walter: Was erwarten wir vom neuen Wissenschaftsminister?, in: Die Zeit, 21.12.1962. 216 Vgl. Raegener, Karl Heinrich: Prof. Dr. Siegfried Balke – der Repräsentant der Arbeitgeber, S. 4 f., Textwiedergabe nach einer Tonbandaufnahme vom 31.10.1969, in: ACDP, NL Balke, I-175-001/2. 217 O.V.: Balke meidet den Bundeskanzler, in: Frankfurter Rundschau, 20.12.1962. 212
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gen Märtyrer und empörte sich über den scheinbar unanständigen „Bonner Stil“.218 Gar zum „Humboldt unserer Zeit“219 empor gehoben, beweinte mancher Journalist Balkes Rausschmiss wie die fahrlässige Vertreibung eines segensreichen Heilands. Die Münchner Parteibasis stellte sich solidarisch hinter den so Geschiedenen, Bürgermeister Georg Brauchle verlangte als lokaler CSU-Vorsitzender von Adenauer per Telegramm eine schriftliche Stellungnahme.220 Und in der Bundestagsfraktion wurden Stimmen laut, die den Abgang eines ob seiner Expertise allseits geachteten Sachverständigen beklagten.221 Balke blieb zudem für die CSU Abgeordneter des Deutschen Bundestages, bis er 1969 auf eine erneute Kandidatur freiwillig verzichtete.222 Strauß-Gegner brachten Balke 1963 sogar als CSU-Vorsitzenden ins Gespräch.223 Nachdem Abschied aus dem Ministerium gelang Balke der Wiedereinstieg in die Wirtschaftselite als Mitglied der Geschäftsführung der SIGRI Kohlefabrikate GmbH. Im Frühjahr 1963 wählte ihn die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zu ihrem Vizepräsidenten, ein Jahr später avancierte Balke als deren Präsident zum Spitzenrepräsentanten der deutschen Unternehmerschaft. Seine Vergangenheit als politischer Seiteneinsteiger und der Posten an der Spitze eines Bundesverbands der Wirtschaft verbanden sich zu dem Eindruck, als Kenner beider Welten sei Balke besonders zur Harmonisierung der unterschiedlich funktionierenden Sphären Politik und Wirtschaft, zur Integration ihrer unterschiedlichen Realitäten, geeignet.224 Als einem der wenigen Seiteneinsteiger gelang ihm somit ein erfolgreicher Elitenwechsel zwischen den Bereichen Politik und Wirtschaft, eine „cross-over“-Karriere mit vorpolitischer, politischer und nachpolitischer Phase wie man sie am ehesten aus den USA zu kennen meint. Balke verbrachte seinen Lebensabend in einem Altersheim als ein von Senilität gezeichneter Senior, der sich von ausländischen Geheimdiensten verfolgt glaubte.225 Doch als vitaler Politiker war er einst ein bedeutsamer Interessenrepräsentant der industriellen Unternehmerschaft gewesen.
218 Vgl. Henkels 1963, S. 29 f.; Korrekturabzug für einen Lebenslauf für den „Arbeitgeber“, in: ACDP, NL Balke, I-175-003/2, S. 2. 219 Leonhardt, Rudolf Walter: Was erwarten wir vom neuen Wissenschaftsminister?, in: Die Zeit, 21.12.1962. 220 Vgl. o.V.: CSU protestiert bei Adenauer wegen Entlassung Balkes, in: Deutsche Zeitung, 11.12.1962. 221 Vgl. CDU/CSU-Fraktionssitzung vom 11.12.1962, abgedruckt in: Franz (Bearbeiterin) 2004 (Zweiter Teilband), S. 494. Darüber hinaus waren auch maßgebliche Industrielle erbost, so zeigte sich der BayerAufsichtsratsvorsitzende „wütend über die Schweinerei“; Radkau 1983, Anmerkung 759 auf S. 507. Und sogar der Sozialdemokrat Carlo Schmid mokierte sich, dass Balke „ausgebootet“ worden sei; zitiert nach o.V.: „An einem Kanzleramt soll man nicht deuteln“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.12.1962. 222 Vgl. o.V.: Balke will nicht mehr kandidieren, in: Süddeutsche Zeitung, 18.09.1967. 223 Vgl. o.V. Strauß-Nachfolge, in: Der Spiegel, 06.03.1963. 224 Vgl. Witt, Otto: Ein Wissenschaftler und Politiker, in: Stuttgarter Zeitung, 25.06.1964. 225 Vgl. Muth, Harry/Mumme, Gerhard: Alt werden in Deutschland: Das Geschäft mit den Senioren, in: Welt am Sonntag, 31.01.1982.
Otto Schily – ein politischer Seiteneinstieg im Kontext der hegemonialen Kooptation und passiv-revolutionären Selbsteinschreibung von „1968“ in den Neoliberalismus Ingar Solty Otto Schily – Seiteneinstieg im Kontext hegemonialer Kooptation
„Er wollte wiedergewählt werden. Gewiß, das wollten sie alle. Aber Keetenheuve wollte wiedergewählt werden, weil er sich für einen der wenigen hielt, die ihr Mandat noch als eine Anwaltschaft gegen die Macht auffaßten […]. Korodin von der anderen Partei, sein Gegner im Ausschuß für Petitionen, nannte Keetenheuve einen Menschenrechtsromantiker, der Verfolgte suchte, Geknechtete, um ihnen die Ketten abzunehmen, Leute, denen Unrecht widerfahren, Keetenheuve war immer auf der Seite der Armen und der Sonderfälle, er stand den Unorganisierten bei und nie den Kirchen und Kartellen, doch auch den Parteien nicht, nicht unbedingt selbst der eigenen Partei, und das verstimmte die Parteifreunde, und manchmal schien es Keetenheuve, als ob Korodin, sein Gegner, ihn am Ende noch besser verstand als die Fraktion, mit der er sich verbunden hatte.“1 Denkt man an die moralisch-anklagende politische Rhetorik von Otto Schily, an seine politische Biografie nach der persönlichen Linkswende um das Jahr 1967 herum, aber auch an seine politischen Disloyalitäten, wenn er zum Beispiel die Berliner SPD in den Koalitionsverhandlungen mit seiner eigenen damaligen Partei, der Alternativen Liste, aufforderte, „hart zu bleiben“, denkt man schließlich an seine Verbrüderungen mit dem (partei-)politischen Gegner, wie beispielsweise dem innenpolitischen CSU-Hardliner Günther Beckstein oder dem ultrakonservativen ehemaligen US-Justizminister John Ashcroft, den Schily als seinen „Freund“ bezeichnete, dann fallen die formellen Ähnlichkeiten zwischen der Beschreibung des Politikers Felix Keetenheuve in Wolfgang Koeppens kritischem Adenauerrepublikroman und Schily ins Auge. Zumindest Otto Schily selbst würde und müsste sich durch den Vergleich mit diesem Keetenheuve sicherlich geschmeichelt fühlen. Wenigstens hat Otto Schily ungeachtet seiner Wandlung vom RAF-Anwalt zum Innenminister die kritische geschichtspolitische Haltung zur unmittelbaren westdeutschen Nachkriegsgeschichte – Restauration, Westintegration, Wiederbewaffnung, Revisionismus etc. – nie ganz abgelegt und auch in einer seiner letzten großen Reden aus Anlass der Wehrmachtsausstellung noch einmal bekräftigt. Zudem hat Otto Schily als scheinbarer politischer Außenseiter lange Zeit von einer Aura eines über den Dingen und jenseits der Parteidisziplin stehenden, scheinbar einzig der Sache und seinem eigenen Gewissen verpflichteten Politikers, die auch dem politischen Seiteinsteiger zugeschrieben wird, gezehrt. Zwar zog er sich mit seiner politischen Wende vom radikalen Liberalen, ja radikalen Linken zum konservativ-autoritären „Ordnungsparteipolitiker“ den Spott und die unbändige Wut und Verachtung vieler alter Weggefährten und neuer Linker zu,2 doch genoss er bei aller vehementen Kritik insbesondere nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 noch lange eine 1
Koeppen, Wolfgang: Das Treibhaus, Frankfurt am Main 1972, S. 26 f. So heißt es beispielsweise im Lied „Nachhilfestunde“ von Franz Josef Degenhardt aus dem Jahr 2002: „Innenminister, einst RAF-Anwalt macht, was Herold im Deutschen Herbst sich erdacht“. 2
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relativ breite zivilgesellschaftliche Unterstützung für seine Verschärfung der Sicherheitsgesetze und der staatlichen Überwachung. Jenseits der Linken einschließlich der Linksliberalen hat allerdings erst die Affäre um seine Nebeneinkünfte und der Verdacht, er könne seine politische Tätigkeit im Bereich der biometrischen Datenerfassung zur privaten Bereicherung genutzt haben, seinen Nimbus der verschrobenen Eigensinnigkeit, wenn nicht sogar Unkorrumpierbarkeit in der Öffentlichkeit nachhaltig angekratzt oder zerstört. Otto Schily kann auf Grundlage der in diesem Band vorgenommenen Definition des politischen Seiteinsteigers, die „sich vom Normaltypus des Politikers dadurch ab(heben), dass sie sich nach Etablierung einer außerpolitischen Karriere zu einem Einstieg in die Politik entschließen“, als politischer Seiteinsteiger interpretiert werden. Dabei muss einschränkend hinzugefügt werden, dass seine politische Biografie zwei Einschnitte in seinem Leben umfasst, die beide Momente eines politischen Seiteinstiegs beinhalten: Der Beginn seiner politischen nach einer langen außerpolitischen Karriere im Kontext einer neugegründeten Partei, Die Grünen, 1979 sowie der Übertritt zur SPD im Jahre 1989. Im ersten Fall fehlt dabei allerdings die Tatsache einer Einfügung von außen in eine bereits bestehende Parteihierarchie mit einer langen Geschichte, im zweiten Falle geht dem Seiteinstieg in eine Partei mit der längsten Geschichte aller deutschen Parteien, der SPD, bereits eine Phase der Betätigung in einer anderen politischen Partei voraus, in der Schily beispielsweise das „Handwerkszeug“ des „Berufspolitikers“ hätte erlernen können. Legt man allerdings als zentralen Maßstab für den Begriff des politischen Seiteinsteigers die politische Ochsentour durch die Strukturen einer Mitglieder- und Massenpartei zugrunde, dann ist als eigentlicher politischer Seiteinstieg von Otto Schily seine Aufnahme in die SPD zu interpretieren, denn sein Übertritt gestaltete sich – gemessen an seiner Funktion bei den Grünen und seiner gesamtgesellschaftlichen Prominenz – als ein politischer Neuanfang, der sich beispielsweise darin artikulierte, dass Schily zwischen 1990 und 1994 eine Legislaturperiode lang als SPD-Hinterbänkler im Bundestag auszuharren hatte. Alternativ ließe sich hierbei Schilys politische Tätigkeit als prominentester außerparlamentarischer „Linksanwalt“ der Neuen Linken bis zu seiner prominenten Rolle als Hauptankläger im Untersuchungsausschuss zur Flick-Spendenaffäre als Vorlauf für diesen späteren Seiteinstieg interpretieren. Begünstigt wird diese Interpretation durch die Tatsache, dass die Grünen ihrem Selbstverständnis und auch ihren ursprünglichen politischen Strukturen nach dem Wesen der etablierten „Altparteien“ nicht entsprachen bzw. entsprechen wollten. Zudem rechtfertigt sich diese Interpretation möglicherweise vor dem Hintergrund von Schilys besonderer Position innerhalb der Grünen Partei: So gehörte er zwar selber zu den Gründungsmitgliedern, jedoch verdankt er seine Bekanntheit in der Öffentlichkeit im Grunde genommen seiner vorhergegangenen Anwaltstätigkeit. So urteilt auch einer von zwei Schily-Biografen, Stefan Reinecke: Schily „ist berühmt – und eher ein Prominenter bei den Grünen als ein grüner Prominenter“3.
Anmerkungen zur Methode Im Folgenden soll die politische Biografie Otto Schilys im Hinblick auf den politischen Seiteinstieg analysiert werden. Zur Aufklärung ihrer Umstände gehört als entscheidende Frage hinzu, wie man die historische Wandlung des sozialliberalen Staatskritikers Otto 3
Reinecke, Stefan: Otto Schily. Vom RAF-Anwalt zum Innenminister. Biografie, Hamburg 2003, S. 219.
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Schily zum konservativen Ordnungspolitiker Otto Schily ohne Bezug auf (vulgär)psychologische Erklärungsansätze dechiffriert, denn in ihr spiegeln sich Strukturzwänge, Akteurs-Beweggründe, Erfolg und Scheitern des politischen Seiteinstiegs. Die Entschlüsselung der spezifischen Schily-Biografie unter besonderer Berücksichtigung ihrer Metamorphosen, die häufig und aus verständlichem Anlass zu einer emotional aufgeladenen Entgegensetzung von prinzipienlosem Opportunismus und Karrierismus auf der einen Seite und prinzipiengeleitetem Querdenkertum auf der anderen Seite geführt hat, erfordert dabei unbedingt die Einbeziehung der gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Denn Karrierismus und Opportunismus sind weder sozialwissenschaftliche noch – im engeren Sinne – politische Kategorien.4 Im besten Fall sind sie anthropologische Begriffe, deren Anwendung als quasiphysikalische Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge (beispielsweise quasinaturgesetzliche Machtanziehung und Beugung unter wirkenden Kräften) sich für die Sozialwissenschaften nicht nur grundsätzlich verbietet, da sich erstens menschliches Handeln in von Menschen geschaffenen, veränderbaren und historisch veränderten Strukturen vollzieht und damit per definitionem nicht vorhersagbar ist und zweitens menschliche Handlungsentscheidungen nicht aus ihren sozialen Kontexten herausgelöst und dann individuell fragmentiert beobachtet werden können, so wie es das Ziel der dominanten analytischen Philosophie als erkenntnistheoretischer Grundlage ist, sondern weil zudem die Reduzierung menschlichen Handelns auf ein individuelles Kosten-Nutzen-Prinzip auch „empirisch“ auf wackligen Beinen steht, da die Menschheitsgeschichte zeigt, dass der Mensch stets Handlungsalternativen besitzt und diese auch nutzt, also mehr ist als bloß homo oeconomicus.5 Mit anderen Worten: Will man die einseitige Heroisierung oder moralische Verurteilung von politischen Figuren vermeiden, zu denen biografische Studien häufig neigen, denn oft sind sie der Grund, warum sie überhaupt verfasst werden, so lohnt es sich, historische Personen als gesellschaftliche Akteure zu begreifen, die in bestimmten historischen Situationen in gesellschaftliche Strukturzusammenhänge eingreifen, die ihr eigenes Handeln strukturieren, um innerhalb dieser Strukturen (individuell) zu operieren und/oder diese Struktu4
Genauso, wie die Psychologie oder anthropologische Aussagen über ein vermeintliches Wesen des Menschen oft bemüht werden, wenn die Sozialwissenschaftler mit ihrem Latein am Ende sind, ist der Verweis auf Karrierismus häufig das Ende der Diskussion. Denn dann werden dialektische Zusammenhänge verschüttet und lassen sich keine analytischen Aussagen mehr, sondern ausschließlich normative treffen. Dabei kann es sogar passieren, dass die Negativkategorie des opportunistischen Wendehalses aus apologetischen Gründen genutzt wird, um – wie im Fall Carl Schmitt – die von ihm gezogenen politischen Konsequenzen hinter das theoretische Werk zurücktreten zu lassen. Der Verweis auf Karrierismus und Opportunismus wird in diesem Fall von seinen Anhängern genutzt, um das Werk als ewigen politischen Klassiker zu adeln und von seinem konservativ-revolutionären Entstehungskontext zu trennen. Mit anderen Worten: Aus politischen Gründen opfert man das Idol, um seine Ideen zu retten. 5 Die Bedeutung der Geschichte für die Sozialwissenschaften und die Armut der letzten Endes von der postklassischen mathematisierten politischen Ökonomie seit Bentham übernommenen ahistorisch-modellhaften und spieltheoretischen Ansätze ließe sich gut beispielsweise innerhalb der Internationalen Beziehungen zeigen, und zwar am konkreten Beispiel des Übergangs vom Realismus zum Neorealismus. Denn während der Neorealismus von Kenneth Waltz mit dem Anspruch antrat, den Realismus Morgenthaus zu verwissenschaftlichen, indem er ihn von seinen negativ-anthropologischen Grundlagen eines „Willens zur Macht“ etc. zu reinigen beabsichtigte und mit dem rousseauschen Hasenbeispiel eine scheinbar ontologisch oder wenigstens anthropologisch neutrale Grundlage für das „Verhalten“ von (als black box und Quasiindividuen gedachten) Staaten zu begründen, zeigt der unmittelbare Vergleich des historisch reichhaltigen und lehrreichen „Politics Among Nations“ zu „Man, States, War“ schnell, mit welcher dumm-machenden Komplexitätsreduktion (insbesondere hinsichtlich einer dringend notwendigen international politisch-ökonomischen Grundierung und Analyse der handelnden Staaten in ihrer gesellschaftlichen Kräftezusammensetzung) die vermeintliche Verwissenschaftlichung eingekauft wurde. Eine Sozialwissenschaft, die sich auf diesen Pfad einer von jeglicher konkreten Historie und auch Dialektik gereinigten Analyse begibt, gibt sich selbst auf.
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ren und die Handlungsfähigkeit in ihnen (kollektiv) zu verändern.6 Der AvantgardeCharakter oder die politische Bedeutung der gesellschaftlichen Akteure wird so erkennbar, wenn man ihr Handeln in Beziehung zu den großen historischen Trends auf allen relevanten Ebenen der gesellschaftlichen Entwicklungen – ökonomisch, politisch und ideologisch – setzt. Für Otto Schily impliziert das eine Beurteilung seiner Akteursrelevanz für die historisch-konkrete Reorganisation neoliberaler Hegemonie unter den Bedingungen der ersten „deutschen Linksregierung unterm Neoliberalismus“7, die im Kontext einer sich europaweit vollziehenden Regierungsübernahme von Mitte-Links-Koalitionen die (neo-)konservative Ära des Neoliberalismus ablöste und in seiner „sozialdemokratischen“ Phase auf eine breitere gesellschaftliche Grundlage stellte, ihn – wie Mario Candeias das formuliert hat – dabei „hegemonial verallgemeinernd“8. Um das konkrete empirische Material zu interpretieren, bedarf es somit einer methodologischen Grundierung, mit der die Ausführungen über die historisch-konkrete Seiteinsteiger-Biografie Otto Schily methodisch aufbereitet und interpretierbar gemacht und ihr historischer Stellenwert eingeschätzt werden kann. Hierbei stütze ich mich auf den regulationstheoretischen Ansatz und die gramscianische Hegemonietheorie, die beide als neomarxistische Vereinbarung von Struktur- und Handlungsanalyse die Wechselwirkungen zwischen ökonomischer, politischer und ideologisch-kultureller Ebene zu fassen versuchen, den Staat als soziales Verhältnis und Terrain der institutionell verdichteten gesellschaftlichen (Klassen-)Auseinandersetzungen und hegemonialer Allianzenbildungen (anstatt als unabhängigen über den sozialen Interessen schwebende black box) denken und damit ein Begriffsinstrumentarium entwickelt haben, auf der Grundlage einer Unterscheidung von (ökonomischer) Produktions- und (politischer) Regulationsweise den Kapitalismus zu periodisieren und Formationsbrüche – wie beispielsweise den Übergang vom fordistischkeynesianischen Wohlfahrtsstaat zum neoliberalen nationalen Wettbewerbsstaat – in ihrer komplexen Entstehungsweise durch ökonomische, politische und ideologische Kämpfe von unten und von oben und unterschiedliche Determinationsverhältnisse zwischen den einzelnen Ebenen zu erklären. Dabei spielt der gramscianische Begriff der Kooptation eine entscheidende Rolle, um spezifische Formationsbrüche wie den Übergang zum keynesianisch 6 Die von Klaus Holzkamp begründete subjektwissenschaftliche Kritische Psychologie, die sich mit den naturgeschichtlich-naturwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen menschlichen Handelns beschäftigt hat, hat auf der rationalistischen Grundlage eines gegen die Frankfurter Schule und die Psychoanalyse gerichteten materialistischen Apriori, demnach kein Mensch bewusst gegen seine eigenen Interessen verstoßen kann, für diese Formen menschlichen Handelns die Begriffe der restriktiven und der erweiterten Handlungsfähigkeit geprägt. Dabei ist der restriktive Handlungsmodus häufig mit individuellen Coping-Strategien in spezifischen limitierenden Handlungszusammenhängen verbunden, während die erweiterte Handlungsfähigkeit sich häufig aus kollektiven Handlungsformen ergibt. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist, dass Studierende, deren Handlungsfreiheit durch Langzeitstudiengebühren eingeschränkt worden ist, entweder im restriktiven Modus handeln und ihr Studium schnell abschließen oder gemeinsam mit ihren Kommilitonen politisch dafür streiten, dass diese Gebühren wieder abgeschafft werden, womit die Handlungsfähigkeit für alle erweitert worden wäre. Aus diesen Erläuterungen und dem Beispiel sollte unmittelbar evident hervorgehen, dass schon aus diesem Grund menschliches Handeln immer wieder neu auf freien Entscheidungen zwischen mehreren Alternativen beruht, die aus den spezifischen sozialen Verhältnissen, die Menschen eingehen, entspringen, die in der Regel zwischen der individuellen Anpassung an diese sozialen Verhältnisse und der kollektiven Interessensvertretung innerhalb dieser Verhältnisse, die auf die gesellschaftlichen Verhältnisse/Strukturen verändernd wirken, oszillieren; vgl. hierzu näher Holzkamp, Klaus: Grundlegung der Psychologie, Frankfurt am Main u.a. 1985. 7 Vgl. hierzu näher Das Argument 262. 8 Vgl. hierzu näher Candeias, Mario: Neoliberalismus, Hochtechnologie, Hegemonie. Grundlagen einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Eine Kritik, Hamburg 2004.
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regulierten fordistischen Kapitalismus in den 1930er Jahren und den Übergang von diesem zum Neoliberalismus in den 1970er Jahren erklärbar zu machen, da die Kooptation die Voraussetzung dafür ist, dass der Kapitalismus sich durch die hegemoniale Einbindung von Opposition ständig erneuert und damit über seine politisch konstitutierte konkurrenzgetriebene Entwicklung sein regulatorisches Erscheinungsbild ständig ändert.9 Der politische Aufstieg von Otto Schily ist dabei ein Teil der bemerkenswerten Entwicklung der Kooptation und Selbst-Einschreibung der (sozialdemokratisch-alternativen) Opposition und der (alten und der) neuen sozialen Bewegungen in den Neoliberalismus hinein. Der Neoliberalismus leitete damit nicht nur seine zweite, „sozialdemokratische“ Phase ein, sondern die hegemoniale Einbindung der vormals oppositionellen Kräfte ermöglichte auch seine „hegemoniale Verallgemeinerung“10. Dabei war die Integrationskraft des Neoliberalismus in Deutschland besonders bemerkenswert, denn dass jemand, der sich einst als „liberaler Kommunist“11 verstand, vom mehrheitsgesellschaftlich verhassten RAFAnwalt zum Innenminister aufsteigt, spricht zunächst einmal für die relative soziale Durchlässigkeit des deutschen politischen Systems. Der Aufstieg der sogenannten 1968-erGeneration zur politischen Macht hat sich in kaum einem anderen Land so drastisch abgespielt wie in Deutschland. Dies erklärt sich insbesondere vor dem Hintergrund eines annähernd proportionalen Verhältniswahlrechts, das erfolgreiche Parteineugründungen viel eher möglich macht als (präsidiale) Mehrheitswahlrechte, und nicht zuletzt im Kontext einer weniger hierarchisierten Universitätslandschaft, die weder ein College de France noch eine Harvard University kennt. Theoretisch, in gramscianischen Begriffen gesprochen, stehen diese Biografien des Weiteren allerdings für die bemerkenswerte Fähigkeit des Kapitalismus, sich durch die Einschreibung und Kooptation von ursprünglich gesellschaftlich oppositionellen Kräften zu erneuern und diese Kräfte für die eigene Erneuerung produktiv zu machen. Das Terrain, auf dem diese Erneuerungen stattfinden, ist der Staat, der kein Instrument in den Händen einer herrschenden Klasse ist, sondern als „Verdichtung von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen“ und als Arena von institutionellen Kämpfen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen zu denken ist. In den Schlussbemerkungen über den politischen Aufstieg und das Scheitern Otto Schilys als Teil des rotgrünen Projektes wird darauf zurückzukommen sein.
Ein intellektuellentheoretischer Erklärungsansatz für die politische Sozialisation und Linkswende des bildungsbürgerlichen Otto Schily Otto Schily wurde am 20. Juli 1932 als Sohn eines Industriellen in Bochum geboren. Sein Vater, Franz Schily, war leitend in einem kriegswichtigen Stahlunternehmen, der Bochumer Verein AG, die damals noch ein mächtiger Konkurrent der Krupp-Werke war, tätig. Seine bürgerliche Herkunft ließ Franz Schily dabei die „plebejischen“ Nationalsozialisten mit der Skepsis der alten Eliten betrachten. Die nationalsozialistische Gegnerschaft zur 9 Vgl. einführend in die Regulationstheorie und die gramscianische Hegemonietheorie Hirsch, Joachim: Hegemonie, Herrschaft, Alternativen, Hamburg 2002 sowie Jessop, Bob: Kapitalismus – Regulation – Staat. Ausgewählte Schriften, Hamburg 2007, S. 208-274. 10 Vgl. hierzu näher Candeias 2004, vor allem S. 327 f. sowie in Bezug auf den spezifischen Kontext Solty, Ingar: Transformation des deutschen Parteinsystems und historische europäische Verantwortung der Linkspartei, in: Das Argument 271, Jg. 49 (2007) H. 3, S. 329-348. 11 Michels, Reinhold: Otto Schily. Eine Biographie, Stuttgart u.a. 2001, S. 9.
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Anthroposophie, der er selber anhing, manövrierte ihn in einen objektiven Interessenskonflikt mit den Nationalsozialisten. Ihn als Antifaschisten zu bezeichnen, ist dabei überzogen, denn erst nach dem Krieg stellte er sich kritisch zu seiner gekränkten Haltung, dass ihn die Nazis wegen Mitgliedschaft in der Anthroposophischen Gesellschaft nicht zum Wehrdienst einzogen.12 Otto Schilys Hintergrund war dabei allerdings nicht nur bürgerlich, sondern klassisch bildungsbürgerlich, denn schon sein Vater entsprach keineswegs dem schlichten Typus‘ des rheinisch-westfälischen „Schlotbarons“, sondern war promovierter Altphilologe und Philosoph. Otto Schily wuchs von daher bildungsbürgerlich auf, was sich nicht zuletzt in seiner klassischen musikalischen Ausbildung widerspiegelt. Der Begriff des Bildungsbürgertums drückt dabei eine eigentümliche Spannung aus, die insbesondere für das liberale Bürgertum des 19. Jahrhunderts als charakteristisch gilt, die aber auch noch für den Zeitraum von Schilys Jugend und teilweise bis heute prägend gewesen ist, obwohl sich das klassische Bildungsbürgertum im Kontext des Fordismus tendenziell aufzulösen begann. So impliziert der Begriff des Bürgertums nicht bloß das gesellschaftliche Interesse einer bestimmten sozialen Klasse, sondern auch ein historisches Erbe, das sich im universalistischen Anspruch der Aufklärung – als der ideologischen Waffe des Bürgertums gegen die transzendental legitimierte feudale Privilegienherrschaft einerseits, der Grundlage der menschlichen Naturbeherrschung in der kapitalistischen Moderne andererseits – und dem Streben nach menschlicher Autonomie spiegelt. In seiner Intellektuellentheorie hat Jean-Paul Sartre versucht, diesen Widerspruch zwischen Aufklärungsideal und -wirklichkeit als Grundlage für den Bruch bürgerlicher Intellektueller mit ihrer Klasse und ihre Wendung zum Sozialismus, zur Arbeiterbewegung, zu verstehen. Sartre sah als Ursache dieses „Klassenverrats“, wie es der marxistische Theoretiker Georg Lukacs später bezeichnen würde, eine Erfahrung der bürgerlichen Intellektuellen zwischen dem partikularen Gebrauch ihres Wissens und dem universalistischen Anspruch ihrer Kindheitsund Jugendbildung. Ein anarchisches kapitalistisches System, das nicht nur das Kapital – wie Karl Marx es ausdrückte – zum „automatischen Subjekt“ werden ließ – d.h. Produktion nicht um der Bedürfnisbefriedigung, sondern um der Produktion selbst willen – und zudem noch Verelendung und Krieg beförderte, ein solches System musste sich an den hehren Ansprüchen des bildungsbürgerlichen Kanons und am uneingelösten Versprechen der Aufklärung stoßen. Dabei vermutet zumindest der Schily-Biograf Michels – neben der persönlichen Bekanntschaft mit seiner späteren Frau, der linken Studentin Christine Hellwag – einen solchen Zusammenhang, da er als entscheidendes Ereignis in Schilys Politisierung jenen Berliner Weihnachtsgottesdienst 1967 ansetzt, bei dem Rudi Dutschke beinahe gelyncht wurde, was Schily äußerst schockierte und als einen Verfall bürgerlicher Moral, bürgerlichen Anstands wahrnahm.13 Ob die von Sartre beschriebene persönlichkeitsbildende Widerspruchserfahrung auch für die Linkswende von Otto Schily verantwortlich war, die sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre vollzog (Schily hatte, was er später bereute, das Verbot der KPD begrüßt und stand zunächst, wie sein Vater, der FDP nahe), kann zuvor nicht endgültig geklärt werden. Tatsache ist jedenfalls, dass diese Linkswende eines Heranwachsenden aus bürgerlichem 12
Vgl. ebd., S. 21 ff. Vgl. hierzu näher ebd., S. 49 f. sowie – wohl dem entnommen – Ann, Christoph: Otto Schily. Bundesminister des Innern, in: Kempf, Udo/Merz, Georg (Hrsg.): Kanzler und Minister 1996-2005. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2008, S. 269-286, hier S. 271 f. 13
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Hause stattfand und sich vor dem Hintergrund der in dieser Hinsicht fruchtbaren gesellschaftlichen Krise der 1960er Jahre vollzog. Dabei durfte auch für Schily der Vietnamkrieg eine gewichtige Rolle gespielt haben, dessen Wirkung der Schily-Biograf Reinecke wie folgt beschreibt: „Mit dem Vietnamkrieg bricht für einen Teil der Nachwuchselite in Windeseile das bisher gültige moralische Orientierungssystem zusammen, in dem die USA als ‚gute Autorität‘ firmierten. Manche, die 1963 noch Kennedy zujubelten, schreiben vier Jahre später Abhandlungen über den US-Imperialismus.“14 Dabei ist Otto Schily jedoch nie links im Sinne einer materialistischen Gesellschaftsanalyse gewesen, sondern von Anfang an dominierte im Grunde genommen ein moralisch-idealistischer Links- oder auch Radikalliberalismus. Diese Tatsache, die sich auch in seinem Auftreten, Denken und Reden niederschlug, sollte die politische Seiteinsteiger-Karriere von Otto Schily im sozialdemokratischen Milieu einerseits erschweren. Andererseits kam die Bürgerlichkeit seinem politischen Seiteinstieg auch zugute, und zwar aus vermittelten Gründen, die im Folgenden untersucht werden sollen.
Mediendemokratische Begünstigung und gescheiterte Hausmachtbildung: Die Bedeutung der außerpolitischen für die politische Karriere Schilys eigentliche politische Karriere begann vergleichsweise spät, wenn man voraussetzt, dass erfolgreiche Berufspolitiker ihre politische Karriere häufig bereits in den Jugendorganisationen der Großparteien beginnen. Schily stand kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag, als er zum ersten Mal Tuchfühlung zur parteipolitischen Arbeit aufnahm. Seine politische Karriere wurde dabei von seinem bisherigen beruflichen Werdegang insofern begünstigt, als im Kontext der mediendemokratischen Transformation der Öffentlichkeit die Bedeutung von medienwirksamen Führungspersönlichkeiten für den Erfolg und Misserfolg im Verhältnis zur innerparteilichen Willensbildung zugenommen hatte. Der Schily-Biograf Stefan Reinecke formuliert diesen Zusammenhang so: „In Bonn verhält sich Schily instinktiv so, wie es die Mediendemokratie fordert […]: Politik ist, was in der Zeitung steht. Politiker sind Leute, die im Fernsehen reden und in den Zeitungen stehen. Und dort ist oft von Schily die Rede.“ Denn, so Reinecke weiter: „In der bundesdeutschen Presse, hat ein Medienwissenschaftler akribisch ausgezählt, wird Otto Schily von 1983 bis 1989 2114-mal erwähnt, Petra Kelly 1441-mal, Joschka Fischer 1373-mal.“15 Schily war somit nach groben mediendemokratischen Maßstäben der prominenteste Politiker der Grünen. Die Medienwirksamkeit von Otto Schily, der anders als Fischer und Kelly jenseits des dreiköpfigen Sprecherrats (1983/84) niemals ein höheres Amt bei den Grünen bekleidete, beruhte auf seiner – im engeren Sinne – vorpolitischen Berufstätigkeit als Anwalt und insbesondere seiner Rolle als prominenter Rechtsverteidiger der Neuen Linken, bei der die Verteidigung der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin sein „spektakulärster Fall“16 war. Sein liberaler Biograf Reinecke erläutert Schilys Interesse an der Gründung einer neuen Partei dabei unpolitisch und rein instrumentalistisch: „Schily will keine Partei aufbauen, er will Karriere machen. Eine neue Partei hat da einen gewichtigen Vorteil. Schily muss nicht unten beginnen, er kann versuchen, oben einzusteigen. 1981, nach dem er14
Reinecke 2003, S. 71. Ebd., S. 219. 16 Michels 2001, S. 77. 15
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wiesenen ideologischen Bankrott der KPD, kandidiert er doch für die AL.“17 Unabhängig von den realen oder unterstellten Beweggründen ist jedoch eines klar: Lange bevor Schily 1998 zum Innenminister avancierte, besaß „er großen politischen Einfluss […], als prominente Figur der außerparlamentarischen Linken und als Bundestagsabgeordneter der Grünen und dann der SPD“18. Zudem profitierte Schily im Kontext einer zunehmend quotenorientierten Berichterstattung bis hinein ins öffentlich-rechtliche Fernsehen19 von seinem bildungsbürgerlichen Habitus, denn mit seiner stets korrekten Kleiderordnung und ausgestattet mit bürgerlichen Insignien wie seiner goldenen Uhr20 widersetzte sich der Enddreißiger dem antibürgerlichen Habitus der jüngeren Neuen Linken und hob sich so enorm von dem kontrastierend wirkenden Hintergrund der linken Bewegungen, mit denen er identifiziert wurde, als „großer Bruder der Szene“21 ab.22 Durch sein Auftreten eignete sich Schily zudem als „Projektionsfigur für das Bürgertum“23, weshalb er alsbald zum vermittelnden Ansprechpartner zwischen den revoltierenden Studierenden und der bürgerlichen Öffentlichkeit und zu einer Leitfigur der neuen linken Massenbildungsschicht heranreifte. Dabei hatte er sich dieser nicht aufzudrängen, sondern vermochte es, eine besondere politische Funktion für sie zu erfüllen. So erinnert sich der ehemalige SDSler Udo Knapp: „Schily war Ende der Sechziger für uns wichtig, weil er eine potenzielle andere bürgerliche Elite verkörperte, die gegen die Nazis gewesen und trotzdem fest in der deutschen Geistesgeschichte verankert war. Wir, die revoltierenden Studenten, hatten 1968, trotz unseres demonstrativen Bruchs mit den Konventionen, den verzweifelten Wunsch nach Dialog, der keine Antwort fand. Wir suchten nach bürgerlichen Leuten, die die Brücke zu uns nicht abbrachen. Deshalb war Helmut Gollwitzer wichtig – und Schily auch.“24 Schilys in seinem zivilgesellschaftlichen Berufsfeld erarbeiteter Bekanntheitsgrad war es später, der ihn zum Zeitpunkt der Gründung der Grünen, an der er mitbeteiligt war, auch ohne formelle Berufung zu einem zweckdienlichen, wenn auch nicht immer unumstrittenen informellen Leitwolf machte. Schilys beruflicher und politischer Werdegang vor dem Beginn seiner politischen Karriere in den späten 1970ern, den er in den Diskussionen über die politische Institutionalisierung der neuen sozialen Bewegungen selbst mit angestoßen,25 erwies sich jedoch nicht in jeder Hinsicht als förderlich für seinen Aufstieg in der deutschen Parlamentspolitik. Denn seine mediale Popularität und Bekanntheit wirkten sich beungünstigend aus, wenn es beispielsweise darum ging, sich an die parteiinstitutionellen Gepflogenheiten zu halten und in 17
Reinecke 2003, S. 206. Ann 2008, S. 270. 19 Vgl. hierzu näher Bourdieu, Pierre: Über das Fernsehen, Frankfurt am Main 2006. 20 Vgl. Michels 2001, S. 63 f. 21 Reinecke 2003, S. 294. 22 „Die Vehemenz, mit der in den frühen Siebzigern Bürgerkinder bürgerliche Tugenden bekämpfen, rührt auch aus der wütenden Erkenntnis, dass das Bürgertum nach 1933 widerstandslos mit den Nazis kollaboriert hatte. Nichts davon bei dem Kulturbürger Otto Schily.“ Ebd., S. 144. Hinzuzufügen wäre dem, dass Schily dem alten Bildungsbürgertum der elitären Ordinarienuniversität entstammte, während die neuen Studierenden, die die Bürgerlichkeit verwarfen, Ausdruck des gestiegenen gesellschaftlichen Bedürfnisses nach einer breiten Schicht wissenschaftlich-technischer Intelligenz entsprach, die sich somit zunehmend aus den aufstiegsorientierten kleinbürgerlichen Schichten rekrutierte, deren ehrgeiziger Aufstiegswille sich vom Habitus des bereits zur Oberschicht zählenden alten Bürgertums deutlich abhob. 23 Ebd., S. 296. 24 Zitiert nach ebd., S. 109. 25 Vgl. hierzu näher ebd., S. 200 f. 18
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diesem Kontext auch politische Hausmachten zu sichern. Denn Schilys polarisierende zivilgesellschaftliche Relevanz verstärkte seinen großbürgerlichen Standesdünkel und Elitarismus in einem Maße, der mit dem modus operandi von demokratischen Parteien selten kompatibel war.26 Dies galt umso mehr für Die Grünen, die als „Anti-Parteien-Partei“ angetreten waren, um der wahrgenommenen Verselbständigung der politischen Macht durch die Verhinderung der Entstehung von berufspolitischen Profilen, also Menschen, die nicht für, sondern von der Politik lebten, sowie durch basisdemokratische und flachhierarchische Verfahrensweisen zu begegnen.27 Zwar hielt sich Schily im Gegensatz zur gleichermaßen öffentlichkeitswirksamen, sozialbewegungsorientierten Petra Kelly an das bei den Grünen als Machtzentralisierungskorrektiv vereinbarte politische Rotationsprinzip und schied nach der Hälfte der Legislaturperiode 1986 – aufgrund seiner Flick-UntersuchungsausschussTätigkeit, der vorläufige „Höhepunkt seiner Karriere“28, um ein Jahr verlängerten – aus dem Bundestag aus.29 Dennoch offenbarten die zahlreichen und diesbezüglich einhelligen Schilderungen Schilys als autoritär, elitär und arrogant, wie wenig er sich mit dem grünen Procedere anfreunden oder wenigstens abfinden mochte, weshalb es ihm auch nicht gelang, in der eigenen Partei Loyalitäten und eine Hausmacht zu organisieren.30 Stattdessen offenbarte sich bald, dass andere prominente Grünenpolitiker – wie der bald dem Realoflügel zuzuordnende Joschka Fischer – sich geschickter dabei anstellten, taktische Bündnisse zu schmieden.31 Schilys institutionell-machtstrategische Unzulänglichkeit ist wiederum der Hintergrund für die bemerkenswerte Paradoxie, dass sein in erster Linie wohl karrierepolitisch motivierter Parteiaustritt und Übertritt zur SPD sich parallel zu jener Zeit vollzog, als die Positionen des von ihm maßgeblich mitgeprägten Realoflügels in der grünen Partei endgültig die Oberhand gewonnen hatten. Mit anderen Worten: Nachdem die Grünen, die u.a. von friedens-, innen- und auch sozialpolitisch enttäuschten Sozialdemokraten der Schmidt-Ära mitgegründet worden waren, seit dem Karlsruher Parteitag vom Dezember 1988 – der mit der Beseitigung des linken Vorstands und dem alsbaldigen Ausstieg der ökosozialistischen Fraktion um Thomas Ebermann, Rainer Trampert und Jutta Ditfurth endete – für ein rotgrünes Bündnis zur Verfügung standen, das Schily von Anfang an strategisch angepeilt hatte, erklärte Schily seinen Austritt aus den Grünen, weil es ihm an Unterstützung in der eigenen Partei mangelte und die Ressentiments gegen seine autoritär-elitäre Haltung überbordeten. Indikatoren dieser mangelnden Unterstützung und seines innerparteilichen Scheiterns waren dabei die schmerzhaften Niederlagen bei der Wahl zum längst realo-domi26 Ann bringt auf Grundlage der zwei existierenden Schily-Biografien dessen Persönlichkeit auf die Begriffe: Preuße, Großbürger, Solitär; vgl. Ann 2008, S. 270 f. Reinecke gelangt häufig zu dem Schluss: „Was Schily treibt, ist keine politische Strategie, das sind die Zicken einer beleidigten Diva.“ Reinecke 2003, S. 287. Es seien „Starallüren“; ebd., S. 286; vgl. ferner ebd., S. 214. „Otto Schily wird nicht der erste grüne Minister, weil er zu wenig grün und zu viel Minister ist.“ Ebd., S. 243. 27 Eine Debatte, die seit den späten 1960er Jahren (Michels, Agnoli, Miliband, Marcuse – Luxemburg, „formierte Gesellschaft“) eine entscheidende Rolle, nicht zuletzt für die außerparlamentarische Orientierung der linken Opposition, gespielt hatte. 28 Reinecke 2003, S. 266. 29 Vgl. Michels 2001, S. 133 f. 30 Der Mangel an langfristigen Unterstützern innerhalb der Grünen Partei sollte sich nach seinem Wechsel zur SPD für ihn ebenfalls als schädlich erweisen, denn der Versuch, sich innerhalb der SPD durch das Herüberziehen von ehemaligen grünen Weggefährten Unterstützung zu verschaffen, scheiterte einigermaßen kläglich; vgl. Reinecke 2003, S. 300. 31 Vgl. hierzu näher ebd., S. 223.
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nierten Fraktionsvorstand gegen den Linken Ebermann 1987 und den gemäßigten Realo Helmut Lippelt Anfang 1989 sowie die gescheiterten Bemühungen, über die Liste der nordrhein-westfälischen Grünen ein Bundestagsmandat zu erlangen.32 Dieses Scheitern ist vor dem Hintergrund seiner Medienpräsenz und dementsprechenden repräsentativen Funktion äußerst bemerkenswert und mag so, aus einer institutionalistischen Perspektive, welche die Grundlagen individuellen Scheiterns untersucht, als die Folge einer Sozialisation jenseits des politischen Ochsentoursystems interpretiert werden, in dem die Wahrung von Loyalitäten und taktisches Kalkül im Zentrum von individuellen politischen Karrieren stehen. Der von Schily auch politisch-weltanschaulich stets beförderte Gedanke des Individualismus, der auch Resultat seiner Berufserfahrung gewesen ist, machte sich so politisch geltend. So erklärt sich jedenfalls auch die Richtigkeit der subjektiven Wahrnehmung vieler Grünenpolitiker und die gleichzeitige objektive Plausibilität des Übertritts, deren Zusammenspiel Reinecke so formuliert: „[D]ie meisten Grünen unterstellten Schily nacktes, kaltes Karrieredenken. Das ist ein nahe liegender Verdacht. Denn der Austritt ist eine direkte Reaktion auf die Weigerung der NRW-Grünen, ihn nochmals in den Bundestag zu schicken. Aber das ist nur ein Teil der Wahrheit. Otto Schily hat bei den Grünen seit 1983 fast immer SPDkompatible Positionen vertreten […].“33
Hegemoniepolitische Scharnierfunktion und politische Förderung von oben Begreift man nun den Übertritt zur sozialdemokratischen Massenpartei als den eigentlichen politischen Seitensteig, dann fällt diesbezüglich auf, dass es verfehlt wäre, aus Otto Schily eine Heldenfigur zu machen, die „alles, was [sie] geworden ist, sich selbst und [ihrer] Herkunft [verdankt], keiner Partei, keinem Kollektiv, keiner Bewegung“34. Denn Otto Schilys Übertritt zur SPD gestaltete sich zwar ebenso wie beispielsweise der Übertritt des westdeutschen Sozialisten Dieter Dehm von der SPD zur ostdeutschen PDS oder des neoliberalen Vordenkers bei den Grünen, Oswald Metzger, zur CDU nicht unproblematisch, da auch sein Seiteinstieg von der Parteibasis nicht goutiert wurde und Schily seine erste Bundestagsabgeordnetenphase als SPD-Hinterbänkler fristen musste. Nichtsdestotrotz wurde sein Aufstieg innerhalb der SPD von mächtigen Kräften befördert.
Peter Glotz Dies hing in erster Linie mit der hegemoniepolitischen Funktion zusammen, die Schily für ein Bündnis neuer politischer Kräfte unter Führung der Sozialdemokratie spielen sollte oder konnte, das der strategische Vordenker in der SPD, Peter Glotz, im Kopf hatte. Aus diesem Grund beförderte Glotz Schilys Übertritt zur SPD über lange Jahre hinweg durch massives Werben35 und brüstete sich hinterher, im Oktober 1989, im Auswärtigen Ausschuss gegenüber Hildegard Hamm-Brücher: „Gratulieren Sie mir. Ich habe den Schily zur SPD ge-
32
Vgl. hierzu näher ebd., S. 241 ff. und S. 284 ff.; vgl. ferner Michels 2001, S. 137 ff. Reinecke 2003, S. 288. 34 Ebd., S. 378. 35 Vgl. Michels 2001, S. 151 ff. 33
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holt.“36 Für Glotz verband sich mit dem Namen Otto Schily – in der Terminologie des italienischen marxistischen Theoretikers und Politikers Antonio Gramsci – die Hoffnung auf einen alternativen „historischen Block“. Glotz‘ an Gramscis Hegemonietheorie angelehnte Überlegungen beruhten auf der Beobachtung, dass sich im Kontext der politisch forcierten neoliberalen Globalisierung zum einen die alte traditionelle Basis der Sozialdemokratie, die fordistische Industriearbeiterschaft, zahlenmäßig zugunsten des Dienstleistungssektors verringerte, womit sich gleichzeitig die Bedeutung der alten fordistischen Klassenbewusstseinsstrukturen für die SPD verringerte (zumindest solange diese nicht durch vergleichbare Klassenbewusstseinsstrukturen im Dienstleistungssektor ersetzt würden, einer Vorstellung, der Glotz nicht anhing). Die parallele Beobachtung eines subjektiven Individualisierungsschubs im Zuge der kulturellen Umwälzungen nach 1968, der sich in der Entstehung eines sogenannten linksliberalen neuen Bürgertums manifestierte, das als neue wissenschaftlichtechnische Intelligenz zur Massenschicht anwuchs (dabei das Verhältnis Arbeiter-Angestellte unter den lohnabhängigen Schichten umkehrend), ließen in Glotz die Erkenntnis reifen, dass diese neue Schicht mit ihrer „subjektiv widersprüchlichen Klassenposition“ (Erik Olin Wright) entscheidend für die zukünftigen hegemonialen Auseinandersetzungen und die Mehrheitsfähigkeit eines sozialdemokratischen Projektes sein würde. Der Verlust einer breiten fortschrittlichen Jugendbewegung an eine neue Partei, Die Grünen, der bis dahin einzigen erfolgreichen bundesrepublikanischen Parteigründung links von der SPD, sollte so durch die Einbindung dieser neuen sozialen und politischen Kraft in einen alternativen historischen Block kompensiert werden. Dies schien umso dringlicher, als im Kontext der krisenhaften Steuerung der sozialdemokratischen Schmidt-Regierung während der Krise des Fordismus in den späten 1970er Jahren der sozialliberale Reformblock zerbrochen war und sich im Übergang zum von der Schmidt-Regierung durch die monetäre Wende miteingeleiteten Neoliberalismus in der FDP der reaktionäre Wirtschaftsliberalismus eines Otto Graf Lambsdorff gegen den fortschrittlichen politischen Liberalismus eines Burkhard Hirsch durchgesetzt hatte.37 Voraussetzung der Hegemoniefähigkeit der SPD war für Glotz somit die hegemoniale Ausstrahlungskraft ins linksliberale Bürgertum,38 „einer bürgerlichen Jugend links von der SPD“39, und die Verknüpfung der sozialen mit der ökologischen Nachhaltigkeitsfrage .40 Dabei erwies sich diese Notwendigkeit als umso dringli36 Zitiert nach Reinecke 2003, S. 288. Dass Glotz‘ Ansicht in der Sozialdemokratie dabei nicht nur auf Gegenliebe stieß, vermutet Michels: „Glotz war nicht nur Begeisterung entgegengeschlagen bei dem Bemühen, der SPD diesen großbürgerlichen Traditionalisten und Seiteneinsteiger schmackhaft zu machen.“ Michels 2001, S. 153. 37 Dabei waren die Weichen noch lange nicht auf Rotgrün gestellt, denn die Widersprüche zwischen sozialdemokratischem und grünalternativem Milieu waren zahlreich – Klassenlage, Beurteilung der Moderne und der Technik (konkret in den Auseinandersetzungen um die Energiepolitik) etc. –, während sich innerhalb der heterogenen grünen Sammelbewegung auch zahlreiche konservative und nationalistische Positionen artikulierten. 38 So beobachtet Glotz, dass „[r]und 50 Prozent der Wahlbevölkerung ‚gar keinen Unterschied‘ darin (sehen), wer von den etablierten Parteien in Bonn regiert“, während „20 Prozent sich vorstellen (können), bei irgendeiner Wahl einmal den ‚Grünen‘ die Stimme zu geben“; Glotz, Peter: Die Beweglichkeit des Tankers. Die Sozialdemokratie zwischen Staat und neuen sozialen Bewegungen, München 1982, S. 7. Die antietatistischen Grünen werden somit als Ausdruck einer politischen Legitimitätskrise begriffen und für die SPD als eine Möglichkeit der Wiedergewinnung von politischer Glaubwürdigkeit. Dabei erkennt Glotz weitsichtig die Bedeutung des sich in der Form des Poststrukturalismus auch im Wissenschaftsbetrieb durchsetzenden Agnostizismus für die Repräsentationskrise der Politik: „Wie kommen wir über hilflosen Agnostizismus der Macht hinaus? Wie vermeiden wir, daß sich bei Millionen von Menschen der Verdacht festsetzt, daß sich die ‚classe politique‘ nur um Pfründe schlägt?“ 39 Tilman Fichter in Glotz 1982, S. 128. 40 Vgl. ebd., S. 129. Reinecke urteilt über die Grünen ganz ähnlich: „Die Grünen […] sind in den achtziger Jahren eine widersprüchliche Veranstaltung. Eine Partei, die keine Partei sein will, eine Mittelschichtspartei, die nicht die
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cher, als sich zeigte, dass auch die SPD aus der größten Affäre der Bundesrepublik Deutschland, der Flick-Parteispendenaffäre, in der Otto Schily äußerst erfolgreich die Rolle des staatskritischen Anklägers gespielt hatte, nicht unbeschadet hervorgegangen war, weshalb sich das vieldiskutierte Phänomen der „Postdemokratie“ und „Politikverdrossenheit“ auch auf die Sozialdemokratie bezog41 und auch sie alsbald zu den zu überwindenden „Altparteien“ gezählt wurde und lange als Bündnispartner nicht in Frage kam. Dabei war Schily nicht die einzige politische Figur, die für eine solche Bündnisstrategie umworben wurde, sondern er reihte sich in das Werben um die linksliberalen Kräfte insgesamt ein, von denen Glotz zuvor bereits Günter Verheugen und Ingrid Matthäus zur SPD gelotst hatte. Selbstverständlich musste Glotz, der seinerzeit der SPD Bayern-Süd vorstand,42 Schily für dessen Scharnierfunktion ins aufgeklärt-bürgerliche Lager dementsprechende Gegenleistungen anbieten, weshalb er sich dafür einsetzte, Schily einen sicheren Listenplatz für die vorgezogene Bundestagswahl 1990 zu garantieren. Für ein rot-grünes Bündnis, das Glotz und Schily schon frühzeitig angepeilt hatten,43 war Otto Schily auch als Teil der SPD lange ein Machtfaktor, selbst wenn die Grünen bei der Regierungsbildung 1998 aus Animositäten zunächst versuchten, einen Ministerposten für Schily zu verhindern.44 Dabei erkannte Glotz weitgehend die Bedeutung von zweierlei Kritiken, die sich in der Folge von 1968 artikulierten – einer im weitesten (neunzehnten Jahrhunderts-) Sinne sozialdemokratischen „Sozialkritik“ und einer „Künstlerkritik“ –45 und gab die Hoffnung nicht auf, beide in ein gegenhegemoniales Bündnis nach der neoliberalen Wende zu integrieren, einer Voraussetzung für die Hegemoniefähigkeit der sozialkritischen Arbeiterbewegung.46 Denn die Einschreibung der Opposition von 1968 in den Neoliberalismus war noch längst nicht ausgemachte Sache. So formulierte Glotz die Möglichkeit eines Bündnisses zwischen Künstler- und im Kontext der neoliberalen Konterrevolution wieder relevant gewordenen Sozialkritik als er schrieb: „Unsere Gesellschaft […] wird von alten und neuen Konflikten bedroht. Die alten, die Klassenkonflikte, waren in den großen westlichen Industriegesellschaften über Jahre und Jahrzehnte durch Wohlstand ziemlich ruhiggestellt; deswegen war in letzter Zeit immer nur von den neuen die Rede, die sozusagen als Nebenfolge der rasend schnellen Modernisierung im kulturellen System, im Kopf, in der Psyche der Menschen entstanden. Ausdrucksformen dieser Konflikte sind die Kämpfe um Kernkraftwerke, besetzte Häuser oder Startbahnen. Ich halte es für wahrscheinlich, daß in den achtziger Jahren die alten Konflikte wieder stärker nach vorn rücken; aber glaubt wirklich jemand, daß die materiellen Interessen ihrer Klientel vertritt, sondern ein linkssozialdemokratisches Programm.“ Reinecke 2003, S. 226. 41 Eine andere Interpretation für die sinkende Wahlbeteiligung liefern neogramscianische oder regulationstheoretische Ansätze und Analysen, die eine Verbindung zwischen der Internationalisierung des Staats, das heißt seiner Transformation vom keynesianischen Wohlfahrts- zum nationalen Wettbewerbsstaat, die sich unter den Bedingungen von supranationalen selbstgeschaffenen „Sachzwängen“ (Maastricht-Vertrag), dem sogenannten „neuen Konstitutionalismus eines disziplinären Neoliberalismus“ (Stephen Gill), vollzogen hat und einer folgerichtigen Repräsentationskrise der subalternen Klassen. Empirische Grundlage für diese Analysen ist beispielsweise die weit überproportional sinkende Wahlbeteiligung der Arbeiterklassen der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder. 42 Vgl. Reinecke 2003, S. 288. 43 So hatte Schily bereits im Januar 1984, kurz nach der Entstehung der Realo-/Fundi-Spaltung innerhalb der Partei, in einem Interview die Grünen als den „Juniorpartner der SPD“ bezeichnet, was in seiner Partei für viel Missstimmung sorgte; vgl. hierzu näher Reinecke 2003, S. 229. 44 Vgl. ebd., S. 328. 45 Vgl. hierzu näher Boltanski, Lux/Chiapello, Eve: Der Geist des neuen Kapitalismus, Konstanz 2003. 46 Vgl. Glotz 1982, S. 12.
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neuen deswegen verschwinden? Die Frage ist, wie man die Sozialdemokratie davor bewahren kann, in eine falsche Alternative gehetzt zu werden – wie sie also zu befähigen ist, sowohl die alten als auch die neuen Konflikte einigermaßen zu bestehen?“47 Vielleicht ist das Verschwinden der neuen sozialen Bewegungen in den 1980er Jahren bei gleichzeitig voranschreitender „Zweidrittelgesellschaft“ als Folge des Scheiterns einer Integration der kapitalismuskritischen Elemente in ein von Glotz anvisiertes Bündnis ein entscheidender Ausdruck für die fortbestehende Hegemoniefähigkeit des Neoliberalismus und das Versagen gegenhegemonialer Bestrebungen.
Rudolf Scharping Schilys politischer Aufstieg innerhalb der SPD blieb allerdings nicht allein von Glotz‘ Erkenntnis seiner politischen Nützlichkeit abhängig, sondern Schily erwies sich auch für andere Machtbastionen und strategische Ansätze innerhalb der SPD als Günstling, was ihm angesichts der kritischen Haltung an der Basis – insbesondere nach seinen Einlassungen zum Asylkompromiss – zugute kam. So machte 1994 der SPD-Fraktionschef Rudolf Scharping neben Verheugen auch Otto Schily, der eine Legislaturperiode als SPD-Hinterbänkler zu überstehen gehabt hatte, zu seinem stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden – und zwar gegen den Widerstand der SPD-Rechten. Dabei tat er dies möglicherweise auch in Anerkennung der strategischen Überlegungen von Glotz, denn er erhoffte sich von Schily ein „Integrationssignal“ an grüne Realos und das aufgeklärt-bürgerliche Milieu sowie eine Stärkung der „Argumentations- und Debattenfähigkeit“ der SPD, für die Schily nun das Ressort Innenpolitik übernahm.48
Oskar Lafontaine, Hans-Jochen Vogel und Gerhard Schröder Neben Glotz und Scharping war sich allerdings auch Oskar Lafontaine, der 1995 nach der Bundestagswahlniederlage Scharping im Amt des Fraktionsvorsitzenden durch eine Kampfabstimmung auf einem SPD-Parteitag ablöste, durchaus der strategischen Bedeutung von Schily bewusst, denn „[s]o bekomme die intensive programmatische Arbeit, insbesondere das ökologische Umbauprogramm der SPD, gesellschaftliche Fahrt“49. Dabei zeigten sich im Kontext der fortgeschrittenen neokonservativen Wende und der Entstehung einer gesellschaftlich tief verankerten rechtsextremen Weltsicht jedoch auch noch andere strategische Überlegungen. Denn Lafontaine, der als Kanzlerkandidat 1990 Schilys Wahlkampf in dessen eigenem Wahlkreis auch eigenhändig unterstützte, begrüßte später gerade Schilys – vom linksliberalen Establishment innerhalb der SPD argwöhnisch beäugte – Rolle während der Debatten um die faktische Abschaffung von Paragraf 16 des Grundgesetzes, des Asylparagrafen 1993, sowie im Herbst 1997 der Debatte über den Großen Lauschangriff, der auf die „organisierte Kriminalität“ abzielte. „Otto Schily“, so Lafontaine, „hatte sich meine Wertschätzung dadurch erworben, daß er die schwierigen Verhandlungen über den großen Lauschangriff gut geführt hatte. Er mußte dabei auch viel Kritik aus der eigenen 47
Ebd., S. 8 f. Zitiert nach Reinecke 2003, S. 314. 49 Michels 2001, S. 152. 48
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Partei einstecken. Letztendlich erwies er sich aber als jemand, der klare Vorstellungen hatte und in der Lage war, sie Stück für Stück umzusetzen. Er hatte ein Gespür dafür, welcher Kompromiß für die jeweils Beteiligten vertretbar war.“50 Vermutlich erarbeitete sich Schily auch Lafontaines Zuneigung, als er im sogenannten „Asylkompromiss“ 1993 zwar mit der Kritik an der Parallelität des europaweit „liberalsten Zugangsrechts“ und der „illiberalste[n] Praxis bei der Anerkennung von Flüchtlingen“ argumentierte, aber schließlich der durch die Drittstaatenregelung bewirkten faktischen Abschaffung des Asylrechts in der Bundestagsabstimmung zustimmte.51 Denn Lafontaine sollte sechs Jahre später und nach dem Erdrutschsieg Rotgrüns 1998 urteilen: „Auch die Linke in der SPD konnte diesem Kompromiß wenig abgewinnen. Mein Einwand war neben dem Integrationsargument, daß die Hauptbetroffenen der Zuwanderung die sozial Schwächeren sind […]. Ich bin darüber hinaus der Überzeugung, daß ohne den Asylkompromiß die SPD ihre Mehrheitsfähigkeit in der Bundesrepublik verloren hätte. Obwohl der Kompromiß Anfang der neunziger Jahre zustande kam, war er auch Grundlage unseres Wahlerfolgs im Jahre 1998.“52 Und auch Reinecke sieht in Schilys neuer Rolle als Law-andOrder-Mann den Hintergrund seines politischen Aufstiegs innerhalb der SPD, wenn er schreibt: „[Schily] kann [nun] zwei sich scheinbar ausschließende Images repräsentieren: den liberalen Ex-Verteidiger der RAF und den harten Law-and-Order-Mann. Das ist ein wesentlicher Grund für seinen politischen Wiederaufstieg in den Neunzigern. Die Schily so lästige Vergangenheit ist zugleich sehr brauchbar: Nur Schily kann in der SPD Dinge fordern die jeden anderen in die rechtskonservative Ecke stellen würden.“53 Schilys Unterstützer hätten weiter „[ge]blickt […] als die reflexhaften Rechten in der Fraktion, denen Schilys Vergangenheit und Milieu nicht pass[t]en und die ihn für einen Linken h[ie]lten“.54 Nun schließlich verliefen auch die Gespräche mit dem damaligen Partei- und Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel „zufriedenstellend“, während der später zum mächtigen niedersächsischen Landesvater aufsteigende Gerhard Schröder, der im Flick-Ausschuss einen Eindruck von der politisch-rhetorischen Fähigkeit Schilys erhielt, in dem er selbst „ziemlich blass“ blieb,55 Schily in den 1980er Jahren ebenfalls politisch umwarb.56 Schily bot sich für Gerhard Schröder als politischer Partner an, da dieser sich damals gleichermaßen – unter anderem mit seiner rechtspopulistischen Rhetorik gegen „kriminelle Ausländer“, einer Rhetorik, bei der sozioökonomische Probleme ontologisiert und ethnifiziert werden – als Law-and-Order-Mann inszenierte und seinerzeit „mit allen Mitteln gegen die Verunsicherungskampagnen von Kanther und Co. wappnen“57 wollte. Kurzum, es waren somit die potenzielle hegemonial-integrative Funktion Schilys als auch – vor diesem Hintergrund – sein besonderer persönlicher Schutz durch das SPDFührungspersonal, die ihm den innerparteilichen Aufstieg ermöglichten. Zwar vollzog sich 50 Lafontaine, Oskar: Das Herz schlägt links, München 1999, S. 115 f. Dass Schily beim Großen Lauschangriff plötzlich auf der Seite des Staats und nicht der Bürgerrechte auftauchte, musste auch Lafontaine bemerkenswert gefunden haben, denn in den Auseinandersetzungen des Staats mit der RAF setzte sich Schily unmittelbar gegen die Belauschung der RAF-Häftlinge ein, wobei dazu zu sagen ist, dass es sich um (ehemalige) Mandanten von ihm handelte; vgl. hierzu näher Reinecke 2003, S. 190. 51 Vgl. hierzu näher ebd., S. 307-311. 52 Lafontaine 1999, S. 174 f. 53 Reinecke 2003, S. 315. 54 Ebd. 55 Vgl. hierzu näher ebd., S. 256 ff. 56 Vgl. ebd., S. 300. 57 Ebd., S. 323.
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dieser aufgrund seiner fehlenden Hausmacht, deren Herausbildung sein bürgerlicher Habitus und seine RAF-Anwalt-Vergangenheit im Weg standen, nicht linear58; und doch bildeten sie die Grundlage für Schilys Weg bis zum Bundesminister auch ohne Herausbildung einer eigenen dauerhaften Hausmacht innerhalb der SPD.
Gesamtgesellschaftliche Bedingungen der politischen Karriere: Aufstieg, Kooptation und Selbsteinschreibung der Neuen Linken in den neoliberalen Block an der Macht Schilys erfolgreicher politischer Seiteinstieg war jedoch mehr als nur ein Ausdruck seiner medialen Prominenz und seiner Funktionsfähigkeit als hegemoniale Integrationsfigur, sondern sie ist – nimmt man die Parteigründung der Grünen als den Ursprung seines Seiteinstiegs – auch ein Ausdruck einer gesamtgesellschaftlichen Transformation, die sich im Kontext der Krise des Fordismus und dem Beginn der neoliberalen Globalisierung vollzog. Der Aufstieg der Grünen, die politische Institutionalisierung der zivilgesellschaftlichen Akteure dieses Umbruches, ist dabei selber ein Ausdruck dieses Umbruches, denn die erfolgreiche Etablierung einer neuen politischen Formation deutet auf die Entstehung einer neuen sozialen Kraft hin. Dabei lassen sich diesbezüglich zwei Interpretationsformen denken: Erstens, die Grünen sind der unmittelbare Ausdruck des Aufstiegs einer wissenschaftlich-technischen Massenintelligenz;59 zweitens, die Grünen sind der Ausdruck einer gescheiterten Revolution und politischen Betätigung, die sich innerhalb des strukturierenden heteronomen Handlungszusammenhangs des neoliberalen Globalisierungsprojektes vollzieht, d.h. zunehmend jenseits ihrer politischen Einflussfähigkeit, weshalb ihre politische Entwicklung nicht aus sich selbst, sondern nur im Zusammenspiel mit einer neoliberalen globalen Konterrevolution dechiffriert werden kann, die innerhalb der einzelnen neuen sozialen Bewegungen für Prozesse einer passiven Revolution im Sinne von Antonio Gramsci, was später gesondert zu erläutern wäre, geführt hat. Zunächst sollte einleuchten, dass insofern Schily eine Führungsfigur der sich politisch formierenden neuen sozialen Kräfte gewesen ist, sich sein (erster) politischer Seiteinstieg hierdurch wesentlich erleichtert hat, denn die politischen Strukturen, in denen die Ochsentour vonnöten gewesen wäre, wurden von ihm selbst mitgeschaffen, während seine Führungsposition innerhalb dieser neuen sozialen Kraft ihm eine strategische Bedeutung zukommen ließ, die ihm den zweiten (eigentlichen) politischen Seiteinstieg erleichterte. In diesem Kontext stellt sich noch eine weitere Frage, nämlich, inwiefern Otto Schily sich politisch anzupassen hatte und dadurch eventuell seinen Nimbus als authentischer politischer Seiteinsteiger verlor. Hierbei sind grundsätzlich zwei Interpretationsansätze denkbar: Erstens, institutionalistisch, dass die Anpassung an ein wie auch immer geartetes, politisches Feld vonnöten wurde, das mit einem medialen Feld verkoppelt ist; oder, zweitens, die Erfordernis einer Anpassung an gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, die auf der materialistisch-staatstheoretischen Erkenntnis einer Trennung von (kurzfristiger) Regierung und 58 So scheiterte Schilys Kandidatur für den Parteivorstand auf dem Bremer Parteitag 1991 mit 126 von 484 Stimmen grandios; vgl. hierzu näher ebd., S. 300. 59 „So entsteht [ein postmaterielles Milieu], eine Art neues Bürgertum, das mit einigen klassischen bürgerlichen Tugenden demonstrativ bricht: Es ist individuell, antitechnokratisch, misstrauisch gegen den Fortschritt und die üblichen Hierarchien.“ Ebd., S. 207.
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(langfristigen) Staatsapparaten, sowie der zivilgesellschaftlichen Verankerung von Hegemonie im erweiterten „integralen Staat“ (Gramsci), der die Zivilgesellschaft umfasst, basiert. In erster Hinsicht lässt sich feststellen, dass die mediale Aufmerksamkeit, die Schily zuteil wurde, unmittelbar nach seinem politischen Seiteinstieg in der SPD nachließ. Reinecke äußert eine Vermutung, die die These von einem medialen Interessensverlust zunächst zu stützen scheint, nämlich dass mit diesem Seiteinstieg der interessante Kontrast zwischen einer die Bürgerlichkeit verwerfenden grünen Bewegung und dem bürgerlichen Schily verflog. Allerdings ließe sich dies genauso mit dem Verweis auf seinen Hinterbänklerstatus erklären. Von größerer Bedeutung für die Konjunkturen der gesamtgesellschaftlichen Ausstrahlungskraft von Otto Schily scheint mir vielmehr die allgemeine hegemoniale Konstellation des Neoliberalismus nach seiner ersten neokonservativen Phase zu sein, die in fast allen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit der Machtübernahme durch Mitte-Links-Regierungen (und der Aussicht auf eine neokeynesianische Wende) endete. In dieser zweiten Hinsicht ist zu konstatieren, dass aus einer hegemonietheoretischen Sicht die Kooptation einer oppositionellen Kraft laut Gramsci die nichtkooptierbaren Kräfte marginalisiert, ansonsten jedoch ein Großteil der ehemaligen Opposition durch einen Prozess, den Gramsci trasformismo nannte, aufgesogen wird. Insofern die sozialen Kräfte hinter den führenden „organischen“ Intellektuellen dieser Kräfte mitaufgesogen werden, verlieren diese ihre Glaubwürdigkeit kaum, während die oppositionell gebliebenen und quasi enthaupteten sozialen Kräfte auf Dauer geschwächt werden und erst zu einer neuen, vom ursprünglichen Projekt unterscheidbaren Sprache finden müssen. Beispiele für diese Art der Politik sind die Transformation der neulinken Menschenrechts- und Antifaschismusdiskurse einer ehemaligen radikalpazifistischen Partei in der Regierungsverantwortung zu durch Menschenrechte und die (gelungene) Aufarbeitung der Vergangenheit begründete neue Kriege. Das beste historische Beispiel scheint mir die Geschichte der politischen Kooptation des Bürgertums in die „Klassensymbiose aus Junkertum und Bourgeoisie“ und der langanhaltende Prozess der politisch-institutionellen und kulturell-diskursiven Emanzipation des Vierten Standes aus der Emanzipationsbewegung des in den gescheiterten 1848er Revolutionen kooptierten Dritten Standes (Verzicht auf die politische Revolution bei gleichzeitig erfolgreicher ökonomischer Revolution) zu sein.60 Das jüngste Beispiel in der deutschen Geschichte markiert die Entstehung einer neuen Linken, der Linkspartei, die schon in ihrem Namen der alten Neuen Linken die Definitionsmacht über das, was heute links ist, streitig macht und zu diskursiven Auseinandersetzungen innerhalb der Linken führt. In Bezug auf Schily wird dabei die „hegemoniale Verallgemeinerung“ des Neoliberalismus in verblüfften Beschreibungen und Beobachtungen seiner Biografen deutlich, wie zum Beispiel dann, wenn Michels schreibt: „Hätte dies Kanther annähernd drastisch formuliert, wäre zwischen Alpen und Nordsee ein Entsetzensschrei der linksliberalen Gemeinde explodiert […], ihn ließ man begleitet allerdings von anschwellend mürrischem Widerspruch, aussprechen, was Kanther und anderen Konservativen nicht verziehen worden wäre, ja, was zu lauten Rufen nach Rücktritt geführt hätte.“61 Dann wiederum zeigen sich die umfassenden theoretischen Mängel in Michels‘ gesinnungskonservativer Biografie, wenn 60 Vgl. hierzu näher Solty, Ingar: The Historic Significance of the New German Left Party, in: Socialism and Democracy 46, Jg. 22 (2008) H. 1, S. 1-34. 61 Michels 2001, S. 181.
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er gleichzeitig die historische Dynamik des politischen und kulturellen Prozesses doch wiederum leugnet und die Einschreibung, die auch ihn, den Konservativen veränderte, als ewige Wiederkehr des Gleichen und als Läuterung deutet und schreibt: „Bei Schily ist deutlich Altersmilde spürbar, er ist als bald Siebzigjähriger zur bürgerlichen Mitte seiner jungen Jahre zurückgekehrt.“62 Dass Schilys Rückkehr keine Rückkehr ist, sondern sich die Strukturen des Kapitalismus durch die Kooptationen und Selbsteinschreibungen und die passiven Revolutionen innerhalb der einzelnen Bestandteile der linken Emanzipationsbewegungen auf der Ebene der Produktion (Flexibilisierung, Deregulierung, Tertiarisierung als drei Elemente der widersprüchlichen Aufhebung der eintönigen fordistischen Fließbandarbeit; teilökologische Erneuerung des Kapitalismus, allerdings unter neoliberalen Vorzeichen; ambivalent-emanzipatorische Feminisierung des Arbeitsmarktes als weitgehende Aufhebung des patriarchalen männlichen Brotverdienermodells; Institutionalisierung des neoliberalismuskompatiblen liberalen Gleichstellungsfeminismus bei gleichzeitiger Doppelbelastung von Arbeitnehmerfrauen; etc.), der Politik (Internationalisierung des Staates) und Kultur („Fundamentalliberalisierung“,) maßgeblich verändert haben, bleibt Michels schlicht verborgen.
Gesamtgesellschaftliche Bedingungen des Scheiterns: Die Hegemoniekrise der sozialdemokratischen Phase des Neoliberalismus und ihre mangelnde hegemoniale Ausstrahlungskraft am Beispiel von Otto Schily Es würde zu kurz greifen, dass Scheitern Otto Schilys allein institutionalistisch erklären zu wollen, das heißt beispielsweise durch die Versagung politischer Begünstigung und Förderung. Ähnliches kann über das mechanische Argument des Policy-Scheiterns gesagt werden, denn es wäre ein Zirkelschluss, den Popularitäts- und Machtverlust allein durch das Scheitern einer politischen Maßnahme und umgekehrt erklären zu wollen. Stattdessen muss die Niederlage Otto Schilys als symptomatisch für den Abglanz und Niedergang von Rotgrün bei gleichzeitigem Scheitern einer marktradikalen Alternative Schwarzgelb betrachtet werden und in der hegemonialen Konstellation des Neoliberalismus nach 2005 analysiert werden.63 Schilys Niederlage ist pars pro toto des Untergangs von Rotgrün, der ersten „Linksregierung unterm Neoliberalismus“, selbst, die mit dem Scheitern der Mehrheitsfähigkeit eines marktradikalen konservativ-liberalen Projektes, das sich nach dem Leipziger Parteitag der CDU anbahnte, und dem 2007/2008 nachhaltig gewordenen Aufstieg einer neuen Partei und der Transformation des deutschen Parteiensystems zusammenhängt.
62 63
Ebd., S. 55. Ich habe das versucht in Solty 2007 und erweitert in Solty 2008.
Rita Süssmuth – vom politischen Stern zur prekären Politikerin Johanna M. Klatt
Einleitung Zehn Jahre als Präsidentin und fünfzehn Jahre als Abgeordnete brachte Rita Süssmuth mit ihren Sakkos Farbe in den Deutschen Bundestag – auch im übertragenen Sinne. Ihre zum Teil provokativen und meist am linken Spektrum ihrer Partei verorteten Äußerungen regten den politischen Streit an – und regten auf. Gleichzeitig sprach Süssmuth sechzehn Jahre lang, als Vorsitzende der Frauen-Union ihrer Partei, offiziell für über 150.000 Kolleginnen. Als sie sich im Jahr 2002 schließlich aus dem Parlament verabschiedete, lag eine langjährige politische Karriere hinter ihr, die Mitte der 1980er Jahre begonnen hatte. Und das alles, obwohl Rita Süssmuth anfänglich gar keine Politikerin, sondern Sozialwissenschaftlerin war. Als sie 1985 als Bundesministerin für Gesundheit, Familie und Jugend nach Bonn geholt wurde, war ihr christdemokratisches Parteibuch erst ganze vier Jahre alt. Ihr Seiteneinstieg erscheint – zumindest auf den ersten Blick – lehrbuchartig. Einen Orts- oder Landesverband kannte Süssmuth nicht. Weder politische Reden noch Abstimmungen, geschweige denn Pressekonferenzen gehörten zu ihren bisherigen Erfahrungen. Erst mit 44 Jahren und also verhältnismäßig spät war Süssmuth der CDU beigetreten. Es überrascht wohl kaum, dass sie bei ihrem Amtsantritt sowohl in ihrer eigenen Partei als auch in der Bevölkerung insgesamt eher unbekannt war. Als Rita Süssmuth berufen wurde, musste sich die Journalistenriege in Bonn zunächst zur Recherche in die Archive begeben, um sich mit ihrer Person vertraut zu machen. Mit dieser Kandidatin hatte niemand gerechnet. Nichtsdestotrotz gelang ihr in den folgenden zwei Jahrzehnten nicht nur das parteipolitische Überleben, sondern ein prägendes Mitwirken in der Bonner Spitzenpolitik. Ohne Zweifel, Rita Süssmuths politische Karriere ist weder typisch noch alltäglich, sondern in jedem Fall außergewöhnlich; und zwar sowohl verglichen mit „normalen“ Berufspolitikerkarrieren als auch mit zahlreichen anderen Seiteneinsteigern, deren Aufenthalte in der Politik oft eher „Stippvisiten“ als „Dauereinsätzen“ glichen. Nachdem Süssmuth ihre wichtigsten Ressourcen, die sich im Wesentlichen auf ihre Besonderheit als Seiteneinsteigerin stützten, wegfielen, verblasste ihre politischen Karriere im gleichen Maße, wie sie sich dem „prekären“ Status einer Berufspolitikerin näherte.1
1 Zum „prekären“ Status des Berufspolitikers vgl. Best, Heinrich/Jahr, Stefan: Politik als prekäres Beschäftigungsverhältnis. Mythos und Realität der Sozialfigur des Berufspolitikers im wiedervereinten Deutschland, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 37 (2006) H. 1, S. 63-80, hier S. 79.
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Rita Süssmuths „Seiteneinsteiger-Kapazitäten“ „Eine wichtige Voraussetzung für die Übernahme politischer Ämter und Aufgaben ist Berufserfahrung, und auch die Möglichkeit, in den erlernten Beruf zurückzukehren“,2 betonte Rita Süssmuth in einem Interview. Doch diese besondere Unabhängigkeit ist nicht das einzige. Auch zählen bestimmte berufliche Erfahrungen zu dem Gepäck, das ein solcher Neuling beim Einstieg in die Politik mitbringt. Fehlen ihnen möglicherweise gewisse politikpraktische Erfahrungen aus der sogenannten „Ochsentour“, so bringen Seiteneinsteiger doch bestimmte Qualifikationen und Ressourcen aus ihrem vorherigen Tätigkeitsfeld mit. Im vorliegenden Fall gehörten sowohl universitäre Netzwerke als auch ein wissenschaftlicher Habitus und eine akademische Sachlichkeit zu den Qualifikationen oder Ressourcen, die aus dem Beruf mitgebracht wurden. Vereinzelt finden sich Hinweise auf die Nutzung solcher „Seiteneinsteiger-Kapazitäten“: So beschrieb Süssmuth rückblickend die Zusammenarbeit mit einigen Instituten oder Universitäten. Vereinzelt erwähnte sie in Interviews ihre Rückgriffe auf bestimmte Zentren oder die Arbeit und den Rat wissenschaftlicher Kollegen.3 Wissenschaftliche Ergebnisse sowie frühere Bekanntschaften zog sie, insbesondere während ihrer Arbeit im Bundesministerium, später auch für ihren Kampf gegen die Infektionskrankheit Aids, heran. Außerdem schien ihr der akademische Titel in den Jahren politischer Tätigkeit zugute zu kommen – wurde Rita Süssmuth mit „Professor Doktor Phil.“ angekündigt, so war ihr eine besondere Form des intellektuellen Respekts bereits im Voraus gewiss. Ihr sachlicher und fachlicher Hintergrund zeitigte für sie in der politischen Arbeit ebenfalls positive Folgen. Durch ihre „absolut kontrollierte Sprache“, „kühle Schärfe“4 und „stets an der Sache orientierte Tonlage“5 wirkte ihr Auftreten seriös. So seriös, dass sich, angesichts ihres rationalen Auftretens, ihre Gegner häufig nicht anders zu helfen wussten, als in Scherze über ihre Person, Politik oder ihr Ministerium zu verfallen.6 Nichtsdestotrotz könnten mit Süssmuths beruflichen Vorerfahrungen durchaus auch Nachteile verbunden gewesen sein. Denn die jeweiligen Verhaltens-, ja gar Denkweisen in Politik und Wissenschaft sind zum Teil überhaupt nicht miteinander kompatibel: Betrachtet man Politik als Beruf, so scheinen besonders die politische Motivation und der Wille zur Veränderung zu zählen. Wissenschaftliche Arbeit hingegen strebt die Relativierung von nie gänzlich zutreffenden Tatsachen an. „Die Handlungsmuster des Erkenntnisgewinns sind andere als die der Machtgenerierung“7, beschreibt dies König. Im politischen Geschäft sind Zuspitzung, Vereinfachung und Polarisierung oftmals unerlässlich. Andere Maßstäbe gelten hingegen für die Wissenschaft. Extreme Positionen sind hier nicht nur unsachlich, sondern unwissenschaftlich und eigentlich gänzlich zu vermeiden. Diese wissenschaftliche Zurück2
Diekmann, Kai/Reitz, Ulrich/Stock, Wolfgang: Rita Süssmuth im Gespräch, Bergisch Gladbach 1994, S. 93. Vgl. beispielsweise Welser, Maria v.: Rita Süssmuth: Wer nicht kämpft hat schon verloren, in: Leyen, Ursula v. d./dies.: Maria von Welser im Gespräch mit Ursula von der Leyen. Wir müssen unser Land für die Frauen verändern, München 2007, S. 168-185, hier S.180. 4 Neander, Joachim: Die Frau Ministerin – viel gelobt und viel gescholten, in: Die Welt, 30.01.1988. 5 Klein, Hans: Zwischen Bewunderung und Beschwer, in: Diekmann/Reitz/Stock 1994, S.205-208, hier S. 206. 6 Beispielsweise: „Dann lachten die CSU-Abgeordneten kräftig, als Strauß das Süssmuth-Haus umtaufte in das „Ministerium für Fahne, Rotz und Geistlichkeit“, in: o.V.: Für Kohl um Kopf und Kragen, in: Der Spiegel, 16.03.1987. 7 König, Klaus: Zur Nutzung der Wissenschaft beim Regieren, in: Murswieck, Axel (Hrsg.): Regieren und Politikberatung, Opladen 1994, S. 121-130, hier S.124. 3
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haltung könnte jedoch in klarem Gegensatz zu der wichtigsten beruflichen Qualifikation eines Politikers stehen: der Motivation. Um etwas verändern zu wollen, um im Weberschen Sinne für „die Sache“8 eintreten zu können, bedarf es eines Bekenntnisses für eben jene Sache, muss eine Position bezogen und eine Stellung eingenommen werden für oder gegen etwas. Ein Quereinsteiger bewegt sich damit nicht nur zwischen Professionen, sondern ebenso zwischen unterschiedlichen sozialen Strukturen und anders gearteten Arbeitsumgebungen. Wie gelang es Rita Süssmuth, diesen Gordischen Knoten zu lösen? Im vorliegenden Fall zeigt sich der Schritt von der akademischen zur politischen Vorgehens- und Denkweise. Süssmuth sah in der Forschung nicht mehr die Möglichkeit, „etwas zu verändern“. Stattdessen wollte sie die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit ohne jedwede wissenschaftliche Relativierung in politische Praxis umsetzen. In ihrem akademischen Werdegang findet sich zudem eine mögliche Motivation für ihr späteres politisches Engagement. Mehrfach erzählte sie retrospektiv von ihrem ersten Einstellungsgespräch an der Universität Bochum, das ihr Ungerechtigkeitsempfinden enorm stimuliert haben muss, da sie offenbar das erste Mal eine persönliche Diskriminierung erlebte. Empört schilderte Süssmuth die Fragen der Berufungskommission. Ihrem Einstellungsgespräch war offenbar eines mit einem mehrfachen Familienvater vorangegangen. Sie wurde gefragt, ob sie sich denn vorstellen könne, einem solchen Gegenkandidaten den Posten wegzunehmen? Die Kommission hakte immer wieder nach, wie denn ihre Arbeit als Professorin mit einem zukünftigen Kinderwunsch zu kombinieren wäre. Weitere Fragen mit Bezug auf ihr Geschlecht folgten – ihr dadurch die erschwerte Rolle als Frau im Beruf praktisch vor Augen führend. Süssmuth erfuhr die Auswirkungen eines ihres Erachtens ungerechten akademischen Systems, das sie von nun an – zunächst im eigenen akademischen Berufsmilieu – zu verändern suchte. Für Süssmuth kann dieses Erlebnis als Schlüsselereignis gesehen werden, speist sich doch wahrscheinlich aus dieser persönlichen Erfahrung ihre Motivation, sich für die Rolle der Frau in der Gesellschaft und reale Gleichberechtigung einzusetzen.9 Entschließt sich ein Außenseiter, trotz eigener Defizite an politischer Erfahrung, zum Gang in die Politik, so muss er selbstredend mit etlichen politischen Hürden, Rückschlägen und Frustrationen rechnen. Der politische Werdegang Rita Süssmuths weist nur allzu deutlich darauf hin. Und ohne hinreichende Ambition, ohne eine rufende, motivierende „Sache“, erscheinen Resignation und Rückzug schnell als reizvolle Perspektiven.10 In Süssmuths Fall waren eigene Erfahrungen und Ereignisse, die sie persönlich tangierten und berührten, die Wurzeln für die Motivation, sich für gewisse politische Ziele (etwa die Gleichberechtigung von Mann und Frau) politisch zu engagieren. Frustrationen über begrenzte Wirkungsmöglichkeiten aus der wissenschaftlichen Perspektive taten ihr Übriges. Die größte Lücke zwischen wissenschaftlicher und parteipolitischer Arbeitswelt, der Unterschied in der grundsätzlichen Herangehensweise, ließ sich somit überwinden. In anderer Hinsicht jedoch waren ihre beruflichen Prägungen als Wissenschaftlerin mit den politischen Anforderungen deckungsgleich: Summiert man die Erfahrungen Süssmuths aus ih8
Im Original: „Dienst an einer ‚Sache‘“, in: Weber, Max: Politik als Beruf, Stuttgart 2006 (erstmals veröffentlicht 1919), S.18. 9 Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Kiderlen, vgl. Kiderlen, Elisabeth: Der Süssmuth-Effekt, Frankfurt am Main 1990, S. 33. 10 Der Vergleich zu Ursula Lehr, Süssmuths Nachfolgerin im Bundesministerium, zeigt dies besonders deutlich; vgl. Beitrag von Silke Schendel in diesem Band.
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rem beruflichen Vorleben, so kommt das Ergebnis sogar dem Idealbild einer Ausbildung zur Berufspolitikerin11 recht nahe. Auf dies weisen zumindest die theoretischen Überlegungen Max Webers beziehungsweise deren Interpretation durch Stanley Kelley hin.12 Wendet man dessen Schablone auf Süssmuths akademische Vita an, so passen einige Anforderungen genau: Ihre wissenschaftliche Tätigkeit war in der Tat lukrativ, brachte in der Politik nutzbare Fähigkeiten wie etwa Kommunikation oder Fachkenntnisse hervor und ergab vorteilhafte persönliche Netzwerke. Gleichzeitig versuchte sie, die Verbindungen zum akademischen Milieu nie gänzlich ruhen zu lassen. Im späteren Verlauf ihrer politischen Karriere zeigte sich nämlich, dass Süssmuth auch Teilzeit in ihrem ursprünglichen Metier arbeitete, indem sie in ihrem Wahlkreis, in der Universitätsstadt Göttingen, eine Gastdozentur wahrnahm. Alles in allem wirkt die Kombination einer Wissenschaftlerin in der Politik also als gewinnbringend eher denn hemmend. Insbesondere an den ersten Jahren lässt sich dies beobachten und zudem als Grundlage der Verhaltensweisen und Machtressourcen der Seiteneinsteigerin Süssmuth ausmachen.
Rasanter Aufstieg in Bonn und der Bundesrepublik Mit ihr „war ein Stern geboren, wie er im Filmmetier nicht überraschender aufleuchten könnte“13 – so beschreibt FAZ-Autor Georg Paul Hefty den Einstieg Rita Süssmuths in die Bonner Szene. Und dieser erfolgte rasant: Zumindest demoskopisch wurde Süssmuth innerhalb kürzester Zeit zur wichtigsten Politikerin der Bundesrepublik.14 Das war in gewisser Weise auch äußeren Umständen geschuldet, sprich: Rita Süssmuths Einstieg in die Politik erfolgte unter ganz besonderen, rasche Erfolge begünstigenden Bedingungen. Ursprünglich sollte Süssmuth 1985 als „Lockvogel für Frauen“15 eingestellt werden. Denn die CDU sah sich mit einer zunehmenden Abkehr ihrer Wählerinnen konfrontiert. Gleichzeitig sah sich der damalige Vorsitzende Helmut Kohl gezwungen, seiner Partei eine authentische Vertreterin der sich in der Gesellschaft stellenden „Frauenfrage“ zu präsentieren. Er fand in Rita Süssmuth die geeignete Persönlichkeit. Auch hatten Geschehnisse, die in weniger direktem Zusammenhang mit der Parteienlandschaft stehen, Einfluss auf ihren Seiteneinstieg: Am 26. September 1985 wurde Rita Süssmuth in das Bonner Kabinett berufen. Etwa ein halbes Jahr später, im April 1986, ereignete sich der Reaktorunfall in Tschernobyl. Gesellschaft und Politik in Deutschland blieben nicht unbeeinflusst. Zu den gesellschaftlichen Veränderungen gehörten eine verstärkte Angst und Unsicherheit als gesellschaftliche und Kabinettsumbildungen als poli11 Zur beruflichen Ausbildung eines Politikers vgl. Herzog, Dietrich: Der moderne Berufspolitiker, in: Wehling, Hans Georg (Hrsg.): Eliten in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1990, S. 28-51, hier S. 33 f. 12 „Ideally, such career would be lucrative, involve skills that are also useful in politics, yield politically useful personal connections; allow one to practice it part-time, or to reenter it, without severe losses in earning power; have, or make possible, easily adjusted day-to-day schedules; and permit one to acquire a politically valuable reputation.” Kelley, Stanley Jr.: Politics as Vocation: Variations on Weber, in: Geer, John G.: Politicians and Party Politics, Baltimore 1998, S. 341. 13 Hefty, Georg Paul: Die rettende Idee, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.11.1988. 14 Vgl. etwa: o.V.: Spiegel-Umfrage: Steuerreform: Nein danke, in: Der Spiegel, 31.08.1987; o.V.: SpiegelUmfrage: Auch mit dem Genossen Trend nicht ans Ziel, in: Der Spiegel, 28.12.1987. 15 O.V.: Im Regen aufweichen, in: Der Spiegel, 05.08.1991.
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tisch-organisatorische Folgen der Umweltkatastrophe. Zusammen mit der Krankheit HIV verstärkte Tschernobyl in der öffentlichen Wahrnehmung der 1980er Jahre die Angst vor Umwelt- und Gesundheitskatastrophen. Die damit verbundene gesellschaftliche Grundstimmung verstärkte den Ruf nach Experten. Kurzum: Die politische Kultur des gesamten Jahrzehnts zeigte sich geprägt von zwei Themen – der ökologischen und der Emanzipations-Bewegung. Beides begünstigte Süssmuths Seiteneinstieg und blieb nicht ohne Einfluss auf die regierende Koalition aus CDU/CSU und FDP, die offiziell eine Phase der „geistigmoralischen“ Wende proklamierte. Zum Zeitpunkt ihres Seiteneinstiegs wirkten demnach einige gesellschaftspolitische Entwicklungen zu Süssmuths Gunsten. Als wissenschaftliche und zugleich in der Öffentlichkeit bekannte Expertin genoss sie ein hohes Ansehen, sowohl in Bonn als auch in der gesamten Bundesrepublik. Wenngleich sie mit vielen ihrer Äußerungen oftmals – auch in der eigenen Fraktion – auf Ablehnung stieß, war ihr emanzipiertes Auftreten im gesamtgesellschaftlichen Kontext äußerst zeitgemäß. Der Übereinstimmung mit einer breiten, artikulationsmächtigen Öffentlichkeit verdankte Süssmuth wichtige Karriereimpulse, ihr war letztlich auch ihre Aufnahme in das Kabinett geschuldet, wo sie die programmatische Wende der schwarz-gelben Koalition verkörpern sollte.
Die Süssmuthsche Methode Insgesamt passten also Person und Methode. Das zeigte sich gerade im Umgang mit der Herausforderung durch die Krankheit Aids. In allererster Linie war die Herangehensweise der Ministerin offensiv und medial. Süssmuth setzte auf Aufklärung und Eigenverantwortung. Um die Botschaft ihres Bundesministeriums bildlich und eindringlich zu erläutern, „benutzte“ die Ministerin auch die Presse: Für den Titel des Magazins Der Spiegel streifte sie sich ein überdimensionales Kondom über den Kopf – und lächelte in die Kamera.16 Wie zu erwarten, stieß Süssmuth mit dieser symbolischen und nicht wenig provokativen Verhaltensweise auf Unmut, insbesondere im konservativ-katholischen Lager. Auch ein Rückgriff auf ursprüngliche Berufsressourcen lässt sich ausmachen. Süssmuth wollte die Problemlage zunächst in gleicher Weise darstellen wie zu akademischen Zeiten, als Politikerin kein Blatt vor den Mund nehmen und ihre wissenschaftlichen Ergebnisse möglichst ungekürzt umsetzen. Kurz nach ihrem Amtsantritt veröffentlichte sie – ohne Veränderungen oder Anpassungen – ein Buch mit Erkenntnissen aus ihrer vorministeriellen Forschungszeit.17 Dies schien auf den ersten Blick die naive Absichtserklärung einer Wissenschaftlerin zu sein, die ihre sachlich und fachlich erarbeiteten Lösungsvorschläge schlichtweg in Politik umsetzen wollte. Ein Schein, der trügen sollte. Denn in der Tat gelang der ehemaligen Professorin auch in ihrem späteren Wirken die Metamorphose zur Politikerin relativ reibungslos. In ihrem ersten politischen Duell stand sie dem „Scharfmacher“18 Peter Gauweiler gegenüber und war gezwungen, bereits nach relativ kurzer Eingewöhnungsphase in Bonn ihre politischen Fertigkeiten unter Beweis zu stellen. Der CSU-Politiker, Staatssekretär des 16
Vgl. o.V.: Schutz vor der Seuche: Meldepflicht für Aids?, in: Der Spiegel, 09.02.1987. Süssmuth, Rita: Frauen, der Resignation keine Chance. Sammlung wissenschaftlicher und politischer Texte 1980 - 1985, Düsseldorf 1985. 18 O.V.: „Ich will klotzen, nicht kleckern“, Interview mit Rita Süssmuth, in: Der Spiegel, 09.02.1987. 17
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Innern im Bundesland Bayern, vertrat in der Diskussion um den adäquaten Maßnahmenkatalog gegen das Aids-Virus die andere Seite der politischen Diskussion. Gauweiler stand für Forderungen nach einer Kennzeichnung HIV-Erkrankter, Zwangstests bei bestimmten Risikogruppen, Einreise-Stopps für Aids-infizierte Ausländer oder Blutproben aller Strafgefangenen, während Süssmuths Vorschläge die Rechte der Opfer betonten und eine umfassende Aufklärungskampagne beinhalteten. Sicherlich nutzte Süssmuth in diesem Rollenspiel ihren Part der Moderaten im stilistischen Kontrast zum Hardliner Gauweiler. Doch die Bundesministerin gewann diesen politischen Kampf schließlich auch durch die Nutzung wissenschaftlicher Ressourcen, das heißt die Reflexion des seinerzeitigen Forschungsstands. Im politischen Kampf um Maßnahmen gegen die Immunschwächekrankheit wusste Süssmuth daher „die Gesundheitspolitiker außerhalb der weißblauen Grenzen“19 auf ihrer Seite. Unter ihnen galt der nationale Aufklärungskurs auch aufgrund des bis dahin erkenntlichen wissenschaftlichen Forschungsstands als der richtige. Währenddessen war die Stimmung in der Bevölkerung so rational nicht – sie war vielmehr von Angst und Unsicherheit geprägt und die lautstarken Forderungen Gauweilers stießen hier nicht selten auf Verständnis. Süssmuth musste also zudem die Unterstützung der Bevölkerung erkämpfen, über ihre Aufklärungskampagne selbst aufklären und die aufgeladene Stimmung durch sachlichen Aktionismus überdecken. Dabei nutzte Süssmuth gezielt die Presse, um die Öffentlichkeit für ihren „humaneren“ Maßnahmenkatalog zu gewinnen. Süssmuth selbst beschreibt in ihren Memoiren, wie es ihr gelang, diesen Kampf zu entscheiden: „Während sich im Februar ’87 die Mehrheit der Bevölkerung, das zeigten uns Meinungsumfragen, für verschärfte Zwangsmaßnahmen aussprach, war es uns acht Monate später, im Oktober 1987, gelungen, die Zustimmung einer breiten Mehrheit zu gewinnen.“20 Ihre Methoden deuteten dabei kaum auf unerfahrene oder gar naive Seiteneinsteiger-Makel hin. Die Politikerin Süssmuth richtete sich vielmehr überlegt und gezielt an die Medien, versuchte zum Beispiel, eine „falsche Übersättigung“21 zu verhindern und legte ihre Aufklärungskampagne in periodischen Abständen neu auf. Nicht zuletzt bediente sich Süssmuth des gleichen Mittels der Politikberatung, mit dem sie selbst in ihrer vor-ministeriellen Periode gearbeitet hatte.22 Die Ministerin griff auf Beratung aus dem forschungswissenschaftlichen Metier zurück, dem sie selbst entstammte. Nebenbei bot der politisch-akademische Gedankenaustausch einen weiteren Vorteil: In dem von Süssmuth eingerichteten unabhängigen Beirat brauchte sie nicht alle Bundesländer gleichermaßen zu beteiligen – und konnte damit den bayerischen Einfluss schmälern. Gleichzeitig reagierte sie auf eine Situation zunehmender gesellschaftlicher Emotionalisierung (in Sachen Aids) mit dem ihr typischen und in diesem Fall günstigsten Mittel: Sachlichkeit. Für diese Attitüde war sie vermutlich auch ursprünglich in ihr nationales Amt zitiert worden. Die „rationale“ Wissenschaftlerin sollte und konnte den Scharfmachern, namentlich in der CSU, und deren Forderungen etwas entgegen setzen. Doch eigentlich hätte diese Aufgabe ein anderer übernehmen sollen: Heiner Geißler, Süssmuths Amtsvorgänger im Bundesgesundheitsministerium, hatte sich für die Konzentra19
O.V.: Schutz vor der Seuche: Meldepflicht für Aids?, in: Der Spiegel, 09.02.1987. Süssmuth, Rita: Wer nicht kämpft, hat schon verloren – Meine Erfahrungen in der Politik, München 2000, S. 108. 21 O.V.„Ich will klotzen, nicht kleckern“, Interview mit Rita Süssmuth, in: Der Spiegel, 09.02.1987. 22 Nach ihrer Amtsübernahme und durch ihren Vorschlag entstand ein sogenannter „Nationaler Aids-Beirat“ mit forschungswissenschaftlicher Expertise. 20
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tion auf das Amt des Generalsekretärs entschieden. Eine neue, unbedarfte und möglicherweise politisch wenig ambitionierte Seiteneinsteigerin mit der Aufgabe einer im Angesicht von Aids erforderlichen „Katastrophenbekämpfung“ zu betrauen, bedeutete für die Parteispitze gleich zwei Vorteile. Zum einen konnte man mit einer rationalen, sachkundigen Wissenschaftlerin auf die emotionale Stimmung und die Tonart der CSU-Partner reagieren. Zum anderen wäre ein politisches Versagen in erster Linie ihr, der Seiteneinsteigerin Süssmuth, anzulasten gewesen und weniger der Partei selbst. Bestandteile eines Süssmuth-typischen Aktionsmusters, etwa der Rückgriff auf mediale „Ressourcen“, zeigen sich auch bei einem anderen Thema, der „Frauenfrage“. Damals war Süssmuths Ziel, ein eigenes „Frauenministerium“ zu errichten und damit ein „herausgehobenes Mitwirkungsrecht“ in all jenen Fällen und Gesetzen zu erwirken, in denen Frauen mehr oder minder offenkundig beeinträchtigt wurden. Süssmuth griff dabei nach den Sternen. Schon in einem ihrer ersten Gespräche mit der nationalen Presse hatte sie ihr künftiges Amt als „Ministerium für Jugend, Familie, Gesundheit und Frauen“ betitelt. Als sich nach der Bundestagswahl 1987 im Zuge der Koalitionsvereinbarung die Kabinettsstruktur nicht zu verändern schien und ihr Ministerium noch immer keine entsprechenden Kompetenzen erhielt, drohte Süssmuth, den eben erst erweiterten Namen des Ministeriums wieder um den Begriff „Frauen“ zu reduzieren, wenn zusätzliche Kompetenzen ausblieben. Durch ein ungeniertes Vorpreschen richtete sie sich nicht bloß an die eigene Partei, sondern an die Öffentlichkeit insgesamt.23 Doch diese Hinwendung nach außen hatte ihre Grenzen. Süssmuths Plan scheiterte, und er scheiterte auch an innerfraktionellen Gegnern. Dieser erste Rückschlag zeigt zunächst eines recht deutlich: Die Süssmuthsche Methode, mit inhaltlichen Forderungen über das medienpolitische Gleis ihre öffentliche Bekanntheit und Gunst zu instrumentalisieren, stieß dort an ihre Grenzen, wo eine innerparteiliche oder innerfraktionelle Opposition ihr Veto einlegten.
Hochgelobt ins Parlament? Bereits im Ministerium offenbarten sich also Hindernisse und Möglichkeiten dieser politischen Seiteneinsteigerin. Doch ihre Anwesenheit im Bonner Kabinett sollte ohnehin auf drei Jahre begrenzt bleiben. Denn nicht nur ihre politischen Streitigkeiten mit der CSU in der Debatte um den HIV-Maßnahmenkatalog hatten negative Spuren hinterlassen. Darüber hinaus war die lautstarke und provokative Art Süssmuths vermehrt auf Unmut gestoßen – und zwar insbesondere im Inneren der eigenen Partei. Als der damalige Bundestagspräsident Jenninger 1988 anlässlich des fünfzigsten Jahrestags der Novemberpogrome eine allzu missverständliche Rede hielt und in seinem Amt fortan nicht mehr zu vertreten war, sah sich Bundeskanzler Kohl gezwungen, schnell zu handeln. Er schlug die inzwischen bei einigen Parteikollegen missliebig gewordene Süssmuth als Bundestagspräsidentin vor. Ende desselben Jahres wählte sie die Mehrheit des Deutschen Bundestages zur Präsidentin. In Presse und Öffentlichkeit wurde verlautet, der
23 Süssmuth richtete sich mehrfach (auch durch den CDU-Pressedienst) mit Kritik an ihrer Partei an die Öffentlichkeit; vgl. o.V.: Frau Süssmuth kritisiert die Frauenpolitik ihrer Partei, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.07.1987; Salentin, Ursula: Ich bleibe Rita Süssmuth – Eine Biographie, Freiburg im Breisgau 1993, S. 81; o.V.: Frau Süssmuth fordert die „geistig-moralische Wende“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.10.1996.
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Kanzler habe seine Bundesministerin „hoch“24- oder gar „weggelobt“25 und mit der Beförderung in das repräsentative Amt quasi kaltstellen wollen. Rita Süssmuth war nach eigenen Aussagen hin und her gerissen zwischen Loyalität zu ihrem Vorgesetzten Kohl und den persönlichen Vorbehalten gegenüber einer offensichtlichen Kompetenzbeschneidung. „Ich war nicht nur bewegt, ich war tieftraurig“26, beschreibt Süssmuth ihren Gemütszustand, als sie im Jahr 1988 „ihr“ Frauenministerium verlassen musste. Sie wurde Präsidentin des Deutschen Bundestages und übernahm damit eine Aufgabe, die ihr vorab „völlig abwegig“27 erschienen war. Und ein Großteil der Bevölkerung teilte ihr Unbehagen. Einer Emnid-Umfrage zufolge hielten nur 37 von einhundert Befragten Süssmuths Wechsel ins Präsidium des Bundestages für eine richtige Entscheidung.28 Auch die Presse schien das so zu sehen. Bild-Kolumnistin Beate Krämer titelte am 20. November 1988: „Rita wird mir fehlen.“ Der Tagesspiegel erstattete am selben Tag eine „Verlustanzeige“, die Zeit fragte: „Warum konnte sie nicht nein sagen?“29 Jedoch ertönten die Trauertöne zu früh, denn die Bundesministerin wusste auch in diesem ganz anderen Amt ihren Einfluss und ihre Popularität zu nutzen. Im Rückblick konnte jedenfalls keine Rede mehr von einer Degradierung sein. Zwar hat die Präsidentin des deutschen Parlaments an sich wenig politische Gestaltungsmacht, oder anders ausgedrückt: „Sie muss viel sagen, hat aber, im Sinne von praktizierter Macht, nicht viel zu sagen.“30 Doch blieb Süssmuth auch fortan in den ihr einstmals zugeteilten Politikbereichen aktiv und agierte als Parlamentspräsidentin oftmals so, als wäre sie noch Bundesministerin. Die Redakteure der Hauptstadtbüros wendeten sich bei der Suche nach Diskussionspartnern zu „Frauenfragen“ immer noch an sie. Süssmuth behielt diese Kompetenzen auch, weil sich die innerparteiliche Konkurrenz in diesem Bereich rar machte. Dabei stieß ihr mitunter als „extracurrikular“31 empfundenes Amtsverständnis nicht überall auf Anklang und im Laufe der 1990er Jahre verfestigten sich die innerfraktionellen Konfliktlinien. Im Grunde überwogen die Vorteile ihres neuen Amtes, einer Position, die von ihrer überparteilichen Ausrichtung und symbolischen Charakterisierung her den nahezu perfekten Zuschnitt auf die Fähigkeiten und das Ansehen der ehemaligen Professorin aufwies. Popularität und Überparteilichkeit, Sachlichkeit und Rationalität sind Attribute, die sowohl auf die Person Rita Süssmuth als auch das Profil des Parlamentsvorsitzes zutreffen. Sie stand „in ihrer Funktion für die Lauterkeit in der Politik“32. Auch im Vergleich zum vorigen Amt hatte Süssmuth hinzugewonnen, bot sich ihr doch verstärkt die „Gelegenheit, ihre intellektuellen und diplomatischen Fähigkeiten einzusetzen“33. Die hohe politische Funktion garantierte ihr zudem Medienpräsenz. Außerdem konnte Süssmuth ihren Abgeordnetenstatus nutzen, um das zu tun, was sie „als eigentlich neutrale Präsidentin nicht durfte: nämliche ihre politische Meinung zu sagen“34. Denn seit den Bun24
Brandes, Ada: Rita Süssmuth wird von den Freunden hochgelobt, in: Stuttgarter Zeitung, 19.11.1988. Casdorff, Stephan-Andreas: Ein Coup aus Verlegenheit, in: Süddeutsche Zeitung, 19.11.1988. 26 Von Welser 2007, S. 178. 27 Diekmann/Reitz/Stock 1994, S. 42. 28 Vgl. Brandes, Ada: Rita Süssmuth, in: Stuttgarter Zeitung, 31.12.1988. 29 Gerste, Margrit: Warum konnte sie nicht nein sagen?, in: Die Zeit, 25.11.1988. 30 Karasek, Hellmuth: Das Ziel überflogen, in: Der Tagesspiegel, 17.01.1997. 31 Klein 1994, S. 206. 32 O.V.: Manchmal trügt der erste Anschein, in: Süddeutsche Zeitung, 17.12.1996. 33 Salentin 1993, S. 112. 34 Beham, Mira: Rita Süssmuth. Ein Porträt, München 1993, S. 27. 25
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destagswahlen 1987 verfügte sie über ein direktes Mandat, konnte also frei und unbeschränkt im Parlament sprechen – und zwar sowohl zu „ihren“ als auch zu anderen Themen. Dabei verstärkte sich ihre Machtbasis in der Öffentlichkeit in dem Maße, in dem sich ihre innerparteiliche Position erschöpfte. Süssmuth wurde „zunehmend zu einer Politikerin, die in der Öffentlichkeit mehr Zustimmung fand als in der eigenen Partei“35. Die für Seiteneinsteiger typischen Schwächen im innerparteilichen und innerfraktionellen Agieren konnten zunächst bis zu einem bestimmten Punkt von Süssmuth umgangen werden, indem sie auf eine eher öffentlich- und medienorientierte Politikstrategie auswich. Doch ab einem bestimmten Zeitpunkt schlug diese Kompensationsmöglichkeit in ihr Gegenteil um. Innerhalb der Partei und insbesondere gegenüber der Schwesterpartei CSU waren ihr Ansehen und ihre politische Machtbasis daher geschwächt, ihre Wirkmöglichkeiten damit eingeschränkt. Nach dem gescheiterten „Putsch“-Versuch gegen Kohl in Bremen war Süssmuth zudem kaum in der Lage, ihre politische Agenda weiter wie bisher erfolgreich anzuregen. Doch gerade in dieser Situation half ihr die Synthese von Amt und Person. Zu vermuten ist nämlich, dass die einstmalige Seiteneinsteigerin es schwerer gehabt hätte, vielleicht sogar einen früheren Ausstieg aus der Politik hätte nehmen müssen, wäre sie zum Zeitpunkt des Bremer Bundesparteitags noch Ministerin im Kabinett von Bundeskanzler Kohl gewesen. Ihr neues Amt war somit ein Garant für das parteipolitische Überleben der Seiteneinsteigerin in der Politik. Und dieses gestaltete sich vor allem in der Fraktion schwer genug. Zwar besaß sie Parteifunktionen. Als ehemaliges Präsidiumsmitglied, Bundesministerin, amtierende Vorsitzende der Frauenunion und Parlamentspräsidentin konnte Süssmuth automatisch einen vorderen Rang innerhalb der Abgeordnetenkreise einnehmen.36 Doch ihre Amtsautorität konnte eine wesentliche Schwäche nicht konterkarieren: Zwischenmenschlich klaffte eine tiefe Lücke zwischen ihr und vielen anderen Abgeordneten. Scheinbar passte Rita Süssmuth nicht so richtig in das Bonner „esprit de corps“37. Süssmuth selbst wies später auf die Schwierigkeiten hin, denen sie als Externe im eingeschweißten Abgeordnetenkreis begegnete.38 Vor dem Hintergrund der üblichen Abgeordnetenrekrutierungsprozesse lässt sich dies vielleicht erklären, denn gewöhnlich ist die Kandidatur für einen Bundestagswahlkreis der Lohn für langjährige Arbeit im Wahlkreis, für geduldige Ortsvereins- und Landesverbandsarbeit.39 Rita Süssmuth verfügte aber weder über das eine noch das andere. Vielmehr wurde ihr der Wahlkreis ohne schweißtreibende Vorarbeit angetragen. Sie kam als bundesweit populäre Politikerin zu ihrer Wahlkreisvertretung und sah sich damit also innerhalb des Bonner – und später Berliner – Abgeordnetenzirkels durchaus mit neidischen und missgünstigen Kollegen konfrontiert.40
35
Bösch, Frank: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart/München 2002, S. 253. Zum Verhältnis von (hohen) Parteifunktionen und der Dauer sowie dem Status des Abgeordnetenmandats vgl. Best/Jahr 2006, S. 76 f. 37 Hansjürgen Daheim zitiert nach Herzog 1990, S. 34. 38 Vgl. Diekmann/Reitz/Stock 1994, S. 115. 39 Vgl. Wiesendahl, Elmar: Elitenrekrutierung in der Parteiendemokratie. Wer sind die Besten und setzen sie sich in den Parteien durch?, in: Best, Heinrich (Hrsg.): Politik und Milieu. Wahl- und Elitenforschung im historischen und interkulturellen Vergleich, St. Katharinen 1989, S. 136. 40 Vgl. o.V.: Scharfe CDU/CSU-Kritik an Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth, in: dpa, 31.07.1993; Hinsken, Ernst: Auch die Bundestagspräsidentin darf keine falschen Hoffnungen wecken, Pressemitteilung Nr. 302/1993, Deutscher Bundestag, 28.07.1993. 36
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„Lichtblick in der Politik“ Ihr ursprünglicher Status als Seiteneinsteigerin hatte damit den bitteren Beigeschmack eines – im Grunde fortwährenden – Außenseiterstatus‘. Doch außerhalb des Parlaments zeigte dies offenbar eine ganz andere Wirkung. Süssmuths Sonderstellung, nämlich die einer präsidentiellen Außenseiterin, war in Umfragen für sie von Vorteil. Zur politischen Klasse nicht gezählt, als Kontrastfolie betrachtet, profitierten ihre persönlichen Werte sogar vom schlechten Image der Politiker allgemein. Rita Süssmuth war daher eine politische Lichtgestalt – besonders in den 1980er Jahren. Schon zwei Jahre nach ihrem Amtsantritt rangierte ihr Name auf den vorderen Plätzen der Popularitätsumfragen. In ihrem Fall unterschied sich ihre Rezeption vom Gros der Bonner Politikelite: Süssmuth war jahrelang die beliebte Ausnahme.41 Eine Umfrage des Magazins Playboy machte sie beispielsweise zu der deutschen Politikerin, der die meisten Befragten „ohne Bedenken“42 ihr Auto anvertraut hätten, und laut der Neuen Revue würden sich die meisten Bundesbürger mit ihren Problemen an Rita Süssmuth wenden wollen.43 Immer wieder erschien ihr Konterfei in Interviews, auch und insbesondere in den Boulevardmedien. Süssmuth ließ die „Yellow-Press“ nicht nur über sich berichten, sie griff auch selbst zum Stift: Als Kolumnistin schrieb sie phasenweise regelmäßig für die Zeitschrift Quick und versuchte auch auf diese Weise ihre politischen Auffassungen an eine breite Öffentlichkeit zu tragen.44 Vielleicht in dem Bewusstsein, gewisse innerparteiliche Defizite aufgrund der mangelnden Ochsentour nicht wettmachen zu können, stützte sich die „Frau des Jahres 1987“45 auf ihre Popularität in der Bevölkerung. Für eine politische Seiteneinsteigerin, der man theoretisch mangelnde Erfahrung im Umgang mit Gunst und Gefahren der Medien unterstellen könnte,46 bewegte sie sich traumwandlerisch sicher durch Blitzlichtgewitter und Interviewanfragen, die sie nicht selten suchten. Im Parlament freilich resultierte eben daraus die Distanz zwischen der Präsidentin und den „typischen“ Abgeordneten. Rita Süssmuth erschien vielfach eher als Vertreterin des Volkes, denn der Mandatsträger. Süssmuth kann demnach, trotz politischer Allianzen und zahlreicher, für das politische „Geschäft“ hilfreicher „Freundschaften“, als eine Einzelgängerin bezeichnet werden. „Das ‚ich’ ging ihr leichter über die Lippen als das ‚wir’“47, beschreibt Salentin die Professorin. Dass sie keine altgediente Parlamentarierin war, dass es keine gemeinsam erlebten Siege oder Niederlagen gab, habe sich dauerhaft bemerkbar gemacht. Gleichzeitig hilft ihr Abstand zur „gewöhnlichen“ Politikerriege ihre außerordentlich hohen Popularitätswerte in der Bevölkerung zu deuten. Der „Lichtblick in der Politik“48 galt in vielen Pressedarstel41 Ihre Biografin Salentin beschreibt Süssmuth etwa als „Gegenfigur des ‚hässlichen’ Politikers“; Salentin 1993, S. 59. 42 O.V.: Jeder fünfte würde Frau Süssmuth sein Auto anvertrauen, in: ddp, 26.06.1992 (Umfrage des WickertInstitutes, n=1027). 43 Vgl. o.V.: Rita Süssmuth ist der Bundesbürger liebstes Kind, in: Frankfurter Neue Presse, 01.07.1988 (Umfrage des Gewis-Institutes, n=1061). 44 Etwa indem sie sich in dem Magazin gegen Ausländerfeindlichkeit aussprach; vgl. Süssmuth, Rita: Schluss mit dem Krämergeist gegen Ausländer, in: Quick, 17.05.1989. 45 O.V. Ministerin Süßmuth wurde Frau des Jahres, in: Frankfurter Neue Presse, 05.03.1988. 46 Vgl. Walter, Franz: Parteikarriere geht durch den Magen, in: Spiegel Online, 13.08.2006, http://www.spiegel.de/ politik/debatte/0,1518,431448,00.html [eingesehen am 22.02.2008]. 47 Salentin 1993, S.91. 48 Sattler, Hans-Peter: Zwei Ungleiche kämpfen für die gleiche Sache, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 14.01.1987.
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lungen als die Verkörperung eines besseren Politikertypus, als eine Person, die mehr Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit und Authentizität repräsentierte. Ihre Sonderposition begründete und verstärkte die ihr zugeschriebene Authentizität. Rita Süssmuth war keine ursprüngliche Berufspolitikerin. Zu diesem „Defizit“ innerhalb der Politik zu stehen, war auch eine ihrer Trumpfkarten.49 Schlussfolgern lässt sich somit zunächst, dass Süssmuth als Parlamentspräsidentin zwar den formellen Beschränkungen eines relativ schwachen Kompetenzkatalogs unterlag. Unter diesem oberflächlichen Korsett verbargen sich jedoch viele Vorteile für die inhaltlich wenig parteipolitisch festgelegte Einzelgängerin. Aus dieser Sicht hätte ihr nur ein einziges Amt besser gestanden: Das der Bundespräsidentin, wofür ihr Name durchaus in der Debatte stand. So gesehen agierte Rita Süssmuth eine Dekade lang von der aus ihrer Perspektive zweitbesten politischen Position, die – wider Erwarten – ihren jahrelangen Aufenthalt in der nationalen Spitzenpolitik unterstützt hatte. Der politische Halt, den diese Position für Rita Süssmuth bedeutete, offenbarte sich spätestens 1998: Denn dieses Jahr, in dem sie schließlich den Sessel der Bundestagspräsidentin verließ, markiert faktisch gleichzeitig das Datum ihres Abschieds aus der Politik.
Mentoren: Heiner Geißler und Helmut Kohl Gewöhnlich katapultieren sich Seiteneinsteiger nicht selbst in die Spitzenpolitik. Meist unterstützt sie ein politischer Protektor oder ebnet sogar den Weg, der aus dem ehemaligen Berufsleben in die Politik führt. Auch im vorliegenden Fall wurde die Professorin Süssmuth für den Bundesministerposten „entdeckt“ und nach einer Art Einstellungsgespräch quasi nach Bonn „berufen“. Als ihr Entdecker und „verlässlichster Freund der Frauenministerin“50 stand ihr in erster Linie ihr Vorgänger im Amt, Heiner Geißler, zur Seite. Beide kannten sich bereits unter anderem durch Süssmuths Beratungstätigkeit im Ministerbeirat. Angesichts der 1987 bevorstehenden Bundestagswahlen wollte Geißler seiner amtlichen Doppelbelastung ein Ende setzen. Um seiner Tätigkeit als Generalsekretär für den anstehenden Wahlkampf mehr Aufmerksamkeit schenken zu können, trat er 1985 zurück und schlug dem Bundeskanzler und Parteivorsitzenden Helmut Kohl die Erziehungswissenschaftlerin als Nachfolgerin vor. Auf einer Pressekonferenz kokettierte Geißler noch bei der Frage, was passiere, wenn Frau Süssmuth zukünftig der Wind allzu stark ins Gesicht wehen sollte: „Und außerdem bin ich ja auch noch da.“51 Zwei Jahre später warnte Geißler schon: „Wer sich mit Rita Süssmuth anlegt, kriegt es mit mir zu tun.“52 Der anfängliche Eindruck eines untergeordneten Verhältnisses zwischen den beiden hatte sich da bereits als trügerisch erwiesen. Ebenso wie die Suggestion einer unverbrüchlichen Interessenidentität Geißlers und Süssmuths. Zwar beteiligten sich die beiden „linken Quälgeister“ Ende 1989 am sogenannten „Bremer Putsch“ gegen den damaligen Parteivorsitzenden Kohl. Spätestens danach begannen sich ihre Wege jedoch zu trennen. Im Laufe der Jahre wirkte das Verhältnis zwar respektvoll und vertraut, jedoch nicht in dem Maße eng oder symbiotisch, wie es das Abhängigkeitsverhältnis zwischen einem politischen Seiteneinsteiger und dessen politischem 49
Vgl. Rudolph, Hermann: Die Erfindung einer Politikerin, in: Süddeutsche Zeitung, 07.11.1987. O.V.: Die älteren Herren tun sich hart, in: Der Spiegel, 29.06.1987. 51 Brandes, Ada: Die Frauen in der Fraktion hatten nichts zu melden, in: Stuttgarter Zeitung, 31.08.1985. 52 O.V.: Strauß: ‚Geißlers Politik führt zur Katastrophe’, in: Der Spiegel, 25.05.1987. 50
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Gönner vermuten ließe. Das einstige „Findelkind‘ Geißlers“53 hatte sich emanzipieren können. Mehr noch: Geißler sah sich zur zunehmenden Distanzierung gezwungen, weil sich eine Situation einzustellen begann, in der der politische Mentor gleichzeitig als potenzieller Konkurrent in Lauerstellung auf ihren Posten als Gesundheitsministerin stand. Denn Süssmuth sollte vermutlich zunächst nur bis zu den anstehenden bundesweiten Wahlen Geißlers Amt übernehmen, der sich eine Rückkehr in das Gesundheitsministerium im Falle eines günstigen Wahlausgangs offen halten wollte.54 Doch hatte sich Süssmuth – mit ihren Ambitionen auf ein Bundestagsmandat und den enorm hohen Popularitäts- und Bekanntheitswerten in der Öffentlichkeit – bald schon eine Machtbastion erarbeitet. Zu alledem hatte Süssmuth ihrerseits mit der Erweiterung des Ministeriums um das Thema „Frauen“ mehr oder weniger für die Unpässlichkeit ihres männlichen Pendants gesorgt. Daher konnte man sich ihrer nach dem Wahljahr 1987 nicht im selben Tempo „entledigen“, wie anfangs vielleicht geplant. Es war längst offensichtlich geworden, dass sich die Seiteneinsteigerin ein dauerhaftes politisches Engagement zum Ziel gesetzt hatte. Den politischen Widerstand eines anderen Politikers bekam Süssmuth nichtsdestotrotz immer wieder zu spüren, nämlich den des Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers Helmut Kohl. Dieser war es, der Süssmuth in ihr Ministeramt beförderte. Das Verhältnis zwischen den beiden galt zwar gemeinhin als schlecht bis feindselig.55 Doch bei genauerer Betrachtung lässt sich dieses Urteil keineswegs aufrechterhalten. Denn die „Auswahl“ des Kanzlers hatte überhaupt erst ihr relativ freies Agieren – und Provozieren – im Ministeramt ermöglicht. Als inoffizielle „Quotenbringerin“, deren Aufgabe auch darin liegen sollte, die abhanden gekommenen weiblichen Wählerstimmen zurückzuholen, konnte sie zu Beginn einen relativ großen Toleranz- und Freiheitsraum für sich nutzen, den eben Kohl – und nicht Geißler – für sie geschaffen hatte. Dennoch kühlte sich das Verhältnis bald deutlich ab. Schienen Kohl und Süssmuth anfänglich voneinander beeindruckt,56 wussten sich beide Politiker doch früh gegenseitig einzuschätzen, waren sich der jeweiligen Wirkungsmöglichkeiten bewusst und taktierten mehr gegen- als miteinander – mit dem Unterschied, dass der Kanzler spätestens seit dem Bremer Parteitag 1989 die maximale Spannweite der politischen Aktionssphäre Süssmuths bestimmen konnte. Auf diesem Parteitag wurde Süssmuth die Teilnahme am sogenannten „Bremer Putsch“, einer Art Befreiungsschlag gegen ihren „Mentor“, nachgesagt.57 Dieser misslang und im Folgenden wurde ihr Abhängigkeitsverhältnis eher untermauert als verringert. Jede weitere Nominierung Süssmuths als Bundestagspräsidentin blieb von Kohl und dessen finaler Entscheidung abhängig. Nichtsdestotrotz lag es aufgrund der gesellschaftlichen Konstellationen zum damaligen Zeitpunkt im Interesse des Regierungschefs, Süssmuth im politischen Boot zu behalten, was auch dadurch zu erklären ist, dass die Vorsitzende der Frauenunion mehr als jede andere Politikerin für eine wichtige Wählerklientel stand, die gerade durch die Wiedervereinigung vergrößert wurde. Denn in den neuen Bundesländern befürwortete eine Vielzahl von Unionspolitikerinnen wie Wählerinnen die politische Agenda Rita Süssmuths. Sowohl in 53
Bernstorf, Martin: Grauer Star, in: Capital, H. 3/1988, S. 142. Vgl. Beham 1993, S. 22. 55 Vgl. Nayhauß, Graf Mainhardt: Helmut & Rita – der Ofen ist aus!, in: Bild, 19.06.1992; Schell, Manfred: Vorzimmer als Waffe, in: Die Welt, 10.02.1992. 56 Vgl. Süssmuth 2000, S. 40. 57 Der Bundestagspräsidentin wurde eine Kandidatur auf den CDU-Parteivorsitz unterstellt; vgl. o.V.: In der CDU geht Suche nach einem Kandidaten gegen Kohl weiter, in: Welt am Sonntag, 27.08.1989. 54
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der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl als auch im Superwahljahr 1994 war Kohl somit auf die einstige Seiteneinsteigerin angewiesen. Letztlich profitierten beide von ihrem polarisierenden Spiel, von der vielleicht auch punktuell überspitzten Feindschaft. Süssmuth nutzte die Unterstützung derjenigen, die gegenüber dem Kanzler missmutig geworden waren, währenddessen sammelte Helmut Kohl innerhalb der Partei bei jedem Anti-SüssmuthGebaren konservative Unionsstimmen. Schließlich ist anzumerken, dass Süssmuths Abschied aus der Bundespolitik in dasselbe Jahr fiel wie der des Bundeskanzlers: Das Jahr 1998, in dem Helmut Kohl nicht nur das höchste exekutive Amt des Staats, sondern mit dem Parteivorsitz auch seine innerparteiliche Macht weitgehend verlor, markierte gleichsam das politische Ende seiner „Gegenspielerin“. Süssmuth, als eine seiner lautesten Kritikerstimmen, verlor mit Kohl einen entscheidenden Kontrapart. Ihre innerparteiliche Opposition zum Parteivorsitzenden und Kanzler hatte ihr nicht nur Alliierte an die Seite gestellt, sondern gleichzeitig identitätsstiftend gewirkt. Ihre Rolle als christdemokratischer „David“ war mit dem Sturz des ehemals übermächtigen „Goliath“ ihrer Wirkung beraubt.
Wahlkreis und Frauen: Stützen der politischen Karriere? 1987 wollte Rita Süssmuth kein Pferd ohne Stallgeruch mehr sein. Dies sei schließlich, metaphorisch gesprochen, ein Kabinettsmitglied ohne Mandat.58 Sie strebte einen gewöhnlichen Abgeordnetenstatus an. Das hatte auch politikthematische Hintergründe, denn schließlich war ihr Wirkungsbereich in den Ämtern als Ministerin und Vorsitzende der Frauenunion juristisch wie parteipolitisch (noch) eingeschränkt. Als Ministerin werde sie sich nicht zu Dingen äußern, die nicht in ihr Ressort fielen, erklärte sie damals.59 Doch das sollte sich ändern. Süssmuth übernahm den Wahlkreis 49 in Göttingen. Für diese Entscheidung sprach in nicht geringem Maße die Tatsache, dass dieser mit der Universitätsstadt, zumindest in Teilen, eine Art „Experten-Wahlkreis“ und damit ein günstiges Umfeld für die ehemalige Professorin darstellte. Neben dem Wunsch nach größerer thematischer Zuständigkeit war auch die Ambition, sich eine längerfristige Position in der Parteipolitik zu erarbeiten, ihr Motiv für diesen Schritt. Und in ihrem Fall gestaltete sich die Wahlkreissuche ungewöhnlich einfach; Süssmuth musste im Grunde nur zugreifen. Denn zu Zeiten des bundespolitischen Vorwahlkampfs im Jahre 1987 schwamm Süssmuth auf einer so hohen Welle der öffentlichen Gunst, dass verschiedene Wahlkreise regelrecht um sie buhlten. Dennoch kam auch eine Entscheidung für die Wahl Süssmuths als Delegierte des Wahlkreises in Göttingen nicht an einer demokratischen Wahl durch die dortige Basis vorbei. Die Professorin musste das Kunststück vollbringen, nicht nur im Göttinger Stadtmilieu für sich zu punkten, sondern zudem in Hannoversch-Münden und dem eher konservativkatholisch geprägten Eichsfeld. Süssmuths eigener Erinnerung zufolge hat sie dort eine „Sonderaufnahmeprüfung“60 bestehen müssen. Während der Wahlkampfmonate bestand diese in der Regel darin, sich neben den Verpflichtungen in Bonn mindestens zwei Tage 58
Vgl. Diekmann/Reitz/Stock 1994, S. 113. Vgl. Bannas, Günter: Von der Fach-Frau zur Politikerin, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.01.1986. 60 So die Anmerkung Rita Süssmuths bei einem Redebeitrag einer Podiumsdiskussion zu dem Thema „Chancen des Alterns“ in ihrem ehemaligen Wahlkreis, in Bovenden bei Göttingen am 14.01.2008. 59
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pro Woche in ihrem Wahlkreis aufzuhalten, ganz klassisch Heimatabende, Schützenfeste und ähnliche Veranstaltungen zu besuchen. Mit einem hohen Arbeits- und Zeitaufwand und einigem Geschick in der persönlichen Begegnung konnte Süssmuth Göttingen samt Umgebung schließlich für sich gewinnen. In der Tat war Süssmuth damit rasch erfolgreich: Bei den Wahlen zum Bundestag im Jahr 1987 lag ihr Erststimmenergebnis gar höher als das der CDU-Zweitstimmen.61 Auch 1990 stand ihre Kandidatur, mit 48 Prozent der Wählerstimmen, besser da als das Gesamtergebnis ihrer Partei. Drei Mal in Folge konnte sie den Wahlkreis bei Bundestagswahlen direkt gewinnen. Zuspruch erhielt die Christdemokratin dabei auch aus inhaltlich recht entfernten Lagern – von den Grünen. War Süssmuth bereits 1988 mit Stimmen grüner Abgeordneter zur Bundestagspräsidentin gewählt worden, so zeigte sich in ihrem Wahlkreis erneut, dass ihre Politik und Person gerade in diesem politischen Milieu ungewöhnlich gut ankamen. Im Laufe der Jahre verschlechterte sich jedoch Süssmuths politisches Ansehen. 1990 zog sie als „Zweite“ hinter Ernst Albrecht in den niedersächsischen Wahlkampf. Sie galt als die „Lokomotive“62 im Landtagswahlkampf. Doch in diesem politischen Rennen musste sich die niedersächsische CDU schließlich der Opposition um Gerhard Schröder geschlagen geben und Süssmuth blieb ein exekutives Amt verwehrt. Spätestens infolge der Dienstflugaffäre und analog zum Schwund ihrer demoskopischen Werten sank Mitte der 1990er Jahre auch Süssmuths Einfluss und Position in der CDU ihres Wahlkreises. Rückblickend erscheinen somit die späten 1980er und frühen 1990er Jahre nicht nur auf Wahlkreis-, sondern auch auf Bundesebene als jene Zeit, in der Rita Süssmuth den Zenit ihrer politischen Karriere erreichte. Nicht unwesentlich erschien dabei die Tatsache, dass Süssmuths regionaler Rückhalt ihre bundespolitische Stellung innerhalb der Partei stärkte. Auf der anderen Seite erleichterte ihr Renommee als bundesweite Politikergröße das Auftreten in der Region. Ihr Wahlkreis band einerseits Energien, war andererseits aber auch eine Kraftquelle, den sie aufgrund eigener Fähigkeiten (persönlicher Einsatz und soziale Kompetenzen) sowie inzwischen aufgebauter Ressourcen (politischer „Starqualitäten“) jahrelang gegen die SPD behaupten konnte. Sechzehn Jahre lang leitete die ursprüngliche Seiteneinsteigerin die Frauenunion der konservativen Volkspartei. 1986 wurde sie, infolge einer lebhaften Debatte und anschließend erfolgreichen Kampfabstimmung gegen Renate Hellwig mit 60,7 Prozent der Delegiertenstimmen gewählt. Von da an blieb sie bis zur Amtsübergabe an Maria Böhmer 2002 in dieser Funktion. Mit der Frauenunion hatte sie sich einer eigenen parteipolitischen Hausmacht bemächtigt, die im Folgenden teilweise zwar „mit zusammengebissenen Zähnen“, aber stets „loyal zu ihr hielt“ und deren Unterstützung sie sich über Jahre hinweg sicher sein konnte.63 Zwar kann kaum von einer vorbehaltlosen Hilfe aufgrund langjähriger, ewig loyaler Partner oder Freundschaften die Rede sein, da Süssmuth auch hier im Grunde dauerhaft allein antrat. Bei genauerer Betrachtung der politischen Karriere Süssmuths fällt aber durchaus das Phänomen einer „Allianzbildung“ unter sowohl kommunalen als auch bundespolitischen Politikerinnen ins Auge, die sich anlässlich der vielen Verbalattacken gegen Süssmuth mit ihr ver61
Und zwar mit 44,9 Prozent gegenüber 39,2 Prozent der Stimmen um 4,7 Prozentpunkte höher; vgl. Salentin 1993, S. 93. 62 Jach, Michael: Eine gute Wahl, in:_ Die Welt, 14.03.1990. 63 O.V.: Süssmuths Klientel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.1993.
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bündeten. Der Hintergrund scheint weniger parteipolitischer als vielmehr gesellschaftlicher Natur zu sein: Insbesondere während der von Gleichberechtigungsforderungen geprägten 1980er Jahre machte sich unter weiblichen Politikerinnen die auf Chancengleichheit gerichtete Solidarisierung unter Frauen immer stärker bemerkbar. Und tatsächlich finden sich auch in der hier skizzierten politischen Laufbahn einige Hinweise auf diese politische Stütze. Je vehementer, lauter und aggressiver die Stimme eines Politikers gegen Süssmuth erhoben wurde, desto empörter und geschlossener stellten sich ihre Parteikolleginnen hinter sie. Ähnliches galt zuweilen für die Unterstützung aus der Bevölkerung64 sowie von Seiten der Presse, in der überwiegend weibliche Redakteurinnen in zumeist positiver Reportage die Ministerin porträtierten. Selbst die Parteifarben schienen im Angesicht dieser besonderen gesellschaftlichen Atmosphäre der weiblichen „Verschwesterung“ mitunter zu verblassen. Die gesamt-gesellschaftliche Emanzipationsbewegung und die damit zusammenhängende Virulenz der „Frauenthemen“ wirbelten Staub in der parteipolitisch eher vertrockneten Agenda-Wüste auf. Innerhalb dieser politischen Kultur der 1980er Jahre hatte damit die Kooperation bezüglich entsprechender Themen Vorrang gegenüber der allgemeinen Parteibindung und den typischen Wegen innerhalb der Parteistruktur. Etwas hatte sich verändert. Neuerdings, so schrieb es der Spiegel, müssten sich die Volksvertreter, „wenn sie Frauenrechte beschneiden, auf den geballten Widerstand ihrer Kolleginnen gefasst machen“65. Eine Seiteneinsteigerin hatte es in diesem Umfeld besonders einfach. Natürlich ist diese gemeinsame, geschlossene weibliche Bewegung zugunsten Rita Süssmuths und ihrer „Frauenpolitik“ nicht partout verallgemeinerbar. Doch obwohl sie gelegentliche Proteste auch von Seiten ihrer eigenen Parteikolleginnen heraufzubeschwören vermochte, erfuhr sie – gerade im Angesicht scharfer Attacken von Seiten der CSU – eine sogar parteiübergreifende Solidarität der weiblichen Kolleginnen. Besonders fördernde Kräfte entstammten dabei oftmals auch den kleineren Kreisverbänden der Frauenunion. Süssmuths Unterstützerinnen saßen gleichsam auch an der Basis der Partei und teilten mitunter ihre Erfahrungen als Frau in einer männlich geprägten Parteistruktur.66 Und auch in der Fraktion zeigte sich eine besondere Form der weiblichen Solidarisierungsbewegung, mitunter trotz inhaltlicher Divergenzen.67 Zudem hatte Süssmuth als berufstätige Mutter sozusagen ein Alibi für ihre nicht vorhandenen Aktivitäten der Ochsentour. Obendrein: Süssmuth war über Jahre hinweg, neben der äußerst erfolgreichen beruflichen Aktivität, in der katholischen Kirche aktiv gewesen, eine Form des Engagements, die durchaus als legitimer Ersatz erachtet werden konnte. Die Professorin erschien damit weniger als individualistische Karrieristin, sondern vielmehr bescheinigte ihr Lebenslauf gesellschaftliches Engagement und machte gleichzeitig ihr Manko an parteipolitischer Aktivität verständlich. Wo hätte eine Professorin, Mutter und Mitglied des Zentralkomitees Deutscher Katholiken noch die zusätzliche Zeit für parteilokale Gremienarbeit hernehmen sollen? Entsprechend erklärt sich auch, warum ihr als Politikerin – trotz vorhandener kritischer Stimmen en masse – weder von Seiten der Presse noch von Parteiakteuren je ein Mangel an Ochsentour-Erfahrungen explizit vorgeworfen wurde. 64
Vgl. Hauenschild, Almut: ‚Sie sind tapfer, geben sie nicht auf‘, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 04.07.1992. O.V: „Wir wollen unsere Hälfte der Welt“, in: Der Spiegel, 23.03.1985. 66 Dazu beispielhaft: „Wir treffen auf Kreis- und Bezirksebene bei den Männern nur auf taube Ohren.“; Wirtz, Astrid: CDU-Frauen in NRW verärgert, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 01.07.1986. 67 Vgl. die Geschehnisse in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Oktober des Jahres 1993 anlässlich einer möglichen Präsidentschaftskandidatur Steffen Heitmanns; etwa: Bicher, Norbert: Süssmuths Kritiker holten zu gnadenloser Abrechnung aus, in: Westfälische Rundschau, 21.10.1993. 65
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Politische Tiefschläge Im März 1991 berichtete das Magazin Stern,68 Hans Süssmuth, der Gatte der Bundestagspräsidentin, habe monatelang im Wissen seiner Ehefrau in deren Namen und für sie den Fahrdienst des Deutschen Bundestages unter anderem für private Fahrten genutzt. Die Anschuldigung der Veruntreuung steuerlicher Mittel, alsbald unter dem Titel „Dienstwagenaffäre“ diskutiert, erschien zunächst als schwerer Vorwurf, der die Bundestagspräsidentin zum Rücktritt hätte nötigen können. Doch bald schon zeigte sich, dass die Person Süssmuth und ihr hohes Ansehen vorerst kaum beschädigt wurden. Kurz nach der Veröffentlichung der Beschuldigungen berichteten die meisten Tageszeitungen, die Süssmuths hätten sich zwar in einer bürokratischen Grauzone, aber durchaus im juristisch legalen Bereich bewegt. Im März 1991 wirkte in diesem Zusammenhang die enorm hohe öffentliche Popularität der Person, Politikerin und Präsidentin noch wie ein Schutzschild. Fünfeinhalb Jahre später, in der „Dienstflugaffäre“, sollten sich die Umstände nicht mehr so günstig für Süssmuth erweisen, denn mittlerweile konnte sie aus ihrer vormals profitablen „Ressource“ Popularität nicht mehr in ähnlichem Maße schöpfen: Noch im Dezember des Jahres 1996 war Süssmuth als die „derzeit beliebteste Politikerin des Landes“69 im Gespräch gewesen, kurze Zeit später sanken ihre Werte rapide, ihr (moralisches) Ansehen hatte durch die Anschuldigungen, sie hätte mehrfach den parlamentarischen Flugdienst für private Zwecke genutzt, immens gelitten. Nach dieser zweiten „Affäre“ verzeichnete das Politbarometer im Januar 1997 den stärksten Fall, den die Beliebtheitsskala in zwanzig Jahren je erfasst hatte.70 Zwar konnten die Vorwürfe in beiden Fällen schließlich nicht aufrechterhalten und die Widerrechtlichkeit ihres Verhaltens nicht abschließend bewiesen werden.71 Doch die Folgen für ihre politische Karriere wurden zunehmend sichtbar, unter anderem weil die politischen Ressourcen Süssmuths an Wirkungsmacht verloren hatten. Konnte Süssmuth ihre jahrelange Präsenz in Bonn und die hohen Werte persönlicher Zustimmung in der Öffentlichkeit auf ihr Antlitz einer Seiteneinsteigerin zurückführen, so büßte sie im Zuge der Dienstflugaffäre einen ihrer größten Stützpfeiler ein, den der medialen und damit auch öffentlichen Gunst. Zwei Jahre später, bei der Bundestagswahl 1998, blieb Süssmuth erstmals das Direktmandat ihres Wahlkreises verwehrt. Zudem verlor sie mit ihrem politischen Kontrapart, Bundeskanzler Helmut Kohl, und dem Amt der Bundestagspräsidentin zwei prägende politische Ressourcen. In den folgenden Jahren lag der Fokus ihres politischen, gesellschaftlichen und akademischen Engagements zunehmend auf der symbolisch-repräsentativen Ebene – verglichen mit den ersten fünfzehn Jahren ihrer polit-praktischen Tätigkeit wurde es alles in allem ganz erheblich ruhiger um Rita Süssmuth. Kurzum: Jahrelang hatte die ehemalige Professorin von einem Image der Außenstehenden profitieren können, wenngleich sich unter der Kutte der Seiteneinsteigerin durchaus eine Entwicklung zum politischen Profi vollzogen hatte. Im Moment des Wegfalls zentraler 68
Vgl. Schütz, Hans-Peter/Wonka, Dieter: Ende einer Dienstfahrt, in: Stern, 14.03.1991. Süskind, Martin E.: Nicht ohne meine Tochter, in: Süddeutsche Zeitung, 23.12.1996. 70 Vgl. o.V.: ZDF-Politbarometer: Ansehen von Frau Süssmuth tief gesunken, in: ddp/ADN, Januar 1997 [exaktes Datum unbekannt]. 71 Vgl. o.V.: Bundesrechnungshof prüft Dienstwagen-Praxis – Haushaltsausschuss sieht keinen Verstoß, in: dpa, 15.03.1991; o.V.: Vorwürfe gegen Süssmuth entkräftet, in: Süddeutsche Zeitung, 13.01.1997. 69
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Bestandteile ihrer politischen Präsenz schienen jedoch die langfristigen Bindungen und parteipolitischen Seilschaften nicht mehr ausreichend zu sein. Spätestens im Zuge ihrer letzten Affäre verlor die Bundestagspräsidentin dann auch noch ihren Status der Andersartigkeit und die damit einhergehenden Vorteile ihres Ansehens. Rita Süssmuth verfügte spätestens seither nicht mehr über den Bonus der Seiteneinsteigerin; vielmehr umwehte nun auch sie ein Hauch des Amoralischen, des typisch „prekären“ Politikers.
Walter Riester – der letzte klassische sozialdemokratische Seiteneinsteiger Stephan Klecha
Wenn die Rede auf Gewerkschaftsfunktionäre kommt, stellt sich die Frage, ob es sich überhaupt um Seiteneinsteiger handelt. Schließlich kann man kaum von einer „außerpolitischen Karriere“ sprechen, weil Gewerkschaften in vielfältiger Weise unmittelbar Politik gestalten. Der gesamte Bereich der Tarifpolitik ist in der Bundesrepublik fast vollständig den Sozialpartnern überlassen. Die Mitbestimmung demokratisierte die Unternehmensverfassungen und sicherte den Einfluss der Gewerkschaften auf wichtige wirtschaftspolitische Entwicklungen des Landes. Als Interessenvertretung der Arbeitnehmer sind Gewerkschaften sowohl Lobbyverband als auch durch ihre eigenen Unterstützungskassen gestaltender Akteur in der Sozialpolitik. Hinzu kommen unzählige unmittelbare Wechselwirkungen zwischen staatlicher Politik und gewerkschaftlicher Tagespolitik, die einen engen und vielschichtigen Austausch zwischen Gewerkschaften und gewählter Regierung unerlässlich machen und die deutlich über das normale Maß von Lobbypolitik hinausreichen. Die gemeinsamen Wurzeln der Arbeiterbewegung haben außerdem sehr starke Verbindungslinien zur Sozialdemokratie und gleichermaßen relevante zur christlichen Arbeitnehmerbewegung hervorgebracht. Die Tätigkeiten in den Sozialversicherungen prädestinierte Gewerkschaftsfunktionäre mit ihren Kenntnissen der öffentlichen Verwaltung dazu, nach der Revolution von 1918 Funktionen in staatlichen Administration zu übernehmen. So war seit der Weimarer Zeit der politische Wechsel von Gewerkschaftern in „die richtige Politik“ regelmäßig anzutreffen. Der Vorsitzende des ADGB, Carl Legien, hätte 1920 nach dem Kapp-Putsch sogar Reichskanzler werden können, schlug das Angebot aber aus.1 Der vormalige zweite Vorsitzende der Generalkommission der freien Gewerkschaften im Kaiserreich, Rudolf Wissell, war Reichswirtschaftsminister. Der christliche Gewerkschafter Adam Stegerwald führte die Reichstagsfraktion des Zentrums und gehörte der Reichsregierung als Verkehrsminister an. Diese Tradition, gewerkschaftliche Funktionäre in die Regierung zu nehmen oder mit parlamentarischen Mandaten auszustatten, blieb auch in der Bundesrepublik bestehen. Dem zweiten Kabinett Adenauer gehörten mit Jakob Kaiser, Theodor Blank, Anton Storch und Ernst Lemmer so viele frühere hauptamtliche Gewerkschafter an, wie keinem Kabinett zuvor und keinem danach. In den 1950er oder 1960er Jahren hätte kaum jemand den Gedanken geäußert, dass Gewerkschaftsführer in der Politik Seiteneinsteiger sein könnten. Immerhin waren regelmäßig die Vorsitzenden einiger Einzelgewerkschaften des DGB Mitglieder des Bundestags, durchgängig übrigens in der SPD-Fraktion. Mit Walter Freitag saß zwischenzeitlich sogar der Vorsitzende des DGB selbst im Bundestag. In der sozialliberalen Zeit erlangten etliche Gewerkschaftsführer dann fast selbstverständlich Ministerwei1 Vgl. Schneider, Michael: Kleine Geschichte der Gewerkschaften. Ihre Entwicklung in Deutschland von den Anfängen bis heute, Bonn 2000, S. 169.
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hen: Allen voran seien Walter Arendt, Georg Leber und Kurt Gscheidle genannt, aber auch Hans Matthöfer und Anke Fuchs. Auch auf Landes- und kommunaler Ebene nahmen etliche Gewerkschafter Mandate wahr und gehörten als Minister den Landesregierungen an, wie in den 1980er und 1990er Jahren etwa Walter Hiller als Sozialminister in Niedersachsen, Ilse Brusis in NordrheinWestfalen, Horst Wagner in Berlin oder Karin Roth in Hamburg. Wenngleich die überwiegende Mehrzahl der Gewerkschafter als sozialdemokratische Amtsträger fungierte, gab es nicht nur in den Anfangsjahren der Bundesrepublik auch christdemokratische Gewerkschaftsfunktionäre, die Parlaments- oder Regierungsfunktionen ausübten. Manfred Schell gehörte kurzzeitig dem Bundestag an. Regina Görner war Sozialministerin im Saarland. Auch die Grünen haben Gewerkschafter in ihren Reihen, wie Thea Dückert. Und in jüngster Zeit stellen Gewerkschafter bei „Die Linke“ mit Klaus Ernst, Thomas Händel, Werner Dreibus, Ulrike Zerhau oder Bode Ramelow einen nennenswerten Teil des Funktionärskörpers. Der Wechsel aus der Gewerkschaft in ein politisches Regierungsamt oder ein Abgeordnetenmandat war also lange Zeit keineswegs ungewöhnlich. Trotzdem haftete Walter Riester, 1998 zum Bundesarbeitsminister berufen, der Ruf an, Seiteneinsteiger zu sein. Er selbst bezeichnete sich in seiner Autobiografie als „Quereinsteiger.“2 Diese Einstufung ist umso verwunderlicher, als Riester nicht nur durch seine Gewerkschaftsfunktionen über umfängliche politische Erfahrung verfügte, sondern zu diesem Zeitpunkt auch noch in der SPD fest verankert war – lange Jahre gehörte er dem Bundesparteivorstand an und war eine Zeit lang außerdem Mitglied im Präsidium der baden-württembergischen SPD. Riester ist auf den ersten Blick nur ein Beispiel einer ganzen Reihe von Gewerkschaftsfunktionären, die sich im Laufe ihres gewerkschaftlichen Handelns dazu entschlossen, innerhalb der Partei aktiv zu werden und die schließlich jene gewerkschaftliche Tätigkeit aufgaben zugunsten eines zeitaufwändigeren Mandats in Regierung und/oder Parlament.
Vom Fliesenlegergesellen zum Gewerkschaftsführer Der 27. September 1998 war für Riester nicht nur der Tag der Bundestagswahl, die ihm den Weg ebnete, sozialdemokratischer Arbeitsminister zu werden, sondern es war auch sein 55. Geburtstag. Riester wurde im Allgäu, in Kaufbeuren, als Sohn einer angelernten Arbeiterin und eines Buchbinders geboren. Die Eltern trennten sich, als er vier Jahre alt war. Die Mutter, eine engagierte Sozialdemokratin, heiratete wieder, einen ehemaligen Kommunisten. Dieses Elternhaus prägte Riester politisch. Als er, ein leidlicher Schüler mit Rechtschreibschwäche, seine Lehre als Fliesenleger begann, sorgte seine Mutter dafür, dass er unverzüglich der IG Bau-Steine-Erden beitrat. Nachdem er erfahren hatte, wie gewerkschaftliche Arbeit in der Ausbildung funktionieren kann, engagierte er sich – wieder mit tatkräftiger Unterstützung seiner Mutter – vor Ort in der Gewerkschaftsarbeit. Dieses Engagement verstärkte die Außenseiterstellung, die Riester aufgrund seines sozialdemokratisch-kommunistischen Elternhauses gewärtigte. Die gewerkschaftliche Jugendarbeit in den 1950er Jahren erreichte zwar durchaus zahlreiche Jugendliche, allerdings war sie stark abhängig von ei-
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Riester, Walter: Mut zur Wirklichkeit, Düsseldorf 2004, S. 95.
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nem entwickelten sozialdemokratischen Arbeitermilieu vor Ort.3 Dafür wiederum waren im bayrischen Kaufbeuren die Voraussetzungen denkbar schlecht. Die Bevölkerung war kleinbürgerlich geprägt, was der Zuzug von vertriebenen Sudetendeutschen noch verstärkte.4 Das ohnehin spärliche Arbeitermilieu breitete sich unter diesen Umständen nicht aus. Die berufliche Laufbahn des angehenden Meisters entwickelte sich zunehmend vom Handwerk weg und beeinflusst vom kritischen Zeitgeist zur Politik hin. Riester absolvierte 1969 erfolgreich die Aufnahmeprüfung für die gewerkschaftsnahe Akademie der Arbeit in Frankfurt. Die Teilnahme an diesen Kursen begründete in der Regel den Einstieg in eine gewerkschaftliche Karriere. Riester hatte sich im Zuge von Protesten im Frühherbst 1969 jedoch bei der Spitze seiner eigenen Gewerkschaft unbeliebt gemacht. Als er deren Vorsitzenden Rudolf Sperner aufforderte, mehr gegen die Bedrohung der Demokratie durch die NPD zu tun, fühlte dieser sich derart provoziert, dass Riester bei der Baugewerkschaft kaum mehr Chancen auf eine Einstellung besaß. Trotzdem eröffnete sich nach dem erfolgreichen Abschluss in Frankfurt 1970 beim DGB die Möglichkeit, hauptamtlich in die Gewerkschaftsarbeit einzusteigen. Im baden-württembergischen Tuttlingen nahm Riester die Tätigkeit als Jugendbildungsreferent beim DGB auf und wurde kurze Zeit später als Landesjugendsekretär beim DGB-Landesbezirk in Stuttgart bestellt. Finanziell bedeutete die Gewerkschaftsarbeit einen Abstieg gegenüber dem soliden Meistergehalt. Doch der Idealismus setzte sich bei Riester durch. Die Position beim DGB in Stuttgart brachte Riester ins Blickfeld der IG Metall. 1977 erfolgte dann der Wechsel und Riester wurde zum Zweiten Bevollmächtigten in der Verwaltungsstelle Geislingen gewählt. Hier erarbeitete er sich den Namen eines Tarifexperten. Er erkannte, dass die komplexen Tarifverträge, welche die IG Metall unter Franz Steinkühlers Führung in Baden-Württemberg erkämpft hatte, in der praktischen betrieblichen Umsetzung Mängel zeigten. Dieses wiederum veranlasste Steinkühler Riester ein Angebot zu unterbreiten, in die Bezirksleitung als Tarifsekretär zu wechseln. Der Vorstand bestellte Riester 1988 als Nachfolger Ernst Eisenmanns dann zum Bezirksleiter. Die Bezirksleiter der IG Metall sind Angestellte des Vorstands und diesem gegenüber weisungsgebunden. Trotzdem stellt die Position eines Bezirksleiters eine mächtige Funktion dar. Regelmäßig können Bezirksleiter sich in der Tarifpolitik bewähren, finden neben dem Ersten und Zweiten Vorsitzenden in der Öffentlichkeit vielfach Gehör und vermögen zudem ein regionales Netzwerk zu steuern, welches ihnen bei der Durchsetzung ihrer Interessen und Ziele innerhalb der IG Metall hilfreich ist. Dieses gilt in ganz besonderer Form für den Bezirk Stuttgart, heute Baden-Württemberg. Das Tarifgebiet NordwürttembergNordbaden ist oftmals der Pilotbezirk, in dem der Durchbruch in den Verhandlungen erzielt wird. Es ist auch derjenige Bezirk, in dem die IG Metall über kampfstarke und kampferprobte Belegschaften verfüg. Entsprechend ist die Position des Bezirksleiters in Stuttgart eine der wichtigsten, welche die IG Metall zu vergeben hat. Riester selbst erwarb sich einen Ruf als geschickter Verhandlungspartner. Mit dem Verhandlungsführer der Arbeitgeber im „Ländle“, Dieter Hundt, fand Riester vielfach zügig zu einer Einigung. Dem Duo Hundt und Riester gelang es ein ums andere Mal, für bei3 Vgl. exemplarisch Deppe-Wolfinger, Helga: Arbeiterjugend – Bewußtsein und politische Bildung, Frankfurt am Main 1972; Klaus, Horst: Wie's damals anfing, in: werden 96/97, Jahrbuch für die deutschen Gewerkschaften, 1996, S. 118-124; Schlüter, Harald: Vom Ende der Arbeiterjugendbewegung. Gewerkschaftliche Jugendarbeit im Hamburger Raum 1950-1965, Frankfurt am Main u.a. 1996. 4 Vgl. Birnmeyer, Erwin: 1887-1987, 100 Jahre SPD Kaufbeuren, Dokumentation, Kaufbeuren 1987, S. 76.
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de Seiten einen verträglichen Kompromiss zu finden.5 Als es um die endgültige Durchsetzung der 35-Stunden-Woche ging, schlossen die beiden einen bahnbrechenden Kompromiss, der Riester endgültig zu überregionaler Bekanntheit verhalf.6 Doch nicht nur als Tarifpolitiker eilte Riester der Ruf voraus, die IG Metall zu modernisieren. Bereits der junge Walter Riester hatte mit der Studentenbewegung sympathisiert und war postmaterialistischen Fragestellungen gegenüber offen gewesen. Obgleich seine sozialdemokratische Gesinnung unzweifelhaft blieb, lockerte Riester das Verhältnis zu den Grünen und sprach als erster führender Gewerkschafter auf der Landesdelegiertenkonferenz der Grünen in Baden-Württemberg.7 Nachdem Franz Steinkühler 1993 den Posten des Ersten Vorsitzenden der IG Metall räumen musste, avancierte Riester zum Stellvertreter des neuen Vorsitzenden Klaus Zwickel. Dem Wechsel in die Vorstandszentrale nach Frankfurt war ein wochenlanges Werben des VW-Konzerns vorangegangen. Der Wolfsburger Autobauer suchte einen neuen Arbeitsdirektor. Das Vorschlagsrecht für diese Position lag bei den Arbeitnehmervertretern im Aufsichtsrat und damit letztlich bei der IG Metall. Auch der neue Vorstandschef Ferdinand Piëch und der Hauptaktionär, das Land Niedersachsen – vertreten durch den niedersächsischen Ministerpräsidenten Gerhard Schröder – favorisierten Riester. Doch der Abgang des charismatischen Vorsitzenden Steinkühler bewog Riester, Volkswagen einen Korb zu geben und sich ganz auf die IG Metall zu konzentrieren. Riester handelte aus Loyalität, Idealismus und Pflichtgefühl heraus. Die Gewerkschaftsbewegung hatte seinem beruflichen Leben einen neuen Sinn gegeben. Die finanziellen Verlockungen wirtschaftlicher Art hatte er schon nicht nachgegeben, als er sich für die Gewerkschaft und gegen die Fliesenlegerei als Meister entschieden hatte. Die Tatsache, dass er in der Diaspora des sozialdemokratisch-gewerkschaftlichen Milieus hineingeboren wurde, begründete eine grundsätzliche Organisationsloyalität, wie sie typisch für jene Gewerkschafter zu sein scheint, die in den 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre ihre politische Arbeit begannen.
Vor- und Querdenker der Gewerkschaften Inhaltlich boten die Gedanken und Ideen des Zweiten Vorsitzenden ein ums andere Mal Anlass zur Diskussion. Er plädierte dafür, die Individualisierung und Pluralisierung der Lebensstile zur Kenntnis zu nehmen und dieses bei der gewerkschaftlichen Programmatik zu berücksichtigen. Dabei entwickelte er ein positives Verständnis von Eigenvorsorge, wie er in den Gewerkschaften bis dahin eher selten war.8 In einem Zeitungsinterview 1997 zweifelte er an der Stabilität der Rentenversicherung und bekundete zugleich eine gewisse Sympathie für eine grundlegende Reform, wie sie Sachsens Ministerpräsident Kurt Biedenkopf favorisierte,9 bei der an der Stelle einer äquivalenten Statuslagensicherung lediglich eine kapitalgedeckte Grundsicherung treten würde. Diese Position lief diametral den Vorstellungen in der IG Metall zuwider. Klaus Zwickel unterband die aufkommende Debatte 5
Vgl. Deckstein, Dagmar: Pilotprojekt für tarifpolitische Ehrlichkeit, in: Süddeutsche Zeitung, 19.05.1992. Vgl. o.V.: Im Gleichschritt nach Hause, in: Der Spiegel, 07.05.1990. 7 Vgl. o.V.: Landesparteitag der baden-württembergischen Grünen, in: Süddeutsche Zeitung, 03.05.1993. 8 Vgl. Riester, Walter: Regulierung + Reform = Zukunft, in: Kowalsky, Wolfgang/Schroeder, Wolfgang (Hrsg.): Linke, was nun?, Nördlingen 1993, S. 109-121. 9 Vgl. Daniels, Arne/Heuser, Uwe Jean: „Die Realität frißt sich durch“, in: Die Zeit, 11.04.1997. 6
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frühzeitig und stützte somit Riesters Kritiker. Zwickel war es dann schließlich auch, der ohne Kenntnis und Billigung von Walter Riester und seines Abteilungsleiters Berthold Huber auf einer arbeitsmarktpolitischen Konferenz des DGBs im Frühjahr 1997 die 32Stundenwoche als neues gewerkschaftliches Ziel vorschlug.10 Nicht nur die Tarifexperten Riester und Huber waren überrumpelt, auch die Anhängerschaft der IG Metall reagierte irritiert und die Arbeitgeberverbände, denen jedwede Arbeitszeitverkürzung zuwider war, reagierten in der Folge mit einer Satzungsänderungen bei der sie die außerordentliche Kündigung der Mitgliedschaft aus Anlass eines voraussichtlich unliebsamen Tarifabschlusses zuließen.11 Dies wiederum reduzierte deren Verpflichtungsmöglichkeiten und damit die Durchsetzungsfähigkeit der Gewerkschaften in Tarifverhandlungen, aber auch bei möglichen dreiseitigen Arrangements mit Regierung und Arbeitgeberverbänden. Der Tarifpolitiker Riester musste zugleich mit ansehen, wie sich das Arbeitgeberlager darauf vorbereitete, die Voraussetzung effizienter und erfolgreicher Tarifverhandlungen zu demontieren. Zusätzlich entflammte in der IG Metall eine Debatte darum, welche Bedeutung der Flächentarifvertrag künftig haben sollte. Während Riester vorsichtig für differenzierte Tarifabschlüsse warb, standen einige Bezirksleiter diesem Ansinnen schroff ablehnend gegenüber.12 Mit Zwickel wiederum deuteten sich weitere Kontroversen darüber an, wie offensiv die künftige Tarifpolitik gestaltet werden sollte.13
Vorbereitung des Umstiegs Riesters Positionen eckten in der IG Metall an, seine Person stach aber gerade deswegen aus dem Kreis der übrigen Gewerkschaftsvertreter hervor. Erstmalig sprach ihn im Januar 1998 Renate Schmidt, damals stellvertretende Parteivorsitzende, darauf an, ob er es sich vorstellen könne, Arbeits- und Sozialminister in einer SPD-geführten Bundesregierung zu werden.14 Ende März, Gerhard Schröder war zum Kanzlerkandidaten gekürt worden, rief dieser Riester an und machte ihm ein konkretes Angebot, in die Wahlkampfmannschaft einzutreten – mit dem Ziel, nach der gewonnenen Wahl ins Kabinett berufen zu werden. Ende April schließlich, die Medien hatten entsprechende Gerüchte bereits vernommen, wurde Riester dann offiziell vorgestellt.
10 Vgl. Christ, R.: Vorstoß für 32-Stunden-Woche, in: Die Quelle, Mai 1997; Müller, Hans-Peter/Wilke, Manfred: Rückkehr in die politische Arena – Die deutschen Gewerkschaften und das Bündnis für Arbeit, Sankt Augustin 1999; Deckstein, Dagmar: Walter Riester – Geburtstag als Wahltag, in: Die neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, H. 8/1998, S. 700-703. 11 Vgl. Schroeder, Wolfgang: Waffenstillstand im Arbeitgeberlager, in: Die Mitbestimmung, H. 6/2000, S. 45 ff.; ders./Silva, Stephan J.: Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, in: Schroeder, Wolfgang/Weßels, Bernhard (Hrsg.): Die Gewerkschaften in Politik und Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland. Ein Handbuch, Wiesbaden 2003, S. 244-270, hier S. 265. 12 Vgl. Jakobs, Walter: „Produktiver Streit bringt uns weiter“ (Interview), in: die tageszeitung, 28.07.1997; Wilmes, Frank: Mehr Masse als Klasse, in: Welt am Sonntag, 28.09.1997; o.V.: Riester warnt vor „Häuserkampf“, in: Süddeutsche Zeitung, 22.11.1997. 13 Vgl. o.V.: Die real existierende IG Metall, in: Süddeutsche Zeitung, 25.11.1997; o.V.: IG Metall räumt Streit an Spitze ein, in: Süddeutsche Zeitung, 27.11.1997. 14 Vgl. Riester 2004, S. 66; zum Termin siehe o.V.: Bayrische SPD in Aufbruchstimmung, in: Süddeutsche Zeitung, 14.01.1998.
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In Anbetracht der innergewerkschaftlichen Debatten war für Riester der Zeitpunkt des Ausstiegs aus der IG Metall sehr günstig, zumal auch seine eigenen Karrierechencen in Anbetracht des Alters von IG Metall-Chef Zwickel begrenzt waren. Mit Mitte 50 nochmals eine neue Herausforderung anzunehmen – dies musste vor diesem Hintergrund für Riester biografisch attraktiv erscheinen.
Innovationen und Gerechtigkeit: Riester als Mann für das Operative 1998 wollte die SPD unter den beiden Schlagworten „Innovation“ und „Gerechtigkeit“ signalisieren, dass man bei aller Offenheit für die gesellschaftliche Mitte auch die Stammwählerschaft der SPD nicht vergessen hatte. Kanzlerkandidat Schröder und SPD-Chef Oskar Lafontaine personifizierten diesen Doppel-Slogan. Dem Spitzentandem sollte ein weiteres Duo für die Bereiche Wirtschaft und Arbeit hinzugefügt werden. Während der Internetunternehmer Jost Stollmann Wirtschaftskompetenz versprach, symbolisierte ein gestandener Gewerkschafter die klassische Wählerschaft der SPD. Walter Riester galt dabei als die perfekte Besetzung. Immerhin hatte Riester ja bewiesen, dass er ein pragmatischer Tarifpolitiker und in der Lage war, mitunter eigensinnige Gedanken zu formulieren. Schröder und Lafontaine vernahmen dies gleichermaßen. Lafontaine bezeichnete ihn als einen „reformfreudig bekannten Gewerkschafter“15, Gerhard Schröder redete von einem „modernen Tarifpolitiker.“16 Beide Formulierungen lassen darauf schließen, dass sowohl Lafontaine als auch Schröder goutierten, dass Riester nicht immer der offiziellen Linie der Gewerkschaften folgte.
Strategische Mobilisierung der Gewerkschaftsmitglieder durch das Bündnis für Arbeit Voraussetzung für den Erfolg der SPD war, sowohl die Stammwähler in erheblichem Maße zur Stimmabgabe zu mobilisieren als auch diejenigen zu gewinnen, welche zeitweilig zur SPD tendierten. Zu einer der wichtigsten Wählergruppe der SPD gehörten die gewerkschaftlich gebundenen Arbeitnehmer. Hier erzielte die SPD regelmäßig Ergebnisse von über fünfzig Prozent. Für deren Mobilisierung war es ausgesprochen hilfreich, dass aus dem Lager der Gewerkschaften Rückendeckung kam, nachdem die Regierung Kohl im Frühjahr 1996 die Initiative des IG Metall-Vorsitzenden Klaus Zwickel für ein sogenanntes „Bündnis für Arbeit“ zum Scheitern brachte.17 15
Lafontaine, Oskar: Das Herz schlägt links, München 1999, S. 115. Schröder, Gerhard: Entscheidungen. Mein Leben in der Politik, Berlin 2007, S. 271. 17 Vgl. Kittner, Michael: Den Spieß umgedreht, in: Die Quelle, Dezember 1995; Lang, Klaus: Kompromiß und Konflikt, in: Die Mitbestimmung, H. 3/1996, S. 30-33; Zwickel, Klaus: Auszug aus der Rede des IG MetallVorsitzenden am 1.11.1995 auf dem 18. Ordentlichen Gewerkschaftstag der IG Metall in Berlin, dokumentiert in: Arlt, Hans-Jürgen/Nehls, Sabine (Hrsg.): Bündnis für Arbeit. Konstruktion, Kritik, Karriere, Opladen/Wiesbaden 1999, S. 256 f.; Lang, Klaus: Bündnis für Arbeit – jenseits von Ausstieg und Anpassung, in: WSI-Mitteilungen, H. 5/2001, S. 294-298; Streeck, Wolfgang: Bündnis für Arbeit: Bedingungen und Ziele, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, H. 8/1998, S. 533-540; Schroeder, Wolfgang: Modell Deutschland und das Bündnis für Arbeit, in: Jochem, Sven/Siegel, Niko A. (Hrsg.): Konzertierte Verhandlungsdemokratie und Reformpolitik im Wohlfahrtsstaat. Das Modell Deutschland im Vergleich, Opladen 2003, S. 107-147. 16
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Zwickel bot seinerzeit einen Verzicht auf Lohnsteigerung an, wenn dafür Arbeitsplätze geschaffen und die Regierung auf weiteren Sozialabbau verzichten würden. Doch mit der Verminderung des Kündigungsschutzes in Kleinbetrieben und der Kürzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall konterkarierte die Regierung diese Initiativge und provozierte damit erhebliche betriebliche Auseinandersetzungen.18 Klaus Zwickel nahm fortan sehr bewusst positiv auf die SPD-Opposition im Bundestag Bezug und setzte den Regierungswechsel in der Prioritätenliste nach oben.19 Die SPD verfügte zu jenem Zeitpunkt über eine sehr deutliche Mehrheit im Bundesrat und war in einer guten Ausgangsposition, um 1998 die Regierung Kohl abzulösen. Gerhard Schröder, stellte eine erfolgreiche Neuauflage des Bündnisses in Aussicht. Die Nominierung Riesters unterstrich dieses Ansinnen.
Die Kaltgestellten sperren sich Sehr schnell allerdings musste der Schattenminister Riester zur Kenntnis nehmen, dass der Wind in der Partei härter wehte als in der Gewerkschaft. Riester war bislang in seinen Parteifunktionen stets der „Gewerkschafter“ gewesen, dem ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zugestanden wurde. Nun forderten die verschiedenen Zentren der Partei von ihrem Kandidaten Disziplin ein. Allerdings fiel Riester durch provokante Ankündigungen auf. Frühzeitig ließ er durchblicken, dass er getreu seiner bisherigen Meinung eine Rentenreform für notwendig hielte.20 Er erwog, das Kindergeld an die Einkommenslage zu koppeln und wollte die Frührente zur Beschäftigungsförderung ausbauen. Zugleich plädierte er für die Wahlversprechen der Partei nach Wiedereinführung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, kündigte die Rücknahme der Rentenkürzung und die Einführung einer Mindestsicherung gegen Armut im Alter an. Und obendrein versprach der Kandidat, dass dieses ohne Steuererhöhungen ablaufen solle.21 Die Medien fiel es deswegen leicht, Widersprüche zwischen Riesters Aussagen und dem Wahlprogramm der SPD herauszuarbeiten.22 Die SPD-Bundestagsfraktion bot Riester in dieser Phase nur wenige Plattformen, um sich im Vorfeld des Wahlkampfs angemessen darstellen zu können.23 Von Schröder als „Kartell der Mittelmäßigkeit“24 diffamiert, sahen sich die Abgeordneten in der Pflicht, dem Umsteiger seine Grenzen aufzuzeigen. Immerhin waren etliche durch die Jahre der Opposition, der Tristesse und der Hilflosigkeit gegangen. Schröder stach mit der Nominierung Riesters außerdem deren stellvertretenden Vorsitzenden Rudolf Dreßler aus, der gleichzeitig Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) in der SPD war, der als profilierter sozialpolitischer Experte von Partei und Fraktion galt und noch 1994 18 Vgl. Peters, Jürgen u.a.: In freier Verhandlung, Dokumente zur Tarifpolitik der IG Metall von 1945 bis 2003, herausgegeben von Peters, Jürgen, bearbeitet von Gorr, H. unter Mitarbeit von Steinkühler, Franz/Janßen, Hans/Schild, Armin/Scherer, Peter/Unterhinninghofen, Hermann/Kiel, R./Achten, Udo/Erb, D., Göttingen 2003. 19 Vgl. Zwickel, Klaus: Die nicht-gewollte Wende, in: werden 96/97, Jahrbuch für die deutschen Gewerkschaften, 1996, S. 27-31. 20 Vgl. Trampusch, Christine: Sequenzorientierte Policy-Analyse, in: Berliner Journal für Soziologie, H. 1/2006, S. 55-76, hier S. 68. 21 Vgl. o.V.: Fehlstart des Dreamteams, in: Focus, 11.05.1998. 22 Vgl. Nöh, Hans-Joachim: Wenn Politiker ihre eigenen Programme nicht kennen, in: Welt am Sonntag, 10.05.1998; o.V.: Maximale Verwirrung um die Mindestrente, in: Süddeutsche Zeitung, 08.05.1998. 23 Vgl. Hujer, Marc: Die ganz, ganz andere Meinung der SPD, in: Süddeutsche Zeitung, 24.06.1998. 24 O.V.: Jetzt ist Struck dran, in: die tageszeitung, 06.09.1995.
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dem Schattenkabinett von Kanzlerkandidat Rudolf Scharping angehört hatte. Dreßler und mit ihm ein nicht unerheblicher Teil der SPD-Bundestagsfraktion ließen umgehend verlauten, dass sie sowohl von der Personalie als auch vom Stil Schröders, der Dreßler im Vorfeld nicht konsultiert hatte, nicht überzeugt seien.25 Obwohl Riester Parteifunktionen ausgeübt hatte, war er aus Sicht eines erheblichen Teils der Bundestagsfraktion ein Parvenü. Hier unterschied sich Riester auch erheblich von den bereits erwähnten anderen Umsteigern aus der Gewerkschaft. Fast alle hatten vor einem Ministeramt Erfahrung als Parlamentarier gesammelt und dabei auch die harten Oppositionsbänke kennen gelernt. Riester hingegen war stets ein Gestalter gewesen. Gerade als Tarifpolitiker setzte er Politik um, während die Bundestagsabgeordneten der SPD in den 1980er und 1990er nur mit ansehen konnten, wie andere die Gestaltungsmehrheit besaßen.
Riesters fehlende Hausmacht und das Ränkespiel der „Enkel“ Mit seinem Wechsel nach Frankfurt 1993 war Riester aus dem Landesvorstand der SPD in Baden-Württemberg ausgeschieden. Somit verfügte er Ende der 1990er Jahre innerhalb der Partei über kein Machtzentrum, welches ihn stützen würde. Auch verzichtete er bei der Bundestagswahl 1998 auf ein Bundestagsmandat. Bereits in dieser frühen Phase wurde zudem deutlich, dass er sich auch in den Gewerkschaften mit seinen unorthodoxen Vorschlägen zahlreiche Gegner gemacht hatte. Führende Sozialpolitiker der Gewerkschaften wie Horst Schmitthenner oder Ursula Engelen-Kefer fürchteten, dass Riester – aus der Beschlusslagendisziplin der Gewerkschaften entlassen – seine Meinung direkt und unmittelbar vertreten würde.26 Riester konnte sich also weder auf die Fraktion noch auf die Gewerkschaften verlassen. Mit dem Wahlsieg von Rot-Grün 1998 wurde dieser Umstand nun offensichtlich. In den Koalitionsverhandlungen versuchten Dreßler und Lafontaine die Verhandlungen im Bereich Arbeits- und Sozialpolitik an sich zu ziehen. Dabei ging es unter anderem um die Frage der demografischen Entwicklung. Die SPD hatte vor der Wahl angekündigt, den unter Helmut Kohl eingeführten Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenversicherung zu streichen. Dieses war Konsens unter den Sozialpolitikern. Streit gab es allerdings darüber, ob der demografischen Entwicklung anderweitig Rechnung zu tragen sei. Riester, sekundiert von den Grünen sowie seinen designierten parlamentarischen Staatssekretären, plädierte dafür und stieß deswegen aber bei Dreßler sowie einer Vielzahl der Fraktionsmitglieder auf Ablehnung und scheiterte damit schließlich.27 Hart und erfolgreich kämpfte er dafür, dass die Einnahmen der Ökosteuer der Rentenkasse zufließen würden, nachdem ausgerechnet Oskar Lafontaine dieses Wahlversprechen plötzlich in Frage gestellt hatte.28 Vollkommen unübersichtlich wurde die Lage beim Thema geringfügige Beschäftigung und Scheinselbstständigkeit. Während in der SPD eine Abschaffung durchaus auf Zustimmung stieß, rangen
25 Vgl. Franz, Markus: Neun Köpfe für den Sieg, in: die tageszeitung, 28.05.1998; o.V.: Verlierer unter lauter Siegern, Süddeutsche Zeitung, 25.05.1998. 26 Vgl. Riester 2004, S. 72. 27 Vgl. ebd., S. 82 ff. 28 Vgl. Schröder 2007, S. 111.
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sich die Koalitionsparteien zunächst auf einen Kompromiss durch, den Gerhard Schröder in seiner ersten Regierungserklärung als Bundeskanzler umgehend wieder in Frage stellte.29
Sperrige Vorgaben umsetzen Als Bundesarbeitsminister musste Riester schnell zwei Erfahrungen machen. Erstens zählt es wenig, Wahlversprechen einzulösen, wenn zugleich unerwartete Einschränkungen oder Veränderungen auf die Menschen zukommen. Zweitens sind sozialpolitische Fragestellungen mit einer Vielzahl von Details versehen, sodass schon ein einzelnes, falsch oder zureichend formuliertes Detail im Gesetz zu großer Aufregung führt. Bereits im November und Dezember 1998 schloss die rot-grüne Koalition jene Gesetzesvorhaben ab, mit welchen einige strittige sozialpolitische Entscheidungen der Regierung Kohl korrigiert wurden. In Riesters Ressortbereich fielen drei wichtige Entscheidungen: Die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall stieg von 80 wieder auf 100 Prozent. Der Kündigungsschutz in Kleinbetrieben wurde wiederhergestellt.30 Und um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, legte die Regierung ein Sofortprogramm auf.31 Doch die Regierung bekam keine Chance, derartige Wohltaten zu feiern. Riester musste die Details aushandeln zur Reform der Scheinselbstständigkeit und zur geringfügigen Beschäftigung, zudem drohten in Anbetracht der Haushaltslage Milliardeneinsparungen im Sozialetat.32 Für die Umsetzung der Reformvorhaben brachte Riester gute Voraussetzungen mit, schließlich war er als Tarifexperte der IG Metall über Jahre mit komplexen Regelungen und deren Implementierung vertraut. Doch Gesetzgebungsvorhaben besitzen einen anderen Charakter als Tarifverhandlungen. Während letztere vor dem Hintergrund des jeweiligen Kräfteverhältnisses unmittelbare Interessensausgleiche zwischen Arbeitnehmern und Unternehmern darstellen und ihre Umsetzung vielfach von den Betriebsparteien flexibel gehandhabt werden kann, dekretiert eine politische Mehrheit mittels eines Gesetzes oder einer Verordnung einen Rechtszustand, der für alle verbindlich ist. Das bedeutet, dass es wahrscheinlich immer eine qualitativ bedeutende Minderheit geben wird, welche aus inhaltlichen oder taktischen Gründen gegen eine Regelung opponiert. Seiten- oder Quereinsteiger machen oftmals die bittere Erfahrung, dass in der Politik dann nicht das bessere Argument oder Konzept zählt, sondern reine Macht- und Taktikspiele, die zudem medial in ihrer Wirkung verstärkt werden. Riester gab seine Schwierigkeiten in seiner Autobiografie unumwunden zu, wenn er folgendes schrieb: „Im Ministerium wie auch in der politischen Arena wurde mir alsbald signalisiert, dass ich mir die dort geltenden Spielregeln anzueignen hätte.“33 Riester jedenfalls hatte alle Hände voll zu tun, die zahlreichen Baustellen zu bearbeiten, die sich ihm auftaten. Schröder gab bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen dem Druck aus der Wirtschaft langsam nach. Lafontaine wollte mit Blick auf anstehende 29
Vgl. Lafontaine 1999, S. 161 ff. Vgl. Schmidt, Manfred G.: Rot-grüne Sozialpolitik (1998-2002), in: Egle, Christoph/Ostheim, Tobias/Zohlnhöfer, Reimut (Hrsg.): Das rot-grüne Projekt. Eine Bilanz der Regierung Schröder 1998–2002, Wiesbaden 2003, S. 239-258, hier S. 242 f. 31 Vgl. o.V.: Der Kulturkampf, in: Capital, 22.08.2002. 32 Vgl. Trampusch 2006, S. 69. 33 Riester 2004, S. 94. 30
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Wahlen von einer Reform gänzlich abrücken, wohingegen die Bundestagsfraktion sich auf Riesters Seite schlug, als Schröder und Lafontaine einen Kompromiss aushandelten, der im Kern nur wenig an der bisherigen Regelung änderte und den Riester als „wahrscheinlich beste Lösung“ zu verteidigen hatte.34 Die Rentenpolitik drängte zudem mehr und mehr in den Fokus des ministeriellen Handelns. Die IG Metall begann sich lautstark für die Rente mit sechzig Jahren auszusprechen, ein Vorschlag, den Riester als Teil einer Beschäftigungsstrategie zur Schaffung von Arbeitsplätzen für Jüngere in die Debatte einbrachte.35 Doch während er hierfür Rückendeckung durch den Bundeskanzler erfuhr,36 äußerte sich Oskar Lafontaine kritisch, der dafür plädierte, die Leistungen für Arbeitslose und Pflegebedürftige an eine materielle Bedürftigkeitsprüfung zu koppeln und mithin die Leistungen erheblich einzuschränken oder für etliche Leistungsempfänger ganz zu streichen.37 Kurzum: Die Bundesregierung vermittelte in dieser Frühphase ihrer Amtszeit den Eindruck, als ermangele es ihr an Einigkeit über die künftige Entwicklung ihrer Politik. Gerade in der Sozialpolitik war die Kakophonie deutlich vernehmbar geworden. Dass überdies alle möglichen Details Anlass zur Debatte boten und wiederholt Korrekturen und Nachbesserungen erforderlich waren, bot kein gutes Bild zu Beginn der rot-grünen Regierungszeit. Darüber geriet auch Riester unter Druck. Die Gewerkschaften erwiesen sich in dieser Situation als Unterstützer Riesters und intervenierten vorsorglich beim Kanzler, dass er ihn nur ja in der Regierung halte.38
Auf dem Weg zur Riester-Rente Riesters Probleme als Minister lassen sich exemplarisch an der Rentenpolitik veranschaulichen. Unter Norbert Blüm war eine schleichende Kürzung der Rentenbezüge beschlossen worden, um die Beiträge stabil zu halten. Die rotgrüne Koalition setzte diese Kürzung zunächst aus und wollte die Zwischenzeit für eine umfassende Rentenreform nutzen. Dass die Debatte um eine Rentenreform nicht leicht werden würde, musste Riester klar sein. Er befeuerte jedoch die Debatte zunächst noch dadurch, dass er ankündigte, die bisherige Rentenanpassung nach den Nettolöhnen auf den Prüfstand zu stellen.39 Um Beitragserhöhungen zu vermeiden, stellte Riester die Anpassung für zwei Jahre auf das Inflationsniveau um, was im zweiten Jahr teurer kam als der ursprüngliche Mechanismus, sodass von diesem Instrument wieder Abstand genommen wurde. Der Eindruck einer Rentenpolitik nach Kassenlage entstand. Die nervösen Reparaturen am Rentensystem erhöhten den Reformdruck für Riester immens. Auch seine Forderung nach der Rente mit 60 trug dazu bei. Nachdem es nicht gelang, in beiden Vorhaben die Sozialpartner, insbesondere die Gewerkschaften, zu einem
34
O.V.: Einsamer Reformer, in: Focus, 22.02.1999; Riester 2004, S. 109 f. Vgl. o.V.: Riester: Schon mit 60 Jahren in Rente, in: die tageszeitung, 02.11.1998. 36 Vgl. Lafontaine 1999, S. 165. 37 Vgl. o.V.: Gewagter Alleingang, in: Focus, 02.11.1998; Hanke, Thomas: Oskar macht Dampf, in: Die Zeit, 45/1998. 38 Vgl. Riester 2004, S. 116. 39 Vgl. ebd., S. 137. 35
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Tariffonds zu bewegen,40 sah sich Riester veranlasst, grundlegend über eine Reform der Rente nachzudenken. Auf jeden Fall sollten die Sozialabgaben niedrig gehalten werden, in der Hoffnung, so mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Deswegen sollte das Rentenniveau abgesenkt werden, zugleich aber die Arbeitnehmer zu einer privaten Vorsorge verpflichtet werden. Ein ähnliches Modell war zuvor schon in Schweden implementiert worden.41 Insofern hatte Riester durchaus auch ein Referenzmodell zu bieten. Doch begab er sich mit diesem Konzept zwischen sämtliche Stühle der innenpolitischen Auseinandersetzung. Die Opposition schalt den Minister zum wiederholten Male der Rentenlüge.42 Die Bild-Zeitung assistierte und sprach von der „Zwangsrente“43, deren verpflichtender Charakter nun auch vom grünen Koalitionspartner und vom Spitzenverband der Arbeitgeber rundweg abgelehnt wurde.44 Die Sozialpolitiker in der SPD-Bundestagsfraktion und mit ihnen die Gewerkschaften widersetzten sich Riesters Ansinnen sehr grundlegend.45 Dennoch gelang es, für die Eckpunkte 1999 eine Mehrheit in der SPD-Bundestagsfraktion zu erzielen. Da 1999 die SPD aus den Landesregierungen in Hessen, im Saarland und in Thüringen abgewählt worden war und die absolute Mehrheit der SPD in Brandenburg verloren gegangen waren, musste die Bundesregierung im Bundesrat fortan mit der Union kooperieren. Angesichts der dortigen Mehrheiten und wegen des emotional stark aufgeladenen Themas, suchte die Bundesregierung Wege, wie sie ein überzeugendes Konzept vorlegen und für dieses auch gesellschaftliche Unterstützung erhalten konnte. Riester fand dabei Bündnispartner in seiner Partei und bei den Gewerkschaften. Zugeständnisse beim Rentenniveau, staatliche Zulagen zur Unterstützung der privaten Vorsorge und ein realistischer Zeitplan waren die Instrumente, um IG Metall-Chef Klaus Zwickel und den DGB-Vorsitzenden Dieter Schulte einzubinden und um die SPD-Fraktion zu umwerben. Mit Gerhard Schröder zusammen räumte er zugleich Konfliktpunkte mit den Gewerkschaften in anderen Politikfeldern aus.46 Dennoch blieben die Gewerkschaften bei zahlreichen Punkten hart und nutzen alle Möglichkeiten, die ihnen zur Verfügung standen und setzten über die Bundestagsfraktion schließlich Korrekturen bei einem sehr wichtigen Detail der Reform, dem sogenannten Ausgleichsfaktor, durch.47 Die anfangs ablehnenden Gewerkschaften waren dennoch im Laufe des Rentenreformprozesses zur entscheidenden Stütze geworden, die auch dazu beitrug, die Arbeitnehmerschaft der CDU/CSU zum Einlenken zu bewegen. Es war Riesters Strategie zu verdanken, dass es gelang, die Gewerkschaften überhaupt einzubinden. Doch nun wurde er die Geister, die er rief, nicht wieder los. Gerade weil sie eine zentrale Stütze geworden waren, verlangten die Gewerkschaften weitere Korrekturen. Das Rentenniveau durfte deswegen nicht in dem Maße abgesenkt werden, wie es geplant war. 40 Vgl. ebd., S. 134; Höfer, Max A.: Die Rente mit 60 kommt nicht, in: Capital, 01.12.1999; Trampusch 2006, S. 68. 41 Vgl. Schäfer, Ulrich: Digitales Volksheim, in: Der Spiegel, 08.05.2000. 42 Vgl. Hagelücken, Alexander: Ein gewaltiges Finanzierungsproblem, in: Süddeutsche Zeitung, 14.04.2000; Stadlmayer, Tina: Riester zwischen den Fronten, in: die tageszeitung, 21.06.2000. 43 Zitiert nach Reiermann, Christian/Sauga, Michael: Noch mehr Zugeständnisse, in: Der Spiegel, 19.06.2000. 44 Vgl. Stadlmayer, Tina: Riester zwischen den Fronten, in: die tageszeitung, 21.06.2000; Riester 2004, S. 141; o.V.: Arbeitgeber bestehen auf freiwilliger Privatrente, in: Berliner Zeitung, 21.06.2000. 45 Vgl. Niejahr, Elisabeth u.a.: „Dann geh doch!“, in: Der Spiegel, 03.05.1999; Stadlmayer, Tina: Riester zwischen den Fronten, in: die tageszeitung, 21.06.2000. 46 Vgl. Riester 2004, S. 154 f. 47 Vgl. o.V.: Kürzungen für alle Rentner, in: Hamburger Abendblatt, 14.12.2000; Riester 2004, S. 160.
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Riester musste erleben, dass im Zuge seines Gesetzgebungsvorhabens die außerparlamentarischen Bündnispartner mitunter sehr flexibel reagierten, als sie spürten, dass die Entscheidungsträger im Parlament ihnen entgegen kamen. Der Beratungsprozess im Bundestag verwässerte Riesters Reform immer mehr. Allerdings gelangte über diesen Weg die Opposition zunehmend in die Defensive, da sie keine Alternative aufzeigen konnte. Der Bundestag ließ die Reform schließlich passieren. Die Mehrheit im Bundesrat sicherte sich die Bundesregierung sich letztlich durch weitere punktuelle Zugeständnisse. Zu diesen gehörte die Zusicherung von Behördensitzen, um die Großen Koalitionen von Berlin und Brandenburg zur Zustimmung zu bewegen.48 Die große Rentenreform, deren zentraler Baustein die private und kapitalgedeckte Rente war – die fortan als Riester-Rente firmierte –, trat in Kraft. Riester war von den langwierigen Beratungen und den unzähligen Detailverhandlungen sichtlich erschöpft. Gerade das Reformvorhaben der Riester-Rente eignet sich hervorragend, um den Nutzwert eines Seiteneinsteigers abseits der wahltaktischen Funktionen zu erläutern: Riester erfüllte nämlich eine ungemein wichtige strategische Scharnierfunktion in der Reformdebatte. Er war einerseits der personifizierte Garant für die Berücksichtigung der Arbeitnehmerinteressen. Andererseits wurde er als Handlanger der Regierung in die Gewerkschaften hinein verstanden, weswegen ihm einige Gewerkschaftskollegen den Austritt aus der IG Metall empfahlen.49 Riester erfüllte damit die Erwartungen, die an ihn als Seiteneinsteiger gerichtet wurden und setzte sich damit zugleich zwischen alle Stühle. Das galt auch bei vielen anderen, nicht minder schwerwiegenden Debatten während Riesters Amtszeit. Bei der Modernisierung des Betriebsverfassungsgesetzes musste sich Riester des Widerstands des parteilosen Wirtschaftsministers Werner Müller erwehren, zugleich die Interessen der Gewerkschaften berücksichtigen und die Einwände von BDI und BDA zur Kenntnis nehmen.
Ein zuständiger Minister als Statist Obwohl sich Riester sowohl bei der Rentenreform als auch beim Betriebsverfassungsgesetz im Wesentlichen durchsetzte, kam der Bundesminister keineswegs aus der Schusslinie. Besonders im Wahljahr kulminierte der Druck. Der Stern enthüllte im November 2001, dass Riesters Ministerium einen Auftrag für das europäische Programm EQUAL ohne Ausschreibung vergeben hatte.50 Die Opposition forderte aufgebracht den Rücktritt des Ministers.51 In letztere Sekunde konnte Riester die Entscheidung revidieren, die betreffenden Verantwortlichen im Ministerium von ihren Aufgaben entbinden und so Luft gewinnen.52 Doch der Minister wankte weiter. Im Frühjahr 2002 verdichteten sich die Gerüchte, dass der Rentenbeitrag angehoben werden müsste, obwohl genau das durch die Rentenre-
48 Vgl. o.V.: Reform nimmt letzte Hürden, in: Spiegel Online, 11.05.2001, http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/ 0,1518,133165,00.html [eingesehen am 28.02.2008]. 49 Vgl. Riester 2004, S. 200. 50 Vgl. o.V.: Riester droht Ärger, in: Stern, 08.11.2001; o.V.: Donnerwetter aus Brüssel, in: Stern, 22.11.2001. 51 Vgl. Hagelücken, Alexander: Stürme um Riesters Haus, in: Süddeutsche Zeitung, 03.01.2002; Irion, Christoph: Minister Riester wehrt sich gegen Forderungen nach Rücktritt, in: Berliner Morgenpost, 05.01.2002; ders./Jahn, Olaf: Riesterdämmerung, in: Berliner Morgenpost, 08.01.2002. 52 Vgl. o.V.: Überprüfung der Projektvergabe zeigt Riesters Schwachstellen, in: Die Welt, 30.01.2002.
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form vermieden werden sollte, doch der konjunkturelle Einbruch ließ keine Wahl.53 Ökonomen, Medien, Verbraucherschützer und Versicherer nahmen die private Zusatzrente gleichsam ins Visier und bemängelten deren angeblich niedrige Renditen.54 Trotz der ständigen Gerüchte in den Medien über die bevorstehende Ablösung Riesters hielt er bis zum Ende der Legislaturperiode durch, was im ersten Kabinett Schröders durchaus bemerkenswert war. Schließlich hatte es nicht weniger als sieben Wechsel auf den Ministerposten gegeben. Und Riester erhielt noch einen besonderen Vertrauensbeweis: In einem der beiden Fernsehduelle mit Unionskanzlerkandidat Edmund Stoiber versicherte Schröder, dass Riester im Falle eines neuerlichen Wahlsiegs von Rot-Grün selbstverständlich Arbeitsminister bleibe.55 Riesters schleichender, doch systematischer Niedergang ließ sich dennoch nicht aufhalten. Die Attentate von New York und Washington am 11. September 2001 verstärkten die Tendenzen einer weltweiten Rezession, die ausgerechnet im Wahljahr 2002 in voller Wucht den deutschen Arbeitsmarkt erreichte. Bis Mitte 2001 war die Arbeitsmarktpolitik eher davon geprägt, dass nur wenige Aktivitäten seitens der Bundesregierung ergriffen wurden. Der Reformeifer der Anfangsmonate verklang,56 als Riester sich vorrangig um die Rentenreform kümmerte. Im Bündnis für Arbeit war Riester zwar vertreten, aber der Bundeskanzler und der Chef des Bundeskanzleramts waren für die Koordination zuständig, nicht der Bundesarbeitsminister.57 Riester war in der zentralen politischen Aufgabe – der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit – als zuständiger Arbeitsminister lange Zeit nur Statist. Solange die Arbeitslosigkeit sank, wie dieses bis 2001 der Fall war, konnte Schröder für sich die Erfolge in Anspruch nehmen. Mit der wieder anwachsenden Arbeitslosigkeit verschob sich die Verantwortung jedoch den Arbeitsminister, der nun tätig wurde. Im September 2001 beschloss der Bundestag das gründlich vorbereitete Job-AQTIV-Gesetz, das am 1. Januar 2002 in Kraft trat. Doch inmitten einer rezessiven Phase konnte das Gesetz seine Wirkung nicht entfalten. Hinzu kam, dass in Anbetracht des bevorstehenden Wahltermins die Bundesregierung keine Zeit hatte, auf eine sich langsam entfaltende Wirkung dieses Gesetzes zu warten. So zündete die Regierung in der Schlussphase ein wahres Reformfeuerwerk. Im Februar beschloss die Bundesregierung, ein Modell für den Kombilohn. Nachdem der Bundesrechnungshof aufdeckte, dass die Vermittlungszahlen bei der Bundesanstalt für Arbeit geschönt waren, eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten, um Reformen auf dem Arbeitsmarkt zu implementieren. Die Bundesregierung dehnte die private Arbeitsvermittlung aus, reformierte die Führungsstrukturen der Bundesanstalt für Arbeit, ersetzte deren Präsidenten durch den rheinland-pfälzischen Sozialminister Florian Gerster (SPD) und berief schließlich eine Kommission unter Führung des Personalvorstands des Volkswagenkonzerns, Peter Hartz, um einen umfassenden Katalog zur Reform des Arbeitsmarkt zu erarbeiten. 53 Vgl. o.V.: Riesters PR-Desaster, in: Spiegel Online, 14.06.2002, http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518, 201394,00.html [eingesehen am 14.09.2007]. 54 Vgl. o.V.: Riester-Rente: Renditen doch niedriger als gedacht, in: Spiegel Online, 10.06.2002, http://www. spiegel.de/wirtschaft/0,1518,200207,00.html [eingesehen am 14.09.2007]. 55 Vgl. Aust, Stefan/Steingart, Gabor: „Die haben zu früh triumphiert“, in: Der Spiegel, 16.09.2002; Müller-Vogg, Hugo: „Lügen-Ausschuss“: Die Beweislage ist erdrückend, in: Welt am Sonntag, 08.12.2002; Hoffmann, Andreas: Ein „erstklassiges Lehrstück“, in: Süddeutsche Zeitung, 03.05.2004. 56 Vgl. Blancke, Susanne/Schmid, Josef: Bilanz der Bundesregierung Schröder in der Arbeitsmarktpolitik, in: Egle/Ostheim/Zohlnhöfer (Hrsg.) 2003, S. 215-238, hier S. 219. 57 Vgl. Riester 2004, S. 133.
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Rolf G. Heinze sieht in der SPD wie in den Gewerkschaften zentrale Vetospieler, welche sich unter dem Eindruck dieses Skandals disziplinieren ließen.58 Wahrscheinlich ist Heinzes Fokus auf diese beiden potenziellen Veto-Spieler zu eng, allerdings ist Heinze dahingehend zuzustimmen, dass es unter den Umständen des Vermittlungsskandals ein Möglichkeitenfenster gab, welches es anderenfalls nicht gegeben hätte. In dem Maße, wie Rot-Grün damit auf dem Feld der Arbeitsmarktpolitik wieder Handlungsbereitschaft signalisierte, blieb ihr eigener Arbeitsminister im Hintertreffen. Er war nicht Mitglied der HartzKommission und musste mitansehen, wie der neue Präsident der Bundesanstalt für Arbeit sich durch eine Reihe „unkonventioneller Forderungen“59 profilierte. Zu einer regelrechten Ideenschmiede wurde die Hartz-Kommission. Im Juni und Juli sickerten erste Vorschläge durch und im August, rund einen Monat vor der Bundestagswahl, präsentierte die Kommission ihr Konzept, das etliche Wortschöpfungen hervorbrachte, wie zum Beispiel Ich-AG, JobFloater, PersonalServiceAgentur, JobCenter und Ähnlichem. All das suggerierte Aufbruch und Entschlossenheit, den Riesters Ministerialverwaltung nicht entwickeln konnte.60 SPD und Grüne, aber auch die Gewerkschaften stellten sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund des nahenden Wahltermins hinter das Konzept. Riester versprach zudem zeitnah die ersten Maßnahmen umzusetzen.61 Mühselig arbeitete sich Riester zurück ins Feld der politischen Auseinandersetzung, doch nach der knapp gewonnenen Bundestagswahl – Riester zog nun über die Landesliste Baden-Württemberg in den Bundestag ein – ließ ihn Schröder fallen, denn Wolfgang Clement drängte ins Kabinett. Schröder wollte zudem eine engere Verbindung aus Wirtschaftsund Arbeitsmarktpolitik. Zu diesem Zweck fusionierten die beiden Ministerien. Die Kompetenz für die Rentenversicherung wurde dem Gesundheitsministerium zugeschlagen. Für Riester war in dieser Gemengelage kein Platz mehr. Schröder fiel die Entscheidung menschlich schwer, was auch Riester nicht verborgen blieb.62
Fazit Walter Riester steht am Ende einer langen Reihe von Gewerkschaftsfunktionären, die für die Sozialdemokratie Mandate und Regierungsämter ausübten. Seine Amtszeit war von einer Reihe schwieriger Reformen geprägt. Er musste Vorgaben aus den Koalitionsverhandlungen umsetzen, die gesellschaftlichen Widerstand hervorriefen. Mit der Rentenreform halste sich Riester ein Reformwerk auf, das sowohl von der Materie als auch von der politischen Umsetzbarkeit her kompliziert war. Riester brachte in alle Themen Detailkenntnisse ein. Bei der Rentenreform war es gerade seine Scharnierfunktion als Gewerkschafter im Ministerrang, welche eine außerparlamentarische Interessenkoalition herbeiführte, die es der rot-grünen Bundesregierung ermöglichte, das Gesetzgebungsvorhaben auch durch den unionsdominierten Bundesrat zu bringen. Riester musste allerdings zugleich erleben, dass die Gesetzmäßigkeiten des politischen Geschäfts in Bonn beziehungsweise Berlin anders 58 Vgl. Heinze, Rolf G.: Das „Bündnis für Arbeit“ – Innovativer Konsens oder institutionelle Erstarrung, in: Egle/Ostheim/Zohlnhöfer (Hrsg.) 2003, S. 137-161, hier S. 155. 59 Blancke/Schmid 2003, S. 228. 60 Vgl. o.V.: Der Kulturkampf, in: Capital, 22.08.2002. 61 Vgl. o.V.: Riesters Aktionismus, in: Berliner Zeitung, 14.09.2002; Viering, Jonas: Riester beginnt Arbeitsmarktreform, in: Süddeutsche Zeitung, 05.09.2002. 62 Vgl. Riester 2004, S. 232; Schröder 2007, S. 271.
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sind als in der Frankfurter Vorstandszentrale der IG Metall. Obwohl Riester langjährige parteipolitische Erfahrung einbrachte, betrat er als Minister Neuland. Die SPD-Bundestagsfraktion beäugte ihn kritisch. Zahlreiche Mitarbeiter im Ministerium misstrauten dem neuen ersten Mann. Die Medien stürzten sich früh auf den im Tagesgeschäft der Bundespolitik unerfahrenen Politiker. Doch gelang es ihnen zu ihrem eigenen Verdruss nicht, den Minister zu Fall zu bringen. Fraktion, Gewerkschaften und Partei waren keine dauerhaften stabilen Stützen für Riester. Durchhalten konnte er, weil der Kanzler hinter ihm stand. Doch diese Machtbasis war schmal. Der Kanzler brauchte ihn als Übersetzer, als Macher, Moderator und Brückenbauer bei komplexen Materien und schwierigen Interessenlagen – was Riester nicht davor schützte, dass er etwa bei den geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen von Schröder vorgeführt wurde. Riester stürzte schließlich nach der Bundestagswahl 2002 darüber, dass er in einem zentralen Reformfeld, der Arbeitsmarktpolitik, kein Akteur war. Zwar bearbeitete die Bundesregierung dieses Arbeitsgebiet insgesamt bis 2001 eher zurückhaltend, auf eine Kombination aus extern induziertem Wirtschaftswachstum und dem Bündnis für Arbeit – das freilich nur wenige Erfolge vorweisen konnte – vertrauend. Nach der knapp gewonnenen Wahl 2002 aber wollte der Bundeskanzler eben hier Erfolge zu erzielen. Dazu brauchte es eines „optischen Signals“, wie Gerhard Schröder meinte.63 Dieses lag in der Zusammenlegung der Ressorts für Wirtschaft und Arbeit. Damit einher ging fast zwangsläufig ein personelles Revirement.64 Der an der Sache orientierte, fleißige Reformer Riester versprühte nicht den Elan, wie er von Schröder nach dem knappen Wahlsieg für erforderlich gehalten wurde. Dass Riester über seine Ablösung keine anhaltende Verbitterung zeigte – im Gegensatz zu seiner Frau Renate – irritierte die Medienvertreter.65 Riester scheiterte nicht an den politischen Abläufen, Prozessen, Machtintrigen oder an besonderer Medienhetze. Das war ihm von Anfang an bewusst, wenngleich ihn die Härte überraschte, mit der dieses in der Bundespolitik ausgetragen wurde. Riester war allerdings bedingt durch diese Umstände angeschlagen, sodass es wiederum wenig verwunderlich war, als Gerhard Schröder unter Berücksichtigung des knappen Wahlsiegs seiner Koalition 2002 eine Neuaufstellung seines Kabinetts vornahm. Riesters zentrale Rolle als personifizierter Brückenschlag von Rot-Grün zu den Gewerkschaften war nach der Bundestagswahl 2002 ebenfalls obsolet geworden. Riester erfüllte keine besondere Funktion mehr. Gerhard Schröders Regierung ging dazu über, Politik notfalls gegen die Interessensverbände zu inszenieren und durchzusetzen. Im Zuge dessen gehörte nach 2002 das erste Mal einer Bundesregierung unter sozialdemokratischer Beteiligung kein führendes Mitglied einer deutschen Gewerkschaft an. Insofern ist Riester vorerst der letzte klassische gewerkschaftliche Quereinsteiger.
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Riester 2004, S. 233. Vgl. ebd. 65 Vgl. Feldenkirchen, Markus: „Keiner, der nachtragend ist“, in: Der Spiegel, 03.05.2004. 64
Michael Naumann – Schröders Glanz und Hamburgs Gloria Michael Lühmann
Prolog: der Rückkehrer Seiteneinsteiger kommen und gehen, sie bleiben, wenn sie nicht schon im Wahlkampf oder spätestens nach der Wahlnacht kometenhaft verglüht sind, eine Weile in der Politik. Manche setzen sich fest, andere verschwinden über Nacht. Das Odium des Scheiterns in der Politik haftet ihnen am Ende der oft kurzen Karriere ebenso an wie am Anfang das Exotische, das Aufregende oder wenigstens: das Sachkompetente. Doch eines ist den meisten Seiteneinsteigern gemein: Wenn sie scheitern, dann sind sie weg, verbraucht, verbrannt und selten noch gut gelitten. Die Förderer von einst distanzieren sich im Wettlauf mit den eigenen Parteigremien, die Medienlandschaft fällt ihr letztes Urteil, Vorhang zu, keine Fragen offen. Ein Comeback – unmöglich. Einer hat die Rückkehr auf die politische Bühne geschafft: Michael Naumann, ExVerleger, Ex-Kultur-Staatsminister, Ex-Zeit-Herausgeber, sodann SPD-Kandidat für das Amt des Ersten Bürgermeisters der Freien und Hansestadt Hamburg. Schon bei seiner Ernennung zum „Schatten-Kulturminister“ eines zukünftigen Kabinetts Schröder im Sommer 1998 brach im Feuilleton, im Kulturbetrieb und bei den politischen Kommentatoren Begeisterung aus – endlich ein Mann von Format.1 Die Personalie Naumann wurde als Gerhard Schröders intellektueller Coup gefeiert, war er doch nicht nur aufregender als Walter Riester und exotischer als Jost Stollmann, sondern auch der sprachgewandte Intellektuelle und eloquente Stichwortgeber eines neuen kulturpolitischen Selbstbewusstseins der Berliner Republik, nachgerade der Inbegriff der „ästhetischen Arrondierung der Neuen Mitte“.2 Als er zwei Jahre später den Bettel hinwarf, stand das Urteil ebenso fest. Der Kulturmann Naumann eigne sich nicht für die Politik, zu viel Ankündigung, zu wenig politisches Gespür. Die hohe Sachkompetenz wiege die mangelnde Politikkompetenz nicht auf – eine Kritik, die ihn von Anfang an begleitete.3 Und in der Tat hatte sich Naumann bereits zwei Woche nach seiner Ernennung den gesammelten Unmut der Kulturpolitiker und der Kulturredaktionen im Lande zugezogen. Als er zwei Jahre später den Staffelstab an Julian NidaRümelin weitergab, hatte er überdies im politischen Kultur-Zirkus der Berliner Republik viel verbrannte Erde hinterlassen, aber nur wenige seiner ehrgeizigen Ziele erreicht. Wenngleich ihm das Verdienst zugesprochen wurde, der Kultur überhaupt erstmals eine Stimme
1 Vgl. etwa Kipphoff, Petra: Der Abenteurer, in: Die Zeit, 23.07.1998; Schwarz, Patrik: Noch ein Mann wie Schröder, in: die tageszeitung, 20.07.1998. 2 Mangold, Ijoma: Körper der Bundesrepublik. Urbane Weltläufigkeit und Anmut der Neuen Mitte: Abschied vom rot-grünen Phänotyp, in: Süddeutsche Zeitung, 04.06.2005. 3 Vgl. etwa Baum, Gerhart: Wo bleibt die Politik? Was Michael Naumann verkehrt macht, in: Süddeutsche Zeitung, 29.07.1998; Hoffmans, Christiane: Sie nennen ihn Brummkreisel, in: Bunte, 15.06.2000; Wiegold, Thomas: Unpreußischer Rückzug, in: Focus, 27.11.2000; Chervel, Thierry: Fortgegangen aus Ruinen, in: Süddeutsche Zeitung, 24.11.2000.
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verliehen zu haben.4 Und so verlor Schröder mit Naumann seinen Vorzeige-Seiteneinsteiger, seinen Mann von Welt, wieder an die Zeit. Die glanzvolle Seiteneinsteiger-Karriere Naumanns schien beendet. Doch Michael Naumann kam wieder, fast sieben Jahre nach seiner freiwilligen Demission als Kulturstaatsminister hoben ihn die Hamburger Genossen als BürgermeisterKandidat aufs Schild. Die Reaktionen der Kommentatoren waren wieder überwiegend euphorisch; vergessen die Häme, die man über Naumann ausgeschüttet hatte, als er seinen Kultur-Job im Kanzleramt schmiss.5 Erneut strahlte da der Seiteneinsteiger, der dem Amt des Hamburger Ersten Bürgermeisters den nötigen hanseatischen Glanz verleihen könne und so die Hamburger SPD über Nacht aus der Versenkung holen sollte. Insofern ähnelten sich die Szenarien, dies verband das Jahr 1998 mit 2007. Doch es hatte sich auch etwas geändert, Naumann wirkte inzwischen professioneller, hatte nicht bereits nach zwei Wochen die kommentierende Klasse gegen sich aufgebracht. Auch strapazierte er die Hamburger Politik wesentlich weniger mit Ankündigungen, als er das noch 1998 mit der Kulturpolitik nach seiner Nominierung getan hatte. Er galt infolgedessen nicht mehr als der „Sprengsatz auf zwei Beinen“6, sondern als „Kandidat auf Augenhöhe“. Und das war nicht der einzige Unterschied zwischen dem Seiteneinstieg als Kulturstaatsminister und dem angekündigten Einstieg in die Hamburgische Bürgerschaft. Naumann war 1998 das intellektuelle Zugpferd der „Gerd-Show“, dessen glänzender Widerschein auch Schröder erstrahlen ließ. Sein Mentor Schröder war unangefochtener Medienstar, der Liebling der Meinungsumfragen. Aus diesem Gefühl der Stärke holte er Naumann in seine Mannschaft. Anders in Hamburg ein knappes Jahrzehnt später: Hier wurde Naumann mit Druck von außen implementiert, auch deshalb stand Naumann anfänglich unter kritischer Beobachtung bei den Hamburger Genossen, die er im Wahlkampf aber scheinbar von sich überzeugen konnte. Auch parteipolitisch war die Situation 1998 eine andere. Naumann musste sich nicht in der Partei bewähren, sondern sollte einen ministrablen Posten in der Regierung Schröder ausfüllen, ohne Mandat und Parteitagsgremien. In Hamburg hingegen stand er wie Phönix aus der Asche als Spitzenkandidat der Partei in der ersten Reihe. Doch selbst die prognostizierten Heckenschützen in der eigenen Partei verstummten,7 wenngleich die Zustimmung von 99,1 Prozent auf dem Nominierungsparteitag der SPD indes wohl mehr auf der Hoffnung auf bessere Zeiten als auf realer Unterstützung basierte. Und auch das Image Naumanns wandelte sich. Als Intellektueller, Weltbürger und Kulturmann ersten Ranges war ihm das Amt des Kulturstaatsministers quasi auf den Leib geschneidert. Für den Hamburger SPD-Kandidat wollte das gleiche Image nicht passen. So war Naumann befleißigt, seine schwierige Kriegs- und Nachkriegskindheit mit Hunger, Not und Armut als prägendes Selbstbild und Wurzel sozialdemokratischen Denkens stärker in den Mittelpunkt zu rücken, um den Ruf des Schöngeistes zu relativieren. 4 Vgl. etwa Wittstock, Uwe: Er macht die Kultur wieder zum Thema, in: Die Welt, 29.12.2000; Koch, Klaus Georg: Der Queraussteiger Michael Naumann hat der Kultur Selbstbewusstsein und der Politik Geist verliehen, in: Berliner Zeitung, 23.11.2000. 5 Vgl. etwa Casdorff, Stephan-Andreas: Klasse für Hamburg, in: www.tagesspiegel.de/meinung/kommentare/ ;art141,1978804 [eingesehen am 10.12.2007]; o.V.: Mit dem Bürgermeister auf Augenhöhe, in: Spiegel online, www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,470566,00.html [eingesehen am 10.12.2007]. 6 Mayr, Walter: Sprengsatz auf zwei Beinen, in: Der Spiegel, 21.12.1998. 7 Vgl. Meyer, Peter Ulrich: Der Kandidat braucht Berater. Michael Naumann und die SPD, in: Hamburger Abendblatt, 08.03.2007.
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Der Schöngeist, der aus der Armut kam Die vermeintlichen zwei Gesichter des Michael Naumann wurden mit Beginn des Hamburger Wahlkampfs, mit seiner Ernennung zum Bürgermeister-Kandidaten der SPD, offenbar. Sofort wurde sein Image als Schöngeist mit der Lebenswelt der „Abgehängten in Wilhelmsburg und Veddel“ kontrastiert. Er, der Weltenbürger und Feingeist als „Flaneur in den Niederungen“8 Hamburger SPD-Quartiere, deren beste Zeiten schon länger vorüber sind, wirke wie ein Fremdkörper, passe mithin nicht zur Hamburger SPD. Sein Image, das ihn als Kulturstaatsminister Schröders noch nicht anfocht, gar als guter Leumund diente, störte den wahlkämpfenden Naumann fortan bei Auftritten an der Basis der Partei. „Ich bin auf der Flucht im Leibchen in Hamburg angekommen, habe in Köln in Ruinen gewohnt. Ich weiß, was Armut ist.“9 Naumann zeigte sich bemüht, seine Herkunft vom hanseatischgroßbürgerlichen Flair zu entkleiden. Und in der Tat: Naumann ist nicht dem restaurierten bundesdeutschen Bürgertum der Nachkriegsjahre entstiegen, wohl aber – obwohl kein eingesessener Hanseat wie einige seiner Vorgänger im angestrebten Amt – in diese Sphären aufgestiegen. Fremd war ihm dieses Milieu freilich auch zuvor schon nicht. Naumann stammt aus feinen Kreisen der sachsen-anhaltischen Provinz; bürgerliche Repräsentanz und Distinktion sind ihm als jüngstem Sohn einer großbürgerlichen Familie bereits in die Wiege gelegt worden. Er wuchs vaterlos in der Fabrikantenvilla des Großvaters auf. Als dieser 1952 enteignet wurde, war die bürgerliche Repräsentation jedoch perdu. „Das heißt das gutbürgerliche Gebaren war noch da. Aber am Ende blieb nur noch ein Klavier. Das blieb dann später in der DDR“10, die Naumann mit seiner Mutter im März 1953 aus Angst vor einer Verhaftung durch die Staatssicherheit fluchtartig verließ. Als Jugendlicher wuchs Naumann in einem Kölner Flüchtlingsviertel auf, ein katholischer Jugendtreff im Viertel wurde zu seinem persönlichen Fluchtpunkt. Aus diesen Jahren zog er den unbedingten Aufstiegswillen, der spürbare Verlust bürgerlicher Attribute und Repräsentanz treib ihn an. Sein Vorbild hieß erst Frank Rüsak, der war Torhüter in seiner Klasse; später dann der Nationaltorhüter Fritz Herkenrath. Schließlich wurde Naumann Linksverteidiger, ging mit Stipendium in die USA und machte dort seinen Schulabschluss und tauschte Fußball äußerst erfolgreich gegen Basketball.11 Aus der sportlichen Karriere ist nie etwas geworden, aber die Kämpfernatur ist geblieben. Naumann fand seine Aufstiegsressourcen vielmehr auf bildungsbürgerlichem Weg. Nach dem Abitur 1963 wurde er Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung, studierte Politische Wissenschaften, Philosophie und Geschichte in Marburg und München. Er blieb als einer der besten Redner des studentischen Debattierclubs in der bayrischen Uni-Stadt in Erinnerung – Naumann der Studentenführer und Mädchenschwarm. Auch machte Naumann seine ersten Gehversuche als politischer Journalist, doch seine erste Zeitung wurde noch als pro-kommunistisch verdächtigt und umgehend verboten.12 Jahre später, bei der Zeit, galt er ob seiner Ehe mit der Tochter des BND-Chefs Gerhard Wessel hingegen als 8
Latsch, Gunter: Flaneur in der Niederung, in: Der Spiegel, 08.10.2007. Lehmann, Armin/Zick, Tobias: Kopf für die Kopflosen, in: Der Tagesspiegel, 09.03.2007. 10 Müller, Birgit: Der SPD-Retter, in: www.hinzundkunzt.de/hk/strassenmagazin/ausgabe/stadtgespraech/~article ~806/ [eingesehen am 09.12.2007]. 11 Vgl. o.V.: „Ich hole meinen Wehrdienst nach“, in: Kultur Spiegel, 01.03.1999. 12 Vgl. Mayr, Walter: Sprengsatz auf zwei Beinen, in: Der Spiegel, 21.12.1998. 9
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bürgerlicher CIA-Spitzel, der unter Stuck-Decken wohnte, während seine Freunde „vor den Bullen türmten“ und beim „Zeit-Magazin ihr Haschisch im Kühlschrank aufbewahrten“13. Sein beruflicher Werdegang wies zu diesem Zeitpunkt in der Tat bereits sehr bildungsbürgerliche Anzeichen auf, die Welt der „68er“ auf den Straßen Berlins, die Welt der Spontis, all das blieb Naumann letztlich doch sehr dezidiert fremd. Nach Abschluss seines Studiums 1969 volontierte Naumann beim Münchener Merkur und ging schließlich, nach einem kurzen Intermezzo beim für den alten Franz Burda zu zeitgeistigem Männermagazin M, nach Hamburg zur Zeit, wo er sich um das frisch gegründete Zeit-Magazin kümmerte. Zusammen mit Josef Joffe prägte er anschließend das Zeit„Dossier“, bevor er 1981 als Korrespondent nach Washington ging. 1983 wechselte er zum Spiegel, den er 1985 in Richtung Privatwirtschaft verließ. Zehn Jahre leitete er den Rowohlt-Verlag, wo er erstmals seinem späteren Förderer Gerhard Schröder begegnete, allerdings noch auf gegenüberliegenden Seiten. Als Naumann die Führung des Rowohlt-Verlags übernahm, meuterten die Autoren, unter ihnen sein späterer Kabinettskollege Joschka Fischer, der den SPD-Abgeordneten Freimut Duve als Rowohlt-Verleger unterstützte. Naumann setzte sich durch und Duve vor die Tür. Anwaltlich vertreten wurde Duve dereinst durch den Hannoveraner Rechtsanwalt Gerhard Schröder,14 der Naumann später als „Schatten-Kulturminister“ in sein Wahlkampfteam holte.
Beruf und Berufung: Der Verleger soll Kulturstaatsminister werden Naumann folgte Schröders Ruf; es sei für ihn auch eine Art politische und moralische Pflichterfüllung, seinen Beitrag für die Bundesrepublik zu leisten. Nicht Eitelkeit und Machthunger, sondern fast schon preußische Pflichterfüllung trieben ihn in die Politik. Was er schon als Journalist, Politikwissenschaftler und Verleger von außen zu beeinflussen versucht hatte, wollte Naumann nun auch in einer Mischung aus Freiheitspathos und dem moralisch-kritischen Sendungsbewusstsein des von der Aufarbeitungsdebatte der 1960er Jahre geprägten 68ers in die Politik einbringen. „Es ging mir immer um gerechte Politik: Als Wissenschaftler, als Verleger, als Redakteur“15, ließ Naumann die Hamburger Bürger anno 2007 in einer Hochglanzbroschüre wissen. Er wolle nicht Macht ausspielen, sondern Gedanken anstoßen. Wenngleich der implizite altruistische Impetus zweifelhaft erscheint,16 erfüllte Naumann damit bereits nachgerade klassisch die mit Seiteneinsteigern assoziierten Erwartungen, nicht um der Macht, sondern um der Sache Willen Politik zu betreiben. Die Fähigkeit dazu besaß er zweifellos, „Reichsdiskursleiter“17 wurde er dafür spöttisch tituliert – einen Titel den er zwar ablehnte, der aber wohl einen Anspruch zum Ausdruck brachte, den er an sich selbst stellte. „Ich bin kein Edel-Einsteiger. Mir geht es darum öffentliche Argumentation zu stiften“ 18, so Naumann.
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Posche, Ulrike/Anders, Hans Jörg: Der bewegte Mann, in: Stern, 24.06.1999. Vgl. ebd. 15 SPD Landesorganisation Hamburg: Michael Naumann. Mein Hamburg wächst für alle, Hamburg 2007, S. 9. 16 Vgl. Leinemann, Jürgen: Die Droge Politik, in: Der Spiegel, 12.03.2001. 17 O.V.: „Einmal die Seite wechseln“, in: Der Spiegel, 03.08.1998. 18 Ebd. 14
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Und diesem Anspruch kam er nach, provozierte nach Herzenslust und mit freundlicher Genehmigung des Bundeskanzlers in spe die Kulturhoheiten und Kulturdeuter des Landes, betonte dabei stets die Wichtigkeit der Kultur im Bunde und erfüllte damit seine Rolle als Schlagzeilenlieferant für den Wahlkampf mit Bravour. Mehr konnte Naumann kaum liefern, denn sowohl Schröder als auch dem Seiteneinsteiger Naumann war bewusst, dass die Diskrepanz aus Naumannschem Agenda-Setting auf der einen und der später mangelhaften Machtfülle als Kulturstaatsminister auf der anderen Seite, aufgrund der Vielzahl an Mitspracherechten und Vetomächten bei kulturellen Zuständigkeiten kaum überbrückbar war. Naumann fehlte mithin von vornherein die Macht, Kulturpolitik im deutschen Föderalismus direktiv zu verändern, aber darum ging es seinem Förderer auch gar nicht. Gerhard Schröder hatte einen Mann der Kultur-Wirtschaft geholt, der viel zu sehr CEO war als Politiker, der im politischen Alltag aneckte und dies auch sollte. Dass er dieses Potenzial besaß, bewies Naumann, als er kurz nach seiner Kandidaten-Kür die deutschen Intellektuellen sogleich eine melancholische „Klasse der Beleidigten“19 nannte, den Kulturföderalismus als antiquiert geißelte und sich ausgerechnet mit dem hochsensiblen Thema des Holocaust-Mahnmals in Berlin der deutschen Öffentlichkeit vorstellte. Und genau das war Naumanns Aufgabe: mit Esprit, Verve und schnoddriger Selbstverständlichkeit anecken, Agenda-Setting betreiben, den Kultur-Betrieb aufmischen, öffentliche Debatte provozieren. Und diese Schrödersche Kunst der Provokation beherrschte Naumann in der Tat. Naumann entfachte ein intellektuelles Blitzlichtgewitter, das im Widerschein auch Schröder in größerem Glanz erscheinen ließ und symbolisierte damit zugleich den Aufbruch, weg von den gefühlt starren Kohl-Jahren hin zu einer neuen politischen Kultur. Schröders Rechnung ging auf. Naumanns Ernennung wurde diskutiert, die Feuilletons, die KulturInstitutionen, der auserkorene Koalitionspartner – sie alle zeigten sich begeistert und verteilten ausreichend Lob. Naumann bedankte sich artig, erhob sogleich die „Bewässerung der kulturpolitischen Sahel-Zone“ der Kohl-Jahre zur „obersten Priorität“20 und entsorgte so Kohls geistig-moralische Wende gleich mit. Auf das Lob folgte jedoch alsbald der von Naumann angekündigte Diskurs. Denn obwohl Naumanns Fähigkeiten als Kultur-Manager weiter unbestritten blieben, bescheinigten ihm Kritiker bereits nach einer Woche fehlendes politisches Gespür. So fragte die Süddeutsche Zeitung, ob man, angesichts Naumanns zur Schau gestellter, mit Unwissenheit gepaarter Ankündigungspolitik, nicht lieber ein Pferd statt Naumann zum Bundeskulturminister machen solle,21 während die Frankfurter Allgemeine Zeitung Naumanns ekstatische „Love-Parade durch die deutschen Feuilletons“, halb indigniert, halb fasziniert als „linken Wilheminismus“ pries.22 Der parlamentarische Geschäftsführer der CDU/CSU-Bundestagsfraktion titulierte ihn ob seiner Befugnisforderungen als „Kulturgleichschaltungsminister“23, der Schriftsteller Günter Kunert belustigte sich über den „Oberkulturwart“ Naumann, sein SchriftstellerKollege Martin Walser fand Naumann zwar gut, aber in diesem Amt schlichtweg „überflüs19
Ebd. Schwarz, Patrik: Raus aus Kohls Sahelzone, in: die tageszeitung, 21.07.1998. 21 Vgl. Seidl, Claudius: Eine Republik für ein Pferd. Wovon muss ein Kulturstaatsminister überhaupt etwas verstehen, in: Süddeutsche Zeitung, 23.07.1998. 22 Schirrmacher, Frank: Neuer Wille in der Stadt. Holocaust, Hollywood, Hohenzollern: Die Woche mit Naumann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.1998. 23 AP, 24.07.1998. 20
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sig“.24 Doch selbst aus den eigenen Reihen kam Kritik,25 sollte und wollte der neue „Bundeskulturkammerhauptstaatssekretärsminister“ doch eine Vielzahl an kulturpolitischen Reformen –von der Reform des Stiftungs- und Steuerrechts bis zur Konzentration der Filmförderung – durchsetzen und die verstreuten Kulturetats zentral zusammenfügen. Der vormalige kulturpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Gerhart Baum, brachte diesen Konflikt auf den Punkt, indem er Naumann zuerkannte, „dass er zwar die Kulturszene kennen mag, nicht aber die Politikszene und die konkreten Probleme“26. Naumann fehlte offenbar dieses Feingefühl gegenüber ausbalancierten Machtressourcen in der Kulturpolitik und erwies sich schon in diesem frühen Stadium als Seiteneinsteiger mit wenig Gespür fürs politische Alltagsgeschäft. So standen der Einverleibung des Goethe-Instituts die Befindlichkeiten des Auswärtigen Amtes entgegen, mit seinen dezidierten Stellungnahmen gegen das Holocaust-Denkmal und für das Berliner Stadtschloss verprellte er Berliner Zuständigkeitsbefindlichkeiten. Nicht, dass er im neuen Kabinett Schröder die Befugnis über diese Entscheidungen bekommen würde, aber allein die Verve der Ankündigung ließ diesen Umstand zur Nebensache geraten. Die Länder wünschten schließlich den Widerstand gegen Naumanns Ansinnen eines zentralen Bundesministeriums für Kultur. Neben dem föderalen Reflex, der ein Bundesministerium für Kultur ausschloss, bezog sich die Opposition auch explizit auf die Person Michael Naumanns, der anfangs, „eben wie alle Seiteneinsteiger mit einem Sack voller Streubomben“27, zu viele Widersacher gegen eine zu machtvolle Ausstattung der Bundeskulturpolitik auf den Plan gerufen hatte. Und doch sollte und wollte Naumann nicht einfach nur Kultur-Beauftragter werden, sondern durchaus ein Büro im Kanzleramt beziehen. Soviel Altruismus, nur der Stichwortgeber der deutschen Kultur-Debatte zu spielen, ist Naumann nicht zu unterstellen, auch wenn er betonte, dass der Machtinstinkt bei ihm unterentwickelt und er sich durchaus bewusst sei, „dass die Macht immer woanders liege, jedenfalls nicht unbedingt an seinem Schreibtisch“28. Und so war es schließlich nicht der Kultur-Manager Michael Naumann, sondern vielmehr der streitbare Intellektuelle Michael Naumann, dem das Amt des Kulturstaatsministers auf den Leib geschneidert schien. Da ihm bei diesem Posten zwar viel Renommee, aber kaum direktive Macht zufiel, galt es für Naumann die Beschränkungen des Amtes durch diskursive Macht zu kompensieren. Denn die eigentliche Macht in der Kulturpolitik lag weiterhin bei den Ländern und auch Naumanns Befugnisse hingen eigentlich immer auch am Wohlwollen des künftigen Kanzlers, der ihm allerdings schon im Wahlkampf weitreichende Freiheiten einräumte, da Schröder seinen Vorzeige-Intellektuellen mehr brauchte, als dieser ihn.
24
Halter, Martin: Weg von der „Sahelzone der Kohl-Kultur“, in: Tages-Anzeiger, 05.08.1998. Vgl. Schmitz; Stefan: In heikler Mission. Kultur-Hoffnungsträger Michael Naumann stößt im eigenen Lager auf Widerstand, in: Focus, 27.07.1998. 26 Baum, Gerhart: Wo bleibt die Politik? Was Michael Naumann verkehrt macht, in: Süddeutsche Zeitung, 29.07.1998. 27 Posche, Ulrike/Anders, Hans Jörg: Der bewegte Mann, in: Stern, 24.06.1999. 28 O.V.: „Ich hole meinen Wehrdienst nach“, in: Kultur Spiegel, 01.03.1999. 25
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Ein Mann Schröders – ein Mann wie Schröder? Denn der intellektuelle Feingeist und Weltbürger Michael Naumann half dem Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder die hannoversche Provinzialität zu überspielen. Empfohlen hatte ihn der Intendant des Hamburger Thalia Theaters, Jürgen Flimm, der bereits als Kind zusammen mit Naumann bei Preußen Delbrück gekickt hatte, nachdem er selbst die Offerte Schröders, Kulturstaatsminister zu werden, ausgeschlagen hatte. Und der Seiteneinsteiger Michael Naumann erfüllte seine Aufgabe mit Bravour, bot im Tauschgeschäft für bescheidene Macht als Staatsminister weltläufigen Glanz für das Projekt der „Neuen Mitte“. Denn Naumann verlieh Schröders Kanzlerschafts-Aspirantur das intellektuelle Flair, das ein Oskar Lafontaine oder er selbst nicht zu versprühen vermochten. „Wer nicht gleich Schröder wählen möchte, könnte erst einmal für Naumann votieren – den Mann mit Eigenschaften“29, urteilte sogleich die Zeit, die Michael Naumann seit ehedem eng verbunden war. Überdies verband Schröder und Naumann viel mehr als auf den ersten Blick gewahr wurde: „die Generation, die vaterlose Jugend, die Erfahrungen als Funktionäre der Studentenbewegung, der traumhaft sichere Umgang mit den Medien“30. Beide waren im Krieg geboren, Naumann ist Jahrgang 1941, Schröder Jahrgang 1944. Beide wuchsen sie ohne Vater auf, kämpften sich nach oben, betrieben Identitätssuche jenseits klassischer VaterSohn-Kämpfe.31 Zwar war Schröders Ressource weniger die intellektuelle Vision, vielmehr verdankte er seinen Aufstieg vor allem seinem machtpolitischen Talent, das ihn zielstrebig in immer höhere Machtsphären brachte.32 Naumann hingegen baute vor allem auf seine Intellektualität. Politische Macht galt ihm weniger als die Wiederherstellung bürgerlicher Repräsentanz. Doch rieben sich beide in diesem Aufstieg an der eigenen Generation der „68er“. Während Schröder sich an den bürgerlichen Ideologen vorbeikämpfte, wahrte Naumann, wenngleich in die Debatten und auch Organisationszusammenhänge der Studentenproteste involviert, Abstand zu den Happenings der „68er“. Auch aus dieser gefühlten Distanz zur Betroffenheitskultur der „68er“, waren sich Schröder und Naumann nah. Beide waren weit weg von Ewigkeitsdebatten über linke Deutungshoheiten; beide waren, vor unterschiedlichen Hintergründen, viel zu yuppiehaft für diese Ausdeutungsmöglichkeit. Vielmehr waren sie auf ihren Gebieten Macher, Pragmatiker und Machtmenschen, gefallsüchtig beide, hochmütig, sprunghaft bisweilen, zudem nicht dezidiert moralisch überpolitisiert. Dass sie beide auf unterschiedlichen Wegen Macht ausübten – der eine direkt über Partei und Ämter, der andere diskursiv über die Öffentlichkeit von Zeitungen und Verlagen –, war nur die logische Konsequenz ihrer Prägungen und der angestrebten Endpunkte ihres gesellschaftlichen Aufstiegs. Erlernt hatten sie dabei vor allem eines: den traumwandlerisch sicheren Umgang mit den Medien. Die erworbene Medienkompetenz, aber auch die dezidiert schnoddrige, provokante Art, die Naumann nur kultivierter, feingeistiger auslebte als Schröder, dürfte deshalb für Gerhard Schröder auch den Ausschlag gegeben haben, Naumann selbst gegen Widerstände in der eigenen Partei als Kandidaten für das Amt des Kulturstaatministers vorzuschlagen und so einem weiteren Seiteneinsteiger den Weg in eine künftige Regierung Schröder zu ebnen. 29
Kipphoff, Petra: Der Abenteurer, in: Die Zeit, 23.07.1998. Wittstock, Uwe: Der Professor und die Politik, in: Die Welt, 05.04.2001. 31 Vgl. Kahlcke, Jan: „Als Messias bin ich nicht geeignet.“, in: die tageszeitung, 17.03.2007. 32 Vgl. Meng, Richard: Der Medienkanzler. Was bleibt vom System Schröder?, Frankfurt am Main 2002, S. 30. 30
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Schröder und die Seiteneinsteiger Selten waren politische Lagerwechsel so deutlich im Vorfeld zu spüren wie 1998. Helmut Kohl taumelte, von Heckenschützen aus der eigenen Partei angegriffen, unglücklich agierend über das politische Parkett. Gerhard Schröder hingegen gerierte sich schon vor der Wahl wie der neue Kanzler, alle Umfragen und der gefühlte Zeitgeist gaben ihm Recht. Er vermochte es, ebenso wie seine Wahlkampfmanager und die dankbar kommentierende politische Klasse der Hauptstadt-Journalisten, eine atmosphärische Aufbruchsstimmung zu generieren, die sich alter Stereotype von gesellschaftlichem Wandel bediente. Solche Zeiten des Wandels verlangen ihre Entsprechung in fast allen Bereichen, so auch im politischen Raum. Die sich wandelnden Zukunftserzählungen fordern in Abgrenzung an Vergangenes Persönlichkeiten, die diese Stimmung repräsentieren, die glaubhaft den einsetzenden Wandel vertreten und mit einem modernisierten Zukunftsversprechen den Zeitenwechsel darstellen können. Kurzum: Als personelle Entsprechung der propagierten „Neuen Mitte“ zauberte Gerhard Schröder im Wahlkampf 1998 mit Michael Naumann einen nahezu prototypischen Vertreter dieser Provenienz in sein Personaltableau und lieferte mit dem Kulturstaatsminister in spe den modernisierten Typus des bürgerlichen Machers. Dass er Naumann durchzusetzen vermochte, fußte gleich in einem ganzen Ursachenbündel. Zum einen gab es bis dato keinen Kulturstaatsminister. Das Amt war mithin ebenso eine Konstruktion wie der Kandidat, der es ausfüllen sollte. Ressort- und Verteilungsbefindlichkeiten standen einer Nominierung Naumanns jedenfalls kaum im Weg; ein eigenes kulturpolitisches Profil, eine dieses repräsentierende Person – all das gab es nicht in der SPD des Jahres 1998. Zudem galt die Nominierung, bei aller bald aufkommenden Kritik, als Glücksgriff, quasi als Kontrapunkt zu Jost Stollmann, der zeitweise einzigen und intensiv beackerten Projektionsfläche für Kritik an Seiteneinsteigern in Schröders Kompetenzteam.33 Die Ernennung Naumanns war mithin eben nicht nur als Initiative Schröders zu verstehen, um die Kulturpolitik als neues Diskussionsfeld offensiv in den Wahlkampf einzuführen, sondern auch und besonders ein Befreiungsschlag für ihn selbst. Mit Naumann konnte er Stollmann relativieren, aufkeimende Kritik an seinem Kompetenzteam zumindest kanalisieren. Dass sich Schröder überhaupt soviel externe Kompetenz in sein Wahlkampfteam holen konnte, ist aber die eigentliche Besonderheit im Vorfeld der Wahlen gewesen. Was Peter Glotz schon seit Anfang der 1980er Jahre einforderte und der glücklose Björn Engholm 1991 mit der Ernennung Karlheinz Blessings als Bundesgeschäftsführer der SPD wieder auf die Agenda setzte, nämlich die SPD für Seiteneinsteiger zu öffnen, versandete immer wieder im Dickicht der Befindlichkeiten führender Genossen, wie die Parteireform „SPD 2000“.34 Schröder hingegen setzte 1998 durch, was seinen erfolglosen Vorgängern kaum gelang: In entscheidenden oder zumindest öffentlichkeitswirksamen Bereichen Seiteneinsteiger an den Parteigremien vorbei zu berufen. Ohnehin brauchte Schröder die SPD kaum zu fürchten, nachdem er durch ein Quasi-Plebiszit zum Kanzler ernannt worden war.35 33
Vgl. etwa zur Kritik an Stollmann Bruening, Nicola u.a.: Rückzug auf Raten, in: Focus, 07.09.1998. Vgl. Rindfleisch, Joachim: SPD will modernste Partei werden, in: Neue Ruhr Zeitung, 15.09.1993; Blessing, Karlheinz (Hrsg.): SPD 2000. Die Modernisierung der SPD, Marburg 1993. 35 Gemeint ist der fulminante Wahlsieg Schröders bei der niedersächsischen Landtagswahl; vgl. Lösche, Peter: Die verborgenen Veränderungen unseres Parteiensystems, in: Universitas, H. 9/1998, S. 813-821, hier S. 819. 34
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Schwieriger als die Ernennung von Seiteneinsteigern an der Partei vorbei war allerdings, geeignete Kandidaten zu finden. Während auf dem Leipziger Parteitag mit Roland Berger (Wirtschaft) und Ernst-Ulrich v. Weizsäcker (Umwelt) noch bekannte „Hochkaräter“ als Zugpferde der „Gerd-Show“ kolportiert wurden,36 präsentierte Schröder mit Jost Stollmann und Michael Naumann – nachdem Walter Riester mehr oder weniger gesetzt war – zwei weithin unbekannte Seiteneinsteiger, wenngleich das Presseecho auf beide Nominierungen beachtlich war. Doch was versprach sich Gerhard Schröder von seinen Seiteneinsteigern? Zum einen erwartete er wohl Sach- und Handlungskompetenz von den Ministern in spe, verzichtete auch deshalb auf professorale Weihen. Überdies suchte er aber auch Publizität und die bekam er besonders durch die Debattenbeiträge von und über Michael Naumann und Jost Stollmann. Was Schröder gesucht haben könnte – den modernisierten Karl Schiller für die Wirtschaft und den Intellektuellen in der Tradition der Dahrendorfs, Maihofers und Flachs –, hatte er scheinbar in beiden Seiteneinsteigern gefunden. Zudem war es Schröder gelungen, an der nicht so sehr geliebten Partei vorbei Macht auszuüben und die Koordinaten in der SPD zu seinen Gunsten zu verschieben. Nicht zuletzt auch hatte der Kanzlerkandidat der „Neue-Mitte-SPD“ konkrete Wählerschichten im Visier, vermochte er mit Riester traditionellen SPD-Wählern ebenso ein Angebot zu machen, wie mit Stollmann und Naumann den wechselwilligen Wählern der Mitte sowie den Intellektuellen. Das Tableau, das er somit präsentierte, sollte oberflächlich wohl auch nicht zufällig an die SPD anno 1969 erinnern, die mit einem „Star-Wirtschaftsminister“ und der breiten Unterstützung von Intellektuellen in den Wahlkampf zog und die Wahl letztlich mit einem konservativen Thema, der D-Mark-Aufwertung, gewann.37 In diesem Sinne könnte man Riester auch als das konservative Versprechen der Schröderschen Schatten-Ministerriege, sich nicht zu neu-mittig zu positionieren, werten.
Sprengsatz auf zwei Beinen? Der Staatsminister für Kultur Nach dem Wahlsieg Schröders war eine, wenn nicht die zentrale Funktionsbedingung erfüllt, aus der heraus Seiteneinsteiger in der Politik überhaupt reüssieren können. Sie brauchen den Sieg ihres Förderers, um politische Macht zu erhalten, ebenso wie den Willen des Mentors, die angekündigten Personalentscheidungen in der Folge umzusetzen. Denn in der Opposition, in der die Partei selbst wieder deutlich an Gewicht zunimmt, der gescheiterte Kanzlerkandidat aber zumeist entscheidende Macht verliert, sind die Seiteneinsteiger häufig die ersten personellen Opfer der Wahlniederlage. Das hätte wohl auch für Michael Naumann gegolten, wenngleich er, im Gegensatz zu Jost Stollmann, bereits seit 1986 Parteimitglied war. Doch während der im Wahlkampf unglücklich agierende Stollmann bereits vor der Wahlnacht Geschichte und durch den deutlich blasseren Seiteneinsteiger Werner Müller ersetzt worden war, galt Naumann als schillerndstes Beispiel erfolgreicher SeiteneinsteigerAttitüde. Dass er schon vor seiner Ernennung massive Widerstände im Kulturbetrieb, im 36 Bannas, Günter: Gerhard Schröder ist oskarreif. Die SPD in Leipzig: ‚Millionen Menschen schauen zu’, in: Süddeutsche Zeitung, 18.04.1998. 37 Zu Karl Schiller und dem Streit um die Aufwertung der D-Mark vgl. Lütjen, Torben: Karl Schiller (1911-1994). „Superminister“ Willy Brandts, Bonn 2007, insbesondere S. 250-274.
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Kulturföderalismus, gar in der eigenen Partei geschürt hatte, war für ihn eher eine Selbstbestätigung. Und schließlich dürfte Naumanns Hang zum exzessiven Diskurs der Partei und noch mehr dem Kanzlerkandidaten genützt haben, wirkte dies doch unglaublich dynamisch, modern, irgendwie neu-mittig. Doch nun musste Naumann, dessen Posten als Kulturstaatsminister im Kanzleramt zuvor erst noch per „Lex Naumann“38 hatte geschaffen werden müssen, auch in der Tagespolitik reüssieren. Obgleich er vor der Wahl immer wieder die Bereitschaft bekundet hatte, dicke Bretter bohren und auf die Befindlichkeiten machtpolitischer Austarierungsprozesse eingehen zu wollen, blieb er doch häufig bereits erlernten und in seiner Karriere bewährten Mustern der Entscheidungsfindung verhaftet. Aus der freien Wirtschaft kommend, mithin schnelle, vor allem direktive Entscheidungsprozesse gewöhnt, hätte Naumann also zuerst auf diskursive Entscheidungsfindung umschulen und politische Arithmetik, Kuhhandel und politische Befindlichkeit hinzulernen müssen. „Der Markt bewegt sich schnell und eilig, der Staat hingegen bewegt sich träge und langsam“, so das Fazit Naumanns nach einhundert Tagen im Amt. „Ich bin da in ein anderes Milieu geraten […], in dem Dinge hin und her gewendet werden und in dem vor allem die Selbstsicherung aller Entscheidungsträger – ob groß oder klein – die Melodie der Entscheidungsabläufe bestimmt.“39 Doch so sehr sich Naumann mühte: Weder wurde er warm mit der Kulturpolitik, noch wurden die Kulturpolitiker warm mit ihm. Die Streicheleinheiten des Feuilletons sind nun mal kein politisches Kapital in der Regierungsarena, häufig eher hinderlich, produzieren sie doch auch Missgunst und Neid.40 Naumanns Anstrengungen, die Logiken des Parlaments und den Umgang mit Parlamentariern zu erlernen, blieben oft halbherzig. Auch wenn er versuchte, die Regierungsfraktion als letztliches Entscheidungsgremium zu akzeptieren – sein Selbstverständnis als „homo politicus“ war nie deckungsgleich mit den Anforderungen der politischen Realitäten. Zu sehr blieb er in seiner Welt diskursiver Entscheidungsfindung und direktiver Entscheidungsabläufe dem universitären Kolloquium, der Redaktionsleitung, dem Verlagsmanagement verhaftet. Der Erfolg gab ihm dabei zunächst recht. Seine Debatten-Beiträge zum HolocaustMahnmal hatten die bereits erstarrte Diskussion neu aufgebrochen. Die Hauptstadtkultur hatte er auch ohne Mandat belebt, schließlich der Kulturpolitik jenseits konkreter Entscheidungen eine Stimme verliehen. Doch sobald Naumann den Diskurs in Entscheidungen umzuwandeln gedachte, verhielt er sich wie viele Nicht-Berufspolitiker vor ihm. Die Sitzungen des Kulturausschusses gerieten häufig zum Duell zwischen ihm und der Ausschussvorsitzenden Elke Leonhard. Zu deutlich trafen in beiden zwei Welten aufeinander – der unkonventionelle, intellektuelle Seiteneinsteiger und Feingeist auf der einen und die ehrgeizige, machiavellistische Taktikerin und ehedem Rüstungskontrolleurin der SPDFraktion auf der anderen Seite. Während sie Naumann mangelnde parlamentarische Sozialisation vorwarf und ihm bei vielen Gelegenheiten überdeutlich signalisierte, dass sie über das Parlament am längeren Machthebel säße, zeigte sich Naumann mal unterschwellig, mal ganz offen indigniert über die mangelnde Intellektualität seiner Kontrahentin. 38
Fromme, Friedrich Karl: Was nicht passt, wird angepasst, in: Welt am Sonntag, 15.11.1998. Renschke, Wolf: Deutschlandfunk (DLF) „Interview der Woche" mit Dr. Michael Naumann, 17.01.1999, in: http://archiv.bundesregierung.de/bpaexport/rede/36/11836/multi.htm [eingesehen am 11.12.2007]. 40 Vgl. Walter, Franz: Parteikarriere geht durch den Magen, in: Spiegel Online, http://www.spiegel.de/politik/ debatte/0,1518,431448,00.html [eingesehen am 10.12.2007]. 39
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Zwar gewann Naumann diesen politischen Zweikampf, da Elke Leonhardt sich noch mehr Feinde gemacht hatte als er, doch an politischem Gewicht legte er dadurch nicht zu.41 Schließlich hatte er es verpasst, mithilfe des Kulturausschusses eine Aktionseinheit aus Kultur-Staatsminister und Kulturausschuss zu bilden. Somit blieben ihm auch entscheidende politische Loyalitäten verwehrt, konnte er keinerlei Netzwerke aufbauen – wenngleich Ludwig Stiegler, ein Meister in diesem Fach, ihm dabei immer wieder zu helfen versuchte. Selbst die dem Minister wohlgesonnenere neue Ausschuss-Vorsitzende Monika Griefahn bemängelte: „Es ist schön seinen Reden zuzuhören, es wäre aber auch schön, wenn er uns über seine Entscheidungen wenigstens parallel informieren würde.“42 Naumann, der bisweilen schon rein habituell sowohl die Fraktion als auch das Kabinett gegen sich aufbringen konnte, behielt also insgesamt die Seiteneinsteiger-Attitüde bei und verzichtete auf die Rückversicherung verbindlicher Loyalitäten jenseits seines Förderers Gerhard Schröder. Und auch jenseits der Ausschussarbeit irritierte Naumann den politischen Betrieb. Beispielhaft dafür ist der Streit um die Ernennung eines neuen Mitglieds für die Kunstankaufskommission des Deutschen Bundestages. Naumann überging, so der Vorwurf der Kommission, die Regeln zur Berufung eines neuen Mitglieds, indem er eine Kunstagentin aus der Privatwirtschaft berief. Die Kommission trat zurück, der Eklat war perfekt und Naumann sich keiner Schuld bewusst.43 Immer wieder stellte Naumann in entscheidenden Momenten zugunsten der eigenen Überzeugung die Anpassung an politische Spielregeln zurück. Doch was anfänglich wohlwollend als Aufbrechen alter Verkrustungen durch den unkonventionellen Seiteneinsteiger Naumann goutiert wurde, fand zwei Jahre nach Amtsantritt nur noch selten das Wohlwollen der kommentierenden Zunft; obgleich Naumann, selbst ein Mann der Medien, besonders dort seine entscheidende Machtressource hatte.
Der Medien-Mann und die Medien Dass Michael Naumann anfänglich so hoch gehandelt wurde, lag überhaupt wesentlich an der Begeisterung der Medienlandschaft. Nachgerade symbiotisch wirkte das Verhältnis zwischen dem angehenden Kulturförderer im Staatsauftrag und den Kulturkritikern der schreibenden Zunft. Die Melange aus Ankündigung und Dementi, die Naumann seit seiner Ernennung zelebrierte, wurde von den kulturbeflissenen Redakteuren der Nation ebenso begierig aufgesogen wie später genüsslich seziert. Naumann, selbst erfahrener Journalist, brauchte die Medien, um als politischer Seiteneinsteiger erfolgreich agieren zu können. Viel mehr als andere Seiteneinsteiger suchte er die öffentliche Debatte und griff dabei auf seine Erfahrungen im medialen Alltagsbetrieb zurück. Wenn es Inhaltliches zu kommunizieren galt, suchte Naumann die Medien. Ob Holocaust-Mahnmal, Beutekunst, der deutsche Film, die Buchpreisbindung oder die Hauptstadtkultur: Naumann inszenierte die deutsche Kulturpolitik. Er versorgte das begierige Feuilleton mit Ideen, wohlwissend, dass er immer nur diskursive Macht besaß. „Die tägliche Naumann-Meldung gehört zum unverzichtbaren Repertoire des Feuilletons. Man gewinnt 41
Vgl. Müller, Volker: Störende Bioenergie im Amt, in: Berliner Zeitung, 01.07.2000. Möller, Barbara: Minister Naumanns ganz persönlicher Kulturkampf und das Ende, in: Hamburger Abendblatt, 23.11.2000. 43 Vgl. Preuss, Sebastian: Ganz persönliche Kennerschaft, in: Berliner Zeitung, 08.06.2000. 42
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fast den Eindruck, Michael Naumann handele als Beauftragter unterbeschäftigter Kulturredaktionen“44, spottete die taz folglich über die Kompetenzschwäche des Kultur-Staatsministers. Doch zumeist bedankten sich die Feuilletonredaktionen dann doch, indem sie den Diskurs am Leben hielten, wodurch wiederum der Druck auf die Entscheidungsgremien wuchs. Das begeisterte zwar die Kulturredaktionen, die Kulturschaffenden und die Kulturinteressierten, nicht aber die politischen Entscheidungsträger. Wohl auch deshalb verließ Naumann – den ehrgeizigen Macher, der so gerne provozierte – irgendwann die Lust an der Provokation. Das Medienecho auf Naumanns Rücktritt war zwar freundlicher als das aus den Ländern, doch zeigte sich das Feuilleton, wenn auch verständnisvoll und dankbar für zwei befruchtende Jahre,45 verstimmt. „Unpreußisch“46 sei der Rückzug Naumanns, zu viele Fragen seien offen, er sei „fortgegangen aus Ruinen“47. Doch bewies Naumann mit seinem Abgang, dass er, der Seiteneinsteiger, das Heft bis zum Schluss in der Hand behalten hatte. Viele Seiteneinsteiger vor ihm waren vor allem aufgrund der umschlagenden Medienstimmung gestürzt, wenn aus herbeigeschriebenen Loyalitäten plötzlich heftige Dissonanzen wurden und so eine der wichtigsten Machtressourcen verloren ging. Anders Naumann: Er ging mit einem lauten Knall, indem er in einem Artikel in der Zeit noch einmal sämtliche Kritik am bundesdeutschen Kulturbetrieb ausschüttete, um sich anschließend auf die andere Seite zu schlagen.48 Und so spielte er bis zum Schluss perfekt auf der Klaviatur derer, die sonst Karrieren wie die seine beförderten oder beendeten. Die schreibende Zunft schien über Naumanns Wechsel zur Zeit deshalb ebenso unglücklich wie der Bundeskanzler. Die Aussicht auf den blasseren, biederen und weit weniger provokativen Julian Nida-Rümelin als Nachfolger straften die Kommentatoren mit Liebesentzug für ihren liebgewonnenen „Reichsdiskursleiter“ Naumann, der die Symbiose zwischen seinem Amt und den Medien aufgab, um selbst wieder schreiben zu dürfen, „weil er es satt habe, ‚dass ihn jeder ungebildete FeuilletonSchreiber anpinkeln darf’ und er die politische Contenance wahren muss“49.
Die Emanzipation des Seiteneinsteigers Mit seinem Abgang bewies Naumann eine bleibende Unabhängigkeit vom politischen Geschäft und vom eigenen Förderer. Während Jost Stollmann erst von den potenziellen SPDWählern und der zu repräsentierenden Partei nicht akzeptiert und daraufhin von seinem Förderer Gerhard Schröder wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen wurde und auch Walter Riester gehen musste, als er seinen Zweck erfüllt hatte, ging Naumann selbst, als der Reiz der Macht für ihn erloschen war. Er ging, wie er gekommen war: als „freier Mann“50. Die Enttäuschung über seinen Schritt war Gerhard Schröder anzusehen, zumal sein Kabinett zur Mitte seiner ersten Amtszeit an mehreren Stellen Auflösungserscheinungen 44
Gurlit, Elke: Tendenz zur Lästigkeit, in: die tageszeitung, 11.01.1999. Vgl. Koch, Klaus Georg: Der Queraussteiger Michael Naumann hat der Kultur Selbstbewusstsein und der Politik Geist verliehen, in: Berliner Zeitung, 23.11.2000. 46 Wiegold, Thomas: Unpreußischer Rückzug, in Focus, 27.11.2000. 47 Chevel, Thierry: Fortgegangen aus Ruinen, in: Süddeutsche Zeitung, 24.11.2000. 48 Vgl. Naumann, Michael: Zentralismus schadet nicht, in: Die Zeit, 09.11.2000. 49 Kister, Kurt/Kotteder, Franz: Chaos, Klatsch und Ungefähres. Bundesregierung: „Wer issn dieser Dings, dieser ... Nida-Rümelin?“, in: Süddeutsche Zeitung, 23.11.2000. 50 O.V.: Ich gehe als freier Mann. Wie ich gekommen bin, in: Berliner Zeitung, 23.12.2000. 45
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erkennen ließ.51 Denn nicht der Förderer hatte seinen Zögling fallen lassen, sondern der Zögling hatte einfach keine Lust mehr auf seine Aufgabe, auf seinen Förderer, auf die Politik. Ein Engagement bei der Wochenzeitung Die Zeit war deshalb die glänzende exit-option für Michael Naumann, dessen Verbleib in der Politik schon seit seinem Amtsantritt Anlass zu Spekulationen gab. Naumann hatte eine Rückkehr aus der Politik für sich von Beginn an als Option reklamiert, Gerhard Schröder habe er schon vor seinem Amtsantritt geraten, „genügend existentielles ‚Fuck-you-Geld’ in der Tasche zu haben – materiellen und ideellen Hintergrund für einen Abschied von der Politik“52. Und doch kam die Demission nicht im Arkanum Naumannscher Unlust am Politischen zustande. Gerhard Schröder spielte sehr wohl eine Rolle im Kulturstaatstheater, die ihm Naumann später indirekt vorwarf. Er allein war für das Staatsziel Kultur verantwortlich; doch was reizvoll klang, versandete für den ehrgeizigen Ex-Verleger zu oft im Dickicht politischer Entscheidungsfindungsprozesse. Da Naumann selbst zu „Basta“-Entscheidungen neigte, diese aber in seinem Bereich kaum durchsetzen konnte, vermisste er die fürsorgliche Absicherung seines Förderers und Vorgesetzten. „Das Amt lebt buchstäblich vom Wohlwollen des Kanzlers für das Amt und die Person im Amt. Schon deshalb wäre es besser, wenn es zukünftig ein eigenes Kulturministerium gäbe“53, resümierte Naumann Jahre nach seinem Rückzug vom Amt. Doch weder ministerielle Macht noch die bedingungslose Absicherung des Kanzlers waren Naumann gewiss und so dürfte er, der schon vor Schröders Anruf in New York ein Angebot von der Zeit erhalten hatte, den Ausstieg aus der Politik schon länger geplant haben. Ein Missverständnis zwischen Förderer und Gefördertem dürfte dabei zentral gewesen sein. Gerhard Schröder hatte 1998 intellektuellen Glanz gesucht und einen ehrgeizigen Kulturmanager bekommen. Der Kanzler hatte Stimmen erwartet und bekommen. Der Seiteneinsteiger hatte Zustimmung erhofft, die ihm zu oft versagt blieb. Er hatte sich aufgerieben in öffentlichen Debatten, im politischen Kleinklein des Kulturausschusses, in Kabinettsdebatten über die Finanzierbarkeit seines KulturEtats, in heftigen Grabenkämpfen zwischen Bundeskultur und Kultur-Föderalismus. Überdies hatte Naumann seine Aufgabe für den Kanzler bereits am Wahlabend zum größten Teil erfüllt – auch dessen mögen sich beide über die Zeit bewusst geworden sein. Welche atmosphärischen Störungen sich zwischen den beiden Matadoren aufgebaut hatten, konnte man ein Jahr später an der Stellvertreterdebatte über Bioethik und den „Nationalen Ethikrat“ ablesen. Während Naumann dem Kanzler einen „Mangel an festen ethischen Standpunkten vor“ warf, konterte dieser, Naumann sei wohl zu den „Neokonservativen übergelaufen“ und finde sich jetzt „an der Seite von Roland Koch“ wieder.54 Dieses Missverständnis mag demnach der Grund gewesen sein, warum beide sich so geräuschlos und scheinbar harmonisch wieder trennten, als der alte Holtzbrinck wieder einmal Sehnsucht nach seiner bewährten „Allzweckwaffe“ hatte. Als die Zeit, die mit Josef Joffe bereits seinen alten Intimus aus Dossier-Zeiten nach Hamburg gelockt hatte, rief, widerstand auch Naumann nicht mehr einer Rückkehr ins publizistische Lager, wo er wieder, jenseits politischer Befindlichkeiten, in seiner Mischung aus Diskurs und Direktive 51
Vgl. Schmiese, Wulf: Das Kabinetts-Karussell, in: Die Welt, 24.11.2000. Mayr, Walter: Sprengsatz auf zwei Beinen, in: Der Spiegel, 21.12.1998. Seegers, Armgard: Herr Naumann, was haben Kulturstaatsminister verändert?, in: Hamburger Abendblatt, 09.08.2005. 54 Leinemann, Jürgen: Unglückliche Freunde, in: Der Spiegel, 30.07.2001. 52 53
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agieren konnte. Bei der Zeit bot man ihm mehr Freiheiten als die Politik ihm bieten konnte. Überdies behielt er die diskursive Macht als nun Ex-Kulturstaatsminister weiterhin in seinen Händen, erlangte zudem aber als Chefredakteur und Herausgeber echte Macht hinzu. Was Naumann hinterließ, waren große Fußstapfen, wenngleich sein Rückzug aus der Politik nur wenig Verständnis und vor allem Kritik hervorrief. Doch es zeigte sich bald, dass zwar die Kulturpolitiker der Länder befriedigt, der Kultur und der Kulturpolitik selbst aber recht bald die große Inszenierung fehlte, die sie erst mit Naumann bekommen hatte. Nachdem dieser nach Hamburg entschwunden war, zeigte sich das Feuilleton schnell gelangweilt. Kaum ein Artikel über den Nachfolger Nida-Rümelin, in dem es nicht auch um Naumann ging. Die Sehnsucht schien groß, das Urteil über den Ex-Kulturstaatsminister wurde ex-post immer versöhnlicher.55 Wie dereinst Konrad Adenauer die Kanzlerdemokratie prägte, scheint Naumann die Ausgestaltung des Amtes und dessen Einfluss auf die Kulturpolitik geprägt zu haben.
Ausblick in trübe Gewässer? Der Kandidat auf Augenhöhe in Hamburg Wie dankbar war die Medienlandschaft, als sieben Jahre später einer ihrer Liebsten wieder da war; wie enttäuscht aber scheinbar, dass er dazugelernt hatte und bei weitem nicht mehr so ein Feuerwerk an Ideen zu zünden gewillt war, wie 1998 im Vorfeld der Wahlen. Vielmehr deklamierte Naumann plötzlich über kommunale Sachthemen, ging mit sozialer Gerechtigkeit und Mindestlohn hausieren, was ihm das Feuilleton nur schwerlich abnehmen konnte und wollte, das alsbald seine Zuständigkeit für Naumann ans Politik-Ressort verlor. Hatte Naumann tatsächlich dazugelernt, die Seiteneinsteiger-Attitüde ablegen können? Oder lag es an der veränderten politischen Rolle, die Naumann auszufüllen hatte? Es dürfte wohl beides eine Rolle gespielt haben. Zum einen war er nicht mehr das KulturMaskottchen vom Chef; nicht mehr das intellektuelle Versprechen eines irgendwie zeitgeistigen, neu-mittigen Aufbruchs; nicht mehr Anhängsel eines Provinzfürsten, der so gern die Weltläufigkeit eines Michael Naumann selbst verkörpert hätte. Vielmehr sollte Naumann die zerrüttete, tief gespaltene Hamburger SPD binnen weniger Monate wahlfähig machen, was ihm in Teilen auch gelang. Dass dafür kein Feuerwerk der Ankündigungen ausreichte, war Naumann bewusst, als er sich über Nacht – nach einem Anruf von Olaf Scholz, der ihn mit Berliner Rückendeckung in Hamburg vorzuschlagen gedachte – über die ihm angetragene Kandidatur entschied. Das Auftreten Naumanns zeigte in der Tat, dass er dazugelernt hatte, wenngleich er noch immer kein Berufspolitiker war, keine „Standardkarriere“56 in der Partei vorzuweisen hatte. Ochsentour, Gremienarbeit, innerparteiliche Loyalitäten und Netzwerke, langjährige Bewährung in der Partei: All das hat Naumann nie nachholen können. Vielmehr kam er wieder als Quereinsteiger von der Zeit zur SPD. Allerdings wirkte er diesmal zurückgenommener, professionalisierter. Und im Gegensatz zu seiner Amtszeit als Kulturstaatsminister, wo das Einlassen auf die Mühen der politischen Ebene häufig mehr Ankündigung blieb, stürzte sich Naumann sofort in Parteiarbeit, zeigte er ein viel deutlicheres Bemühen 55 Vgl. unter anderem Goettler, Fritz: Parlandokultur, in: Süddeutsche Zeitung, 23.11.2000; Werneburg, Brigitte: Dementis a gogo, in: die tageszeitung, 24.11.2000. 56 Herzog, Dietrich: Politische Karrieren. Selektion und Professionalisierung politischer Führungsgruppen, Opladen 1975, S. 219 ff.
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bis in die tiefsten Ebenen der Partei hinunter angenommen zu werden. Grünkohlessen der SPD Eimsbüttel, Seniorenkaffeetrinken, Wahlkreisgrillabende oder Werksbesichtigungen – Naumann inszenierte sich als Kommunalpolitiker, als habe er nie etwas anderes gemacht. Überdies wiesen seine heftige Kritik an Becks Neujustierung in der Frage der Tolerierung durch die Linkspartei, seine Enttäuschung über dieses Becksche Husarenstück kurz vor der Hamburg-Wahl57 und schließlich sein Appell an die SPD, sich aus ihrer Geschichte heraus dergestaltiger Avancen zu verwahren,58 darauf hin, dass er seine Hamburger Ambitionen ernst gemeint haben mag. Auf den ersten Blick erschien das Naumannsche Bemühen gleichwohl befremdlich. Er, der Feingeist, weltläufige Kulturverleger und Intellektuelle in den Niederungen einer sich selbst zerfleischenden Hamburger Großstadt-SPD. Als Kultur-Staatsminister war er ein brillanter Coup Schröders gewesen – aber in Hamburg? Kandidat auf Augenhöhe sei er, eine vorzügliche Wahl, aber, immer im Nebensatz, der leise Zweifel,59 der nicht erst mit seiner Ernennung zum SPD-Spitzenkandidaten und Herausforderer Ole von Beusts in Hamburg im Frühjahr 2007 aufkam. Schon im Jahr 2000, als der Spiegel Naumann als möglichen Gegenkandidaten zu Eberhard Diepgen kolportiert hatte,60 hatte sich die Hauptstadt-SPD gegen einen verwahrt, den sie zwar als Kultur-Staatsminister schätzte, als Spitzenkandidaten der eigenen Partei aber rundweg ablehnte. „Wir brauchen keinen rettenden Engel von draußen“61, polterte Klaus Wowereit, der damals noch Fraktionsvorsitzender war und später selbst die Berliner SPD anführte. Doch zeigte sich alsbald, dass Naumann als Seiteneinsteiger zur Hamburger SPD passte, sah er sich doch bewusst in der Tradition berühmter sozialdemokratischer Vorgänger, die selbst auch nie an einer verschmierten Werkbank im Hamburger Hafen gestanden hatten, nicht in den traditionsreichen Arbeiterquartieren der Hafenstadt groß geworden waren. Alle Kritik an Naumann, er wirke irgendwie zu schöngeistig, elitär und abgehoben für die potenzielle SPD-Wählerklientel, er sei zu weit weg von deren Lebenswelten, hätte in Anbetracht seiner Vorgänger an ihm abperlen müssen, und doch zeigte er sich immer wieder ungehalten über das ihm angetragene Etikett.62 Schließlich galt es für ihn, die SPD auch ganz weit links zu sammeln. Das Auftauchen der Linkspartei verschob schließlich nicht nur in der Hansestadt die politischen Koordinaten. Doch das alte, schon länger in Auflösung befindliche Bündnis aus Arbeiterschaft und Kaufleuten, das traditionell durch die SPD verkörpert worden war, wurde und wird heute durch Ole v. Beust auf der einen, die Linkspartei auf der anderen Seite zusätzlich herausgefordert. Und so konnte Naumann kaum auf die Tradition des alten hanseatisch-sozialdemokratischen Bündnisses vertrauen. Auch die erfolgreichen Jahre als Kultur-Staatsminister, auch der erfolgreiche Wahlkampf des Seiteneinsteigers 1998, ließen nicht unbedingt positive Rückschlüsse auf erfolgsbedingende Konstellationen des Jahres 2008 zu. Musste Naumann 1998 nur auf einem, 57 Vgl. o.V.: SPD-Konservative rebellieren gegen Beck – Naumann wirft Parteichef Geisterfahrt vor, in: Spiegel Online, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,538331,00.html [eingesehen am 28.02.2008]. 58 Vgl. Naumann, Michael: Wohin treibt die SPD?, in: Die Zeit, 27.03.2008. 59 Vgl. o.V.: Mit dem Bürgermeister auf Augenhöhe, in: Spiegel Online, www.spiegel.de/politik/deutschland/ 0,1518,470566,00.html [eingesehen am: 10.12.2007]. 60 Vgl. Bayer, Wolfgang u.a.: Suche nach dem Gegenbild, in: Der Spiegel, 15.05.2000. 61 Richter, Christine: Mit Naumann gegen Diepgen? Bundes-SPD stört die Lokalgrößen, in: Berliner Zeitung, 15.05.2000. 62 Vgl. Lehmann, Armin/Zick, Tobias: Kopf für die Kopflosen, in: Der Tagesspiegel, 09.03.2007.
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nämlich auf seinem Gebiet, der Staatskultur, glänzen und überzeugen, musste er sich, um in Hamburg reüssieren zu können, gleichsam als Generalist beweisen. Und Naumann wird sich bewusst gewesen sein, dass diese Wandlung einem Seiteneinsteiger nur selten gelingt. Ludwig Erhard ist nur eines der warnenden „Vorbilder“, denen eben diese Wandlung vom Spezialisten zum Generalisten nicht gelang.63 Auch besaß Naumann jetzt keine mächtigen, ihn protegierenden Förderer mehr, die ihm den Boden ebneten. War Schröder zehn Jahre zuvor noch das heilsbringende Versprechen auf eine politische Karriere gewesen, so war dies in Hamburg Naumann selbst. Er musste für sich selbst kämpfen und gewinnen, er war Seiteneinsteiger und eigener Förderer in Personalunion Zwar mauserte sich der Seiteneinsteiger immer mehr zum VollblutPolitiker, doch blieb er nach wie vor er selbst, der linke Intellektuelle, dem in einer Hamburger Suppenküche dann doch wieder ein Zitat des südamerikanischen Freiheitskämpfers Simón Bolívar rausrutschte und der neben einem Wahlkämpfer wie Schröder doch eher blass wirkte.64 Auch wenn er auf die Unterstützung politischer und kultureller Prominenz bauen konnte, von Günter Grass über die Spitze der Bundes-SPD bis hin zum fulminanten Einsatz seines ehemaligen Förderers Gerhard Schröder,65 – immer blieb er selbst das Zugpferd und der Einzelkämpfer, waren alle Unterstützer eben nur Beiwerk, wie er es seinerseits einst für Schröder gewesen war. Und so bekam Naumann zudem zu spüren, dass ihm bisweilen der Schutzpanzer einer loyalen Partei im Hintergrund fehlte, etwa bei den Attacken durch Klaus v. Dohnanyi gegen seine frühe Festlegung auf Rot-Grün und gegen eine Beteiligung der Linken;66 aber auch im Falle von Becks Öffnung zur Linken, die ihm nach eigener Ansicht entscheidende Stimmen gekostet haben mag.67 Bei beiden Festlegungen folgte Naumann keinem machtpolitischen Kalkül, sondern vielmehr einer inneren Überzeugung. Die Ablehnung einer Machtoption mithilfe der Linken begründete er vielmehr biografisch vor dem Hintergrund seiner Flucht aus der DDR.68 Es war wohl auch und gerade diese moralische Überzeugung, die Kritik am Seiteneinsteiger Naumann provozierte. Schon seinen Einstieg in die Politik verdankte er eben nicht einem Aufstieg innerhalb der Partei, sondern immer wieder dem Schutz von Förderern, weshalb er die üblichen Ränkespiele der Macht nie zu erlernen brauchte. Und noch eine weitere Rahmenbedingung Naumannscher Seiteneinsteiger-Erfolgsattitüde war in Hamburg wesentlich ungünstiger gelagert, als noch im erfolgreichen Wahlkampf Schröder versus Kohl: Die Hamburger Medienlandschaft galt nicht erst seit seinem Frontalangriff auf die Bild-Zeitung als Naumann-feindlich.69 Zweitens konnte er aufgrund 63 Vgl. etwa Bösch, Frank/Brandes, Ina: Die Vorsitzenden der CDU. Sozialisation und Führungsstil, in: Forkmann, Daniela/Schlieben, Michael (Hrsg.): Die Parteivorsitzenden in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 2005, Wiesbaden 2005, S. 23-63, hier S. 32 ff. 64 Vgl. Gathmann, Florian: Der all-inclusive-Kandidat, in: Spiegel Online, http://www.spiegel.de/politik/ deutschland/0,1518,528758,00.html [eingesehen am 01.02.2008]. 65 Vgl. Schlieben, Michael: Das Alphatier ist wieder da, in: Zeit online, http://www.zeit.de/online/2008/02/ schroeder, [eingesehen am 10.01.2008]. 66 Vgl. Schmiese, Wulf: Dohnanyi warnt Naumann, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.03.2007. 67 Vgl. Nelles, Roland: "Du hast Urtugenden auf die Probe gestellt", in: Spiegel Online, http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/0,1518,538439,00.html [eingesehen am 01.03.2008]. 68 Vgl. Carini, Marco/Veit, Sven-Michael: „SPD und Linke gehen nicht zusammen”, in: die tageszeitung, 21.02.08. 69 Vgl. Naumann, Michael: Scharfschreiber. Die Leit- und Massenmedien und die Macht des Blöden, in: Die Zeit, 03.06.2004; ders.: Ruchlosigkeit, millionenfach, in: Zeit online, http://www.zeit.de/online/2005/48/bild_naumann [eingesehen am 02.02.2008].
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personeller Verquickungen in der Vergangenheit kaum auf Schützenhilfe aus der ZeitRedaktion bauen, die generell recht ungern in den Tiefen der eigenen Stadt wandelt. Doch nicht nur auf persönlicher Ebene hatte es Naumann schwerer. Auch die inhaltlichen Themenfelder waren weit weniger empathiefähig als noch ein Jahrzehnt zuvor. Konnte er mit dem Holocaust-Mahnmal, der Hauptstadt-Kultur oder der Notwendigkeit einer Bundeskulturstiftung die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels, der nur mit ihm zu verbinden war, glaubhaft suggerieren, ließ sich 2007 mit der Elbvertiefung, der Belebung von Problemvierteln oder der Verhinderung von Kohlekraftwerken oder U-Bahn-Linien kaum ein Wechsel-Wahlkampf à la 1998 inszenieren. Erst durch den Streit über die Frage des Umgangs mit der Linkspartei bekam der Hamburger Wahlkampf Brisanz. Allerdings konnte Naumann dieses Thema nicht zu seinen Gunsten nutzen, zu tief saß das Misstrauen nach Becks Kurswechsel wenige Tage vor der Wahl. Überdies stand Naumann, und das dürfte mithin sein größtes Problem gewesen sein, nicht ernsthaft für einen radikalen Neuanfang. Doch braucht ein Seiteneinsteiger gerade dies als Erfolgselixier, er ist eine Reaktion auf ein gefühltes Verlangen nach Kompetenzen, die nur er hat. Ein Erfolgsverwalter ist ein Seiteneinsteiger nur in den seltensten Fällen, eher ein Versprechen auf mehr Erfolg. Und da Hamburg auf eine beachtliche Entwicklung schauen konnte, erwies sich die Erfolgsressource des Unkonventionellen und des Kontrasts in diesem Fall wohl als entscheidende Erfolgsrestriktion. Wer wollte schon das Schiff einem extravaganten Kapitän überlassen, wenn der aktuelle den Kahn recht erfolgreich die Elbe hochschiffte, dafür selbst von einem seiner SPD-Vorgänger im Amt, Klaus v. Dohnanyi, ausreichend Lob einfahrend?70 Die Konstellationen, die Naumann 1998 noch so erfolgreich dastehen ließen, hatten sich also grundlegend gewandelt. Und doch war Naumann als Seiteneinsteiger letztlich eine gute Wahl für die zugrunde gerichtete traditionsreiche SPD. Schwer vorstellbar, dass ein blasser SPD-Kandidat die SPD in Hamburg besser repräsentiert hätte, als er. Ob sich ihm aber ohne die Vorgeschichte der Hamburger SPD und deren interne Streitigkeiten überhaupt die Gelegenheit eröffnet hätte, die hanseatische Sozialdemokratie repräsentieren zu können, ist zweifelhaft.
Epilog: zwischen Attitüde und Professionalisierung Michael Naumann hat mit seiner Rückkehr auf die politische Bühne bewiesen, dass politische Karrieren als Seiteneinsteiger nicht zwangsläufig entweder Professionalisierung oder Beibehaltung der Seiteneinsteiger-Attitüde bedeuten müssen. Zumal letztere auf lange Dauer zumeist das zwangsläufige Scheitern in der Politik nach sich zieht. Michael Naumann hielt in seiner, wenngleich lange unterbrochenen, politischen Karriere die Balance zwischen beiden Optionen. Als Kulturstaatsminister war er Exot auf exotischem Posten. Naumann füllte mit seiner bewussten Distanz zum politischen Alltagsbetrieb das Amt des Kulturstaatsministers eher intuitiv, denn politisch kalkulierend aus. Das passte optimal zu einem Amt, welches in den Anfangszeiten selbst nicht im festen politischen, sondern vielmehr im diskursiven Gefüge des politischen Alltags der Berliner Republik seinen Platz eingenommen hatte. Es 70
Vgl. Schmiese, Wulf: Dohnanyi warnt Naumann, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.03.2007.
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passte überdies auch zu seinem Förderer Gerhard Schröder, bewies er damit doch, dass er nicht nur der richtige Mann für Schröder auf diesem Posten war, weil er in dem kleinen Rahmen seiner Möglichkeiten viel bewegte, sondern dass er eben auch ein Mann wie Schröder war71, wenngleich Naumann weitaus distinguiertere Geister erregte, als Schröder mit „Bild, BamS und Glotze“. Der Seiteneinsteiger brauchte mithin das Amt ebenso wie das Amt ihn selbst. Schon deshalb war er kaum genötigt, die Attitüde des Seiteneinsteigers abzulegen, sich Loyalitäten zu sichern, politische Arithmetik zu erlernen, gar sich zum Berufspolitiker zu wandeln. Naumann konservierte das weltläufige Flair des Intellektuellen in der Politik, nutze diese Selbstverortung, um immer wieder jenseits politischer Entscheidungsträger Kulturpolitik zu betreiben. Seine wichtigste Machtressource war dabei die kulturpolitisch kongeniale Symbiose mit den Kulturdeutern des bundesdeutschen Feuilletons, die anzustiften und zu beschäftigen Naumann immer wieder verstand. Indes, hätte er seine Seiteneinsteiger-Attitüde abgelegt und wäre zum Realpolitiker avanciert, das Wechselverhältnis mit den Medien hätte wohl deutlich gelitten, seine Machtbasis mehr geschwächt, als es jede verbindliche politische Absicherung aufzuwiegen vermocht hätte. Aus dieser Warte heraus war der Rücktritt Naumanns nach zwei Jahren nur konsequent. Je länger er in seinem Amt hätte reüssieren wollen, desto mehr Professionalisierungsleistung wäre ihm abgefordert worden. Zumal ihm das Odium des Scheiterns aufgrund seines selbstgewählten Rückzugs in der Folgezeit nicht anhaftete – im Gegensatz zu vielen anderen Seiteneinsteiger-Karrieren. Vielmehr wurde er, vielfach im Stillen, bewundert, blieb ein unabhängiger Geist und auch immer das Produkt seiner selbst. Es war dies wohl die entscheidende Ressource seines erneuten Einstiegs in die Politik. Das Urteil der kommentierenden politischen Klasse zu Naumanns erneutem Gang auf die politische Bühne war diesbezüglich wohlwollend. Zwar wurden auch Zweifel an der Befähigung Naumanns für das angestrebte Amt des Hamburger Ersten Bürgermeisters laut, kaum aber an der Person selbst. Nach wie vor versprühte er diese Mischung aus Extravaganz und Exotik, aus Versprechen und Hoffnung, die häufig mit Quereinsteigern assoziiert wird. Trotz der ihm angetragenen Aufgabe als „Retter in der Not“ für die Elbestadt-SPD galt er auch jetzt nicht als Parteiarbeiter, gar als Parteisoldat, sondern eben immer noch als Edel-Einsteiger, der nach seiner erfolgreichen Repräsentation neu-mittiger Physiognomie an der Seite Schröders nun äußerst galant den hanseatischen Sozialdemokraten in der großen Tradition seiner Vorgänger geben konnte. Wenngleich Naumann nach seinem Ausstieg aus der Politik im Jahr 2000 sämtlichen politischen Professionalisierungsversuchen den Rücken kehrte und in den folgenden Jahren wieder eine „Karteileiche“ der SPD wurde, hatte sich die Attitüde des Seiteneinsteigers Naumann des Jahres 2007 deutlich gewandelt, ebenso die seinen Einstieg bedingenden und flankierenden Konstellationen. Auch wenn der Ausgang dieses Experiments nicht den von Naumann gewünschten Erfolg, also eine rot-grüne Regierungskoalition in Hamburg, hergestellt hat, bleibt die Erkenntnis, dass sein zweiter Seiteneinstieg in die Politik weitaus professionalisierter war. Naumann bewies damit eine Anpassungsfähigkeit, die nur wenige Nicht-Berufspolitiker vor ihm gezeigt hatten. Doch während das ihm angetragene Kulturamt authentisch gewirkt hatte und der innere Antrieb Naumanns jenseits von Machtphantasien plausibel erschienen war, kam in Bezug auf seinen erneuten Anlauf in der Politik die 71
Schwarz, Patrik: Noch ein Mann wie Schröder, in: die tageszeitung, 20.07.1998.
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Frage auf, ob der vor sich hergetragene Altruismus Naumanns, als „Angestellter der SPD“ nur deren Retter sein zu wollen, den realen Motiven Naumanns gerecht wurde. In einer Bilanz seiner Amtszeit als Kulturstaatsminister hatte Naumann angegeben, „der Machtrausch hält nicht lange vor“72, und damit auch seine Demission begründet. War die Kandidatur Naumanns also letztlich nur die Suche nach einem erneuten Zuwachs an Macht, nach Macht um der Macht Willen, das immer wiederkehrende Labenwollen an der Droge Politik?73 Schließlich hatte Naumann zuvor eine Rückkehr in die Politik ausgeschlossen, seine Mission als erfüllt betrachtet. Oder war es die Suche nach der letzten Bestätigung? Naumann war über seine Karriere immer nur ein Berufener von exzellentem Ruf, nie hat er sich einem Gremium zur Wahl stellen müssen. Die Kandidatur Naumanns in Hamburg ließe sich mithin als selbst stilisiertes Plebiszit begreifen. Kaum jemand bestritt überdies, dass Naumann das Amt des ersten Bürgermeisters als Person auszufüllen vermocht hätte. Und so war es wohl auch das Renommee des Amtes, das ihn reizte, sich am Ende einer durchaus erfüllten Karriere nochmals in die Niederungen des Wahlkampfs zu begeben. In diesem Zusammenhang dürfte Naumann auch der Nachweis, dass er in der Politik bestehen kann, innerer Antrieb gewesen sein und nicht der dandyhafte Schöngeist zu sein, der die Verantwortung scheut, wie es ihm einige Kommentatoren im Jahr 2000 vorgeworfen hatten. Möglicherweise war es auch die in ihm lauernde Unruhe des Intellektuellen, der nur sich selbst die Lösung der großen Aufgaben zutraut. Auch das ist eine häufig beobachtete innere Antriebskraft bei Intellektuellen, in die Politik zu gehen. Die Verve, mit der Naumann in Erwartung der Wahlniederlage und auch in deren Folge die SPD kritisierte und mahnte, lässt diesen inneren Antrieb erahnen. Dass es nur süße Rache des eitlen, verletzten Seiteneinsteigers gewesen war, darf man hingegen bezweifeln.74 Dafür glaubte und glaubt Naumann doch zu sehr an seine Mission. Doch wo er die fortsetzen zu gedenkt, im Journalismus – „I’ d rather not…“75, also lieber nicht – oder in der Politik, auf der harten Oppositionsbank, ließ er vorerst offen. Da schien sie wieder durch, die Emanzipation des Seiteneinsteigers, der über den Dingen erhaben schwebt, seinen endgültigen Abschied aus der Politik trotz des erneuten Scheiterns noch immer selbst zu bestimmen vermochte – um dann voller Selbstbewusstsein und ohne Selbstkritik die politische Bühne erneut erhobenen Hauptes – mit dem Pathos des Unersetzbaren – zu verlassen.
72 Carsten Fiedler, „Schaffen Sie sich ein breites Kreuz an“. Welche Chancen haben Quereinsteiger?, in: Die Welt, 17.08.2005. 73 Zur Bedeutung von Macht in der Politik vgl. Leinemann, Jürgen: Höhenrausch: Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker, München 2004. 74 Vgl. Jakobs, Hans-Jürgen: Rache, so süß wie ein Dessert., in: sueddeutsche.de, http://www.sueddeutsche.de/ deutschland/artikel/963/165492/ [eingesehen am 27.03.2008]. 75 Ebd.
Ursula von der Leyen – Seiteneinsteigerin in zweiter Generation Katharina Rahlf
Prolog „Supermutterpowertochter“, „Mutter des Humanvermögens“, respektive „der Nation“, „Familienrevolutionärin“ – so lauteten einige der Artikelüberschriften zu Ursula v. d. Leyen von taz über Spiegel bis zur Frankfurter Allgemeinen.1 Keine Frage also – diese Frau weckt das Interesse. Als Angela Merkel ihr Kabinett präsentierte, zog kaum eine Person mehr Aufmerksamkeit auf sich als die neue Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Nicht nur konnte sie einen rasanten politischen Aufstieg vorweisen – erst 2001 hatte sie begonnen, kommunalpolitisch aktiv zu sein, war dann zwei Jahre lang unter Christian Wulff niedersächsische Landesministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit, bevor sie 2005 ins Bundesministerium berufen wurde. Was mindestens ebenso großes Aufsehen erregte, war ihr quasi „nebenpolitisches“ Leben. So verfügte sie neben einer beruflichen Karriere als Ärztin samt Doktortitel auch noch über sieben Kinder. Sieben Kinder – geradezu mantrahaft fanden diese zwei Worte Erwähnung, sobald die Rede auf Ursula v. d. Leyen kam. Und dazu stets – ungläubig staunend – die Frage, wie und ob das denn alles zu schaffen sei. Dabei war dieses Staunen keineswegs immer bewundernd. Im Gegenteil: Herbe Kritik empfing die Ministerin sowohl von rechts wie von links, unumstritten war und ist weder ihre Person noch ihre Politik. So verwundert es fast, wie erfolgreich sie sich dennoch bislang auf der politischen Bühne behauptet. Zumal sie als Seiteneinsteigerin – vorausgesetzt, sie ist tatsächlich als eine solche zu titulieren – vermutlich kaum in der Politik verwurzelt war. Wie erklärt sich also das „Phänomen Ursula v. d. Leyen“ – und ist der Seiteneinstieg dabei mehr Restriktion oder gar Ressource?
Familiäre Herkunft und Jugend Ursula v. d. Leyen kam als Ursula Albrecht am 8. Oktober 1958 in Brüssel als drittes Kind des Akademiker-Paares Heidi Adele (geborene Strohmeyer) und Ernst Albrecht zur Welt. Ihre Mutter, eine promovierte Journalistin, hatte vor der Geburt der Kinder als Journalistin beim Bonner Generalanzeiger gearbeitet. Ihr Vater war in Heidelberg geboren, aufgewachsen jedoch in Niedersachsen. Sein Studium der Theologie und Philosophie brach er ab, um doch lieber „praktisch zu werden“2, sattelte um und widmete sich dem Studium der Volk1 In der obigen Reihenfolge: Haarhoff, Heike: Die Supermutterpowertochter, in: die tageszeitung, 03.03.2003; Köhler, Peter: Die Mutter des Humanvermögens, in: die tageszeitung, 09.02.2005; Geyer, Matthias: Die Mutter der Nation, in: Der Spiegel, 06.02.2006; Wehner, Markus: Die Familienrevolutionärin, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.01.2006. 2 O.V.: „Regieren, das eigentlich Interessante“, in: Der Spiegel, 19.01.1976.
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swirtschaftslehre, welches er 1953, im Alter von 24 Jahren, mit dem Diplom abschloss. Im selben Jahr wurde er Attaché bei der Montanunion, war als deutscher Sektionschef an der Ausarbeitung der Römischen Verträge und somit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) beteiligt, stieg 1958 sogar zum Kabinettschef der EWGKommission auf. 1959 folgte die Promotion, 1967 erreichte seine berufliche Karriere mit der Ernennung zum Generaldirektor für Wettbewerb in der Europäischen Gemeinschaft ihren vorläufigen Höhepunkt. Ursula v. d. Leyen wuchs also in einem großbürgerlichen, bildungsbeflissenen Elternhaus auf, in dem die Religion eine große Rolle spielte, wie überhaupt christlich-liberale Werte hochgehalten wurden. Sie und ihre Geschwister bewegten sich im privilegierten Umfeld der internationalen Brüsseler Beamtenschaft.3 Ursula besuchte von 1964 bis 1971 die dortige Europäische Schule, eine Ganztagsschule, auf der sie bereits im Grundschulalter mehrere Fremdsprachen lernte. Ihren zwei älteren Geschwistern folgten noch vier jüngere. Im Jahr 1971 musste Ursula miterleben, wie ihre einzige Schwester mit nur elf Jahren an Rückenmarkkrebs erkrankte und nach wochenlanger Pflege zu Hause schließlich der Krankheit erlag. Eine Erfahrung, die auch ihre spätere Berufswahl mit beeinflusst hat.4 Ihre Jugend verlebte sie also als einziges Mädchen im Kreise von fünf Brüdern, was auch ihre Streitkultur nachhaltig geprägt habe: „aufbrausend“ sei sie gewesen, „apodiktisch“ und habe „die Türen geknallt“.5 Zumindest aber hat es ihre Durchsetzungsfähigkeit trainiert, was ihr später noch zugute kommen sollte. Trotz der eher konservativen Rollenverteilung zu Hause – die Mutter kümmerte sich um die Kinder und den Haushalt (trägt auf Fotos sogar mit Vorliebe eine Schürze, obwohl allgemein bekannt ist, dass sie nicht selbst gekocht hatte)6, der Vater, erfolgreich im Beruf und auf internationalem Parkett unterwegs, ein „klassischer Ernährer“ – wird den Kindern stets vermittelt, dass Fleiß und Erfolg oberste Priorität genießen, dass Bildung unabdingbare Voraussetzung ist, und auch von der Tochter werden ohne Unterschied hohe Leistungen erwartet. Grundsätzlich, so v. d. Leyen später, habe sie ein Elternhaus erlebt, das „sehr glücklich“7 war, in dem es stets ein wenig turbulent, aber auch sehr offen zugegangen sei; ihre Eltern hätten vor den Kindern „eine glückliche, lebhafte, aber sehr direkte Ehe“8 geführt, in der auch Streitigkeiten durchaus vorgekommen seien – allerdings immer vor dem Hintergrund der Überzeugung, dass Ehe und Familie im Hause Albrecht als die höchsten, unter allen Umständen zu erhaltenden Güter galten. 1970 schließlich erfuhr das Leben der Albrechts eine Zäsur: Kurz vor den Landtagswahlen fragte der niedersächsische CDU-Vorsitzende Wilfried Hasselmann, Kandidat für das Ministerpräsidentenamt, bei Ernst Albrecht an, ob dieser bereit sei, als Wirtschaftsexperte in sein Schattenkabinett zu kommen. Albrecht sagte zu, gab seine hochdotierte Tätigkeit als Generaldirektor kurzerhand auf und siedelte mit seiner Familie aus Brüssel über in die niedersächsische Provinz, nach Ilten bei Hannover. Hier zog er zwar über die Landeslis3
Vgl. dazu die – wenn auch knappen – Schilderungen ihres Vaters in: Albrecht, Ernst: Erinnerungen, Erkenntnisse, Entscheidungen: Politik für Europa, Deutschland und Niedersachsen, Göttingen 1999, S. 43. 4 Vgl. Welser, Maria v.: „Meine Kindheit war eine Insel”. Interview mit Ursula von der Leyen, in: Cicero, H. 4/2007, S. 60-65. 5 Leyen, Ursula v. d.: „Ich habe eine Traum”, in: Die Zeit, 10.05.2007. 6 Vgl. Schmelcher, Antje: Dornröschen oder Eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.04.2007. 7 Von Welser 2007. 8 Ebd.
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te in den Landtag ein, der angestrebte Ministerposten blieb jedoch aus, da die CDU nicht wie erwartet als Sieger aus der Wahl hervorging – das laut Albrecht „eigentlich Interessante an der Politik […]: das Regieren“9 blieb ihm also vorerst verwehrt. Trotzdem engagierte er sich politisch weiter, profilierte sich auf wirtschaftspolitischem Terrain bald zum „besten Debattenredner der Opposition“10, wurde 1972 zum Schatzmeister der CDU Niedersachsen, zwei Jahre später zum stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden gewählt. Unmittelbar nach der christdemokratischen Wahlniederlage wurde ihm der Posten des stellvertretenden Geschäftsführers der Keksfabrik Bahlsen angetragen – eine Tätigkeit, die ihm genügend Zeit für die Politik ließ.11 1975 wurde Ernst Albrecht zum Spitzenkandidaten der Union ernannt und schon ein Jahr später überraschend, mit Stimmen aus der sozialliberalen Regierungskoalition – ein Umstand, der für einige Spekulationen sorgte –, zum Nachfolger des zurückgetretenen sozialdemokratischen Ministerpräsidenten gewählt. In den folgenden vierzehn Jahren als niedersächsischer Regierungschef trat Ernst Albrecht nicht nur mit seinen politischen Vorhaben an das Licht der Öffentlichkeit, sondern auch und besonders mit seiner Familie. „Homestories“ samt Bildern von Kindern und Ehefrau sowie Haustieren, in denen Albrecht dem Publikum Einblicke in sein Privatleben gewährte,12 ja gar eine Langspielplatte, auf der die Familie Volkslieder vertont, wurden über die Medien dem Publikum in regelmäßigen Abständen präsentiert. Stets strahlend vermittelte der Erfolg gewöhnte „Quereinsteiger“ den Eindruck einer heilen Bilderbuch-Familie. Und so war auch Ursula – von Familie und Freunden „Röschen“ genannt – von Jugend an öffentliche Auftritte gewöhnt; die fast Achtzehnjährige ließ sich ohne Murren im Kreise ihrer Geschwister, artig mit Rock und Bluse bekleidet, einen Kanon singend, ablichten. Zur ungefähr selben Zeit, so berichtet v. d. Leyen später, habe sich eine besonders enge Beziehung zwischen ihrem Vater und ihr entwickelt. Er sei für sie ein wichtiger und hilfreicher Gesprächspartner gewesen, der ihr bei Zweifeln und Unsicherheiten zur Seite gestanden habe.13 Besonderen Einfluss aber, so scheint es zumindest im Rückblick, machten auf das junge Mädchen die Schilderungen seiner politischen Tätigkeit, von der er zu Hause ausführlich und mit großer Begeisterung berichtete.
Die vorpolitische Karriere In Niedersachsen absolvierte Ursula v. d. Leyen die Karriere einer Hochqualifizierten: Besuch eines mathematisch-naturwissenschaftlich ausgerichteten Gymnasiums, Abschluss mit einem als „sehr gut“ zensierten Abitur, anschließend Aufnahme eines Hochschulstudiums. Hier führte sie offenbar ein relativ typisches „Studentenleben“, von strukturierten Tagesabläufen war noch wenig zu merken, sie sei „extrem chaotisch mit [ihrer] Zeit umgegangen […], habe Stunden gebraucht, um [sich] an die Bücher zu setzen“14. 1977 ging sie für einen Auslandsaufenthalt an die Londoner School of Economics. Hier, so berichtet sie, habe sie dann unter einem Pseudonym gelebt, in einer Wohngemeinschaft mit ihrem Onkel 9
O.V.: „Regieren, das eigentlich Interessante“, in: Der Spiegel, 19.01.1976. Schmidt, Josef: Der Sieger: Ernst Albrecht, in: Süddeutsche Zeitung, 07.02.1976. 11 Vgl. unter anderem ebd. 12 Vgl. o.V.: Personalien. Ernst Albrecht, in: Der Spiegel, 23.02.1976. 13 Vgl. zum Beispiel v. Welser 2007. 14 Leyen, Ursula v. d.: „Ich habe einen Traum”, in: Die Zeit, 10.05.2007. 10
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und habe sich erstmals völlig selbstständig und unerkannt bewegen können, ohne Verantwortung für den „großen Namen“. Von dieser Zeit des „Emanzipierens und Abnabelns“, die sie ihre „Sturm- und Dranghase“ nennt, erzählt sie heute mit einigem Entzücken.15 Aus dem Wunsch heraus, mehr in direktem Kontakt mit Menschen zu stehen, anstatt sich mit abstrakten Theorien auseinanderzusetzen, brach sie mit der Familientradition eines volkswirtschaftlichen Studiums16 und wechselte 1980 nach Hannover an die Medizinische Hochschule (MHH). Sieben Jahre später legte sie das Staatsexamen ab und erlangt die Approbation zur Ärztin. Im selben Jahr bekam sie ihr erstes Kind. Der Vater war Heiko v. d. Leyen, ebenfalls ein Mediziner. Die beiden hatten sich noch während des Studiums kennengelernt und 1986 geheiratet. Ab 1988 arbeitete sie als Assistenzärztin in der Gynäkologie an der MHH. Bis zum Abschluss ihrer Promotion im Jahr 1991 war sie bereits dreifache Mutter geworden. Diese Jahre als Mutter von mehreren kleinen Kindern und berufstätige Assistenzärztin beschreibt v. d. Leyen im Nachhinein als die schwierigste Zeit ihres Lebens,17 in der sie „schmerzhaft“18 mit den Problemen konfrontiert worden sei, die der Versuch der Vereinbarkeit von Kindern und Beruf mit sich brachte. Zum Ersten erwiesen sich die Arbeitszeiten im Schichtdienst als höchst ungünstig. Zum Zweiten sei die wissenschaftliche Laufbahn ab dem Moment des Bekanntwerdens ihrer ersten Schwangerschaft für sie passé gewesen, da sie sich als Mutter nicht mit vollem Einsatz der Wissenschaft widmen konnte.19 Wobei hier relativiert werden muss: Neben Unverständnis seitens vieler Kollegen stieß sie auch auf Unterstützung, zum Beispiel bei ihrem Chef, der sie ausdrücklich ermunterte, nach einiger Zeit wieder an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren.20 Überhaupt unterscheiden sich hier ihre eigenen Schilderungen beträchtlich von denen anderer. Allein der Name Albrecht, so einer ihrer damaligen Vorgesetzten, hätte bewirkt, dass niemand gewagt hätte, der ambitionierten Assistenzärztin Steine in den Weg zu legen.21 Zum Dritten sei sie ständig hin- und hergerissen gewesen zwischen dem Wunsch, ihre Karriere als Ärztin nicht schleifen zu lassen und dem Anspruch, eine „gute“ Mutter zu sein. Aufgrund des permanenten schlechten Gewissens22 und der immer wieder kehrenden Angst vor Überforderung habe sie zunächst „innerlich kapituliert“23 und schließlich ihre Facharztausbildung zur Gynäkologin 1992 vollständig abgebrochen. Im selben Jahr erhielt ihr Mann einen Ruf an die Stanford University in Kalifornien. Über die folgenden vier Jahre, die die Familie in den USA verbrachte, äußert sich Ursula v. d. Leyen stets mit großem Enthusiasmus: Zum ersten Mal hätten sie als kinderreiche Familie Wertschätzung erfahren. Von dieser „wunderbaren amerikanischen Mischung aus Prag-
15
Zitiert nach ebd. Vgl. v. Welser 2007. 17 Vgl. zum Beispiel Eubel, Cordula/Monath, Hans: „Ich möchte gar nicht provozieren“. Interview mit Ursula von der Leyen, in: Der Tagesspiegel, 19.12.2005. 18 Ostreich, Heide/Mika, Bascha: „Eine Kanzlerin ist besser als die Frauenquote“. Interview mit Ursula von der Leyen, in: die tageszeitung, 18.02.2006. 19 Vgl. v. Welser 2007; vgl. auch o.V.: Komplettes Leben, in: Die Welt, 20.02.2007 20 Vgl. v. Welser 2007. 21 Vgl. Schmelcher, Antje: Dornröschen oder Eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.04.2007. 22 Vgl. zum Beispiel Lache, Anette/Gerwien, Tilmann: „Deutschland ist rückständig”. Interview mit Ursula von der Leyen, in: Stern, 26.01.2006; Schwarzer, Alice: „… und immer das schlechte Gewissen“. Interview mit Ursula von der Leyen, in: Emma, H. 3-4/2006. 23 Schwarzer 2006. 16
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matismus und Hilfsbereitschaft“24 schwärmt sie heute noch, auch ist sie angetan von der dortigen Fortschrittlichkeit: Hochqualifizierte Frauen mit Kindern würden hier nicht nur akzeptiert, sondern auch gefördert.25 Selbst unternahm sie in den USA beruflich erste Schritte in eine neue Richtung. Sie besuchte Kurse als Gasthörerin an der Graduate School of Business an der Stanford University, erwarb Zusatzqualifikationen im Bereich der Gesundheitssystemforschung. Zurückgekehrt nach Deutschland, knüpfte sie hier an und nahm 1997 ein Postgraduiertenstudium an der Medizinischen Hochschule Hannover auf, das sie 2001 mit dem Master of Public Health abschloss und war anschließend bis 2002 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der dortigen Abteilung für Epidemiologie, Sozialmedizin und Gesundheitssystemforschung beschäftigt. Auch während dieser Zeit bekamen die v. d. Leyens zwei weitere Male Nachwuchs.
Klassische Großbürgerlichkeit Entgegen der verbreiteten Vorstellung, Ursula v. d. Leyen sei gewissermaßen der „lebende Beweis für die rubbellose Vereinbarkeit von Beruf und Familie“26, zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass dieses Urteil auf sehr oberflächlichen Beobachtungen beruht. So hat sie zwar zwischen 1987 und 1999 – innerhalb von zwölf Jahren – sieben Kinder bekommen, während dieser Zeit aber auch insgesamt sieben Jahre – ein Jahr pro Kind – im Beruf pausiert. Dabei betont sie, dass insbesondere die Anfangszeit sie immens überfordert habe, sie erst im Lauf der Jahre entspannter und auch belastbarer geworden sei.27 Überhaupt sei dies alles nur zu schaffen gewesen durch externe Unterstützung sowie ausreichende finanzielle Mittel, über welche die Familie v. d. Leyen nun einmal verfügt habe. Aus dieser Perspektive wirkt ihre Biografie schon nicht mehr ganz so realitätsfern, hat sie auch von günstigen Voraussetzungen profitiert. Inzwischen lebt die neunköpfige Von-der-Leyen-Familie seit Sommer 2007 wieder zusammen mit dem mittlerweile 77-jährigen Ernst Albrecht in dessen Landhaus in Burgdorf bei Hannover. Im Haushalt und bei der Betreuung der sieben Kinder – von denen sechs noch zur Schule gehen, der älteste Sohn studiert – gehen Tagesmutter und Haushaltshilfe zur Hand. Bei alldem scheinen die v. d. Leyens geradezu das Paradebeispiel einer klassischen, großbürgerlichen Familie zu sein, deren Lebensmodell man im 21. Jahrhundert eigentlich für überkommen erklären würde. So sind Religion, christliche Werte und Rituale wichtige Bestandteile im v. d. Leyenschen Familienleben. Außerdem musiziert man gemeinsam und übt in der Freizeit Reitsport. Weniger traditionell – moderner – ist die Rollenverteilung im Hause v. d. Leyen: Beide Eltern gehen einem Beruf nach, und Ursula v. d. Leyen betont, dass ihr Mann „mindestens so viel Elternarbeit“28 wie sie selbst übernehme.
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Leyen, Ursula v. d.: „Ich habe eine Traum”, in: Die Zeit, 10.05.2007. Vgl. Schwarzer 2006. 26 Schmelcher, Antje: Dornröschen oder Eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.04.2007. 27 Vgl. Wehner, Markus: “Führungsqualitäten lernt man in der Familie”. Interview mit Ursula von der Leyen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.12.2005. 28 Schwarzer 2006. 25
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Der Einstieg in die Politik Im Alter von knapp vierzig Jahren entschloss sich Ursula v. d. Leyen, noch einmal einen ganz anderen Karrierepfad einzuschlagen. Zwar war sie bereits 1990 in die CDU eingetreten – sie und ihre Brüder hatten sich gemeinsam, aus Protest über die Abwahl ihres Vaters als niedersächsischer Ministerpräsident, zu diesem Schritt entschlossen. Es handelte sich hierbei also eher um eine Geste der Solidarität29 denn Ausdruck des Wunsches, selbst politisch aktiv werden zu wollen. So folgte dem Beitritt auch über lange Jahre keinerlei politisches Engagement. Auch als sie Ende der 1990er Jahre dem „Arbeitskreis Ärzte“ der CDU Niedersachsen, sowie dem Landesfachausschuss Soziales und Gesundheit angehört hatte und beratend in der Landespolitik tätig gewesen war, hatte ihre medizinisch-wissenschaftliche Tätigkeit noch eindeutig Priorität genossen. Erst ein gutes Jahrzehnt nach ihrem CDU-Beitritt sollte dies anders werden. Es überfiel sie eine tiefe Unzufriedenheit mit der beruflichen Situation, der Wunsch, an der Organisation des Gesundheitswesens etwas ändern zu wollen, wurde immer drängender. Persönliche negative Erfahrungen waren also ihr ursprünglicher Antrieb, ihr originäres Motiv für den Gang in die Politik, Ziel die Landesebene. Dieses Bedürfnis nach Mitentscheidung und -gestaltung konnte durch die bisherigen Beratungstätigkeiten allein allerdings nicht befriedigt werden. Also suchte sie ab 2001 einen anderen Weg. Dass dieser Weg über die Politik führen würde, war ihr von Anfang an klar; ob Politik sich überhaupt eignete, diese Frage hatte sich gar nicht gestellt. Dafür eine andere: Über praktische Erfahrungen verfügte sie nicht, also war ihr auch die geeignete Art und Weise des Einstiegs unbekannt, wusste sie schlichtweg nichts über den „besten“ Weg in die Politik. Auch von ihrem Vater konnte sie keine Hilfe erwarten, war er doch einst selbst als „Quereinsteiger“ aus Brüssel in die niedersächsische Politik gekommen. Rat erhielt sie in dieser Situation von Christian Wulff, mit dem sie spätestens seit ihrer Beratertätigkeit in zumindest lockerem Kontakt stand; dieser wies ihr die ersten Schritte in die Politik. Allerdings stieg sie erstmal nur auf kommunaler Ebene ein. Die in den Medien vielfach verbreitete Aussage, es sei Christian Wulff gewesen, der sie als ihr Entdecker in die Politik geholt, ihr „diskret, aber mit Nachdruck den Weg geebnet“30 habe, muss vor diesem Hintergrund zumindest insofern relativiert werden, als dass der Schritt erstens eindeutig auf ihre Initiative hin geschah, er sie zweitens nicht sofort in ein hohes politisches Amt hob, und dass man – drittens – seinen Rat, sich erstmal an den Ortsverband zu wenden, in gewisser Weise auch als „Bremsversuch“ deuten kann, er ihren Ambitionen somit zumindest anfangs zweifelnd gegenüberstand.
Kommunalpolitik und höhere Ambitionen Unbeirrt jedoch widmete sich v. d. Leyen nun mit vollem Elan der Sehnder Kommunalpolitik. Nicht jedem dort gefiel allerdings ihr enormer Eifer. Ihre Werbekampagne in eigener Sache habe den Ort „überrollt […] wie eine Lawine“31. Schließlich, nachdem die CDU in 29 Vgl. Wehner, Markus: “Führungsqualitäten lernt man in der Familie”. Interview mit Ursula von der Leyen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.12.2005. 30 Harnischmacher, Josef: Ganz der Vater, in: Agence France Press, 21.2.2003. 31 Zitiert nach Schmelcher, Antje: Dornröschen oder Eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.04.2007.
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Sehnde tatsächlich die Mehrheit errungen hatte, wurde ihr Engagement mit dem Posten der Fraktionsvorsitzenden honoriert. Zur Vorbereitung auf die erste Sitzung fuhr sie in den Nachbarort Lehrte, schaute sich dort den genauen Ablauf an, notierte akribisch, wer wann welche Frage stellt – um dann in Sehnde das Gleiche zu tun und nicht gleich zu Beginn als Unerfahrene bloßgestellt werden zu können. Wie Ausschüsse funktionieren, wie man eine Fraktionssitzung leitet, auch wie man Reden hält – all das war ihr schließlich unbekannt gewesen. Wie eine strebsame Schülerin „protokolliert[e] sie eifrig mit“32, um ja nicht durch Unwissen aufzufallen. Gewissermaßen im „Schnelldurchlauf“ eignete sie sich auf diese Weise das grundlegende politische Handwerkszeug an. Der schnelle Aufstieg der vormals kommunalpolitisch Unbekannten ließ aber auch aufhorchen. Besonders einige Oppositionsmitglieder im Sehnder Stadtrat beäugten sie argwöhnisch, fühlten sich provoziert. Ursula v. d. Leyen hatte jedoch schon die nächste Stufe ins Auge gefasst. An ihrem eigentlichen Ziel, der Landespolitik, hielt v. d. Leyen unbeirrbar fest, nutzte sogleich die nächste sich bietende Chance, um für den niedersächsischen Landtag zu kandidieren. Für diese Kandidatur suchte sie sich ausgerechnet den Wahlkreis Burgdorf/Lehrte aus – den ehemaligen Wahlkreis ihres Vaters. Den hatte aber seit über zehn Jahren unangefochten ein etablierter Landtagsabgeordneter, Lutz v. d. Heide, inne gehabt. Trotz der zu erwartenden Schwierigkeiten entschied sie sich für eine Kampfkandidatur; schließlich gäbe es in der Politik „keine Erbhöfe“33 – dass diese Aussage ausgerechnet von ihr stammt, die den Wahlkreis in gewissem Sinne auch „erben“ würde, von ihrem Vater, zeugt von einiger Ironie. Allerlei innerparteiliche Querelen waren die Folge und ließen sie erleben, wie „mühsam es sein kann, sich durch die Niederungen der Landespolitik zu kämpfen“34. Nicht zuletzt kam ihr dabei die Bild-Zeitung Hannover zugute, die sich fördernd hinter v. d. Leyen stellte und eine Kampagne startete, in der das eigentliche Opfer v. d. Heide zum „Nestbeschmutzer“ stilisiert wurde.35 Auch hatte sie Christian Wulff, der sie „gern im Landtag sähe“36, als namhaften Unterstützer hinter sich. Nach einer uneindeutigen Abstimmung wurde ein neuer Wahltermin angesetzt, v. d. Leyen nutzte die dazugewonnene Zeit noch einmal, um sich gegenüber ihrem Kontrahenten zu profilieren.37 Die zweite Abstimmung gewann sie dann deutlich. Dem Unterlegenen war die Verbitterung anzumerken: Natürlich habe er gegen sie mit „ihrer Dynamik und ihrem Lächeln“ nicht ankommen können – und nicht zum letzten Mal begegnete ihr der Vorwurf, sie stamme aus dem „natürlich günstigeren Umfeld“ und gegen diese „Aura der Tochter ihres Vaters“38 sei man eben machtlos.
Die umstrittene Landesministerin Bei der niedersächsischen Landtagswahl im Februar 2003 trat v. d. Leyen daher als Direktkandidatin der CDU für den Wahlkreis Burgdorf an, rangierte gar auf dem sicheren Platz
32
Germis, Carsten: Die Strahlefrau, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.07.2003. O.V.: Personalien. Ursula von der Leyen, in: Der Spiegel, 19.11.2001. Boecker, Arne: Mit „Röschen“ gegen die Roten, in: Süddeutsche Zeitung, 27.05.2002. 35 Vgl. Schmelcher, Antje: Dornröschen oder Eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.04.2007. 36 Boecker, Arne: Mit „Röschen“ gegen die Roten, in: Süddeutsche Zeitung, 27.05.2002. 37 Vgl. ebd. 38 Zitiert nach Haarhoff, Heike: Die Supermutterpowertochter, in: die tageszeitung, 03.03.2003. 33 34
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Drei der Landesliste39 und landete schließlich als Abgeordnete im Landtag von Niedersachsen. Die CDU gewann die Wahl, Christian Wulff wurde Ministerpräsident – und holte Ursula v. d. Leyen als Ministerin für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit in sein Kabinett. Damit hatte sie ihr ursprüngliches Ziel, die Landespolitik, also fürs Erste erreicht. Doch anstatt alle Hebel in Bewegung zu setzen, um die Arbeitsbedingungen für berufstätige Eltern im Gesundheitssystem zu verbessern, geriet sie in den kommenden zwei Jahren politisch eher negativ in die Schlagzeilen. So machte sie vor allem durch massive Kürzungsvorhaben im Sozialbereich von sich reden. Der neue Ministerpräsident schickte das stark verschuldete Land auf einen rigiden Sparkurs, von dem auch der Etat des Sozialministeriums betroffen war. Für den größten Aufruhr sorgten die Abschaffung des Landesblindengelds sowie die geplante Privatisierung der Landeskrankenhäuser – Zehntausende gingen protestierend auf die Straße,40 Vorwürfe, die Ministerin sei „allein am Stopfen von Haushaltslöchern“41 interessiert und verfolge ausschließlich Gewinnmaximierungsprinzipien, wurden laut.42 Noch nie habe es eine Sozialministerin in Niedersachsen gegeben, „die so wenig Interesse an den sozial Schwachen im Land hatte – dafür aber um so mehr an ihrer eigenen Karriere in der Partei“43, wütete der Oppositionsführer Sigmar Gabriel. Bei all diesen Angriffen konnte sie sich nur bedingt auf den Rückhalt ihrer Fraktion verlassen – die „charismatische Ursula von der Leyen“ und die „selbstbewusste CDULandtagsfraktion“44 ergaben nicht unbedingt ein harmonisches Ganzes. Dennoch: Bereits vor der Wahl hatte sie verkündet, vor etwaigen Widerständen nicht zurückzuschrecken, und tatsächlich erwies sie sich den Angriffen gegenüber sehr resistent.45 Auch erkannten die meisten Christdemokraten trotz allem ihr Potenzial als „Zugpferd“46. Schließlich verkörperte sie einen neuen, ungewohnten Typus innerhalb der Union47 – dieses Potenzial wollte man nicht ungenutzt lassen, hoffte man doch, über sie neue Anhänger zu gewinnen. Diesen speziellen „politischen Symbolwert“, den erstmals Christian Wulff erkannt hatte, nahm auch bald Angela Merkel wahr und holte die Niedersächsin noch 2003 in die HerzogKommission, in der sie das Konzept der „Gesundheitsprämie“ mit erarbeitete. Ein Jahr später stellte sich die bundesweit noch relativ Unbekannte auf dem Düsseldorfer CDUParteitag mit den Worten: „Mein Name ist Ursula von der Leyen. Ich bin Sozialministerin in Niedersachsen. Mein Mann und ich haben sieben Kinder“ vor, erntete tosenden Beifall und wurde überraschend – da eigentlich nur als Ersatzkandidatin aufgestellt – und mit großer Zustimmung – 94,1 Prozent – in das Parteipräsidium gewählt.48 2005 dann wendete sich Angela Merkel erneut an sie mit der Bitte, den Vorsitz in der Kommission „Eltern, Kinder, Beruf“ zu übernehmen. Von der Leyen nahm die Aufgabe an, obwohl doch eigentlich die Gesundheitspolitik ihr Steckenpferd war, sicherlich bestens bewusst, welche weiteren 39
Vgl. Wallbaum, Klaus: Von der Leyen landet auf Platz drei, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 27.05.2002. Vgl. ders.: Warum auch Ursula von der Leyen sparen muss, in: Stuttgarter Zeitung, 13.09.2004. Mlodoch, Peter: Klinik-Verkauf sorgt für Streit, in: Frankfurter Rundschau, 19.09.2005. 42 Vgl. die grüne Fraktionsvizechefin Ursula Helmhold in: ebd. 43 Dohmes, Jens Peter: „Mehr an Karriere als an Arme gedacht“, in: Neue Osnabrücker Zeitung, 15.12.2004. 44 Wallbaum, Klaus: Die Bundesministerin will ein „Anker“ sein, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 30.11.2005. 45 Vgl. zum Beispiel Tenfelde, Beate: „Ich habe fünf Brüder, das trainiert“, in: Neue Osnabrücker Zeitung, 25.01.2003. 46 Haarhoff, Heike: Die Supermutterpowertochter, in: die tageszeitung, 03.03.2003. 47 Vgl. zum Beispiel Germis, Carsten: Die Strahlefrau, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.07.2003. 48 Vgl. zum Beispiel Roll, Evelyn: Auch die Herren sind beeindruckt, in: Süddeutsche Zeitung, 06.06.2005. 40 41
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Chancen sich mit Hinsicht auf die Bundesebene daraus ergeben konnten. In der Folgezeit beschäftigte sie sich somit erstmals systematisch mit Familienpolitik und fand Gefallen an dem Thema, für das sie vielleicht in privater, weniger jedoch in professioneller Hinsicht prädestiniert erschien, und war auch hier wieder mit dem für sie typischen Eifer bei der Sache. Nach und nach gewann v. d. Leyen also ein Amt nach dem nächsten dazu, profilierte sich und zog Aufmerksamkeit auf sich, sodass der nächste Schritt fast als logische Konsequenz erschien. Als sich 2005 die vorgezogene Bundestagswahl ankündigte, wurde sie von Angela Merkel in deren Kompetenzteam für das Ressort Familie berufen und, nachdem die Union knapp die Wahl gewonnen hatte, innerhalb der Großen Koalition zur Bundesministerin für Familie, Soziales, Frauen und Jugend ernannt.
Thronerbin oder Politiknovizin? Als Ursula v. d. Leyen begann, politisch aktiv zu werden, hatte sie also bereits eine relativ erfolgreiche Karriere in einer ganz anderen beruflichen Sparte hinter sich. Innerhalb von kürzester Zeit avancierte sie zur Bundesfamilienministerin, ohne sich seit Jugendzeiten durch die Parteiebenen hinauf gehangelt zu haben Gemäß der von den Herausgebern in der Einleitung aufgeführten Definitionskriterien – Karriere in einem politikfernen Bereich, Umgehung der Ochsentour – ist sie also eindeutig eine Seiteneinsteigerin. Doch ganz so simpel ist es nicht. Schließlich ist sie auch die Tochter von Ernst Albrecht, dem ehemaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten. Bedeutet dies nun, dass „das einzige, das von der Leyen mit der Politik verbindet, die Abstammung“49 ist – also eine gleichsam zufällige, für sie im Grunde konsequenzlose Verknüpfung? Oder war sie durch das väterliche Erbe von Kindheit an so stark mit der Politik verbunden, dass sie gar keine genuine Seiteneinsteigerin ist, es sich bei ihr viel eher um eine „besonnte Tochter“50 handelt, die als „Spross der niedersächsischen CDU-Aristokratie“51 automatisch in hohe politische Ämter katapultiert wurde, weil väterliche Beziehungen ihr den Weg ebneten?
Wie der Vater, so die Tochter Für Letzteres spricht, dass sie tatsächlich, wie sie selbst ja betont, stark durch ihren Vater geprägt wurde, er ihr als großes Vorbild gilt.52 Durch die Begeisterung, mit der er zu Hause von seiner politischen Tätigkeit berichtete, sei ihr überhaupt erst das positive Grundverständnis von Politik vermittelt worden. Somit ist auch ihre Motivation, selbst politisch aktiv zu werden, letztlich auf ihn zurückzuführen. Durch ihre Jugenderinnerungen waren ihr auch öffentliche Auftritte nicht fremd, sie verfügte zumindest über eine gewisse Vertrautheit mit politischen Abläufen. Der Einfluss ihres Vaters ist also nicht zu unterschätzen, zumal er ihr 49
Wallbaum, Klaus: Eine moderne Traditionalistin auf dem Weg nach Berlin, in: General-Anzeiger, 02.08.2005. Köhler, Peter: Die Mutter des Humanvermögens, in: die tageszeitung, 09.02.2005. 51 Neukirch, Ralf/Pfister, René: Neid und bräsiger Trotz, in: Der Spiegel, 12.11.2007. 52 Vgl. zum Verhältnis zum Vater beispielsweise Christian, Johann: Aus „Röschen“ wurde eine Rose, in: Welt am Sonntag, 10.11.2002; vgl. auch Hildebrandt, Tina/Niejahr, Elisabeth: Ministerin an der Grenze, in: Die Zeit, 29.11.2007 sowie Knaup, Horand u.a.: Lächelnd beim Tischgebet, in: der Spiegel, 24.04.2006. 50
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auch heute noch in politischen Fragen ein Ratgeber ist, bei der ersten Kabinettssitzung in Niedersachsen sogar mit am Verhandlungstisch saß.53 Auch orientiert sich ihre Politik an denselben Grundüberzeugungen, am christlich-liberalen Wertesystem. Überhaupt ist erstaunlich, wie sehr sie ihm in so vielen Dingen auf frappierende Weise ähnelt. Auch Albrecht musste sich den Beinamen „Strahlemann“54 gefallen lassen. Ebenso wie die Albrechts führen die v. d. Leyens ein geradezu unglaublich harmonisches und idealtypisch großbürgerliches Familienleben, sogar die Anzahl der Kinder – nämlich sieben – stimmt überein. Auch Albrecht scheute nicht davor zurück, diese private heile Welt bereitwillig in den Medien zu präsentieren – die Bilder gleichen sich sosehr, dass man in der Tat genau hinschauen muss, um zu erkennen, ob es sich um Familie Albrecht oder v. d. Leyen handelt. Außerdem sind sowohl Vater als auch Tochter voll des Vertrauens in die eigenen Fähigkeiten,55 beide strahlen eine gewisse „Unangreifbarkeit“56 aus, verfügen über die „seltene Fähigkeit, mit Freundlichkeit andere Menschen auf Distanz zu halten“57. In der Tat sind beide keinesfalls unumstritten in ihren politischen Ämtern, beiden schlägt Misstrauen und Kritik entgegen,58 trotzdem konnten und können sie sich lange und erfolgreich auf der politischen Bühne halten. Im Grunde erscheint es, als ob die Tochter in vielerlei Hinsicht eine Generation später den Lebenslauf ihres Vaters wiederholte. Genau wie er brach sie ihr Erststudium nach sechs Semestern ab, um in einen ganz anderen, für geeigneter erachteten Bereich zu wechseln. Die auffälligste Parallele ist aber, dass sie sich beide, trotz erfolgreicher Karriere, in der Mitte ihres Lebens noch einmal ganz neu orientierten und in die Politik wechselten – wobei sie beide gerufen wurden, man sich von ihnen einen ganz bestimmten Nutzen versprach: Sie sollten der Union ein „modernes Gesicht“ verpassen, sie auf die Höhe der Zeit bringen.
Die Seiteneinsteigerin: Restriktionen und Ressourcen Dass Ursula v. d. Leyen aber allein als „Tochter Ernst Albrechts“ an die Macht gekommen ist, lässt sich dennoch bezweifeln. Dagegen spricht, dass sie erst mit vierzig Jahren überhaupt politisch aktiv wurde und das politische Geschehen zwischenzeitlich so vielen Wandlungsprozessen unterworfen war, dass auch für sie das meiste neu war, sie nicht einfach an ihren Vater anknüpfen konnte. Albrechts im Familienkreis abgehaltene Schilderungen über den Politikbetrieb beschränkten sich außerdem auf die positiven Aspekte und blendeten die negativen aus, sodass er seinen Kindern vielleicht die Freude am Politikmachen vermittelte, nicht aber das konkrete Handwerkszeug dazu. Schließlich offenbarte die Ministerin oft genug ihre Unwissenheit, wie wenig sie sich mit den politischen Gepflogenheiten auskann-
53 Vgl. Schmelcher, Antje: Dornröschen oder Eine Vereinbarkeit von Familie und Beruf, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.04.2007. 54 Vgl. zum Beispiel Schreiber, Hermann: Gott und die Majorität, in: Der Spiegel, 08.03.1976. 55 Vgl. zum Beispiel Monath, Hans: Die Unmögliche, in: Der Tagesspiegel, 20.03.2006. 56 Tenfelde, Beate: „Ich habe fünf Brüder, das trainiert“, in: Neue Osnabrücker Zeitung, 25.01.2003. 57 Harnischmacher, Josef: Ganz der Vater, in: Agence France Press, 21.02.2003. 58 Vgl. bezüglich Albrecht beispielsweise Bittner, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Sturmfest und erdverwachsen: schwarze Geschichten über Ernst Albrecht und die CDU, Göttingen 1980; bezüglich v. d. Leyen vgl. zum Beispiel Monath, Hans: Die Unmögliche, in: Der Tagesspiegel, 20.03.2006.
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te, und verhielt sich so „politiker-untypisch“59, dass man gar nicht umhin kommt, sie als „Neuling“ zu bezeichnen. Durch das Fehlen der Ochsentour verfügte sie bei ihrem Eintritt in die Politik zudem über keinerlei Seilschaften,60 ihr fehlten Drähte und Kontakte in Partei und Fraktion,61 die man sich bis dahin normalerweise schon in JU-Zeiten aufgebaut hat und von denen man später profitiert. Sie verfügte über keine Parteifreundschaften, auf die sie in schwierigen Zeiten hätte zurückgreifen können, die parteiinternen Machtstrukturen blieben ihr verborgen. Auch war ihr oftmals nicht bekannt, welche Meinung die Union in einer bestimmten Angelegenheit überhaupt vertrat, welche unantastbaren Parteibeschlüsse sie – manchmal unbewusst – in Frage stellte. Ebenso hatte sie keine Ahnung von Sitzungsabläufen, Festivitätsgepflogenheiten oder innerparteilichen Sprachregelungen, musste sich diese Kenntnisse erst mühsam aneignen.62 So betonte sie schon zu Beginn ihrer Karriere: „Macht mit mir, was Ihr wollt, aber lasst mich nie auf Empfängen rumstehen.“63 Diese standhafte Weigerung trug mit Sicherheit nicht eben zur Kompensation ihrer Seiteneinsteiger-Defizite bei – gilt zum Beispiel das informelle Miteinander auf beziehungsweise nach Veranstaltungen gemeinhin doch als unabdingbarer Bestandteil einer erfolgreichen politischen Karriere. Mittlerweile scheint sie aber in der Lage, diese anfangs zweifellos fehlenden Netzwerke ebenfalls zu knüpfen. Nur tut sie dies offenbar anders als üblicherweise im Politikbetrieb weniger durch gesellige Treffen, auf denen dann zu später Stunde Verbrüderungen geschlossen werden, als denn durch gezieltes Kontakteschmieden auf beruflicher Ebene, durch gegenseitigen fachlichen Austausch. Ihr kommt dabei zupass, dass sich möglicherweise in den letzten Jahren Einiges an den „Berliner Gepflogenheiten“ geändert hat, dass unter einer ebenfalls nicht für ihre Vorliebe für „abendliche Kungelrunden“ bekannte Kanzlerin Merkel diese Form des Netzwerkens gar nicht mehr eine so notwendige Bedingung für politischen Erfolg ist.64 Dennoch: Als frisch gebackene Familienministerin war sie geradezu schockiert, von dem was sie auf der Berliner Politikbühne empfing, war beispielsweise nicht vorbereitet auf den schonungslosen Umgang der Journalisten mit Politikern. Überhaupt empfand sie die Medien „wie eine Wand“65, wertete zu Anfang jeden ironischen Kommentar als persönlichen Angriff.66 Erst im Laufe der Zeit lernte sie, sich eine dicke Haut zuzulegen und Kritiken nicht mehr so stark an sich heranzulassen, akzeptierte, eine „Projektionsfläche“67 für Kritik zu sein, reagierte auf Provokationen mit schlagfertigem Konter.68 Auch der Umgang der Politiker mi59 Vgl. zum Beispiel Braun, Stefan: „Ich weiß, dass ich eine Provokation bin“, in: Stuttgarter Zeitung, 01.02.2006; vgl. auch Schneider, Jens: Zu schnell für Bremsversuche, in: Süddeutsche Zeitung, 12.03.2007. 60 Vgl. Fertmann, Ludger: Albrechts Tochter geht in die Landespolitik, in: Hamburger Abendblatt, 27.02.2002. 61 Vgl. Hoffmann, Andreas: Kinder und Karriere, in: Süddeutsche Zeitung, 18.08.2005. 62 Vgl. zum Beispiel Schneider, Jens: Zu schnell für Bremsversuche, in: Süddeutsche Zeitung, 12.03.2007. 63 Roll, Evelyn: Auch die Herren sind beeindruckt, in: Süddeutsche Zeitung, 06.06.2005. 64 Vgl. Kurbjuweit, Dirk: Die Frauenrepublik, in: Der Spiegel, 18.06.2007. Der Autor vertritt die Meinung, dass dieser Wandel in der politischen Kultur in erster Linie damit zusammenhänge, dass erstmals eine Frau an der Spitze der Regierung stehe, weil es „einen Unterschied mach[e], ob eine Frau regiert oder ein Mann“, dass Frauen „zielstrebig, aber geräuschlos“ Politik machten. 65 Zitiert nach Braun, Stefan: „Ich weiß, dass ich eine Provokation bin“, in: Stuttgarter Zeitung, 01.02.2006. 66 Als Beispiel sei hier Ursula v. d. Leyens Auftritt in der Polit-Talkshow „Hart aber fair“ angeführt. Die Begrüßung des Moderators Frank Plasberg empfindet sie nicht als eine der für ihn üblichen Provokationen, sondern als persönliche Beleidigung; vgl. dazu ebd. 67 Vgl. zum Beispiel Rollmann, Annette: Ursula von der Leyen im Gespräch mit “Das Parlament“, 14.07.2008, in: http://www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/Kategorien/aktuelles,did=111834.html [eingesehen am 29.07.2008]. 68 Vgl. zum Beispiel Ursula v. d. Leyens verbalen Schlagabtausch mit Journalisten im Interview mit dem Stern vom 08.02.2007.
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teinander irritierte sie anfangs stark: Auseinandersetzungen, so beklagte sie, fänden „nur selten direkt“69 statt, stattdessen laufe alles über „Papiere, Agenturmeldungen, Interviews“, kaum jemand habe den Mut, Konflikte im persönlichen Gespräch auszufechten. Hinzu kommt, dass Ursula v. d. Leyen sich ganz offen von „derlei Parteigehabe distanziert“70, keinen Zweifel daran lässt, dass viele innerparteiliche Gepflogenheiten bei ihr nicht auf Gegenliebe stoßen, sie eigentlich wohl auch gar keine Lust auf dieses innerparteiliche „Klein-Klein“ hat – was dazu führte, dass sich „mancher an der Basis schon arrogant behandelt“71 fühlte, der Quereinsteigerin Neid und Missgunst entgegenschlugen.72 Ihre nachdrückliche Herausstellung der Bedeutsamkeit eigener Erfahrungen aus der vorpolitischen Karriere für ihr Ministeramt musste den Eindruck erwecken, dass sie ihre Variante im Grunde tatsächlich für die „bessere“ hält. Dass erkennbar für sie die subjektive Relevanz eines Themas ein verlässlicheres Indiz für Kompetenz als langjährige Partei- und Politikerfahrung zu sein scheint, erklärt, warum so viele Berufspolitiker gereizt auf die Ministerin reagieren. Im Übrigen lässt sie nie einen Zweifel an ihrem Selbstverständnis als Seiteneinsteigerin, verwehrt sich keineswegs gegen diese Titulierung oder fühlt sich gar bemüßigt, diese zu relativieren.73 Und natürlich bringt der Seiteneinsteiger-Status auch einige Vorteile für v. d. Leyen mit sich. Erstens kann sie durch ihre vermeintliche Unerfahrenheit so manchen Ausrutscher entschuldigen; zweitens verleiht man Seiteneinsteigern gerne die Aura des Exotischen, gesteht ihnen damit auch einen etwas größeren Experimentierraum zu;74 drittens kann ihr in Zeiten der allgemeinen Politikerverdrossenheit das „Image einer vom Politikbetrieb unverdorbenen Frau“75 nur entgegenkommen; und viertens kann sie daraus den subjektiven Nutzen ziehen, in geringerem Maße als Berufspolitiker in einem Abhängigkeitsverhältnis von der Politik zu stehen, somit auch weniger Furcht vor einem eventuellen Misserfolg haben zu müssen und deshalb mit größerer Unbefangenheit auch unliebsame Vorhaben angehen zu können. So demonstriert sie ja stets eine große Unabhängigkeit gegenüber Parteimeinung und politischen Gepflogenheiten, was zum einen natürlich als persönliche Absicherung verstanden, zum anderen aber genauso gut als „Drohung“ aufgefasst werden kann: Sie macht von vorneherein klar, dass die Politik für sie nur ein mögliches Betätigungsfeld ist, sie sich von etwaiger Kritik nicht unter Druck setzen lässt.
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Braun, Stefan: „Ich weiß, dass ich eine Provokation bin“, in: Stuttgarter Zeitung, 01.02.2006. Ebd. 71 Ebd. 72 Vgl. ebd. 73 Vgl. zum Beispiel Blanke, Christel/Ziegler, Ulrich: Von der Leyen will Rechte von Kindern stärken, in: Deutschlandradio Kultur, 15.12.2007, http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/tacheles/711638/ [eingesehen am 03.04.2008] oder o.V.: „Deutschland kommt nicht vom Fleck“ (Interview mit Ursula v. d. Leyen), in: „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“, 18.02.2005, www.insm.de/Presse/Interviews/Interviews/Interview_mit_Dr._ Ursula_von_der_Leyen.html [eingesehen am 29.07.2008]. 74 Vgl. Kruppa, Matthias: Die Exoten, in: Die Zeit, 04.01.2005; vgl. auch Walter, Franz: Parteikarriere geht durch den Magen, in: Spiegel Online, 13.08.2006, http://www.spiegel.de/politik/debatte/0,1518,431448,00.html [eingesehen am 05.03.2008]. 75 Neukirch, Ralf/Pfister, René: Neid und bräsiger Trotz, in: Der Spiegel, 12.11.2007; vgl. auch Hildebrandt, Tina/Niejahr, Elisabeth: Ministerin an der Grenze, in: Die Zeit, 29.11.2007. 70
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Lächelnd in den Medien Dabei verursachte die neue Ministerin schon gleich zu Beginn einige Turbulenzen. Kaum hatte Ursula v. d. Leyen die politische Bühne betreten, war kurzerhand erst zur Landes-, dann sogar zur Bundesministerin avanciert, stand sie auch schon im Fokus der Medienöffentlichkeit. Sämtliche regionalen und überregionalen Zeitungen und Magazine veröffentlichten mehrseitige Porträts, vielsagend betitelt mit „Die Strahlefrau“, „Mutter der Nation“, „Super, Mama“ oder „Die Unmögliche“,76 die mit der rasant aufgestiegenen Politikerin teilweise hart ins Gericht gingen. Dabei entzündeten sich die schärfsten Diskussionen noch nicht einmal an ihren politischen Vorhaben, sondern vielmehr an ihr selbst, an ihrer Persönlichkeit, ihrer Biografie, ihrem Privatleben. Zuerst ihr Lächeln – besonders in der Anfangszeit ihrer Karriere gab es kaum einen Artikel, in dem nicht auch ihr Lächeln Erwähnung fand. Wurde es zu Beginn noch als Zeichen einer „freudvollen Präsenz“77 und immensen „Lebensfreude“78 gedeutet, so mehrten sich bald darauf die Stimmen, die wünschten, dass dieses „Dauerlächeln“, das „wie festgefroren“ wirke, sobald sie es „anknips[e]“79, bitte verschwinden möge. Überhaupt ihr Äußeres: Es gibt vermutlich derzeit wenig andere PolitikerInnen, bei denen in Reportagen und Berichten so häufig und detailreich auf Äußerlichkeiten verwiesen wird. Die „zierliche, fast jugendlich wirkende und perfekt gestylte“80, gar „schöne“81 Frau mit dem „Engelsgesicht“82 und der „Madonnenfrisur“83, zog die Blicke auf sich, schien die Kameras tatsächlich nicht zu scheuen. Ganz im Gegenteil: Bilder von ihr und ihrer Familie waren gang und gäbe, über die Medien wurden die Leser ausführlich über den häuslichen Alltag der v. d. Leyens informiert. Diese demonstrative Wertschätzung eines intakten Familienlebens und besonders die öffentliche Zurschaustellung eben dessen wurden allerdings mitunter höchst misstrauisch beäugt. Die zahlreichen Bilder, die sie im Kreise ihrer Familie, wahlweise bei der Ausübung von Hausmusik oder mit Zwergziegen auf dem Arm, zeigten, lösten wenig Begeisterungsstürme aus, war das doch alles zu sehr „heile Welt“. Dass sie ihre Botschaften derart offensichtlich mit ihrer Biografie verknüpfte, brachte ihr den Vorwurf ein, „ihren Nachwuchs und ihre Kleintiere fahrlässig oft ins Rampenlicht zu schieben, um politisch zu profitieren“84; außerdem führe sie ein „privilegiertes Vorzeigeleben“85, das der Alltagsrealität der Mehrzahl der berufstätigen Mütter in keiner Weise gerecht werde.
76 In der obigen Reihenfolge: Germis, Carsten: Die Strahlefrau, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.07.2003; Geyer, Matthias: Die Mutter der Nation, in: Der Spiegel, 06.02.2006; Weidenfeld, Ursula: Super, Mama, in: Der Tagesspiegel, 11.02.2006; Monath, Hans: Die Unmögliche, in: Der Tagesspiegel, 20.03.2006. 77 Mies, Petra: Dicht am Leben, in: Frankfurter Rundschau, 15.03.2003. 78 Germis, Carsten: Die Strahlefrau, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 20.07.2003. 79 Volkery, Carsten: Die lächelnde Sphinx der CDU, in: Spiegel Online, 19.01.2006, http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/0,1518,396176,00.html [eingesehen am 08.03.2008]. 80 Hoffmann, Andreas: Kinder und Karriere, in: Süddeutsche Zeitung, 18.08.2005. 81 Roll, Evelyn: Auch die Herren sind beeindruckt, in: Süddeutsche Zeitung, 06.06.2005. 82 Volkery, Carsten: Die lächelnde Sphinx der CDU, in: Spiegel Online, 19.01.2006, http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/0,1518,396176,00.html [eingesehen am 08.03.2008]. 83 Tenfelde, Beate: „Ich habe fünf Brüder, das trainiert“, in: Neue Osnabrücker Zeitung, 25.01.2003. 84 Gaschke, Susanne: Die Moderne, in: Die Zeit, 26.01.2006. 85 Vgl. zum Beispiel ebd.
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Provokation durch Perfektion Offenbar bewirkte dieses allzu harmonische Privatleben in Verbindung mit der scheinbar bruchlosen Biografie und permanenten guten Laune ein gewisses „Sich-Sträuben beim Publikum“86. Ohne Frage: Ursula v. d. Leyen polarisierte. Fanden sich anfangs noch geradezu glorifizierende Porträts über „Röschen“ als „neuen Star“, so überwog mit der Zeit doch eindeutig die Ablehnung. Das Vertrauen in ihre Authentizität schwand, anscheinend war „irgendwie alles zu viel: zu viele Kinder, zu viel Erfolg, zu viel Meinung, zu viel Disziplin, zu viel Lächeln“87. Sie war einfach geradezu „penetrant“ perfekt. Dabei stellt sich jedoch die Frage, warum bei Ursula v. d. Leyen bei der Inszenierung ihres Privatlebens mehr Glaubwürdigkeit erwartet wird als bei anderen Politikern? Dabei hatte sie doch eigentlich alles richtig gemacht: Hat sich den Regeln der Medienwelt, die „süchtig [ist] nach Politikentwürfen, die durch Lebensgeschichten unterfüttert sind“88, gebeugt und diese zum eigenen Vorteil genutzt. Doch offenbar sind dieser vermeintlich erfolgversprechenden Strategie auch Grenzen gesetzt. Nämlich dann, wenn sie zu sehr als solche erkannt wird. Dann wird plötzlich der Vorwurf der unglaubwürdigen Selbstinszenierung laut, die Sympathien schwinden, wandeln sich in Misstrauen. Offenbar gibt es im „Fall v. d. Leyen“ zudem die starke Tendenz, in die ja unbestreitbar außergewöhnliche Biografie noch mehr Perfektion hineinzuinterpretieren als sowieso schon vorhanden ist. Denn entgegen der häufigen Vorwürfe hat sie ja keinen Hehl daraus gemacht, dass alles überhaupt nur mit externer Unterstützung – mit Tagesmüttern und Haushaltshilfe – funktioniert. Auch die Zuschreibungen, sie sei „studierte Volkswirtschaftlerin“, ausgebildete Gynäkologin, entstammen eher journalistischer Feder als ihrer eigenen; in der Realität sind es ein abgebrochenes Studium sowie eine abgebrochene Facharztausbildung. Auch wenn es paradox klingen mag: So viel Gewandtheit im Umgang mit den Medien von Politikern heute auch gefordert wird, eine zu gekonnte öffentliche Selbstdarstellung wirkt kontraproduktiv, überhaupt darf man als Politikerin offenbar einfach nicht perfekt sein. Mittlerweile scheint Ursula v. d. Leyen das auch selbst erkannt zu haben, ist sie doch bemüht, dieses Image der verkörperten Perfektion loszuwerden, betont, dass sie Vorbild weder sein kann, noch sein will,89 und hat einen Schlussstrich gezogen: Seit dem Wechsel nach Berlin gibt es keine „Homestories“ mehr und aktuelle Bilder von den Kindern lässt sie auch nicht mehr veröffentlichen.
Die Politikerin: Programmatik auf Bundesebene Seit Mitte 2006 scheint sich der Medienaufruhr um sie herum dann auch ein wenig gelegt zu haben, sie selbst meldete sich außerdem „zur Abwechslung“ mit aufsehenerregenden politischen Statements zu Wort, sodass seitdem tatsächlich vermehrt ihre Politik im Fokus der Berichterstattung steht. Von der Leyens politisches Hauptanliegen als Bundesfamilienministerin ist die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die sie durch staatliche Maßnahmen fördern und unterstützen möchte. Dabei setzt v. d. Leyen eine Debatte fort, die 86
Ebd. Ebd. Roll, Evelyn: Auch die Herren sind beeindruckt, in: Süddeutsche Zeitung, 06.06.2005. 89 Vgl. Eubel, Cordula/Monath, Hans: „Ich möchte gar nicht provozieren“. Interview mit Ursula von der Leyen, in: Der Tagesspiegel, 19.12.2005. 87 88
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bereits Renate Schmidt unter Gerhard Schröder angestoßen hatte, greift auf deren Erkenntnisse zurück und verfolgt viele Anliegen aus dem Programm ihrer sozialdemokratischen Vorgängerin fast eins zu eins weiter.90 Sie sieht sich dabei selbst als Vertreterin eines „konservativen Feminismus“91. Konservativ ist ihre Politik deshalb zu nennen, weil sie trotz moderner Rollenbilder und teilweise unkonventioneller Methoden im Kern „streng alte Werte“ verfolgt, ganz klassisch an der Familie als idealer Lebensform festhält. Feministisch insofern, als dass die Gleichberechtigung von Mann und Frau für sie außer Zweifel steht, genau wie es nicht um die Frage gehe, ob Frauen „arbeiten werden oder nicht“, sondern vielmehr darum, „ob sie dabei Kinder haben werden“92. Einerseits verfügt sie so über den Vorteil, zu beiden Seiten – nach links wie nach rechts – offen zu sein; andererseits ist es genau dieser Spagat, der ihr Probleme bereitet, da sie den Konservativen zu fortschrittlich, den Fortschrittlichen aber wiederum zu konservativ ist, sie somit Angriffe aus beiden Lagern erfährt.93 Dies sieht man am deutlichsten anhand der hitzigen Diskussionen, die ihre politischen Vorstöße in Gang gesetzt haben – beispielsweise der Debatten um das Elterngeld und den Kinderbetreuungsausbau.
Elterngeld Bei dem Elterngeld-Vorhaben, das im ersten Jahr des Ministerinnendaseins v. d. Leyens den größten Aufruhr verursachte und republikweit in aller Munde war, handelte es sich eigentlich um ein Kernvorhaben Renate Schmidts, welches ihre Nachfolgerin nurmehr fortund in die Praxis umsetzte. Trotzdem waren der Name v. d. Leyen und das Projekt bald so eng miteinander verknüpft, dass eigentlich sie als dessen Erfindern angesehen wurde, es als ihr ureigenes Projekt galt. Das Elterngeld, das zum 1. Januar 2007 in Kraft trat, ersetzt das bisherige Erziehungsgeld und soll für eine gewisse Zeit nach der Geburt den Einkommenswegfall kompensieren und so berufstätigen Eltern „den vorübergehenden Verzicht auf Erwerbstätigkeit erleichtern“94. Dabei steht das Konzept in dem Ruf, in erster Linie Berufstätige mit hohem Einkommen, also auch und besonders Akademiker, die bislang eventuell aus Furcht vor den zu erwartenden finanziellen Einbußen davor zurückschreckten, denen auch gar nicht an einer möglichst langen Berufspause gelegen ist, zum Kinderkriegen zu ermuntern.95 Überraschenderweise war es jedoch gar nicht diese bewusste Bevorzugung privilegierter Gesellschaftsgruppen, die für die größte Aufregung sorgte. Viel erhitzter wurde über die zweite Besonderheit des Elterngeldes diskutiert: die sogenannten „Vatermonate“, ein Appell an die Väter, sich ebenfalls an der Kinderbetreuung zu beteiligen und für eine gewisse Zeit auf ihr Erwerbseinkommen zu verzichten. Ganz besonders „echauf-
90 Vgl. zum Beispiel Löwenstein, Stephan: Von Stürmen umtost, zum Durchhalten entschlossen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.01.2006; vgl. auch Wehner, Markus: Die Familienrevolutionärin, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.01.2006; vgl. ebenfalls Gaschke, Susanne: Die Moderne, in: Die Zeit, 26.01.2006. 91 Vgl. zum Beispiel Thelen, Peter: Die Unfassbare, in: Handelsblatt, 30.03.2007. 92 Geyer, Matthias: Die Mutter der Nation, in: Der Spiegel, 06.02.2006. 93 Vgl. zum Beispiel Gaschke, Susanne: Die Moderne, in: Die Zeit, 26.01.2006. 94 Vgl. Bundesministerium für Familie, Soziales, Frauen und Jugend: Das Elterngeld, im Internet unter: http://www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/Kategorien/Service/themen-lotse,did=76746.html [eingesehen am 04.04.2008]. 95 Vgl. Knaup, Horand u.a.: Lächelnd beim Tischgebet, in: Der Spiegel, 24.04.2006.
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fiert[e] [dies] die konservativen Männer“96 aus den Reihen der Union, die einen unwillkommenen Eingriff des Staats in die private Sphäre witterten, für die die aktive Förderung der Berufstätigkeit von Müttern noch immer ein Tabu ist,97 die an althergebrachten Rollenund Familienbildern festhalten. Auch fürchtete man in der Partei – sosehr man sonst hoffte, von Popularität und Prominenz der Ministerin zu profitieren – um die konservative Klientel im ländlichen Raum,98 die von dem allzu fortschrittlichen Vorhaben verschreckt werden könnte. Von der Leyen, obwohl auf Vorbehalte aus der eigenen Partei vorbereitet,99 war dann aber doch erstaunt über die harsche Kritik, die ihr entgegenschlug, wie diffamierend ihr Vorhaben mit Spott überzogen wurde. Von „Wickelvolontariat“100 war die Rede, sie wurde gefragt, ob sie denn „die Männer mit der Peitsche an den Wickeltisch treiben“101 wollte. Angela Merkel – als die in politischen Abläufen weitaus Firmere – gab ihr den Rat, erstmal abzuwarten,102 und nach einigen Monaten, als sich die aufgebrachten Gemüter wieder beruhigt hatten, wurde das Elterngeldgesetz vom Bundestag tatsächlich beschlossen. Von Vorteil für die angesichts der anfänglichen Empörung doch erstaunlich unkomplizierte Durchsetzung des Vorhabens war aber nicht zuletzt, dass es innerhalb der Großen Koalition bei der SPD Mitstreiter für v. d. Leyens Vorhaben gab, sodass in den Koalitionsverhandlungen schnell ein Konsens gefunden wurde und die Gesetzesfestschreibung letztlich nur eine Frage der Zeit war. Dieses Projekt – vom (sozialdemokratischen) Regierungssprecher Merkels gar als „kopernikanische Wende in der Familienpolitik“103 bezeichnet – gilt gemeinhin als ein immenser Erfolg v. d. Leyens, als Bestätigung ihrer enormen Fähigkeit, Anliegen auch gegen Widerstände durchzusetzen, als Paradebeispiel ihrer fortschrittlichen Programmatik.
Betreuungsplatzausbau Im Februar 2007 forderte Ursula v. d. Leyen in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung den Ausbau der Kinderbetreuung weit über die bisherigen Vereinbarungen des Koalitionsvertrags hinaus. Diesen Vorstoß hatte sie im Vorfeld weder mit der Fraktion noch mit der Kanzlerin abgesprochen, er kam für alle überraschend. Ein erbittertes Hin und Her begann. Zwar befürwortete die Mehrheit der Bevölkerung die Pläne v. d. Leyens, die auf der Beliebtheitsskala noch einmal weiter nach vorne – auf den zweiten Platz – rutschte,104 und zunächst signalisierten auch Parteikollegen wie Wolfgang Böhmer und Wulff Unterstützung. Bald darauf meldeten sich aber auch die Kritiker zu Wort – und das umso lauter. Offenbar gingen die Pläne der Ministerin vielen Konservativen in der Union, für welche die Kleinkindbetreuung nach wie vor in die Hände der Mutter gehörte, vehement gegen den 96
Kröter, Thomas: Die schwarze Alice, Frankfurter Rundschau, 20.04.2006. Vgl. ebd. 98 Vgl. Kramm, Jutta: Die Ministerin als Missionarin, in: Berliner Zeitung, 22.04.2006. 99 Vgl. Schneider, Jens: Ursula von der Leyen bemüht sich um einen neuen Stil, in: Süddeutsche Zeitung, 04.05.2006. 100 Zitiert nach ebd. 101 Monath, Hans: Die Unmögliche, in: Der Tagesspiegel, 20.03.2006. 102 Vgl. ebd. 103 Zitiert nach Kröter, Thomas: Die schwarze Alice, Frankfurter Rundschau, 20.04.2006. 104 Vgl. o.V.: Deutsche lieben von der Leyens Pläne, in: Spiegel Online, 02.03.2007, http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/0,1518,469536,00.html [eingesehen am 04.04.2008]. 97
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Strich; außerdem habe sich die Ministerin in unzulässiger Weise in Länderbelange eingemischt; auch konnten sich einige mit dem Selbstbewusstsein, mit der sie diesen Alleingang gewagt hatte, nicht anfreunden, fühlten sich übergangen. Die in die Defensive gedrängten konservativen Kritiker aus der Union, insbesondere aber der CSU, gingen in die Offensive und forderten für ihr Einverständnis eine Gegenleistung. Wenn schon außerhäusliche Betreuung von Kleinkindern staatlich gefördert werden sollte, dann sollten auch die Eltern, die sich dazu entscheiden, ihr Kind nicht in eine Krippe zu geben, eine finanzielle Förderung erhalten – eine Forderung, die bei v. d. Leyen keineswegs auf Gegenliebe stieß. Im Gesetzesentwurf vom Oktober 2007 fand sich dann aber tatsächlich die Formulierung, dass für die Eltern, die keinen Krippenplatz in Anspruch nehmen, ein solches Betreuungsgeld „gezahlt werden soll“105, woraufhin der Ministerin wiederum vorgeworfen wurde, „vor dem Druck der CSU eingeknickt zu sein“106. Ende Februar 2008 einigten sich die Parteien schließlich auf einen Kompromiss. Das Betreuungsgeld bleibt zwar weiterhin im Gesetz, es wird aber kein genaues Einführungsdatum mehr angegeben; der 2013 zuständige Gesetzgeber sei außerdem in der „konkreten Ausgestaltung frei“107 – das heißt, die Ausgestaltung des Betreuungsgeldes bleibt nach wie vor unklar – es könnte sich also auch um eine wohl kalkulierte Strategie v. d. Leyens handeln, sich nach Durchsetzung des Kernanliegens dezent aus der Diskussion hinauszuziehen.108 Trotzdem: Beide vormalige Kontrahenten – SPD und CSU – waren plötzlich mit diesem Ergebnis zufrieden.109 Dieses Vorhaben, bei dem sich die Meinungen zwischenzeitlich so konträr gegenüberstanden, mündete letztlich doch noch in einen Konsens. Offensichtlich hat Ursula v. d. Leyen mit ihrem spontanen Vorpreschen, das erst einmal verschreckt, dann aber zum Handeln gezwungen hat, politisch äußerst geschickt agiert.
Der „von der Leyensche“-Politikstil Diese Beispiele zeigen, dass Ursula v. d. Leyen nicht nur eine bestimmte Programmatik verfolgt, sondern dies auch auf eine ganz spezielle Weise tut. Man kann geradezu von einem „typisch von-der-Leyenschen“-Politikstil sprechen. Am auffälligsten daran ist sicherlich, dass sie mit ihren Vorhaben meist sehr plötzlich, manchmal geradezu unverhofft, ohne vorherige Absprachen, an die Öffentlichkeit geht. Doch auch darüber hinaus lassen sich einige Spezifika ihrer Methode des „Politikmachens“ erkennen, die sowohl in ihren Charaktereigenschaften, ihrem Führungsstil und ihrer Arbeitsweise begründet liegen, als auch sich wiederum darin manifestieren. Trotz ihrer Angewohnheit des nahezu permanenten Lächelns, ihres unerschütterlichen Optimismus‘ ist v. d. Leyen keineswegs naiv, schüchtern oder zartbesaitet. Auch Harmoniesucht oder Konfliktscheue kann man ihr zumindest auf politischem Terrain nicht vorwerfen. Stattdessen tritt sie stets forsch und äußerst selbstbewusst auf. Doch vor allem zeichnet sie sich durch einen ausgeprägten Ehrgeiz aus. Dieser Wesenszug fällt bereits 105
O.V.: Von der Leyen gibt nach, in: Süddeutsche Zeitung, 31.10.2007. Ebd.; vgl. auch Husmann, Wenke: Kehrtwende ins Unmögliche, in: Die Zeit, 31.10.2007. 107 O.V.: Union und SPD einigen sich beim Betreuungsgeld, in: Spiegel Online, 27.02.2008, http://www. spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,538107,00.html [eingesehen am 04.04.2008]; vgl. auch Gaserow, Vera: Zuflucht im Unkonkreten, in: Frankfurter Rundschau, 28.02.2008. 108 Vgl. Kröter, Thomas: Auf stur geschaltet, in: Frankfurter Rundschau, 01.11.2007. 109 Vgl. ebd. 106
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einem ihrer Chefs am Universitätsklinikum Hannover auf, der sie als besonders „ambitionierte“ junge Ärztin erlebte,110 und auch die Medien berichteten schon frühzeitig von ihrer Zielstrebigkeit.111
Führungsstil und Arbeitsweise Von der Leyens Führungsstil – sei es als Fraktionsvorsitzende oder Leiterin eines Bundesministeriums – lässt Ähnliches erkennen Die Exaktheit, mit der sie sich auf die Sehnder Fraktions- und Ratssitzungen vorbereitete, zeigt, wie wichtig ihr schon damals war, formell „alles richtig“ zu machen und die Kontrolle zu behalten. In ihrem Bundesministerium verfügt sie über einen „inner circle“, der aus ihrer Pressesprecherin Iris Bethge und dem Staatssekretär Gerd Hoofe besteht, und der ihr auch schon als Landesministerin zur Seite stand. Alle drei verbindet ein gemeinsamer Seiteneinstieg, durch gemeinsame Lernerfahrungen entwickelte sich das Team zu einer Art „Bollwerk“ gegen die neue, ungewohnte Umgebung und Kritik von außen. Ein weiterer der wichtigsten Mitarbeiter ist Malte RistauWinkler. Den Abteilungsleiter und SPD-Mitglied hatte Ursula v. d. Leyen bei Amtsantritt von ihrer Vorgängerin übernommen – trotz Kritik ob der von ihr angeblich angestrebten „Sozialdemokratisierung“ der Union.112 Parteizugehörigkeit gilt für sie offenbar nicht als wichtigstes Auswahlkriterium ihrer Mitarbeiter. Bedeutendstes „Arbeitswerkzeug“ im Ministerium ist der regelmäßige Austausch, bei akuten und brisanten Angelegenheiten auch abends oder am Wochenende. Wobei aber auch die Maxime herrscht: Telefoniert wird nur, wenn es wirklich etwas Dringendes zu besprechen gibt, gewissermaßen nach dem Leitsatz: „No news is good news“113. Die Chefin v. d. Leyen gilt als „freundlich, aber bestimmt“114 – so wichtig gegenseitige Sympathie auch ist, es zur Kompensation des äußeren Drucks als Voraussetzung gilt, sich „persönlich gut [zu] verstehen [und] miteinander lachen [zu] können“115 – Berufliches und Privates werden strikt getrennt, die Rollen sind klar verteilt, Anforderungen und Erwartungen hoch. Insgesamt scheinen Führungs- und Arbeitsstil v. d. Leyens also pragmatisch und ergebnisgerichtet zu sein – eben „effizienzorientiert“. Sie sichert sich die Loyalität ihrer Mitarbeiter lieber über in der Praxis funktionierende Zusammenarbeit, gemeinsame Erfolgserlebnisse sowie gewisse Vertrauensvorschüsse, als über Parteizugehörigkeit. Auch heißt es, die Ministerin sei „gut im Delegieren“, könne „loslassen“116. Und auch dies ist ja in weiterem Sinne Effizienz. Offenbar kann sie hierbei ihr allseits anerkanntes Organisationstalent voll zum Einsatz bringen. Generell ist man einen solchen Führungsstil weniger aus der Politik als aus anderen gesellschaftlichen Bereichen gewohnt. So wird hier deutlich, wie sehr Ursula v. d. Leyen offenbar von ihrer Zeit als Ärztin und Wissenschaft geprägt ist, dass sie viele Gepflogenheiten von dort mit in die Politik genommen hat. Mit dem Versuch, diese eins zu eins zu 110
Vgl. v. Welser 2007. Vgl. zum Beispiel Fertmann, Ludger: Albrechts Tochter geht in die Landespolitik, in: Hamburger Abendblatt, 27.02.2002; vgl. auch Boecker, Arne: Mit „Röschen“ gegen die Roten, in: Süddeutsche Zeitung, 27.05.2002; Tenfelde, Beate: „Ich habe fünf Brüder, das trainiert“, in: Neue Osnabrücker Zeitung, 25.01.2003. 112 Vgl. Knaup, Horand/Pfister,René: Vertrauter Feind, in: Der Spiegel, 17.02.2007. 113 Zum Beispiel o.V.: Wo unsere Politiker Urlaub machen“, in: ZeitMagazin, 07.08.2008. 114 Zum Beispiel Fertmann, Ludger: „Die Mutter, die regiert“, in: Hamburger Abendblatt, 20.10.2003. 115 Schiekiera, Kirsten: „Sprachrohr für Politiker“, in: Die Welt, 15.12.2007 116 Fröhlingsdorf, Michael: Gruppenbild mit Mutter, in: Der Spiegel, 06.06.2005. 111
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übertragen, ist sie jedoch des Öfteren auf Schwierigkeiten gestoßen. Es zeigte sich, dass für die Politik andere Regen gelten, dass nicht immer die besten Argumente zählen, die scheinbar „logische Vorgehensweise“ zum Erfolg führt, sondern dass man gelegentlich auch „den günstigen Moment abwarten“117 muss. Beim Elterngeld hat sie diese Erkenntnis beispielsweise beherzigt, hat zwischenzeitlich die Debatte schweigend an sich vorbeiziehen lassen und gewartet, bis sich die erhitzten Gemüter wieder beruhigt hatten.118
Der „Parforceritt“ als Methode Dennoch: der „Parforceritt“ – das zumindest parteiintern nicht abgesprochene Vorpreschen – ist und bleibt typisch für Ursula v. d. Leyen. Ob es sich dabei um spontanes Verhalten oder doch vielmehr um eine kalkulierte Methode handelt, sei dahingestellt. Zumindest lässt sich bezweifeln, ob dieses Vorgehen wirklich „einmalig“ ist, wie selbst betont. Dazu scheint sie doch zu großen Gefallen daran zu finden, eigene Überlegungen möglichst überraschend der Öffentlichkeit mitzuteilen und dann auf die baldige Umsetzung in die Praxis zu drängen. Überhaupt kann sie einen gewissen Stolz auf ihren Mut nicht verhehlen, wenn sie – ganz Understatement und ein wenig kokett – bemerkt, wie erstaunt sie selbst über das Ausmaß der Reaktionen gewesen sei.119 Da sie aber so unverrückbar von der Richtig- und Wichtigkeit ihrer Vorhaben überzeugt ist und da sie weiß, dass sie die notwendige Courage nur aufbringt, wenn sie vorher nicht die Stimmungslage vorfühlt, bleibt zu erwarten, dass sie auch in Zukunft ähnlich stürmisch voranschreiten wird.
Immerwährende Souveränität und unerschütterlicher Optimismus Wenn Ursula v. d. Leyen sich zu einem von ihr favorisierten Vorhaben öffentlich äußert, tut sie das mit viel Elan. Manche Beobachter beschreiben dies als „schlagfertig und frech“120, als hochkonzentriertes Argumentieren voller Disziplin und Energie,121 dabei meist „heiter und unerschüttert“, vielleicht mitunter ein wenig „aufgedreht“122. Anderen ist diese „souveräne Art“123 oftmals ein bisschen zu souverän, sie erwecke mit ihrer geradezu „predigerhaftigen Rhetorik“124 den „Eindruck eines unangenehmen missionarischen Eifers“125. Besonders wenn sie sich fachlich im Recht sieht, schießt sie leicht übers Ziel hinaus, redet dann „schnell und leicht schrill“126, fällt in den „belehrenden Ton einer überehrgeizigen Primanerin“127. Und so reagieren viele Gesprächspartner mit unwillkürlicher Abwehr auf die ungef117
Ebd. Vgl. ebd.; vgl. auch Kröter, Thomas: Auf stur geschaltet, in: Frankfurter Rundschau, 01.11.2007. 119 Vgl. dazu Hildebrandt, Tina/Niejahr, Elisabeth: Ministerin an der Grenze, in: Die Zeit, 29.11.2007. 120 Gaserow, Vera: Solistin im Krippenspiel, in: Frankfurter Rundschau, 08.03.2007. 121 Vgl. ebd. 122 Schneider, Jens: Zu schnell für Bremsversuche, in: Süddeutsche Zeitung, 12.03.2007. 123 Wittrock, Philipp: Um den heißen Brei herum, in: Spiegel Online, 09.03.2007, http://www.spiegel.de/kultur/ gesellschaft/0,1518,470743,00.html [eingesehen am 08.04.2008]. 124 Soldt, Rüdiger: Weniger Kolping, mehr Reformen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.05.2005. 125 Wittrock, Philipp: Um den heißen Brei herum, in: Spiegel online, 09.03.2007, http://www.spiegel.de/kultur/ gesellschaft/0,1518,470743,00.html [eingesehen am 08.04.2008]. 126 Knaup, Horand u.a.: Lächelnd beim Tischgebet, in: Der Spiegel, 24.04.2006. 127 Schneider, Jens: Ursula von der Leyen bemüht sich um einen neuen Stil, in: Süddeutsche Zeitung, 04.05.2006. 118
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ragte Unterweisung. Das Eifernde kommt besonders zum Vorschein, wenn die Ministerin vor großem Publikum spricht, zum Beispiel auf Parteitagen oder Podiumsdiskussionen. Immer dann also, wenn sie eine eher passive Zuhörerschaft, darunter auch potenzielle Kritiker, von ihren Ansichten überzeugen möchte und vermutlich glaubt, ein wenig Pathos könne da nicht schaden. Ganz anderes im kleinen Kreis. Hier sei sie „charmant“, nichts wirke „aufgesetzt“, sie diskutiere „nachdenklich und ohne Dünkel“128. Allerdings tut sie auch das – wieder einmal – mit der ihr eigenen Perfektion. Kein Satz bleibt unvollendet, kaum verwendet sie umgangssprachliche Begriffe, dafür aber dialektfreies Hochdeutsch; alles, was sie sagt, ist nahezu druckreif. Dazu ist sie im Umgang mit den Gesprächspartnern höflich und korrekt, sicherlich, dabei aber freundlich, leger, dann und wann sogar ein wenig flapsig. Auch in TV- und Presse-Interviews tritt sie meist gekonnt auf. Durch „aktives Zuhören signalisiert [sie zunächst] Anteilnahme“129. Schlägt ihr die Kritik dann aber allzu heftig entgegen, lässt sie sich nicht einschüchtern, ergreift das Wort und argumentiert „intelligent, ruhig und witzig“130 dagegen, lächelt dabei zwar, bleibt aber konsequent, gar stur, fast angriffslustig.131 Mit dieser Taktik gelingt es ihr zuweilen, mindestens ebenbürtige Gesprächspartner, die sich zum Ziel gemacht haben, v. d. Leyen in die Ecke zu drängen, ins Leere laufen, ja, „alt aussehen“132 zu lassen. Vielleicht ist es gerade diese anstrengungslose Souveränität, welche die Gesprächspartner mitunter irritiert. Dies ist überhaupt ihre große Stärke: Angriffen begegnet sie stets mit „entwaffnendem Charme“133, gut gelaunter Unerschrockenheit,134 sie kann sie gekonnt an sich abperlen lassen.135 Widerstände scheinen sie gar noch mehr herauszufordern;136 je zweifelnder die Skeptiker, umso größer wird ihre Motivation, diese „mit einer Mischung aus Umgarnung und Faktenbombardement zu überzeugen“137. Und besonders geschickt ist sie darin, Niederlagen in Erfolge umzudeuten, Rückschlägen etwas Positives abzugewinnen. In dieser Fähigkeit liegt sicherlich (einer) der Schlüssel zu ihrem Erfolg. Denn wenn Misserfolge in ihrem Denken einfach nicht vorkommen beziehungsweise nicht in ihrer Person begründet sind, Widerstände keinesfalls unüberwindbar oder nicht mindestens lehrreich sind, besteht für sie subjektiv natürlich auch kein Anlass, generelle Zweifel aufkommen zu lassen, die ihren Elan stoppen könnten.
Parteiidentifikation Die Partei, der sie mittlerweile ja doch seit fast zwanzig Jahren angehört, spielt für sie offenbar nurmehr eine Nebenrolle. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass in den Debatten um ihre politischen Vorhaben oftmals die ärgsten Kritiker aus den eigenen Reihen kommen, sie sich keinesfalls auf die Rückendeckung ihrer Parteikollegen verlassen kann. 128
Ebd. Berth, Felix: Kuscheliger Konsens, in: Süddeutsche Zeitung, 20.04.2007. Roll, Evelyn: Auch die Herren sind beeindruckt, in: Süddeutsche Zeitung, 06.06.2005. 131 Vgl. Knaup, Horand u.a.: Lächelnd beim Tischgebet, in: Der Spiegel, 24.04.2006; Sosalla, Ulrike: Mrs Undercover, in: Financial Times Deutschland, 13.01.2006. 132 Gaserow, Vera: Solistin im Krippenspiel, in: Frankfurter Rundschau, 08.03.2007. 133 Thelen, Peter: Die Unfassbare, in: Handelsblatt, 30.03.2007. 134 Vgl. Hanika, Iris: Die „Saaleknirpse“ von Jena-Göschwitz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.11.2007. 135 Vgl. Schneider, Jens: Ursula von der Leyen bemüht sich um einen neuen Stil, in: Süddeutsche Zeitung, 04.05.2006. 136 Vgl. Hildebrandt, Tina/Niejahr, Elisabeth: Ministerin an der Grenze, in: Die Zeit, 29.11.2007. 137 Ebd. 129 130
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1990 trat Ursula v. d. Leyen in die CDU ein – aus Protest über die Abwahl ihres Vaters. Inhaltliche Überzeugungen spielten offenbar eine sehr untergeordnete Rolle, geschweige denn, dass mit der Mitgliedschaft die Absicht zu sofortigem Engagement in der Partei verbunden war. Diese Erklärung ist bei der Suche nach den Motiven für den CDUBeitritt auf den ersten Blick relativ unbefriedigend – sagt aber wiederum auch Einiges aus. Denn schließlich war Ursula v. d. Leyen zum Zeitpunkt ihres Eintritts bereits 32 Jahre alt – dass sie diesen Schritt bis dahin trotz der politischen Tätigkeit des Vaters nicht unternommen hatte, dürfte also ebenfalls eine mehr oder weniger bewusste Entscheidung gewesen sein. Und doch ist es die väterliche Prägung, die die Entscheidung für die CDU begründete – durch die große Zufriedenheit mit seiner Arbeit vermittelte er auch ihr eine positive Einstellung der Union gegenüber. Offenbar ist ihr eine hundertprozentige Übereinstimmung in allen Punkten keine notwendige Voraussetzung für Eintritt und Engagement in einer Partei; es reichte ihr die gemeinsame Grundüberzeugung. Die grundlegende Entscheidung war demnach nicht, ob CDU oder nicht CDU, sondern vielmehr, ob Politik oder nicht Politik.
Die Modernisiererin der Union Auch wenn demnach so scheinen mag, als sei die Beziehung zwischen Ursula v. d. Leyen und der Union eine sehr einseitige – die CDU musste sich ihrem Wunsch gewissermaßen beugen und die „Querulantin“ wohl oder übel aufnehmen –, so ist doch v. d. Leyen ganz unbestreitbar für die Union auch von einigem Nutzen. Zwar ist sie einerseits „Reizfigur“138 für die „eingefleischten Konservativen“. Andererseits besteht die Union keineswegs nur aus diesen Traditionalisten, sondern ist seit jeher „gespalten zwischen Reformern und Bewahrern“139, deren Positionen selten konfliktfrei in Einklang zu bringen sind. Gerade heute allerdings, zu einer Zeit, in der sich die Partei – mit Angela Merkel, der ersten Bundeskanzlerin, an der Spitze – als Reformpartei, als Partei der Mitte zu profilieren sucht, benötigt sie dringend Leute, die diese Richtung personifizieren. Diesen Modernisierern war die fortschrittliche Ursula v. d. Leyen höchst willkommen. Zumal die Union offensichtlich Schwierigkeiten hat, junge Frauen – besonders in Großstädten – zu erreichen.140 Bislang fehlte der Union eine geeignete Person, um diese so wichtigen Wählerschichten zu erschließen. Ursula v. d. Leyen jedoch verkörpert geradezu par excellence das gesuchte moderne Frauenbild. Und so kommt ihr die Aufgabe zu, diese personelle Lücke zu schließen und dem jungen, weiblichen, großstädtischen Anhängerinnenpotenzial zu vermitteln, nun habe der gesellschaftliche Wandel endlich auch die Union erreicht.
138
Volkery, Carsten: Die lächelnde Sphinx der CDU, in: Spiegel Online, 19.01.2006, http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/0,1518,396176,00.html [eingesehen am 08.03.2008]. 139 Pohr, Adrian: Gespaltene Union, in: Zeit Online, 19.02.2007, http://www.zeit.de/online/2007/07/presseschauleyen-familie-union [eingesehen am 08.03.2008]. 140 Vgl. o.V.: Merkels Schwestern gesucht, in: Frankfurter Rundschau, 21.06.2007; Hoffmann, Andreas: Kinder und Karriere, in: Süddeutsche Zeitung, 18.08.2005.
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Mentoren, Unterstützer, Widersacher Ihre polarisierende Wirkung jedenfalls ließ sie vom Beginn ihrer politischen Laufbahn an auch und besonders in der Union auf Widerstände stoßen. Dass v. d. Leyen aus dem Nichts heraus – so etwa bei ihrer Landtagskandidatur und der Berufung ins Bundeskabinett – einen „verdienten“ Mitbewerber nach dem anderen ausstach, ließ nicht nur Empörung und Unmut, sondern auch Misstrauen gegenüber der weitgehend unbekannten „Senkrechtstarterin“ entstehen. Spätestens in den Koalitionsverhandlungen 2005 wurde klar, dass „die schärfsten Gegner v. d. Leyens weder bei der SPD noch auf den Oppositionsbänken sitzen“141 – sondern aus den eigenen Reihen kamen. Dabei waren es in erster Linie konservative Männer, die ihr so sorgsam gehegtes Weltbild durch die forsche Ministerin auf den Kopf gestellt sahen und deshalb Sturm liefen gegen v. d. Leyen. Die Ministerin provozierte viele in der Partei so sehr, dass sie zwischenzeitlich schon als „meistgehasste Frau der der Union“ galt.142 Doch gab es in der Union auch Abwehrreaktionen, die anders gelagerten Motiven entsprangen. Den klassischen, am Wohl der „kleinen Leute“ orientierten Sozialpolitikern war die offensichtliche Förderung von ohnehin schon Privilegierten ein Dorn im Auge, Liberale wehrten sich gegen staatliche Eingriffe in die Privatsphäre.143 Und sicherlich spielte bei alldem auch eine Rolle, dass sich die Ministerin schlichtweg nicht an die Spielregeln der Union hielt, diese vielleicht auch gar nicht kannte, ihre Ideen öffentlich kundtat, ohne vorher die CDU-Granden um Rat gefragt zu haben, stattdessen die „Männerbünde der Union [einfach] ignoriert[e]“144. Und so wundert es nicht, dass gerade die namhaften, tonangebenden Politiker –von denen man eigentlich erwartet, sie wären gegen die Provokationen einer vergleichsweise so unerfahrenen Politikerin immun – gegen v. d. Leyen lautstark die Stimme erhoben, es dabei selten an Pathos fehlen ließen. Jörg Schönbohm beispielsweise wollte sich seine Kinder „nicht verstaatlichen“145 lassen, auch Stefan Mappus und Markus Söder fanden deutliche Worte: Die Ministerin risse geradezu „Fundamente weg“146, schieße „eindeutig über das Ziel hinaus“147. Kauder hingegen, lange Zeit einer der wichtigsten Gegenspieler v. d. Leyens, verpackte seine Beanstandungen geschickt „ins Gewand handwerklicher Kritik“148.
Der Entdecker Ein wenig erstaunt die Unverletzlichkeit v. d. Leyens gegenüber so heftigen Angriffen, würde man doch eigentlich damit rechnen, dass eine Politikerin, die derart im Kreuzfeuer der Kritik steht, bald von der politischen Bildfläche wieder verschwunden ist. Dass dies bei der Ursula v. d. Leyen nicht so war, liegt nur zum Teil in ihren charakterlichen Eigenschaften 141
Sosalla, Ulrike: Mrs Undercover, in: Financial Times Deutschland, 13.01.2006. Vgl. Schlieben, Michael: Die meistgehasste Frau der Union, in: Zeit Online, 16.02.2006, http://www.zeit.de/online/2007/08/leyen [eingesehen am 08.03.2008]. 143 Vgl. Knaup, Horand u.a.: Lächelnd beim Tischgebet, in: Der Spiegel, 24.04.2006. 144 Wehner, Markus: Die Familienrevolutionärin, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.01.2006. 145 Zitiert nach ebd. 146 Zitiert nach o.V.: Weiter Kritik an von der Leyen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.02.2007. 147 Zitiert nach Schlieben, Michael: Die meistgehasste Frau der Union, in: Zeit Online, 16.02.2006, http://www.zeit.de/online/2007/08/leyen [eingesehen am 08.03.2008]. 148 Neukirch, Ralf/Pfister, René: Neid und bräsiger Trotz, in: Der Spiegel, 12.11.2007. 142
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und persönlichen Fähigkeiten begründet. Ohne jeglichen personellen Rückhalt aber wäre sie vermutlich ebenfalls nicht weit gekommen. Und so gab es durchaus einige – im Vergleich zu den Kritikern vermutlich weniger, dafür aber parteiintern tonangebende – Personen in der Union, die früh den Nutzen v. d. Leyens für die Partei erkannten und ihr als Unterstützer beistanden. Als ihr erster und weichenstellender Mentor gilt Christian Wulff. Dieser erkannte spätestens ab ihrer Zeit als regional bekannte Kommunalpolitikerin ihr „Werbepotenzial für seine Partei“149 und hoffte, von ihrer ebenso modernen und tatkräftigen Ausstrahlung profitieren zu können. Und so gab er ihr bei ihrer Landtagskandidatur Rückendeckung, verschaffte ihr einen der vorderen Listenplätze und holte sie dann ja schließlich in sein Kabinett. Bei ihrem Abschied verlor er mit ihr dann eine seiner schillerndsten und medientauglichsten Figuren – ob es ihm wirklich gefiel, den „Star am Himmel der Bundes-CDU“150 nun von Ferne betrachten zu müssen, lässt sich jedenfalls bezweifeln.
An der Seite Angela Merkels: spannungsgeladene Symbiose Die zweite wichtige Förderin Ursula v. d. Leyens ist Angela Merkel. Die CDU-Chefin wurde auf die umtriebige niedersächsische Sozialministerin aufmerksam und erkannte offenbar schnell ihre Stärken: Kommunikationsfähigkeit sowie „biografische Kompetenz“, sowie deren bestes Einsatzgebiet. Nach einer kurzen Bewährungsprobe wird v. d. Leyen dann auch schnell ins Schattenkabinett geholt; Seite an Seite steigen Bundesfamilienministerin und Kanzlerin zu einem „symbolischen Gespann“151 auf, das für eine Neuorientierung der Union, für eine Neuausrichtung der gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt steht. So verkörpern beide einen neuen Typus Frau in der Union: Merkel gilt genau wie v. d. Leyen als Modernisiererin, die gesellschaftlichem Fortschritt gegenüber aufgeschlossen ist, Veränderungen nicht wie das konservative Lager per se als Bedrohung empfindet, was zur Folge hat, dass sie – ebenso wie die Familienministerin – den ärgsten Widerstand von der eigenen Gefolgschaft zu spüren bekommt.152 In Politik- und Führungsstil ähneln Kanzlerin und Ministerin ebenfalls einander: Beiden wird nachgesagt, dass sie „im Zweifelsfall eher pragmatisch als prinzipienfest entscheiden“153, lieber ein Stück vom eigenen Standpunkt abweichen und einen Kompromiss eingehen, als ein gesamtes Vorhaben scheitern zu lassen. Außerdem haben sie beide sich und viele ihrer Absichten trotz enormer Skepsis letztendlich durchgesetzt,154 lassen sich von männlichen Machtdemonstrationen nicht beeindrucken, geschweige denn abschrecken. Polterndes, autoritäres Gehabe ist beider Ding nicht, sie gehen vergleichsweise zurückhaltend, aber stets strukturiert und zielgerichtet vor, was in der Bevölkerung als wohltuende Abwechslung und Erholung von der Ära Schröder offenbar gut ankommt.155 Anscheinend stimmen die sie in wesentlichen Grundsätzen über das Was, aber auch das Wie des Politikmachens überein. Dies lässt sich auf Ähnlichkeiten ihrer 149
Fröhlingsdorf, Michael: Gruppenbild mit Mutter, in: Der Spiegel, 06.06.2005. Ebd. 151 Schloemann, Johan: Lächelnde Fürsorge, in: Süddeutsche Zeitung, 18.01.2006. 152 Vgl. o.V.: Modern, konservativ, beides?, in: Zeit Online, 17.07.2006, http://www.zeit.de/online/2006/29/Union [eingesehen am 08.03.2008]. 153 Ebd. 154 Vgl. Weiland, Severin: Wie Merkel die SPD ausspielt, in: Spiegel Online, 03.12.2007, http://www.spiegel. de/politik/deutschland/0,1518,520696,00.html [eingesehen am 08.03.2008]. 155 Vgl. ebd. 150
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vorpolitischen Karriere in der Naturwissenschaft zurückführen, die ihnen eine ganz bestimmte Art von Problemlösungsfähigkeit vermittelt hat. Und so nennen sie auch unisono diese aus der naturwissenschaftlichen Prägung gewonnene Rationalität als Basis für ihre gute Zusammenarbeit.156 Daneben verkörpert v. d. Leyen aber auch den „idealen Gegenpol“157 zu der kinderlosen, „unterkühlt wirkenden“158 Kanzlerin, denn schließlich „verkörpere [sie] genau das, was Merkel fehle – ein gewinnendes Auftreten, das stets freundliche Wesen und das intakte, gutbürgerliche Familienleben“159. So übernimmt Ursula v. d. Leyen an der Seite Angela Merkels also auch eine wichtige Ergänzungs- und Korrektivfunktion. Außerdem kann die Ministerin Roland Koch und Horst Köhler zu ihren Unterstützern zählen:160 Beide befürworten ihre Vorhaben, finden ihre Zielrichtung richtig und „vernünftig“161. Und auch bei großen Teilen der Frauen Union und der Jungen Union stößt v. d. Leyens Politik, trotz dort ebenfalls zu Tage tretender deutlicher Kritik an ihrer Person oder bestimmten Details, zumindest im Grundsatz auf Zustimmung.162 Generell zeigt sich also bei näherer Betrachtung ein differenzierteres Bild, als man es angesichts der enormen Widerstände zunächst erwarten würde. Sicherlich: Von der Leyens Widersacher sind zahlreich und unerbittlich. Allerdings verfügt sie aber auch über einen „Stab“ an einflussreichen Ratgebern, Mentoren und Unterstützern, auf deren Rückhalt sie sich relativ sicher verlassen kann und die unter anderem verhindern, dass die Ministerin an der Kritik tatsächlich Schaden nehmen könnte.
Symbolfigur für neue Bündnisse Ähnlich ambivalent ist ihr Verhältnis zu anderen Parteien. Einerseits regte sich auch in der SPD großer Unmut über manche ihrer Vorhaben; besonders die Absicht, schon Privilegierte zusätzlich staatlich zu fördern oder die offensive Propagierung des klassischen Familienideals widerstrebten einigen Sozialdemokraten erheblich.163 Gleichzeitig aber ist auffällig, dass die Ministerin gerade in Krisenzeiten bei der SPD mehr Unterstützung bekommt als in der eigenen Partei, dass viele ihrer Befürworter aus den Kreisen des Koalitionspartners stammen.164 Somit war für die familienpolitischen Vorstellungen v. d. Leyens die Große Koalition ein Glücksfall, in anderer Konstellation wären viele der Vorhaben kaum oder nur mit deutlich mehr Einschränkungen durchsetzbar gewesen. In dieser Hinsicht gereichte ihr ihre vergleichsweise geringe innerparteiliche Verankerung sogar zum Vorteil. 156
Vgl. Roll, Evelyn: Auch die Herren sind beeindruckt, in: Süddeutsche Zeitung, 06.06.2005. Fröhlingsdorf, Michael: Gruppenbild mit Mutter, in: Der Spiegel, 06.06.2005. Thiede, Ulla: Knallharte Politik hinter lächelnder Fassade, in: General-Anzeiger, 21.01.2006. 159 Wallbaum, Klaus: Eine moderne Traditionalistin auf dem Weg nach Berlin, in: General-Anzeiger, 02.08.2005. 160 Vgl. Eubel, Cordula/Monath, Hans: CSU legt sich mit von der Leyen an, in: Der Tagesspiegel, 12.03.2006; o.V.: Köhler verteidigt von der Leyen gegen Erzkonservative, in: Spiegel Online, 28.02.2007, http://www. spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,469200,00.html [eingesehen am 07.03.2008]. 161 Ebd. 162 Vgl. Schlieben, Michael: Die meistgehasste Frau der Union, in: Zeit Online, 16.02.2006, http://www.zeit.de/ online/2007/08/leyen [eingesehen am 08.03.2008]. 163 Vgl. zum Beispiel Wehner, Markus: Die Familienrevolutionärin, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.01.2006 oder Knaup, Horand u.a.: Lächelnd beim Tischgebet, in: Der Spiegel, 24.04.2006. 164 Vgl. zum Beispiel Vera Gaserow: Union bremst von der Leyen aus, in: Frankfurter Rundschau, 07.03.2007; Weiland, Severin: Wie Merkel die SPD ausspielt, in: Spiegel online, 03.12.2007, http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/0,1518,520696,00.html [eingesehen am 08.03.2008]. 157 158
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Überhaupt ist sie derzeit doch die „personifizierte Bündnisfähigkeit“ schlechthin. Mit einer Politikerin, die nach dem Credo agiert, „gute“ Familienpolitik könne und müsse parteiunabhängig sein,165 sind noch ganz andere Parteipaarungen denkbar. Sicherlich wäre die Variante Schwarz-Gelb für Ursula v. d. Leyen die weitaus schwierigere gewesen, hätte die FDP gegen die staatlichen Eingriffe in das Privatleben der Eltern und Familien doch wohl starken Protest eingelegt. Dagegen erscheint die Bündnisoption mit den Grünen umso vielversprechender. Sollte die Ministerin also in der derzeitigen Regierungskonstellation in arge Schwierigkeiten kommen, sollte die große Koalition tatsächlich scheitern oder stehen auch nur die nächsten Wahlen an, so liegen die Chancen nicht schlecht, dass sie mit ihrem zwar in Teilen durchaus unkonventionellen, aber doch gutsituierten, ein wenig elitären, so gar nicht proletarischen Lebensstil zur Symbolfigur eines schwarz-grünen Bündnisses avancieren könnte. Mit diesem Lebensstil passt sie vielleicht sogar optimal zu den mittlerweile so arrivierten Grünen, deren Anhängerschaft sich ja auch aus eben diesen „besseren Kreisen“ speist. Diese Qualität von großer Koalitionsfähigkeit ist natürlich gerade heute – in Zeiten, in denen sich durch die neugegliederte Parteienlandschaft ganz neue Machtverhältnisse ergeben und neue Parteiallianzen notwendig werden – besonders interessant und verschafft v. d. Leyen großes Zukunftspotenzial.
Ursula von der Leyen – eine (Familien)Revolutionärin? Als „Familienrevolutionärin“166 wurde Ursula v. d. Leyen schon Anfang 2006 von der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung tituliert. Auch wenn diese Bezeichnung ein wenig pathetisch wirkt: Gänzlich unpassend ist sie nicht, denn etwas Revolutionäres haftet der Politikerin in der Tat an. Schließlich hat in den letzten drei Jahren eine Renaissance der Familienpolitik stattgefunden, die angesichts der Tatsache, dass dieses Thema unter Schröder zeitweilig noch als „Gedöns“ firmierte, schier unglaublich scheint.167 Die historisch erste Kanzlerschaft einer Frau, der Übergang zum wirtschaftlichen Wachstum nach Jahren der Stagnation sowie der demografische Wandel mit der „Überalterung der Gesellschaft“ als virulentem Thema mögen Kontextfaktoren gewesen sein, durch die auch unabhängig von dem Wirken v. d. Leyens die Familienpolitik politische Konjunktur erhielt. Offenbar stieß v. d. Leyen mit ihren familienpolitischen Vorstellungen also auf fruchtbaren Boden, betrat die bundespolitische Bühne in einem denkbar günstigen Moment. Das „aufflammende familienpolitische Interesse“, diese plötzliche Diskussionsfreude, wurde also nicht allein von Frau v. d. Leyen verursacht; und trotzdem hat sie zweifellos einen großen Anteil daran. Mit ihren politischen Forderungen hat sie die christdemokratische Familienpolitik – eine der letzten Bastionen, in denen die sonst oftmals so pragmatische Union scheinbar unerschütterlich auf tradierten Leitbildern beharrte –168 auf den Kopf gestellt. Die von ihr angestoßenen Diskussionen schlugen solche Wellen, dass sich schließlich fast jeder zu einer Stellungnahme herausgefordert, ja geradezu verpflichtet fühlte. Ihr gelang folglich tatsäch165
Vgl. zum Beispiel Blanke, Christel/Ziegler, Ulrich: Von der Leyen will Rechte von Kindern stärken, in: Deutschlandradio Kultur, 15.12.2007, http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/tacheles/711638/ [eingesehen am 03.04.2008]. 166 Wehner, Markus: Die Familienrevolutionärin, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.01.2006. 167 Vgl. Stief, Gabi: Mutter im Sturm, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 28.01.2006. 168 Vgl. Neukirch, Ralf/Pfister, René: Neid und bräsiger Trotz, in: Der Spiegel, 12.11.2007.
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lich, „einen Wandel in Gang [zu setzen], der die Konservativen in tiefe Widersprüche und Verwirrung“169 gestürzt hat. Die Art und Weise, wie sie ihre so umstürzlerischen Vorhaben vorgestellt und durchgesetzt hat, ist ebenfalls in gewisser Weis revolutionär: Ihr ganz spezieller Politik- und Führungsstil bricht mit mindestens ebenfalls so vielen althergebrachten Konventionen wie ihre Politik selbst. So paradox es klingen mag: Vermutlich braucht es „gerade eine Provokateurin aus gutem Hause“170, die in gewisser Hinsicht – kinderreiche Familie, ein merklich arrivierter Lebensstil – ebenso konservativ ist wie ihre Gegner, um gesellschaftlichen Wandel einzuleiten.171 In der SPD beispielsweise hätte dies aller Wahrscheinlichkeit nach weit weniger gut funktioniert: Dort hätten die Sozialdemokraten sie dann doch nicht als eine „der ihren“ akzeptiert, aus der Nähe wäre die Empörung über ihre „offensive Bürgerlichkeit“172 weitaus größer gewesen als aus der Distanz, aus der die Kontraste viel unschärfer erscheinen; außerdem wären dann die Konservativen aus der Union erst recht „auf die Barrikaden“173 gegangen und hätten alle Möglichkeiten ausgeschöpft, gegen v. d. Leyen zu opponieren. So aber hatten sie kaum eine andere Wahl als, gezwungenermaßen und mit Kopfschütteln zwar, ein wenig zu rebellieren, sich dann aber schließlich geschlagen zu geben. Generell ist es also ihre Politikferne, die ihr so häufig nachteilig angekreidet wurde, die nicht unwesentlich zu ihrem Status als „Familienrevolutionärin“ beigetragen hat. Denn wäre sie weniger unvoreingenommen, auch weniger naiv in die Politik gekommen, hätte sie von vorneherein um all die Schwierigkeiten, die sie erwarteten, gewusst, wäre sie vorsichtiger, weniger überrumpelnd und mit geringerem Mut vorgegangen. Für die Renaissance und Revolution der Familienpolitik brauchte es zum Einen offenbar eine konservative Politikerin, zum Anderen und vor allem brauchte es aber eine konservative Seiteneinsteigerin.
Fazit und Ausblick „Perfektion, Provokation, Polarisierung“ – diese Schlagworte ziehen sich wie ein roter Faden durch die Karriere Ursula v. d. Leyens, charakterisieren ihren Werdegang knapp, aber treffend. Auf den ersten Blick erscheint Ursula v. d. Leyen geradezu als das Paradebeispiel einer erfolgreichen Seiteneinsteigerin. So ist sie doch innerhalb kürzester Zeit aus einem vollkommen anderen beruflichen Gebiet und ohne Ochsentour zur Bundesministerin avanciert, und bislang scheint es nicht, als wolle oder müsse sie sich bald von der politischen Bühne wieder verabschieden. Dabei ist dieser Erfolg bei näherem Hinsehen äußerst fragil – liegen bei ihr doch Lob und Kritik stets nah beieinander – und nicht zuletzt von ihrem Seiteneinsteiger-Status abhängig. Was zunächst paradox erscheinen mag, handelt es sich bei ihr doch offensichtlich gar nicht um eine genuine Seiteneinsteigerin, kann ihr dieses Attribut nur mit Einschränkungen, nie ohne den Verweis auf die familiäre Herkunft verliehen werden. Genau als ein solcher, als eine Politiknovizin, möchte sie aber offenbar dargestellt werden. Dies gereicht ihr aus mehreren Gründen zum Vorteil: Zum Einen entledigt sie sich so des Verdachts, nur über väterliche Beziehungen in ihr Amt gekommen zu 169
Schloemann, Johan: Lächelnde Fürsorge, in: Süddeutsche Zeitung, 18.01.2006. Monath, Hans: Die Unmögliche, in: Der Tagesspiegel, 20.03.2006. Vgl. Kurbjuweit, Dirk: Die Frauenrepublik, in: Der Spiegel, 18.06.2007. 172 Gaschke, Susanne: Die Moderne, in: Die Zeit, 26.01.2006. 173 Kurbjuweit, Dirk: Die Frauenrepublik, in: Der Spiegel, 18.06.2007. 170 171
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sein. Zum Anderen kann sie sich unbefangener gerieren, braucht auf Gepflogenheiten des politischen Alltags keine Rücksicht zu nehmen – das vermeintlich typische Seiteneinsteiger-Defizit erweist sich bei ihr als Stärke. Sie hat gewissermaßen den Regelbruch zur Kunst gemacht – damit sich diese Strategie aber nicht abnutzt, muss sie sich zwangsläufig bemühen, auch weiterhin diesen Status des „Neulings“ zu bewahren. So speist sich ihr gesamter Politikstil doch eben aus ihrer vorpolitischen Karriere, geht sie sehr pragmatisch, zielgerichtet, direkt an ihre Vorhaben heran, zählen für sie wissenschaftliche – „objektive“ – Urteile mehr als die Parteimeinung. Auch legt sie offensichtlich wenig Wert auf den „inoffiziellen Teil“ des Politikgeschäfts, ist nicht sonderlich an informellen Zusammenkünften interessiert. Somit steht ihr auch eine Machtressource, die viele andere (konkurrierende) Politiker ihr Eigen nennen, nicht zur Verfügung. Ebenso ist sie mit den inneren Funktionslogiken, den versteckten Ränkespielen des politischen Alltagsgeschäfts und den verdeckten Kommunikationskanälen, wenig vertraut. Trotzdem funktioniert ihre Art des „PolitikMachens“ bislang größtenteils gut – was als Indiz dafür herangezogen werden kann, dass sich an der politischen Kultur seit Regierungsantritt Angela Merkels insgesamt Einiges geändert hat, dass die als so unverzichtbar geltenden Seilschaften und Netzwerke, die durch langjährige Parteimitgliedschaft, kleinschrittiges Sich-Hoch-Dienen entstanden sind, mittlerweile so unverzichtbar gar nicht mehr sind. Vielleicht ist die Zeit für Seiteneinsteiger generell momentan günstig. Zumal an der Spitze der Regierung mit der Kanzlerin Merkel ja auch eine Seiteneinsteigerin steht, die sich ebenfalls hoher Popularitätswerte erfreut – offensichtlich ist derzeit ein bestimmter, Seiteneinsteiger-typischer Regierungs- und Politikstil gefragt. Aus diesen Gründen ist es, trotz aller Kritik, die sie nach wie vor auf sich zieht und vermutlich auch weiterhin auf sich ziehen wird, sehr wahrscheinlich, dass ihr Erfolg noch andauern wird, dass sie sich in ihrem Amt wird behaupten können – und dass sie darüber hinaus in der Zukunft auch in neuartigen Parteibündnissen eine wichtige Rolle spielen kann. Dies allerdings unter einer Voraussetzung: Sie muss ihren eigenen, spezifischen Politikstil beibehalten, muss weiterhin überraschende Vorstöße wagen, darf also ihren Seiteneinsteiger-Habitus nicht ablegen. Wenn sie sich stattdessen allzu sehr an die „Spielregeln“ der Politik anpasst, würde sie wohl einige ihrer wichtigsten Ressourcen aufs Spiel setzen – speist sich ihr Erfolg doch in erster Linie aus ihrer Unkonventionalität – ihrem Seiteneinsteiger-Status.
Verwalter und Vertraute
Ludger Westrick und Horst Ehmke – Wirtschaft und Wissenschaft an der Spitze des Kanzleramts Franz Walter
Ganz leicht ist es nicht, eine unmissverständliche Definition davon zu liefern, wer in der Politik als Seiteneinsteiger zu gelten hat und wer nicht. Und die Herausgeber des hier vorliegenden Bandes werden gewiss damit rechnen, dass bestimmt zwei oder drei Rezensenten altklug auf die – kaum vermeidbare – Unschärfe des Begriffs hinweisen werden. Doch dürfte man im Fall von Ludger Westrick rasch Einigkeit darüber erzielen, dass es sich bei ihm unzweifelhaft um einen Einsteiger in die Politik quer zu den durchschnittlichen Karriereverläufen im professionellen Betrieb des Politischen gehandelt hat. Westrick hatte sich von der (Partei-)Politik im engeren Sinne in den ersten 57 Jahren seines Lebens ferngehalten. Erst als ihn der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer drängte, entschloss er sich – wenngleich anfangs nur zögerlich –, den Schritt in die Politik zu wagen. Doch war das, was ihn erwartete, zunächst eher eine administrative Tätigkeit, gleichsam die Funktion eines leitenden Sekretärs und Beamten. Zum Leiter eines Ressorts in der Zentralregierung der Bundesrepublik avancierte er erst, als er fast schon seinen siebzigsten Geburtstag feiern konnte. Und da war er der erste bundesdeutsche Minister, der den Sprung vom verbeamteten Staatssekretär in das Kabinett schaffte. Er war der bis dahin einzige Bundesminister, der nie dem Bundestag angehörte, nie irgendwo in der politischen Arena je ein Mandat durch Wahlen hatte erwerben müssen. Ja, er war der bis dahin einzige Ressortchef in der Exekutive der Republik, der sich bewusst gegen die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei entschieden hatte. Westrick war auf dieser Ebene der Politik Mitte der 1960er Jahre der Seiteneinsteiger par exzellence. Jeder sah ihn so: seine Freunde, seine zahlreichen Gegner im Parlament und den regierungstragenden Parteien, die Presse – und ebenso er selbst. Westrick verkörperte in vielerlei Hinsicht gewissermaßen das chronische Begehren, von Zeit zu Zeit nach fachkompetenten Figuren diesseits der Politik für Ämter in der Politik zu rufen, und personifizierte schließlich das Scheitern, das ebenso chronisch das Schicksal dieser mit den Fährnissen des Politischen nicht durch lange Sozialisationsprozesse vertrauten Personen zu drohen scheint.
Katholischer Wirtschaftsführer Dabei hätte man sich Westrick gut als bekennendes Mitglied der CDU vorstellen können. Herkunft und Glaube schienen ihn fast dafür zu prädestinieren. Westrick war 1894 im tiefschwarzen Münster zur Welt gekommen. Die Westricks waren streng gläubige Katholiken. Sohn Ludger hegte als Jugendlicher gar die Ambition, Priester seiner Kirche zu werden. Doch von dieser Lebensplanung rückte er als junger Erwachsener ab, studierte vielmehr Jura und Handelswissenschaften, kam in jenen Jahren in enge Berührung zu dem charisma-
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tischen Sozialreformer und katholischen Geistlichen Carl Sonnenschein,1 der die sogenannte „sozialstudentische Bewegung“ initiiert hatte.2 Westrick also war ganz und gar im Katholizismus und dessen Soziallehre groß geworden. Die Ehe, die er mit einer Ärztin einging, war überaus kinderreich. Gleichwohl nahmen die Westricks noch zwei weitere Kinder aus dem Waisenhaus in Pflege, sodass die Familie – sein „einziges Hobby“3, wie Westrick gern zu sagen pflegte – zehnköpfig war. Solcherlei Familienumstände fand man nicht ganz selten auch in den Lebensläufen christdemokratischer Politiker. Insofern hätte Westrick sich in die christdemokratische Partei von Typ und Habitus wohl eingefügt. Aber Westrick ging nicht in die Politik; es zog ihn in die Wirtschaft. Genauer: Er trat in die Dienste der Vereinigten Stahlwerke, wo er bis 1933 als Verkaufsleiter blieb, ab 1930 vor allem die Geschäfte auf dem Balkan pflegend. Rasant verlief sein weiterer Aufstieg in den Jahren des Nationalsozialismus, vor allem während des Zweiten Weltkriegs.4 1933 gelangte Westrick in die Geschäftsleitung der „Vereinigten Industrie-Unternehmen AG“ (VIAG), ein Konzern, der die Kontrolle über die Stromerzeugung, den Bergbau und die Eisenhüttenindustrie besaß.5 1939 rückte Westrick zum Vorstandsvorsitzenden der „Vereinigten Aluminiumwerke“ auf. Da Aluminium als Werkstoff unverzichtbar für die Kriegsführung, insbesondere für den Flugzeugbau war, geriet Westrick immer mehr in die Spitzenkreise der nationalsozialistischen „Wirtschaftsführung“. Er selbst trug den Titel des „Führers“ der Wirtschaftsgruppe Aluminium, wurde zum „Feindvermögensverwalter“ in Norwegen und Frankreich eingesetzt und gehörte zum engeren Umfeld des Stabs von Herrmann Göring. Ein eifernder oder expliziter Nationalsozialist war Westrick in diesen Jahren gleichwohl nicht. Die Mitgliedschaft in der Hitler-Partei hatte er nicht angestrebt. Sein katholischer Glaube sperrte sich gegen die nationalsozialistische Ideologie. Persönliches Fehlverhalten gegen die in seinen Werken in großer Zahl beschäftigten osteuropäischen Zwangsarbeiter konnte ihm ebenfalls niemand vorwerfen. Doch gehörte Westrick – wie sein Vorgänger später im Amt des Chefs der Bundeskanzlei in der Bonner Demokratie – zu den nichtfaschistischen Eliten, ohne deren Mitwirkung der Nationalsozialismus nicht hätte funktionieren, der Krieg nicht sechs Jahre hätte geführt werden können. Kühl formuliert könnte man überdies an dieser Stelle anmerken, dass Ökonomie und Politik in den nationalsozialistischen Jahren stark verschmolzen waren, sodass der „Wirtschaftsführer“ Westrick – zumal als Manager in reichseigenen Konzernen – doch essenzielle Erfahrungen, nicht zuletzt Aushandlungstechniken mit Repräsentanten des Politischen hat sammeln können, infolgedessen als Seiteneinsteiger in die Politik der Bundesrepublik doch einiges an nützlichem Handwerkszeug mitbrachte. Zumal: Westrick setzte nach 1945, fast ohne Unterbrechung, seine Tätigkeit als Großorganisator der deutschen Wirtschaft fort. Er war zwar in sowjetische Gefangenschaft geraten, doch schon nach kurzer Zeit daraus wieder entlassen worden. Westrick galt fortan als „politisch unbelastet“. Die britische Militärregierung bestellte ihn zum Treuhänder für die 1 Vgl. Artikel zu Carl Sonnenschein von Detlef Grothmann in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, in: http://www.bautz.de/bbkl/s/sonnenschein_c.shtml [eingesehen am 25.07.2008]. 2 Vgl. Koerfer, Daniel: Kampf ums Kanzleramt. Erhard und Adenauer, Stuttgart 1987, S. 102 f. 3 Siehe Driesch, Karlheinz v. d.: Ludger Westrick 70 Jahre, in: dpa, 21.10.1964. 4 Vgl. hierzu insbesondere Löffler, Bernhard: Soziale Marktwirtschaft und administrative Praxis. Das Bundeswirtschaftsministerium unter Ludwig Erhard, Stuttgart 2002, S. 181 ff. 5 Vgl. hierzu und im Folgenden Pohl, Manfred: VIAG Aktiengesellschaft 1923-1998. Vom Staatsunternehmen zum internationalen Konzern, München/Zürich 1998, S. 170 ff.
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im Westen angesiedelten Unternehmen der alten VIAG. Hernach sammelte Westrick fleißig weitere Vorstands- und Aufsichtsratsposten, vor allem im Bergbau und im Montansektor, die in jenen Jahren noch als Schlüsselindustrien firmierten. Man nannte Westrick seinerzeit den Generalstäbler der deutschen Wirtschaft.
Generalstäbler im Wirtschaftsministerium Einen solchen umsichtigen, führungsstarken „Generalstäbler“ wollte Konrad Adenauer 1951 in das Wirtschaftsministerium platzieren, dort also, wo sein Intimfeind Ludwig Erhard residierte.6 Schon zu diesem Zeitpunkt traute Adenauer dem Professor und Theoretiker der „Sozialen Marktwirtschaft“ nicht viel zu, jedenfalls nicht die akkurate Leitung einer großen Behörde, wie sie das Ministerium für Wirtschaft nun einmal war. Schließlich hatten selbst die amerikanischen Besatzungsoffiziere für den ihnen wirtschaftspolitisch durchaus nahestehenden Erhard den Titel „Mr. Desorganisation“7 erfunden. Adenauer hielt Erhard eher für einen „halben Künstler“ denn für einen Politiker oder auch nur guten Administrator. So sollte Westrick, der bewährte Organisator hochverflochtener Staatskonzerne, Ordnung in das Erhard-Ministerium bringen, sollte dem offiziellen Ressortchef die dogmatischen Flausen einer staatsfreien Wirtschaftsliberalität austreiben.8 Der „Herr Westrick“, raunte Adenauer damals Vertrauten zu, möge „den eigentlichen Minister“ machen, während der „Herr Erhard“ im Lande propagandistisch nützliche, aber politisch ungefährliche Reden halte.9 Thomas Dehler, Justizminister im ersten Kabinett Adenauers, lancierte gar das Gerücht, dass Westrick dazu auserkoren wäre, Erhard bei nächster Gelegenheit als Minister abzulösen.10 Indes: Zunächst sträubte sich Westrick, dem Angebot des Bundeskanzlers zu folgen. Schließlich ging er allmählich auf die sechzig Jahre zu. Das glitschige Bonner Gelände war ihm fremd. Vor allem: Mit dem Gehalt eines Staatssekretärs hätte der exponierte Wirtschaftskapitän materiell erhebliche Abstriche machen müssen, was dem Vorsteher einer immerhin zehnköpfigen Familie sehr missfiel. Doch in solchen Fällen waren Adenauer und sein treuer Gehilfe Hans Globke findige Menschen, die sich auch um Konventionen und Überlieferungen nicht scherten. Also vereinbarten sie mit Westrick, dass er zunächst lediglich „mit der Wahrnehmung der Geschäfte des Staatssekretärs beauftragt“ wurde, damit also nicht dem Beamtenrecht unterlag. Westrick erhielt so weiter die üppigen Gehälter von der VIAG und dem Aluminiumwerk.11 Umgekehrt überwies die Staatskasse das bescheidene Staatssekretärsgehalt an die VIAG. Allein der Politikwissenschaftler Theodor Eschenburg fand das seinerzeit anstößig. Und noch
6 Zu Erhard generell vgl. Mierzejewski, Alfred C.: Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der sozialen Marktwirtschaft. Biografie, München 2005; Laitenberger, Volkhard: Ludwig Erhard. Der Nationalökonom als Politiker, Göttingen u.a. 1986. 7 Siehe Koerfer 1987, S. 91. 8 Vgl. o.V.: Ludger Westrick, in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10.1963. 9 Schreiber, Hermann: Den Kanzler in den Griff genommen, in: Der Spiegel, 06.06.1966. 10 Vgl. Wengst, Udo: Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948-1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984, S. 267. 11 Vgl. Löffler 2002, S. 222.
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in seinen Erinnerungen empörte er sich: „Einer der höchsten Staatsdiener war damit weiter Angestellter der Industrie.“12 1955 wurde Westrick dann ganz förmlich auch verbeamtet. Denn inzwischen hatte er ersichtlich Passion für seinen Job im Ministerium entwickelt. Vor allem: Erhard und Westrick „konnten miteinander“. Das war nicht unbedingt Plan und Absicht Adenauers gewesen. Aber über zehn Jahre musste man die Zusammenarbeit von Erhard und Westrick als bemerkenswerte Erfolgsgeschichte schreiben. Die anfängliche Distanz zwischen den beiden wurde rasch abgebaut. Denn Westrick, der harte Praktiker, war fasziniert von den visionären Ideen seines neuen Chefs. Er bewunderte ihn dafür, wie er auf Marktplätzen oder in Stadthallen das Volk, dessen Kenntnisse von den wirtschaftlichen Vorgängen gering waren, durch seine Sprachbilder und inneren Überzeugungen in den Bann schlug, ja: mitriss. Westrick wurde zum – wie er es selbst bezeichnete – „glühenden Verehrer“ Erhards, weil dieser über Fähigkeiten verfügte, die dem Staatssekretär abgingen, denen er aber hohe Bedeutung beimaß. Im Grunde war das eine ideale Konstellation für synergetische, komplementär angelegte Zusammenarbeit. Beide waren sich in den Grundmaximen einig, beide konnten im Verfolg dieses Projekts unterschiedliche, sich notwendigerweise ergänzende Begabungen einbringen.13 Erhard war der Theoretiker, Westrick der Praktiker. Erhard dachte in großen Zukunftsvorstellungen, Westrick machte sich Gedanken über realistische Wege der operativen Umsetzung. Träumer und Macher, Denker und Organisator, Tribun und Mittler – so wurde das Duo von Vielen gesehen. Und im politischen Bonn hielt man bis in die frühen 1960er Jahre den Minister und seinen Staatssekretär für „ein glänzend eingefahrenes Gespann“14. Schon äußerlich war es eine faszinierende, auf den ersten Blick allerdings auch wunderliche Symbiose zwischen dem Katholiken, der wie ein Asket wirkte, und dem Protestanten, der das „Wirtschaftswunder“ mit seiner beachtlichen körperlichen Fülle geradezu inkarnierte.15 Erhard kam mit Menschen nur dann gut zurecht, wenn er sie vom Rednerpult in Massen ansprechen konnte; in kleiner Runde war er scheu, unsicher. Westrick demgegenüber fehlte jedes oratorische Talent für Kundgebungen und Versammlungen. Dafür lief er in kleinräumigen Verhandlungen zu großer Form auf, bestach durch Charme, setzte sich – wo es nötig wurde – aber auch mit eiserner Härte durch.16 Die beiden so unterschiedlichen Charaktere vertrauten einander, zumindest bis 1965. Mürrisch beschwerte sich Adenauer daher beim Bundespräsidenten, dass Westrick – für den er doch einen anderen Plan ausgeheckt hatte – „Herrn Erhard“ blind folge. Am liebsten hätte der Kanzler den Staatssekretär des Wirtschaftsministeriums nach Moskau auf den Botschafterposten abgeschoben. Aber Westrick blieb in Treue zu Erhard in der kleinen Stadt am Rhein.
12
Eschenburg, Theodor: Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933-1999, Berlin 2000, S. 178. Vgl. Strobel, Robert: Westrick: Erhards rechte Hand, in: Die Zeit, 05.01.1956; o.V.: Westrick, in: Wirtschaftszeitung, 11.04.1951. 14 Ihlefeld, Heli: Starke Nerven und viele Ärzte, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 11.09.1963. 15 Vgl. hierzu und insgesamt über Westrick den scharfsinnigen Essay von Schreiber, Hermann: Den Kanzler in den Griff genommen, in: Der Spiegel, 06.06.1966. 16 Vgl. Höpker, Wolfgang: Verhandelt mit Charme und Härte, in: Bonner Rundschau, 23.10.1964; Simon, Kurt: Mit Erhard ins Bundeskanzleramt, in: Süddeutsche Zeitung, 17.10.1963. 13
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Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef im Kanzleramt Dort formierte er die sogenannte „Brigade Erhard“, einen Beraterkreis im Wirtschaftsministerium, der aus ihm, dem zweiten Staatssekretär Alfred Müller-Armack, dem Pressechef Karl Hohmann und einigen Erhard politisch zugetanen Bundestagsabgeordneten – darunter zunächst Rainer Barzel und der Verleger Gerd Bucerius – bestand. Das Kernziel dieses Kreises war über all die Jahre, Ludwig Erhard trotz des erbitterten Widerstands von Konrad Adenauer in das Kanzleramt zu hieven. Da sich das Gros der Bundestagsabgeordneten der CDU/CSU von der erfolgreichen Wahllokomotive Erhard 1962/63 bessere Wahlergebnisse versprach als zuletzt unter dem „Alten“ aus Rhöndorf, hatte die Brigade am Ende Erfolg. Erhard, den nicht nur Adenauer für das Kanzleramt als gänzlich ungeeignet empfand, wurde Regierungschef der Bundesrepublik Deutschland. Aber Ludger Westrick wurde nicht Bundesminister für Wirtschaft. Mit diesem Posten jedoch hatte er über Monate fest gerechnet, gewiss auch rechnen dürfen. Denn Ludwig Erhard hatte Westrick mehrere Male versichert, dass er ihm die Nachfolge seiner Selbst antragen würde, sollte er in das Palais Schaumburg ziehen. Westrick befand sich für seinen Kanzler auf Dienstreise in den USA, als er überraschend die Nachricht erhielt, dass nicht er, sondern der Abgeordnete Kurt Schmücker das Wirtschaftsressort leiten würde.17 Der nach wie vor verschnupfte Adenauer hatte schon früher gestreut, dass Westrick einfach nicht das „Gesamtgebiet“18 der Wirtschaft beherrsche. Und rund vier Fünftel der Bundestagsabgeordneten von CDU/CSU, schätzte jedenfalls das Nachrichtenmagazin Der Spiegel, wollten den notorisch parteilosen Staatssekretär ebenfalls nicht im Kabinett sehen. Der Seiteneinsteiger und sein prononciert über die „Parteiungen“ – so der abschätzig gemeinte Begriff, den Westrick und Erhard gern für die politischen Parteien verwendeten – stehender neuer Bundeskanzler bekam erstmals schneidend deutlich die Grenzen ihres politischen Verständnisses zu spüren, das auf Unabhängigkeit „streng sachlicher Politik“ von Interessengruppen, Parteiegoismen und Abgeordneteninteressen zielte. Noch musste dies Ludwig Erhard nicht fundamental beunruhigen. Denn noch durfte er den Eindruck bewahren, dass seine Strategie der direkten Ansprache an das Volk durchaus Früchte trug und ihn selbst mit Erfolg an die Spitze der Exekutive katapultiert hatte. Und Dank des plebiszitären Fundaments seiner Kanzlerschaft konnte Erhard dann doch als Mentor für den ansonsten an Unterstützung armen Ludger Westrick protegierend fungieren – zumal Erhard ihn und seine anderen Getreuen aus dem Wirtschaftsministerium brauchte, um in der neuen, ihm fremden Umgebung der Regierungszentrale zu bestehen.19 Kurzum: Er machte Ludger Westrick zum Staatssekretär und Chef des Kanzleramtes. Westrick wurde so zum Nachfolger des schon damals legendären Hans Globke. Doch tauchte erneut, wie bereits 1951 bei Westricks Entree in die Politik, ein beamtenrechtliches Problem auf. Der siebzigste Geburtstag Westricks war nicht weit entfernt, lag im Oktober 1964. Und das Beamtenrecht schloss aus, über das siebzigste Lebensjahr hinaus im aktiven Dienst zu bleiben. Staatssekretäre aber waren Beamte. Wohl hätte man die 1951er Lösung reaktivieren und Westrick lediglich mit der „Wahrnehmung“ der Geschäfte eines Staatssekretärs betrauen können, doch das war dem neuen Staatssekretär, der das demnächst nicht mehr sein durfte, zu wenig und zu gering. Die Ministerwürden waren ihm nun wichtig. In 17
Vgl. o.V.: Wohlstand für alle, in: Der Spiegel, 16.10.1964. Adenauer, Konrad: Erinnerungen 1955-1959, Stuttgart 1967, S. 526. 19 Vgl. o.V.: Des neuen Kanzlers rechter Arm, in: Christ und Welt, 18.10.1963. 18
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einer Nacht- und Nebelaktion machte ihn daher Kanzler Erhard kurz vor der parlamentarischen Sommerpause Ende Juni 1964 zum „Bundesminister für besondere Aufgaben“. Seine reale Aufgabe blieb dabei die leitende Administration des Bundeskanzleramts. Dieser Coup rief erneut den Wächter des Verfassungsrechts, den Tübinger Ordinarius Theodor Eschenburg, auf den Plan, der diesmal allerdings mit seinen Bedenken in der Öffentlichkeit nicht gänzlich allein blieb. In einem ausführlichen Artikel für die Hamburger Wochenzeitung Die Zeit legte Eschenburg das Dilemma der Kanzler-Entscheidung unmissverständlich offen. Nach Artikel 65 des Grundgesetzes leiten die Bundesminister ihren jeweiligen Geschäftsbereich selbständig, sind im Kollegialorgan des Kabinetts dem Kanzler gleichgestellt. Im Falle von Westrick bedeutete das: „Der erste Untergebene des Bundeskanzlers soll jetzt zugleich dessen Kollege sein.“20 Auch in dieser Sache hielt die Empörung Eschenburgs noch zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Erinnerungen an. Die Ernennung Westricks zum Bundesminister nennt Eschenburg im zweiten Band seiner Memoiren einen „kapitalen Fehler“, der das politische Unvermögen Erhards deutlich werden ließ. „Denn einerseits machte er damit seinen Amtschef zu seinem Kollegen, der ihm jederzeit entgegenhalten konnte: ‚Herr Bundeskanzler, ich bin als Minister nur ihren Richtlinienkompetenzen unterworfen, sonst führe ich die Geschäfte nach eigenem Ermessen. Ich muss also Ihre Weisungen nicht befolgen, denn ich bin ja auch Ihr Kollege.’“21 Doch schien das 1964 vorwiegend der theoretische Einwand eines Puristen des Verfassungsrechts zu sein. Die Loyalität Westricks gegenüber Erhard war schließlich in dreizehn langen Jahren erprobt und hinreichend belegt. Insofern dominierten im Sommer 1964 die positiven Kommentare zur Inthronisation Westricks. Man erwartete, dass Westrick, der trotz seiner bald siebzig Jahre ein bemerkenswert agil und reaktionsschnell gebliebener Mann war, auch im Kanzleramt den Part spielen würde, den er zuvor mit Erfolg im Wirtschaftsministerium eingenommen hatte: als funktionales Äquivalent zu Erhard, als Mann des Ausgleichs von dessen Schwächen.22 In diesen Anfangsmonaten der Kanzlerschaft Erhard lagen die Defizite des Regierungschefs auch noch nicht weit offen. Mehr beeindruckte die Aufbruchsrhetorik Erhards, sein Versprechen, nach den Jahren der AdenauerAutokratie eine neue Ära der Diskussion, der Kollegialität, der Transparenz im Bundeskabinett einzuführen. Das entsprach damals dem neuen Geist der Zeit; daher hatte Erhard auch im Jahr eins seiner Kanzlerschaft wie schon in den vierzehn Jahren zuvor als Minister der Wirtschaft eine überwiegend brillante Presse. Für Westrick galt das Gleiche. Den beiden schadete nicht, dass sie sich betont unpolitisch gaben, jedenfalls demonstrativen Abstand zu den „Organisationen enger Interessen“ hielten. Im Gegenteil, noch kam die Attitüde bestens an.23 Der glänzende Wahlsieg Erhards im Bund 1965, als er der CDU/CSU mit 47,6 Prozent der Stimmen wieder einen Zuwachs von 2,3 Prozentpunkten gegenüber dem letzten Adenauer-Wahlkampf verschaffte, bildete gewissermaßen den Kulminationspunkt in der politischen Biografie Erhards und Westricks.
20
Eschenburg, Theodor: Die Fehlkonstruktion im Kanzleramt, in: Die Zeit, 26.09.1964. Ders. 2000, S. 177. 22 Vgl. Reiser, Hans: Erhards Freund und Berater, in: Süddeutsche Zeitung, 23.10.1964; Tern, Jürgen: Der Kanzleiminister, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.10.1964; Strobel, Robert: Erhards Generalstabschef, in: Die Zeit, 26.06.1964. 23 Vgl. Wagner, Wolfgang: Der erste parteilose Minister in Bonn, in: Der Tagesspiegel, 23.06.1964. 21
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Der böse Geist im Palais Schaumburg Dann ging es im hohen Tempo bergab. Die Symbiose bekam Risse, am Ende hielt sie nicht mehr. Denn Westrick hatte Geschmack an den Möglichkeiten politischer Macht gefunden. Sein Vorgänger Globke verstand sich noch als Erfüllungsgehilfe seines Kanzlers; Westrick hingegen hatte höhere Ziele: Er wollte politisch Weichen stellen, den Kurs des Kanzlers beeinflussen.24 Infolgedessen nannte man Westrick im politischen Bonn ein wenig ironisch, aber zunächst noch durchaus respektvoll „Minister für Entscheidungshilfe“. Schließlich galt Erhard als zögerlich und timide. Daher hielt man es weithin für förderlich, dass ihn sein Kanzleramtsminister von Fall zu Fall drängte und trieb. Doch der Respekt wich sukzessive verbreitetem Unmut. Allmählich neidete man Westrick seine Machtfülle, da er als Minister nicht nur gleichgestellter Kollege zu allen anderen Ressortchefs war, sondern als Kanzleramtschef zugleich alle zwanzig Bundesministerien koordinierte, dabei gleichsam auf Linie zu bringen versuchte. Westricks Bedeutung lag höher als der aller anderen Minister. Er allein entschied, wer Zugang zum Kanzler hatte, wessen Anstöße und Überlegungen Ludwig Erhard erreichten.25 „Erhards Premier“, der „heimliche Kanzler“, der „regierende Kanzler“ – solche Titel zirkulierten in der Bundeshauptstadt 1965/66, wenn von Westrick die Rede war.26 Und gern erzählt wurde auch der Witz von der Sekretärin im Kanzleramt, die einem Anrufer, der zu Westrick durchgestellt werden wollte, beschied: „Der ist leider beschäftigt. Aber wenn es nicht so wichtig ist, kann ich sie ja mit dem Kanzler verbinden.“ Bald galt Westrick bei all denjenigen, die nicht mehr zum Kanzler durchdrangen, als der „böse Geist“ im Palais Schaumburg. Doch waren es nicht nur Missgunst und Eifersucht, die solche Vorwürfe nährten. Die Pannen im Kanzleramt häuften sich; die Desorganisation im Haus wurde mehr und mehr ruchbar.27 Fast verblüfft konstatierten Freund und Feind, dass Westrick keineswegs ein Meister der Administration war. Plötzlich sprach man vom „sanguinischen Aktenverächter“28 Westrick. Globke kannte stets alle Akten, bewältigte sie souverän. Adenauer war über die Aktenlage ebenfalls genau im Bilde. Erhard und Westrick hingegen kannten das Meiste nur noch aus zweiter Hand. Hans Neusel, damals persönlicher Referent Westricks, hatte die Akten studiert und erstattete seinem Vorgesetzten Bericht.29 Dieser ging dann zum Kanzler und erzählte ihm, was er selbst gerade erzählt bekommen hatte. Oft genug war Westrick gar nicht im Palais Schaumburg präsent. Denn er musste – anders als zuvor Globke – den Bundeskanzler auf allen Auslandsreisen begleiten. Und so war die Amtsführung oft tagelang verwaist, Entscheidungen wurden ausgesetzt, der Verwaltungsprozess unterbrochen. Aber selbst wenn der Kanzler und sein Minister in der Regierungszentrale weilten, kamen viele Vorgänge nicht vom Tisch. Auch das fiel nun überraschend auf: Nicht nur der Bundeskanzler tat sich schwer mit Entschlüssen, sein 24 Zur Differenz im Selbstverständnis der beiden Kanzleramtschefs vgl. Hans-Werner Graf von Finckenstein, in: Die Welt, 12.12.1964. 25 Vgl. o.V.: Westrick, in: Industrie-Kurier, 04.08.1966; Reiser, Hans: Ludger Westrick – Minister, aber kein Politiker, in: Süddeutsche Zeitung, 17.09.1966; John, Antonius: Das Kanzleramt und sein mächtiger Minister, in: Handelsblatt, 30.10.1964. 26 Vgl. Groß, Hermann: Westrick, Ludger, in: Kempf, Udo/Merz, Georg (Hrsg.): Kanzler und Minister 1949-1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2001, S. 739-742. 27 Vgl. auch Carstens, Carl: Erinnerungen und Erfahrungen, Boppard am Rhein 1993, S. 241. 28 O.V.: Auch mal schreien, in: Der Spiegel, 12.12.1966. 29 Vgl. o.V.: Aus zweiter Hand, in: Der Spiegel, 06.06.1966.
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Amtschef zauderte im Angesicht der großen Politik nun ebenso, wägte die Dinge hin und her und konnte sich zu klaren Richtungsdirektiven nicht mehr durchringen.30 Ein Hort politischen Elans, auch nur rationaler, moderner Verwaltungsstrukturen war das Kanzleramt seit dem Herbst 1965 nicht. Und so sammelten sich die Gegner des Kanzlers, die ihre Attacken auf die schwächste Stelle der Kanzler-Phalanx richteten: eben Ludger Westrick. Die schwächste Stelle war Westrick deshalb, weil dieser nun in der Krise der Kanzlerschaft nicht über die Loyalitäten und Prätorianergarden verfügte, welche die traditionelle Parteiendemokratie für bewährte Politiker der Ochsentour bereit zu halten pflegt. Globke war immer auch eine Art Parteimanager, der gerade in der Personalpolitik tief in die CDU hineinwirkte, durch Patronage Treue und Gefolgschaft herstellte.31 Doch solcherlei Personalpolitik der Begünstigung hatte Westrick stets wiederstrebt. Und nun fehlten ihm die Truppen zu einem Zeitpunkt, da die andere Quelle der Kanzlermacht, die plebiszitäre Welle der unmittelbaren Wählersympathien, mehr und mehr versiegte. Die erste größere wirtschaftliche Rezession in der bundesdeutschen Geschichte bahnte sich an. Das Verhältnis zu den Amerikanern kühlte sich ab. Und im größten Bundesland, Nordrhein-Westfalen, verlor die CDU trotz des massiven Rednereinsatzes von Erhard am 10. Juli 1966 die Regierungsmacht – ein Schock, ja eine Zäsur in der Innenpolitik der Bonner Republik.32 Selbst die jungen, neu herangezogenen Berater in der „Brigade Erhard“ – allen voran der Publizist Johannes Gross – schossen nun ihre Pfeile gegen Westrick, machten ihn für den Popularitätsverfall des Kanzlers verantwortlich. Doch die Kritik intellektueller Individualisten hätte Westrick noch aushalten, politisch überstehen können. Weit folgenreicher war, dass innerhalb der CDU/CSU, insbesondere in deren Bundestagsfraktion, das Anti-Westrick-Lager raschen Zulauf fand. Dessen parteipolitische Abstinenz wurde ihm nun allenthalben zum Vorwurf gemacht.33 In seiner Not hatte Westrick schon Monate zuvor das Angebot des Berliner Landesverbands akzeptiert, ihn zum Ehrenmitglied der Partei in der Frontstadt zu machen.34 Doch damit konnte der Minister nun keineswegs die Gemüter mehr beruhigen. Im Gegenteil, die nach der Landtagswahlniederlage hoch empfindlichen Christdemokraten zwischen Rhein und Ruhr empörten sich lauthals, dass der in Bonn wohnhafte Bundesminister nicht bei ihnen um eine ordentliche Mitgliedschaft nachgekommen war. Der Vorsitzende der rheinischen CDU, Konrad Grundmann, drängte daher auch energisch auf die Entlassung Westricks durch den Bundeskanzler.35 Sekundiert wurde ihm dabei insbesondere aus der Jungen Union, vor allem von Seiten des Bundesvorsitzenden der Nachwuchsorganisation, Egon Klepsch, welcher zugleich Sprecher der sogenannten „Gruppe 46“ war, einer Vereinigung von jungen christdemokratischen Bundestagsabgeordneten mit erheblichen Karriereambitionen.36 Westrick sei kein Politiker, sondern ein „Wirt30 Vgl. besonders Höpke, Wolfgang: Erhard bestätigt seine Kritiker, in: Christ und Welt, 10.06.1966; Echtler, Ulrich: Einfluss und Macht in der Politik. Der beamtete Staatssekretär, München 1973, S. 219. 31 Vgl. W.H.: Entscheidungsgehilfe, in: Christ und Welt, 23.10.1964; Bösch, Frank: Die Adenauer-CDU. Gründung, Aufstieg und Krise einer Erfolgspartei 1945-1969, Stuttgart/München 2001, S. 365. 32 Vgl. Finckenstein, Hans-Werner Graf v.: Des Kanzlers lächelnder Schatten, in: Die Welt, 16.09.1966. 33 Vgl. Purwin, Hilde: Viele gegen Westrick als Kanzler-Berater, in: Neue Rhein Zeitung, 28.02.1966. 34 Vgl. o.V.: Westrick wurde Ehrenmitglied der Berliner CDU, in: dpa, 09.10.1964. 35 Vgl. Michel, Siegfried: Man nannte ihn den heimlichen Kanzler, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 17.09.1966. 36 Vgl. Neumaier, Eduard: Der gute Mensch im Palais Schaumburg, in: Rheinische Post, 16.09.1966; Schröder, Georg: Ludwig Erhards zweites Ich, in: Die Welt, 29.11.1965.
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schaftler“, rügte Klepsch in Radiointerviews.37 In diesen späten Erhard-Jahren tribalisierte die Christliche Union gleichsam. Sie zerfiel in Diadochenkämpfe, in die Konkurrenz von oft schwer durchschaubaren Machtcliquen.38 Westrick gehörte keinem dieser Zirkel an, besaß vielmehr Feinde auf allen Seiten. Franz Josef Strauß und Gerhard Schröder etwa waren einander herzlich abgeneigt.39 Doch Eines einte sie: die Kritik an Westrick. Als auch im Fraktionsvorstand und in der Fraktionssitzung der Union die Rufe nach Ablösung Westricks immer schriller wurden,40 ohne dass der Bundeskanzler oder irgendein anderer Minister dem attackierten Chef der Regierungszentrale beisprang, warf der fast 72-jährige Nestor des Kabinetts verbittert das Handtuch.41 Über Erhard, dem er so lange in Treue gedient hatte, äußerte sich Westrick nun auch in der Öffentlichkeit enttäuscht.42 Am 15. September 1966 übergab Westrick dem Kanzler sein Rücktrittsgesuch. Erhard bat ihn, die Dienstgeschäfte einstweilen – bis zur Ernennung eines Nachfolgers – weiter zu führen. Doch fand sich niemand, der sich in dieser Kanzlerdämmerung noch im Palais Schaumburg verbrauchen lassen wollte. Westrick wurde infolgedessen von den Dienstpflichten erst erlöst, als die Union ihren Parteivorsitzenden und Bundeskanzler in die Wüste schickte. Erhard und Westrick gingen gemeinsam. Ihre Mission – den Deutschen das Volkskanzlertum beizubringen, die Politik frei von Funktionären und Interessenvertretern zu machen, ein Kabinett von unabhängigen Herren höchster fachlicher Kompetenz anzustreben –43 war gescheitert.
* Drei Jahre später hatte die Republik erneut einen Chef im Bundeskanzleramt im Range eines Bundesministers: Horst Ehmke.44 Ehmke war ebenfalls nicht das, was man seinerzeit einen klassischen oder typischen Sozialdemokraten nannte, war insofern auch ein Seiteneinsteiger. Er kam aus bürgerlichen Verhältnissen, war Sohn eines Chirurgen in Danzig, hatte selbst das Gymnasium besucht, studiert und es in frühen Jahren bereits zum Professor der Rechte in Freiburg gebracht. Aber Ehmke war doch ein typischer Vertreter seiner Generation, die in ihrer akademischen Schicht während der 1960er Jahre in etliche Leitungspositionen der bundesdeutschen Gesellschaft eindrang, dort die Medien, die Kultur, die Wissenschaft und Universitäten, für einige Jahre auch die Politik prägte. Diese Jahrgänge konstituierten gewissermaßen die „Generation Planung“, die Kohorte „Modernität, Sachlichkeit und Effizienz“. 37 Dr. Egon Klepsch zum Rücktrittsgesuch von BM Westrick, in: BPA/Abt. Nachrichten DFS/16.9. 1966/20.15/Hr. 38 Vgl. Schuster, Hans: Westricks Abschied, in: Süddeutsche Zeitung, 16.09.1966; Dechamps, Bruno: Westricks plötzlicher Entschluss, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.09.1966. 39 Vgl. Hentschel, Volker, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München 1996, S. 544 40 Vgl. o.V.: Westricks Gegner formieren sich, in: Handelsblatt, 03.08.1966; o.V.: Regierung auf Abruf, in: Der Spiegel, 19.09.1966. 41 Vgl. o.V.: Westrick: Ich will nicht mehr, in: Die Welt, 16.09.1966. 42 Vgl. Hentschel 1996, S. 590. 43 Vgl. hierzu auch Schreiber, Hermann: „Alle haben sie mich enttäuscht, alle, in: Der Spiegel, 07.11.1966; Gaus, Günter: Wie regiert Ludwig Erhard, in: Die Zeit, 16.04.1965; ders.: Der zweite Mann im Kanzleramt, in: Süddeutsche Zeitung, 10.02.1965. 44 Vgl. auch im Folgenden Ehmke, Horst: Mittendrin. Von der Großen Koalition zur Deutschen Einheit, Reinbek bei Hamburg 1996.
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Flakhelfer der skeptischen Generation Horst Ehmke selbst hat sich jedenfalls nicht selten mit solchen Begriffen charakterisiert. In einem Fernsehgespräch mit Günter Gaus im April 1970 beschrieb er sich als jemanden, der „ein ausgeprägtes Verhältnis zur Leistungsfähigkeit und Effizienz“45 aufweise. Ganz ähnlich hatte bereits der Soziologe Helmut Schelsky im Jahr 1957 die Ehmke-Kohorte gekennzeichnet und mit dem Etikett der „skeptischen Generation“46 belegt. Seither gelten die Zugehörigen dieser Jahrgangsgruppe als gebrannte Kinder jeglichen ideologischen Fanatismus, was gerade bei ihnen zu einer gründlichen Abkehr von allen utopischen Schwärmereien, schwülstigen Idealismen und holistischen Ganzheitsillusionen geführt habe. Schelskys Befund ist viel diskutiert, auch kritisiert worden. Und es hat zahlreiche Variationen seiner Generationenkategorisierung für diejenigen gegeben, die etwa zwischen 1927 und 1932 geboren wurden. Einigen – wie Heinz Bude – gefiel der Begriff „Flakhelfergeneration“47 besser, andere – wie Dirk Moses – machten sich für die Formel „45er“48 stark; zuletzt empfahl Stephan Schlak das Kürzel „29er“49 zu verwenden. In all den semantischen Vorlieben steckten wohl auch je besondere Eigenarten der Interpretation und Abgrenzung zu den anderen Modellen, doch insgesamt fielen die Generationsbefunde so gravierend unterschiedlich gar nicht aus.50 Als unzweifelhaft gilt allen, dass die Ehmkes, Dahrendorfs, Fests, Nipperdeys, Augsteins, Rohrmosers, v. Krockows, Enzensbergers, etc. etc. elementar geprägt wurden durch das Schockerlebnis im Jahr 1945. Doch attestiert man ihnen tatsächlich so etwas wie die „Gnade der späten Geburt“. An die Front mussten die jüngeren Teile dieser Kohorte nicht mehr. Und wer den Kampf an der Flak überlebte, dem standen – insbesondere, wenn er über Abitur und Hochschulabschluss verfügte – exzeptionelle Berufsmöglichkeiten offen, über welche die Vorgängergenerationen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht verfügten. Sie waren vielfach die ersten – Ehmke gehörte dazu –, die in den Genuss von Studienaufenthalten in den USA kamen. Im Übrigen studierten sie zügig, ergriffen beherzt die Karrieregelegenheiten, die sich seit den späten 1950er Jahren reichlich boten. So lebte diese Generation, die den Horror der letzten Kriegsjahre noch bewusst erlebt hatte, in denkbar positiver Übereinstimmung mit der neuen Bonner Demokratie, die ihnen beträchtliche Chancen bot. Schon deshalb konstituierten und repräsentierten diese Jahrgänge die Leitmotive der Republik im ersten Vierteljahrhundert ihres Daseins: Leistung, Organisation, Vorankommen, Erfolg. Der Generationenbegriff mag oft unter klischeehaften Zuschreibungen leiden, mag häufig auch individuelle Unterschiedlichkeiten zu stark kollektivierend begradigen. Aber es ist schwer zu leugnen, dass sich die Biografie Ehmkes wesentlich in diesem Generationskontext abspielte, in etlichen Facetten erst dadurch erklären lässt. Ehmke ist Jahrgang 1927. Mit sechzehn Jahren stand er an der Flak, musste dann zum Arbeitsdienst und wurde mit achtzehn im letzten Kriegsjahr noch Soldat. Für kurze Zeit 45
Günter Gaus im Gespräch mit Bundesminister Prof. Horst Ehmke, Erstausstrahlung: DFS, 26.04.1970, in: Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) Depositum Horst Ehmke, 1HE/AA000014. 46 Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf u. a. 1957. 47 Bude, Heinz: Deutsche Karrieren. Lebenskonstruktionen sozialer Aufsteiger aus der Flakhelfer-Generation, Frankfurt am Main 1987. 48 Moses, Dirk: Die 45er. Eine Generation zwischen Faschismus und Demokratie, in: Neue Sammlung, Jg. 40 (2000) H. 2, S. 233-263. 49 Schlak, Stephan: Die 29er, in: Berliner Zeitung, 23.01.2004. 50 Vgl. auch Ahbe, Thomas: Deutsche Generationen nach 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte H. 3/2007, S. 38-46.
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war er Gefangener der Roten Armee. Als er zurück in das zivile Leben der deutschen Trümmergesellschaft durfte, wog er lediglich noch 43 Kilogramm. Doch dann ging es voran: 1946 Abitur, sogleich anschließend das Studium der Rechtswissenschaft und Nationalökonomie in Göttingen. 1949/50 zog Ehmke – wie er später gern sagte – „das große Los“: Er durfte als Austauschstudent an die Princeton University gehen. Mit 25 Jahren promovierte er. Mit 34 Jahren trug er den Professorentitel, mit 39 Jahren – im Jahr 1966 also – amtierte er als Dekan der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Freiburg. Kurzum: Seit dem neunzehnten Lebensjahr war es stetig vorangegangen mit ihm.51
Wendiger Professor In die SPD war er 1947 in Göttingen eingetreten. Doch das war es – von einigen Auftritten im örtlichen SDS abgesehen – an sozialdemokratischer Basisarbeit auch schon für die nächsten fünfzehn Jahre. An Ortsvereinsversammlungen beteiligte er sich überwiegend nicht, weder in Göttingen noch in Freiburg. Später, in einem Fernsehgespräch mit Günter Gaus, bekannte er, dass auch eine Mitgliedschaft in der FDP nicht unmöglich gewesen wäre.52 Indes blitzte seine sozialdemokratische Ambition schon zwischen 1952 und 1956 kurz auf, als er unter dem Geschäftsführer der SPD-Bundestagsfraktion, Adolf Arndt, als Wissenschaftlicher Assistent arbeitete. Doch hatten Carlo Schmid und Fritz Erler dem jungen promovierten Juristen seinerzeit dringend angeraten, die wissenschaftliche Ausbildung weiter fortzusetzen, was Ehmke bis zum Beginn der zweiten Hälfte der 1960er Jahre schließlich auch tat. Doch dann hielt es Ehmke nicht mehr am Katheder. Er suchte, fand und zelebrierte die politische Bühne. Als die Sozialdemokraten im Dezember 1966 in die Regierung der Großen Koalition eintraten, holte sich der Justizminister Gustav Heinemann den Freiburger Dekan als Staatssekretär in sein Ressort: Justiz. Zwar hatte Ehmke zuvor noch die großkoalitionäre Allianz scharf abgelehnt. Aber er war eben ein „45er“, kein Ideologe also, sondern ein wendiger Pragmatiker. Pragmatisch und wendig – davon gab es natürlich noch weitere Figuren im politischen Bonn. Doch wohl niemand in diesen Jahren konnte mit dem hohen Tempo, der überbordenden Vitalität, der vibrierenden Energie Ehmkes mithalten. Mehr an reformerischem Output hat das bundesdeutsche Justizministerium nicht mehr hervorgebracht als in den drei Ehmke-Jahren. Ehmke, nach der Wahl Heinemanns zum Bundespräsidenten auch offiziell Bundesminister der Justiz, hatte sich vom ersten Tag an nicht in die klassische Rolle eines beamteten Staatssekretärs geschickt. Bis dahin war es in dieser Funktion Usus gewesen, sich äußerst diskret zu verhalten, auf die Administration zu beschränken, penibel parteipolitische Zurückhaltung zu üben, allein auf Weisung des Ministers zu handeln. Doch solche Dezenz lag Ehmke nicht. Er erteilte – auch dem Kanzler – stets öffentliche Ratschläge.
51 Vgl. Faerber-Husemann, Renate: Mal Haudegen, mal Gelehrter der Fraktion, in: Bentele, Karlheinz u.a. (Hrsg.): Metamorphosen. Annäherung an einen vielseitigen Freund. Für Horst Ehmke zum Achtzigsten, Bonn 2007, S. 1642. 52 Vgl. Günter Gaus im Gespräch mit Bundesminister Prof. Horst Ehmke, Erstausstrahlung: DFS, 26.04.1970, in: Archiv der sozialen Demokratie (AdsD) Depositum Horst Ehmke, 1HE/AA000014.
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Seiner Partei schrieb der Staatssekretär programmatische „Perspektiven“ für die Zukunft.53 Nebenbei managte er überdies für den oft überforderten Herbert Wehner die Parteizentrale. Aus Tübingen kamen infolgedessen vom Tugendwächter des politischen Institutionalismus, Professor Theodor Eschenburg, regelmäßige Rügen.54 Doch auch den Sozialdemokraten war Ehmke nicht geheuer.55 Das hatte natürlich mit dessen bürgerlicher Herkunft zu tun. Aber es war nicht das Professorale, was sie störte. Denn wie ein klassischer Professor wirkte Ehmke nicht. Er hatte eher etwas von einem ehemaligen Boxer, den es nun in die Getränkewirtschaft verschlagen hatte, wie seinerzeit der Spiegel maliziös bemerkte. Die klassischen Sozialdemokraten hatten stets angestrengt kämpfen müssen, um anerkannt zu werden, um die gesellschaftliche Integration halbwegs zu schaffen. Lockerheit und Nonchalance gehörten daher nicht zu ihren Charaktereigenschaften. Ehmke aber war alles leicht gefallen. Und so trat er auf: spielerisch, gewandt, das Leben genießend. Und seine ungewöhnlich große Intelligenz verführte ihn häufig dazu, langsamer denkenden Gesprächspartnern in die Argumentation zu fallen. Und er konnte es sich partout nicht abgewöhnen, anderen mit Ironie zu begegnen. Die sozialdemokratischen Parteitagsdelegierten ließen ihn daher 1968 durchfallen, als er für den Bundesvorstand seiner Partei kandidierte. Etlichen Traditionalisten in der SPD war dessen bisherige Blitzkarriere einfach zu schnell verlaufen. Sie misstrauten dem kessen Bürgersohn, der nichts richtig ernst nahm, sich zuweilen auch über die Heiligtümer des Sozialismus im schnoddrigen Ton lustig machte, der heute links, morgen Mitte, übermorgen vielleicht rechts sein konnte, überhaupt: Der noch nie in seinem Leben Parteibeiträge kassiert hatte. Hätte der sie versteckt, so wurde seinerzeit kolportierend gefragt, wenn die Gestapo hinter ihnen her gewesen wäre?
Draufgänger und Spezialist für alles Doch setzte ihn 1969 der neue Bundeskanzler Willy Brandt trotz allen Argwohns des notorisch eifersüchtigen Helmut Schmidts an die Spitze der Kanzleramtsadministration.56 „Horst“, pflegte Brandt in jenen Jahren zu sagen, sei „sein Spezialist für alles“57. Und dieser sprach von sich selbst als „linke und rechte Hand“ Brandts. Indes, binnen weniger Monate wurde Ehmke zum Enfant terrible der Bonner Politik. Auch im eigenen politischen Lager wimmelte es von Feinden des forschen Kanzleramtsministers. Helmut Schmidt pflegte eine heftige Abneigung gegen den ihm in Vielem durchaus wesensähnlichen Vorsteher des Palais Schaumburg. Aber auch Außenminister Walter Scheel vom freidemokratischen Koalitionspartner mochte Ehmke nicht. Der SPD-Fraktionschef Herbert Wehner war ebenfalls ein Gegner. Und in den Bundestagsfraktionen von SPD und FDP fanden sich ebenso nur wenige Freunde und Sympathisanten Ehmkes. Etliche Historiker geben dieser zeitgenössischen Ehmke-Fronde auch in der Rückschau zumeist recht. Ehmke sei, so kann 53 Vgl. Ehmke, Horst: Sozialdemokratische Perspektiven, in: ders.: Politik der praktischen Vernunft. Aufsätze und Referate, Frankfurt am Main 1969, S. 208-220. 54 Vgl. dazu Zundel, Rolf: Das umstrittene Wunderkind, in: Die Zeit, 21.03.1969. 55 Bentele, Karlheinz: Horst Ehmke und seine Partei, in: ders. u.a. (Hrsg.): Metamorphosen. Annäherung an einen vielseitigen Freund. Für Horst Ehmke zum Achtzigsten, Bonn 2007, S. 159-232. 56 Ehmke 1996, S. 98-124; Frank-Planitz, Ulrich: Premierminister Ehmke, in: Christ und Welt, 19.12.1969. 57 Allemann, Fritz René: Horst Ehmke – Spezialist für alles, in: Die Weltwoche, 14.11.1969.
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man in zahlreichen Abhandlungen nachlesen, nicht der richtige Mann am richtigen Platz gewesen.58 Aber wie hätte der richtige Mann sein, was genau hätte er machen müssen? In aller Regel bekommt man auf diese Frage von kundigen Interpreten des Politischen zu hören, dass ein guter Kanzleramtschef seine Funktion still, leise, unauffällig ausfüllen müsse. Dass er ohne Eitelkeit und Ruhmsucht zu Werke zu gehen habe. Dass er allein dem Kanzler die Inszenierung des Politischen in der Öffentlichkeit überlassen solle. An diesem Maßstab gemessen, war Ehmke seinerzeit in der Tat eine glatte Fehlbesetzung. Ehmke war alles andere als zurückhaltend, geräuschlos, öffentlichkeitsscheu. Brandts Kanzleramtsleiter liebte vielmehr die Präsentation, die Resonanz, den Applaus, die Aufmerksamkeit des großen Publikums.59 Ehmke hat gewiss keine Sekunde gegen seinen Kanzler intrigiert, hat sich nicht ernsthaft als ein Rivale zu ihm aufgebaut. Aber dass er irgendwann später, sollte Brandt einmal amtsmüde werden, einen durchaus exzellenten Kanzler der Deutschen Bundesrepublik abgeben würde, davon allerdings dürfte Ehmke felsenfest überzeugt gewesen sein. Und einen Hehl machte er aus diesem strotzenden Selbstbewusstsein nicht. So war Ehmke nun einmal. Er war ein Kraftpaket, ein Draufgänger, unaufhörlich nach vorne stürmend, dabei eine schillernd vieldeutige, man kann auch freundlicher sagen: multitalentierte Gestalt. Er war zwar ein Ordinarius, aber er war nicht professoral. Dafür wirkte er zu vitalistisch, zu hemdsärmelig, zu kraftstrotzend mit seinem amerikanischen Bürstenhaarschnitt. Er genoss – anders als viele zaudernde Professoren und Intellektuelle, die es in die Politik verschlagen hatte – die Möglichkeiten der realen Macht. Doch fehlten ihm die mitunter nötigen opportunistischen Rücksichtnahmen, die Anpassungsgeschmeidigkeit zahlreicher Politiker. Ehmke war in vielerlei Hinsicht zu intelligent für die Politik, zu schnell, zu scharfsinnig – und letztlich dadurch zu scharfzüngig. Er konnte einfach eine gelungene süffisante Pointe auf Kosten anderer nicht unterdrücken.60 Man hat es oft geschrieben: Es fehlte Ehmke mitunter an Takt. So gesehen war es tatsächlich heikel, ihn auf den Stuhl des Kanzleramtschefs zu platzieren. Denn es war ja richtig, dass der Leiter der Regierungszentrale Konflikte zwischen den Ressorts dämpfen musste, dass er zu moderieren, zu koordinieren, auszugleichen und zusammenzufügen hatte. Und dennoch schossen die polemischen Urteile über Ehmkes Hoppla-jetzt-komm-ichStil weit über das Ziel hinaus, ja: Sie wurden ihm nie gerecht. Es reicht nicht, wenn man sich nur auf seine unzweifelhafte Egozentrik fixiert. Egon Bahr lag schließlich nicht daneben, als er sich in seinen Memoiren bewundernd erinnerte, dass er vor und nach Ehmke niemanden kennen gelernt habe, der mehr Papier bearbeitet, mehr vom Tisch geschafft hätte.61 Gewiss, Ehmke hatte sich in der Regierungszentrale viel vorgenommen. Dabei scheiterte sein seinerzeit berüchtigter „Planungsverbund“, mit dem er die Reformvorhaben der Ministerien und des Kanzleramts synchronisieren wollte. Aber sonst hatte Ehmke das Amt gut und fest im Griff.62 Ehmke war kein weltabgewandter Professor, aber auch nicht lediglich ein schnodderiger Vielredner. Er war ein durchaus harter Arbeiter, der sich, wenn 58 Baring, Arnulf: Machtwechsel. Die Ära Brandt–Scheel, Stuttgart 1982, S. 524; Schöllgen, Gregor: Willy Brandt. Die Biographie, Berlin 2001, S. 180; Bracher, Karl Dietrich/Jäger, Wolfgang/Link, Werner: Republik im Wandel 1969-1974. Die Ära Brandt, Stuttgart u.a. 1986, S. 32. 59 Vgl. Reiser, Hans: Leerer Schreibtisch, voller Terminkalender, in: Süddeutsche Zeitung, 16.12.1969. 60 Vgl. o.V.: Anderes Türschild, in: Der Spiegel, 24.03.1969; Frank-Planitz, Ulrich: Premierminister Ehmke, in: Christ und Welt, 19.12.1969. 61 Vgl. Bahr, Egon: Zu meiner Zeit, München 1996, S. 275. 62 Vgl. hierzu auch Merseburger, Peter: Willy Brandt. 1913-1992. Visionär und Realist, Stuttgart 2002, S. 590.
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nötig, zwanzig Stunden am Tag durch Akten fressen konnte. Er administrierte akkurat und kompetent, entlastete damit seinen Kanzler von viel Alltagsroutine.63. Dass viele altgediente Ministerialbürokraten Ehmke nicht leiden konnten, zeigte nur, wie sehr er ihnen Leistungen und ungewohntes Tempo abforderte. Schließlich war das Amt in den 1960er Jahren, seit dem Abgang von Adenauer, ziemlich heruntergekommen. Ehmke führte wieder die nützliche Personalrotation zwischen Kanzleramt und Ministerien ein, die seit 1963 geruht hatte. 64 Und er modernisierte das verstaubte Amt, sorgte für moderne Kommunikationstechniken. Aber auch das überschäumende Temperament Ehmkes war nicht nur von Nachteil. Der Kanzler jedenfalls, um den es schließlich ging, zog daraus mehr Nutzen als Schaden. Horst Ehmke selbst sprach später in seinen Memoiren von einer „kompensatorischen Arbeitsteilung“65, die er mit Willy Brandt gepflegt habe. In der Tat: Kanzleramtschefs und Kanzlerberater müssen in vielfacher Hinsicht komplementär zu ihren Kanzlern stehen; sie sollten über Fähigkeiten verfügen, die ihren Chefs fehlen; sie sollten die Kanzler ergänzen, nicht spiegeln, sollten also ihre Defizite ausgleichen, nicht ihre Stärken unterstreichen. Willy Brandt besaß ein eher grüblerisches Wesen, wich Konflikten gern aus. Ehmke hingegen liebte die Rauferei, das Kampfgetümmel, den Schlagabtausch. Ehmke war infolgedessen gleichsam Bodyguard und Blitzableiter für Brandt.
Hybris politischer Planung Und er war sein erster Planer. Doch eben in dieser Rolle scheiterte er und ein Stück weit auch seine Generation. Für machbar hielt man fast alles in den ersten Monaten der sozialliberalen Koalition. Für machbar und planbar. Mit dem Instrument rationaler, exakter, streng wissenschaftlicher Planung sollte die Politik auf ein ganz neues, natürlich höheres Niveau geschraubt werden.66 Gab es unter Adenauer auch gar keine institutionalisierte Planung, so hatte Ehrhard immerhin einen Planungsreferenten im Palais Schaumburg beschäftigt. Unter Kurt Georg Kiesinger gab es dann bereits einen Planungsstab.67 Doch nun, unter Ehmke, multiplizierten sich die regierungsamtlichen Planer und wurden zu einer ganzen Abteilung zusammengefasst. Die große Idee, die den Planungsaktivitäten zugrunde lag, war das ambitionierte Anliegen aller Utopienschmiede und Gesellschaftsarchitekten einer besseren Zukunft. Die Politik sollte in weiser Voraussicht Probleme lösen, bevor sie überhaupt erst entstehen 63
Vgl. Allemann, Fritz René: Gewichtiger Adlatus des Bundeskanzlers, in: Die Tat (Zürich), 23.10.1969. Vgl. Brausewetter, Hartmut K.: Kanzlerprinzip, Ressortprinzip und Kabinettsprinzip in der ersten Regierung Brandt 1969-1972, Bonn 1976, S. 21. 65 Ehmke 1996, S. 201. 66 Vgl. auch Kaiser, Joseph H.: Vorwort, in: ders. (Hrsg.): Planung. 1, Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gesellschaft, Baden-Baden 1965, S. 7 ff. 67 Zum Planungsdiskurs jener Jahre vgl. Metzler, Gabriele: „Geborgenheit im gesicherten Fortschritt“. Das Jahrzehnt von Planbarkeit und Machbarkeit, in: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hrsg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik, Paderborn 2003, S. 777797; dies.: Demokratisierung durch Experten? Aspekte politischer Planung in der Bundesrepublik, in: Haupt, Heinz Gerhard/Requate, Jörg (Hrsg.): Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, SSR und Bundesrepublik Deutschland im Vergleich, Weilerswist 2004, S. 264-288; Ruck, Michael: Westdeutsche Planungsdiskurse und Planungspraxis der 1960er Jahre im internationalen Kontext, in: ebd., S. 289-325. 64
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konnten. Politik sollte sich nicht mit Reparaturtätigkeiten begnügen, sondern zum großen Gestalter ökonomischen Fortschritts, gesellschaftlicher Wohlfahrt und sozialer Chancendynamik aufschwingen. Politik sollte bewusst und aktiv antizipieren, nicht erst nach langer Passivität und nur auf Druck verspätet reagieren. Das war Überzeugung und Credo von Ehmke und wohl der meisten Sozialdemokraten in der Ära Brandt. Und daher machte sich Ehmke schon im Oktober 1969 mit Verve an sein planerisches Werk.68 Die Planungsabteilung stand nach wenigen Tagen; für deren Leitung hatte sich Ehmke einen früheren Freiburger Studienfreund, Reimut Jochimsen, nun Professor für Ökonomie an der Universität Kiel, geholt.69 Auf Ehmkes Drängen beschloss das Kabinett zudem, dass jedes Ministerium einen Planungsbeauftragten im Range eines Abteilungsleiters einsetzte. Über diese Beauftragten mussten die jeweiligen politischen Absichten der Einzelressorts der Planungsabteilung des Bundeskanzleramtes gemeldet werden, welche diese Informationen in ein sogenanntes „Vorhabenerfassungssystem“ eingaben. So wollte die EhmkeCrew aus der bisherigen fragmentierten Stückwerkpolitik ein in sich konsistentes Gesamtreformprojekt komponieren. Alles sollte miteinander abgestimmt, präzise koordiniert, stringent verbunden werden.70 Der Computer sollte es richten. Repräsentativ für diesen politischen Geist der Zeit war gewiss das Titelbild des Spiegel vom 1. Februar 1971, das Horst Ehmke vor dem Kanzleramt zeigte – mit Computerstreifen, die dessen Kopf aussonderte. In der Tat: Politik war für Ehmke und mehr noch für Jochimsen nicht mehr Kunst, Intuition, Gespür für Möglichkeiten, Instinkt für Gefahren, Charisma und Rhetorik, sondern wissenschaftsgestützte Problemanalyse, EDV-basierte Auswertung, systematische Schlussfolgerung, kohärente Planung, kühles Management rational entwickelter Operation.71 Doch Politik ist nicht Wissenschaft, reduziert sich nicht auf Computer plus Management. Und gesellschaftliche Probleme lassen sich ebenfalls nicht nach Art mathematischer Gleichungen lösen. Die frühen 1970er Jahre boten dafür ein Lehrstück.72 Im Grunde waren die Planer mit ihren kühnen Entwürfen schon im Juli 1970 am Ende, zumindest auf eine Mauer des Widerstands gestoßen, die zu überwinden sie nicht in der Lage waren. Sie hatten im frühen Sommer dieses ersten Jahres der sozial-liberalen Koalition für eine Kabinettsklausur nach Auswertung des Vorhabenerfassungssystems eine Prioritätenliste für die weiteren Reformschritte zusammengestellt.73 Die Bundesminister schrien empört auf, wollten sich nicht von den Kanzleramtsleuten ins Geschäft „hineinpfuschen“ lassen, so der Chef des Finanzressorts Alex Möller. Helmut Schmidt, der in Ehmke damals einen ernsthaften Konkurrenten um die mögliche Brandt-Nachfolge witterte, machte sich sowieso lauthals und bei jeder Gelegenheit über die „Kinderdampfmaschine“ Ehmkes lustig, obwohl der Verteidigungsminister auf der Hardthöhe den bestausgestatteten Planungsstab unterhielt, selber auch ein ausgesprochen quantifizierender Planer war.
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Vgl. hierzu o.V.: Der Macher, in: Der Spiegel, 01.02.1971. Vgl. Süß, Winfried: „Wer aber denkt für das Ganze?“ Aufstieg und Fall der ressortübergreifenden Planung im Bundeskanzleramt, in: Frese/Paulus/Teppe (Hrsg.) 2003, S. 349-377. 70 Vgl. Ehmke, Horst: Planen ist keine Sünde. Erfahrungen aus der Bonner Regierungspraxis (I) in: Die Zeit, 10.12.1971; ders.: Computer helfen der Politik. Zwei Jahre Planung in Bonn. Ein Erfahrungsbericht (II), in: Die Zeit, 17.12.1971. 71 Vgl. Blank, Ulrich: Politik = Elektronik + Management, in: Die Weltwoche, 14.12.1970. 72 Vgl. Zundel, Rolf: Auf Normalmaß gestutzt, in: Die Zeit, 26.03.1971. 73 Scharpf, Fritz W.: Fördernder und Fordernder, in: Bentele u.a. (Hrsg.) 2007, S. 138-148. 69
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Kurzum: Es waren klassische Machtauseinandersetzungen, die traditionellen Rivalitäten der Ressorts, die das moderne Planungsgebaren vereitelten.74 „Am Ende waren alle gegen Ehmke“75, stellte Arnulf Baring in seinem Buch „Machtwechsel“ trocken fest. Allein Willy Brandt hielt ihn bis zu den folgenden Wahlen im Amt, da er ihn brauchte. Aber die Passion des Kanzlers gehörte der Außen- und Ostpolitik, nicht der innenpolitischen Planung. Das Anliegen der Planer trieb Brandt nicht um, wie Horst Ehmke in seinen Erinnerungen etwas säuerlich festhielt. Als Ehmke auf Druck von Schmidt dann nach den Bundestagswahlen 1972 die Regierungszentrale räumen musste, verloren die Planer erst recht ihren Patron und alle Unterstützung.76
Seiteneinstieg in den Kriminalroman Und nicht zufällig begann nun der stetige Abstieg Brandts. In seinen „Erinnerungen“ bedauerte Brandt, dass er Ehmke unter Druck hatte gehen lassen: „Ich hätte mich, nach diesem Wahlsieg, an die einmal gegebene Zusage besser nicht gehalten und Ehmke dort belassen, wo er hingehörte – in der Zentrale.“77 Stattdessen übernahm Ehmke das Ministerium für Forschung, Technologie und Post, schied aber dort nach der Demission von Brandt ebenfalls aus. Ab 1977 war er noch für knapp fünfzehn Jahre ein wichtiger Mann in der SPD-Fraktion, Experte für Außenpolitik, aber auch weiterhin brillant extemporierender Redner zu allen Fragen der Politik. Nach den Bundestagswahlen 1990 überwarf er sich als dezidierter Lafontainist mit dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden Hans-Jochen Vogel, was ihn fortan die wichtigsten Ämter in der Partei und im Bundestag kostete. Ab 1994 gehörte er dem Parlament nicht mehr an. Seither schrieb er, bevorzugt in seinem Ferienhaus in der Eifel, Kriminalromane – auch hier neuerlich ein Seiteneinsteiger.
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Vgl. auch im Rückblick Zundel, Rolf: Statt großer Rosinen wieder kleine Brötchen, in: Die Zeit, 30.04.1976. Baring 1982, S. 523. 76 Vgl. ebd., S. 520-525. 77 Brandt Willy: Erinnerungen, Frankfurt am Main 1989, S. 305. 75
Egon Bahr – zur besonderen Verwendung Benjamin Seifert
Den Bogen hatte Franz Josef Strauß gut gespannt. Der Pfeil steckte Egon Bahr im Rücken. Glück für ihn, dass Willy Brandt seinen Mitarbeiter gerade noch aus der Schusslinie ziehen konnte. So drastisch stellte es ein Karikaturist im Jahr 1968 dar, doch ist die Konstellation der dargestellten Akteure bezeichnend. Auf wen der CSU-Vorsitzende denn jetzt eigentlich gezielt hatte, auf den Außenminister oder auf dessen Nuntius, der nur im Weg stand, wird daraus nicht ersichtlich. Allerdings sollte es auch nicht das erste und das letzte Mal sein, dass sich Egon Bahr für „seinen“ Vorgesetzten dem feindlichen Pfeilhagel aussetzte, genauso wenig, wie es für diesen das letzte Mal sein sollte, seinen wichtigsten Mitarbeiter davor zu retten. So sind Bahrs Einstieg in die und Aufstieg in der Politik aufs Stärkste mit der Person Brandts verknüpft. Ohne ihn wäre Bahr vermutlich Journalist, wenn auch mit politischem Anspruch und rotem Parteibuch, geblieben. In den Besitz dieses Parteibuchs zu kommen sollte sich für ihn schwierig gestalten, mutet aus heutiger Sicht beinahe absurd an. Dreimal versuchte Egon Bahr Mitglied der sozialdemokratischen Partei zu werden. Zweimal wurde es ihm von führender Stelle untersagt. Das erste Mal war es Kurt Schumacher, der dem aufstrebenden Journalisten bescheinigte, dass er der Partei von außerhalb mehr nutzen könnte. Beim zweiten Anlauf war es Willy Brandt, 1955 Abgeordneter für Berlin, der ebenfalls glaubte, dass der Journalist und nicht der Genosse Bahr sich für die Partei nützlicher erweisen würde. Schließlich gestattete Brandt es mit den Worten: „Wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen.“1 Der Eintritt in die Partei, die für Bahr im Laufe vieler Jahre eine politische Heimat werden sollte, war für ihn zunächst mit Aktivitäten nicht verbunden. Die eigentliche politische Karriere begann fünf Jahre später, mit der „Berufung“ zum Pressechef des Regierenden Bürgermeisters in Berlin, Willy Brandt. Bahr war zu dem Zeitpunkt kein Neuling in diesem Metier. Als langjähriger RIAS-Kommentator verfügte er über einschlägige Kenntnisse in der bundespolitischen Landschaft. Durch eine wöchentliche Sendung, in der er sich mit aktuellen politischen Geschehnissen beschäftigte, war er darüber hinaus bundesweit bekannt. Schnell stellte sich allerdings heraus, dass das eigentliche Aufgabenfeld eines Pressechefs für ihn zu eng war. Eine Erfahrung, die er mit seinem direkten Vorgesetzten teilte, der das Amt des Berliner „Regierenden“ meist weiter auslegte als es Vielen – sowohl auf Seiten der Alliierten als auch im politischen Bonn – lieb war. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass das dynamische Duo Bahr/Brandt schnell durch unorthodoxe Vorstöße in der Deutschland- und Außenpolitik von sich reden machte. Aus der anfänglichen Zusammenarbeit dieser beiden unterschiedlichen Persönlichkeiten sollte sich in den folgenden Jahren eine enge Freundschaft entwickeln. Brandt erkannte Bahrs scharfen Verstand und hielt ihn rückblickend für den konzeptionell fähigsten seiner Mitarbeiter. So ist die deutschlandpolitische Konzeption, die sich Brandt spätestens seit der berühmt gewordenen „Tutzing-Rede“ zu Eigen gemacht hatte, ohne seinen Chefdenker 1
Bahr, Egon: Zu meiner Zeit, München 1996, S. 86.
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Bahr nicht vorstellbar. Sie wurde zu einem entscheidenden Faktor, der sein politisches Profil prägte und seine Popularität begründete. Wegen dieser engen Verzahnung zwischen Brandt und seinem engsten Mitarbeiter – Bahr folgte ihm zunächst in das Außenministerium, später in das Kanzleramt und bekleidete schließlich den Posten eines Bundesministers für besondere Aufgaben – ist es umso erstaunlicher, dass die politische Karriere Bahrs nicht mit der seines Mentors endete. Zwar schied er 1974 mit Brandt aus dem Regierungsgeschäft aus, wurde aber nur ein Jahr später vom neuen Kanzler Helmut Schmidt ins Kabinett und damit zurück in die inneren Entscheidungsgremien geholt. Allerdings war dieses Ministeramt nicht mehr als ein Intermezzo in seiner politischen Karriere. Bereits 1976 übernahm er, ebenfalls auf Drängen Helmut Schmidts den vakant gewordenen Posten des Bundesgeschäftsführers der SPD, den er schließlich bis 1981 ausübte. Der Seiteneinstieg Egon Bahrs in die Politik erfolgte beinahe unbemerkt. Sukzessive stieg er an den Parteigremien vorbei im Schatten seines Förderers Willy Brandt auf. Durch seine Tätigkeit in dessen engstem Umfeld, zuerst als Pressechef in Berlin, später als außenpolitischer Berater, wurde er zum wichtigsten Ideengeber und Konstrukteur der Neuen Ostpolitik. Was aber brachte Egon Bahr dazu, nach Abschluss seiner Mission, die mit der erfolgreichen Unterzeichnung der „Ost-Verträge“ ein Ende fand, weiterhin in der Politik zu bleiben, zumal sein Mentor 1974 vom Amt des Bundeskanzlers zurücktrat? Was machte aus dem politischen „Seiteneinsteiger“ Egon Bahr einen professionellen Politiker? Was waren seine besonderen Qualitäten, welche Talente und Prägungen besaß er?
Sozialisation Mit seinem Geburtsjahr 1922 gehört Egon Bahr gerade noch zu der Generation, die mit am stärksten durch die Zeit des Nationalsozialismus geprägt wurde. Bei fast allen Angehörigen dieser Altersgruppe wurden die ersten Erfahrungen durch die nationalsozialistische Herrschaft bestimmt, der Zweite Weltkrieg und der Einzug in die Wehrmacht waren formative Erlebnissen. Die Erfahrungen Egon Bahrs unterschieden sich hier nicht. Durch die jüdische Abstammung seiner Großmutter kommen bei ihm allerdings zusätzlich Repressionen und Demütigungen hinzu, die der Jugendliche am eigenen Leib erleben musste und die sich tief in sein Erinnern eingegraben haben. Geboren im thüringischen Treffurt, siedelte die Familie bald in das benachbarte Torgau über. In seinen Memoiren schildert Bahr die preußische Provinzialität und den strengen Protestantismus – Torgau war die Stadt mit der ersten, von Martin Luther geweihten, protestantischen Kirche. Egon Bahr wuchs in einer kleinbürgerlichen, protestantischen Familie auf, sein Vater arbeitete als Lehrer. Schon früh bemerkte er die leidenschaftliche Verachtung, die im Elternhaus den Nationalsozialisten entgegengebracht und durch die er auf Distanz zu nationalsozialistischen Strukturen gehalten wurde. So war Bahr zu keinem Zeitpunkt, im Gegensatz zu fast allen seiner Altersgenossen, Mitglied der Hitlerjugend.2 Die kurze Zeit als Soldat wurde, obwohl er selbst nie an der Front gekämpft hatte, zu einer der wichtigsten Erfahrungen seines Lebens. Dies wurde umso deutlicher, da er 1944 aufgrund seiner „nicht-arischen“ Abstammung aus der Armee entlassen wurde – ein Umstand, den er 2
Vgl. Schröder, Karsten: Egon Bahr, Rastatt 1988, S. 18.
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als ausgesprochen verletzend empfand. Das gleiche Argument hatte es ihm bereits Jahre zuvor verwehrt, ein Musikstudium aufzunehmen. Nach seinem erzwungenen Ausscheiden aus dem Kriegsdienst folgte eine Zwangsversetzung zu einem Berliner Eisenbahnunternehmen, dem Betrieb, bei dem er bereits vor seiner Rekrutierung eine Lehre als Einzelhandelskaufmann begonnen hatte. Das Kriegsende erlebte er zusammen mit seiner Mutter in Berlin, der Vater war im Rahmen von Himmlers „Aktion Mitte“ verhaftet und in einem Zwangsarbeitslager inhaftiert worden.3 Die schiere Not trieb den gerade einmal 23 Jahre alten Bahr in das journalistische Geschäft. Er verfügte, auch das ein Merkmal vieler Lebensläufe seiner Generation, bis dato über keinen Berufsabschluss und auch ein angestrebtes Studium war unter den vorherrschenden Bedingungen undenkbar. Ein erstes Auskommen fand er bei der von der Sowjetischen Militär Administration herausgegebenen Berliner Zeitung. Doch mehr als ein Intermezzo sollte diese Tätigkeit nicht werden. Als die Zeitung schließlich mehr und mehr in die Hand von aus dem russischen Exil zurückkehrenden Deutschen geriet, die dem Informationsblatt eine linientreue kommunistische Ausrichtung verpassten, zog Bahr seine Tätigkeit zurück. Es folgten mehrere Anstellungen bei von amerikanischer Seite unterstützten Zeitungen, die als Gegenpol zu den Moskau-lastigen Publikationen herausgebracht wurden. Mit der sich erst langsam entwickelnden parlamentarischen Kultur in der provinziell anmutenden Bundeshauptstadt Bonn arrangierte sich der junge Zeitungsredakteur schnell. Schon bald gehörte er zu den Begründern eines Kreises von Journalisten, die Politiker in privatem Rahmen einluden, um auf diese Weise in offenen Gesprächen an Hintergrundinformationen zu gelangen. Als Bahr schließlich 1950 als Hauptstadt-Korrespondent in die Bonner Abteilung des RIAS wechselte, war er auf der politischen Bühne also schon kein Unbekannter mehr. Ein Umstand, der seinen Zugang zu Akteuren und Informationen erheblich erleichtern und im Nachhinein auch die Grundlage für seine eigene politische Karriere legen sollte.4 Im Alter von 34 Jahren trat Egon Bahr im Jahr 1956 in die SPD ein. Er tat dies in der „festen Überzeugung einer kommenden Wahlniederlage“5. Wie zu Beginn erwähnt, hatte er bereits früher versucht SPD-Mitglied, zu werden, war dabei allerdings zweimal „gescheitert“. Bahr trat schließlich dennoch in die SPD ein und tat dies mit einem klaren Konzept und Aufgabenverständnis. Seine Interessenschwerpunkte, dies hatte sich schon in den letzten Jahren seiner journalistischen Arbeit herauskristallisiert, lagen in der Außenpolitik. Seine Zielsetzung lautete dabei, sich in der Partei zu engagieren, nicht um die Gesellschaft zu ändern, sondern um die Außenpolitik der Partei zu ändern. Für die Arbeit in den Ortsvereinen – Bahr war, obwohl er in Bonn lebte, in Berlin-Zehlendorf Mitglied geworden – freilich zeigte er keine Begeisterung. Zu verquast schienen ihm die Strukturen und zu stark waren die habituellen Dissenzen. Die Anrede „Genosse“ tat ihr Übriges, sodass sich der inzwischen bundesweit bekannte RIAS-Kommentator an der Parteibasis nicht wohl fühlte. Erst recht zeigte er keine Ambitionen, etwaige Parteiämter zu übernehmen.6 Die Entscheidung Bahrs für ein Engagement in der Sozialdemokratie hatte vielfältige Gründe. Der Gewichtigste war wohl eine tiefe Enttäuschung über die Deutschlandpolitik der Adenauer-Regierung. Bahr erkannt dabei früh, dass der alte Kanzler kein wirkliches 3
Vgl. ebd., S. 26 ff. Vgl. ebd., S. 36. Vogtmeier, Andreas: Egon Bahr und die deutsche Frage. Zur Entwicklung der sozialdemokratischen Ost- und Deutschlandpolitik vom Kriegsende bis zur Vereinigung, Bonn 1996, S. 44. 6 Vgl. Schröder 1988, S. 78 ff. 4 5
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Interesse an der deutschen Wiedervereinigung hatte und seine Prioritäten eher in der Westbindung suchte. Diese Erkenntnis muss für Bahr umso schwerer gewogen haben, als er die Grundsätze der unionsgeführten Außenpolitik Anfang der 1950er Jahre durchaus unterstützt hatte. Eines seiner politischen Vorbilder war damals der Christdemokrat und CDUParteivorsitzende in der sowjetisch besetzen Zone, Jakob Kaiser. Kaisers Idee von der Brückenkopffunktion der Bundesrepublik, also die Vorstellung, dass Deutschland im eigenen Interesse als Vermittler zwischen den sich gegenüberstehenden Machtblöcken agieren könne und müsse, sollte zur Grundlage für Bahrs eigene außenpolitische Konzeption werden. Mit der Ablehnung dieses Ansatzes durch Kanzler Konrad Adenauer und der damit verbundenen Degradierung Kaisers entfremdete sich Bahr von der Union.7 In einem Interview mit dem RIAS sollte er seine Haltung, die ihn immer weiter von den Christdemokraten wegführte, damit begründen, dass er bereits 1949 erkannt habe, dass die Sozialdemokraten unter Kurt Schumacher diejenigen seien, die sich wirklich um Deutschland kümmern würden. Im Gegensatz zu Adenauer stünde für die Sozialdemokraten die Wiedervereinigung an erster Stelle und nicht die Sicherung des verbliebenen Rests durch Bindung an den Westen.8 Mehr noch als Schumacher freilich sollte für Bahr in den kommenden Jahren Willy Brandt – seit 1949 Mitglied des Bundestages und schließlich, als Nachfolger von Otto Suhr ab 1957 auch Regierender Bürgermeister von Berlin – zur entscheidenden Leitfigur werden. In ihm sah Bahr einen Vertreter der neuen Sozialdemokratie, der gerade auf seinem Interessenfeld der Deutschland- und Außenpolitik bereit war, neue Wege zu gehen. Bereits die Wahl Willy Brandts zum Regierenden Bürgermeister der Vier-Sektoren-Stadt wertete Bahr als Signal für einen politischen Aufbruch in der SPD.9 Die Annäherung Bahrs an die Sozialdemokratie paarte sich schließlich mit einer wachsenden Unzufriedenheit in seinem journalistischen Berufsfeld. Nach achtjähriger Tätigkeit beim RIAS, dem er zwischenzeitlich als Chefredakteur vorstand, suchte er andere Aufgaben: „Ich kam im Laufe dieser Jahre an einen Punkt, den jeder Journalist irgendwann erreicht, an dem man sich die Frage stellt, ob man nicht endlich aufhören müsste, nur zu reden über etwas, und nicht versuchen müsste, etwas zu tun, selbst versuchen müsste, etwas zu tun. Ich war also innerlich darauf eingestellt, den Beruf zu verlassen, wenn sich etwas anderes geboten hätte.“10
Der Einstieg in die Politik: im Schatten des Mentors Regierender Pressechef Als im Frühjahr 1960 dann der Posten des Vorsitzenden des Presse- und Informationsamtes in Berlin durch die Pensionierung des Amtsinhabers Hans Hirschfeld vakant wurde, fiel die Wahl Willy Brandts auf Egon Bahr. Dieser war ihm, wie einem Großteil der deutschen Radiohörer, durch seine regelmäßigen Kommentare im RIAS bekannt. Die Anfrage Brandts erfolgte dabei unförmlich in einer Wandelhalle des Bundestages in Bonn. Bahr, der kurz 7
Vgl. Vogtmeier 1996, S. 28 f. Vgl. Egon Bahr in einem Interview mit dem RIAS, 19.11.1977; zitiert nach ebd., S. 29. 9 Vgl. Schröder 1988, S. 94. 10 Bahr, Egon: Was wird aus den Deutschen? Fragen und Antworten, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 41. 8
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zuvor aus Ghana zurückgekehrt war – in dem afrikanischen Land hatte er als kurzzeitiger Presseattaché in der Deutschen Botschaft den Ausstieg aus dem journalistischen Tagesgeschäft zuvor bereits geprobt –, sagte sofort zu. Grund dafür dürfte die bereits beschriebene Unzufriedenheit in seinem journalistischen Umfeld gewesen sein, gepaart mit dem Wunsch, „selbst etwas zu tun“. Der Wechsel im Presseamt verlief dabei allerdings nicht ohne Kritik. Hans Hirschfeld hatte seinen Posten mit einem Antrag auf Versetzung in den Vorruhestand verlassen, nachdem Brandt das Presse- und Informationsamt dem Chef der Staatskanzlei, Heinrich Albertz, unterstellt hatte. Hirschfeld, der lange Jahre ein enger Vertrauter von Ernst Reuter gewesen war, sah darin eine Beschneidung seiner Kompetenzen. Darüber hinaus fühlten sich einige Sozialdemokraten, die sich selbst Hoffnungen auf die Nachfolge gemacht hatten, durch die Ernennung Egon Bahrs, der noch nicht einmal seit vier Jahren Besitzer des Parteibuches war, übergangen. Dennoch stieß der Vorschlag Willy Brandts bald auf eine breite Zustimmung innerhalb der Berliner Partei. Dabei dürften dem neuen Pressechef sein hoher Bekanntheitsgrad durch regelmäßige Radiosendungen und sein Ruf als taktischer Denker und Analytiker geholfen haben. Dass sich Brandt mit Bahr bewusst einen gleichgesinnten Wegstreiter für die Unabhängigkeit Berlins und die eigenen deutschlandpolitischen Konzeptionen an die Seite holte, ist allerdings unwahrscheinlich. Für Brandt zählte in diesem Augenblick eher der Wunsch nach einem erfahrenen Journalisten, der Meldungen geschickt lancieren und mit den Vertretern der Medien auf Augenhöhe agieren konnte. Diesen Anforderungen wurde Bahr aufgrund seiner Erfahrungen gerecht. Mehr als freundlichen Respekt dürften die beiden vor Bahrs Amtsübernahme nicht füreinander empfunden haben.11 Doch entwickelte sich der kreative Austausch zwischen den beiden alsbald während der gemeinsamen Arbeit. Bahr entpuppte sich als loyaler Mitarbeiter und stieg daher schnell in den inneren Zirkel um Willy Brandt auf. Doch gerade dieser informelle Zugang – Bahr besaß bald zu jeder Zeit uneingeschränkten Zutritt zum Regierenden Bürgermeister – machte ihn schnell nicht nur den eigenen Genossen suspekt, die in ihm immer noch eine Art Fremdkörper im Regierungsumfeld sahen. Die Verdächtigungen wurden dadurch noch genährt, dass Bahr eine ungemeine Freude darin verspürte, als „eminence gris“ im Hintergrund zu agieren, Meldungen zurückzuhalten und sich der Geheimnistuerei hinzugeben. Der geflügelte Satz, dass Bahr „bestimmte Meldungen sogar vor sich selbst geheim halte“, spricht dabei Bände. Aus diesem Grund wurde Bahr intern häufig kritisiert. Seine Nähe zu Brandt brachte ihm den Spitznamen des „Getreuen Ekkehart“ ein, sein Umgang mit den Medien machte ihn zu „Tricky Egon“. Ersterer ist bezeichnend, da Bahr in den nächsten Jahren zum wichtigsten Mitarbeiter und Souffleur Willy Brandts avancierte, und das nicht nur in Bereichen, die die Deutsche Frage angingen. Letzterer bringt die häufig von Seiten der Journalisten kritisierte Überheblichkeit Bahrs im Umgang mit den Medien zum Ausdruck. So machte er sich durch seinen oftmals harschen Umgang mit den Vertretern der Presse auf Konferenzen wie auch in der täglichen Arbeit schnell unbeliebt. Bahrs Verhältnis zu Brandt ging bald weit über ein normales Arbeitsverhältnis hinaus. Bahr entwickelte einen tiefen „Treuekomplex“12 gegenüber Brandt, arbeitete diesem in allen Bereichen zu und wurde zum übersetzbaren Ideengeber und Inspirator. Dennoch ord11 12
Vgl. Schröder 1988, S. 100 f. Ebd., S. 105.
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nete sich Bahr seinem unmittelbaren Vorgesetzten unter. Entscheidungen, die dieser gegen seinen Rat traf, akzeptierte er von Beginn an. Diese „preußisch-friderizianische Auffassung des Dienens“13 und die bedingungslose Loyalität, die Bahrs politische Tätigkeit immer begleitete, waren gleichzeitig seine wichtigste Eigenschaft. Sie war es, die ihn selbst im Hintergrund hielt und öffentliche Auftritte scheuen ließ. Es genügte ihm, der Person an der Spitze zuzuarbeiten. Öffentlicher Profilierungsdrang lag ihm fern – ein Charakterzug, der ihn für Brandt zum idealen Mitarbeiter machte. Die einzigen beachteten öffentlichen Auftritte während seiner Tätigkeit im engeren Kreis um Willy Brandt, sei es als Pressesprecher oder Bundesminister, erfolgten lediglich, um die gemeinsamen Konzeptionen in der Außenpolitik und ihren eigentlichen öffentlichen Vertreter, Brandt, zu verteidigen.14 Der entscheidende Wendepunkt, der den Arbeitsschwerpunkt beider Männer nachhaltig verschieben sollte, kam bereits ein Jahr nach Bahrs Amtsantritt als Pressechef. Mit dem Bau der Mauer wurde die deutsche Teilung in Beton gegossen und die Deutsche Frage drängender denn je. In diesem Moment schlug die Stunde Egon Bahrs, der sich ja bereits zuvor für eine Abkehr von der Politik der Stärke, die spätestens jetzt auch in den Augen eines breiten Publikums gescheitert war, stark gemacht hatte. Als Verantwortlicher in Berlin, an der Seite des Regierenden Bürgermeisters, erlebte er die Geschehnisse hautnah und konnte helfen, sie als Senatspressechef zu kanalisieren. Gleichzeitig erlebte er aber auch das Nicht-Interesse des politischen Bonns, das zu diesem Zeitpunkt ganz in die Vorbereitungen auf die kommende Bundestagswahl versunken war. Bahr, der bis dato durchaus noch an die Möglichkeit einer historischen Konferenz geglaubt hatte, durch die sich die deutsche Teilung überwinden ließe, hatte sich nun einzugestehen, dass sich die deutsche Außenpolitik grundlegend ändern musste. Eine Meinung, die er mit seinem Mentor Brandt teilte.15
Von Tutzing nach Moskau Als Senatspressechef gehörte es zum primären Aufgabenfeld, Reden und Diskussionsbeiträge des Regierenden Bürgermeisters auszuarbeiten. So ist es nicht verwunderlich, dass sich die enge Arbeitsbeziehung zwischen Willy Brandt und Egon Bahr zu einer erweiterten Beratertätigkeit entwickelte. Seit Anfang der 1960er Jahre entstand im engeren Beraterkreis des Regierenden um Bahr herum eine deutschlandpolitische Konzeption, die sich von der regierungsoffiziell praktizierten drastisch unterschied. Mehr als das, stand sie sogar den postulierten Vorstellungen der eigenen Partei teils konträr gegenüber. Diese hatte sich erst mit einer Bundestagsrede Herbert Wehners im Jahr 1960 zu den Konzepten der Adenauerschen Außenpolitik. Die Konzepte, die nun in Berlin erdacht wurden, bargen also durchaus konfliktreichen Zündstoff. Spätestens, seit die Kanzlerkandidatur Brandts für die Bundestagswahl 1961 feststand, veränderte sich im Berliner Beraterkreis der Anspruch, Politik nur zu machen, um den Status Berlins zu verbessern. Vielmehr verfolgten die ab 1961 erdachten Konzepte einen weit globaleren Rahmen, was auch vor dem Hintergrund des Mauerbaus und der Teilung der Stadt zu sehen ist. Das Potenzial und die politische Sprengkraft der angedachten Konzepte blieben 13
Appel, Reinhard: Für Deutschland. Visionen ohne Illusion, in: Süddeutsche Zeitung, 01.01.1972. Vgl. Henkels, Walter: Egon und die Detektive, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.1970. 15 Vgl. Vogtmeier 1996, S. 28 f. 14
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den beteiligten Personen um Willy Brandt nicht verborgen und entsprechend vorsichtig ging man mit ihnen an die Öffentlichkeit. Im Juli 1963 bot sich auf Einladung der Evangelischen Akademie Tutzing, die das zehnjährige Bestehen ihres Debattierkreises feierte, die erste Möglichkeit, die eigenen Ideen vor Publikum zu präsentieren. Bei dieser Gelegenheit wollte Bahr bewusst einige kritische Punkte in die Diskussion einbringen, um die Reaktion der bundesdeutschen Öffentlichkeit zu prüfen – ein Vorgehen, das er auch in späterer Zeit häufig anwenden sollte. Sein Beitrag war als Ergänzung zu Brandts Hauptvortrag gedacht, sollte sich aber in puncto Radikalität von den Äußerungen des Regierenden bewusst unterscheiden. Brandt stimmte dieser Strategie in einem Brief an seinen Pressechef zu.16 Auf diese Weise sollte etwaige Kritik von der Person des Regierenden Bürgermeisters planmäßig abgelenkt werden. So ergänzte Bahr die allgemein gehaltene Rede Brandts mit pointierten Äußerungen über die Möglichkeiten einer Neuen Ostpolitik. In Anlehnung an die von Brandt formulierten Punkte, der sich in seiner Rede größtenteils auf Formulierungen des amerikanischen Präsidenten Kennedy bezog, ging Bahr in seinem Diskussionsbeitrag einen entschiedenen Schritt weiter. Er sprach sich für die Anwendung der „Strategie des Friedens“ – wie sie von Kennedy formuliert worden war – auf die deutsche Lage aus. Diese neue außenpolitische Maxime stand im direkten Gegensatz zu der bisher propagierten „Strategie der Stärke“ und musste, aus deutscher Perspektive, direkte Verhandlungen mit der Führung der Deutschen Demokratischen Republik nach sich ziehen. Bahr erteilte den bis dato bestehenden Hoffnungen, dass das sozialistische System der DDR aufgrund der wirtschaftlichen Überlegenheit des Westens zwangsläufig in sich zusammenbrechen müsste, eine entschiedene Absage. Gleichzeitig brachte er mit dieser Überlegung auch die Notwendigkeit einer Anerkennung der Regierung in Ost-Berlin ins Gespräch. Dies hätte zwangsläufig eine Abkehr von der bestehenden Hallstein-Doktrin bedeutet.17 Diese Überlegungen, die er schließlich auf die ebenso markige wie berühmt gewordene Formulierung „Wandel durch Annäherung“ brachte, lösten ein anhaltendes und zwiespältiges mediales Echo aus. Im Ausland stießen Bahr und Brandt mit ihren Vorstellungen auf offene Ohren. So äußerten sich neben dem Alliierten Kontrollrat auch zahlreiche ausländische Zeitungen positiv.18 Kritik dagegen kam von Seiten der Berliner CDU, in Person ihres Fraktionsvorsitzenden und ehemaligen Bürgermeisters. Dieser warf den beiden Hauptakteuren vor, dass sie das Wesen der politischen Auseinandersetzung verkennen und ihre Kompetenzen überschreiten würden. Darüber hinaus ging er so weit, die SPD aufzufordern, sich öffentlich von Bahr zu distanzieren.19 Doch auch innerhalb der SPD selbst wurde die Person Egon Bahrs scharf angegangen. So nannte Herbert Wehner die Tutzinger Vorschläge einen „ba(h)ren Unsinn“ und eine „Narretei“20. In einem Interview beschwerte sich Wehner nachhaltig, dass ihm die Berliner Genossen zu viel reden würden.21 Die Be-
16 Vgl. Brief Willy Brandts an Egon Bahr vom 24.07.1963, in: Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Depositum Egon Bahr, Ord. 348. 17 Vgl. Heß, Hans-Jürgen: Die Auswirkungen der Tätigkeit innerparteilicher Gruppierungen auf die Regierungsfunktion einer politischen Partei am Beispiel der Berliner SPD in den Jahren von 1963 bis 1981, Berlin 1983 (Dissertation), S. 106. 18 Vgl. o.V.: Der Westen begrüßt offene Worte, in: Hannoversche Presse, 18.07.1963. 19 Vgl. o.V.: Scharfe Kritik Ahrems an Brandt und Bahr, in: Der Tagesspiegel, 17.07.1963; o.V.: Ahrem fordert klare Äußerung der SPD zur Rede Bahrs, in: Der Tagesspiegel, 23.07.1963. 20 Vogtmeier 1996, S. 64. 21 Vgl. o.V.: Der Mann mit der Pfeife, in: Christ und Welt, 01.11.1963.
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fürchtungen innerhalb der SPD, die auch in den Äußerungen Wehners mitschwangen, war, dass sich die Partei erneut auf dem Feld der Außenpolitik angreifbar machen könnte. Dies erwies sich im Folgenden auch nicht als unberechtigt, da von Seiten der Unionsparteien schnell der Vorwurf laut wurde, dass sich die Sozialdemokraten von ihren außenund deutschlandpolitischen Leitlinien verabschiedet hätten. In den Reihen der Berliner SPD war man deshalb sehr bemüht, den Tutzinger Einwurf Bahrs als dessen persönliche Meinung zu verkaufen.22 So Willy Brandt besänftigte die sich gegen Egon Bahr aufbauende negative Stimmung, indem er dessen Statement als einen privaten Diskussionsbeitrag bezeichnete, bei dem sich manches „ergänzend, ordnend und hinzufügend“23 sagen ließe. Die vorangegangene Absprache der beiden wurde von ihm dabei natürlich geflissentlich verschwiegen. So erwies sich die vorher erwählte Taktik, nämlich, dass nicht Brandt selbst, sondern sein Nuntius die kritischen Punkte auf den Tisch legen sollte, als ausgesprochen geschickt. Auf diese Weise entzog sich der Regierende Bürgermeister Berlins und innerparteiliche Hoffnungsträger Brandt, weitgehend direkter Kritik. Gleichzeitig verfügte er aber über genügend Einfluss um seinen Pressechef zu protegieren und schließlich aus der Schusslinie zu befördern. Die in Tutzing geäußerten Überlegungen sollten ihren zentralen Stellenwert in der außenpolitischen Konzeption Willy Brandts auch in den kommenden Jahren nicht verlieren. Im Übrigen: Jetzt, da die Karten auf dem Tisch lagen und öffentlich klar wurde, dass relevante Kräfte innerhalb der SPD mit den erst vor wenigen Jahre eingeschlagenen außenpolitischen Kurs haderten, erwies sich Bahr für Brandt als die prädestinierte Person, die ihm half, die eigenen Ideen zu entwickeln und zu präzisieren. Daher sollte sich die beim Tutzinger Vortrag gewählte Strategie, dass die Äußerungen Brandts von Bahr kommentiert und erweitert wurden, in den nächsten Jahren auch auf größerer politischer Bühne wiederholen.
„Die schönsten Jahre meines Lebens“ Mit Willy Brandt im Zentrum der Macht Als Willy Brandt Ende 1966 als Vizekanzler und Außenminister in der Großen Koalition von Berlin nach Bonn wechselte, folgte ihm Egon Bahr wie selbstverständlich. Brandt, der neben seinem Pressechef noch Klaus Schütz aus dem Berliner Beraterkreis mit nach Berlin nahm, hoffte auf diese Weise die bereits im Kleinen entwickelten Ideen in das Bonner Außenministerium importieren zu können. Schütz kam dabei der praktische, der verwaltende Teil zu, er wurde zum Staatssekretär ernannt.24 Bahr hingegen sollte „sich den Kopf freihalten, zum Nachdenken über die jeweiligen Schwerpunkte der deutschen Außenpolitik“25. Da es für diese Aufgabe aber zunächst keine unbesetzten oder geeigneten Posten gab, wurde Bahr kurzer Hand zu einem Botschafter zur besonderen Verwendung ernannt. Erst im November 1967 übernahm Bahr, zunächst kommissarisch, den Vorsitz des Planungsstabes. 22
Vgl. o.V.: Berliner SPD verteidigt Bahr, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.63. Vgl. Heß 1983, S. 106. 24 Vgl. Ashkenasi, Abraham: Reformpartei und Außenpolitik. Die Außenpolitik der SPD Berlin-Bonn, Köln 1968, S. 202 f. 25 Sommer, Theo: „Zur besonderen Verwendung, Egon Bahr – Der Mann neben Außenminister Brandt“, in: Die Zeit, 10.03.1967. 23
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Dieses Amt war erst nach dem Ausscheiden des bisherigen, konservativen Amtsinhabers frei geworden. Die Umbesetzung kam dem Außenminister sehr zupass. Mit seinem Vertrauten Bahr an der Spitze des Stabs verfügte der Minister nun über einen loyalen Stab, der seine außenpolitischen Ansichten teilte und ihm entsprechend zuarbeiten konnte.26 An Bahrs Aufgabenprofil, das sich in den letzten Jahren geschärft hatte, sollte sich in der Folgezeit, bis auf den Wegfall der ihm lästigen gewordenen Pressearbeit, wenig ändern. Unverändert blieben die enge Zusammenarbeit mit dem neuen Außenminister und die konzeptionelle Schärfung einer neuen, deutschen Ostpolitik. Bereits in den drei Jahren der Großen Koalition wurden somit die Grundlagen für die spätere Außenpolitik des Kanzlers Brandt en detail ausgearbeitet. Beim Regierungsantritt Brandts stand die außenpolitische Konzeption der nächsten Jahre – die der wichtigste Rückhalt der Regierung Brandt/Scheel und ihre historisch größte Leistung sein sollte – mithin weitgehend schon fest. Bahr tat in seiner neuen Position das, wofür er prädestiniert war. Anstatt sich mit den Unwägbarkeiten in der Berliner Kommunalpolitik und der Pressearbeit herumzuschlagen, konnte er im Planungsstab des Auswärtigen Amtes Ideen und Visionen entwickeln. Rückblickend sollte er die kommenden drei Jahre als die schönsten Jahre seines Lebens betrachten. Bisweilen musste er indes auch damals schon Kritik ertragen und Gegenwind standhalten. Im Jahr 1969 zum Beispiel wurde er auf Betreiben Brandts zum neuen Bundesbevollmächtigten für Berlin ernannt. Diese Ernennung stieß in den Reihen der Berliner CDU auf Kritik, die Bahr als „nicht vertrauenswürdig“ und seine politische Haltung als „schädlich“ für Berlin einstufte.27 Schwerer wog allerdings ein Zerwürfnis im engeren Beraterkreise Willy Brandts. So hatte sich Klaus Schütz bereits Hoffnungen auf diese Position gemacht und fühlte sich jetzt durch die Wahl Egon Bahrs übergangen.28 Die „eminence gris“ als eine ideale Projektionsfläche Überhaupt: Je mehr Egon Bahr versuchte, sich und seine Politik im Hintergrund zu halten, fernab von der in seinen Augen feindlich gesinnten Medienlandschaft, desto häufiger wurde er Opfer von Angriffen. Und umso häufiger wurde bei diesen Angriffen, die zumeist aus den Reihen der Union und der konservativen Springer-Presse geführt wurden, klar, dass nicht er das eigentliche Ziel war. Die Ausfälle galten eigentlich seinem Dienstherrn, zunächst dem Außenminister, später dem Bundeskanzler Brandt. Dessen engster Mitarbeiter Bahr wurde zur idealen Projektionsfläche sämtlicher ostpolitischer Ressentiments. Bahr, dem in Bonn, ebenso wie zuvor in Berlin bald der Status einer „eminence gris“ zugeschrieben wurde, bot durch seinen Hang zur Geheimnistuerei und sein unscharfes Aufgabenprofil ein ideales Ziel. Die Anzahl der diffamierenden Breitseiten verstärkte sich gegen Ende der Großen Koalition – mit dem Ziel, den Außenminister und angehenden Kanzlerkandidaten der Sozialdemokraten noch vor Beginn des Wahlkampfs entscheidend zu schwächen. Der vielleicht schwerste Angriff auf Bahrs Person und seine Integrität als Berater des Außenministers ereignete sich insofern nicht zufällig im Jahr 1968 im Vorwahljahr deutlich. In einer auf Bahr gerichteten Kampagne veröffentlichte der unter anderen von Franz Josef Strauß herausgegebene Bayern-Kurier Berichte über angebliche Besuche Bahrs in 26
Vgl. Vogtmeier 1996, S. 99 f. O.V.: Bahrs Ernennung stößt in Berlin auf Kritik, in: Die Welt, 25.10.1969. 28 Vgl. o.V.: Bahr für Berlin, in: Christ und Welt, 31.10.1969. 27
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Ostberlin. Dabei habe sich der Brandt-Vertraute mit hochrangigen Vertretern der SEDRegierung getroffen. Bei diesen Unterredungen soll Bahr angeblich eine Anerkennung der DDR von SPD-Seite in Aussicht gestellt haben. Alle Vereinbarungen mit der SED-Führung seien zudem mit Wissen und Billigung Willy Brandts erfolgt.29 Als Bestätigung konnte der Bayern-Kurier eine Rede Walter Ulbrichts in Warschau werten, in der dieser die Presseberichte bestätigte. Als zusätzlich zu diesen Anschuldigungen die Behauptung laut wurde, dass von diesen geheimen Unterredungen Tonbänder existieren würden, die den Medien bereits zugespielt seien sollten, nahm die „Affäre-Bahr“ zusätzlich Fahrt auf. Die Welt am Sonntag behauptete als erste große Tageszeitung, Kenntnisse von Tonbandaufzeichnungen des Treffens zu haben. Nach mehreren ausführlichen Berichten wurde in den Reihen der Union der Ruf von „Landesverrat“ laut. Außenminister Brandt intervenierte umgehend und dementierte sämtliche Anschuldigungen gegen Bahr. Der eilig eingerichtete, unter Leitung von Karl Carstens tagende Untersuchungsausschuss konnte selbst nach intensiven Nachforschungen weder Beweise für den Besuch, noch etwaige Tonbänder ausfindig machen. Ende November wurde Bahr nach einem Gespräch bei Kanzler Kurt Georg Kiesinger offiziell rehabilitiert, ohne auch nur einen einzigen Augenblick während dieser Affäre ins Wanken geraten zu sein. Aufgeklärt wurde der Fall nie. Mal wurde gemunkelt, dass der Fall Bahr unter „dem Mantel der Koalitionsliebe zugedeckt“30 worden sei. Dann äußerte sich in einem Brief an Brandt dessen enger Vertrauter Dietrich Spannenberg dahingehend, dass die „Affäre Bahr“ von Seiten der Union teilweise initiiert, aufgebauscht und schließlich medial ausgeschlachtet worden sei, um den Erfolg der Ostpolitik und den starken Mann der SPD, Willy Brandt, zu torpedieren.31 In der SPD-nahen Frankfurter Rundschau wiederum wurde der Vorwurf laut, dass die Unionsparteien die Affäre zu Wahlkampfzwecken ausgeschlachtet, am eigentlichen, politisch-brisanten Inhalt aber kein Interesse hätten.32 Der beschriebene Fall legt die starke Stellung, die Bahr an der Seite seines Vorgesetzten genoss, deutlich dar. Längst hatte er sich für die Arbeit Brandts als ein unentbehrlicher Faktor etabliert. Zum anderen waren ihm auch die eigenen Fähigkeiten von Nutzen, die er durch seinen beruflichen Werdegang erworben hatte. So beherrschte Bahr, neben der Kunst des geschickten Lancierens von Meldungen auch die Kunst des Stillhaltens. Anstatt in die Offensive zu gehen und die direkte Konfrontation mit den angeführten Beschuldigungen zu suchen, vertraute Bahr auf sein journalistisches Feingefühl und eben den Schutz des Außenministers.
Die große Stunde Egon Bahrs Aller Angriffe und Unterstellungen zum Trotz schlug die Stunde Egon Bahrs schließlich mit dem Zustandekommen der „Kleinen Koalition“ und der Kanzlerschaft Willy Brandts. Ungeachtet aller Bemühungen war es Außenminister Brandt in den drei Jahren zuvor nicht gelungen, die Grundsätze der deutschen Außenpolitik, die nach wie vor an Konzeptionen aus den 1950er Jahren geknüpft war, zu ändern. In den Jahren der Großen Koalition be29
Vgl. o.V.: Sorgen um Bahr, in: Bayern-Kurier, 21.11.1968. O.V.: Mantel der Koalitionsliebe, in: Bayern-Kurier, 08.02.1969. 31 Vgl. Brief Dietrich Spannenbergs an Willy Brandt, in: AdsD, Depositum Egon Bahr, Ord. 87. 32 Vgl. o.V.: Halbe Flucht nach vorn, in: Frankfurter Rundschau, 03.12.1968. 30
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stand nur wenig Platz für die Ideen Egon Bahrs und seiner Mitarbeiter. Im Jahr 1969 änderte sich dies. Mit den Liberalen als Koalitionspartner war es nun möglich, die fertigen Ideen und Konzepte auch erstmals in der Praxis anzuwenden. So war das, was bald als „Neue Ostpolitik“ tituliert werden sollte, mehr als lediglich ein Teil der neuen Regierungspolitik. Vielmehr stellte die politische Neuausrichtung in der Außenpolitik einen entscheidenden Stützpfeiler der Regierung Brandt/Scheel dar.33 Die ersten Gespräche mit der sowjetischen Seite wurden bereits kurze Zeit nach Regierungsantritt aufgenommen. Und wieder zeigte sich, dass Bonn in der Frage der Ostpolitik über keinen qualifizierteren Experten verfügte als den Vertrauten des Bundeskanzlers, der diesem nach der gewonnenen Bundestagswahl als Staatssekretär ins Kanzleramt gefolgt war. So war es Egon Bahr, der bereits kurze Zeit nach Beginn der Gespräche mit Moskau die Verhandlungsführung übernahm. Der am 12. August 1970 unterzeichnete Moskauer Vertrag sollte der Auftakt für eine Reihe von Verträgen sein, die in der Regierungszeit Willy Brandts abgeschlossen wurden und mit denen das Verhältnis der Bundesrepublik zu den östlichen Nachbarn festgeschrieben und neu geregelt wurde. An allen von ihnen hatte Egon Bahr – sei es als Mitglied der Delegation oder als Berater und Ideengeber – Anteil. Seinen Einfluss konnte er noch weiter verstärken, nachdem Brandt ihn 1972 zum „Bundesminister für besondere Aufgaben“ ernannt hatte – mit dem erklärten Ziel, die Ostpolitik weiter voranzutreiben. Kurzum Die Bildung der Großen Koalition und die Ernennung Willy Brandts zum Außenminister in Bonn waren für seinen außenpolitischen Berater und Pressechef der vielleicht größte Glücksfall seiner Karriere. Wie selbstverständlich folgte er Brandt in die Hauptstadt, auch wenn es dort zunächst keine direkte personelle Verwendung für den engsten Mitarbeiter des Berliner Bürgermeisters gab. Dass dies kein Hindernis darstellte und stattdessen die entsprechenden Voraussetzungen mit seiner Ernennung zum „Botschafter zur besonderen Verwendung“ geschaffen wurden, unterstrich einmal mehr seine Schlüsselposition in der politischen Konzeption Willy Brandts. Die Übernahme der Leitung des Planungsstabs, die Ernennung zum Staatsekretär und schließlich die Tätigkeit als Minister stellten im weiteren Verlauf die konsequente Fortsetzung des eingeschlagenen Wegs dar. Doch mit dem erfolgreichen Abschluss der verschiedenen Vertragswerke sah sich Bahr mit einem grundsätzlichen Problem seiner politischen Arbeit konfrontiert. Nach Ende seiner Verhandlungsführung über das Zustandekommen des Grundlagenvertrags mit der DDRFührung fehlte es dem Bundesminister für besondere Aufgaben an eben solchen. Zu sehr hatte sich Bahr in den letzten Jahren auf die Schaffung einer neuen Ostpolitik konzentriert, sodass sich nach Abschluss der Basisverträge eine Lücke auftat. Dieser Aufgabenlosigkeit versuchte Bahr mittels einer Studie mit dem Titel: „Analyse zur Identifizierung eines geeigneten Schwerpunktbereiches“, die er in seinem Ministerium in Auftrag gegeben hatte, beizukommen. Allerdings stellte sich das Ergebnis dieses Unterfangens als unbefriedigend heraus, riet die interne Studie dem außenpolitischen Experten doch dazu, sich im Bereich der Innenpolitik zu engagieren. Zwar verfügte Bahr in der Funktion eines „Beraters des Bundeskanzlers in allen Fragen der Ost- und Deutschlandpolitik“ weiterhin über einigen Aktionsspielraum, um seine Gedanken und Vorstellungen in die aktuelle Tagespolitik einzubringen, dennoch offenbarte die Notwendigkeit einer Studie zur Identifizierung eines neuen Arbeitsfeldes für den Minister doch ein grundlegendes Dilemma, stellt sie doch in 33
Vgl. Baring, Arnulf: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982, S. 199.
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gewisser Weise sein Amt in Frage. Die Entwicklungen des Frühjahrs 1974 sollten dieses Problem dann freilich auf andere Weise lösen.34
Der Sturz Brandts – der Fall Bahrs? Intermezzo unter neuem Herrn Als Willy Brandt im Mai 1974 mit seinem Rücktritt vom Amt des Bundeskanzlers die Verantwortung für die Guillaume-Affäre übernahm, sah es zunächst so aus, als ob mit diesem Schritt auch die politische Karriere seines engsten Mitarbeiters enden würde. Zwar blieb Brandt als Parteivorsitzender auf der politischen Bühne, doch hatte er in dieser Funktion zunächst keine Verwendung für den außenpolitischen Experten Bahr. Letztendlich sollten bis zu dessen Rückkehr in die Politik allerdings nicht mehr als zwei Monate vergehen. Als Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit kehrte er – auf Veranlassung Helmut Schmidts – in das Metier zurück, das er bereits 1959 als Presseattaché an der Deutschen Botschaft in Ghana kennengelernt hatte und das zeitlebens einen besonderen Stellenwert in seiner politischen Arbeit haben sollte: die Entwicklungshilfe. Schmidt hatte sich den neuen Minister allerdings nicht nur wegen dessen persönlicher Qualifikation in sein Kabinett geholt. Vielmehr sollte Bahr in den folgenden Jahren auch eine Mittlerposition zwischen Regierung und Parteiführung zukommen. So war es wieder einmal die persönliche Nähe und Vertrautheit gegenüber dem Parteivorsitzenden Willy Brandt, die ihn für diesen Posten qualifizierte. Noch deutlicher wurde dies durch die Übernahme der Funktion des Bundesgeschäftsführers der Partei, die ihn wieder zurück an die Seite seines ehemaligen Chefs brachte.
„Der falsche Mann am falschen Ort“: der Bundesgeschäftsführer Bahr, der auf den ersten Blick kaum für das Amt des Bundesgeschäftsführers geeignet schien, da seine Expertise eben auf dem Feld der Außenpolitik lag und ihm die Parteistrukturen und -strömungen weitgehend fremd waren, wurde also wieder Vermittler. Die Kritik, die bei seinem Amtsantritt laut wurde, reflektierte er selbst. So bemerkte er in einem Interview mit dem RIAS, dass ihm für diese Aufgabe das fehle, was „man traditionell den Stallgeruch der Partei nennt“35. So sehr sich Bahr auch zierte, diesen für ihn unattraktiven Posten zu übernehmen, gab er aber schließlich auf Drängen Brandts und Schmidts doch nach und verließ sein Ministerium. Hatte er früher zwischen Bonn und Berlin, Washington und Moskau vermittelt, vermittelte er jetzt zwischen Kanzler und Parteivorsitzendem Willy Brandt. Von der Parteizentrale aus sollte der gute Freund des Ex-Kanzlers, der diesem zu Regierungszeiten bedingungslos untergeben gewesen war, den Schulterschluss zwischen Regierung und Partei herstellen. Brandt, der eigentlich seinen ehemaligen Kanzleramtschef Horst Ehmke für diese Aufgabe favorisiert hatte, scheiterte am Widerstand Schmidts und anderen SPD-Granden, die diesen Kandidatenvorschlag als zu links werteten. Bahr half hier der Vertrauensvorschuss, den er sowohl beim Kanzler als auch beim Parteivorsitzenden 34
Vgl. Vogtmeier 1996, S. 202 f. Egon Bahr im Interview mit dem RIAS, 19.01.1977, in: AdsD, Depositum Egon Bahr, Ord. 198; zitiert nach Vogtmeier 1996, S. 219. 35
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genoss – zumal er bereits als Kabinettsmitglied ein wichtiges Glied der Kommunikationskette zwischen Brandt und Schmidt dargestellt hatte. Darüber hinaus verfügte die Partei über fast keine in Frage kommenden Kandidaten, mit denen beide Seiten zufrieden gewesen wären.
Fazit Die Entscheidung des Berliner Oberbürgermeisters Willy Brandt sich den RIASKommentator Bahr als Pressechef an die Seite zu holen, sollte sich als folgenschwerer Glücksgriff herausstellen. Brandt hatte zunächst nach einem Experten auf ganz anderem Gebiet gesucht, nämlich nach einem erfahrenen Journalisten, der in der Lage war, auf Augenhöhe mit seinesgleichen zu kommunizieren. Ohne Zweifel war der RIAS-Kommentator für diese Aufgabe mehr als qualifiziert. Mit seinen weitläufigen Kontakten im Bereich der Presse schien er die ideale Besetzung, um Berliner Interessen zu kommunizieren. Des Weiteren verfügte er durch seine langjährige Tätigkeit als Parlamentskorrespondent auch über die nötigen politischen Kontakte in der Bonner Hauptstadt, um der besonderen Bedeutung der Vier-Sektoren-Stadt auch hier Gewicht zu verleihen. Brandt entdeckte die starken Gemeinsamkeiten in beider Denkweisen erst während der Zusammenarbeit im Berliner Rathaus. Mit Egon Bahr fand der Oberbürgermeister einen gleichgesinnten Mitstreiter, der seine Ideen teilte. Von seinem Amt als Pressechef, das eigentlich wenig Raum für politische Gestaltung und die Umsetzung eigener Ideen bot, erarbeitete er sich das Vertrauen des Regierenden Bürgermeisters. Von 1961 bis zum Ende seiner Tätigkeit als Bundesgeschäftsführer der SPD im Jahr 1981 sollte er Willy Brandt nicht mehr von der Seite weichen. Er wurde Brandts Ideengeber und Vordenker der Neuen Ostpolitik, der konsequent mit ihm aufstieg. Doch gerade in dieser Festlegung auf die Konzeptionierung einer neuen deutschen Außenpolitik offenbarte sich schließlich auch sein Dilemma. Mit dem Abschluss der Verträge von Moskau, Warschau und Berlin verlor Bahr seine Aufgabe, an der er zuvor mehr als zehn Jahre gearbeitet hatte. Der Rücktritt Brandts als Bundeskanzler ermöglichte ihm schließlich eine persönliche Neuausrichtung. Doch das, was Bahr in den kommenden Jahren als Politiker qualifizierte, war nicht mehr seine analytische Scharf- und Weitsicht gepaart mit einer politischen Vision. Er qualifizierte sich für den Posten des Geschäftsführers durch sein Verhältnis zu Brandt und das Vertrauen, das dieser in seinen Weggefährten legte. Dadurch wurde er auch für Kanzler Schmidt zu einem nützlichen Instrument, das dieser bewusst einzusetzen wusste, um die Kommunikationskette zwischen Partei und Regierung zu schließen. Die gleiche Überlegung hatte Bahr auch zuvor, neben seiner zweifellos vorhandenen Expertise auf diesem Politikfeld, den Zugang zum Kabinett geebnet. Sein politisches Lebenswerk, seine „große Leistung“, hatte Bahr allerdings 1973 bereits abgeschlossen. Was danach folgte, war der Einstieg in das politische Alltagsgeschäft. Andererseits hatte Bahr zu diesem Zeitpunkt seine historische Mission bereits erfüllt. Er hatte das geschafft, weswegen er 1956 in die SPD eingetreten war. Mehr noch: Er hatte nicht nur die Außenpolitik der Partei verändert, er hatte es sogar geschafft, seine Vorstellungen nachhaltig in der Regierungspolitik unterzubringen. So ist die Person Egon Bahrs untrennbar mit ihren Ideen und Konzeptionen für eine neue Politik gegenüber der Sowjetu-
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nion und der Deutschen Demokratischen Republik verbunden. Hier liegen der Kern all seines Handelns und seine größte Leistung. Pointiert: Die politische Karriere Egon Bahrs ist eine Ausnahmeerscheinung. Die Tatsache, dass sich Bahr erst 1972 seiner ersten Wahl stellte – er zog über die Landesliste Schleswig-Holsteins in den Bundestag ein –, unterstreicht dies. Darüber hinaus absolvierte Bahr, seit 1956 SPD-Mitglied, auch nicht eine klassische Ochsentour durch die Parteigremien. Seine Position war auf besondere Weise vom Tagesgeschäft entrückt. Zu herausgehoben war seine Stellung als außenpolitischer Experte an der Seite Willy Brandts, als dass sie jemals ernsthaft angezweifelt werde konnte. Gleichzeitig verstand er es auf brillante, über die Jahre perfektionierte Weise, sich selbst zurückzunehmen und im Hintergrund zu bleiben. Er blieb die „eminence gris par excellence“. Die Freiheiten, die ihm von seinem Dienstherren eingeräumt wurden – dies gilt im Besonderen für die Zeit als Chef des Planungsstabs im Auswärtigen Amt erlaubten ihm, sich frei von jeglichem Druck des politischen Alltagsgeschäftes zu entfalten und seine Ideen zu entwickeln. Diese herausgehobene Stellung, die er durch die enge Bindung an Brandt über viele Jahre innehatte, gestattete es ihm auch, auf etwaige parteiinterne Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen zu müssen. Der Zwang, seine eigene Stellung durch einen größeren Unterstützerkreis in Form einer Hausmacht abzusichern, war ihm fremd. Bahr musste sich zu keinem Zeitpunkt in harten Auseinandersetzungen Posten und Einfluss erkämpfen, vielmehr wurden Posten für ihn geschaffen und auf die Ansprüche seiner Person zugeschnitten, wie bei seiner Ernennung zum „Botschafter zur besonderen Verwendung“ oder seiner Tätigkeit als „Minister für besondere Aufgaben“. Bahr blieb im politischen Geschäft eben besonders.
Klaus Kinkel – „Ich kann auch aufhören, dann können die sich einen andern suchen.“1 Christian Werwath
Kennzeichnend für politische Seiteneinsteiger ist die Aussage, dass sie der „Droge Politik“ jederzeit den Rücken kehren könnten.2 Für die in diesem Band zu bearbeitende Fallgruppe der Seiteneinsteiger erscheint gerade dieser Aspekt als ein stetig wiederkehrendes Charakteristikum. Das in der Überschrift verwendete Zitat lässt zunächst vermuten, dass auch Klaus Kinkel durchaus in der Lage war, seine Posten abzugeben und seine Kräfte raubenden Aktivitäten in der Politik jederzeit einzustellen. Trotz gleich lautender Ausführungen in verschiedenen Interviews nach Beendigung seiner politischen Karriere zur Bundestagswahl 2002 wird indes in diesem Beitrag deutlich werden, in welcher Form Kinkel dennoch in das Dickicht des politischen Dschungels verstrickt war und mit welchem Kraftaufwand er seinen Macht- und Geltungsanspruch innerhalb der FDP wie auch der politischen Öffentlichkeit über einige Jahre aufrecht erhielt. Interessant ist, warum er diese Kraftanstrengung überhaupt auf sich genommen hat. Hierzu sollen seine politische Laufbahn, sein kometenhafter Aufstieg in die Riege der zehn wichtigsten und beliebtesten Politiker Deutschlands3 und sein ebenso schnell wieder versiegender Ruhm im Folgenden dargestellt und analysiert werden.
Erste politische Gehversuche und Vita eines Karrierebeamten Kinkels politische Vita beschreibt einen Mann, der Zeit seiner Karriere bewiesen hat, dass er stets loyal und engagiert arbeitet, ehrgeizig ist sowie durchweg detailliert informiert sein will. Akribie und Fleiß zeichneten ihn aus und waren die zentralen Gründe für seinen Aufstieg. Seine Hobbys – Tennis und Holzhacken – stehen metaphorisch für seine charakterlichen Eigenschaften. Auf der einen Seite der liebenswürdige und sympathische, elegant aufspielende „Solist von nebenan“ und andererseits der raubeinige und unbeherrschte Schwabe mit einem Hang zu Kraftausdrücken. Geboren wurde er am 17. Dezember 1936 als Sohn eines Internisten in Metzingen. Er besuchte die Schule in Hechingen, einer Kleinstadt am Rande der schwäbischen Alb nahe der Burg Hohenzollern, wohin die Familie umgezogen war. Nach dem Abitur 1956 am Staatlichen Gymnasium Hechingen begann er sein Studium – abermals heimatnah – in Tübingen. Sein Vater war ein stadtbekannter und geschätzter Arzt, beide Elternteile legten Wert auf Tugenden wie Bildung und Tüchtigkeit. Sein zügiges Jurastudium und die anschließende Promotion dürften sich ebenfalls auf die erfolgreiche Vermittlung dieser Werte zurückführen lassen. 1
Palmer, Hartmut: Der gute Kamerad, in: Der Spiegel, 19.09.1994. Vgl. Leinemann, Jürgen: Politik als Ego-Trip – Die Droge Wichtigkeit, in: Der Spiegel, 10.09.2002. 3 Vgl. o.V.: Mehrheit für den Wechsel, in: Der Spiegel, 28.06.1993. 2
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Seine Jugend verbrachte der zukünftige Beamte im katholischen SüdwürttembergHohenzollern,4 die Region mit preußischer Vergangenheit, wo der Typus eines liberalen Politikers deutlich seltener anzutreffen ist als in den lutheranisch und teilweise pietistisch geprägten Regionen Nord-Württembergs.5 Die besondere Ausprägung des politischen Zeitgeists im Hohenzollerngebiet beruht auf einem aufgezwungenen, größtenteils protestantischen Beamtentum. Die Liberalen sind – überspitzt formuliert – die Partei der protestantischen Amtsträger und der Abtrünnigen; von daher spiegelt sich die Nähe zum Liberalismus des katholischen Juristen und Amtsträgers, des „ewigen Beamten“6 Kinkel, als Konfliktlinie wider. Diese Spannungslinie durchbrach er, als er das zunächst begonnene Medizinstudium aufgab und aufgrund der „breiteren Palette von Möglichkeiten“7 ins Jurastudium wechselte. Dem baden-württembergischen Landesteil Schwaben wird allgemein nachgesagt, dass er einen Schlag Menschen hervorbringe, bei denen Disziplin, Sparsamkeit und Fleiß besonders erstrebenswerte Charaktereigenschaften seien. So bezeichnete sich Kinkel auch selbst scherzhaft als „badisch veredelter Muss-Preuße“8. All dies sind Attribute, die gemeinhin als vortreffliche Kriterien für eine Beamtenlaufbahn gelten können und es in seinem Falle auch sind. Doch Kinkels erster politisch biografischer Höhepunkt gebührte seiner besonderen Liebe, der Kommunalpolitik.9 In der Heimatstadt Kinkels existieren über viele Jahre hinweg stabile politische Verhältnisse. Ergebnisse bei Kommunalwahlen boten dort keinerlei Überraschungen.10 Die Möglichkeiten des baden-württembergischen Kommunalwahlsystems, des Kumulierens und Panaschierens, erlaubten den Parteien einen spezifischen personenbezogenen Wahlkampf.11 So lernte der schon früh politisch interessierte Kinkel, dass die Kandidatenorientierung der Wähler die entscheidende Bestimmungsgröße für die konkrete Wahlentscheidung darstellte und dass Sachkompetenz sowie Persönlichkeitsmerkmale als Wahlorientierung im Vordergrund standen. Bei den Schwaben stehen im Kommunalwahlkampf gemeinhin persönlichkeitsorientiere Aspekte als Wahlorientierung im Vordergrund.12 Diesen Erwartungen passte Kinkel – dreißig Jahre jung – seinen Wahlkampf als Bürgerkandidat für die Stadt Hechingen an. Im Lokalteil der Hohenzollerschen Zeitung wurde er, der ein Duzfreund des Besitzers der Lokalzeitung war, als Fachmann mit „bestmöglicher Ausbildung und weitschauender Praxis“ vorgestellt, der die „Gewähr dafür bietet, nach innen ein gerechter und nach außen ein zuverlässiger Sachwalter der Stadt zu sein“.13 Sein Idealbild eines guten Bürgermeisters war ein Verwaltungsfachmann mit Durchsetzungs4 Am 1. Januar 1973 wurde der Regierungsbezirk Südwürttemberg-Hohenzollern in den heutigen Regierungsbezirk Tübingen überführt. 5 Vgl. Wehling, Hans-Georg: Politische Kultur, Wahlverhalten und Parteiensystem in Baden-Württemberg, in: Eilfort, Michael (Hrsg.): Parteien in Baden-Württemberg, Stuttgart 2004, S. 201-219, hier S. 209 ff. 6 Pragal, Peter: Die Seele der Liberalen hat er nie erreicht, in: Berliner Zeitung, 19.05.1999. 7 Münchler, Günter: Vom Beamten zum Politiker – Zeitzeugen im Gespräch: Klaus Kinkel, in: Deutschlandfunk, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/zeitzeugen/750293/ [eingesehen am 18.06.2008]. 8 O.V.: "Badisch veredelter Muss-Preuße", in: ka-news, 23.04.2002. 9 .Vgl. Schmidt-Eenboom, Erich: Der Schattenkrieger: Klaus Kinkel und der BND, Düsseldorf 1995, S. 12. 10 Vgl. Struktur- und Regionaldatenbank zu Wahlen des Statistischen Landesamtes Baden-Württemberg, in: http://www.statistik-portal.de/SRDB/home.asp?H=Wahlen&U=04&T=02045013&E=GA&A=Hechingen [eingesehen am 04.06.2008]. 11 Vgl. Löffler, Berthold: Kommunales Wahlverhalten, in: Eilfort (Hrsg.) 2004, S. 244-253, hier S. 249 ff. 12 Vgl. ebd. S. 244 ff. 13 Schmidt-Eenboom 1995, S. 10.
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vermögen und Entscheidungsfreiheit, der koordiniert, Impulse gibt und Initiative zeigt. Darüber hinaus sollte ein Stadtoberhaupt seiner Meinung nach mit Übersicht und Weitblick die großen Linien der Gemeindepolitik abstecken, ein Vertrauensverhältnis zwischen Gemeinderat, Bürgermeister und Verwaltung herzustellen in der Lage sein und sich noch dazu durch menschliche Qualitäten auszeichnen. Kinkel wollte sich intensiv darum bemühen, diesem Zuschnitt so nahe wie möglich zu kommen. Im Wahlkampf präsentierte sich Kinkel gerne als seriös und familienfreundlich, als Vater von drei Kindern und Sprössling der Region. Fachlich und persönlich erschien Kinkel als der ideale Kandidat; dennoch erreichte er im ersten Wahlgang nicht die absolute Mehrheit. Die Auseinandersetzung vor der Stichwahl wurde von Seiten seines Gegenkandidaten Norbert Roth mit unrechtmäßigen Methoden geführt. Über Kinkel wurden Gerüchte lanciert, er hätte seinen Doktortitel nicht rechtmäßig erhalten, und wenige Tage vor der Stichwahl machten Flugzettel die Runde, auf denen Kinkel als herzlos verunglimpft wurde. Kinkel reagierte auf dieses „negative campaigning“ zurückhaltend und bestritt die Vorwürfe lediglich durch ein Inserat in der Lokalzeitung. Zum Gegenangriff ging er nicht über. Dennoch verlor er die Stichwahl knapp und gab nach Auszählung der Stimmen bekannt, dass er die Stadt ohne Bitterkeit und jeden Vorwurf verlassen werde. Dieser Schnellschuss kostete ihn wahrscheinlich das Bürgermeisteramt, denn der Klage von zweihundert KinkelAnhängern vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen wegen Wahlbeeinflussung durch Gegenkandidat Roth wurde stattgegeben.14 In der Folgezeit absolvierte Kinkel eine beeindruckende Beamtenkarriere, die mit seinem Eintritt in die baden-württembergische Verwaltung 1966 beim Landratsamt Balingen begann. Zwei Jahre später gelang ihm der Wechsel in das Bundesministerium des Innern nach Bonn. Dort traf er auf seinen politischen Förderer den damaligen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher, bei dem er von 1970 bis 1974 als Persönlicher Referent tätig war. Zuletzt wurde Kinkel auch Leiter des Ministerbüros im Bundesinnenministerium. Nachdem Genscher 1974 die Leitung des Auswärtigen Amtes übernommen hatte, nahm er Kinkel mit und machte ihn im Auswärtigen Amt zum Leiter des Leitungsstabes im Range eines Ministerialdirektors und 1979 sogar zum Leiter des Planungsstabes. Als 1979 der Posten des Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes (BND) vakant wurde, setzte Genscher seinen „Zögling“ an die Stelle, an der zuvor nur Personen mit militärischem Rang gesessen hatten – denn die Zeiten des Kalten Kriegs erforderten, so die herrschende Meinung, im Ernstfall die Sachkompetenz eines ausgebildeten Offiziers. Das Amt des BND-Präsidenten hatte bisher als die letzte Stufe einer Karriereleiter gegolten, da es verdiente Militärs auf ihren Ruhestand vorbereitete. Demgegenüber war die BNDPräsidentschaft für den damals erst 42-Jährigen eine Chance, auf der Karriereleiter weiter aufzusteigen. Denn Kinkel war vergleichsweise jung und unterhielt weiterhin ständigen Kontakt zu Genscher. Als Präsident des BND machte Kinkel seinem bisherigen Ruf als unkomplizierter und allürenfreier Beamter alle Ehre.15 Der durch Pannen und Skandale gebeutelte Bundesnachrichtendienst wurde von Kinkel reorganisiert. Der Seiteneinsteiger aus der Bürokratie machte im Geheimdienst seinen Job geradlinig und frei von politischen
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Vgl. zu diesem Absatz ebd., S. 9 ff. Vgl. o.V.: Wildwuchs beschneiden, in: Der Spiegel, 31.03.1980.
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Hemmnissen und Verwicklungen.16 Im Oktober 1982 nutzte er dann seine Chance, verließ seine Position und wechselte als Staatssekretär in das Bundesministerium der Justiz. Dieses vor der Ernennung zum Bundesjustizminister im Jahr 1991 angetretene Amt schwächte Kinkels Status als politischer Seiteneinsteiger allerdings nicht ab. Wenn man die allgemeine Definition von „Politik“ zugrunde legt, dann nimmt ein Politiker prägend an der Gestaltung und Regelung menschlicher Gemeinwesen teil. Bezogen auf moderne Staatswesen betreiben Politiker ein aktives Handeln, das erstens auf die Beeinflussung staatlicher Macht, zweitens auf den Erwerb von Führungspositionen und drittens auf die Ausübung von Regierungsverantwortung zielt.17 Diese Zuschreibungen finden sich logischerweise im Amt des Parlamentarischen Staatssekretärs wieder, da dieser gleichzeitig Mitglied des Deutschen Bundestages sein muss.18 Für reine Staatssekretäre gilt dies dagegen nicht. Kinkels eigentlicher Einstieg in die Politik erfolgte demzufolge erst mit der Berufung in das Kabinett Kohl im Jahr 1991. Sämtliche vorherige Stationen waren wesentlich unpolitischer Natur. Denn Tätigkeiten in der aktiven Politik erfordern neben informalen Hintergrundaktivitäten auch die Vermittlung von Ideen, Visionen oder parteipolitischen Grundsätzen. Diese Öffentlichkeit aber hatte Kinkel als Beamter nur rudimentär zu verzeichnen.
Vom Spitzenbeamten zum Politkarrieristen und zurück Kinkels ganzes Gebaren glich dem eines klischeehaften Vorzeigebeamten: Seinen persönlichen Mitarbeiterkreis schnauzte er an, wenn seine Akten nicht rechtzeitig und vollständig vorlagen. Stets wollte er im Besitz der Informationshoheit und über jeden Vorgang umfassend im Bilde sein. Im Kollegenkreis galt er als akribischer „Aktenfresser“19. Zweifelsohne lässt sich daraus schließen, dass Kinkels beruflicher Erfolg weitgehend auf den Tugenden Fleiß, Engagement, Disziplin und besonderen Qualitäten wie Loyalität sowie der Fähigkeit, pragmatisch nach vorgegebenen Regeln arbeiten zu können, basierte. Seinen Eintritt in die aktive Politik im Rahmen der Übernahme eines Bundesministeriums erklärt dies jedoch allenfalls unzureichend – erfordert die Ausübung eines bedeutenden Postens in der Politik doch gänzlich andere beziehungsweise zusätzliche Qualifikationen und Befähigungen. Inwiefern beeinflusste also der vorhergegangene berufliche Werdegang den politischen Einstieg Kinkels? Begünstigte oder erschwerte sein Zivilberuf den Wechsel in die Politik? Bei dem Versuch, einen Zusammenhang zwischen Kinkels beruflichem Werdegang und dem weiteren Verlauf seiner Karriere zu ziehen, fällt schnell auf, dass er für jedes Ministeramt die passende Ausbildung besaß. Als Bundesminister der Justiz qualifizierte ihn sein juristisches Studium, für das Amt des Außenministers erwies sich seine Tätigkeit als BND-Präsident sowie zuvor als Leiter des Planungsstabes des Auswärtigen Amtes als vorteilhaft. Während seiner langjährigen Arbeit als Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz stand der Schwabe im Ruf, der eigentliche Macher der Politik hinter dem Minister Hans Engelhard zu sein. Ein derartiger Ruf setzt hohe anerkannte Fachkompetenz sowie Reso16 Vgl. Kohrs, Ekkehard: Das Porträt: Klaus Kinkel, der frühere Außenminister wird 70 Jahre alt, in: General Anzeiger, 16.12.2006. 17 Vgl. Schubert, Klaus/Klein, Martina: Das Politiklexikon, Bonn 2001, S. 121. 18 Vgl. Paragraf 1, Absatz 1, Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Parlamentarischen Staatssekretäre. 19 Seher, Dietmar: Klaus Kinkels Stuhl wackelt, in: Berliner Zeitung, 18.05.1995.
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nanz in der Presse durch positiv orientierten „Polittratsch“ über die Person voraus. Informierte Kreise hatten ihn schon zuvor als „Graue Eminenz“ der Extraklasse wahrgenommen, zu einer Zeit, als das symbiotische Gespann Genscher-Kinkel aus dem Innenministerium heraus überall von sich reden machte. Beide nutzten die Stärken und Schwächen des jeweils anderen und ergänzten sich dadurch optimal. Dass Genscher fachlich „kinkelte“, war in Bonn eine vertraute Formel, ebenso wie Kinkel hinter den Kulissen „genscherierte“. Vor allem die Affäre um den DDR-Spitzel Günter Guillaume, die Kinkel intern loyal und professionell meisterte, schweißte beide eng zusammen.20 Derartige Situationen qualifizieren gewöhnlich für höhere und weitere Aufgaben. Vertrauen und Zuverlässigkeit sind wichtige Eigenschaften für persönliche Referenten, vertraute Beamte oder politische Berater. Kinkel hatte sich gerade durch die Guillaume-Affäre einen Namen gemacht und gerierte sich vor allem in den Augen Genschers als Zukunftshoffnung und enger Vertrauter. Ausgestattet mit reichlich Lorbeeren und einem großen Fundus an gewonnenen Erfahrungen, konnte Kinkel daher ohne größere Probleme und innerparteiliche Querelen am 18. Januar 1991 von Genscher als Bundesminister der Justiz installiert werden. Selbst für die FDP, in der Blitzkarrieren schön öfters vorgekommen waren, war Kinkels Aufstieg spektakulär.21 Denn nur zwei Jahre später, 1993, hielt Kinkel sämtliche Spitzenämter, die in und mit der FDP zu erwerben waren, besetzt: Parteivorsitz, Vizekanzlerschaft und Außenminister. Die Medien zeigten anfangs außerordentliches Interesse an dem Shootingstar aus dem Schwabenland. Die Kommentare in den Zeitungen und Zeitschriften waren zunächst mehrheitlich voll des Lobes über den beeindruckenden Auftritt des Seiteneinsteigers. Kinkels Art, sicher und klar formulierte Standpunkte zu vertreten, imponierte.22 Eine Meinung zu äußern und diese auch zu präsentieren, war er von seinen ständigen Mitarbeiterrunden in den Ministerien schließlich gewohnt. Auch waren ihm bei Amtsantritt die öffentliche Aufmerksamkeit von Bürgern, Lobbyisten sowie Interviewanfragen der Medien durch die gemeinsame Zeit mit Genscher nicht fremd. Seine erfrischend korrekte, zielgerichtete und ehrlich direkte Art kam zunächst gut an. Kinkel war also am Anfang seiner Politkarriere ein medial gefeierter Hoffnungsträger. Nun reicht es jedoch nicht, in der modernen Mediendemokratie mit den Begabungen eines Spitzenbeamten Politik zu betreiben. Zu kompliziert und verschlungen sind die Wege, auf denen Politik zwischen dem Wähler und den Regierenden kommuniziert wird. Gerade in einer gerne auch boulevardesk berichtenden Medienwelt kann die personifizierte Repräsentation des deutschen Beamtentums schnell hölzern und langweilig wirken. Wenn die geballte Presselandschaft einer Hauptstadt mit all ihren scharfsinnigen Kommentatoren und spitzfindigen Journalisten bei blitzartig steigendem Ruhm urplötzlich auf jemanden zustürmt, der bislang nur nach vorheriger Absprache mit seinem Chef Hintergrundgespräche geführt hat, ist die Abnutzung der vorher positiv kommentierten Eigenschaften ein kaum zu stoppender Prozess. Schon wenig später wurde kommentiert, dass Kinkel seine Reden wie ein Mathelehrer halte, der den Dreisatz erklärt.23
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Vgl. Leinemann, Jürgen: „Der brennt für alles“, in: Der Spiegel, 07.06.1993. Vgl. Walter, Franz: Die Integration der Individualisten. Parteivorsitzende der FDP, in: Forkmann, Daniela/Schlieben, Michael (Hrsg.): Die Parteivorsitzenden der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 2005, Wiesbaden 2005, S. 119-169, hier S. 159. 22 Vgl. o.V.: Ein Heuss-Zitat geht um, in: Süddeutsche Zeitung, 07.05.1992. 23 Vgl. Krumrey, Henning: Guter Mann in Not, in: Focus, 19.09.1994. 21
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Als Beamter hatte Kinkel gelernt, stets weisungsgemäß zu handeln und zu denken. Als Minister musste er sich nun einer vergleichbaren Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers unterwerfen. Im Falle Helmut Kohls sah sich Kinkel außerdem mit einem die Europapolitik immer stärker dominierenden Kanzler konfrontiert, des Weiteren lasteten ein außenpolitisch engagierter Verteidigungsminister Volker Rühe sowie der Schatten von Genscher auf der Außenpolitik Kinkels. Als Außenminister blieb Kinkel erstaunlich lange im Amt – einer langen Serie von Wahlniederlagen der FDP im Bund und in den Ländern und seines Rücktritts vom Parteivorsitz zum Trotz. Selbst der politische Super-GAU – die 1995 erfolgte Abstimmungsniederlage im Bundestag über den Besuch seines damaligen iranischen Kollegen Ali Akbar Welajati –24 konnte ihn nicht stürzen. Der Bundestag erklärte den damaligen Iraner zur unerwünschten Person, weil dieser im Verbund mit weiteren iranischen Politikern zum Mord an Salman Rushdie aufgerufen hatte. Während der Debatte blieb Kinkel bei seiner Meinung, einen kritischen Dialog mit dem Iran führen zu wollen, anstatt dem mehrheitlichen Wunsch nach einer Aussetzung jeglicher Gespräche zu folgen, und rückte von seiner bereits getätigten Einladung nicht ab. Die folgende Abstimmung über die bundeshoheitliche Einladung an Welajati verlor Kinkel deutlich – mit Gegenstimmen aus seiner eigenen Fraktion.25 Dass Kinkel weiterhin Außenminister blieb, verdankte er seiner nahezu uneingeschränkten Loyalität zu Bundeskanzler Kohl. Dieser wollte auch zukünftig ungestört seine Kreise in der europäischen Außenpolitik ziehen können und beließ den sich mit eigenen außenpolitischen Projekten zurückhaltenden Kinkel daher weiterhin in Amt und Würden. Man kommt zu dem Schluss, dass Kinkels vorherige Zivilberufe ihm den Einstieg in die Ministerlaufbahn begünstigt haben. Kinkel konnte sich schnell und in der öffentlichen Wahrnehmung erfolgreich in seine Aufgaben einarbeiten, da er auf umfangreiche Erfahrungen und tiefe Einblicke aus seiner langjährigen Ministeriumstätigkeit zurückgreifen konnte. Seinen Status als Fachmann und anerkannter Experte in Sachfragen wurde selbst von den Medien nie ernsthaft in Frage gestellt, zu denen er ansonsten ein eher schlechtes Verhältnis hatte. Genau diese vorpolitisch gewonnene Sachkompetenz und die ständige Kenntnis der Aktenlage boten dem Schwaben einen sicheren „Background“ für seine Tätigkeiten als Bundesminister der Justiz und des Auswärtigen.
Der Seiteneinsteiger und sein Mentor Indes: Wie kam der Einstieg Kinkels in die aktive Politik aber überhaupt zustande? Zur Beantwortung dieser Frage muss Kinkels Beziehung zu Genscher betrachtet werden. Die Presse schrieb Kinkel seinerzeit in die klassische Rolle des Ziehsohns von Genscher.26 In der Beziehung des Begriffspaars politischer Ziehsohn und Ziehvater beziehungsweise Mentor schwingt gleichwohl die unterschwellige Interpretation mit, dass sich unterbewusst oder bewusst bestimmte Gemeinsamkeiten des Ziehsohns mit dessen Mentor einstellen. So ist der Ziehsohn zumeist der engste Vertraute eines ihm übergeordneten und häufig sehr einflussreichen Chefs, dessen Gestik, Mimik, Sprache und Denken während der Zusammenar24 Vgl. Dreger, Thomas: Kinkel ist nach seiner Iranpolitik angeschlagen, in: die tageszeitung, 13.11.1995; Geis, Matthias: Kinkels Dilemma, in: Die Zeit, 17.11.1995. 25 Vgl. o.V.: „Ihr bekommt Probleme“, in; Der Spiegel, 13.11.1995. 26 Vgl. Leinemann, Jürgen: „Der brennt für alles“, in: Der Spiegel, 07.06.1993.
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beit sukzessive übernommen werden. Im Verlaufe beider Karrieren wird der Ziehsohn in verschiedene Positionen gebracht, in denen er seine Loyalität und Dankbarkeit unter Beweis stellen kann. Bei der Beziehung Kinkels zu Genscher verhielt sich dies allerdings anders. Kinkels besondere Art, Stationen seiner politischen Karriere zu meistern und mit Politikkollegen wie auch der Presse zu interagieren, erinnert nicht an die strategische und taktische Weitsicht eines wendigen und gelernten Machtpolitikers, wie sie seinem langjährig vertrauten Chef Genscher zueigen war. Hier soll der Blick auf die Beziehung zwischen Genscher und Kinkel geschärft werden: Kinkel wurde nie Ebenbild von Genscher, er emanzipierte sich im späteren Verlauf seiner Karriere sogar. Darüber hinaus wird im Folgenden deutlich, dass genau diese charakterliche Eigenständigkeit seinen Aufstieg zusätzlich zur Förderung durch seinen Protektor Genscher erheblich begünstigte. Nun soll der Typus des politischen Seiteneinsteigers den Überlegungen dieses Bandes zu Folge vor allem dort Erfolg haben, wo die Erosion einer gewachsenen Struktur, das Wegbrechen einer ganzen Generation, personelle Engpässe oder die endlose und erfolglose Suche nach dem richtigen und erfolgsversprechenden Weg die Situation kennzeichnen. Politikwissenschaftlich ausgedrückt: Er soll dort reüssieren, wo Politikverdrossenheit grassiert, den Parteien das richtige Personal fehlt und zwischen Politik und Bürger die Kommunikation nicht funktioniert. Der Seiteneinsteiger zeichnet sich genau hier als unbefleckter, üblicherweise untypisch agierender Neuling aus, welcher gerade deshalb für einen Neuanfang, einen dritten Weg oder einen gänzlich anderen Kommunikations-, Arbeits- oder auch Präsentationsstil steht. In genau solch einer Situation wurde Klaus Kinkel in die Rolle eines Heilsbringers und vermeintlichen Erlösers hineingedrängt. So zeigte sich die FDP zu Beginn der 1990er Jahre in einem desolaten Zustand. Die Führungsreserve der Partei war aufgebraucht, hatten sich doch die alten Haudegen Genscher und Otto Graf Lambsdorff mit großen Schritten aus der aktiven Politik zurückgezogen. Im Zuge des Koalitionswechsels, der „Wende 82“,27 war der FDP überdies eine ganze Generation sozialliberaler Politiker weggebrochen, die zehn Jahre später nach dem Abtritt der alten Parteielite folglich fehlte. Die Erfolge der FDP bei der Bundestagswahl 1990 – mit elf Prozent der Stimmen hatte sie bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen ihr bestes Ergebnis seit 1961 erzielt – hatten noch fast einzig und allein auf der „One-Man-Show“ des damaligen Außenministers Genscher beruht. Hoffnungsvoller Nachwuchs, der sofort in der Lage gewesen wäre, die nach Genscher entstandene Führungslücke zu füllen, war dagegen – mit Ausnahme vielleicht von Jürgen Möllemann und Irmgard Schwaetzer – weit und breit nicht zu sehen. Schließlich die politischen Themengebiete: Außenpolitisch war die Ost-West Thematik nach der Wiedervereinigung und dem Zusammenbruch der Sowjetunion vollends weggefallen. Andere thematische Felder, wie zum Beispiel der Ausbau der Europäischen Union und die Stellung Deutschlands in den Vereinten Nationen, standen nun auf der Tagesordnung. Innenpolitisch galt die volle Aufmerksamkeit der wirtschaftlichen und sozialen Integration der neuen Länder. Mit beiden Bereichen hatte die FDP aber ihre Probleme. Öffentlichkeitswirksam besetzte der vor allem in der EU-Politik alles überragende Kanzler Kohl einen weiten Teil der Außenpolitik. Die FDP stellte zwar seit den 1970er Jahren den Außenminister, ihre Außenpolitik drang nun aber nicht mehr durch. So kehrte die FDP aggres27
Vgl. Lösche, Peter/Walter, Franz: Die FDP. Richtungsstreit und Zukunftszweifel, Darmstadt 1996, S. 108.
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siv populistisch ihre wirtschaftspolitische Seite nach außen. Innenpolitisch profilierte sie sich als „Anti-Steuer-Partei“ – wiewohl auch sie beispielsweise dem Solidaritätszuschlag zustimmte.28 Die Freien Demokraten standen also zu Beginn der 1990er Jahre vor einem Dilemma: Die Konzepte der 1980er Jahre entfalteten im wiedervereinigten Deutschland kaum mehr Wirksamkeit und kamen vor allem bei den ostdeutschen Wählern nicht an. Die Etablierung des Fünfparteiensystems verdrängte die FDP aus ihrer traditionellen Rolle der Mehrheitsbeschafferin und des „Züngleins an der Waage“. Zudem zeigte sie sich innerlich zerrissen, indem parteiinterne Machtkämpfe halböffentlich ausgetragen wurden. In dieser Lage geriet die durch die guten Wahlergebnisse eigentlich gestärkte Parteiführung innerparteilich unter Druck. Auf dem 42. Ordentlichen Bundesparteitag im November 1991 in Suhl stimmten nur 433 der 660 Delegierten für die Wiederwahl des Vorsitzenden Otto Graf Lambsdorff.29 Das Vertrauen der Basis in das Parteiestablishment bröckelte damals gewaltig. Es fehlte demnach eine Persönlichkeit, die der Partei neues Leben einhauchen und ihr ein eigenständiges Profil verschaffen konnte. Jemand, der mit seiner Geradlinigkeit, Ehrlichkeit, Charakterstärke und Zuverlässigkeit die Partei aufrüttelt und ihr das selbstgeschaffene „Schmuddelimage“, einer „Partei der Intrigen“30, abzustreifen half. In diese durchaus miserable Situation stieß der Senkrechtstarter und noch parteilose Kinkel. Für die Einen war er ein vortrefflicher Gegenpart zu dem ungeliebten Möllemann und für die anderen ein idealer Kandidat, die FDP nach außen als sauber, wahrheitsliebend, eigenständig und profiliert dastehen zu lassen. Klaus Kinkel wurde folglich als Heilsbringer hochgejubelt, der der Basis als Sinnbild für Ordnung und Verlässlichkeit dienen und ihr eine Richtung vorgeben konnte.31 Genau dies – die augenblickliche Situation und Genschers Einfluss in der Partei – begünstigten Kinkels Aufstieg nachhaltig. Zudem lag vor der FDP der Wahlmarathon des Jahres 1994 mit neunzehn Urnengängen. Gerade hierfür wurde ein Neuanfang mit Symbolkraft dringend benötigt. So holte Genscher seinen ihm langjährig vertrauten und loyalen Kinkel in die Ministerriege um Kanzler Kohl. Genscher wusste, dass Kinkel zur Führung dieses Ressorts mit seiner intensiven Erfahrung als Staatssekretär in der Lage war. Zudem kannte Genscher Kinkel als einen Mann, der zur Intrige nicht fähig war.32 Mit diesem Schachzug gelang es dem FDP-Patriarchen, einen Seiteneinsteiger in die Politik zu holen, dessen Befähigung nicht angezweifelt wurde und der im Grunde genommen schon vorher die politische Auffassung der FDP formuliert und vertreten hatte. Der parteiinternen Machtspielen und Rangeleien fern stehende Schwabe sollte also der Repräsentant einer neuen, sauberen FDP werden. So galt Kinkels Ernennung 1991 zum Bundesminister der Justiz als „operativer Befreiungsschlag“33, dessen weitere Politikkarriere allerdings erst durch eine Intrige richtig gezündet wurde. Nach fast 23 Jahren ununterbrochener Ministerschaft, davon achtzehn im Außenministerium, trat Genscher im Mai 1992 zurück. Um die Nachfolge Genschers als Vizekanzler und Außenminister wurde in der FDP heftig gestritten. Dass Möllemann das Rennen um die Vizekanzlerschaft als Wirtschaftsminister schnell für sich gewonnen hatte, 28
Vgl. Opitz, Olaf/Reitz, Ulrich: Kohls Risiko Kinkel, in: Focus, 21.03.1994. Vgl. Dittberner, Jürgen: Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung, Wiesbaden 2005, S. 81. 30 O.V.: Der Meister der Intrige, in: Manager Magazin, 05.01.2001. 31 Vgl. Noack, Hans-Joachim: „Operativer Befreiungsschlag“, in: Der Spiegel, 01.11.1993. 32 Vgl. Leinemann, Jürgen: „Der brennt für alles“, in: Der Spiegel, 07.06.1993. 33 Noack, Hans-Joachim: „Operativer Befreiungsschlag“, in: Der Spiegel, 01.11.1993. 29
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sorgte für Unmut, wurde aber akzeptiert. Den größeren Wirbel verursachte der Kampf um das Außenministeramt. Trotz des mehrheitlichen Votums des Parteivorstands für Irmgard Schwaetzer setzte sich Kinkel mit der Unterstützung Möllemanns innerhalb der Fraktion durch. Möllemann, dessen Hintergrundaktivitäten ihm von Schwaetzer den Beinamen „intrigantes Schwein“34 eintrugen, hatte einen guten Grund für seine Intrige. Er wollte als Vorsitzender des stärksten Landesverbands in Nordrhein-Westfalen Parteichef werden. Obwohl seine Chancen nicht schlecht standen, schien er Kinkel als Konkurrent zu betrachten. Sein Kalkül lag auf der Hand und schien strategisch durchdacht: Mit der Fraktionsentscheidung für Kinkel als Außenminister sollte eigentlich feststehen, dass der neue Minister beim Parteitag 1993 nicht auch als Kandidat für die Nachfolge des damaligen Parteichefs Graf Lambsdorff antreten kann. Hatte doch Genscher einst die Forderung erhoben, dass der Außenminister nicht auch gleichzeitig Parteichef sein könne, da beide Ämter zusammen zu viel Zeit in Anspruch nehmen würden.35 Das Schicksal spielte den Liberalen einen Streich. Zwar priesen alle Kinkels Glaubwürdigkeit und seine natürliche Art: Er sei ein „erfrischender Anti-Politiker“, lobte Parteivize Irmgard Schwaetzer; „der integere Sympathieträger“, ergänzte Bundesvorstandsmitglied Guido Westerwelle,36 Doch zu dieser Zeit schien eine faire Aufstiegsmöglichkeit mit der FDP nicht gegeben. So verdankte gerade der Mann, der für Sauberkeit und Geradlinigkeit stehen sollte, seinen Aufstieg zunächst einer Intrige Möllemanns. Zugegeben, Kinkel selbst hatte mit der Angelegenheit nichts zu tun, nur erhielt sein Image bereits erste Kratzer, noch bevor er überhaupt erst in eine Position kam, in der seine Seiteneinsteigerschaft nachhaltig negative Auswirkungen entfaltete. „Der Mann brennt für alles“37: Pflicht und Überlastung Dass Seiteneinsteiger mit unterschiedlichem Erfolg auf verschiedenen Ebenen wirken können, wird an der Person Kinkels deutlich. Der Jurist tat sich hervor als fachlich kompetenter und zuverlässiger Minister im Kabinett Kohl und der Schluss liegt nahe, dass sich seine vorherige Berufssozialisation als Gewähr für seine langjährige Tätigkeit als Justiz- und Außenminister deuten lässt. Hingegen erscheinen andere Arenen als gefährlicheres und unsichereres Terrain. Mit Blick auf die im ersten Abschnitt bereits definierte politbiografische Zweigleisigkeit des Schwaben kommt nun eine weitere Komponente hinzu und macht die Person Kinkel hinsichtlich der Definition des Seiteneinsteigertums besonders interessant. So ist der zweite Karriereweg, den es nun zu analysieren gilt, der des Parteipolitikers. Auch wird im Folgenden an Kinkel exemplarisch die These belegt, dass Seiteneinsteiger auf höchster Parteiebene scheitern. Entgegen vieler Vermutungen war Kinkels Beamtenkarriere nicht gleichzeitig eine Parteikarriere, denn er trat der FDP erst 1991 bei, zwei Wochen nachdem er Justizminister geworden war. Bis dahin wollte er, wie er sagte, „als Beamter unabhängig bleiben“38. Der informelle Justizminister Kinkel übernahm 1991 das Amt auch offiziell; zunächst noch 34
Zitiert nach Peter, Joachim: Todessturz eines Politikers, in: Die Welt, 30.06.2007. Vgl. o.V.: FDP-Fraktion begehrt gegen Votum des Parteipräsidiums auf, in: Süddeutsche Zeitung, 29.04.1992. Krumrey, Henning/Opitz, Olaf/Reitz, Ulrich: Ring frei für Kinkel, in: Focus, 08.03.1993. 37 Leinemann, Jürgen: „Der brennt für alles“, in: Der Spiegel, 07.06.1993. 38 Birkenmaier, Werner: Robust und doch sensibel – Kinkel wird 70 Jahre alt, in: Stuttgarter Zeitung, 16.12.2006. 35 36
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ohne Bundestagsmandat, aber mit der für ihn eher unangenehmen Folge, dass er – der Parteineuling – in das Intrigengewirr der FDP geriet. Er, der Typus des Beamtenpolitikers, war den parteitaktischen Anforderungen dabei nicht immer gewachsen. Die Parteioberen bestimmten eher über ihn, als dass er sein Schicksal selbst bestimmte. Dies zeigte sich beispielsweise, als ihn Genscher 1992 nach seinem Rücktritt für das Außenamt rekrutierte. Ebenso beispielhaft vollzog sich sein innerparteilicher Aufstieg: Kaum in die Partei eingetreten und als erfolgreicher Minister sowie erfrischender „Anti-Politiker“ und Hoffnungsträger der Partei von der Presse hofiert, wurde sein Name wie selbstverständlich neben dem Möllemanns und Schwaetzers für den Parteivorsitz gehandelt. Kinkel selbst enthielt sich anfänglich jeglicher Äußerung, war er doch eigentlich zunächst nur der neue unverbrauchte Vertreter der FDP im Bundeskabinett. Erst die Diskreditierung Möllemanns im Zuge der Briefbogenaffäre sowie Schwaetzers im Jahr 1988 schon einmal gescheiterter Versuch Parteivorsitzende zu werden, rissen in die dünnbesetzte Personaldecke der Liberalen große Löcher und spülten Kinkel, der eigentlich mit der Partei selbst noch nicht wirklich viel zu tun hatte, in den Vordergrund. Auf dem genau ein Jahr vor der Bundestagswahl 1994 stattfindenden FDP-Parteitag in Münster ließ sich Kinkel zum neuen Chef der Freien Demokraten wählen. Damit hatte Kinkel innerhalb von nur achtzehn Monaten als schnellster „FDP-Senkrechtstarter“ aller Zeiten die höchsten Ämter erklommen, welche die Partei zu vergeben hatte.39 Er selbst äußerte in Interviews, dass er „sich der Partei gegenüber verpflichtet“ fühle und diesen Posten „daher mit voller Überzeugung antreten“ werde.40 Mit einem Mix aus Vorschusslorbeeren, aber auch kritischen Zwischentönen über seine Person wurde Kinkel in seine neue Aufgabe gehievt und fand sich sogleich in den Niederungen der Parteiwelt wieder. Zunächst schien es, als wären die parteiinternen Machtkämpfe mit der Wahl Kinkels endlich zu Ende gegangen. Ehrlichkeit und Biederkeit kamen offensichtlich an. In der Partei stand Kinkel zwar keinesfalls außerhalb jeder Kritik, im Volk wurde er jedoch akzeptiert. Kinkels Popularität wuchs beträchtlich: 51 Prozent der Deutschen wollten ihn in einer wichtigen Rolle sehen – dies entsprach Rang sieben in der „Promi-Hitliste“ des EmnidInstituts.41 Doch die schwierige Regierungsbildung nach der Bundestagswahl 1994 wurde ständig durch innerparteiliche Querschüsse aus Düsseldorf gestört. Die FDP hatte ein Drittel ihrer Stimmen verloren und Kohl verlangte mehr Ministerien für die Union. Das Ziel der Parteiführung während der Verhandlungen war die Beibehaltung der „klassischen“ Ministerposten, des Äußeren und der Justiz sowie eines aus dem Bereich Wirtschafts- und Finanzpolitik.42 In dieser Situation erhob Möllemann – wie nach der Bundestagswahl 1990 – erneut Anspruch auf das Bildungs- und Forschungsministerium. Auch zur Bundespräsidentenwahl 1994 versuchte Möllemann seine eigenen personellen Vorstellungen durchzusetzen, wurde in beiden Fällen aber durch konsequente Ablehnung vom Parteichef in die Schranken verwiesen. Jedoch war dies der Parteiführung um Kinkel nicht genug. Zusätzlich betrieb sie Möllemann Ablösung vom Vorsitz des nordrhein-westfälischen Landesverbands. In einer Kampfabstimmung wurde auf einem Landessonderparteitag Joachim
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Vgl. Dittberner 2005, S. 83. Krumrey, Henning/Reitz, Ulrich: “Ich will eine Chance”, in: Focus, 07.06.1993. Vgl. Krumrey, Henning: Guter Mann in Not, in: Focus, 19.09.1994. 42 Vgl. Monath, Hans: Neue Bonner Mischung: FDP ohne Basis in den Ländern will sich im Kabinett profilieren, in: die tageszeitung, 18.10.1994. 40 41
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Schultz-Tornau, Kinkels Lieblingskandidat, auf den Posten gewählt.43 Dies verschaffte dem neuen Parteivorsitzenden aber keine Luft, denn das immer noch bestehende MöllemannLager konnte von nun an jede Wahlschlappe dem Bundesvorsitzenden in die Schuhe schieben. Und davon gab es im folgenden Jahr 1995 reichlich. Nicht nur Kinkel selbst beschädigte mit derlei Manövern seinen bis dato in der Öffentlichkeit sorgsam gehüteten Ruf des Saubermannes, sondern wurde darüber hinaus auch noch durch Kritik von seinem einstigen Förderer Genscher unter zusätzlichen Druck gesetzt. Genscher meldete sich nach seinem Rückzug in die zweite Garde nur noch zu Wort, wenn sein „Sprössling“ seiner Meinung nach einen Fauxpas beging. Dieses „zu-WortMelden“ schürte neben einer steigenden Verunsicherung der Basis, bei der Genscher unheimlich populär war, in der Presse diskutierte Vergleiche zwischen Genscher und Kinkel. Häufig reagierte der so verärgerte Parteichef dünnhäutig, was zusätzliche Spekulationen um seine Position nach sich zog. Für Kinkel geriet dies zum Problem: Genscher und auch Graf Lambsdorff hatten ihre Netzwerke beibehalten und organisierten nunmehr die FDP im Hintergrund weiter, hintertrieben damit aber Kinkels Autorität. Zu Anfang des Jahres 1993 war schon spöttisch vom „Aufsichtsrat der FDP“44 die Rede. Die personellen Querelen konnten zudem mit Kinkels Parteivorsitz nicht beendet werden. Zu groß war die Unzufriedenheit in der Parteispitze und an der Basis mit seiner Arbeit, mit seiner Präsenz in der Partei und mit der Wirksamkeit seiner Person. Dem Parteineuling fehlten eben langjährige Seilschaften bis in die Parteiniederungen hinein. Das Fehlen der sogenannten „Ochsentour“ durch die unteren Parteigremien bis hinauf in die Parteispitze machte sich gerade in diesem Punkt verstärkt bemerkbar. Kinkel besaß keine loyalen Vertreter auf den verschiedenen Parteiebenen, kannte die meisten Parteifunktionäre nur vom Papier und hatte infolgedessen auch für deren Begehrlichkeiten und Interessen kein entwickeltes Gespür. Und so fehlten ihm Erfahrungen, Kontakte, Netzwerke. Allerdings stellte sich bald heraus, dass ein Parteivorsitzender über Dergleichen tunlichst verfügen sollte, wenn er in den politischen Rankünen nicht untergehen wollte.45 So wird auch deutlich, mit welchen Anforderungen Kinkel zu kämpfen hatte. Als einzig übriggebliebener Kandidat auf den Parteivorsitz hatten die Delegierten des Parteitags keine Auswahl zwischen unterschiedlichen Konzepten, Visionen oder Charakteren besessen. So kam es, dass an Kinkel alle Hoffnungen und jeglicher Ruf nach Verbesserung aus vielen verschiedenen Ebenen gerichtet wurden. Dabei lechzten die Delegierten vor allem nach einem schärferen Profil und nach einer Abgrenzung gegenüber der Union,46 während die Mitglieder der Bundestagsfraktion und des Parteivorstands hauptsächlich taktische Erwägungen verfolgten und Kinkel mehrheitlich als Notlösung ansahen, mit der primär beim Wähler gepunktet werden sollte.47 Die Aufgabenstellung war somit klar umrissen, aber für eine Person alleine nicht zu bewältigen. Denn der als Vielflieger bekannte und viel beschäftigte Außenminister hatte im Jahr 1993 mit dem ersten Anschlag auf das World Trade Center in New York sowie der russischen Verfassungskrise mit internationalen Auftritten einen vollen Terminkalender. Er saß in Flugzeugen wie Genscher in seinen besten Zeiten: Es ging von Lissabon über New York, nach München nach Prag, Zwischendurch 43
Vgl. Jakobs, Walter: Rückfahrkarte nach Nirgendwo, in: die tageszeitung, 05.12.1994. O.V.: Pullover im Schrank, in: Der Spiegel, 15.02.1993. Vgl. Walter 2005, S. 159. 46 Vgl. o.V.: Ein schicksalhaftes Wahljahr für die Liberalen, in: Berliner Zeitung, 07.01.1994. 47 Vgl. o.V.: „Ich Gurke“, in: Der Spiegel, 17.05.1993. 44 45
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nach Brüssel. In dieser Zeit musste er sich nicht nur durch Aktenberge über afghanische Terroristencamps oder Bosnien wühlen, sondern auch in Fragen der Pflegeversicherung oder exklusiver Treffen seiner Partei auf dem Laufenden halten. Genschers Intention, mit der einst erhobenen Forderung Ministeramt und Parteivorsitz voneinander zu trennen, wurde daher gleich zu Beginn von Kinkels Regentschaft offensichtlich. Die dringend benötigte programmatische Erneuerung schlug aus mehreren Gründen fehl: Einerseits fehlte es dem Parteichef schlicht an Zeit, sich um jeden Kreisverband und um inhaltliche Debatten zu kümmern. Andererseits war die von ihm angebotene Alternative eine von allen politischen Kommentatoren als größter Fehler geoutete. Sein einfaches, aber zeitsparendes Credo war die inhaltliche Bindung an die Union. Zwar versuchte er zunächst mit liberalen Themen wie der Steuerpolitik und der Verteidigung der Bürgerrechte auf Eigenständigkeit der FDP zu setzen, doch verlief diese Taktik schnell im Sande. Der Hauptgrund war seine mangelnde Fähigkeit, Zuhörer rhetorisch zu begeistern. Kinkel galt als schlechter Redner, bei dem kein Funke auf das Publikum übersprang. Niemand war fasziniert, wenn er zum Rundumschlag ausholte. Kinkel bewegte keine Massen, begeisterte kein Publikum, wendete keine Stimmung. Darüber hinaus machte die FDP in erster Linie durch Personaldebatten und der eigentlichen Programmatik gänzlich entgegenstehende Entscheidungen Schlagzeilen.48 Die Angleichung der FDP an die Union war 1994 so weit gediehen, dass die Liberalen auf Plakaten forderten, die FDP zu wählen, damit Kohl Kanzler bliebe.49 Die Basis war unzufrieden, die Partei verlor in der Wählergunst und Personalquerelen taten ihr Übriges. Kurzum: Die FDP kam nicht zur Ruhe und der einstige Hoffnungsträger fand weder Zeit noch Mittel, der Partei zu helfen. Diese angespannte Situation wurde sogar noch überboten. Ein bis heute oft verwendeter Beiname der FDP stammt aus der Ära Kinkel: der vor der Bundestagswahl 1994 von Generalsekretär Werner Hoyer in die Öffentlichkeit gebrachte Slogan „Partei der Besserverdienenden“. Damit verspielte die im Osten Deutschlands eben noch als Partei Genschers bewunderte FDP mit einem Schlag ihr Ansehen. Die FDP unter Kinkel und Hoyer verkannte das ungeheure Potenzial, welches die FDP in den neuen Bundesländern hätte entfalten können. Gerade dort hoffte man nämlich nach der „Wende“ so sehr auf die Marktwirtschaft und die durch die FDP verkörperte Freiheit.50 Doch nicht Kinkel allein sollte als Verursacher all dieses Übels in Regress genommen werden. Sicher, verantwortlich für die Sicht der Öffentlichkeit, die FDP sei eine hörige Unterabteilung der Union, war in erster Linie der Parteivorsitzende. Allerdings ist gerade auch hinsichtlich dieser Rolle der Blick auf die Akteure im Hintergrund nötig, in diesem Fall auf die FDP-Bundestagsfraktion und auf ihren damaligen Fraktionschef Hermann Otto Solms. Die FDP als Partei wurde von ihrer Bundestagsfraktion in eine Nebenrolle geführt. Die auf Parteitagen gefassten Beschlüsse wurden von der Fraktion schlicht ignoriert und somit die Parteimitglieder zu unmündigen Zuschauern degradiert. Der FDP-Fraktionschef Solms agierte zumeist wie ein Adjutant des CDU-Fraktionschefs Wolfgang Schäuble.51 Darüber hinaus kam es auch in Bundesversammlung zur Wahl des Bundespräsidenten 1994 zur erheblichen Abstimmungsschwierigkeiten. Die FDP, die in den Ländern reihum aus den 48 So geschehen bei der Wiedereinführung des Solidaritätszuschlags durch CDU/CSU und FDP im Jahr 1995 und bei den Personaldebatten um Möllemann. 49 Vgl. Dittberner 2005, S. 85. 50 Vgl. ebd., S. 84 51 Vgl. Prantl, Heribert: Eine Partei zerstört sich selbst, in: Süddeutsche Zeitung, 13.12.1994.
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Landtagen flog, nominierte aus der Bedrängnis heraus, Eigenständigkeit zu demonstrieren, Hildegard Hamm-Brücher. Weiblich und linksliberal – so wollte der Parteivorsitzende Kinkel Stimmen aus dem linken Lager holen. Doch der einstige Karrierebeamte kannte Tricks und Fouls des innerparteilichen Spiels nicht und führte eine gänzlich uneinige FDPGruppe in die Versammlung. Jürgen Möllemann, der zu der Zeit noch Vorsitzender des mächtigen nordrhein-westfälischen Landesverbandes war, setzte auf Rau, um eine abermalige Wende hin zur SPD in Düsseldorf und später auch in Bonn einzuleiten. Nach dem zweiten Wahlgang, der ohne die erforderliche absolute Mehrheit für einen der verbliebenen Kandidaten Herzog, Rau und Hamm-Brücher ausging, setzte Kohl Kinkel unter Druck. Er müsse nun seine Kandidatin zurückziehen.52 Hildegard Hamm-Brücher erinnert sich in ihrer Biografie an diesen Vorgang: „Weil dem Bundeskanzler die Sache zu unsicher wurde, wollte er auf Biegen und Brechen die FDP dazu bringen, Herzog zu wählen. Daraufhin brach Klaus Kinkel die Entscheidung für den dritten Wahlgang einfach übers Knie. Das war unglaublich. […] Klaus Kinkel, das musste ich erkennen, verhielt sich im Grunde wie ein braver Beamter. Er war vom Bundeskanzler unter Druck gesetzt worden. Und da sagte er doch tatsächlich: ‚Frau Hamm Brücher, jetzt muss ich ihnen leider mitteilen, dass wir aus Gründen der Koalitionsräson nun Roman Herzog wählen müssen.‘“53 Der Mangel an eigenem Profil zog sich also vom Parteichef bis hinunter in die Fraktion. Einzig die Basis erschien in der Zeit als Korrektiv gegenüber den Parteispitzen. Unter der Decke der FDP brodelte es gewaltig und der aufgestaute Druck entlud sich alsbald. Die Grundsteine für Kinkels innerparteiliche Demontage waren früh gelegt. Auf einem Sonderparteitag im Dezember 1994 in Gera sah sich Kinkel massiver Kritik ausgesetzt.54 Während seines Rechenschaftsberichts gab es Pfiffe, Gelächter und höhnische Zwischenrufe. Der Angegriffene war nicht in einen Parteiflügel oder in eine Gruppierung eingebunden, sodass jede Solidarität fehlte. Die feindselige Stimmung ging Kinkel derart „unter die Haut“, wie er sagte, dass er sogar den Rücktritt erwog. Von Kohl in einem Telefonat „zum Durchhalten animiert“, rang sich Kinkel dazu durch, den Delegierten die Vertrauensfrage zu stellen. „Sie haben mich bei der Verantwortung gepackt“55, äußerte sich Kinkel im typischen Beamtenjargon hinterher. Der Parteitag gewährte ihm diese Vertrauensbekundung mit Zweidrittelmehrheit, was zu viel für einen Rücktritt und zu wenig für eine echte Rückenstärkung war. Im Grunde reichte es nur noch dazu, weiterhin das Amt des Außenministers zu besetzen. „Bis zum nächsten Parteitag im Juni ist Kinkel nur in Agonie“56, bemerkte der Focus. Die Presse läutete seit diesem Parteitag das Sterbeglöckchen der FDP.57 Die Partei hatte unter Kinkel an allen Ecken und Enden an Substanz verloren. Die Liberalen schienen innerhalb kurzer Zeit sämtliche Gründe ihres Daseins verloren zu haben. Als die Partei der Einheit und Freiheit in Ostdeutschland zur Bundestagswahl 1990 noch gefeiert und mit einem Rekordwahlergebnis von elf Prozent in den Bundestag eingezogen, hatte sie diesen Titel an die CDU, vor allem aber an die Person Helmut Kohl verloren. Diese durch ständige 52
Vgl. Sattar, Majid: Testgelände für politische Experimente, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.05.2008. Hamm-Brücher, Hildegard/Maischberger, Sandra: Ich bin so frei, Düsseldorf 2003, S. 30 f. Vgl. Leuschner, Udo: Die Geschichte der FDP. Metamorphosen einer Partei zwischen rechts, sozialliberal und neokonservativ, Münster 2005, S. 248 f.; Lösche/Walter 1996, S. 156. 55 Krumrey, Henning/Reitz, Ulrich: Tanz auf der Titanic, in: Focus, 19.12.1994. 56 Ebd. 57 Vgl. Walter, Franz: Mixtur aus Baldrian und Johanneskraut, in: Spiegel Online, 05.08.2007, http://www.spiegel. de/politik/deutschland/0,1518,497997,00.html [eingesehen am 18.06.2008]. 53 54
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Personaldebatten und Intrigen bewirkte Zerstörung des jahrzehntelang gepflegten Images der natürlichen Regierungspartei mit der nötigen Korrektivfunktion ließ die FDP plötzlich als regierungsunfähig dastehen. Schlimmer noch wog der Verlust des angestammten dritten Platzes bei der Bundestagswahl 1994 in der Rangliste hinter den Volksparteien. Plötzlich war die FDP mit 6,9 Prozent hinter Bündnis90/Die Grünen nur noch die viertstärkste Kraft. Nun waren aber gerade für die FDP Parlamentszugehörigkeit und Regierungsbeteiligung die entscheidenden Ressourcen. Ohne diese Grundlagen schien die Partei lebensunfähig. Als primäre Aufgabe eines FDP-Parteivorsitzenden galten daher gute und somit lebenserhaltende Wahlergebnisse. Schon vor dem Geraer Parteitag im Dezember 1994 war der Partei indes klar, dass diese Voraussetzungen mit Kinkel nicht zu schaffen wären. „Kinkel, das zeigte sich rasch, hatte nichts von dem, was man von einem starken Parteivorsitzenden, von einem politischen Anführer erwartete. Es mangelte ihm an Sicherheit und Souveränität im öffentlichen Auftritt, an politischem Instinkt und konzeptioneller Imagination, an demonstrativer Durchsetzungskraft und Härte.“58 Auf eine Reihe von nicht weniger als dreizehn Wahlniederlagen in Folge – besonders schwer wog die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, bei der die FDP aus dem Landtag flog – kündigte Klaus Kinkel im Mai 1995 seinen nicht mehr überraschenden Rücktritt vom Parteivorsitz an. Auf dem Bundesparteitag von Mainz im gleichen Jahr wurde Wolfgang Gerhardt zu seinem Nachfolger gewählt. Kinkels innerparteiliche „Ära“ war zu diesem Zeitpunkt beendet. Kein anderer FDP-Vorsitzender war damit so kurz im Amt geblieben,59 wie der Schwabe. Ausgebrannt zog sich Kinkel in den Folgejahren aus der aktiven Parteipolitik zurück und blieb bis 1998 das, was er mit seinem „Background“ am Besten konnte: Bundesminister.
Fazit Im Jahr 2002 wurde Klaus Kinkel aus dem Deutschen Bundestag verabschiedet. Er hatte sich nach fast zwölf Jahren aktiver Parlamentsarbeit nicht zur Wiederwahl in seinem Wahlkreis aufstellen lassen. So einfach aufhören, wie in der Überschrift zitiert, konnte er offenbar nicht. Pflichtgefühl, Fleiß und Loyalität bewogen ihn gerade während widrigster Umstände seine kräfteraubenden Ämter und Tätigkeiten nicht sofort und jederzeit aufzugeben. Obwohl er die turbulenten 1990er Jahre als Minister und Parteivorsitzender maßgeblich mitgestaltet hatte, fühlte sich Kinkel in einem Abschiedsinterview weiterhin eher als „Seiteneinsteiger“ der Politik. Die längste Zeit seines Berufslebens sei er Beamter gewesen: „Ich bin wohl der einzige Minister, der sämtliche Beamtenurkunden, die es nur gibt, besitzt“60, gab er zu Protokoll. Seine Politikkarriere ist unter zwei Gesichtspunkten zu bewerten: einerseits als gescheiterter Parteipolitiker und andererseits als erfolgreicher Minister. In beiden Karrieren startete er als liberaler Hoffnungsträger und als Mann der Zukunft. In der Partei scheiterte Kinkel an den Umständen, denen er nicht habhaft werden konnte, die allerdings schon 58
Ders. 2005, S. 160. Freilich mit Ausnahme von Theodor Heuss, der ein Jahr nach seiner Wahl zum FDP-Parteivorsitzenden zum Bundespräsidenten gewählt wurde. 60 Zitiert nach Petersen, Sönke: Jeder Dritte kommt nicht wieder, in: Blickpunkt 07/2002, http://www.bundestag. de/bp/2002/bp0207/0207007a.html [eingesehen am 20.06.2008]. 59
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vorher wie ein Schatten auf der Kandidatur lagen. Die aufgrund von Personalentscheidungen und Ämterverteilung zerstrittene Partei besaß kein eigenständiges Profil gegenüber der Union. Sie war vollständig zur Mehrheitsbeschafferin geworden und ließ eine eigene Programmatik vermissen. Nach den Superwahljahren 1994 und 1995 hielt die Partei schließlich über ihm das unvergessene „Scherbengericht“ in Gera ab. Das Problem war, dass die bis dahin unter der Decke gehaltenen Probleme ans Tageslicht traten, weil der unerfahrene und zu häufig abwesende Kinkel keine Chance hatte, sie innerparteilich zu lösen. Es entstand eine schier unaufhaltsame Abwärtsspirale, die sich in permanent negativer Medienberichterstattung, schlechten Wahl- und Umfrageergebnissen sowie innerparteilichen Konfliktsituationen widerspiegelte. Kurzum: Kinkel hatte als Seiteneinsteiger in der Partei keinen wirklichen Anfangserfolg zu verzeichnen gehabt. Er blieb eine Notlösung mit der Hoffnung auf automatische Besserung der Verhältnisse. Zur Bewertung des Seiteneinsteigers als Minister lässt sich an Kinkels häufig geäußerten Wunsch zur Frage, was in den Geschichtsbüchern über ihn geschrieben werden sollte, anknüpfen. So würde er es begrüßen, „wenn da mal drinsteht, der war Justizminister, der war BND-Chef, der war Außenminister in der und der Zeit, der hat das und das mitgestaltet und hat sich Mühe gegeben seine Ämter auszufüllen“61. Was die Bewertung des Seiteneinsteigers Kinkel betrifft, so waren die Tätigkeit in der Außenpolitik und sein langjähriger Verbleib im Amt des Außenministers den Vorkenntnissen aus seiner Beamtenzeit sowie dem Rückhalt durch den Bundeskanzler geschuldet. Kinkel hat den Spagat zwischen dem was er konnte – ein Ministerium zu führen, Fingerspitzengefühl in langen Verhandlungsrunden und mit besonderem Fleiß ein Informationsvorsprung zu besitzen – und dem was er nicht konnte – die Führung einer ihm fast unbekannten Partei durch rednerisches Geschick, taktisches innerparteiliches Geplänkel sowie den Umbruch beziehungsweise die Profilierung einer eigenständigen Partei im neuen politischen Deutschland – schlichtweg nie hinbekommen. Die Mutation vom Beamten zum allseits anerkannten und mit allen Wassern gewaschenen Politiker gelang dem Seiteneinsteiger Kinkel letztlich nicht.
61 Münchler, Günter: Vom Beamten zum Politiker – Zeitzeugen im Gespräch: Klaus Kinkel, in: Deutschlandfunk, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/zeitzeugen/750293/ [eingesehen am 18.06.2008].
Karl Lauterbach – die „rollende Kanonenkugel“ Christian Teevs
Der Mann mit der Fliege ist ein Exot in der bundesdeutschen Politikerlandschaft. Seine politische Karriere nahm in den letzten Jahren eine erstaunliche Entwicklung. Vom Berater der rot-grünen Bundesregierung ist er seit seinem Einzug in den Bundestag 2005 zu einem der schärfsten Kritiker der Großen Koalition geworden. Von den Medien seit jeher gerne befragt und zitiert, ist er für die Parteiführung der SPD zum Störenfried und Ärgernis geworden. Spätestens seit seiner scharfen Kritik an der Gesundheitsreform 2006 gehört Karl Lauterbach zu den unbeliebtesten Abgeordneten seiner Fraktion – aber auch zu den spannendsten. Wie kam es dazu, dass der C4-Professor für Gesundheitsökonomie sein eigenes Institut hinter sich ließ und sich um ein Bundestagsmandat bewarb? Die biografischen und strukturellen Hintergründe dieses Seiteneinstiegs werden geschildert und analysiert. Welche Rolle spielte seine Förderin Ulla Schmidt, wie haben die inner- und außerparteilichen Konstellationen Lauterbachs Einstieg beeinflusst? Und schließlich: Wie hat Lauterbach selbst sich verändert? Ist er zu einem jener Berufspolitiker geworden, die er stets kritisierte? Häufig zu lesen ist über den 1963 geborenen Dürener, seine Zeit in den USA habe ihn entscheidend geprägt. Lauterbach hat in Texas und in Harvard studiert und gelehrt. Dort will er erfahren haben, dass sich Wissenschaftler nicht aus dem parteipolitischen Wettbewerb heraushalten können, wenn sie ihre Interessen durchsetzen wollen. Was heißt das konkret? Lauterbach hat sich schon lange vor seinem Einzug in den Bundestag parteipolitisch engagiert. Er war nicht nur Berater von Ulla Schmidt, weist dieses Wort gar energisch von sich. Er sehe sich vielmehr als Teil eines Netzwerks von politisch ähnlich denkenden Menschen.1 Dieses „networking“ von Wissenschaftlern mit Politkern gilt unter deutschen Wissenschaftlern als verpönt. Wer herausragende Forschung betreibe, werde von der Politik schon automatisch unterstützt, hoffen die hiesigen Forscher in ihren Elfenbeintürmen. Als Lauterbach 1995 aber aus Harvard zurück nach Deutschland kam, war es für ihn schlicht normal, engen Kontakt zur Politik zu suchen. Er hatte dies an der amerikanischen Elite-Universität ebenso kennen gelernt und hielt es für richtig. Bereits vor dem Regierungswechsel 1998 stand er in ständigem Kontakt zu Ulla Schmidt, der späteren Gesundheitsministerin. Sie telefonierten mehrmals täglich und trafen sich regelmäßig.2 Schmidts Vorgängerin, die Grüne Andrea Fischer, berief Lauterbach 1999 in den Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen. Als Gerhard Schröder Fischer 2001 entließ und Ulla Schmidt an ihre Stelle setzte, stieg auch Lauterbach auf als einer der engsten Vertrauten der neuen Gesundheitsministerin. Was hat Lauterbach konkret in Harvard gelernt, das ihn so geprägt hat und seine spätere politische Karriere beeinflusste? Neben dem Handwerk als Gesundheitsökonom, das ihn zu einem der gefragtesten Experten in Zeiten der immer wiederkehrenden Gesundheitsre1 2
Vgl. Hackenbroch, Veronika: Der Einflüsterer, in: Der Spiegel, 29.03.2004. Vgl. ebd.
Karl Lauterbach – die „rollende Kanonenkugel“
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formen machte,3 lernte Lauterbach, wie wichtig Kontakte zu machtvollen Multiplikatoren sind. Journalistische Beobachter brachten es zugespitzt auf die Formel: Lauterbach habe in Harvard erfahren, dass „Politiknähe und steile Thesen das beste Mittel (seien), um in der Öffentlichkeit aufzufallen“4. Ein für Seiteneinsteiger häufiges Phänomen – das Überlegenheitsgefühl gegenüber anderen – tritt auch beim Sozialdemokraten Lauterbach offen zu Tage. Gerne lässt er seine Gegner dies spüren, wenn er von seinen über vierhundert wissenschaftlichen Veröffentlichungen spricht, seinen beiden Doktortiteln oder seiner Gastprofessur in Harvard. Er habe mehr publiziert als der gesammelte Rest des Sachverständigenrats, sagte er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung 2004. Und als 35-Jährigen hätten ihn bereits drei C4-Rufe ereilt.5 Natürlich nervt eine solch selbstgefällige Attitüde Parteikollegen wie politische Gegner.6 Aber es ist nicht nur das: Lauterbach, der sich selbst nicht als gewöhnlichen Professor, sondern als „Political Animal“7 bezeichnet, profitiert einerseits von seiner Sonderrolle – als über dem politischen System stehender Experte. Anderseits ist er dadurch auch nicht vollständig in das Netz von Gefälligkeiten und gegenseitiger Unterstützung in Partei und Fraktion integriert. Erst 2001 trat er in die SPD ein, in seiner Fraktion gilt er als Neuling und Außenseiter. „Sein größter Fehler ist wohl, dass er so brillant ist – und es weiß“8, schrieb im Jahre 1970 die Frankfurter Rundschau – über den FDP-Seiteneinsteiger Ralf Dahrendorf. Dieses Urteil lässt sich in weiten Teilen auf Lauterbach übertragen. Bei allen intellektuellen und analytischen Stärken fehlt es dem Wissenschaftler am Handwerkszeug eines Politikers. Er ist ungeduldig, kann keine Kritik vertragen und gilt als nicht kompromissfähig.9 Lauterbach ist in seiner Partei weder beliebt noch kümmert er sich groß um sie. Einzig 2005 musste er die eingespielte Wahlkampf-Maschinerie der Partei in Anspruch nehmen, um seinen Wahlkreis Leverkusen/Köln Mülheim zu gewinnen. Ansonsten spielt die SPD in seinem politischen Wirken keine bedeutsame Rolle. Als „begnadetste Ich-AG des Bundestages“10 bezeichnen ihn feindlich gestimmte Genossen. Er begreife das Wesen von Kompromissen, Machtproporz und Fraktionsdisziplin nicht, klagen sie.11 Zu bedenken gilt es dabei wieder die amerikanische Prägung von Lauterbach. In den USA spielen Parteien eine wesentlich geringere Rolle im politischen Willensbildungsprozess als in Deutschland. Als häufig befragter und deutschlandweit gehörter Experte scheint Lauterbach nicht in der Lage oder willens zu sein, sich in der oft aus diffusen Abhängigkeiten bestehenden Parteihierarchie einen Platz zu suchen. Er war schließlich schon an Regierungshandeln beteiligt, ohne je eine Ortsvereinssitzung besucht zu haben. So sagte er 2004 einmal, er lobe abends politische Initiativen der Gesundheitsministerin, die er morgens entscheidend auf den Weg gebracht habe. Dass seine Rolle sich allerdings geändert und er als einfacher Abgeordneter im Bundestag weniger Einflussmöglichkeiten haben könnte, scheint für ihn nicht im Rahmen des Vorstellbaren zu sein. 3 Dies ergab eine Studie der Wochenzeitung Die Zeit über die „Quotenkönige der Wissenschaft“; Spiewak, Martin: Die Sendungsbewussten, in: Die Zeit, 08.12.2005. 4 Ebd. 5 Vgl. Meck, Georg: „Haarscharf entlang der Wahrheit“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.06.2006. 6 Vgl. Viering, Jonas: Der Rechthaber, in: Cicero, H. 8/2006, S. 70 f., hier S. 70. 7 Hoffmann, Andreas: Der Herr Professor aus Köln, in: Süddeutsche Zeitung, 23.09.2005. 8 Zitiert nach Baring, Arnulf: Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982, S. 294. 9 Vgl. Thiede, Ulla: Das Porträt: Karl Lauterbach, in: Bonner General-Anzeiger, 11.08.2006. 10 Viering 2006, S. 70. 11 Vgl. ebd.
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Aufstieg im Raumschiff Berlin Lauterbach bringt trotz fehlender Ochsentour – und daraus resultierender Verankerung in der Partei – viele Eigenschaften mit für eine erfolgversprechende politische Karriere.12 Er verfügt über intensive Kontakte zu Journalisten, ist psychisch wie physisch extrem belastbar und kann sich schnell auf neue Situationen einstellen. Wichtig jedoch vor allem: Er ist extrem ehrgeizig und zeigt keinerlei Selbstzweifel. Eine Eigenschaft, die unter Wissenschaftlern häufig zu finden ist, ja für ihre Profession eine schier unabdingbare Voraussetzung bildet, geht dem Kölner Professor scheinbar völlig ab. Im Unterschied zu vielen Kollegen strotzt er jederzeit vor Selbstvertrauen und Glauben in die eigene Überlegenheit. Ein Beispiel: Als Lauterbach Mitte März 2008 Gast in der ARD-Talkshow „Hart aber fair“ war, erntete er am Ende der Sendung emphatisches Lob einer siebzehnjährigen Schülersprecherin aus Bayern. Thema der Sendung war die Bildungspolitik. Auf die Frage, wen sie sich aus der Talkrunde als Lehrer für ihre zukünftigen Kinder wünsche, sagte die Schülerin: „Den Herrn Lauterbach, damit er ihnen soziale Gerechtigkeit näherbringt.“ Lauterbach wirkte wenig überrascht und antwortete, dann wünsche er seinen Kindern die Bayerin als Lehrerin, denn „was sie da gesagt hat, ist ein Beweis ihrer Klugheit“13. Schon vor seinem Einzug in den Bundestag 2005 war Lauterbach eher tatendurstiger Politiker als skeptischer Wissenschaftler. Wie äußerte sich das? Seine akademischen Lehrer in Harvard seien Vorbilder für ihn gewesen, erzählt er gerne. Für diese war eine enge Verknüpfung mit der politischen Elite selbstverständlich.14 Lauterbach beobachtete die Mechanismen der Macht genau – und lernte. Wie lässt sich eigene Forschung in konkretes Regierungshandeln umsetzen, wie die öffentliche Aufmerksamkeit auf eigene Expertisen lenken? Die wichtigste Lehre für Lauterbach: die große Bedeutung von Förderern und Netzwerken. Ohne konkrete Verbindungen in die Zentren der Macht war jede noch so kluge und zukunftsweisende Forschung wenig wert, erkannte der mittlerweile promovierte Gesundheitsökonom. So suchte er bald nach seiner Rückkehr aus den USA den Kontakt zur späteren Gesundheitsministerin Ulla Schmidt. Lauterbachs politische Karriere ist eng mit dem Aufstieg der Aachenerin verknüpft. Wie Schmidt stammt auch Lauterbach aus einfachen Verhältnissen und schaffte durch die Bildungsexpansion der 1970er Jahre den gesellschaftlichen Aufstieg. Das Scheidungskind Schmidt schaffte den Sprung aus dem sozialen Wohnungsbau und wurde Lehrerin,15 Lauterbach entstammt einer Arbeiterfamilie und brachte es zum Direktor eines eigenen Instituts für Gesundheitsökonomie an der Universität Köln.16 Welche Rolle spielte nun Schmidt für den Wechsel Lauterbachs in die Politik? Als sie 2001 das Ministerium für Gesundheit von Andrea Fischer übernahm, traute ihr die Mehrheit der Bevölkerung nur wenig zu. So antworteten im Rahmen einer Spiegel-Umfrage 78 Prozent der Befragten mit „Nein“ auf die Frage, ob Ulla Schmidt in der Lage sei, bis 2002 die stei-
12 Zu den Anforderungen an Politiker vgl. Wiesendahl, Elmar: Zum Tätigkeits- und Anforderungsprofil von Politikern, in: Brink, Stefan/Wolf, Heinrich A. (Hrsg.): Gemeinwohl und Verantwortung. Festschrift für Hans Herbert von Arnim zum 65. Geburtstag, Berlin 2004, S. 167-188. 13 ARD-Talk „Hart aber fair“ am 12.03.2008, Thema der Sendung: „Eltern in Aufruhr – gibt es gute Schulen nur für Reiche?“. 14 Vgl. Hackenbroch, Veronika: Der Einflüsterer, in: Der Spiegel, 29.03.2004. 15 Vgl. Emundts, Corinna: Ulla und die Kommunisten, in: Cicero, H. 4/2006, S. 75 ff., hier S. 75. 16 Vgl. Schmidt, Rainer: Ständiger Kampf gegen Zwei-Klassen-Medizin, in: Kölner Stadt-Anzeiger, 09.09.2005.
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genden Kosten im Gesundheitswesen in den Griff zu bekommen.17 Zudem konnten 34 Prozent der Befragten mit ihrem Namen überhaupt nichts anfangen. Und das, nachdem sie bereits ein knappes Jahr im Amt war. Nicht nur der politische Gegner („Fehlbesetzung“), auch die von drei Jahren Rot-Grün enttäuschte Hauptstadtpresse begegnete ihr mit offenem Misstrauen.18 Doch trotz allem hielt sich die bis heute umstrittene Ministerin im Amt. Inzwischen ist sie nach Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul das am längsten amtierende Mitglied der Bundesregierung. Seit über sieben Jahren steht Schmidt an der Spitze ihres Ministeriums und hat auch den Wechsel von der rot-grünen zur Großen Koalition politisch überlebt. Beteiligt an diesem nachweislichen Erfolg war nicht zuletzt Karl Lauterbach. Der Gesundheitsökonom beriet Schmidt von Beginn ihrer Amtszeit bis zu seinem Einzug in den Bundestag. Und wurde im Gegenzug von ihr zu den internen Zirkeln der Schröderschen Regierung vorgelassen. Schmidt galt zumindest bis 2004 noch als Kanzler-Getreue. Lauterbachs Expertise diente ihr dabei für die wissenschaftliche Unterfütterung – aber auch und vor allem zur Legitimation ihrer Politik. Zwar saß der Akademiker bereits seit 1999 im entsprechenden Expertengremium.19 Doch erst mit Schmidts Amtsantritt wurde ihm eine breite Aufmerksamkeit zuteil. Er wurde mehr und mehr zum gefragten Ansprechpartner für Fachjournalisten und entwickelte im „Raumschiff Berlin“ ein eigenständiges Profil. Deutlich wurde sein wachsender Einfluss auch an den rasant zunehmenden Missfallenskundgebungen von Ärzte- und Pharmaverbänden. Er unterstellte den Ärzten zu schlechte Leistungen und warf ihnen die Beförderung der Zwei-Klassen-Medizin vor.20 So wurde er zum Feindbild der Ärzte- und Pharmalobbyisten und war denen bald verhasster als Schmidt selber. Mit zahlreichen Artikeln und Initiativen versuchten die Ärzteverbände denn auch das öffentliche Bild vom unabhängigen, seriösen Wissenschaftler zu zerstören.21 Doch gelungen ist das nicht. Karl Lauterbach stieg – auch und vor allem dank der Schmidtschen Förderung – zu einem der medienwirksamsten Experten der Republik auf. Im weiten Feld der Weiterentwicklung der sozialen Sicherungssysteme erreichten in den Jahren 2000 bis 2005 nur Bert Rürup und Hans-Werner Sinn eine höhere TV-Präsenz.22 Die Förderung durch Schmidt beruhte tatsächlich auf Gegenseitigkeit: Sie nutzte seine Kontakte in die wissenschaftlichen Zirkel der Gesundheitsökonomie, er profitierte von ihrem kurzen Draht zu Lobbyisten und Fachpolitikern der SPD. So gehörte Lauterbach bis 2005 zu Schmidts engstem Führungskreis. Neben ihm dabei: Klaus Vater, Pressesprecher und Strippenzieher im Hintergrund, Büroleiter Ulrich Tilly, Ex-AOK-Funktionär Franz Knieps und Staatssekretärin Marion Caspers-Merk.23 Lauterbach spielte dabei die Rolle des „Strebers“, der „für jedes Problem die Studie kennt“.24 Doch nicht nur das: Er verkörperte 17
Vgl. o.V.: Vernichtendes Urteil (Kasten „Nachgefragt“ auf S. 20), in: Der Spiegel, 10.12.2001. Vgl. unter anderem Hoffmann, Andreas: Eine Handwerkerin der Macht, in: Süddeutsche Zeitung, 26.08.2003; Conrad, Annett u.a.: „Verdammt nicht einfach“, in: Der Spiegel, 21.10.2002. 19 Dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen. 20 Vgl. dazu auch Lauterbach, Karl: Der Zweiklassenstaat. Wie die Privilegierten Deutschland ruinieren, Berlin 2007. 21 Vgl. unter anderem Krüger, Anja: Karl Lauterbach auf der Suche nach Volkes Stimme, in: Die Ärzte-Zeitung, 07.09.2005; o.V.: Zweifelhafte Ehrung für Karl Lauterbach, in: Die Ärzte-Zeitung, 16.12.2005; Guzek, Bernd: Das System des Karl Lauterbach. Unabhängiger Wissenschaftler oder gut getarnter Lobbyist?, in: Sonderdruck aus durchblick gesundheit, H. 1/2006. 22 Vgl. Spiewak, Martin: Die Sendungsbewussten, in: Die Zeit, 08.12.2005. 23 Vgl. Hoffmann, Andreas: Eine Handwerkerin der Macht, in: Süddeutsche Zeitung, 26.08.2003. 24 Ebd. 18
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für Schmidt auch das Analytische, Fundierte und wissenschaftlich Sinnvolle ihrer Politik. Mit seinem linkischen Auftreten, der ungewöhnlichen Fliege – die er zu seinem Markenzeichen machte – und dem leicht quäkenden rheinischen Singsang wirkt er auf journalistische Beobachter zwar häufig ein bisschen nervig, aber auch – und das ist für Schmidt entscheidend – vergleichsweise kompetent. Dabei hatte Lauterbach keineswegs großen Erfolg mit seinen Ideen. Das Konzept der Bürgerversicherung etwa, das er mitentwickelt hatte, scheiterte in der Rürup-Kommission an ihrem Namensgeber. Lauterbachs Gegenspieler hatte für die in der CDU favorisierte Kopfpauschale plädiert. Am Ende gab es ein Patt.25 Doch dadurch fühlte sich der „homo politicus“, wie er sich selbst stolz nennt, erst recht herausgefordert. Schon bevor Schröder und Müntefering im Mai 2005 Neuwahlen ausriefen, hatte Lauterbach sich für den Schritt zum Berufspolitiker entschieden: Er kandidierte für den Bundestag. Zwar ist der genaue Zeitpunkt des Seiteneinstiegs schwierig zu benennen, da er zuvor schon mehr als Gesundheitsexperte der SPD denn als außenstehender Wissenschaftler wahrgenommen wurde. Dennoch wurde erst im September 2005 aus dem Universitätsprofessor und Direktor eines eigenen Instituts der Bundestagsabgeordnete Lauterbach.
Lautsprecher Lauterbach im Bundestag Als Abgeordneter ist er Teil einer neuen, politischen Elite. Seit Ende der 1990er Jahre hat sich die Zusammensetzung der deutschen Parlamente offenkundig verändert. Erreichten bis dahin zumeist langjährige Parteimitglieder ein Mandat auf Bundes- oder Länderebene, sind inzwischen vermehrt neue Karrieren zu beobachten. So hat sich etwa der Anteil der jungen Abgeordneten im aktuellen Bundestag mehr als verdoppelt.26 Die „gate keeper“ in den Parteien, die für die innerparteiliche Elitenrekrutierung verantwortlich sind, setzen vermehrt auf neue Hoffnungsträger. Ein Umdenken hat stattgefunden, das es auch Seiteneinsteigern vermehrt ermöglicht, für Bundestag und Landtage zu kandidieren – was ehemals vor allem langjährigen, etablierten Parteifunktionären und Kommunalpolitikern vorbehalten war.27 Diese neue Konstellation nutzte Lauterbach 2005. Von seiner bundesweiten Bekanntheit wollte auch die SPD im Wahlkreis Köln-Mülheim/Leverkusen profitieren. Eigentlich verortet in einer klassischen SPD-Hochburg, mussten die rheinischen Genossen aufgrund der allgemein wenig erfolgversprechenden Wahlaussichten um ihr Bundestagsmandat bangen. Bei der Landtagswahl im Mai hatten die Leverkusener sechs Prozentpunkte verloren – und nicht verhindern können, dass die CDU-Kandidatin Ursula Monheim ihnen das Direktmandat entwendete. Dies sollte sich bei der vorgezogenen Bundestagswahl nicht wiederholen. Deshalb setzten die rheinischen Genossen ihre Hoffnungen auf den Seiteneinsteiger Lauterbach.28 Und wurden belohnt: Mit über 49 Prozent der Erststimmen sicherte sich 25
Vgl. Thiede, Ulla: Das Porträt: Karl Lauterbach, in: Bonner General-Anzeiger, 11.08.2006. In dem 16. Deutschen Bundestag sind aktuell 58 von insgesamt 614 MdBs, die beim Einzug jünger als 35 Jahre waren (9,5 Prozent), im 13. waren es nur dreißig von 672 (4,5 Prozent); vgl.: www.bundestag.de/mdb/mdb_ zahlen/altersgliederung.html [eingesehen am 17.03.2008]. 27 Vgl. Patzelt, Werner J.: Parlamentarische Rekrutierung und Sozialisation. Normative Erwägungen, empirische Befunde und praktische Empfehlungen, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 46 (1999) H. 1, S. 246-272, hier S. 249 f.; Golsch, Lutz: Die politische Klasse im Parlament. Politische Professionalisierung von Hinterbänklern im Deutschen Bundestag, Göttingen 1998, S. 107 ff. 28 Vgl. Stern, Erhard: Wahlkampf als Selbstversuch, in: Die Rheinpfalz, 06.09.2005. 26
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der Gesundheitsexperte souverän das Direktmandat. Auffällig vor allem: Lauterbach holte fast acht Prozent mehr Erst- als Zweitstimmen (41,3 Prozent). Dabei war die örtliche Partei zunächst eher unsicher, wie offensiv man seine akademischen Weihen vermarkten solle. Befürchtet wurde eine Abneigung gegen einen zu elitären Kandidaten. Letztlich entschied sich der lokale Parteichef Karl Heinz Frebel aber doch dafür, den Professorentitel zu plakatieren.29 Trotz vor allem strategischer Gründe der Leverkusener für die Kandidatur Lauterbachs – der Gesundheitsexperte zeigte im Wahlkampf eine für Seiteneinsteiger ungewöhnliche Begeisterung. Das monotone, redundante Werben um Wähler war ihm keineswegs zuwider. Im Gegenteil: Lauterbach entwickelte im Sommer 2005 eine Leidenschaft für seine Kandidatur, die doch eigentlich den „Großkopferten“ der Politik vorbehalten war. Für Alphatiere wie Schröder, Fischer oder auch Koch war Wahlkampf stets die Königsdisziplin der Politik. Hier ist weder Abwägen noch Verhandeln gefragt, sondern Aggressivität und individuelle Stärke. Doch auch der linkische, oft zerstreut erscheinende Lauterbach steigerte sich in eine Kampfeslaune, die er dabei aber – dann doch geprägt vom akademischen Geist – unaufhörlich analysierte. „Ground war beats airwar“30, dozierte er etwa gegenüber der Wochenzeitung Die Zeit. Übersetzt war das keine wirklich neue Erkenntnis für erfolgversprechende Wahlkämpfe. Wichtiger als hochtrabende Reden auf Veranstaltungen, wo ohnehin nur Genossen aufliefen, seien Hausbesuche, Infostände und direkte Konfrontationen mit dem politischen Gegner, erklärte Lauterbach. Man müsse einen Wahlkreis Häuserblock für Häuserblock erobern.31 Wahlkampf sei für ihn „wie ein Schachspiel“ und eine „spannende Anwendung der Kommunikationstheorie“, diktierte er den durchaus faszinierten Journalisten in den Block.32 Für jene war es ja tatsächlich eine spannende Geschichte: Da bricht ein Wissenschaftler aus der heimeligen Sicherheit seines Elfenbeinturmes aus und wirft sich in eine Schlacht um Wählerstimmen, deren Ausgang er nicht abschätzen kann. Er übernimmt nicht einfach ein Ministerium, sondern bewirbt sich schlicht um ein Mandat. Viele Kollegen aus dem akademischen Milieu, erklärte Lauterbach vorgeblich verständnisvoll, hätten große Scheu vor „dieser schmutzigen Sphäre“33, dem innerparteilichen Kampf gegen missgünstige Genossen und dem stets drohenden Streit mit der Parteiführung. Auch er habe sich manchmal wie im falschen Film gefühlt. So etwa bei einem Schützenfest in Hitdorf, wo das traditionelle „Hähneköpfen“ zelebriert wurde. Dabei stolperten betrunkene Männer mit verbundenen Augen über die Bühne und versuchten herumirrende Hähne mit einem Säbel zu köpfen. Dieser „Rausch aus Blut und Brutalität“34 habe ihn schockiert, sagte Lauterbach. Verständnis für einen derart archaischen Brauch habe er den Hitdorfern nicht vorgaukeln können. Doch bis auf Ausnahmen wie diese zeigte er sich fasziniert vom Wahlkampf. Und natürlich von seiner Rolle als politischer Exot, die ihm noch einmal eine ganz andere Öffentlichkeit bescherte als zuvor die reine Expertenrolle unter Ulla Schmidt. Wenn man so will, hat Lauterbach sich von seiner Mentorin emanzipiert. Er hat festgestellt, dass es ihm noch mehr Spaß macht, für und über sich selber zu sprechen als über die Politik einer Ministerin, 29
Vgl. ebd. Vgl. Niejahr, Elisabeth, Ein Professor im Häuserkampf, in: Die Zeit, 04.08.2005. 31 Vgl. ebd. 32 Rosenfelder, Andreas: Machen Sie’s kurz, Professorchen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.08.2005. 33 Ebd. 34 Ebd. 30
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deren Erfolge ihm kaum einmal gutgeschrieben wurden. Und so profiliert er sich seit seiner Ankunft im Bundestag auch als Einzelkämpfer, der seine Meinung gerne und laut zum Besten gibt – auch wenn er damit diametral zu Partei- oder Regierungslinie liegt. Nein, Fraktions- und Parteidisziplin sind wirklich nicht sein Ding. Spöttisch, fast verächtlich spricht er über Kleingeister in seiner Fraktion, die sich jedem Druck von Struck und Müntefering beugen. Das ist in seinen Augen ein „Duckmäusertum“35, eine Selbstbeschneidung der Parlamentarier. Große Kritik übte Lauterbach vor allem an der Gesundheitsreform der Großen Koalition. Die Lobbygruppen hätten sich am Ende durchgesetzt, Verlierer seien die Versicherten, klagte er in unzähligen Interviews.36 Eine solch aggressive Oppositionshaltung würde von einer Regierungspartei allerdings kaum toleriert werden, wären die Mehrheiten nicht so komfortabel wie bei einer Großen Koalition. Letztlich ist es für den Fraktionsvorsitzenden Struck zwar nicht angenehm, dass da permanent einer aus der Reihe tanzt und Mehrheitsentscheidungen nicht mitträgt. Er kann es aber verkraften, da SPD und CDU gemeinsam auf 445 von 612 Abgeordneten kommen. So bietet eine Große Koalition stets genügend Raum für Abweichler, Egomanen und Querdenker. Ein Fraktionsvorsitzender muss lediglich darauf achten, dass die Stimmung in seinem Laden nicht umschlägt und die Fraktion keinerlei Geschlossenheit mehr zeigt. Schließlich stehen Einzelgänger wie Lauterbach permanent im Fokus der Öffentlichkeit, während die loyalen Hinterbänkler ein tristes Leben fern von Illner, Will oder Plasberg führen. Das kann zweifelsohne zu Unzufriedenheit führen. Dann nämlich, wenn diszipliniert agierende Abgeordnete in ihren Wahlkreisen ständig zu hören bekommen: „Du bist ja überhaupt nicht präsent in den Medien. Machst du etwa keine Arbeit in Berlin?“ Denn natürlich bekommen einfache Parteianhänger oder Mitglieder von der inhaltlichen Arbeit ihrer Abgeordneten in Berliner Ausschüssen, Arbeitskreisen und Fraktionssitzungen kaum etwas mit. Sie realisieren nur, ob ihr parlamentarischer Vertreter mit hoher Frequenz in der lokalen Zeitung erscheint und vielleicht mal in der Tagesschau einen Zwanzigsekundenauftritt hat – dagegen verblasst jedes Engagement für Positionspapiere oder Gesetzesinitiativen zwangsläufig. Dennoch verfügt eine Fraktion über Mechanismen und Machtmittel, allzu forsche, individualistische Mitglieder in ihre Schranken zu weisen. So musste Lauterbach gleich zu Beginn seiner ersten Legislaturperiode lernen, dass Fachwissen und ein hoher Bekanntheitsgrad nicht automatisch zu einem angestrebten Amt führen. Der Professor musste seine erste große Niederlage einstecken. Zum gesundheitspolitischen Sprecher ernannten die Genossen nicht ihn, sondern die unbekannte Braunschweiger Abgeordnete Carola Reimann. Ein Schock für Lauterbach, der sich damit früh auf dem Boden der Tatsachen wiederfand. Reimann war bereits zwanzig Jahre SPD-Mitglied, saß seit fünf Jahren im Bundestag und hatte sich bei den Netzwerkern einen Namen gemacht. Aus Sicht vieler Abgeordneter sprach für sie einfach mehr als für den Lautsprecher Lauterbach, der das nur schwer akzeptieren konnte. Folgenden Ratschlag bekam er in dieser Zeit von alteingesessenen Parteikollegen: Er solle sich nicht bei Themen zu Wort melden, für die andere zuständig seien: „Ich wurde 35 Hoffmann, Andreas: Eine Handwerkerin der Macht, in: Süddeutsche Zeitung, 26.08.2003; vgl. auch Thiede, Ulla: Das Porträt: Karl Lauterbach, in: Bonner General-Anzeiger, 11.08.2006; Viering 2006, S. 70. 36 Vgl. unter anderem Volkery, Carsten: „Ein Durchbruch ist es auf keinen Fall“, in: Spiegel Online, www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,459406,00.html [eingesehen am 18.03.2008].
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von einer Genossin scharf kritisiert – nicht etwa wegen der Meinung, die ich geäußert hatte, sondern weil es nicht mein Bereich war.“37 Hier offenbarte sich ein klassischer Konflikt von Seiteneinsteigern – wie im Übrigen auch von Jungpolitikern – mit den Strukturen des politischen Systems. Für das Funktionieren von Fraktionen und Parlamenten ist es nachgerade unerlässlich, dass sich neugewählte Abgeordnete erst einmal unterordnen, die Arbeitsabläufe kennenlernen und sich durch Fleiß und Verlässlichkeit einen Namen machen. Bezeichnet wird dies in der Politikwissenschaft als parlamentarische Sozialisation.38 Doch für einen ungeduldigen, von seiner Überlegenheit stets überzeugten Lauterbach sind diese Spielregeln lediglich schwerfällig, unlogisch und deprimierend. Und darum hält er sich nicht daran. Erst 2001 trat er in die SPD ein. Die Sozialdemokratie ist für ihn keine Herzensangelegenheit, sondern Mittel zum Zweck. Lauterbach weiß: Um sich über eine Bekanntheit als Gesundheitsexperte hinaus zu profilieren, braucht er die Partei. Aber viele Zugeständnisse will er dafür nicht machen. Im monatelangen Streit um die Gesundheitsreform rief ihn Struck irgendwann entnervt zur Ordnung. Lauterbach solle jetzt „einfach mal die Klappe halten“, forderte der für klare Worte bekannte Fraktionsvorsitzende. Intern dürfte er sich noch deutlicher ausgedrückt haben. Doch der Abweichler tat Struck den Gefallen nicht. Weder hielt er von nun an den Mund, noch passte er sich seither stärker an die parlamentarischen Gepflogenheiten an. Die Süddeutsche Zeitung kommentierte dies treffend, Lauterbach habe das „Pennälerimage aus der Feuerzangenbowle“ konserviert.39 Einen Vorteil hat er jedoch gegenüber allen Reglementierungsversuchen der Partei- und Fraktionsführung: Als direkt gewählter Abgeordneter muss er sich nur der Loyalität seiner Genossen im Wahlkreis sicher sein. Ein aussichtsreicher Listenplatz winkt ihm zwar mit seiner permanent über die Medien geäußerten Kritik nicht – den hatte er allerdings auch 2005 nicht. Damals bekam er beim Landesparteitag der NRW-SPD gerade einmal Platz 78 zugesprochen.
Die Emanzipation von Schmidt Mit seinem Einzug in den Bundestag vollzog Lauterbach den Wechsel zum Berufspolitiker, den er bereits seit 2001 vorbereitet hatte. Schon anderthalb Jahre vor der vorgezogenen Neuwahl war er mehr Polit-Profi als so mancher Abgeordneter – und faszinierte damit die gesamte politische Journaille. So berichtete eine Spiegel-Reporterin im März 2004 beeindruckt, wie Lauterbach den Mannheimer Ökonomen Eberhard Wille in einer Debatte niederrang. Im Kursaal von Stuttgart-Bad Cannstatt diskutierten die beiden die gegensätzlichen Konzepte Bürgerversicherung und Kopfpauschale. Lauterbach hätte die SPD-Veranstaltung sofort „in ein hitziges Wortduell“40 verwandelt, staunte die beeindruckte Beobachterin. „,Die Kopfpauschale wird niemals kommen!‘, rief er ins Mikrofon. Später reckte er, wie ein Politiker im Wahlkampf, auf dem Podium siegesgewiss die Faust in die Höhe“41. 37
Reinecke, Stefan/Mika, Bascha: „Ich mach hier doch nicht den Kirchhof“, in: die tageszeitung, 27.02.2006. Vgl. Weege, Wilhelm: Karrieren, Verhaltensmerkmale und Handlungsorientierungen von Bundestagsabgeordneten, Ausarbeitung des Fachbereichs XI Geschichte, Zeitgeschichte und Politik der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, in: http://www.bundestag.de/wissen/analysen/2003/2003_07_10_karrieren.pdf [eingesehen am 20.03.2008]; Patzelt 1999, S. 270. 39 Vgl. Hoffmann, Andreas: Der Professor aus Köln, in: Süddeutsche Zeitung, 23.09.2005. 40 Hackenbroch, Veronika: Der Einflüsterer, in: Der Spiegel, 29.03.2004. 41 Ebd. 38
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Doch wie so häufig bei Seiteneinsteigern berichteten die Medien immer kritischer, je mehr sich Lauterbach professionalisierte und Teil des häufig verächtlich kommentierten politischen Establishments wurde. Genüsslich werden seither seine Spitznamen von wenig wohlmeinenden Genossen kolportiert: „Karlchen Überall“42, weil er sich bei jedem aktuellen Thema einmische, die „rollende Kanonenkugel“43, als Anspielung auf bei ihm jederzeit drohende Kritik an den Projekten der Großen Koalition, oder auch „begnadetste Ich-AG des Bundestages“44. Zweifellos hat sich auch Lauterbach selbst verändert – vom reinen Experten für Gesundheitspolitik entwickelte er sich im Parlament zum Generalisten. Entziehen kann und will er sich zudem auch den gruppendynamischen Mechanismen der Parteipolitik nicht mehr. Er ist heute ein fester Bestandteil des linken SPD-Flügels, der von Andrea Nahles und Björn Böhning generalstabsmäßig geführt wird und sich nach schwachen Jahren unter Rot-Grün wieder zu einer einflussreichen Gruppierung entwickelt hat. Bei dem Streit um die Neubesetzung des Generalsekretär-Postens zu Beginn der Legislaturperiode positionierte sich Lauterbach eindeutig zu Gunsten von Nahles.45 Die Ablehnung des Müntefering-Favoriten Kajo Wasserhövel führte zum Rücktritt des Parteivorsitzenden. Offen plädierte Lauterbach zudem bereits im Sommer 2007 – noch lange vor Andrea Ypsilanti oder Kurt Beck – für einen offenen Umgang mit der Linkspartei.46 Vereinfacht gesagt, lässt sich die veränderte Wahrnehmung Lauterbachs auf die Formel bringen: Je politischer er wurde, umso herber wurde die Kritik der Journalisten. Die Häme gipfelte schließlich im Sommer 2007 anlässlich der Buchvorstellung „Der Zweiklassenstaat“. Die deutlichsten Worte fand Rainer Hank in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: „Lauterbach will Sozialismus, darf das Wort aber nicht aussprechen, weil es in den vergangenen Jahren außer Mode gekommen ist.“47 Plötzlich war der „Professor aus Köln“ nicht mehr der innovative, exzentrische Quereinsteiger, sondern der Traditionssozi, der eine weltfremde Sichtweise pflegt. Nun ist eine solche abrupte Veränderung der Wahrnehmung von Seiteneinsteigern nichts Neues – Vergleichbares geschah auch mit Paul Kirchhof, Jost Stollmann oder Walter Riester. Dennoch ist Lauterbach ein Sonderfall. Er wirkte ob der über ihn hereinbrechenden Welle der Kritik keineswegs überrascht oder gar schockiert. Scheinbar hatte er sie antizipiert. Vor allem als er ein Buch schrieb, in dem er die verloren gegangene gesellschaftliche Balance beschrieb und für die stetig zunehmende Ungerechtigkeit in erster Linie Kohls Kanzlerjahre verantwortlich machte.48 Hier brach wiederum Lauterbachs Prägung im USamerikanischen Bildungssystem durch. Von seinen Mentoren in Harvard lernte er, dass der Umgang mit Medien keine Einbahnstraße ist, man von ihnen keine Gnade oder gar wohlwollende Berichterstattung erwarten darf. Bereits zu Beginn seiner Mandatszeit äußerte er
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Meck, Georg: „Haarscharf entlang der Wahrheit, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.06.2006. Gammelin, Cerstin: Nachsitzen bei Ulla Schmidt, in: Die Zeit, 14.09.2006. 44 Viering 2006, S. 70. 45 Vgl. o.V.: Nahles mobilisiert Parteilinke, in: www.faz.net/s/Rub192E771724394C43A3088F746A7E2CD0/Doc.html [eingesehen am 18.03.2008]. 46 Vgl. o.V.: Interview mit Karl Lauterbach, „Die Linkspartei kann koalitionsfähig werden“, in: www.stern.de/ politik/deutschland/591479.html [eingesehen am 18.03.2008]. 47 Hank, Rainer: Wo lebt bloß Karl Lauterbach?, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.06.2007. 48 Vgl. Haselberger, Stefan/Sirleschtov, Antje: „Das ist das Erbe von Helmut Kohl“, in: www.tagesspiegel.de/ politik/div/Interview-Karl-Lauterbach;art771,2323250 [eingesehen am 18.03.2008]. 43
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in einem Interview mit der taz, er sei sich der Gefahr einer mangelnden Distanz zu Journalisten durchaus bewusst.49 Der Unterschied zu anderen Wissenschaftlern, die ihr Glück in der Politik versuchen, ist bei Lauterbach: Wenn die Scheinwerfer ausgeschaltet werden, geht er nicht nach Hause und vergräbt sich in seiner Forschung. Lauterbach hegt keinerlei Abneigung gegen Hinterzimmergespräche, Kungelrunden und Vereinsmeierei. Voller Stolz erzählt er jedem Journalisten, der es hören will, er sei ein „political animal“, ein „homo politicus“, weniger hochgestochen: ein Machtpolitiker.50 Zwar kritisiert er, wie ausgeführt, die verkrusteten Strukturen in den Bundestagsfraktionen. Kollegen aus dem universitären Milieu, die glauben, es reiche, mit einer Idee zum Kanzler zu gehen, hält er jedoch schlicht für naiv. Lauterbach weiß um die Bedeutung von Netzwerken, Seilschaften und Abhängigkeiten in einer Partei. Zwar strebt er augenscheinlich zurzeit kein Amt in der Führungsetage der SPD an, doch auch seine Nische, seine Rolle als Experte, ist nur begrenzt tragfähig ohne die Absicherung durch Parteifreunde. Nicht nur der Umgang der Medien mit Lauterbach hat sich derweil geändert. Auch seine einstige Förderin Ulla Schmidt geht mittlerweile auf Distanz zu ihm. Ihr langjähriger Berater hat inzwischen als Abgeordneter eine andere Rolle und kritisiert regelmäßig die Gesetze der Ministerin. Als „beinahe einziger Politiker der Großen Koalition“51 rechnet er die Zahlen des Ministeriums nach – und widerspricht ihnen mit einer Frequenz und Penetranz, die Schmidt und ihren Beamten höchst lästig ist. Die gegenseitige Distanzierung ist unübersehbar. So versuchte der Pressestab des Gesundheitsministeriums auf einem Workshop für Fachjournalisten im Sommer 2006, Lauterbachs Kritik ins Lächerliche zu ziehen. Der ehemalige Mitstreiter hatte bemängelt, die Pläne der Ministerin würden dazu führen, dass gut verdienende gesetzlich Versicherte in Scharen zu privaten Krankenversicherungen wechseln würden, da auf sie Mehrausgaben von siebenhundert Euro zukämen. Die PRAbteilung entwickelte daraufhin drei Comicfiguren, um die Sachlage für die Presse zu veranschaulichen: Mick, Micki (beide privat versichert) und Muck (gesetzlich versichert). Die drei unterhalten sich beim Abendessen über ihre Beiträge. Natürlich klagen Mick und Micki über ihre hohen Policen, während Muck total zufrieden ist. Ziel der kleinen Visualisierung: Lauterbach und seine Argumente zu desavouieren.52 Doch so leicht lässt Lauterbach sich nicht abstrafen. Ulla Schmidt hat seine politische Karriere selbst gefördert. Nun wird sie die Geister, die sie rief, nicht mehr los.
Konklusion Und – das muss noch einmal betont werden – es ist eine hochgradig ungewöhnliche Karriere, die Karl Lauterbach im bundesrepublikanischen Parteiensystem durchläuft. Für einen Seiteneinsteiger verfügt er über detailgenaues Wissen, wie die SPD, aber auch Medien, Verbände und Parlamente funktionieren und welche Knöpfe er wann drücken muss, um erfolgreich zu sein. Lauterbach agierte in den letzten Jahren mehr und mehr wie ein Politiker, der seit seiner Jugend in einer Partei aktiv ist und sie kennt wie seine Westentasche. 49
Vgl. Reinecke, Stefan/Mika, Bascha: „Ich mach hier doch nicht den Kirchhof“, in: die tageszeitung, 27.02.2006. Vgl. Hoffmann, Andreas: Der Herr Professor aus Köln, in: Süddeutsche Zeitung, 23.09.2005. 51 Gammelin, Cerstin: Nachsitzen bei Ulla Schmidt, in: Die Zeit, 14.09.2006. 52 Vgl. ebd. 50
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Dabei ist er – daran sei noch einmal erinnert – gerade einmal seit sieben Jahren Mitglied der SPD. Doch sein akademischer Werdegang hat ihn bereits auf seine spätere berufliche Heimat vorbereitet. Was im deutschen Wissenschaftsbetrieb eher implizit abläuft und ungerne öffentlich eingestanden wird, geschieht in den USA ganz explizit und mit breiter Akzeptanz. In Harvard erfuhr Lauterbach, wie Interessen durchgesetzt werden und auf welche Ressourcen er setzen muss, um nicht nur der um Rat gefragte Experte zu sein, sondern darüber hinaus dafür zu sorgen, dass diese Empfehlung in konkretes Handeln übersetzt wird. Lediglich zu verstehen, wie Politik funktioniert, reicht noch nicht aus, um sich tatsächlich gegen Funktionäre durchzusetzen, die Stufe für Stufe alle Gremien einer Partei durchlaufen haben. Die Theorie muss die spätere Praxis dann auch beeinflussen. Lauterbach schuf sich deshalb nach seiner Rückkehr aus den USA 1995 zunächst eine Basis. Er tat dies mit einem neugegründeten Institut für Gesundheitsökonomie, das es so zuvor in Deutschland noch nicht gegeben hatte. Als Direktor dieser universitären Einrichtung machte er auf sich aufmerksam und wurde für die SPD mit seinen Analysen zu Ungerechtigkeiten im Gesundheitssystem interessant. Er wurde 1999 in den Sachverständigenrat berufen und knüpfte wichtige Kontakte zu Fachpolitikern und Journalisten. Wohl war es die Ernennung von Ulla Schmidt zur Gesundheitsministerin, die den entscheidenden Schub für Lauterbachs politische Karriere bedeutete. Der „Professor aus Köln“ war nun ganz nah am Machtzentrum der rot-grünen Bundesregierung angekommen. Kaum vorstellbar, dass er ohne die folgenden vier Jahre 2005 sein Bundestagsmandat bekommen hätte. Doch verband Lauterbach sein Schicksal nie – wie andere Seiteneinsteiger dies so häufig taten und daran nicht selten scheiterten – mit dem seiner Förderin. Er nutzte Schmidts Kontakte vielmehr, um neue, einflussreiche Menschen kennenzulernen und diese auf sich aufmerksam zu machen. Das gelang ihm augenscheinlich ausgezeichnet. Denn obwohl Schmidt mittlerweile alles andere als gut zu sprechen ist auf ihren einstigen Berater, ist sie nicht mehr in der Lage, sich den penetranten Kritiker ihrer Regierungsarbeit vom Hals zu schaffen. Lauterbach schaffte die Emanzipation von seiner anfänglichen Mentorin, er sicherte seine politische Zukunft, indem er sich der Parteilinken anschloss, die den profilierten Abgeordneten mit offenen Armen empfing. Der erneuten Kandidatur im rheinischen Wahlkreis dürfte ebenfalls wenig im Wege stehen, da Lauterbach seine Prominenz während der laufenden Legislaturperiode sogar noch entscheidend gesteigert hat. Einen aussichtsreichen Listenplatz zur Absicherung zu bekommen, dürfte freilich auch 2009 schwierig werden. Dafür hat Lauterbach zu oft gegen die Regierung und die Fraktionsspitze geschossen. Doch selbst wenn der zum Generalisten mutierte Wissenschaftler sein Direktmandat verlieren würde, ist kaum vorstellbar, dass dies das Ende seiner politischen Karriere bedeuten würde. Wie bei seiner Genossin Andrea Nahles zu beobachten war, gibt es für profilierte Sozialdemokraten, die aus dem Bundestag gewählt werden, immer die Chance auf ein Comeback.53 Einzig Lauterbachs überbordendes Selbstvertrauen könnte ihm zukünftig noch im Wege stehen. Obwohl dies nicht per se eine schlechte Eigenschaft für Politiker ist, da diese ihre Vorstellungen durchsetzen müssen, stößt der Professor mit seiner rechthaberischen Art manchem Gegenüber vor den Kopf. Ein gewisser Selbstzweifel, ein zögerndes Suchen nach 53 Nahles hatte 2002 den Wiedereinzug in das Parlament verpasst, schaffte 2005 aber die Rückkehr, nachdem sie sich in der Zwischenzeit mit Posten bei der IG Metall und der SPD über Wasser gehalten hatte.
Karl Lauterbach – die „rollende Kanonenkugel“
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Positionen würde ihm bisweilen die eine oder andere harsche Erwiderung ersparen. Denn gerade als Anti-Typus zum eindimensionalen, durch innerparteiliche Grabenkämpfe sozialisierten Machttechniker hat er sich ja einen Namen gemacht. Agiert er nun allerdings in großen Teilen ganz ähnlich wie die von ihm so gerne belächelten Parteifunktionäre, verliert er sein Alleinstellungsmerkmal. Ob es ihm aber mittelfristig gelingt, sein wachsendes Ego kritisch zu reflektieren, ist fraglich. Vielmehr macht er häufig den Eindruck, über den Dingen zu schweben. Erinnert sei etwa an die wiederholten Verweise auf seine Erfahrungen in den USA. Hiermit verbindet er nicht zuletzt eine ständige Kritik der deutschen Verhältnisse. Viele Abläufe in der hiesigen Politik wie auch der Wissenschaft scheinen ihm – wie so manchem AmerikaFreund – provinziell, rückständig und eingefahren. Und er scheut sich nicht, seine Abneigung dagegen offen zur Schau zu stellen. Lauterbachs Problem jedoch ist: Kurzfristig kann er als opponierende „Ich-AG“ im Bundestag durchaus reüssieren. Will er aber, wie vor 2005, Regierungshandeln nachhaltig beeinflussen, muss er zweifellos auch bereit sein, Kompromisse zu schmieden, Absprachen einzuhalten und vor allem: Die Geringschätzung des Gegenübers nicht gar so deutlich zur Schau zu tragen.
Karrieren des Umbruchs
Carlo Schmid – der politische Star und das sozialdemokratische Sternchen Stine Harm
Carlo Schmid überragte seine Genossen. Stattliche Körpergröße und kolossale Leibesfülle unterstrichen seine Unbescheidenheit und verliehen ihm einen imposanten Nimbus. Obschon Schmid während seiner ersten fünfzig Lebensjahre weder Mitglied der SPD war, geschweige denn sich überhaupt in das Terrain der stolzen Arbeiterbewegung vorwagte, sondern als Genussmensch, scharfsinniger Jurist und avantgardistischer Völkerrechtler habituell weit von der Sozialdemokratie entfernt war, absolvierte er nach 1945 eine steile Karriere in der Partei. Aber gerade weil Carlo Schmid auch als Parteimitglied ein Bildungsbürger und Homme de Lettres blieb, sich nicht mit Haut und Haaren der SPD verschrieb, in ihr nicht seine Heimat sah, blieb er der ewige Stellvertreter, verwehrten die Sozialdemokraten ihm die bedeutsamsten Ämter. Dennoch war Schmids Weg von Fortune gekrönt: Er bekleidete das Amt des Regierungschefs des französisch besetzten Württemberg-Hohenzollerns,1 war Landesvorsitzender der SPD in Süd-Württemberg, wurde von 1947 bis 1973 mit beeindruckenden Mehrheiten in den sozialdemokratischen Parteivorstand gewählt, gewann von 1949 bis 1972 in Mannheim das Direktmandat für den Bundestag und brachte es überdies zum Bundesratsminister in der Großen Koalition. Mit dem Ministerium bedankte sich die SPD auf ihre Weise bei Schmid für seine langjährige Treue, für seine Begleitung auf dem Weg zur Volkspartei. Gerade für die Erschließung neuer Wählerschichten hatte die SPD den ihr eigentlich so fremden Professor ihrerseits zuvor gebraucht.
Erwartungen: Einen Staat bauen und Genosse werden Politisches Engagement als Schuldgefühl? Doch wie fand Carlo Schmid nach der Zäsur des Zweiten Weltkriegs überhaupt zur Partei? Biografen und Festschriftautoren verweisen bei dieser Angelegenheit regelmäßig auf Selbstzeugnisse Schmids:2 Vor allem in seinen Erinnerungen stilisiert er seine Entscheidung für die SPD als Folge eines Damaskuserlebnisses. Er gibt sich und seinesgleichen die Schuld für den Untergang der Weimarer Republik.3 Weil er sich damals der Verantwortlichkeit entzogen habe, müsse er diese jetzt erst recht übernehmen, sich zur Verfügung
1 Württemberg-Hohenzollern bildete seit 1952 mit Württemberg-Baden und (Süd-)Baden das Bundesland BadenWürttemberg. 2 Vgl. Weber, Petra: Carlo Schmid 1896-1979. Eine Biographie, München 1996, S. 259; Merseburger, Peter: Der schwierige Deutsche: Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1996, S. 107. 3 Vgl. Schmid, Carlo: Erinnerungen, München 1979, S. 217.
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stellen und auf das politische „Forum“ begeben,4 um sich „zwischen den armen Teufeln und den dunklen Wolken [zu] stellen“5. Die Vorstellung von einer schützenswürdigen und hilfsbedürftigen breiten Masse entsprang durchaus auch Schmids Utopie eines elitären Staatengebildes, und insofern war seine antike Metaphorik auch kein Zufall. Denn die sittlich gebildete, verantwortungsvoll handelnde Elite einer Nation ist für den Verehrer der griechisch-römischen Antike die bestmögliche Herrschaftsform eines kulturell hoch stehenden Gemeinwesens.6 Sein aus der konzentrierten Beschäftigung mit Dante und der Bekanntschaft mit dem Gregorianer Wolfgang Frommel herrührendes Leitbild, dieser sogenannte „Dritte Humanismus“, enthielt neben dem Elitismus gleichfalls die Idee von der Erziehbarkeit des Menschen, aber auch von der selbstbestimmten Entfaltung des Individuums durch Bildung. Carlo Schmid fühlte sich angesichts seines kulturellen Kapitals nach 1945 als elitäre Kraft berufen, in die Geschicke des besiegten Deutschlands einzugreifen, aber auch einen Beitrag für die Menschenbildung zu leisten.7
Schmid: Freund der Franzosen Aber zunächst: Wie sahen denn überhaupt die Realitäten für Carlo Schmid am Ende des Zweiten Weltkriegs aus? Im April 1945 marschierten die französischen Truppen in Tübingen ein, der Universitätsstadt, in der Schmid seit 1919 studierte, mit seiner Frau Lydia und den bald vier Kindern halbwegs glücklich lebte und wo er seit 1928 als Privatdozent erfolgreich lehrte. Schmid und einige andere Honoratioren der Stadt meldeten sich unmittelbar nach der französischen Besetzung im Tübinger Rathaus, um tatkräftige Mitarbeit anzubieten.8 Die Militärs waren besonders über Carlo Schmids Anwesenheit hoch erfreut, da sie endlich jemanden gefunden hatten, mit dem eine französischsprachige Verständigung möglich wurde. Schmid übersetzte den verblüfft dreinschauenden und bis dahin verständnislosen übrig gebliebenen Administrationen des Dritten Reichs die Quartier- und Requisitionswünsche der Franzosen. Dieser Schritt erforderte außerordentlichen Mut, denn Frankreich war immerhin jahrelang von deutscher Besatzung leidgeprüft, zweigeteilt und systematisch ausgeplündert worden. Die Gefahr einer ungezügelten und gnadenlosen französischen Revanche-Politik gegen die verabscheuten „boches“9 bestand durchaus. Die Franzosen waren bei ihrem Siegeszug in Deutschland freilich nicht völlig unvorbereitet, bereits Wochen zuvor hatten sie Informationen über relativ unbelastete Eliten eingeholt, sich gleichermaßen über die Tätigkeiten Carlo Schmids im Dritten Reich erkun-
4 Vgl. ders.: Goethe als Wegweiser zu mir selbst, in: ders.: Europa und die Macht des Geistes. Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Band 2, Bern u.a. 1973, S. 357-375, hier S. 358. 5 Schmid an Evangelos Papenutzos, 06.09.1955, in: Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), NLCS 649. 6 Vgl. Fetscher, Iring: Carlo Schmid – ein Homme de lettres in der Politik, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): Europa und die Macht des Geistes. Gedanken über Carlo Schmid (1896 - 1979), Bonn 1997, S. 86-106, hier S. 87. 7 Vgl. Schmid, Carlo: Die deutschen Bildungsschichten und die Politik, in: ders.: Politik muß menschlich sein. Politische Essays, Bern/München 1980, S. 80-102, hier S. 99 f. 8 Vgl. Werner, Hermann: Tübingen 1945. Eine Chronik, bearbeitet und mit einem Anhang versehen von Manfred Schmid, Stuttgart 1986, S. 84. 9 Wolfrum, Edgar: Die geglückte Demokratie. Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart 2006, S. 22.
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digt.10 Dass Schmid seit August 1933 als Mitglied im Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen und ab 1934 überdies in der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt registriert war, darüber mögen sie – sofern sie orientiert waren – hinweg gesehen haben. Denn diese Mitgliedschaften waren ausschließlich Feigenblätter und bewirkten, dass der vierfache Familienvater seine Stellungen als Gerichtsreferendar und Privatdozent an der Universität Tübingen behalten konnte. Von den nächtlichen Radiosendungen Schmids in der Mitte der 1930er Jahre wiederum, in denen er unterschwellig Kritik an den nationalsozialistischen Machthabern äußerte, sowie den Dante-Abenden, wo er begabte Studenten und Mitarbeiter in seinem Hause versammelte, die den Gedanken der Geistesaristokratie favorisierten und die Massendemokratie in Anlehnung an den von Schmid bewunderten Stefan George verachteten,11 dürften die Franzosen kaum gewusst haben. Bekannt wird ihnen dagegen gewesen sein, dass Schmid, seit 1936 Leutnant der Reserve beim Heer, von 1940 bis 1944 als Kriegsverwaltungsrat in Lille tätig gewesen war. Sie werden jedoch frühzeitig rekonstruiert haben, dass sich Schmid möglichst um Milderung des deutschen Besatzungsregimes auf französischem Boden bemüht hatte: Er bewahrte nordfranzösische Jugendliche vor dem Arbeitslager und der Zwangsverschickung nach Deutschland, warnte zum Teil die Résistance vor deutschen Kommandos und konnte einige von ihnen sogar vor der Vollstreckung der Todesurteile bewahren. Gleichwohl war es nicht nur Schmids Drahtseilakt zwischen deutschem Besatzer und mäßigend wirkendem Humanisten in Lille, der ihn in den Augen der französischen Offiziere vertrauenswürdig erscheinen ließ. Von größerer Bedeutung war sicherlich, dass Schmid selbst ein halber Franzose war: am 3. Dezember 1896 als Charles Jean Martin Henri Schmid am Stadtrand von Perpignan in Südfrankreich geboren. Seine französische Mutter und sein deutscher Vater nannten ihn Charlot, beim Umzug ins Schwabenland ein Jahr später wurde daraus Carlo. Er war das einzige Kind seiner Eltern. So konzentrierten sich die elterliche Fürsorge, aber vor allem auch ihre Strenge einzig auf ihn. Die Dozenten des humanistischen Karls-Gymnasiums mussten Mutter und Vater wöchentlich Berichte über die Lernfortschritte des Sprösslings abgeben. Seine Eltern – selbst Lehrer beziehungsweise Lektoren – achteten äußerst rigoros auf seine Lernerfolge in Griechisch und Latein, zudem nötigten sie Schmid, zu Hause Gedichte und Fabeln in deutscher und französischer Sprache auswendig zu lernen. Am Ende war er so französisch, dass er in Stuttgart trotz der üblichen Kontakte innerhalb des Bildungsbürgertums ein Außenseiter, eben der „Franzos“, blieb.12 Doch Schmid bewahrte sich die beiden nationalen Identitäten. Während des Nationalsozialismus beispielsweise übersetzte er privatissime Werke von Charles Baudelaire, Paul Valéry und André Malraux ins Deutsche. Er verstand die französische Seele, auch das spürten die Besatzer in Tübingen 1945, sodass Schmid rasch zu ihrem Verbindungsmann wurde. Und diesen Eindruck verstärkten die persönlichen Begegnungen. Im Gegensatz zu den anderen Alliierten kannten die Franzosen keine Fraternisierungsklausel. So gab es von Anfang an Zusammenkünfte bei passablem Wein und vorzüglichem Essen13 – Leidenschaf10
Vgl. Nüske, Gerd Friedrich: Württemberg-Hohenzollern als Land der französischen Besatzungszone, in Deutschland. Bemerkungen zu Politik der Besatzungsmächte in Südwestdeutschland, in: Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte, Jg. 18 (1982), S. 179-278, hier S. 240. 11 Vgl. Weber 1996, S. 88. 12 Vgl. ebd. 1996, S. 31. 13 Vgl. Eschenburg, Theodor: Carlo Schmid und die französische Besatzungspolitik, in: Knipping, Franz/Le Rider, Jacques unter Mitarbeit von Mayer, Karl J. (Hrsg.): Frankreichs Kulturpolitik in Deutschland 1945-1950, Tübingen 1987, S. 293-300, hier S. 296.
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ten, die Schmid mit den Besatzern teilte –, bei denen letztere mit Verwunderung und Anerkennung zur Kenntnis nahmen, dass sich der Deutsche mitunter besser in der Literatur und Prosa der Grande Nation auskannte als sie selbst.
Der Beginn eines politisch tätigen Lebens Carlo Schmid war demnach 1945 aufgrund seiner relativ unbelasteten Vergangenheit, seiner ausgezeichneten Sprechkenntnisse und Dolmetscherfähigkeiten, seiner vorhandenen Bereitschaft zu Mithilfe im Wiederaufbau und seiner kulturellen Nähe zu Frankreich wichtig für die französische Militärverwaltung. Im Mai gaben die französischen Besatzer die Erlaubnis, eine Art überparteilichen Gemeinderat mit im weitesten Sinne demokratisch bewährten Männern zu gründen.14 Diese voreilige Maßnahme musste zwar wieder rückgängig gemacht werden, dennoch zeigt die Wahl Schmids zum Vorsitzenden des Gemeinderates, dass die privilegierten Kontakte zu den Franzosen und die Kraft seines sozialen Status – immerhin war er Richter und seit Juni außerplanmäßiger Professor in Tübingen – bewirkten, dass er schnell als Honoratior in der Stadt wahrgenommen und anerkannt wurde. Daneben nahm Schmid an den Versammlungen des antifaschistischen Blocks in Tübingen teil. Das waren Zusammenkünfte, die nach der Befreiung spontan aus aufbauwilligen antifaschistischen Kräften in den größeren Städten entstanden, um unverzüglich die Bedürfnisse des alltäglichen Lebens zu befriedigen.15 Schmid wollte verhindern, dass sich diese Gruppierung in Tübingen als ein Forum kommunistischer Agitation entwickelte. So beteiligte er sich gemeinsam mit Bekannten aus den 1920er und 1930er Jahren am antifaschistischen Block und wurde schnell dessen führende Persönlichkeit. Durch sein couragiertes, von dem Vertrauen der französischen Besatzungsmacht getragenes Auftreten fand Carlo Schmid den Einstieg in ein politisch tätiges Leben. Zunächst unbehelligt von alten Parteiund Machtstrukturen konnte Schmid in einer offenen, mit personellen Leerstellen einhergehenden Situation der Auftakt in der Politik gelingen. Schmid versammelte in dieser Anfangszeit ausgesprochen geschickt alte und loyale, ihn bewundernde, aber auch durch ihre Kenntnisse zur Mitarbeit befähigte Freunde um sich: Da waren die drei Richter am Tübinger Amtsgericht, mit denen Schmid ab 1933 einen eigenen Juristenstammtisch bildete, da sie keine NSDAP-Mitglieder waren (Victor Renner, Nellmann und Biedermann); da konnte Schmid begabte Verwaltungsfachleute verpflichten, die er in seinen Universitätsseminaren um sich geschart hatte (Gustav von Schmoller und Dieter Roser); es unterstützten ihn Universitätsintellektuelle, die er von den Dante-Abenden kannte und Gleichgesinnte vom Künstlerstammtisch des Café Völters (Gustav Adolf Rieth und Gerd Müller) – all jene, bald als „Karlisten“ bekannte Gruppe,16 bestimmten im Handumdrehen die Nachkriegspolitik in Tübingen.17 14
Vgl. Werner 1986, S. 112 f. Vgl. Irek, Joachim: Mannheim in den Jahren 1945-1949. Geschichte einer Stadt zwischen Diktatur und Republik. Darstellung, Stuttgart u.a. 1983, S. 53. 16 Vgl. Schmid, Martin: Erinnerungen, in: Knipping/Le Rider unter Mitarbeit von Mayer (Hrsg.) 1987, hier S. 306 f. 17 Parallel zu dieser Tätigkeit setzte Oberst Niel während der kurzen Besatzung Stuttgarts durch die Franzosen bei dem zum Oberbürgermeister ernannten Arnulf Klett gegen dessen Willen Schmids Ernennung zum Landesdirektor für Kultur und Erziehung durch. In einem vollständig durch die Franzosen besetzten Württemberg wäre Schmid eine Art Kultusminister geworden und seine spätere Karriere hätte vielleicht einen anderen Weg genommen. 15
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Staatsrat in Württemberg-Hohenzollern Gleichzeitig führte Carlo Schmid im September 1945 mit der Militärregierung informelle Verhandlungen über die Organisation der Verwaltung des französisch besetzten Württembergs, dem sogenannten Württemberg-Hohenzollern. Er konnte erreichen, dass am 16. Oktober ein Staatssekretariat, eine Art Interimsregierung, für Württemberg-Hohenzollern installiert wurde, dessen Staatsrat, also Vorsitzender, er selbst wurde. Dem Staatsrat waren die Landesdirektoren – gleichsam die Minister – des kleinen, ca. eine Million Einwohner fassenden Ländchens unterstellt. Die Posten der Landesdirektoren konnte Schmid im Einvernehmen mit den Besatzern bestimmen, sodass zu Ressortchefs des Inneren, der Finanzen, der Arbeit und der Wirtschaft in Tübingen ausgebildete Juristen oder Germanisten beziehungsweise Altphilologen berufen wurden, also im Geiste mit Schmid eng verwandte Personen. Gemeinsame Denkweisen und Termini erleichterten die Verständigung im Landesdirektorium, in dem der gelehrte und geistige Akzent der Politik, aber auch der Idealismus zur gesellschaftlichen und staatlichen Neugestaltung deutlich zu spüren waren. Schmid, der nicht nur Staatsrat, sondern auch gleichzeitig Landesrektor für Kultus, Erziehung und Kunst sowie für Justiz war, und seine Landesdirektoren spielten sich treffende Zitate von Aristoteles, Thomas v. Aquin, Luther, Hobbes, Rousseau, Kant und Marx zu.18 Gleichgesinnte setzte Schmid auch in den ihm unterstellten Behörden durch. So beauftragte er seinen einstigen Schüler G. H. Müller mit dem Aufbau des Direktorialamtes, dem Vorläufer der späteren Staatskanzlei von Baden-Württemberg. Die Behörde wurde zur Schaltstelle der Regierungsarbeit, ihr oblag die Koordination der einzelnen Verwaltungszweige und die Ausführung der Beschlüsse.19 Daneben hielt er nach qualifizierten jungen Beamten Ausschau, die er mitunter in anderen Zonen abwarb, wie beispielsweise Theodor Eschenburg, den Schmid erst zum Flüchtlingskommissar und dann zum Ministerialrat ernannte.20 Carlo Schmid bewies nicht nur durch die kluge Auswahl ähnlich denkender und begabter Mitarbeiter politisches Geschick. Er nutzte außerdem großzügig die Autorität seiner Stellung als Regierungschef und Leiter zweier Ressorts. Indem er die Geschäftsordnung der Kabinettssitzung und das Statut des Staatssekretariates eigenhändig formulierte, fixierte er en passant, dass der Ministerpräsident einzig und allein der Besatzungsmacht verantwortlich ist. Ferner setzte der politische Neuling seine ihm durch das Besatzungsregiment im Vertrauen verliehene Macht konsequent in einen verhältnismäßig autoritären Arbeitsstil um. Schmid selbst sprach in diesem Zusammenhang von einer aufgeklärten Demokratie in Analogie zum aufgeklärten Absolutismus.21 Angesichts eines dramatischen Übergangs vom Totalitarismus zur Demokratie, den dringenden Erfordernissen des Wiederaufbaus bezieAllerdings mussten sich die Franzosen auf Drängen der Amerikaner im September 1945 endgültig aus Stuttgart zurückziehen und ihre favorisierten deutschen Verwaltungskräfte mitnehmen. Allerdings versuchte Schmid einer Landesteilung entgegen zu wirken, sodass er erreichen konnte, eine Art Verbindungsmann zwischen Stuttgart und Tübingen zu bleiben; vgl. Raberg, Frank (Hrsg.): Die Protokolle der Regierung von Württemberg-Hohenzollern. Das Erste und Zweite Staatssekretariat Schmid 1945-1947, Band 1, Stuttgart 2004, S. LXII. 18 Vgl. Eschenburg, Theodor: Aus den Anfängen des Landes Württemberg-Hohenzollern, in: ders./Heuss, Theodor/Zinn, Georg August unter Mitwirkung von Hennis, Wilhelm (Hrsg.): Festgabe für Carlo Schmid zum 65. Geburtstag. Dargebracht von Freunden, Schülern und Kollegen, Tübingen 1962, S. 56-80, hier S. 65. 19 Vgl. 17. Sitzung der Landesdirektoren am 11.12.1945, in: Raberg (Hrsg.) 2004, S. 53-56. 20 Vgl. Glaser, Hermann: Die Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Kapitulation und Währungsreform 1945-1948, Band 1, Frankfurt am Main 1990, S. 31. 21 Vgl. Eschenburg, Theodor: Regierung, Bürokratie und Parteien 1945-1949. Ihre Bedeutung für die politische Entwicklung der Bundesrepublik, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 24 (1976) H. 1, S. 58-74, hier S. 63.
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hungsweise der Aufrechterhaltung der Lebensfähigkeit der Bevölkerung und dem Verlangen der Besatzungsmächte nach schnellen politischen Entscheidungen schien ein paternalistisches Vorgehen auch durchaus gerechtfertigt.22 Besonders deutlich wurde es in den einbis zweimal wöchentlich stattfindenden Sitzungen der Landesdirektoren. Die rhetorisch glänzenden Referate Schmids leiteten die Besprechungen ein, übermittelten neue Instruktionen der Militärverwaltung, gaben die Richtung der Diskussion vor und unterstrichen, dass der Staatssekretär der unbestrittene Primus inter Pares war.
Der routinierte gestaltende Verwalter einer Besatzungsmacht Dabei war es wertvoll, dass Carlo Schmid auch auf seine einschlägigen Erfahrungen in der Verwaltung militärisch besetzter Gebiete zurückgreifen konnte, die er in Lille – allerdings auf der anderen Seite stehend – gesammelt hatte. Seinerzeit sollte er als Mitglied der Verwaltung die rechtlichen Rahmenbedingungen für ein System der nordfranzösischen Angliederung an die belgische Militärverwaltung schaffen. Schmid war also bereits mit den juristischen Finessen einer Besatzungsherrschaft sowie deren pragmatischen Anforderungen vertraut und hatte sowohl den französischen Verwaltern als auch seinen deutschen Mitstreitern in puncto Sachverstand und praktischen Routinen Einiges voraus. Obwohl laut Geschäftsordnung dem provisorischen Regierungschef keine Richtlinienkompetenz zustand, traten die Landesdirektoren diese bereitwillig an Schmid ab. Schon bald überließen sie Schmid die Verhandlungen mit den Gouverneuren über politische Maßnahmen oder Direktiven23 – er war offenkundig erfolgreich in dem Spiel, seinen Mangel an Macht, an potestas, mit seiner auctoritas, d.h. seiner natürlichen Autorität, zu kompensieren.24 Der Professor der Juristerei schien in seiner neuen administrativen Rolle recht glücklich zu agieren. Und obwohl er bereits während des Zweiten Weltkrieges verwaltungsmäßige Erfahrungen sammeln konnte, ist ein tatsächlicher Einstieg in die Politik erst als quasi Ministerpräsident des kleinen Württemberg-Hohenzollerns erkennbar. Im Sommer 1945 begann Carlo Schmid selbst politische Führungsqualitäten zu entwickeln, Ideen zu entwerfen und zu verfolgen, anstatt wie in Lille lediglich Befehle der deutschen Militärverwaltung auszuführen. Die Landesminister honorierten die soliden Leistungen Schmids im Staatssekretariat, indem Sie ihn bis zum Juli 1947 wieder und wieder nach dem Ablauf seiner je nur drei Monate währenden Legislaturperiode im Amt bestätigten und das über die Wahl der Beratenden Landesversammlung 1946 hinaus, bei der eigentlich eine Kabinettsumbildung aufgrund der deutlichen Stimmengewinne der CDU nahe gelegen hätte.25 Daneben wurde Schmids politisches Talent in den von ihm initiierten Landrätetagungen offenbar. Seit November 1945 versammelte er die Landräte Württemberg-Hohen22 Dass Schmid schon beinahe wie ein Patriarch agierte, zeigt auch sein Ausspruch, dass man sich bei der Neueinstellung von Beamten danach richten solle, dass er mit knapp fünfzig Jahren der Älteste in der Verwaltung bleibe; vgl. Roemer, Friedrich: Der Aufbau der Staatsverwaltung. Staatssekretariat und Landesregierung, in: Gögler, Max/Richter, Gregor in Verbindung mit Müller, Gebhard (Hrsg.): Das Land Württemberg-Hohenzollern 19451952. Darstellungen und Erinnerungen, Sigmaringen 1982, S. 111-120, hier S. 114. 23 Vgl. Nüske, Gerd Friedrich: Neubeginn von oben. Staatssekretariat und Landesregierung, in: ebd., S. 80-110, hier S. 87. 24 Vgl. Eschenburg 1962, S. 66 f. 25 Vgl. Müller, Gebhard: Württemberg-Hohenzollern 1945 bis 1952, in: Gögler/Richter in Verbindung mit Müller (Hrsg.) 1982, S. 13-29, hier S. 19.
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zollerns regelmäßig an wechselnden Orten, um die bis dahin weitgehend autonom verwalteten Landkreise in die staatliche Ordnung einzubinden und die dringend für die Verwaltungstätigkeit benötigten Informationen zusammenzuführen, aber auch, um sich einfach näher miteinander bekannt zu machen.26 Damit sich die Landräte trotz Fahrzeugnot, Benzingutscheinen, löchriger Straßen und karger Verpflegungsrationen überhaupt bereit fanden, nach Tübingen, Bad Saulgau oder Reutlingen zu fahren, musste Schmid Einiges bieten. Zum einen hielt er zu Beginn jeder Sitzung einen sprachgewandten Vortrag, der in Zeiten blockierter Informations- und Nachrichtenkanäle Meldungen aus der Landeshauptstadt und Mitteilungen der Besatzungsmacht mit Neuigkeiten aus der amerikanischen Besatzungszone – in die er als einer von wenigen Kontaktmännern der Stuttgarter Regierung reisen durfte – verknüpfte. Zudem sorgte er auf den Tagungen für Schnitzel, Kartoffelsalat, frisches Gemüse und Torte, von der er selbst natürlich zwei Stückchen bekam.27 Angesichts einer von den Besatzungsmächten im Durchschnitt pro Person zugeteilten Ration von 900 bis 1200 Kalorien täglich28 schaffte er so einen geradezu unwiderstehlichen Anreiz. Die Entschlossenheit Schmids, auf den Zusammenkünften der Landräte auch die französische Besatzungspolitik zu kritisieren, brachte ihm nationale Aufmerksamkeit und landesweite Anerkennung. Dezidiert betonte er den überparteilichen Charakter der Tagungen,29 unterband dadurch – gerade weil eine Geschäftsordnung fehlte – ein direktes Mitspracherecht der Parteien jedweder Couleur, vermied Abstimmungen, wählte Referenten aus und bestimmte die Tagesordnung. Als politischer Neuling agierte Schmid hier überraschend geschickt. Er legte kraft seiner Autorität Geschäftsordnungen in seinem Sinne aus und konnte so seine Vorstellungen durchsetzen.
Seine Fähigkeiten als Staatsrechtler waren gefragt Seine Fähigkeiten spielte Schmid jedoch nicht nur als Staatssekretär geschickt aus. Schließlich war er ebenfalls ein ausgewiesener Experte auf der Ebene des Völkerrechts. Tatsächlich hatte Schmid sich in seiner Habilitationsschrift mit der Kodifikation der Rechtsgrundsätze des Internationalen Gerichtshofes befasst. Zusätzlich hatte er sich durch eine zweijährige Tätigkeit als Referent am Kaiser-Wilhelm-Institut für ausländisches Recht und Völkerrecht Expertenwissen zu Fragen wie der Enteignung ausländischer Staatsangehöriger sowie der Anerkennung von Gebietserwerb durch Neustaaten angeeignet30 – juristisch bedeutsame Probleme, die seinerzeit nach dem Ersten und nun wieder nach dem Zweiten Weltkrieg virulent waren. Der Seiteneinsteiger Carlo Schmid verfügte im Gegensatz zu seinen aufbauwilligen deutschen Mitstreitern folglich über juristische Kenntnisse, die in Zeiten räumlicher Annexionen und Neugliederungen dringend benötigt wurden. Dies zeigte sich nicht zuletzt bei den Beratungen des im März 1946 eingesetzten Verfassungsausschusses in Württemberg-Baden an denen Schmid als eine Art offizieller Vertreter Württemberg-Hohenzollerns teilnahm. Im Gegensatz zu den anderen Landespoliti26
Vgl. Raberg 2004, S. XXXIX. Vgl. Hirscher, Gerhard: Carlo Schmid und die Gründung der Bundesrepublik. Eine politische Biographie, Bochum 1986, S. 54. 28 Vgl. Glaser 1990, S. 69. 29 Vgl. Niederschrift über die 4. Landräte-Tagung in Balingen am 2. Februar 1946, in: AdsD, NLCS 76. 30 Vgl. Weber 1996, S. 69 f. 27
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kern war er hervorragend vorbereitet und legte bereits auf der dritten Sitzung einen Entwurf für eine Verfassung vor. Die restlichen Ausschussmitglieder waren teilweise derart beeindruckt und überrumpelt, dass Schmid mit seinem Vorschlag die verfassungstheoretische Diskussion an sich reißen und von da an die Richtung bestimmen konnte.31 Obwohl er ein politischer Neuling war, spürte er, wie er die Verhandlungen strukturieren musste, um seine Vorstellungen durzusetzen. Im Ergebnis stammten die Grundrechte Württemberg-Badens fast ausschließlich aus der Feder Schmids.
Darum war er in der SPD Den Seiteneinsteiger Schmid trieb der unbändige Wille zur Gestaltung an. Er wollte nicht lange verhandeln und diskutieren, sondern seine Vision einer Landesverfassung verwirklichen. Doch es bleibt unersichtlich, warum er dafür im Januar 1946 auf dem ersten sozialdemokratischen Landesparteitag Württemberg-Badens von Fritz Ulrich in die Partei aufgenommen wurde.32 Warum blieb Schmid nicht parteilos, wie beispielsweise der hessische Ministerpräsident und Rechtsprofessor Karl Geiler, dessen politische Karriere allerdings nach den ersten Landtagswahlen abrupt endete?33 Oder anders gefragt: Warum sympathisierte Schmid nicht mit der CDU? Zumal Adenauer persönlich bedauerte, dass Schmid seine Kräfte nicht den Christlichen Demokraten zur Verfügung stellte: „Dieser Mann jehört eijentlich zu uns. Schade, daß der SPD is.“34 Hätte sich der zukünftige Bundeskanzler mehr um den engagierten und immerhin römisch-katholischen Bildungsbürger bemüht, hätte dieser womöglich für ihn Partei ergriffen. Selbst Ernst Jünger erzählte noch in den 1950er Jahren gerne den Witz von der alten Wahrsagerin, die Carlo Schmid nach dem Krieg um Rat wegen seiner politischen Laufbahn befragte: „Bei der CDU isch scho alles voll, dann gehet´se halt zur SPD.“35 Diese Anekdote scheint zumindest einen wahren Kern zu beinhalten. Schmid selbst bekannte bisweilen offen, dass er – als er beschloss, sich politisch zu betätigen und sich um eine angemessene Position in seiner Besatzungszone zu bemühen – den Weg zur Sozialdemokratie nicht aus tieferer politischer Überzeugung eingeschlagen habe, sondern aus reinem Pragmatismus. In der CDU seien bereits alle Spitzenpositionen besetzt gewesen36 und in der SPD habe es unübersehbar an Führungspersönlichkeiten ge-
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Vgl. Hirscher, Gerhard: Carlo Schmid und das Grundgesetz. Der Beitrag Carlo Schmids zur Entstehung der Bundesrepublik Deutschland, in: Taddey, Gerhard (Hrsg.): Carlo Schmid – Mitgestalter der Nachkriegsentwicklung im deutschen Südwesten. Symposium anläßlich seines 100. Geburtstags am 7. Dezember 1996 in Mannheim, Stuttgart 1997, S. 85-101, hier S. 90. 32 Vgl. Hennis, Wilhelm: Carlo Schmid und die SPD. in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Carlo Schmid und seine Politik, Bonn 1997, S. 16-26, hier S. 16. 33 Vgl. Mühlhausen, Walter: Treuhänder des deutschen Volkes. Die Ministerpräsidenten im Interregnum, in: ders./Regin, Cornelia (Hrsg.): Treuhänder des deutschen Volkes. Die Ministerpräsidenten der westlichen Besatzungszonen nach den ersten freien Landtagswahlen. Politische Porträts, Melsungen 1991, S. 7-34, hier S. 11. 34 Zitiert nach Beise, Marc: Carlo Schmid als Vorbild. Zur Einheit von Geist, Recht und Politik, in: Kilian, Michael (Hrsg.): Dichter, Denker und der Staat. Essays zu einer Beziehung ganz eigener Art, Tübingen 1993, S. 91125, hier S. 124. 35 Zitiert nach Seitz, Norbert: Die Kanzler und die Künste. Die Geschichte einer schwierigen Beziehung, München 2005, S. 35. 36 Vgl. Frisch, Alfred: Carlo Schmid: Ein großer Vermittler. Erinnerungen eines Zeitzeugen, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog, Jg. 53 (1997) H. 1, S. 5 f., hier S. 5.
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fehlt. So kalkulierte er, hier schneller eine führende Rolle spielen zu können, als in den bürgerlichen Parteien.37 Besonders in seinen späteren Jahren freilich erweiterte Schmid das Spektrum eigener Rechtfertigungen für sein politisches Engagement in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands um eine zusätzliche Dimension – die obendrein besser mit seinen ureigenen Themen, Humanismus38 und Staatsgründung, harmonierte. Mit Goethe argumentierte er, dass in dem Begriff Freiheit auch immer die Menschenwürde mitgedacht werden müsse. Und nur ein selbstbestimmter Bürger, der einen Staat mitgestalte, in dem ein Leben lohne, sei ein würdiger Mensch.39 In einer Schrift mit dem Titel „Darum bin ich in der SPD“ fügte Schmid hinzu, dass es ohne Sozialismus keine allgemeine Freiheit von der Not geben werde und das eigentliche Freisein Freiheit von der Not voraussetze.40 Eine weitere Begründung lieferte die von Schmid oft erzählte Geschichte einer ParisReise, bei der er von seinem Vater zu Erziehungszwecken in die Elendsviertel geführt worden sei. Schmid pries diese Kindheitserfahrung als einschneidendes Erlebnis, das ihn auf erschütternde Weise mit Armut und Not konfrontiert hätte.41 Vielleicht mag seine gesellschaftskritische Disposition obendrein durch von ihm rezipierte Literaten, wie Balzac, Zola oder Hugo, begünstigt worden sein.42 Womöglich stand er schon in der Weimarer Republik durch seine Dissertation bei Hugo Sinzheimer über das Betriebsrätegesetz, aufgrund seiner – wenn auch dürftig gebliebenen – Kampferfahrungen in einer sozialistischen Studentengruppe im Winter 1918/19 sowie der Kontakte zu Hermann Heller43 der Sozialdemokratie womöglich nicht gar so fern, wie er vielleicht zu jener Zeit dachte.44 Doch im Grunde waren diese Begegnungen kurzlebig und hinterließen kaum Spuren. Schmid blieb ein durch sein Elternhaus geprägter, konservativ-national denkender45 und durch die Schrecken des Ersten Weltkrieges orientierungslos gewordener junger Mann, der sich mehr von der Mystik Stefan Georges angezogen fühlte und wahrscheinlich zu Beginn der 1930er Jahre nicht mehr zu den Wähler der SPD gezählt werden konnte.46 Auch darum ist der Gang zu den Sozialdemokraten nach 1945 so überraschend.
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Vgl. Hirscher 1997, S. 89. Insofern kommt vielleicht sein Weggefährte Wilhelm Hennis dem Jünger des „Dritten Humanismus“ am nächsten, wenn er schreibt, dass Schmids Sozialismus der des uneingelösten dritten Versprechens der französischen Revolution, der Brüderlichkeit, sei; vgl. Hennis, Wilhelm: Diskussionsbeitrag, in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.) 1997, S. 64 f. 39 Vgl. Schmid 1973, S. 366. 40 Vgl. Schmid, Carlo: Darum bin ich in der SPD. in: Vorwärts, H. 7/1956. 41 Vgl. Schulze, Martin: Zeitzeugen über Carlo Schmid, in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.): Carlo Schmid und sein Politik, Bonn 1997, S. 111-114, S. 112.; Schmid, Carlo: Darum bin ich in der SPD. in: Vorwärts, H. 7/1956. 42 Vgl. Soell, Hartmut: Fritz Erler. Eine politische Biographie, Band 1, Berlin u.a. 1976, S. 97. 43 Heller schien Schmid während seiner Zeit im Kaiser-Wilhelm-Institut in Berlin allerdings mehr in das Berliner Kulturleben als in sein Sozialismuskonzept eingeführt zu haben; vgl. Weber 1996, S. 61. 44 Vgl. Geisel, Alfred: Carlo Schmid. Gründer der SPD in Württemberg-Hohenzollern und seine Beziehung zur Universität Tübingen, in: Taddey (Hrsg.) 1997, S. 21-29, hier S. 22. 45 Vgl. Weber 1996, S. 30 und S. 47. 46 Vgl. ebd., S. 77. 38
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Landesvorsitzender der SPD in Württemberg-Hohenzollern Doch wie wurde der Seiteneinsteiger Carlo Schmid auf dem zweiten Nachkriegsparteitag der SPD im Sommer 1947 Beisitzer im Parteivorstand, gewählt zumal mit einem brillanten Ergebnis,47 mit 335 von 341 Stimmen? Wie vollzog Schmid konkret den Übergang von der gestaltenden Administration zur Parteipolitik? Zum einen war Carlo Schmid zu diesem Zeitpunkt immerhin unangefochtener Parteivorsitzender der SPD in Süd-Württemberg. Als die französische Besatzungsmacht im Januar 1946 endlich auch der Neugründung von politischen Parteien zustimmte, hatte Schmid als Regierungschef erhebliche Startvorteile: Die Franzosen bejahten lediglich eine Parteigründung von oben, sodass er über das Staatssekretariat die Partei quasi als deren Repräsentant anmeldete.48 Hinzu kam, dass das Amt als Länderchef bereits einen respektablen Nimbus auf die Genossen ausstrahlte, die SPD in Württemberg recht unterentwickelt war, politisch begabte Konkurrenten und alte Ansprüche kaum existierten49 und einige erfahrene Parteifreunde wie Fritz Erler50 und Oskar Kalbfell innerhalb des Landesverbands für Schmid um Unterstützung warben.51 Es ist daher kein Zufall, dass Carlo Schmid auf dem Gründungsparteitag der Landes-SPD im Februar 1946 quasi als designierter Parteiführer das Hauptreferat hielt. Nicht vielen Seiteneinsteigern gelang solch ein Sprung auf den Landesvorsitz. Und obwohl ihm Schumachers Referat auf der Reichskonferenz der Sozialdemokraten in Wennigsen im Oktober 1945 unbekannt war,52 kam Schmid zum anderen dem dort verkündeten Neubau-Ansatz sehr nahe. Schumacher und Schmid ergänzten sich gleichsam, wenn letzterer forderte, dass nicht die Abfolge von Klassenkämpfen, sondern das moralische Bewusstsein die Würde des Menschen ausmache. Der erste Nachkriegsvorsitzende der SPD dachte ähnlich. Ferner war Carlo Schmid die personifizierte Erfüllung der Forderung Schumachers nach einem verstärkten Engagement der Intellektuellen in der Sozialdemokratie. Hinzu kam, dass Schumacher, weil sie vor den Nationalsozialisten die Waffen gestreckt hatten, den führenden Sozialdemokraten der Weimarer Republik den Zugang zu exponierten Posten verweigerte.53 Der Parteiführer setzte bei dem Aufbau einer neuen und lebendigeren Partei auf unverbrauchte Eliten.54 Ein Vorteil dieser Strategie lag für Schumacher auch darin, dass dem Seiteneinsteiger Schmid keine gewachsenen Loyalitäten innerhalb der Partei, keine Hausmacht, zur Verfügung standen, mit deren Hilfe der Führungsanspruch des Parteivorsitzenden hätte in Frage gestellt werden können. Auch das mögen Impulse für Schumacher gewesen sein, Schmid so manche Türen zu öffnen. 47 Nur Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer erzielten ein besseres Ergebnis. Ebenfalls 335 Stimmen erhielt nur noch Fritz Henßler, der allerdings seit 1905 Parteimitglied war; vgl. Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 29. Juni bis 2. Juli 1947 in Nürnberg. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Hamburg 1948, Bonn 1976, S. 173. 48 Vgl. Geisel 1997, S. 23. 49 Vgl. Wolfrum, Edgar: Französische Besatzungspolitik und deutsche Sozialdemokratie. Politische Neuansätze in der „vergessenen Zone“ bis zur Bildung des Südweststaates 1945-1952, Düsseldorf 1991, S. 120. 50 Vgl. Soell, Hartmut: Fritz Erler. Eine politische Biographie, Band 2, Berlin u.a. 1976, S. 97. 51 Vgl. Auerbach, Hellmuth: Die politischen Anfänge Carlo Schmids. Konfrontation mit der französischen Besatzungsmacht 1945-1948, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 26 (1988), S. 595-648, hier S. 618. 52 Vgl. Schmid 1979, S. 251. 53 Vgl. Oeltzen, Anne-Kathrin/Forkmann, Daniela: Charismatiker, Kärrner, Hedonisten. Die Parteivorsitzenden der SPD, in: Forkmann, Daniela/Schlieben, Michael (Hrsg.): Die Parteivorsitzenden der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 2005, Wiesbaden 2005, S. 64-118, hier S. 67. 54 Vgl. Walter, Franz: Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002, S. 132.
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Der Star auf der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz Besonders wichtig war Kurt Schumacher dabei die Einbindung des zunehmend an überzonaler Bedeutung gewinnenden Carlo Schmid. Dieser ließ in den Nachkriegsjahren keine Möglichkeit zur interzonalen Zusammenarbeit aus und besaß gleichzeitig zahlreiche Privilegien: Reisegenehmigungen quer durch die Besatzungszonen und ein Automobil, gesteuert von seinem Faktotum Ernst Roller.55 Das Ansehen des Seiteneinsteigers mehrte sich vor allem auf der Münchener Ministerpräsidentenkonferenz Anfang Juni 1947. Trotz der Dramatik dieser Versammlung erregte Schmid durch sein Referat über ein Besatzungsstatut große Aufmerksamkeit. Er wurde über Nacht zum gefeierten Star, zum Lieblingskind der Medien.56 Schmid führte aus, dass die Besatzungsmächte mit ihrer derzeitigen Politik ihrem Besatzungsziel – der Herstellung demokratischer Verhältnisse – zuwider handeln würden. Und weil er die Demontagepolitik, die Arbeitseinsätze und die viel zu geringen Kalorienrationen anprangerte, wurde der elitäre Professor zum Mitstreiter gegen die Ausbeutung der deutschen Arbeiter.57 Nur so ist auch sein großartiges Ergebnis auf dem Parteitag zu erklären. Doch offenbarte bereits dieser Parteitag auch Widerstände gegen den politischen Seiteneinsteiger. Denn Schmid strebte in Nürnberg bereits nach Höherem: Er wollte als Kulturpolitiker besoldetes Mitglied des Parteivorstandes werden.58 Der Bildungsbürger Carlo Schmid war zwar ein glänzender Jurist, fühlte sich aber nichtsdestotrotz zum Kulturpolitiker berufen. Er genoss es, Professoren für die Tübinger Universität zu berufen, bekannte Schauspieler und Ensembles für seine Heimatstadt zu verpflichten oder Schulbücher zu gestalten. Dass sein Anspruch auf ein besoldetes Amt abgelehnt wurde, hatte auch mit seiner Position auf der Ministerpräsidentenkonferenz zu tun, wegen der es zu ersten Auseinandersetzungen mit Schumacher gekommen war. Denn kurz vor der Versammlung der Länderchefs hatte ein Treffen führender SPD-Politiker in Frankfurt stattgefunden. Hier hatte Schumacher erneut seinen Standpunkt geltend gemacht, dass die Münchener Konferenz lediglich „aktuelle Sorgen des Lebens“ zu klären habe und niemand dort legitimiert sei, die „Möglichkeiten einer zukünftigen Reichsverfassung auch nur in der Tendenz vorweg zu nehmen“59. Mit dem Vorstoß einer rechtlichen Bindung der Besatzungsmacht in 55 Hinzu kommt, dass die Alliierten besonders nach dem engeren Zusammenschluss der britischen und amerikanischen Zone zwecks größerer Einbindung der Franzosen einige Konferenzen in deren Sektor stattfinden ließen, beispielsweise die Rittersturzkonferenz oder die Besprechung in Niederwald. Gerade dort war das „Büro“ auf Carlo Schmids Präsenz und Berichte angewiesen, denn selbst erhielten sie äußerst selten Einreisegenehmigungen. 56 Das ging sogar soweit, dass selbst die Amerikaner ihm ein Amt in dem bizonalen Wirtschaftsrat anboten; vgl. Wolfrum 1991, S. 297 f. 57 Vgl. Auerbach, Hellmuth: Carlo Schmid und die französische Besatzungsmacht, in: Taddey (Hrsg.) 1997, S. 3242, hier S. 39. 58 Auf einer gemeinsamen Sitzung des Parteivorstands, des Parteiausschusses und der Kontrollkommission einen Tag vor Beginn des Parteitags wurde die Vergrößerung des Parteivorstands auf dreißig Mitglieder beschlossen, davon acht besoldete und 22 unbesoldete. Schmid, der als Vertreter seiner Landespartei im Parteiausschuss an der Sitzung teilnahm, schlug vor, dass die Kulturpolitik durch einen besoldeten Vertreter im Parteivorstand repräsentiert werden sollte, und meinte damit unzweifelhaft sich selbst. Ollenhauer wehrte dieses Ansinnen allerdings mit dem Verweis ab, dass zur Zeit die Gewerkschaftspolitik Vorrang habe, und stellte fest, dass bei den 22 unbesoldeten Mitgliedern durchaus die französische Zone stärker repräsentiert sein müsste, und gestand Schmid somit einen Platz zu; vgl. Sitzung des Parteivorstandes, des Parteiausschusses und der Kontrollkommission am 28.06.1947. in: Albrecht, Willy (Hrsg.): Die SPD unter Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer 1946 bis 1963. Sitzungsprotokolle der Spitzengremien, Band 1 1946 bis 1948, Bonn 1999, S. 234-247, hier S. 239 und S. 245. 59 Sitzung des Parteivorstandes und führender Sozialdemokratischer Landespolitiker vom 31. Mai bis 2. Juni 1947 in Frankfurt am Main, in: Albrecht (Hrsg.) 1999, S. 218-235, hier S. 229.
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Form eines Besatzungsstatutes und seiner Teilnahme an einem vor Schumacher verheimlichten Treffen des Deutschen Büros für Friedensfragen60 am 20. Mai 1947, bei dem über rechtliche Möglichkeiten der Vereinigung der drei Besatzungszonen diskutiert wurde, widersetzte sich Schmid daher der klaren Anweisung seines Parteiführers. Doch Schumacher ahnte bereits zu diesem Zeitpunkt, wie er den eigensinnigen Professor zu handhaben hatte. Dies dokumentiert eine kolportierte Aussage Schumachers über Schmids Eigenmächtigkeiten bezüglich der Vorarbeiten für eine zukünftige Verfassung: „Laß die nur reden, wir handeln.“61
Im Einsatz für eine Verfassung Ihn in den Parteivorstand zu delegieren diente also mehr der Einbindung, denn Zuwachs an Gestaltungsmacht für Carlo Schmids. Statt selbstbestimmt agieren zu können, musste sich der Seiteneinsteiger fortan in die Parteistrukturen einfügen. Welche Probleme daraus erwachsen konnten, sollte sich im Laufe der Jahre 1948 und 1949 zeigen. Im August 1948 tagten elf von den Ministerpräsidenten delegierte Sachverständige auf der Herreninsel im Chiemsee, um auf der Grundlage der Frankfurter Dokumente eine Arbeitsvorlage für den Parlamentarischen Rat zu erarbeiten. Dank seines hochgeschätzten Sachverstandes wurde Carlo Schmid als eine Art Außenminister entsandt, denn seit der Landtagswahl in Württemberg-Hohenzollern im Sommer 1947 fungierte statt seiner der Christdemokrat Lorenz Bock als Ministerpräsident. Insgesamt waren die Teilnehmer der kurzfristig einberufenen Tagung nur grob von ihren Ministerpräsidenten informiert und instruiert worden.62 Sie alle verstanden sich als Juristen und Vertreter der Länder, an die Direktiven der jeweiligen Partei fühlten sich die wenigsten gebunden. Besonders eklatant wurde die Ignoranz der Parteibeschlüsse bei Carlo Schmid. Schon im Vorfeld der Konferenz wuchs im Parteivorstand das Misstrauen gegen ihn: Er missachte die Resolutionen der Partei, halte sich nicht an Absprachen und informiere die Parteiführung über die Geschehnisse auf den interzonalen Tagungen nur unzureichend.63 Mit direkten Verweisen auf seine Funktion im Parteivorstand wurde er immer wieder an seine Pflicht zum Gehorsam ermahnt. Er setzte sich dennoch über die Vorgaben der Parteiführung hinweg, auch weil diese von den Ereignissen selbst überholt wurden,64 intransigent und gleichzeitig widersprüchlich waren. Weil er so freigiebig agierte und taktierte, blieb er auf Herrenchiemsee beweglich, konnte Kompro60 Schmid nahm bereits seit April 1947 an den Diskussionsrunden des Deutschen Büros für Friedensfragen teil, einer Institution, die dem Stuttgarter Länderrat der Bizone angegliedert war; vgl. Hirscher, Gerhard: Aspekte der politischen Karriere Carlo Schmids von 1945 bis1949, in: Knipping/Le Rider unter Mitarbeit von Mayer (Hrsg.) 1987, S. 319-332, hier S. 330. 61 Zitiert nach Altendorf, Hans: SPD und Parlamentarischer Rat. Exemplarische Berichte der Verfassungsdiskussion, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 10 (1979) H. 3, S. 402-420, hier S. 415. 62 Vgl. Wengst, Udo: Staatsaufbau und Regierungspraxis 1948-1953. Zur Geschichte der Verfassungsorgane der Bundesrepublik Deutschland, Düsseldorf 1984, S. 54. 63 Vgl. Sitzung des Parteivorstandes am 2. und 3. August 1948 in Springe, in: Albrecht (Hrsg.) 1999, S. 457-471, hier S. 459; Sitzung des Parteivorstandes und der sozialdemokratischen Ministerpräsidenten am 7. Juli 1948 in Assmanshausen bei Rüdesheim, in: ebd., S. 448-456, hier S. 449. 64 Carlo Schmid – eigentlich ein Föderalist – stieß im Parteivorstand vor allem bei Schumacher und den Befürwortern des Verfassungsentwurfs von Walter Menzel auf Widerstand, die immer wieder die Notwendigkeit der Zentralisation betonten. Ein weiterer Streitpunkt war die Frage, ob die (provisorische) Verfassung von den Parteien oder den Vertretern der Länder erarbeitet werden sollte.
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misse schließen und durch seine mit großer Aufmerksamkeit verfolgten, geistreichen Reden überzeugen. Darüber hinaus wurde sein Verhandlungsgeschick mit einem überaus positiven Presseecho honoriert.65 Doch trotz der nicht geringen Diskrepanzen und einer wachsenden Eifersucht zwischen einem Großteil des Parteivorstandes und Carlo Schmid konnten die Sozialdemokraten nicht auf ihren eigensinnigen, hochbegabten Juristen verzichten. Sein Ansehen bei den Besatzungsmächten und der ausländischen Presse, aber auch sein Prestige bei der deutschen Bevölkerung stieg von Konferenz zu Konferenz. Und: Die Sozialdemokraten mochten die von den Ländern gelenkte Verfassungsdiskussion zwar nicht befürworten, mussten sich aber den Realitäten stellen. Dazu gehörte, dass Carlo Schmid in den Parlamentarischen Rat beordert wurde. Dort kam eines zum anderen: Kurt Schumacher war erkrankt, andere einflussreiche Vorstandsmitglieder waren entweder nicht in der Landespolitik aktiv oder keine ausgewiesenen Verfassungsexperten, wieder andere – wie Walter Menzel, Adolf Arndt oder Hermann Brill – waren entweder nicht so prominent wie Schmid, keine renommierten Staatsrechtler oder noch weiter von dem Standpunkt Schumachers entfernt, sodass Carlo Schmid als Fraktionsführer der Sozialdemokratie im Parlamentarischen Rat übrig blieb und neben dem Präsidenten Konrad Adenauer Vorsitzender des Hauptausschusses wurde. Nach Monaten zähen Ringens wurden viele Kompromisse ausgehandelt. Schmid sah sich zwischen den Positionen des sozialdemokratischen Parteivorstands und denen der CDU hin- und hergerissen. Dennoch versuchte er, handlungsfähig zu bleiben, wenigstens teilweise seine Vorstellungen durchzusetzen und einen Verfassungskompromiss zu erreichen. Damit bewies er Ausdauer und zugleich demokratisches Verantwortungsgefühl. Wie Schmid mit seiner vom Parteivorstand abweichenden Meinung umging, zeigte aber, dass ihm ein entscheidender, einen Politiker ebenfalls auszeichnender Wesenszug fehlte: das Streben nach Macht in der klassischen Definition. Denn Schmid versuchte nicht, seine Vorstellungen durch- und seinen Willen umzusetzen, sondern ignorierte die Unstimmigkeiten, ja er blendete sie völlig aus, tat so, als seien sie gar nicht existent.66 „Ich bin kein Mann der Macht; ich bin ein Machtkenner. […] Es hat mir an der nötigen Härte gefehlt, die Wirkungen anderer zu beschränken oder meine zu verstärken.“67 Diese Einsicht, die Carlo Schmid am Lebensende in einem seiner letzten Interviews artikulierte, ist als Krux bereits am Beginn seines Politikerdaseins deutlich erkennbar. Weil der angelernte Sozialdemokrat ein Mann des Kompromisses und des Ausgleichs war, der jegliches Streben nach Macht vermissen ließ, konnte er sich, besonders seit der Genesung Schumachers gegen diesen keinen Widerspruch duldenden Parteiführer kaum mehr durchsetzen.
Der Seiteneinsteiger ordnet sich in die Reihen der Genossen ein Doch der Seiteneinsteiger Carlo Schmid war in der Sozialdemokratie der 1940er Jahre kein Einzelkämpfer. Es gab durchaus Genossen, die von seinen staatsrechtlichen Konstruktionen 65
Vgl. exemplarisch o.V.: Die Chiemseer Tagung, in: Rheinzeitung, 28.08.1948. Das geht mitunter soweit, dass er diese in seinen Erinnerungen völlig verschweigt bzw. auf konkrete Anfragen sich an bestimmte Parteivorstandssitzungen, bei denen mitunter ein Scherbengericht über ihn gehalten wurde, nicht mehr erinnern kann; vgl. Brief von Reinhard Bollmus an Schmid, 07.06.1973, in: AdsD, NLCS 462. 67 Witter, Ben: „Es hat mir an der nötigen Härte gefehlt“. Carlo Schmid, in: ders.: Spaziergänge mit Prominenten, Hamburg 1982, S. 17-25, hier S. 22. 66
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überzeugt waren, seine Forderungen nach sozialen Menschenrechten unterstützten, oder die in Carlo Schmid einfach einen Kombattanten sahen. Wilhelm Kaisen, Ernst Reuter oder Richard Löwenthal glaubten – vielleicht gerade weil im Vorfeld der ersten Bundestagswahlen die in- und ausländische Presse vorsichtig über einen möglichen Bundeskanzler namens Schmid mutmaßte68 – mit dessen Hilfe den Führungsanspruch Schumachers auf die sozialdemokratische Fraktion zurückzudrängen.69 Wie bitter enttäuscht mussten sie über ihren wankelmütigen Protagonisten gewesen sein, als sich dieser in der Sitzung der SPD-Spitzengremien am 19. und 20. April 1949 mit Kurt Schumacher gegen den Grundgesetzentwurf des Parlamentarischen Rates aussprach. Ausgesprochen frustriert reagierten die Gefolgsleute, als es kein geringerer als Schmid selbst war, der vor Presse und Öffentlichkeit das Votum rechtfertigte.70 Er lehnte den Kompromissentwurf ab, dem er zwar im Laufe der Zeit immer kritischer gegenüber stand, um den er aber dennoch bis zum Ende mit rang und entpuppte sich als Paladin Schumachers. Auf dem Parteitag in Hamburg 1950 wiederholte sich das Schauspiel: Seinen Überzeugungen zuwider, sekundierte Schmid Schumachers Absage an den Europarat.71 Aber es war nicht nur der fehlende Wille zur Macht, der Schmid in entscheidenden Momenten derart einknicken ließ, sondern auch seine Angst vor der Vereinzelung. Carlo Schmid war nicht nur ein Jurist, sondern auch ein feinsinniger Schöngeist. Er liebte die Poesie, war äußerst bewandert auf dem Gebiet der Literatur und ein talentierter Übersetzer. Der politische Quereinsteiger war also auch eine empfindliche Künstlernatur, ein zartbesaiteter Charakter mit einer melancholischen Neigung.72 Er fürchtete sich vor der Wiederkehr seiner Urerfahrungen: Einsamkeit und Verlorenheit. Carlo Schmid musste in seiner Kindheit und Jugend so Manches durchstehen: auf dem humanistischen Gymnasium als Franzose ausgegrenzt, von den Eltern vor Gleichaltrigen ferngehalten und eingesperrt, bis er Sophokles, Antigone oder Vergils Aeneis frei aufsagen konnte;73 im Studium einer Lebenskrise nahe, da gleichzeitig seine Frau schwer erkrankte und sein Vater verstarb; als Assessor durch einen Abtreibungsprozess an den Rand des Selbstmordes getrieben und schließlich am Tübinger Amtsgericht von den Nationalsozialisten ausgegrenzt. Vor diesem Hintergrund war es ihm eine unerträgliche Vorstellung, dass ihn tatsächlich eine „Eiszone der Isolation“ umgeben könnte, wie sie ihm Schumacher bei Nichtbeachtung der Parteivorstandsbeschlüsse androhte.74 Auch weil ihm zu Beginn der Bonner Republik jeglicher privater Rückhalt fehlte – er lebte von seiner Ehefrau getrennt, war schrecklich unglücklich in seine spätere Lebensgefährtin Hanne Goebel verliebt75 und hatte kaum Zeit für die Pflege intensiver privater Freundschaften – brauchte Schmid die 68
Vgl. Weber 1996, S. 391. Schmid widersprach in dieser Sitzung sogar der Auffassung Löwenthals, dass sich ein einzelnes Mitglied der Partei nicht von der Fraktionsgemeinschaft absondern dürfe; vgl. Sitzung der obersten Parteigremien am 19. und 20. April 1949 in Hannover, in: Albrecht, Willy (Hrsg.): Die SPD unter Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer 1946 bis 1963. Sitzungsprotokolle der Spitzengremien, Band 2 1948 bis1950, Bonn 2003, S. 141-175, hier S. 170. 70 Vgl. Schulz, Klaus-Peter: Authentische Spuren. Begegnungen mit Personen der Zeitgeschichte, Boppard am Rhein 1993, S. 147. 71 Vgl. Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 21. bis 25. Mai 1950 in Hamburg, Frankfurt am Main o.J., S. 112 ff. 72 Vgl. Weber 1996, S. 293. 73 Vgl. ebd., S. 24. 74 Vgl. Troeger, Heinrich: Interregnum. Tagebuch des Generalsekretärs des Länderrates der Bizone 1947-1949, hrsg. von Benz, Wolfgang/Goschler, Constantin, München 1985, S. 114. 75 Vgl. Thomas, Michael: Deutschland, England über alles. Rückkehr als Besatzungsoffizier, Berlin 1984, S. 221. 69
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Partei als Gemeinschaft und –obwohl er das immer bestritt – als Familie. Aber nicht nur seine Angst vor der Vereinsamung, sondern auch seine mitunter in Ruhmsucht ausartende Eitelkeit war auf Bewundere angewiesen.76 Ausgrenzung hätte Schmid einfach nicht ertragen können. Ohnehin war er durch die schneidige Art Schumachers öffentlich bereits genug gedemütigt worden. Doch das waren nicht die einzigen Beweggründe des nach Autonomie strebenden humanistischen Bildungsbürgers, sich in die Reihen der Genossen ein- und dem Willen des Parteiführers unterzuordnen. Kurt Schumacher nämlich verstand es hervorragend, die Menschen an sich zu binden,77 und jemand wie Carlo Schmid fühlte sich ihm sosehr verpflichtet, dass er ihm die Treue mitunter bis zu Selbstaufgabe hielt. Obwohl Schmid häufig wie ein von Schumacher geprügelter Hund litt78 und gequält von ständigem Nachgeben und Kompromisseschließen mit dem Gedanken spielte, die politische Tätigkeit hinzuwerfen, blieb der intellektuelle Seiteneinsteiger dem strengen Parteivorsitzenden ergeben. Offensichtlich war Kurt Schumacher eine charismatische Führungspersönlichkeit, der man sich nur schwer entziehen konnte. Der Verlust seines rechten Armes im Ersten Weltkrieg, das jahrelange Martyrium im Konzentrationslager und schließlich die Amputation seines Beines machten Kurt Schumacher zum Krüppel. Ein Mann mit derart vielen physischen Gebrechen, erlitten im Kampf um seine Überzeugungen, faszinierte durch seine unermessliche Leidensfähigkeit, seine gnadenlose Härte und Kraft. Die Quelle seines Charismas war also das Leid.79 In der Gefolgschaft dieses Märtyrers konnte auch Carlo Schmid seine Hände von der Schuld der Unterlassungen im Nationalsozialismus reinwaschen, durch Schumacher zu einem besseren Menschen werden.
Ernüchterungen: Carlo Schmid geht seinen Weg in der Partei Eroberung des Wahlkreises Mannheim-Stadt Die enge Bindung an den Parteivorsitzenden half Carlo Schmid, innerparteiliche Hürden zu nehmen, Durststrecken zu überstehen und bei der Postenvergabe bedacht zu werden. Es war Kurt Schumacher, der in ihrer beider Heimat Württemberg mit Mannheim-Stadt den bestmöglichen Wahlkreis für den Professor auswählte.80 Denn Mannheim war immerhin der Wahlbezirk des großen Reichstagsabgeordneten Ludwig Frank, und Schmid war durchaus geeignet, dessen Nachfolge anzutreten. Auch Ludwig Frank war bürgerlicher Herkunft. Beide, Frank wie Schmid, arbeiteten auf eine regierungsfähige sozialdemokratische Partei hin, bemühten sich um eine Kooperation mit Frankreich, glaubten unbeirrt an den Menschen, engagierten sich für die Jugend und galten obendrein als hervorragende Redner.81 76 Vgl. Schulz, Klaus-Peter: Adenauers Gegenspieler. Begegnungen mit Kurt Schumacher und Sozialdemokraten der ersten Stunde, Freiburg im Breisgau u.a. 1989, S. 124; Beise 1993, S. 100. 77 Vgl. Merseburger, Peter: Immer ein Hauch von Paulskirche. Zum hundertsten Geburtstag von Carlo Schmid, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, Jg. 43 (1996) H. 12, S. 1078-1081, hier S. 1079. 78 Vgl. Troeger 1985, S. 138. 79 Vgl. Walter 2002, S. 131. 80 Vgl. Kurt Schumacher an den Bezirk Württemberg-Hohenzollern, 08.06.1949, in: AdsD, NLCS 479. 81 Zu Ludwig Frank vgl. Wachenheim, Hedwig: Vom Großbürgertum zur Sozialdemokratie. Memoiren einer Reformistin, Berlin 1973; Watzinger, Karl Otto: Ludwig Frank. Ein deutscher Politiker jüdischer Herkunft, Sigmaringen 1995.
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Mannheim und seine verwaltungserfahrene Sozialdemokratie konnten mit Carlo Schmid wirklich zufrieden sein und er mit ihnen, denn in der SPD-Hochburg des Südwestens82 war Schmid, ganz im Gegensatz zu Tübingen, sein Direktmandat fast sicher.83 Der sichere Wahlkreis war das eine, aber Carlo Schmid konnte auch nur mit der Billigung Kurt Schumachers Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses sowie Bundestagsvizepräsident, dritter stellvertretender Fraktionsvorsitzender und Mitglied im Europarat werden. Sicher respektable Posten für einen Neuling. Als Vizepräsident war er hoch geschätzter Debattenführer des Bundestags. Dock langweilten ihn in diesem Amt Haushaltsfragen, Personalangelegenheiten und Erweiterungsbauten für die Volksvertreter. Auch der Posten des dritten stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden und die Mitgliedschaft im Europarat bedeuteten zu wenig Einfluss. Das war nicht viel für eine universell begabte und angesehene Persönlichkeit, das war zu wenig für Einen, der bis zuletzt für die große Koalition warb und mit dieser zumindest auf ein Bundesministerium hoffen durfte. Doch aufgrund der kompromisslosen Haltung des Parteivorsitzenden auch in der Angelegenheit des Bundespräsidenten, ward er, Carlo Schmid, bundespolitisch zu einem Leichtmatrosen ohne Amt und Gestaltungsmacht.
Carlo Schmid fehlt die Hausmacht Dennoch blieb Schmid innerparteilich ein Paria. Er verpasste es, sich langfristig Gefolgschaften zu sichern und Loyalitäten aufzubauen. Er war unfähig, sich durch eine Hausmacht schützen zu lassen, ja deren Bedeutung als Machtressource auch nur zu erkennen. So vernachlässigte er als Parteivorsitzender in Südwürttemberg seinen Bezirk, schlug Einladungen aus, reagierte nicht auf Bitten und Mahnungen, schob wichtigere bundes- und europapolitische Termine vor und ließ obendrein die Genossen in der Provinz spüren, dass er einfach keine Muße hatte, seine Zeit bei ihnen zu vertrödeln. Demzufolge musste er sich auch nicht wundern, dass man ihn im Frühjahr des Jahres 1950 aus dem Justizministerium in Württemberg-Hohenzollern verdrängte84 und schließlich aus seinem Parteivorsitz vertrieb.85 Hier, wo er einst so umschwärmt war und man ihm wie selbstverständlich die Parteiführung anvertraute, hinterließ er – da er sich für höhere Aufgaben berufen sah – unnötigerweise Narben auf der empfindlichen sozialdemokratischen Seele. Aber er ließ auch andere Gelegenheiten verstreichen, um sich politischer Freundschaften zu versichern, zum Beispiel mit seinen Weggefährten aus dem Kulturpolitischen Ausschuss. Noch auf der Kulturkonferenz in Ziegenhain im August 1947 entstand unter seiner Federführung eine Art grundsatzprogrammatische Erklärung der SPD, es ging um die Absage an einen historischen Determinismus und um die Anerkennung der sittlich bewussten menschlichen Entscheidungen.86 Doch Schmid wehrte sich nicht gegen die Herabsetzung
82 Vgl. Fulst, Stefan: Auf dem Weg zur Volkspartei? Die Entwicklung der SPD in Mannheim 1955-1972, Diplomarbeit der Universität Mannheim, Mannheim 1994, S. 29 und S. 75. 83 Vgl. Irek 1983, S. 182 f. 84 Vgl. Gebhard Müller an Karl Schmid, 23.03.1950, in: AdsD, NLCS 3. 85 Vgl. Briefwechsel zwischen Höse und Schmid im September und Oktober des Jahres 1950, in: AdsD, NLCS 1454. 86 Vgl. Klotzbach, Kurt: Der Weg zur Staatspartei. Programmatik, praktische Politik und Organisation der deutschen Sozialdemokratie1945 bis 1965, Berlin/Bonn 1982, S. 182.
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dieser Gruppe, als sich Schumacher bereits 1947 von ihr distanzierte.87 Als schließlich der Parteivorstand 1950 den Einfluss noch weiter zurückstutzte, sah er nur tatenlos zu.88 Und er verprellte nicht nur Genossen, die mit ihm in der Sache übereinstimmten, sondern fremdelte auch mit Parteifreunden, die eine ähnliche soziale Herkunft wie er selbst hatten. Auch eine »Phalanx der Bürgerlichen« konnte der Einzelgänger nicht schmieden. Dies war einerseits ein generationelles, aber vor allem auch ein habituelles Problem. So konnte er mit Karl Schiller, der mehr der Bourgeoisie als dem Bildungsbürgertum zuzurechnen war, wenig anfangen. Carlo Schmid, der sprachsensible Übersetzer von Charles Baudelaire und André Malraux, muss die Anglizismen, mit denen Karl Schiller um sich warf, schlichtweg als abstoßend und widerwärtig empfunden haben. Doch nicht nur weil ihm eine schlagkräftige Hausmacht innerhalb der Partei fehlte, sondern auch weil er sich mit seinen außenpolitischen Konzepten zunehmend unglaubwürdig machte, wurde er ins Abseits gedrängt. Carlo Schmids Denken und Wirken wurzelten seit seiner Zeit am Kaiser-Wilhelm-Institut in der europäischen Idee und bereits seit jener Zeit war Schmid Befürworter eines Systems kollektiver Sicherheit.89 Bei jeder sich bietenden Gelegenheit trug er seine normative Vorstellung von Europa, von gemeinsamen Werten, individueller und politischer Freiheit, dem Rechtsstaat und der sozialen Gerechtigkeit vor. Dennoch hielt er sich bei politischen Grundsatzentscheidungen an die kompromisslose Haltung des Parteivorstandes, verteidigte die ihm zum Teil diametral entgegengesetzten Ansichten zunächst Kurt Schumachers und – nach dessen Tod – Erich Ollenhauers sowie schließlich Herbert Wehners, der seit Mitte der 1950er Jahre die Außen- und Deutschlandpolitik der Partei diktierte.90 Infolgedessen wurde Schmid auf seinem Politikfeld nicht mehr ernst genommen. Durch seine inkonsistenten Aussagen verlor sein einst so benötigtes Expertenwissen an Wert. Je mehr Schmid in das politische System und die Sozialdemokratie involviert wurde, desto nachhaltiger verloren seine juristischen Kenntnisse und seine Ungebundenheit als wirkungsreiche Ressourcen an Wert. Innerhalb der sich wieder verfestigenden Struktur des Parlamentarismus zählte nicht mehr Schmidts originelle staatsrechtlichen und außenpolitischen Winkelzüge, sondern seine Loyalität zum Parteivorsitzenden. Dies machte den Seiteneinsteiger als Experten nicht nur unglaubwürdig, sondern auch unbrauchbar.
Carlo Schmid fremdelt mit den Genossen Zu all diesen Mängeln gesellte sich dann noch ein Defizit an genuin politischen Fähigkeiten. Als Seiteneinsteiger hatte er die Kunst des Politischen, im Gegensatz zu seinen innerparteilichen Konkurrenten, nicht in einer Jugendorganisation von der Pieke auf lernen und gleichsam als Erfahrungsschatz abspeichern können. Auch später machte er sich trotz seiner offensichtlichen Intelligenz und raschen Auffassungsgabe nicht daran, seine Gegner zu 87
Vgl. Grebing, Helga (Hrsg.): Entscheidung für die SPD. Briefe und Aufzeichnungen linker Sozialisten 19441948, München 1984, S. 97 ff. 88 Vgl. Arno Henning an die Mitglieder des Kulturpolitischen Ausschusses beim Parteivorstand der Sozialdemokratischen Partei Herrn Prof. Dr. Carlo Schmid, 28.04.1950, in: AdsD, NLCS 1397. 89 Vgl. Wolfrum, Edgar: Deutschland, Frankreich Europa. Frühe außenpolitische Pläne Carlo Schmids, in: Taddey (Hrsg.) 1997, S. 43-57, hier S. 45 f. und S. 49. 90 Vgl. Meyer, Christoph: Herbert Wehner. Biographie, München 2006, S. 205.
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beobachten, von ihnen und seinen eigenen Fehlern zu lernen.91 Vermutlich hatte er das Gefühl, als arrivierter Professor mit seinen nun nunmehr 55 Jahren schlicht und einfach ausgelernt zu haben. Und genau diese Haltung vermittelte er seinen politischen Kollegen. Carlo Schmid ließ sie spüren, wenn ihm ihre Diskussionen stupide erschienen, reagierte herablassend, warf mit lateinischen Zitaten um sich, belehrte schulmeisterisch die Unwissenden oder dozierte über Dinge, die man aus der Literatur und von den großen Politikern lernen könne, wenn man sie nur lese und verstünde. Und wenn das alles immer noch nicht half, die Sitzungen ihn trotz allem anödeten und intellektuell unterforderten, blieb er den Besprechungen einfach ganz fern, schob ungeschickt wichtigere Termine vor und wurde dann in Bonner Restaurants oder einschlägigen Weinstuben gesichtet.92 Das war nicht nur peinlich. Es sorgte auch für Unfrieden und Verärgerung. Die Zeiten, in denen der Seiteneinsteiger noch wie bei den Beratungen über die badische Landesverfassung vorpreschen und seine Gegner durch wortreiche Expertisen überrumpeln konnte, waren vorbei. Innerhalb des wiedererrichteten sozialdemokratischen Parteiapparates waren Verhandlungsgeschick, Beharrlichkeit, Einfühlungsvermögen, aber auch Durchsetzungsfähigkeit und Überzeugungskraft gefragt. Das zweite große Problem von Carlo Schmid waren seine Indiskretion und Geschwätzigkeit. So gab er – der sich unter gebildeten und scharfsinnigen Journalisten wohler fühlte als bei seinen Genossen – oft Interna weiter. Dabei ging manchmal auch die Phantasie mit Schmid durch, schon Kurt Schumacher nannte ihn „unseren kleinen Lügner“93 – auch das erhöhte weder seine Glaubwürdigkeit, noch machte es ihn vertrauenswürdig. Und noch ein dritter, eklatanter Mangel kennzeichnete den Neupolitiker: Er fiel regelmäßig in Wahlkämpfen aus. Häufig seine physische und psychische Kondition beklagend, mussten Termine wiederholt abgesagt und in der Provinz bereits gebuchte Hallen storniert werden. Schon 1949 war er nicht voll einsatzfähig, da er sich bei einer Kur von der strapaz-iösen Vorarbeit für die staatsrechtliche Konstituierung der Bundesrepublik erholen musste.94 Sozialdemokraten, die während des Nationalsozialismus in Konzentrationslagern gelitten oder die Strapazen der Emigration ertragen hatten, konnten über so viel Empfindlichkeit und so wenig Kampfgeist nur den Kopf schütteln. Und wenn Schmid einmal an Kundgebungen teilnahm, gestaltete sich auch das nicht völlig problemlos. Er musste immer wieder ermahnt werden, die vorgegebenen Redezeiten einzuhalten,95 überforderte seine Zuhörer häufig und verschloss sich völlig der Kritik an seiner Vortragsweise. Seine im Moment des Seiteneinstiegs noch vorteilhafte Andersartigkeit behinderte ihn zusehends. Brauchte die Sozialdemokratie 1947/48 noch einen gelehrten Juristen in den überzonalen Versammlungen, war er in späteren Jahren als dozierender Besserwisser auf Wahlkampfveranstaltungen beinahe ungeeignet. Überhaupt fehlte es Carlo Schmid an Gespür für seine Genossen. Sein großzügiger, glamouröser, auch anrüchiger Lebenswandel wirkte abstoßend auf die sozialdemokratische Bescheidenheitsmoral. Sein Privatleben war nicht unheikel, es gab mindestens ein außereheliches Kind, und zahlreiche Affären wurden ihm zumindest nachgesagt. Einige aus dem 91
Auch das wechselseitige Lehrer-Schüler-Verhältnis zwischen Erler und Schmid litt, da Schmid von Natur aus mehr Lehrer als Schüler sein wollte; vgl. Soell: Erler Band 2, 1976, S. 296. 92 Vgl. Weber 1996, S. 462. 93 Merseburger 1996, S. 471 f. 94 Vgl. Carlo Schmid an Jakob Trumpfheller, 27.06.1949, in: AdsD, NLCS 491. 95 Vgl. Fritz Sänger an Carlo Schmid, 14.07.1961, in: ebd., NLCS 1509.
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Parteivorstand schien die Angelegenheit sosehr beschäftigt zu haben, dass sie Schmid verschämt antrugen, zu seiner Ehefrau zurückzukehren. Daneben erregte auch sein selbstverständlicher Verkehr mit der gesellschaftlichen Highsociety Verdruss und ließ ihn in den Verruf kommen, mit dem Klassenfeind zu paktieren.96 Und wenn bei seinen gewohnheitsmäßigen Gesellschaften, die regelmäßig überfüllt waren, die Damen zu seinen Füßen saßen und bewundernd zu ihm aufschauten, liebte er es, sich in Szene setzten. Dabei trug er nicht nur eitel seine Bildung vor sich her, sondern konnte mitunter auch schneidend und verletzend im Urteil sein.97 Dass Carlo Schmid nicht so richtig zu der sozialdemokratischen Gemeinschaft dazugehörte, zeigen auch die Anreden, mit denen ihn Briefschreiber bedachten. „Hochverehrter Prof. Schmid“ war da zu lesen, man wandte sich an ihn mit dem distanzierten und respektvollen „Sie“ anstelle des vertrauten „du“, und Fritz Erler strich sogar einmal das altgewohnte „Genosse“ durch und ersetzte es durch „Verehrter Herr Schmid“98. Nicht nur die Genossen fremdelten mit ihm, auch Carlo Schmid haderte mit seiner Partei, vor allem aber mit den Funktionsmechanismen des Apparats. So fühlte er sich bevormundet, als ihn der Parteivorstand aufforderte, seine Redemanuskripte vorab zu Kenntnis zur übermitteln. Er empfand es als Entwertung seiner Persönlichkeit, wenn er gemahnt wurde, Berichte über Konferenzen, Sitzungen oder Zusammenkünfte dem „Büro“ zukommen zu lassen. Seine Fähigkeiten sah er vergeudet bei den zahlreichen Briefwechseln mit klagenden, bittenden oder vorwurfsvollen Genossen. Die an ihn adressierten Briefe, in denen er manchmal mit einem Rotstift die Rechtschreibfehler korrigierte, müssen ihm so manche Qual bereitet haben. Für den Professor war auch die von seinen Genossen gepflegte Diktion abscheulich. Im verletzenden Stil informierte ihn der Bezirk Braunschweig, dass Schmid Terminvorschläge für die Wahlkampfveranstaltung machen könne, denn er sei ihnen als Wahlredner zugeteilt worden, müsse zur Verfügung stehen.99 Er, die respektable Berühmtheit, wurde bedrängt, zugeteilt und musste sich fügen; er, der doch eigentlich gewohnt war, höflich und konziliant gebeten zu werden.
Die Sozialdemokraten wollen ihren Ballast nicht über Bord werfen Da er sich so gar nicht den sozialdemokratischen und politischen Gepflogenheiten anpassen wollte, tat er das, was er 1950 auf dem Hamburger Parteitag von anderen gefordert hatte. Er hatte damals – und verlor daraufhin etliche Sympathisanten – die Maxime ausgegeben, dass all jene, die die Meinung der Fraktion nicht teilten, in den Schatten zu treten haben.100 So legte er nach der ersten Wahlperiode das Amt des dritten stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden nieder und bemühte sich auch nicht mehr um einen wichtigen Bundestagsausschuss. Als Begründung schob er seine 1953 in Frankfurt erhaltene Professur vor und gab an, sich wieder mehr seinen Studenten widmen zu wollen. Dabei verschwieg er geflissentlich, dass eine im Bayrischen Rundfunk übertragene Rede zu großen innerparteilichen Konflikten und 96
Vgl. Weber 1996, S. 308. Vgl. Renger, Annemarie: Ein politisches Leben. Erinnerungen, Stuttgart 1993, S. 189. 98 Fritz Erler an Carlo Schmid, 06.08.1947, in: AdsD, NLCS 1448. 99 Vgl. Fritz Wulfert an Carlo Schmid, 21.08.1961, in: AdsD, NLCS 1765. 100 Vgl. Sozialdemokratische Partei Deutschlands: Protokoll der Verhandlungen des Parteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vom 21. bis 25. Mai 1950 in Hamburg, Frankfurt am Main, o.J., S. 112-114. 97
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scharfen Angriffen gegen ihn geführt hatte. Schmid hatte die Genossen gedrängt, den „Ballast“ über Bord zu werfen, um eine Volkspartei zu werden. Aus seinen Forderungen sprach die Enttäuschung über die erneute Niederlage bei der Bundestagswahl. Doch musste er deshalb gleich die Wahlkampfführung des Parteivorstandes und die Symbole der Arbeiterbewegung öffentlich so diskreditieren? Was für Schmid und einige andere Reformer nur ein unnötiger Hemmschuh beim Ausbruch aus dem 30-Prozent-Turm darstellte, war für die kleinen Funktionäre ein Teil ihrer Lebenswelt, ihrer Identität, den sie noch längst nicht bereit waren, aufzugeben.101 Und es traf ihn hart, dass besonders die Parteiaktivisten aus Süddeutschland, allen voran Erwin Schoettle, ihn angriffen. Doch warum läuteten an dieser Stelle nicht die Totenglocken des politischen Seiteneinsteigers? Die politische Karriere von Carlo Schmid stagnierte, dennoch bedeuteten diese Rückschläge nicht ihr Ende. Es ist auf den ersten Blick geradezu überraschend, dass sich Schmid trotz aller Unzulänglichkeiten in der Hauptkampflinie der Politik dauerhaft halten konnte. Ein wichtiger Grund dürfte darin liegen, dass Schmid nach nunmehr fast acht Jahren Politik verstanden hatte, dass er die SPD brauchte. Die Debatten und Abstimmungsergebnisse im Bundestag machten ihm deutlich, dass er allein Nichts hätte ausrichten können. Ohne eine starke Fraktion wäre er erst recht der Don Quichotte gewesen, für den er sich gelegentlich ohnehin hielt. Er brauchte die Sozialdemokratie, um sich überhaupt politisch zu betätigen, ja um Gehör zu finden.102 Und er verstand nun auch, dass die Menschen, respektive die Wähler ebenfalls die Parteien zur Orientierung, zum Sichzurechtfinden benötigten. Und eben weil er seinen Frieden mit der Partei machte, ließ er sich nicht so leicht vergraulen. Selbst Anfragen aus dem Parteivorstand über seine Tätigkeiten während des Nationalsozialismus beantwortete er zwar ungeduldig, nahm diese indirekten Beschuldigungen aber nicht zum Anlass, sich vollends auf seinen Lehrstuhl zurück zu ziehen.103 Daneben entwickelte Schmid sogar gewisse politische Fertigkeiten, indem er lernte, auch peinliche Affären und Desavouierungen zu überstehen. Ende Februar 1953 konnte man in den Zeitungen lesen, Schmid halte „Ollenhauer für einen kleinen Maurergesellen mit Spatzenhirn“, Erwin Schoettle sei in seinen Augen „dumm und korrupt“104 und Fritz Eberhard, dem er mal richtig die Meinung gesagt habe und der eigentlich Hellmut v. Rauschenplatt heiße, „der letzte Dreck“, ein Bastard und eine „olle Tunte“.105 Die Verunglimpfung der eigenen Genossen und des Parteivorsitzenden mitten im Wahlkampf war ein Skandal ersten Ranges. Einige Sozialdemokraten suchten eine Niederlegung des Bundestagsmandats respektive einen Parteiausschluss des Seiteneinsteigers zu erreichen. Was war geschehen? Schmid hatte mit Friedrich Sieburg geplaudert, begleitet von den Redakteuren Schneider, Fischer und Miller für die Sendereihe „Vom Hundertsten ins Tausendste“ des Süddeutschen Rundfunks im Februar 1953. Zur Entspannung der Atmosphäre waren alkoholische Getränke gereicht worden. Nach getaner Arbeit hatte sich Schmid, unter Einfluss weiterer Drinks und einer fiebrigen Erkältung, dann zu Hetzereien und Verunglimpfungen hinreißen lassen. Da Schmid für derartige Ausfälle bekannt war, wäre die 101
Vgl. Walter 2002, S. 142. Vgl. Schmid, Carlo: „Da wollte Chruschtschow die Konferenz abbrechen…“ (Interview), in: Bild am Sonntag, 09.01.1972; Niederschrift eines Gesprächs mit Carlo Schmid geführt von Karl-Heinz Wenzel im Sommer 1966, in: AdsD, NLCS 240. 103 Vgl. Carlo Schmid an Thomas Dehler, 19.06.1951, in: ebd., NLCS 4. 104 Zitiert nach Weber 1996, S. 487. 105 Abschrift des schriftlichen Urteils in Sachen Helmut Fischer gegen den Süddeutschen Rundfunk wegen Kündigungswiderruf, in: AdsD, NLCS 2015. 102
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Situation noch zu retten gewesen, wenn nicht die Aufnahme – entgegen der Annahme aller – weiter gelaufen wäre. Doch richtig pikant wurde die Schererei eigentlich erst, als der Intendant des SWR und alte Rivale Carlo Schmids im Parlamentarischen Rat, Fritz Eberhard, dessen vermeintliche Äußerungen über Ollenhauer und Schoettle frei erfand und breit streute.
Carlo Schmid trotzt den Affären Schmid, der seinen Fauxpas wohl gehörig bereute, entschuldigte sich öffentlich, stellte den Sachverhalt bei Ollenhauer richtig und – was besonders erstaunt – schien sich dem Apparat eine Winzigkeit anzupassen: Er leistete reumütig Abbitte, vor allem bei seinem Wahlkreis in Mannheim, war plötzlich auch zu großen Wahlkampfeinsätzen selbst in der Provinz bereit und schrieb beflissen Berichte über dies und jenes an Herbert Wehner.106 Gerade weil der Parteivorsitzende eine prominente Persönlichkeit wie Carlo Schmid im Wahlkampf nicht aus der Partei ekeln konnte, stärkte die Mannheimer SPD-Spitze ihm den Rücken.107 Und weil Carlo Schmid die Presseattacken und die Feindseligkeiten aus den eigenen Reihen aushielt, versandete die Kritik recht bald wieder und fiel an den Verursacher zurück108 – da Eberhard durch die Befeuerung des Skandals letztlich den politischen Gegnern im Bundestagswahlkampf in die Hände spielte. Schmid lernte also Skandale zu überstehen. Mit der Zeit vermochte er sich in die Sozialdemokratische Partei einzufügen, weil er aus der tätigen Arbeit heraus verstand, dass die politische Gemeinschaft nicht aus lauter „Edelmenschen“ besteht, die „dem Ideal des Perikles“entsprechen.109 Und Schmid lernte auch, schmerzhafte Niederlagen zu verkraften. Der Utopist musste vor dem Politiker dafür natürlich Rechtfertigungen finden und in seiner geschwungenen Sprache hörten sich seine Apologien recht gefällig an: „Wenn 90 Prozent meiner Fraktionskollegen einer bestimmten Meinung sind, bin ich dann unbedingt sicher, daß ich, gerade ich, recht habe, der ich anderer Meinung bin?“110 Im Laufe der Zeit beurteilte Schmid die Abstimmungen im Parlament nicht mehr nach wahr oder falsch beziehungsweise sittlich geboten oder verwerflich, sondern nach Zweckmäßigkeit und Zumutbarkeit.111 Man müsse sich mit Annäherungen zufrieden geben, um das Gewissen nicht überzustrapazieren. Carlo Schmid entlastete sich, indem er sich arrangierte – symptomatisch hierfür ist, dass er brieflich seine Genossen immer seltener mit „besten Grüßen“ verabschiedete, sondern seine Korrespondenz mit dem „sozialistischen Gruß“ beschloss.
106 Vgl. Brief von Carlo Schmid an Jakob Ott, 25.03.1953 und 29.05.1953 sowie Brief von Carlo Schmid an Jakob Trumpfheller, 15.04.1953 und 23.06.1953, in: AdsD, NLCS 1182. 107 Vgl. Brief von Jakob Ott an Carlo Schmid, 02.04.1953 sowie Brief von Jakob Trumpfheller an Carlo Schmid, 27.03.1953 und 08.09.1953, in: ebd. 108 Vgl. Brief von G. Korth (Vertreter des Ortsausschusses Stuttgart des Deutschen Gewerkschaftsbundes) an Carlo Schmid, 17.04.1953, in: AdsD, NLCS 2015. 109 Politik als Beruf – oder: Der arkadische Traum von der elitären Demokratie, Interview mit Karl-Heinz Wenzel für die Deutsche Welle (vermutlich Juli 1966), in: AdsD, NLCS 240. 110 Brief von Schmid an Pfarrer K. Stein, 14.11.1964, in: AdsD, NLCS 797. 111 Vgl. ebd.
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Erwägungen: beinahe Kanzlerkandidat und Bundespräsident Doch all dies half der Partei wenig, als sie 1957 bei der Bundestagswahl erneut verlor. Obwohl man sich auf 31,8 Prozent leicht verbesserte, kam doch alles noch viel schlimmer als befürchtet: Der politische Gegner erlangte mit 50,2 Prozent die absolute Mehrheit und war fortan weder auf die FDP noch andere Kleinparteien angewiesen. Die Sozialdemokratie musste sich dringend nach neuen Möglichkeiten umschauen und den Wählern neue Angebote machen, wollte sie nicht für ewig die einflusslose Rolle der Oppositionspartei übernehmen. Dies konnte nur gelingen, wenn man neue Wählerschichten jenseits des traditionellen Milieus hinzu gewann. Und wer sollte dafür besser geeignet sein als der beliebteste Politiker der Republik? Der sozialdemokratische Carlo, der Professor, Künstler, europäische Bildungsmensch avancierte so kurzzeitig zum Hoffnungsträger der Arbeiterpartei. Der dichtende homo sociologicus Carlo Schmid hatte ein Programm: die universelle Bildung, den demokratischen Menschen, ein gemeinsames Europa – das waren zum Teil vorausschauende Ideen, die hintergründig Gemeinsamkeiten stiften konnten.112 Von einem rationellen Machtpolitiker ist eine solche Stiftung von Visionen, diese für ein Gemeinwesen essenzielle Funktion nicht zu erwarten. Die SPD benutzte Carlo Schmid auch als Galionsfigur, schickte ihn landauf und landab zu Diskussionsrunden, Parteiabenden, Gedenkveranstaltungen, Vorträgen. Schmid sollte zeigen, dass die Sozialdemokraten mehr zu bieten haben, als dogmatische Apparatschiks, er sollte allein durch seine bloße Präsenz und Eloquenz die Regierungsfähigkeit der Partei unter Beweis stellen. Denn: Er war von Herkunft und Habitus prädestiniert, dem „[…] Bürgertum die Gänsehaut vor der Sozialdemokratie zu nehmen […]“113.
Der Seiteneinsteiger profitiert von der Organisationsreform Daneben schien auch in die Partei Bewegung zu geraten, der Kreis der reformwilligen Sozialdemokraten erweiterte sich.114 Eine Organisationsreform konnte 1958 endlich auf den Weg gebracht werden. Die Institution des geschäftsführenden Parteivorstands – Sinnbild der sozialdemokratischen Traditionskompanie – wurde auf dem Stuttgarter Parteitag abgeschafft. Ein aus der Mitte des Parteivorstandes gewähltes elfköpfiges Präsidium trat an die Stelle der besoldeten Parteisekretäre. Das Erstaunliche daran war, dass bisherige besoldete Mitglieder wie Herta Gotthelf, Franz Neumann oder Fritz Heine nicht mehr in den Vorstand und somit auch nicht in das Präsidium gewählt wurden, sondern Bundestagsabgeordnete wie Erler, Deist, Schoettle, Schanzenbach, Wehner und eben Carlo Schmid. Somit ging die politische Führung der Partei de facto auf die Reformer der Bundestagsfraktion über.115 Um nicht Vieles anders, aber Einiges besser zu machen, teilten sich die Präsidiumsmitglieder die vielfältigen Aufgaben der Parteiführung untereinander auf. Jeder bekam einen Arbeitsbereich: Erwin 112 Vgl. Vitzthum, Wolfgang Graf: Der Dichter und der Staat. Zum Aufeinander-Angewiesensein von Politik und Literatur, in: Walter, Jens: Dichter und Staat über Geist und Macht in Deutschland. Eine Disputation zwischen Walter Jens und Wolfgang Graf Vitzthum, Berlin/New York 1991, S. 5-49, hier S. 14 f. und S. 27. 113 Wolfrum 1991, S. 119 114 Vgl. Walter 2002, S. 147. 115 Vgl. Lösche, Peter/Walter, Franz: Die SPD. Klassenpartei – Volkspartei – Quotenpartei. Zur Entwicklung der Sozialdemokratie von Weimar bis zur deutschen Vereinigung, Darmstadt 1992, S.188 f.
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Schoettle beispielsweise war für die Finanzpolitik, Kommunales und Wohnungsbau zuständig, Waldemar von Knoeringen kümmerte sich um Kultur, Länderpolitik und Propaganda, Herbert Wehner nahm sich den Themen Organisation, Presse, Rundfunk, Fernsehen, Betriebsgruppen, Sport, Vertriebenenpolitik und Referentenvermittlung an.116 Nur Carlo Schmid fungierte als Präsidiumsmitglied ohne ein eigenes Ressort. Weder die Kultur- noch die Außenpolitik – eigentlich seine Domänen – vertraute man ihm an. Er war der Einzige ohne einen selbständigen Arbeitsbereich, worin sich zum einen die fortbestehende Distanz zwischen seiner Partei und ihm niederschlug und zum anderen die Absicht, dass er der Repräsentant für alles und jeden bleiben sollte. Wahrscheinlich war es aber auch besser, Carlo Schmid kein eigenes Betätigungsfeld zu überlassen. Denn schon bald schwänzte er nicht nur die Sitzungen der neu gebildeten Programmkommission, sondern auch die Treffen des Präsidiums. Carlo Schmid hatte hochtrabende Pläne mit dem neuen Programm gehabt: Ihm schwebte vor, eine neue Sozialphilosophie zu entwickeln, statt eine Überarbeitung des vorhandenen Entwurfs anzustreben.117 Doch als er feststellen musste, dass die Genossen lediglich Teile seiner seit 1946 erhobenen Forderungen zu übernehmen bereit waren, erlahmte seine Motivation zur Mitarbeit. Obwohl er sich später selbst gern als Vater des Godesberger Programms stilisierte, trug er doch kein Komma zu diesem bei. Dennoch befand sich Schmid zunächst weiter im Aufwind. Fritz Erler, Herbert Wehner und Carlo Schmid – gewissermaßen als Trittbrettfahrer der Programmreformer – setzten sich gegen den Willen Erich Ollenhauers durch und zwangen sich dem Partei- und Fraktionsvorsitzenden als gleichberechtigte Stellvertreter im Bundestag auf. Fortan war das Trio Erler, Wehner und Schmid als das »Frühstückskartell« bekannt. In regelmäßigen Zusammenkünften zur ersten Mahlzeit des Tages diskutierten die drei von ihrer sozialen Herkunft, ihrem Naturell und ihren programmatischen Grundideen höchst verschiedenen Männer über eine gemeinsame Linie in der Fraktion und der Partei,118 wobei sie das gemeinsame Ziel einte, die SPD aus der politischen Sackgasse herauszuführen und organisatorische Unzulänglichkeiten zu überwinden.119 Schmid stand auf dem Zenit seiner politischen Karriere. Als 1959 ein neuer Bundespräsident gefunden werden musste, war es fast selbstverständlich, dass die Sozialdemokratie ihn als Kandidaten aufstellte. Er war, aufgrund seiner Popularität und seiner bürgerlichen Affinitäten, der aussichtsreichste Sozialdemokrat für diese repräsentative Aufgabe. Seine Lust am Präsidieren, seine Hochschätzung der symbolischen Politik,120 seine Gelehrsamkeit, aber auch die ihm im In- und Ausland entgegengebrachte Verehrung prädestinierten ihn geradezu für das höchste Staatsamt der Bundesrepublik. Und sicherlich wäre er ein ausgezeichneter Bundespräsident geworden – wenn dieser statt von der Bundesversammlung vom Volk gewählt werden würde. So aber war er aufgrund der Machtverhältnisse in der Bundesversammlung gegen den schwachen Kandidaten der Union, Heinrich Lübke, von vorneherein chancenlos. 116
Vgl. Renger 1993, S. 173. Vgl. Weber 1996, S. 576. Vgl. Soell: Erler Band 1, 1976, S. 300. 119 Vgl. Klotzbach 1982, S. 403. 120 Es drängte sich durchaus der Eindruck auf, als sei Symbolpolitik mitunter wichtiger für Schmid gewesen als Realpolitik. So achtete er beispielsweise bei Empfängen von Staatsgästen peinlichst genau auf die Einhaltung des Protokolls, dass er – als Vizepräsident des Bundestages den zweithöchsten Rang des Staats bekleidend – den Gästen vor Adenauer die Hand schüttelte; vgl. Weber 1996, S. 414 und S. 392. 117 118
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Die Kanzlerkandidatur in Sicht Von der sicheren Warte des Rückblicks aus erscheint es auch ganz so, als hätten die Genossen ihren Carlo nur als Bundespräsidentschaftskandidaten aufgestellt, damit Öffentlichkeit und Medien endlich aufhörten, über einen Schattenkanzler namens Schmid zu debattieren. Dieses, zwischen 1957 und 1959 immer wieder kursierende Gerücht war aber nie mehr als ein Hirngespinst. So schrieben bereits 1957 einige Zeitungen, Schmids Rolle im neu konstituierten Fraktionsvorstand sei nur die eines unentbehrlichen Symboles für die Partei, einer faszinierenden, massenwirksamen Persönlichkeit. Auch wurde darauf spekuliert, dass sich, so früh ins Gespräch gebracht, rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl sein Name abnutzen würde und in der Fraktionsführung seine gouvernementalen Schwächen zu Tage träten.121 Tatsächlich hatte Schmid im Zweikampf mit Willy Brandt um die Kanzlerkandidatur bald schon schlechte Karten. Denn jetzt mehrten sich die Spekulationen in der Presse, ob er – im Gegensatz zu dem Jugendlichkeit ausstrahlenden Berliner Bürgermeister – physisch die Strapazen eines Wahlkampfs überhaupt durchstehen könne. Diese Verdächtigungen waren natürlich nicht völlig aus der Luft gegriffen, denn Schmid hatte 1956 auf einer Reise nach Bangkok einen schweren Schlaganfall erlitten, der eine langwierige Rekonvaleszenz nach sich gezogen und deutlich sichtbare Spuren hinterlassen hatte. Schmid wirkte, als er sich nach langer Zeit erstmals wieder in der Öffentlichkeit zeigte, deutlich abgemagert und um Jahre gealtert. Er galt am Ende der 1950er Jahre nicht gerade als einer der belastbarsten Politiker Bonns.122 Zeitgleich wuchs das Ansehen Brandts mit der Zuspitzung der Berlin-Krise. Statt Carlo Schmids war nun der telegene Willy Brandt das Lieblingskind der Reporter. Der untersetzte Bildungsbürger Schmid mit dem zerfurchten Gesicht konnte in der sich wandelnden Medienlandschaft nicht mehr reüssieren. Für das Fernsehen waren seine Reden zu lang, seine Sätze zu unverständlich, sein Pathos zu ölig und seine Erhabenheit zu dünkelhaft. Außerdem wirkten sich seine zahlreichen ausländischen Verpflichtungen, seine ständige Abwesenheit, manchmal seine zum Teil monatelang währende Flucht in sein winziges, mit Gartenzwergen vollgestopftes Haus in Südfrankreich nicht förderlich auf seine Kanzlerkandidatur aus. Letztendlich ahnte Schmid wohl auch, dass sich Wehner – der eigentliche mächtige Mann der Partei in diesen Jahren – bereits für Willy Brandt entschieden hatte, da dessen Aufstellung die größeren Erfolgsaussichten für die SPD bot. Carlo Schmid wusste, dass sich keine sozialdemokratischen Brigaden für seine Kandidatur einsetzen würden und so sprach er sich schließlich, nachdem sich bereits auf der Präsidiumssitzung im Sommer 1960 Willy Brandt als Kanzlerkandidat der SPD herauskristallisiert hatte,123 schweren Herzens auf dem Parteitag in Hannover für die Kandidatur des Jüngeren aus.
121
Vgl. o.V.: Zunehmende Reformbestrebungen in der SPD, in: Süddeutsche Zeitung, 02./03.11.1957. Vgl. o.V.: Nachtgespräch mit Carlo Schmid, in: Abendpost, 28./29.11.1959. 123 Vgl. Meyer 2006, S. 237 f. 122
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Es konnte nicht gelingen Carlo Schmid hatte nie eine realistische Chance auf einen Einzug in die Villa Hammerschmidt und war auch nicht ernsthaft als Favorit für einen sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten im Spiel – dennoch hinterließen die Spekulationen, Bonner Flüstereien und die darauf folgenden Herabwürdigungen bleibende seelische Verletzungen und Frustrationen bei dem politisierenden Homme de Lettres. Weil er diese Bedrückungen eigentlich nicht ertragen konnte, wollte er sich ihnen auch kaum freiwillig aussetzen. Auch deshalb kämpfte er nie um ein Amt, ließ sich bitten, stellte sich zur Verfügung, wenn die Partei ihn brauchte.124 Doch mit dieser Einstellung kann man kein erfolgreicher Politiker sein, können keine großen Ämter erobert werden. Und: Der angelernte Sozialdemokrat hatte seine Funktion in dem Moment, wo die SPD die Organisationsreform vollzogen und das neue Grundsatzprogramm verabschiedet hatte, erfüllt. Schmids Forderungen nach einer Öffnung der Partei für alle gesellschaftlichen Schichten, nach einem Verzicht auf marxistische Dogmatik und antiquierte Symbolik, mit denen er zwanzig Jahre dem traditionsreichen Apparat zugesetzt hatte, waren weitgehend umgesetzt. Zusätzlich wurde er in seiner Funktion als „Zugpferd für das Bürgertum“ seit den 1960er Jahren von Karl Schiller abgelöst. Nicht Carlo Schmid war der Kontaktmann der Sozialdemokratie zu Künstlern und Intellektuellen, sondern Schiller.125 Nicht mehr der ewig dozierende Carlo Schmid war der Starredner des Parlaments, sondern – abermals – Schiller. Schmid spielte einfach keine Rolle mehr beim Wettbewerb um die Position des intellektuellen sozialdemokratischen Chefdenkers.126 Doch dies waren nicht die einzigen Ursachen für die entgangenen Spitzenposten Bundespräsident und Kanzlerkandidat sowie der nun folgende politische Abstieg. Auch weil er nicht in der Lage war, ein eigenes Politikfeld zu besetzen, blieb ihm, der im Wahlkampf 1961 noch als Außenminister des Brandtschen Schattenkabinetts im Gespräch war,127 1965 nur noch die Zuständigkeit für kulturelle Angelegenheiten.128 Als die Sozialdemokraten endlich Regierungsverantwortung übernehmen durften, bekam er, der sich immer noch für unersetzlich hielt,129 wenige Tage vor seinem siebzigsten Geburtstag schließlich bloß das Bundesministerium für Angelegenheiten des Bundesrates – um dann, im Jahr 1969, bei der Ämterverteilung der neugebildeten sozialliberalen Koalition ganz leer auszugehen.
Scheitern am Karriereende? Am Ende passte Carlo Schmid immer weniger in die gewandelte Sozialdemokratie und das sich anbahnende technokratische Zeitalter. Um in Zukunft ohne die Christdemokraten regieren zu können, musste die SPD dynamischer, unverbrauchter und moderner erscheinen 124 Leber, Georg: Carlo Schmid – ein Demokrat und Patriot, in: Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.) 1997, S. 191-202, hier S. 199. 125 Vielleicht war Schmid die Dichterkritik bei Platon in Bezug auf die griechische Gesellschaft zu präsent, um Künstler und Dichter überzeugend für die politische Arbeit gewinnen zu können. 126 Vgl. Lütjen, Torben: Karl Schiller (1911-1994). „Superminister“ Willy Brandts, Bonn 2007, S. 205. 127 Vgl. Gong, Walter: Momentaufnahme im Wahljahr: Carlo Schmid der elegante Fechter, in: Die Zeit, 28.07.1961. 128 Vgl. Merseburger, Peter: Willy Brandt. 1913-1992. Visionär und Realist, München 2004, S. 472. 129 Vgl. Ihlefeld, Heli: Die Nächte sind lang und ich schlafe schlecht, in: Münchener Abendzeitung, 03.12.1966.
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als die CDU. Wirtschaftspolitische Experten, Fachleute und Männer, die zupacken konnten, – Karl Schiller, Helmut Schmidt, Willy Brandt –, standen für dieses Programm. Der in der Literatur des 19. Jahrhunderts und den Politikbegriffen der Antike verhaftete Schöngeist Carlo Schmid war nichts von alledem. Der Zeitgeist wandelte sich rapide. Überkommene Einstellungen, Mentalitäten und Werte machten einem neuen Denken Platz. Eine zahlenstarke junge Kohorte meldete sich kraftvoll, laut und ungebärdig zu Wort. In der Wissenschaft vollzog sich eine Schwerpunktverlagerung von den Geistes- zu den Naturwissenschaften und im politischen Bereich wurden Begriffe wie „Steuerung“ und „Planung“ zu Leitvokabeln. Kurzum: Die Generation Schmids stand vor dem Abtritt, die Zeit war über sie hinweggegangen. Nach 1945, als so vieles möglich schien, zeichnete sich dies zunächst nicht ab. Carlo Schmid, ein von der Besatzungsmacht protegierter, vielbegabter Jurist, dessen Fähigkeiten und Erfahrungen gefragt waren und benötigt wurden, konnte so – jeglicher politischer Erfahrungen und parteiaffinen Kontakte entbehrend – zum politischen Star aufsteigen und an den Grundsteinen der demokratischen Bundesrepublik mitarbeiten, sogar zum Gründungsvater der westdeutschen Nachkriegsdemokratie aufsteigen.130 Ab 1948, nachdem der der Vorsitzende der Sozialdemokraten Kurt Schumacher die Partei auf seine Linie eingeschworen hatte, wurde der Handlungsspielraum deutlich enger für den Seiteneinsteiger. Und ein Seiteneinsteiger, immer ein bisschen im Abseits stehend, blieb Schmid – obwohl er 22 Jahre im Bundestag sein Mandat wahrnahm. Denn er haderte mit seiner Partei und dem Dasein des homo politicus. Er konnte nur dort seine Kraft einsetzen und erfolgreich sein, wo ihm Handlungsspielraum und Gestaltungsfreiheit gewiss, die Strukturen offen waren. So war es kurz nach dem Einmarsch der Franzosen in Tübingen, so sahen die Gelegenheiten zur demokratischen Mitarbeit im Büro für Friedensfragen, auf den Ministerpräsidentenkonferenzen, im Parlamentarischen Rat aus, so waren die Freiheiten beim Aufbau des stetig wachsenden europäischen Institutionensystems wie der Europa-Union, der Westeuropäischen Union und schließlich des Europarates. Doch nur weil Carlo Schmid nie Fraktionsführer wurde, als Bundespräsident an der Wahl scheiterte, als Kanzlerkandidat erst gar nicht aufgestellt wurde und ihm ein bedeutendes Ministeramt versagt blieb, bedeutet das nicht, dass seine Karriere rundweg gescheitert wäre.131 Denn: Schmid hätte ebenso gut Bürgermeister in Tübingen werden oder nur Professor bleiben können,132 und im Vergleich zu so manch anderem Parteigenossen, der in der Oppositionsarbeit verschlissen wurde, erreichte Carlo Schmid doch eigentlich gar nicht so wenig. Außerdem: Wenn Erfolg bedeuten sollte, Spuren in der Geschichte hinterlassen zu haben, dann kann man einen Carlo Schmid – dessen europäische Vorstellungen sich mit der Deutschen Einheit bewahrheiten sollten und der anlässlich seines hundertsten Geburtstags nicht nur von sozialdemokratischen Historikern in den staatsmännischen Olymp erhoben wurde – kaum gescheitert nennen. Carlo Schmid hat als Seiteneinsteiger viel erreicht: Er war an der Organisationsreform und Programmrevision der traditionsreichsten Partei zwar nicht direkt beteiligt, beeinflusste aber durch seine symbolische Präsenz und sein punktuelles Agieren, durch seine Andersartigkeit und sein Mahnen langfristig positiv und wirkmächtig die Sozialdemokratie. Er half 130 Vgl. Raberg, Frank: Wie Carlo Schmid in die Politik kam. Vom Landesdirektor in Stuttgart zum provisorischen Regierungschef in Tübingen, in: Taddey (Hrsg.) 1997, S. 9-20, hier S. 15. 131 So wie es beispielsweise der Tenor der Schmid-Biografie Petra Webers ist. 132 Vgl. Hirscher 1986, S. 300.
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der Partei, eine Volkspartei zu werden, auch weil er der einzige führende Sozialdemokrat war, der der katholischen Kirche angehörte und bereits seit den späten 1940er Jahren in diese Richtung Kontakte knüpfte. Dennoch meinen Viele, ein Mann mit den Möglichkeiten und Fähigkeiten von Carlo Schmid hätte mehr erreichen müssen. Die geflügelten Worte Theodor Eschenburgs über Schmid: „Viel wollte er, mehr konnte er, wenig erreichte er!“133, sollten dies andeuten. Doch wollte Carlo Schmid überhaupt mehr erreichen? Der politische Kampf war dem eitlen Professor zu schmutzig und die politische Demagogie dem sich geistig überlegen fühlenden Bildungsbürger zu billig, als dass er je um Ämter, Mandate und Positionen gerungen hätte. Der Quereinsteiger war von 1949 bis 1972 – mit Ausnahme seiner Zeit als Bundesminister in der Großen Koalition – Vizepräsident des Bundestages. Dort war er eine Autorität, nicht im klassischen machtpolitischen Sinn, sondern aufgrund seines Geistes, seiner Bildung und seiner vielfältigen menschlichen Kontakte und Beziehungen.134 Schmid war als Vizepräsident bemüht, die hitzigen parlamentarischen Redeschlachten unparteiisch und gerecht gegen jedermann zu führen, die Debatten in geordnete Bahnen zu lenken135 und durch seine geistreichen Zitate, klugen Anmerkungen und Aphorismen zu bereichern. Somit schuf er, immerhin als ein politischer Seiteneinsteiger, eine gute Basis für das Gelingen der Parlamentsarbeit.
133 Zitiert nach Morsey, Rudolf: Einführung, in: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (Hrsg.) 1997, S. 15. 134 Vgl. Schmidt, Helmut: Carlo Schmid 1896-1976. Vortrag vor dem Gesprächskreis Geschichte der FriedrichEbert-Stiftung in Bonn am 16. Oktober 1996, Bonn 1996, S. 8. 135 Vgl. Wengst 1984, S. 203 und S. 205.
Ludwig Erhard – parteiloser Berufspolitiker und gescheiterter Volkskanzler Christina Gillessen / Ulrich Eith
Im Sinne der Definition dieses Bandes handelt es sich bei Ludwig Erhard nur insofern um einen politischen Seiteneinsteiger, als er die meiste Zeit seiner Karriere parteilos blieb und vor seinem Einstieg in die Politik mehrere Jahre erfolgreich an einem wirtschaftswissenschaftlichen Forschungsinstitut beschäftigt war. Betrachtet man hingegen die Zeit und die Umstände, in denen seine politische Karriere begann, kann Erhard kaum als Seiteneinsteiger angesehen werden. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich das demokratische System wieder im Aufbau und die Parteien waren auf der Suche nach fähigem, politisch unbelastetem Personal. Nach Phasen einer Diktatur wie der des Dritten Reichs rekrutiert sich das politische Personal in den meisten Fällen zwangsläufig aus Personen, die zuvor nicht aktiv in der Politik tätig gewesen sind. Darüber hinaus unterscheidet sich Erhard von vielen Seiteneinsteigern dadurch, dass er über mehrere Jahre hinweg zielstrebig auf eine politische Karriere hinarbeitete. Während der Einstieg in die Politik bei manch anderem dadurch zu Stande kam, dass er aufgrund seines Expertenwissens ein politisches Amt angeboten bekam, bemühte sich Erhard selbst aktiv um politische Entscheidungspositionen. Beharrlich verfolgte er das Ziel, das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft langfristig in der Bundesrepublik durchzusetzen. Vierzehn Jahre lang war er als Bundeswirtschaftsminister und Symbolfigur für die CDU erfolgreich. Dem folgten weitere drei Jahre als Bundeskanzler, in denen er die großen Erfolge jedoch nicht fortführen konnte und schließlich vorzeitig aus dem Amt schied. Im Folgenden soll zunächst betrachtet werden, wie aus dem parteilosen Wissenschaftler Erhard der Vater des deutschen Wirtschaftswunders wurde. Hauptaugenmerk liegt dabei auf der Art und Weise, wie Erhard die politischen Umstände der Nachkriegszeit für sich zu nutzen wusste und seine Wirtschaftspolitik mit Nachdruck durchsetzte. Danach sind die Gründe für sein späteres Ausscheiden zu untersuchen. Von besonderem Interesse sind dabei vor allem sein Verhältnis zur CDU und deren Führung sowie sein Selbstverständnis als Politiker. Von einem Scheitern Erhards kann jedoch nach einer insgesamt siebzehnjährigen Karriere als Bundeswirtschaftsminister und Bundeskanzler kaum die Rede sein.
Einflüsse und Karriere vor dem Einstieg in die Politik Nach Ende des Ersten Weltkriegs, aus dem Erhard verletzt heimkehrte, nahm er 1919 ein Studium der Betriebswirtschaftslehre an der Handelshochschule Nürnberg auf. Dies war damals noch ohne Abitur möglich, Erhard hatte nur einen Realschulabschluss. Wichtigster Lehrer und Förderer Erhards zu dieser Zeit war der Rektor der Handelshochschule Wilhelm Rieger. Von ihm lernte Erhard die systematischen und theoretischen Grundlagen einer liberalen Wirtschaftspolitik. Zur Betriebswirtschaftslehre entwickelte Erhard aber nie eine
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engere Bindung, wesentlich stärker interessierte er sich für volkswirtschaftliche und soziologische Fragestellungen. Daher entschloss er sich nach Erhalt seines Diploms in Nürnberg 1922, nach Frankfurt zu ziehen und dort am Lehrstuhl für Soziologie und ökonomische Theorie zu promovieren. Inhaber dieses Lehrstuhls war Franz Oppenheimer, der Erhards wirtschaftspolitisches Denken stark beeinflusste. Oppenheimer bezeichnete sich selbst als liberalen Sozialisten. Die ihm vorschwebende Wirtschaftsordnung war eine Marktwirtschaft, die sich – von außerökonomischer, politischer Gewalt weitgehend befreit – in freier Konkurrenz und im Rahmen der Werte „Frieden, Freiheit, brüderliche Gemeinschaft, Genossenschaft, Humanität“ entfaltet. Für Erhard war Oppenheimers reine Ökonomie eine Idealvorstellung, die als Wertmaßstab und Grundorientierung ihre Berechtigung hatte, die ihm in der Realität aber nicht umsetzbar erschien. Reale Gegebenheit war für Erhard die politische Ökonomie, in der man sich einzurichten hatte. Diese Erkenntnis spiegelt sich in seinen Entwürfen zur Sozialen Marktwirtschaft wider.1 Nach Abschluss seiner Promotion war Erhard von 1928 bis 1942 am Nürnberger Institut für Wirtschaftsbeobachtung der deutschen Fertigware beschäftigt. Zunächst übernahm er dort wissenschaftliche Hilfsarbeiten, wurde dann erster Assistent und ab 1933 Geschäftsführer und Stellvertreter des Direktors Wilhelm Vershofen.2 Während der Weltwirtschaftskrise in den Jahren nach 1929 erarbeiteten Vershofen und Erhard gemeinsam Vorschläge zur Wiederbelebung der Wirtschaft von Seiten des Verbrauchers. Erhard veröffentlichte diese Vorschläge in mehreren Aufsätzen, unter anderem auch in der linksbürgerlichen kulturpolitischen Wochenschrift „Das Tagebuch“. Deutlich wurde hierbei, dass er damals politisch eher den Sozialdemokraten nahe stand.3 Diese Nähe verhinderte nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten Erhards angestrebte Hochschulkarriere. Seine Habilitationsschrift hatte er bereits im Jahr 1933 fertiggestellt, doch die Universität Nürnberg verweigerte ihm die Anerkennung. Laut Erhard war der Grund hierfür seine Weigerung, der NSDAP und dem NS-Dozentenbund beizutreten. Kritiker Erhards bezweifeln demgegenüber grundsätzlich die Qualität seiner Habilitationsschrift und seine Befähigung zum Wissenschaftler.4 Im Jahr 1942 trennte sich Erhard vom Institut für Wirtschaftsbeobachtungen, nachdem Vershofen zuvor in den Ruhestand gegangen war. Erhard als dessen Stellvertreter hatte erwartet, zum Nachfolger berufen zu werden, eine Beförderung, der jedoch seine mangelnden Verbindungen zur NSDAP entgegen standen. .5 Noch im selben Jahr gründete Erhard mit finanzieller Unterstützung der Reichsgruppe Industrie ein eigenes Institut für Industrieforschung. Dort arbeitete er an einer Konzeption zur Umstellung der deutschen Wirtschaft von Kriegs- auf Friedensbedingungen und an Vorschlägen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau. Nachkriegsplanungen waren eigentlich seit dem Führererlass von 1942 offiziell verboten. Es ist daher anzunehmen, dass Erhard, um sein Planungsprogramm fortführen zu 1 Vgl. Laitenberger, Volkhard: Ludwig Erhard. Der Nationalökonom als Politiker, Göttingen u.a. 1986, S. 12 ff.; Mierzejewski, Alfred C.: Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft, München 2006, S. 21 ff.; Hildebrand, Klaus: Ludwig Erhard, in: Gall, Lothar (Hrsg.): Die großen Deutschen unserer Epoche, Berlin 1985, S. 368-378, hier S. 369. 2 Vgl. Laitenberger 1986, S. 19; Mierzejewski 2006, S. 26 f. 3 Vgl. Laitenberger 1986, S. 24. 4 Vgl. Hentschel, Volker: Ludwig Erhard – Mann und Mythos, in: Haus der Geschichte Bonn (Hrsg.): Ludwig Erhard und seine Politik, Bonn 1998, S. 111-122, hier S. 112. 5 Vgl. ders.: Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München 1996, S. 26 f.; Laitenberger 1986, S. 34; Mierzejewski 2006, S. 39.
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können, im engen Kontakt zum Reichswirtschaftsministerium stand.6 Die Tatsache, dass Erhard zum Ende des Kriegs bereits ein ausgearbeitetes Konzept zum wirtschaftlichen Wiederaufbau besaß, öffnete ihm dann im Nachkriegsdeutschland den Weg in die Politik.
Einstieg in die Politik und Aufstieg zum Bundesminister für Wirtschaft 1945 bot Erhard der amerikanischen Militärbesatzung an, sie bei der Wiederingangsetzung der Industrie in seiner Heimatstadt Fürth zu unterstützen. Die Amerikaner erteilten ihm den Auftrag. Erhard wurde dem Landeswirtschaftsamt als ehrenamtlicher Mitarbeiter zugeordnet und von der Militärregierung mit Handlungsvollmachten ausgestattet.7 Seine Arbeit in Fürth und seine politische Unbelastetheit überzeugten die Amerikaner und sie ernannten ihn zum wirtschaftlichen Berater der amerikanischen Militärregierung für Mittel- und Oberfranken. Diese empfahl Erhard wiederum der Militärregierung für Bayern. Nach eingehender Prüfung wurde Erhard schließlich am 22. Oktober 1945 zum bayerischen Staatsminister für Wirtschaft ernannt.8 Erhards eigene Behauptung, er sei „eine amerikanische Entdeckung“, trifft demnach nur bedingt zu. Durch die Beharrlichkeit, mit der er seine Pläne den verschiedenen Ebenen der amerikanischen Militärregierung anbot, hat er seinen Einstieg in die Politik größtenteils selbst herbeigeführt. Während seiner Zeit als parteiloser bayerischer Staatsminister für Wirtschaft bewegte Erhard sich häufig in Kreisen der Deutschen Demokratischen Partei und trat auf Kundgebungen mit deren Vorsitzenden Thomas Dehler auf. Er bekannte sich offen zu seiner liberalen politischen Einstellung, ohne allerdings der 1946 aus der DDP hervorgegangenen FDP beizutreten.9 Erhard engagierte sich mit Nachdruck für die wirtschaftliche Zusammenführung der britischen und der amerikanischen Besatzungszonen zu einer Verwaltungseinheit und war besonders aktiv bei der organisatorischen Vorbereitung und Einrichtung dieser sogenannten Bizone. Ein großer Erfolg war dabei für ihn, dass es ihm gelang, den Hauptsitz der Verwaltungsorgane der Bizone in Bayern anzusiedeln. Dies war ein politisch bedeutsamer Schritt, da die amerikanische Militärregierung eine stärker marktwirtschaftlich orientierte Linie verfolgte als die britische.10 Erhards Amtszeit als bayerischer Wirtschaftsminister endete mit der ersten freien Landtagswahl in Bayern am 1. Dezember 1946. Die CSU hatte die absolute Mehrheit im Landtag erreicht. Dennoch entschied man sich zu einer großen Koalition aus CSU, SPD und WAV unter CSU-Ministerpräsident Hans Ehard.11 Nach seinem Ausscheiden aus der Landespolitik forcierte Erhard seine Karriere in der Wirtschaftsverwaltung der Bizone. 1947 wurde er zum Vorsitzenden der Sonderstelle Geld und Kredit des bizonalen Wirtschaftsrates in Frankfurt am Main ernannt.12 Der Wirtschaftsrat war ein von den Landtagen mit Parteivertretern beschicktes Organ. Unter Aufsicht der britischen und amerikanischen Militärregierungen verfügte der Wirtschaftsrat über gewisse legislative Befugnisse im Be6 Vgl. Andersen, Uwe: Ludwig Erhard, in: Kempf, Udo/Merz, Hans-Georg (Hrsg.): Kanzler und Minister 19491998, Wiesbaden 2001, S. 231-241, hier S. 232; Mierzejewski 2006, S. 40 ff. 7 Vgl. Laitenberger 1986, S. 44 f 8 Vgl. Andersen 2001, S. 232; Hildebrand 1985, S. 369 f. 9 Vgl. Laitenberger 1986, S. 48. 10 Vgl. ebd., S. 50. 11 Vgl. Andersen 2001, S. 232. 12 Vgl. ebd.; Hildebrand 1985, S. 370.
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reich der Wirtschaftspolitik. Die Aufgabe des Rates war die Ausarbeitung eines Plans zur Währungsreform.13 Im März 1948 wurde Erhard zum Direktor der Wirtschaftsverwaltung der Bizone gewählt. Seine Kandidatur wurde von der FDP vorgeschlagen. Diese hatte sich zuvor bereit erklärt, bei der Wahl des Oberdirektors den Kandidaten der CDU/CSU zu unterstützen. Im Gegenzug stimmten die Abgeordneten der Unionsparteien für Erhard als Direktor.14 Mit der Einigung von Union und FDP auf den Kandidaten Erhard erfolgte 1948 eine entscheidende Vorprägung für die Koalitionsbildung nach der ersten Bundestagswahl ein Jahr später.15 Als Direktor der bizonalen Wirtschaftsverwaltung war Erhard an einer politischen Schlüsselposition angekommen. Die vom Wirtschaftsrat gewählte Verwaltung war zwar noch der Militärregierung untergeordnet und besaß daher nur eingeschränkte Kompetenzen. Da sie aber von Abgeordneten der Länderparlamente gewählt wurde, ist sie letztlich mit einer ersten westdeutschen Regierung vergleichbar.16 Erhard nutzte die ihm zur Verfügung stehenden Kompetenzen, um seine wirtschaftspolitischen Vorstellungen durchzusetzen. Kraft seines Amtes als Direktor der Wirtschaftsverwaltung leitete Erhard die vom Konklave von Rothwesten beschlossene Währungsumstellung zur Deutschen Mark. Nach seinen Vorstellungen sollte die Währungsreform einen Prozess in Gang setzen, an dessen Ende eine neue Wirtschaftsordnung stehen würde. Die Planwirtschaft, die nach Erhard die politische Freiheit des Einzelnen gefährdet, sollte endgültig beseitigt werden. So setzte Erhard dem von der SPD unterstützten Zentralismus und den sozialdemokratischen Vorstellungen einer staatlich gelenkten Wirtschaft ein föderalistisches Konzept entgegen. In diesem Punkt kam er den programmatischen Positionen der CDU nahe.17 Und um einem zögerlichen Vorgehen der Alliierten vorzugreifen, verband er in seiner Funktion als Direktor der Wirtschaftsverwaltung die Währungsumstellung eigenmächtig und ohne vorherige Absprache mit den Alliierten mit der Aufhebung der Bewirtschaftungsregulierungen und der Preisbindung.18 Auf die Kritik des Militärgouverneurs Lucius D. Clay, mit der Änderung der Bewirtschaftungsvorschriften in die Rechte der Alliierten eingegriffen zu haben, antwortete Erhard: „Ich habe sie nicht abgeändert, ich habe sie aufgehoben.“19 Erhards Maßnahmen führten zunächst zu einem Ungleichgewicht zwischen geldkräftiger Nachfrage und vorhandenem Güterangebot und dadurch zu massiven Preissteigerungen. Erhard geriet ins Kreuzfeuer der Kritik: Zweimal stellte die SPD im Verwaltungsrat erfolglos einen Misstrauensantrag gegen ihn und die Gewerkschaften riefen zum Generalstreik auf. Schließlich stabilisierten sich die Preise und Erhard wurde zum Symbol der neuen Wirtschaftspolitik.20 Als 1949 die Wahlen zum ersten deutschen Bundestag anstanden, wurde Erhard sowohl von der FDP als auch von der CDU umworben. Mit der FDP stand Erhard seit Jahren in Kontakt und seine wirtschaftspolitischen Pläne passten gut in das 13
Vgl. Laitenberger 1986, S. 56 ff. Vgl. ebd., S. 63; Hildebrand 1985, S. 370. 15 Vgl. Kaltefleiter, Werner: Bundeskanzler Ludwig Erhard 100 Jahre, in: Zeitschrift für Politik, H. 1/1997, S. 7285, hier S. 73; Uffelmann, Uwe: Der Frankfurter Wirtschaftsrat 1947-1949. Weichenstellung für das politische Kräftefeld und die Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik Deutschland, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 37/1984, S. 36-46, hier S.38. 16 Vgl. Andersen 2001, S. 232; Uffelmann 1984, S. 40. 17 Vgl. Uffelmann 1984, S. 43. 18 Vgl. Andersen 2001, S. 233; Mierzejewski 2006, S. 116 f.; Uffelmann 1984, S. 40. 19 Uffelmann 1984, S. 44. 20 Vgl. Andersen 2001, S. 234. 14
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Profil der Liberalen. Der CDU dagegen fehlten noch ein klares Konzept für ihre Wirtschaftspolitik und eine Person, die es glaubwürdig vertreten konnte.21 Der Parteivorsitzende Konrad Adenauer glaubte, beides mit Ludwig Erhard gefunden zu haben. Auf dem Parteitag der CDU im August 1949 erhielt Erhard die Gelegenheit, seine Wirtschaftspolitik ausführlich darzustellen. Seine Ausführungen wurden von den Delegierten mit Begeisterung aufgenommen und sie entschieden sich, daraus wirtschaftspolitische Leitsätze für den kommenden Wahlkampf zu formulieren.22 Die Bedenken des Arbeitnehmerflügels der Union, Erhard sei zu liberal, wischte Adenauer vom Tisch, ebenso wie die Kritik an dessen Parteilosigkeit. Adenauers Kalkül war es, den in der Bevölkerung bereits bekannten und aufgrund seiner Erfolge beliebten Erhard als Trumpf im Wahlkampf für die CDU zu gewinnen. Es ging ihm weniger um ein wirtschaftspolitisch konsistentes Programm als vielmehr um griffige, wahlkampfgeeignete Kernthesen.23 Für die FDP war Erhards Bündnis mit der CDU eine herbe Enttäuschung. Der FDPKreisverband Göttingen bot ihm im Mai 1949 die dortige Wahlkreiskandidatur an, die Erhard ablehnte. Diese Entscheidung zeigt deutlich, wie zielstrebig Erhard seine politische Karriere voran trieb. Trotz seiner langjährigen Unterstützung der FDP nahm er das Angebot einer CDU-Kandidatur an. Die FDP war ihm schlicht zu klein. Sie bot ihm keine ausreichend starke Basis für die Erreichung seiner politischen Ziele. Die Aussicht, eine große Volkspartei wie die CDU im Fall eines Wahlsiegs auf sein Konzept der Sozialen Marktwirtschaft festzulegen, war weitaus vielversprechender. Nicht zuletzt würde dies die von ihm in der Bizone initiierte Wirtschaftspolitik langfristig absichern. Im planwirtschaftlich ausgerichteten Kurs der SPD sah Erhard noch immer eine Gefahr.24 So sorgte Erhard für eine starke Polarisierung dieses Politikfelds, und die Debatte um die Wirtschaftsordnung wurde zur zentralen Konfliktdimension des deutschen Parteiensystems vor der Bundestagswahl 1949. Doch bereits wenige Jahre später, nachdem die deutsche Wirtschaft einen unübersehbaren Aufschwung erlebte, wurde Erhards Soziale Marktwirtschaft zum breiten Konsens in der Bundesrepublik.25 Die CDU stellte Ludwig Erhard bei der ersten Bundestagswahl als Spitzenkandidat in Württemberg-Baden auf. Die Kandidatur trat er nur zögerlich an, da dort wichtige Hochburgen der FDP lagen und er den Liberalen nicht in die Quere kommen wollte. Für Adenauer war aber genau dies der entscheidende Faktor. Er rechnete sich aus, dass der liberale Wirtschaftsdirektor im Stammland der Liberalen besonders gut abschneiden würde. 26 Erhards massiver Wahlkampfeinsatz für die CDU führte jedoch nicht zum Parteibeitritt. Er verstand seine Verbindung mit der CDU lediglich als optimale Wirkungschance für seine Wirtschaftspolitik, die sich durch ein gutes Verhältnis zur FDP noch verbessern ließ. So gab es Absprachen zwischen Erhard und den Parteispitzen von CDU und FDP, ihn als Repräsentanten einer von beiden Parteien gemeinsam getragenen Wirtschaftspolitik zu präsentieren.27
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Vgl. Uffelmann 1984, S. 40. Vgl. Laitenberger 1986, S. 77 f.; Andersen 2001, S. 234; Mierzejewski 2006, S. 136. 23 Vgl. Laitenberger 1986, S. 78. 24 Vgl. Andersen 2001, S. 234; Laitenberger 1986, S. 79. 25 Vgl. Kaltefleiter 1997, S. 73. 26 Vgl. Laitenberger 1986, S. 80 f. 27 Vgl. ebd., S. 81 f. 22
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Erhard als Bundeswirtschaftsminister Nach dem Wahlsieg der CDU bei der ersten deutschen Bundestagswahl und der Bildung einer Regierungskoalition mit der FDP wurde Konrad Adenauer am 20. September 1949 zum Bundeskanzler gewählt und Ludwig Erhard zum Bundeswirtschaftsminister ernannt.28 Seine Amtszeit dauerte insgesamt vierzehn Jahre, die Regierung Adenauers wurde dreimal hintereinander im Amt bestätigt. In der ersten Legislaturperiode musste Erhard seine wirtschaftspolitische Macht noch mit anderen Ministern teilen. Die Kompetenzen in der Außenwirtschafts- und Investitionspolitik lagen beim Marshallplan-Ministerium und die Geldund Kreditpolitik war beim Finanzministerium angesiedelt. Erhard war der Meinung, diese Bereiche gehörten ungeteilt zu seinem Ressort und seien unabdingbar für die Umsetzung seiner wirtschaftspolitischen Vorhaben. Konflikte mit den Inhabern der beiden anderen Ministerien blieben daher nicht aus. Mit seinem zunehmenden Erfolg als Wirtschaftsminister verbesserte sich allerdings auch seine Verhandlungsposition und so gelang es Erhard über die Jahre, sukzessive die Kompetenzen seines Ministeriums zu erweitern.29 In seiner vierzehnjährigen Amtszeit prägte Erhard das Bild des Bundeswirtschaftsministers. In den Augen der Bevölkerung wurde er zum Vater des deutschen Wirtschaftswunders und zur wichtigsten Leitfigur der Bundesregierung neben Konrad Adenauer. Seine Politik der Sozialen Marktwirtschaft setzte sich bis in die Reihen der Opposition durch. In ihrem 1959 verabschiedeten Godesberger Programm bekannte sich auch die SPD zur Sozialen Marktwirtschaft und distanzierte sich von ihren ehemals sozialistischen Vorstellungen.30 In der Außensicht entwickelte sich Erhards Wirtschaftspolitik zu einem Kennzeichen der Bundesrepublik.31 Dennoch besaß Erhard in der CDU keine eigene Hausmacht. Sein Rückhalt in der Partei beruhte einerseits auf dem Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft, andererseits auf Erhards enormem Bekanntheitsgrad und seinem unermüdlichen und stimmenträchtigen Wahlkampfeinsatz. Aus diesen Gründen war er für Adenauer zunächst unentbehrlich. Schon ab 1953 zeichnete sich jedoch immer deutlicher eine wachsende Aversion Adenauers gegen Erhard ab. Schrittweise entzog Adenauer dem Wirtschaftsminister die angesammelten Kompetenzen, so zum Beispiel Teile der Zuständigkeit für den Außenhandel und die deutsche EWG-Politik, die Wasser- und die Atomwirtschaft. Trotz verschiedener Auseinandersetzungen nahm Erhard die fortschreitende Entmachtung durch Adenauer letztendlich hin.32 Stoff für zusätzliche Konflikte lieferte zudem das gegensätzliche Politikverständnis der beiden. Adenauer legte größten Wert auf Kabinettsdisziplin, Erhard dagegen wollte seine Unabhängigkeit nicht verlieren. Er behielt sich vor, Regierungsentscheidungen, die er in der Kabinettssitzung noch mitgetragen hatte, in der Öffentlichkeit lautstark zu kritisieren und Kabinettskollegen anzugreifen.33 Und je klarer sich der Erfolg von Erhards Wirtschaftspolitik abzeichnete, desto zahlreicher wurden die Auseinandersetzungen zwischen Kanzler und Wirtschaftsminister. Nachdem die Union bei der Bundestagswahl 1957 mit Hilfe der „Wahllokomotive“ Erhard die absolute Mehrheit erreicht hatte, wurde Erhard 28
Vgl. ebd., S. 83 f. Vgl. Andersen 2001, S. 235; Laitenberger 1986, S. 85 f. 30 Vgl. Andersen 2001, S. 236. 31 Vgl. ebd., S. 235. 32 Vgl. o.V.: Macht ist dumm, in: Der Spiegel, 16.10.1963. 33 Vgl. Mierzejewski 2006, S. 145 f. 29
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Vizekanzler. Daraus leitete er den Anspruch ab, bald die Nachfolge des inzwischen 82jährigen Adenauers antreten zu können. Adenauer hingegen hielt Erhard als Kanzler für ungeeignet und versuchte in den folgenden Jahren, dessen Aufstieg zu verhindern.34 Laut Adenauer fehlte es Erhard am ideologisch fundierten Glauben an die europäische Integration, die der Kanzler persönlich mit großem Nachdruck vorantrieb, sowie an außenpolitischer Erfahrung.35 Außerdem sei Erhard zu unzuverlässig für das Amt des Kanzlers und lasse sich zu sehr von seinem Temperament leiten. Schließlich fehle es ihm an administrativen Fähigkeiten und er sei nachlässig bei der Erledigung von Verwaltungsangelegenheiten seines Ministeriums.36 Über die Frage der Kanzlernachfolge spitzte sich der Konflikt zwischen Adenauer und Erhard zu und gipfelte in der sogenannten Präsidentschaftsaffäre. Um Erhard als Nachfolger ausschließen zu können, legte ihm Adenauer 1959 nahe, für das Amt des Bundespräsidenten zu kandidieren. Damit wäre der Weg für Adenauer frei gewesen, als Nachfolger seinen Wunschkandidaten, Finanzminister Franz Etzel, aufzubauen. Die CDU/CSUBundestagsfraktion sprach sich allerdings gegen eine Kandidatur Erhards für das Präsidentenamt aus. Das Risiko, ohne Erhard in den Wahlkampf zur Bundestagswahl 1961 gehen zu müssen und Stimmen einzubüßen, war zu groß. Nachdem somit geklärt war, dass Erhard nicht kandidieren würde, brachte Adenauer sich selbst ins Spiel. Hintergrund seines plötzlichen Interesses für das Amt des Bundespräsidenten war die Annahme, dadurch der Fraktion einen von ihm gekürten Kanzlernachfolger aufzwingen zu können. Sofern es sich dabei um eine mehrheitsfähige Person handelte, war die Fraktion eventuell bereit, dies zu akzeptieren. Adenauer dachte dabei allerdings weiterhin an Franz Etzel. Statt jedoch wie von Adenauer gewünscht, das Nachfolgeproblem erst nach dessen Wahl zum Präsidenten zu entscheiden, hatte der Wettbewerb zwischen den potenziellen Kandidaten bereits begonnen. Schnell wurde deutlich, dass die Fraktion Franz Etzel nicht unterstützen würde sondern in Ludwig Erhard den bestmöglichen Kanzlernachfolger sah. Erhard ließ außerdem verlauten, dass er unter einem Kanzler Etzel nicht das Amt des Wirtschaftsministers übernehmen werde. Der Druck auf Adenauer, Erhard als seinen Nachfolger vorzuschlagen, stieg. Nachdem Erhard dann auch die Aufforderung Adenauers, auf die Kanzlerschaft zu verzichten, zurückwies, wählte dieser den letztmöglichen Schachzug, um den populären Erhard als seinen Nachfolger zu verhindern. Adenauer zog seine Kandidatur für das Amt des Bundespräsidenten zurück und verkündete, weiterhin und auf unbestimmte Zeit Bundeskanzler bleiben zu wollen. Offiziell begründete er seine Entscheidung mit außenpolitischen Notwendigkeiten, die seine Person erforderten.37 Auf der persönlichen Ebene bedeutete dieser Machtkampf zugleich den endgültigen Bruch zwischen Erhard und Adenauer. Im Bundestagswahlkampf 1961 trat die CDU erneut mit dem Spitzenkandidaten Adenauer an. Die FDP zeigte offene Unterstützung für Erhard als Adenauer-Nachfolger, indem sie mit ihrem Wahlkampfmotto auf eine bürgerliche Koalition unter Kanzler Erhard abzielte. Die Union verlor in dieser Wahl zwar ihre absolute Mehrheit, ein Aufstand in der Partei gegen Adenauer und zugunsten Erhards blieb jedoch aus. Die Bemühungen der FDP, in den 34
Vgl. Andersen 2001, S. 237; Laitenberger 1986, S. 140 ff.; Mierzejewski 2006, S. 243. Vgl. o.V.: Gottes Finger, in: Der Spiegel, 17.06.1959. 36 Vgl. o.V.: E ist dran, in: Der Spiegel, 29.04.1959. 37 Vgl. o.V.: Herzlich jelacht, in: Der Spiegel, 04.03.1959; o.V.: E ist dran, in: Der Spiegel, 29.04.1959; o.V.: Nach ihm die Sintflut, in: Der Spiegel, 20.05.1959; o.V.: Gottes Finger, in: Der Spiegel, 17.06.1959; o.V.: Macht ist dumm, in: Der Spiegel, 16.10.1963. 35
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Koalitionsverhandlungen doch noch Erhard als Kanzler durchzusetzen, wurden von Adenauer mit Androhung von Verhandlungen über eine große Koalition mit der SPD beendet. Die FDP akzeptierte schließlich eine weitere Kanzlerschaft Adenauers. Die Koalitionspartner verständigten sich aber darauf, dass der mittlerweile 85-jährige Adenauer noch in der kommenden Legislaturperiode abgelöst werden sollte.38 In den verbleibenden zwei Jahren seiner Amtszeit gelang es Adenauer nicht, seine Partei von seinem Wunschnachfolger Etzel zu überzeugen. So wählten die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP am 16. Oktober 1963 – gegen den anhaltenden Widerstand Konrad Adenauers – Ludwig Erhard zum Bundeskanzler.39
Erhard als Bundeskanzler und der politische Abstieg Mit der Übernahme des Bundeskanzleramtes sah sich Erhard mit neuen Aufgaben und Pflichten konfrontiert, um die er sich als Wirtschaftsminister wenig Gedanken hatte machen müssen. Vor allem im Bereich der Außenpolitik hatte Adenauer ihm offene Problemfelder hinterlassen. Eine der wichtigsten außenpolitischen Aufgaben Erhards war die Regelung des Verhältnisses zu Frankreich. Durch die Machtübernahme Charles de Gaulles 1959 und dessen nationalistischer und USA-kritischer Politik war die deutsche Außenpolitik in ein Spannungsfeld zwischen deutsch-französischen Beziehungen und europäischer Integration auf der einen und den transatlantischen Beziehungen und den Sicherheitsgarantien durch die USA auf der anderen Seite geraten. Adenauer hatte während seiner Amtszeit stets versucht, die sogenannten „Europäer“ und „Atlantiker“ taktisch miteinander zu versöhnen. Erhard dagegen missfiel der wirtschaftspolitische Kurs de Gaulles, der Mitte der 1960er Jahre sozialistische Züge annahm, und bezog klar Position zugunsten der Atlantiker. Die deutsch-französischen Beziehungen gerieten so in eine Krise. Außerdem entschloss sich Erhard, diplomatische Beziehungen mit Israel aufzunehmen, was zu einer Konfrontation mit den arabischen Staaten führte.40 Insgesamt zeigte sich, dass die Außenpolitik im Unterschied zu Adenauer nicht Erhards Stärke war. Er war besonders auf diesem Gebiet auf Berater angewiesen, unter denen sich wiederum noch einige Adenauer-Getreue befanden. So kam es zu etlichen Zusammenstößen zwischen dem neuen Kanzler und der Bürokratie.41 Entscheidend für Erhards Niedergang war dennoch die Innenpolitik. Ganz im Gegensatz zu Adenauer wollte sich Erhard als Volkskanzler präsentieren, der die Parteistrukturen umgeht und sich direkt an die Bürger wendet. Diese Strategie resultierte aus seinem Misstrauen gegenüber Parteien und Verbänden als Bindeglieder zwischen Volk und Staat. Im „unvernünftigen Kampf“ der Interessengruppen sah er die Gefahr, das tatsächliche Gemeinwohl zu verfehlen. Er glaubte an die Macht der vernünftigen Argumente und setzte sehr optimistisch auf das entsprechende Urteilsvermögen des Einzelnen. Bereits während seiner Zeit als Wirtschaftsminister Mitte der 1950er Jahre hatte er die Bürger in Radio und Presse persönlich zum Maßhalten aufgerufen.42 Seine kritische Haltung gegenüber interme38
Andersen 2001, S. 238; Laitenberger 1986, S. 157 ff.; Mierzejewski 2006, S. 275 f. Andersen 2001, S. 238; Mierzejewski 2006, S. 277. 40 Vgl. Kaltefleiter 1997, S. 81 f. 41 Vgl. Andersen 2001, S. 238; Hildebrand, Klaus: Ludwig Erhard: Kanzler zwischen Politik und Wirtschaft, in: Krane, Regina (Hrsg.): Ludwig Erhard und seine Politik, Bonn 1998, S. 11-21, hier S. 14; Mierzejewski 2006, S. 284. 42 Vgl. Hildebrand 1985, S. 372; Laitenberger 1986, S. 121; o.V.: Opfer fürs Volk, in: Der Spiegel, 17.10.1966. 39
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diären Organisationen manifestierte sich in der Idee der „formierten Gesellschaft“, Erhards innenpolitischem Programm für den Bundestagswahlkampf 1965. Die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Bundesrepublik sollte ein neues Fundament bekommen. Unter der formierten Gesellschaft verstand Erhard eine Gesellschaft, die nicht mehr durch ein Gegeneinander von Klassen und Gruppen zur Durchsetzung der jeweils eigenen Ziele gekennzeichnet ist, sondern die auf dem Zusammenwirken aller Gruppen und gesellschaftlichen Interessen beruht. Diese Gesellschaft forme sich nicht durch autoritären Zwang, sondern aus eigenem Willen und der Erkenntnis der gegenseitigen Abhängigkeiten. Dieses Konzept wollte er mit Hilfe verschiedener Reformen des politischen Prozesses verwirklichen, etwa einer längerfristigen Ausrichtung der Haushaltspolitik, einer Reform der Arbeit des Parlaments hin zu mehr politischer Diskussion sowie einer größeren Transparenz der Macht der Verbände und ihres Einflusses auf Regierung und Parlament.43 Ein solches Politikverständnis war jedoch mit den Realitäten einer parlamentarischen Demokratie kaum in Einklang zu bringen. Die äußerst idealistischen Vorstellungen eines Volkskanzlertums und der formierten Gesellschaft passten zudem nicht in eine moderne, pluralistische Gesellschaft, in der Freiheit auch die Freiheit zum harten Verfechten von Partikularinteressen einschließt.44 Erhards Verhältnis zur CDU blieb auch während seiner Amtszeit als Bundeskanzler distanziert. Zwar war er kurz vor seiner Wahl zum Kanzler der Partei beigetreten, dennoch besaß er noch immer keine Hausmacht. Die Unterstützung durch die Partei basierte lediglich darauf, dass er die mit seiner Amtsführung verbundenen Erwartungen erfüllte – nämlich für eine florierende Wirtschaft und für Wahlerfolge zu sorgen.45 Als 1964 ein neuer Parteivorsitzender gewählt werden sollte, verzichtete er auf eine Kandidatur und versäumte somit die Gelegenheit, seine Machtposition in der Partei zu stärken. Grund für seinen Verzicht war wiederum seine Abneigung gegen parteiinterne Positionskämpfe. Konrad Adenauer wurde für weitere zwei Jahre als Parteivorsitzender bestätigt und Erhard geriet damit in die paradoxe Lage, eine Partei zum Sieg führen zu sollen, deren Vorsitzender auf seine Ablösung als Bundeskanzler hinarbeitete.46 Ohne gesicherten Rückhalt in der CDU sollte Erhards Stuhl dann in dem Moment zu wackeln beginnen, als er die wirtschaftlichen Erwartungen der Wähler nicht mehr erfüllen konnte. In den Jahren 1964 und 1965 herrschte zunächst Hochkonjunktur. Die Realeinkommen der Arbeitnehmer stiegen erneut beträchtlich und die Regierung ließ sich im Vorfeld der Bundestagswahl 1965 zur Verteilung von Werbegeschenken in Form von ausgabeträchtigen Gesetzen hinreißen. Wider besseren Wissens unterstützte Erhard diese großzügig angelegte Ausgabenplanung. Der Union gelang daraufhin bei der Bundestagswahl 1965 ein glänzendes Wahlergebnis knapp unter der absoluten Mehrheit. Trotz erheblicher Verluste der FDP behielt die bürgerliche Regierungskoalition eine solide Mehrheit im Bundestag. Bei der Regierungsbildung beging Erhard jedoch den Fehler, sich auf langwierige Auseinandersetzungen mit einer CDU/CSU-Kommission über die Besetzung der Ministerposten 43 Vgl. Laitenberger 1986, S. 195; Mierzejewski 2006, S. 300; Niclauß, Karlheinz: Kanzlerdemokratie. Regierungsführung von Konrad Adenauer bis Gerhard Schröder, Paderborn u.a. 2004; Grosser, Dieter: Ludwig Erhard. Vom Symbol des Wirtschaftswunders zum gescheiterten Kanzler, in: Schneider, Franz (Hrsg.): Der Weg der Bundesrepublik. Von 1945 bis zur Gegenwart, München 1985, S. 57-76, hier S. 72. 44 Vgl. Andersen 2001, S. 239; Grosser 1985, S. 72; o.V.: Opfer fürs Volk, in: Der Spiegel, 17.10.1966. 45 Vgl. Andersen 2001, S. 239; Niclauß 2004, S. 111; Zundel, Rolf: Erhard bis zum bitteren Ende? Eine düstere Bilanz für die CDU, in: Die Zeit, 15.07.1966. 46 Vgl. Laitenberger 1986, S. 191; Niclauß 2004, S. 114.
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einzulassen. Statt gestärkt von seinem Erfolg auf eine schnelle Regierungsbildung mit Personen seines Vertrauens zu dringen, endeten die Verhandlungen mit der Zusammenstellung eines Kabinetts, in dem nur zwei eindeutig Erhard-treue Unionspolitiker saßen.47 Gegen Ende des Jahres schwächte sich die Konjunktur ab, während gleichzeitig die Preise stiegen. Die Bundesregierung musste mit wesentlich geringeren Steuereinnahmen rechnen, als im Haushalt für 1966 einkalkuliert waren. Die großzügigen Wahlversprechen waren größtenteils nicht einhaltbar. Erhard unterschätzte zunächst das Ausmaß der Rezession und kümmerte sich vorwiegend um die Preis- und Geldwertstabilität.48 Den Wählern in Nordrhein-Westfalen jedoch bereiteten die Krise in der Bergbau- und Stahlindustrie und der drohende Arbeitsplatzverlust weit größere Sorgen. Das Vertrauen in den Wirtschaftswundermann Erhard schwand, und trotz Erhards massivem Wahlkampfeinsatz verlor die CDU im Juli 1966 die Landtagswahl. Damit war Erhards Bonus als Wahllokomotive verbraucht und sein Ansehen als erfolgreicher Wirtschaftspolitiker stark getrübt. Die beiden Faktoren, auf denen die Unterstützung der CDU für Erhard basierte, waren weggebrochen. Daran konnte auch die Tatsache nichts ändern, dass er sich nach Adenauers altersbedingtem Rücktritt zu Beginn des Jahres doch noch zum Parteivorsitzenden hatte wählen lassen. Parteiinterne Gegner wie Rainer Barzel und Franz Josef Strauß hatten begonnen, planmäßig auf die Bildung einer großen Koalition hinzuarbeiten.49 Zur Behebung der Haushaltskrise hatte Erhard zunächst auf finanzielle Hilfe der USA gehofft. US-Präsident Lyndon B. Johnson, selbst mit der Deckung der hohen Kosten für den Vietnamkrieg befasst, versagte Erhard jedoch seine Unterstützung. Der Bundeskanzler, der stets sein äußerst gutes Verhältnis zu Johnson betont hatte, ging mit leeren Händen in die Haushaltsverhandlungen der Koalitionsparteien. Eine Erhöhung der Tabak- und Branntweinsteuer und gegebenenfalls auch der Einkommenssteuer erschien Erhard als der letztmögliche Weg, den Haushalt auszugleichen. Die FDP verweigerte sich zunächst jeder Art von Steuererhöhung. Als sich aber abzeichnete, dass die von ihr vorgebrachten Alternativvorschläge nicht ausreichen würden und einige FDP-Minister nun doch Kompromissbereitschaft signalisierten, zog die Fraktion ihre Minister aus dem Kabinett zurück.50 Erhard, der neben der Koalition mit der FDP keine andere Möglichkeit sah, regierte noch vier Wochen mit einem Minderheitskabinett weiter. Unter großem innerparteilichen Druck trat er schließlich am 30. November 1966 als Kanzler zurück Am gleichen Tag wählte der Bundestag Kurt Georg Kiesinger zum Bundeskanzler einer großen Koalition. Wenige Monate später legte Erhard auch das Amt des CDU-Parteivorsitzenden nieder.51 Der Niedergang des Bundeskanzlers Erhard lässt sich zusammenfassend auf zwei zentrale Gründe zurückführen. Der erste Grund ist ökonomischer Natur und hat weniger mit der Person Erhards zu tun. Das Wirtschaftswunder der 1950er Jahre war zehn Jahre später aufgebraucht. Die Bundesrepublik hatte sich zu einem Sozialleistungsstaat entwickelt, in dem die Dynamik der Staatsausgaben die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung übertraf. Es zeichnete sich ab, dass Steuererhöhungen, Staatsverschuldung oder die Kürzung von Subventionen unausweichlich sein würden. Nach Jahren des Wachstums und der Ver47
Vgl. Laitenberger 1986, S. 204; Mierzejewski 2006, S. 307; Niclauß 2004, S. 114. Vgl. Stolze, Diether: Warten auf ein Wunder? Erhard verzichtet auf wirtschaftspolitische Führung, in: Die Zeit, 25.02.1966. 49 Vgl. Andersen 2001, S. 239; Grosser 1985, S. 73 f.; Mierzejewski 2006, S. 314; Niclauß 2004, S. 116; Zundel, Rolf: Erhard bis zum bitteren Ende? Eine düstere Bilanz für die CDU, in: Die Zeit, 15.07.1966. 50 Vgl. Grosser 1985, S. 75; Niclauß 2004, S.117 f. 51 Vgl. Andersen 2001, S. 240; Hildebrand 1998, S. 13; Laitenberger 1986, S. 216 f. 48
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teilung staatlicher Zuwendungen hätte eine solche Situation jedem anderen Kanzler ebenfalls Schwierigkeiten bereitet.52 Im Falle Erhards leitete sie jedoch sein Scheitern ein. Der zweite Grund für Erhards Abstieg, seine fehlende Führungsrolle in seiner Partei, ist unmittelbar verknüpft mit seinen wirtschaftspolitischen Vorstellungen und seinem daraus resultierenden Politikverständnis. Bereits während seiner langjährigen Amtszeit als Wirtschaftsminister hatte er es versäumt, sich eine tatsächliche Hausmacht in der CDU zu verschaffen. Dies lag einerseits am schwierigen Verhältnis zu Adenauer, der eine zu starke Etablierung Erhards in der Partei verhindern wollte. Vor allem aber lag es an Erhards Politikverständnis und seinem Misstrauen gegenüber Parteien an sich. Er suchte seine Machtbasis und das Vertrauenskapital für seine Politik nicht bei der CDU sondern direkt bei den Wählern. Was als erfolgreicher Wirtschaftsminister, getragen vom Wirtschaftswunder, noch weniger stark ins Gewicht fiel, wurde als Bundeskanzler in Zeiten schwacher Konjunktur zum Problem. Die CDU-Fraktion hatte ihn vor allem wegen seiner Beliebtheit in der Bevölkerung und seinen Stärken als Wahllokomotive zu Adenauers Nachfolger gewählt. Und als mit dem wirtschaftlichen Abschwung auch Erhards Popularität sank und die CDU in Nordrhein-Westfalen die erste große Wahlniederlage erlitt, war seinem Rückhalt in der Partei jegliche Grundlage entzogen. Wenn man nach seiner siebzehnjährigen politischen Karriere auf höchster Ebene überhaupt von einem Scheitern Erhards sprechen kann, dann ist er als Bundeskanzler gescheitert, nicht als politischer Seiteneinsteiger. Erhards Abstieg begann erst, nachdem er 1965 als Kanzler im Amt bestätigt worden war. Zu diesem Zeitpunkt hatte er aber bereits eine derart lange und zudem erfolgreiche Amtszeit als Wirtschaftsminister hinter sich und war mittlerweile auch Parteimitglied, dass der Begriff Seiteneinsteiger auf ihn nicht mehr zutraf. Wie eingangs bereits gesagt, kann Ludwig Erhard ohnehin nicht eindeutig der Kategorie der Seiteneinsteiger zugeordnet werden. Sein Einstieg in die Politik war durch die NS-Zeit lediglich verschoben worden. Und die Vehemenz, mit der er sich unmittelbar nach Kriegsende um Ämter und Einfluss bemühte und diese auch erhielt und nutzte, spricht ebenfalls gegen eine Klassifizierung als Seiteneinsteiger. Ganz ohne Zweifel prägte Erhard seit ihrer Gründung das politische Geschehen der Bundesrepublik. Viel eher trifft auf ihn daher die Bezeichnung des lange Zeit parteilosen Berufspolitikers zu. Und deutlich wird an seinem Beispiel, dass sich die Realitäten der pluralistischen Parteiendemokratie, wie sie sich in Deutschland nach 1949 herausgebildet haben, nicht unbegrenzt ignorieren lassen. Ein Politikverständnis, das Parteien und Verbände als intermediäre Organisationen mit Misstrauen betrachtet und diskreditiert, weil das Eintreten für gruppenspezifische Interessen der Herausbildung eines vermeintlich objektiven Gemeinwohls entgegenwirkt, ignoriert die Funktionsprinzipien moderner Gesellschaften und verharrt letztlich im Unpolitischen. Hierbei spielt es keine Rolle, ob ein solches Politikverständnis am deutschen Idealismus und seiner überholten Trennung von Staat und Gesellschaft anknüpft oder aber auf einem fast schon irrealen Vertrauen in die Kraft rationaler Argumente beruht. Die plebiszitäre Legitimierung setzt allein auf die Zustimmung und vermeintlich rationale Einsichts- und Urteilsfähigkeit der Bürgerinnen und Bürger, oder mit Max Weber, auf charismatische Herrschaftslegitimierung.53 Und diese endet, sobald der politische Erfolg ausbleibt und das Charisma sich verbraucht hat. Unter den heutigen Medienbedingungen ist die Grenze zur populistischen 52
Vgl. Grosser 1985, S. 71. Vgl. Weber, Max: Die drei reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1988, S. 475-488, hier S. 481 f. 53
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Politikausrichtung hierbei fließend. Interessant wäre aus dieser Perspektive ein Vergleich zwischen Erhard und Gerhard Schröder, der als Bundeskanzler ebenfalls weniger auf Parteiverankerung sondern vor allem auf seine Qualitäten als Wahlkampflokomotive setzte. Ein Verständnis von Politik als pluralistischem Wettbewerb unterschiedlicher Gruppeninteressen hingegen richtet das Augenmerk stärker auf die Spielregeln dieses Wettbewerbs und seine Akteure, die politischen Parteien als Repräsentanten gesellschaftlicher Konfliktlagen.54 Dies verbreitert nicht nur die Auswahlkriterien für politische Spitzenämter. Es birgt zudem Chancen auf einen höheren Anteil rationaler Herrschaft und berechenbarer Konstanz sowie auf eine für die Stabilität von Massendemokratien notwendige enge Verschränkung von gesellschaftlichen Interessen und politischen Angeboten.
54 Vgl. Fraenkel, Ernst: Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: ders.: Deutschland und die westlichen Demokratien, Frankfurt am Main 1990, S. 153-203, hier S. 153 f.
Hans Leussink – Seiteneinsteiger für (fast) unlösbare Aufgaben Christina Gillessen
Hans Leussink kann im Sinne der Definition dieses Bandes als politischer Seiteneinsteiger betrachtet werden. Bereits vor seinem Einstieg in die Politik als parteiloser Bundesminister für Bildung und Forschung im Jahre 1969 hatte er eine äußerst erfolgreiche Karriere als Wissenschaftler, Ingenieur und als Vorsitzender zahlreicher Gremien der Wissenschaftsorganisation hinter sich. Seine politische Karriere hingegen war mit knapp zwei Jahren sehr kurz. Freiwillig legte er bereits nach einer halben Legislaturperiode sein Amt nieder. Seine Berufung zum Bildungsminister wurde begünstigt durch die damalige gesellschaftliche und politische Situation. Sein Scheitern liegt zum einen begründet in der besonderen Umstrittenheit des von ihm zu bearbeitenden Themenfeldes, zum anderen in der mangelnden Unterstützung durch die sozialliberale Regierungskoalition. Im Folgenden soll genauer auf die Umstände von Leussinks Einstieg in die Politik und die Problematik der bundesdeutschen Bildungs- und Forschungspolitik eingegangen werden, die einen besonderen Anteil an Leussinks politischem Scheitern hatte. Nach seinem Abschluss als Diplom-Ingenieur an der TH Dresden arbeitete Leussink zunächst als wissenschaftlicher Assistent in Freiberg/Sachsen und in München. An der dortigen Technischen Hochschule promovierte er 1941 zum Thema geländegängige Erdbaugeräte. Im Anschluss daran gründete er ein eigenes Architektur- und Ingenieursbüro, das er bis 1952 persönlich leitete und mit dem er an zahlreichen internationalen Großprojekten, wie zum Beispiel dem Bau des Assuan-Staudamms, beteiligt war. 1954 übernahm er nach seiner Habilitation den Lehrstuhl für Grund- und Tunnelbau und Baubetrieb an der TH Karlsruhe. 1958 wurde er zum Rektor dieser Hochschule gewählt und hielt dieses Amt bis 1961 inne. Seit Beginn der 1960er Jahre war Leussink darüber hinaus in verschiedenen Gremien der deutschen und europäischen Hochschul- und Wissenschaftsorganisation engagiert. Zwischen 1960 und 1962 präsidierte er der Westdeutschen Rektorenkonferenz. Er war Vorsitzender des neugegründeten Ausschusses für Universitäten und Forschung beim Europarat in Straßburg und von 1965 bis 1969 Präsident des Wissenschaftsrates.1 Aufgabe des Wissenschaftsrates war es, die Bildungspläne des Bundes und der Länder aufeinander abzustimmen und auf deren Grundlage einen Gesamtplan für die Förderung der Wissenschaft zu erarbeiten, jährliche Dringlichkeitsprogramme aufzustellen und Empfehlungen zur Verwendung der Haushaltsmittel im Bereich Wissenschaft abzugeben. Den Einfluss dieses Gremiums sah Leussink selbst als dessen Präsident kritisch. Seiner Meinung nach hat der Wissenschaftsrat „keine dieser Aufgaben ganz erfüllt, ja sie bisher […] nur in Bruchstücken in Angriff genommen. Er hat keine Förderungspläne von Bund und Ländern vorgefunden, die er zu einem Gesamtplan hätte vereinigen können, und er hat infolgedessen 1 Vgl. Behrmann, Günter C.: Hans Leussink, in: Kempf, Udo/Merz, Georg (Hrsg.): Kanzler und Minister 19491998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2001, S. 432-437, hier S. 432.
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auch nicht für den Gesamtbereich jährliche Dringlichkeitsprogramme aufstellen können“2. Die sich bereits hier andeutenden Probleme der föderalistischen Organisation des deutschen Bildungssystems sollten sich während Leussinks Zeit als Bundesminister für Bildung und Forschung noch verstärken. Sowohl in der Rektorenkonferenz als auch im Wissenschaftsrat trat Leussink für eine verstärkte Bereitstellung von Mitteln für Bildungsaufgaben ein und präsentierte eine Reihe von Vorschlägen zur Reform des damaligen Universitätssystems. Seine Vorstellungen waren Zündstoff für heftige Diskussionen und Kritik. Die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Studenten warf ihm vor, die Hochschulreform vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Leistungsfähigkeit zu betrachten und Aspekte der Chancengleichheit und Demokratisierung der Hochschule zu vernachlässigen. Leussink sei selbst Teil des Systems, das es zu reformieren gelte. Er stehe für die „Verbindung von Professur und Profit“3. Zu Leussinks bekanntesten Kritikern zählte Jürgen Habermas, der ihm vorwarf, seine Empfehlungen dienten eher dem Ausbau der bestehenden Hochschule als der Reform des Systems.4 Der Einstieg des umstrittenen Wissenschaftsorganisators Leussink in die Politik fand in Zeiten des politischen Umbruchs statt. Nach der Bundestagswahl 1969 und der Ablösung der Großen Koalition bildete sich erstmals eine SPD-FDP-Regierung. Ein wichtiges gesellschaftliches Thema, das auch im Wahlkampf im Vordergrund stand, war die Reform des deutschen Bildungssystems. In der vorangegangenen Legislaturperiode hatte die Bundesregierung durch Gesetzesänderungen Kompetenzen im ansonsten föderalistisch organisierten Bildungssektor erhalten. So besaß der Bund neuerdings das Recht, Rahmenvorschriften über die allgemeinen Grundsätze des Hochschulwesens zu erlassen, den Aus- und Neubau von wissenschaftlichen Hochschulen mitzufinanzieren, gemeinsam mit den Ländern Bildungsplanung zu betreiben und bei der Förderung und Einrichtung wissenschaftlicher Forschungsvorhaben von überregionaler Bedeutung mitzuwirken.5 Nachdem im Verlauf der 1960er Jahre deutlich geworden war, dass in Deutschland weit weniger Menschen die Hochschulreife erreichten als in vergleichbaren europäischen Ländern, und dass bei steigenden Studentenzahlen die Kapazitäten der Hochschulen immer knapper wurden, traten schließlich alle im Bundestag vertretenen Parteien für eine Reform des deutschen Bildungssystems ein.6 So kündigte auch der neugewählte Bundeskanzler Willy Brandt an, den Schwerpunkt der Reformbemühungen im Bereich Wissenschaft und Bildung setzten zu wollen.7 Die Besetzung des Amtes des Bundesministers für Bildung und Forschung mit Hans Leussink lag zunächst aufgrund dessen langjährigen Engagements im Bereich des Hochschulwesens nahe. Leussink galt als Pragmatiker, der bereits mehrfach seine Abneigung gegen ideologische Theorien im politischen Alltag gezeigt hatte. Für Brandt erschien er damit als der ideale Vermittler auf dem umstrittenen Gebiet der Bildungsreform.8 Die Tatsache, dass das Bildungsministerium überhaupt mit einem parteilosen Seiteneinsteiger 2 Friedeburg, Ludwig v.: Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher Widerspruch, Frankfurt am Main 1989, S. 339. 3 O.V.: Wer soll’s bringen, in: Der Spiegel, 15.12.1969. 4 Vgl. Elitz, Ernst/Matthiesen, Hayo: „Mein Gott, was sollen wir denn tun?“. Spiegel-Gespräch mit dem Minister für Bildung und Wissenschaft Hans Leussink, in: Der Spiegel, 09.03.1970. 5 Vgl. ebd. 6 Vgl. Behrmann 2001, S. 433. 7 Vgl. o.V.: Die Erwartungen sind verdammt hoch, in: Der Spiegel, 27.10.1969. 8 Vgl. ebd.
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besetzt wurde, ist jedoch auch auf koalitionstaktische Gründe zurückzuführen. Bei den Koalitionsverhandlungen war die FDP, deren Stimmenanteil auf 5,8 Prozent gesunken war, schon allein aus Not zur eigenen Profilierung an den zentralen Ressorts Außen- und Wirtschaftsministerium interessiert und besetzte diese mit starken Befürwortern der neuen Regierungskonstellation. Um auch den unionsnahen Flügel innerhalb der FDP zu besänftigen, wurde außerdem auf das Landwirtschaftsministerium zugegriffen, das mit dem moderat national-liberalen Landwirt Josef Ertl aus Bayern besetzt wurde. Mehr Ministerien standen der FDP nicht zu. Jedoch hätten die Liberalen einer Besetzung des Bildungsministeriums mit einem Sozialdemokraten nur schwer zustimmen können, da sie die Bildungsreform zu einem zentralen Wahlkampfthema gemacht hatten. Der schließlich gefundene Kompromiss war die Vergabe des Ministerpostens an einen parteilosen Seiteneinsteiger.9 Der Einstieg Hans Leussinks ist demnach auf zwei Faktoren zurückzuführen: Erstens ließ die Konstellation in der sozialliberalen Regierung die Besetzung des Bildungsministeriums mit einem parteilosen Experten von außerhalb der Politik ratsam erscheinen und zweitens erschien der als pragmatisch und unideologisch geltende Leussink mit seiner weitreichenden Erfahrung als ein geeigneter Kandidat. Die Entscheidung Willy Brandts, Leussink ins Kabinett zu holen, stieß allerdings nicht nur auf Zustimmung. Die Erwartungen an das Ministerium mit seinen erweiterten Kompetenzen waren hoch. Zum einen sollte die Effizienz im Bildungswesen gesteigert werden. Dazu bedurfte es der Erstellung wissenschaftspolitischer Zielprojektionen, dem Ausbau von Planungsinstanzen und der Entwicklung von Planungsmethoden zur Bestimmung des exakten Studentenandrangs und Akademikerbedarfs. Ebenso wichtig wie die Effizienzsteigerung waren der sozialliberalen Koalition jedoch die Verbesserung der Chancengleichheit im Bildungssystem und die Demokratisierung der Hochschulen.10 Besonders in Bezug auf letzteres Vorhaben war es fraglich, ob Leussink diesen progressiven Ansprüchen würde genügen können. Forderungen nach einer Demokratisierung hochschulpolitischer Entscheidungsprozesse stand er schon vor seinem Einstieg in die Politik eher distanziert gegenüber. Entsprechend bezeichneten Reform-Studenten Leussink als „äußerst unglückliche Wahl“ und der Vorsitzende der Bundes-Assistentenkonferenz kündigte ihm das „konzentrierte Misstrauen aller Wissenschaftler unter 35“ an.11 Die erste Aufgabe des Bildungsministeriums war die Erstellung eines Bildungsberichtes und darauf aufbauend die Ausarbeitung eines Gesamtbildungsplans.12 Dies musste in Zusammenarbeit mit den Bundesländern geschehen, denn der Bund hatte zwar bildungspolitische Kompetenzen hinzugewonnen, doch in Fragen der Finanzierung und Planung lag die Entscheidungshoheit immer noch bei den Kultusministern der Länder. Zum zentralen und wichtigsten Instrument der großen Bildungsreform wurde daher die neu geschaffene Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung.13 Jedes Bundesland erhielt darin einen Sitz und eine Stimme, der Bund hingegen sieben Sitze und elf Stimmen. Die Kommission sollte lediglich Empfehlungen abgeben. Das letztendliche Entscheidungsgremium war die um den Bundeskanzler erweiterte Ministerpräsi9
Vgl. Behrmann 2001, S. 432 f. Vgl. o.V.: Die Erwartungen sind verdammt hoch, in: Der Spiegel, 27.10.1969. 11 Ebd.; Grunenberg, Nina: Bundesforschungsminister Leussink. Ein unabhängiger Mann, für den „Technokrat“ kein Schimpfwort ist, in: Die Zeit, 24.10.1969. 12 Vgl. Behrmann 2001, S. 434. 13 Vgl. Grunenberg, Nina: Zur Kooperation verurteilt, in Die Zeit, 26.06.1970. 10
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dentenkonferenz. Dort hatte jedes Mitglied nur eine Stimme und Beschlüsse erforderten eine Dreiviertelmehrheit. Der überstimmten Minderheit wurde das Recht zu Sondervoten zugestanden. Die von der Kommission gefassten Beschlüsse sollten zudem nur für jene Länder bindend sein, die zugestimmt hatten.14 Leussink übernahm den Vorsitz in der Bund-Länder-Kommission und hoffte auf eine schnelle Verständigung. Er unterschätzte jedoch die Schwierigkeiten einer Einigung im verminten Gelände der Bildungsplanung. Bildungspolitische Forderungen der Bundesregierung im Bereich der Schule waren etwa der verpflichtende Besuch einer Vorschule vor der Grundschule, die Ablösung des dreigliedrigen Schulsystems durch die Gesamtschule und eine erste Abschlussprüfung für alle nach der zehnten Klasse. Im Hochschulbereich plante die Regierung, die Universitäten in Gesamthochschulen (ohne Rangunterschiede zwischen Universitäten, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen)15 umzuwandeln, mit veränderter Personal- und Verwaltungsstruktur und gleichen Mitbestimmungsrechten aller Hochschulangehörigen.16 SPD und FDP machten sich damit die Forderung der studentischen Protestbewegung nach einer Demokratisierung des Hochschulsystems zu Eigen. Dem linken Flügel der SPD genügte dies jedoch nicht. Hier zeichnete sich eine zunehmende ideologische Radikalisierung ab. Die Linken drängten auf eine „innere Reform“ des Bildungswesens, also eine Veränderung der Bildungsziele und -inhalte, mit denen ein gesellschaftlicher Wandel herbeigeführt werden sollte. Den unionsregierten Bundesländern dagegen waren auch die moderateren Forderungen zu radikal. Sie sahen überall den ideen- und ordnungspolitischen Grundkonsens der Bundesrepublik bedroht und fühlten sich verpflichtet, den Marsch der Linken durch die Institutionen, der im Bildungssektor beginnen sollte, zu stoppen.17 Ab 1970 bildeten sich zwei bildungspolitische Lager heraus. Den vom Bund unterstützten, sozialdemokratisch regierten Bundesländern standen die fünf Bundesländer mit CDU-Regierung gegenüber. Durch diese Konstellation war zu erwarten, dass es sich bei Entscheidungen der Bund-Länder-Kommission um stark abgeschwächte Kompromisslösungen handeln würde. Leussink bemühte sich, als ehrlicher Makler einer großen Koalition der Bildungspolitik aufzutreten. Doch seine Chancen standen schlecht, da beide Seiten die Bildungspolitik zu einem ideologischen Kampffeld machten.18 Die inhaltlichen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien und das Problem der bundespolitischen Steuerung der Bildungspolitik19 kulminierten in der Frage nach der Finanzierung der Reformen.20 Für Diskussionsstoff sorgte nicht nur die Aufteilung der Kosten zwischen Bund und Ländern, sondern auch die Frage nach der Höhe der Mittel, die dem Bundesministerium für Bildung und Forschung tatsächlich zur Verfügung standen. Fest stand jedoch, dass die für die Bildungsreform benötigten Summen kaum anders als durch einen harten Sparkurs, die Aufnahme neuer Schulden, eine Steuererhöhung oder einer Kombination aus allen drei Möglichkeiten aufgebracht werden konnten. Die Haushaltspla14 Vgl. Hüfner, Klaus/Naumann, Jens/Köhler, Helmut/Pfeffer, Gottfried: Hochkonjunktur und Flaute: Bildungspolitik in der Bundesrepublik Deutschland 1967-1980, Stuttgart 1986, S. 78 ff. 15 Vgl. Elitz, Ernst/Matthiesen, Hayo: „Mein Gott, was sollen wir denn tun?“. Spiegel-Gespräch mit dem Minister für Bildung und Wissenschaft Hans Leussink, in: Der Spiegel, 09.03.1970. 16 Vgl. Hüfner u.a. 1986, S. 165; Behrmann 2001, S. 435. 17 Vgl. Hüfner u.a. 1986, S. 164 ff.; v. Friedeburg 1989, S. 417 ff,; Behrmann 2001, S. 434. 18 Vgl. Behrmann 2001, S. 435. 19 Vgl. Grunenberg, Nina: Bildung für alle, in: Die Zeit, 12.06.1970. 20 Vgl. dies.: Zur Kooperation verurteilt, in: Die Zeit, 26.06.1970.
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nung war also ein verlässlicher Indikator für den tatsächlichen Reformwillen der Bundesregierung.21 Eine Gesamtbewertung der politischen Aktivitäten von Leussink muss auf drei Ebenen erfolgen, der Schul- und Hochschulpolitik, der Forschungspolitik und der administrativen Struktur des Ministeriums. Auf dem Gebiet der Schul- und Hochschulpolitik veröffentlichte die Bund-LänderKommission im Jahr 1971 den angekündigten gemeinsamen Bildungsplan. Die Beratungen darüber waren von zahlreichen Sondervoten der unionsregierten Bundesländer geprägt gewesen. Bei dem verabschiedeten Plan handelte es sich um ein sehr vage und unverbindlich formuliertes Dokument, das lediglich Anregungen für mögliche zukünftige Entwicklungen enthielt, jedoch keinerlei verbindliche Absichtserklärungen.22 Die von Leussink zu Beginn der Gespräche angestrebte Bildungsallianz für den Fortschritt erwies sich schnell als Illusion.23 Trotz des Kompromisses in Form des Bildungsplans setzte die Union ihren Widerstand fort. Dieser bestand vor allem in dem stetigen Hinweis darauf, dass die weitreichenden Reformpläne der Bundesregierung und der SPD-Kultusminister finanziell nicht abgesichert seien.24 Angesichts der Verschlechterung der gesamtwirtschaftlichen Lage und damit auch der haushaltspolitischen Bedingungen wuchs die Skepsis gegenüber Leussinks kostspieligen Reformvorhaben im Bundesfinanzministerium und auch bei den Länderfinanzministern. Bis in Leussinks eigenes Ressort hinein fanden dessen Kritiker Gehör.25 Die auch in den Medien diskutierte Erfolglosigkeit Leussinks26 trifft jedoch nur bedingt zu. Während seiner kurzen Amtszeit konnte Leussink durchaus einige erfolgreiche Projekte vorweisen, so zum Beispiel das Stipendiengesetz zur Förderung des Hochschullehrernachwuchses, mit dem die Anzahl der Hochschullehrer gesteigert werden konnte. Ein weiterer Erfolg Leussinks ist die Einrichtung eines Hochschulbauplanungsausschusses. Mit Hilfe dessen setzte er ein Schnellbauprogramm für Hochschulen auf, wodurch innerhalb von zwei Jahren 30.000 neue Arbeitsplätze an Hochschulen entstanden.27 Und die Tatsache, dass es ihm überhaupt gelang, Vertreter von Bund und Ländern in bildungspolitischen Fragen an einen Tisch zu bekommen und ein arbeitsfähiges Gremium zu schaffen, kann ebenfalls als Erfolg gewertet werden. Vor Leussinks Antritt galt es noch als utopisch, dass Bund und Länder ihre vorschulischen und schulischen Bildungspläne miteinander absprechen.28 Zur Verfestigung des Eindrucks seiner Erfolglosigkeit hat Leussink ein Stück weit selbst beigetragen. Der aktive Umgang des politisch ungeübten parteilosen Ministers mit der Öffentlichkeit war sehr begrenzt. Er verzichtete fast völlig darauf, die Politik seines Hauses in den Medien zu kommunizieren oder öffentlich Werbung für sein Reformprogramm zu machen. Der Widerwille und das Unvermögen, sich publikumswirksam zu artiku21 Vgl. Elitz, Ernst/Matthiesen, Hayo: „Mein Gott, was sollen wir denn tun?“. Spiegel-Gespräch mit dem Minister für Bildung und Wissenschaft Hans Leussink, in: Der Spiegel, 09.03.1970; Grunenberg, Nina: Bildung für alle, in Die Zeit, 12.06.1970. 22 Vgl. Grunenberg, Nina: Das Dilemma der Bildungspolitik, in; Die Zeit, 04.02.1972. 23 Vgl. o.V.: „Rückgriff aufs Dritte Glied“: Knüllerchen auf Lager, in: Der Spiegel, 31.01.1972. 24 Vgl. Hüfner u.a. 1986, S. 166 ff. 25 Vgl. Behrmann 2001, S. 435; Elitz, Ernst/Matthiesen, Hayo: „Mein Gott, was sollen wir denn tun?“. SpiegelGespräch mit dem Minister für Bildung und Wissenschaft Hans Leussink, in: Der Spiegel, 09.03.1970. 26 Vgl. Grunenberg, Nina: Leussinks Lage in der Nation, in: Die Zeit, 26.02.1971. 27 Vgl. ebd. 28 Vgl. ebd.
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lieren, lagen begründet in seinem Glauben an die Vernunft und seiner Überzeugung, dass sich das sachlich Gebotene von selbst durchsetzen würde.29 Auf dem Feld der Forschung waren die Ausgangsbedingungen für Leussink zunächst günstiger. Dank seinem Bemühen war der Forschungsetat um beträchtliche 43 Prozent erhöht worden und aufgrund seiner vorpolitischen Karriere besaß er besonders auf dem Gebiet technischer Großprojekte eine umfassende Expertise.30 Doch im Zusammenhang mit diesen enormen und plötzlichen Steigerungsraten der staatlich geförderten Großforschung kam es zu Wachstumsschwierigkeiten, denen der hierarchisch organisierte, wenig flexible Apparat des Wissenschaftsministeriums nicht entsprechen konnte.31 Während Leussinks Amtszeit geriet die deutsche Forschungspolitik in eine Krise – und mit ihr die drei größten deutschen Forschungsprojekte von internationaler Bedeutung, die den Großteil der Fördermittel des Ministeriums beanspruchten.32 So scheiterte der Versuch, einen international konkurrenzfähigen Großrechner zu entwickeln am plötzlichen Ausstieg der Firma Siemens aus der Großrechner-Union mit AEGTelefunken. Das Wissenschaftsministerium hatte das Projekt mit mehreren hundert Millionen Mark gefördert und Absatzgarantien geboten. Die Unternehmen jedoch hatten Zweifel, ob ein ausreichend großer Markt für deutsche Großrechner vorhanden sei. Ebenfalls war der Forschungsbereich der Luft- und Raumfahrt von Rückschlägen gekennzeichnet. Nach der Explosion der Trägerrakete Europa II war die Zukunft eines europäischen Raumfahrtprogramms gänzlich ungewiss. Schließlich kam die Milliarden verschlingende Entwicklung des europäischen Flugzeugs Airbus nur langsam voran, sodass eine Einstellung des Projekts im Jahr 1971 sehr wahrscheinlich wurde. Einer der wenigen Forschungsbereiche, aus dem zu Leussinks Amtszeit Erfolge zu vermelden waren, war die Kernforschung. Der Bau des ersten Prototyps eines Schnellen Brüters war das Renommierprojekt der deutschen Forschungsförderung. Die Freude darüber wurde jedoch bald durch die enorme Kostenexplosion des Projekts relativiert.33 Ambitioniert schließlich waren die administrativen Reformen, die Leussink an der internen Struktur des Ministeriums und seiner Arbeitsweise vornahm. Einerseits versuchte er, Fördermittel gezielter an einzelne Projekte zu verteilen, andererseits das Planungs- und Beratungswesen effizienter zu gestalten. So schaffte er den beratenden Ausschuss für Forschungspolitik ab, in dem vor allem die Vertreter der wichtigsten Forschungsorganisationen saßen. Stattdessen richtete er einen stärker in der Öffentlichkeit stehenden, beratenden Ausschuss für Bildungs- und Wissenschaftspolitik ein. Dessen Zusammensetzung wechselte nach sachlichen Gesichtspunkten, sodass auch Berater, die nicht den Industrie- und Großforschungsinteressen verpflichtet waren, gehört wurden.34 Diese Maßnahmen reichten jedoch nicht aus, um die Effektivität des Ministeriums grundlegend zu steigern. Dies lag zum einen daran, dass eine Gesamtplanung der Forschung und eine Analyse übergeordneter Forschungsprioritäten nur in Ansätzen vorhanden waren. Zum anderen fehlten dem Minis29
Vgl. ebd. Vgl. Behrmann 2001, S. 436. 31 Vgl. Grossner, Claus: Das Fiasko der Forschungsplanung. Profit oder gesellschaftliche Prioritäten?, in: Die Zeit, Nr. 04.02.1972. 32 Vgl. Behrmann 2001, S. 436; Grossner, Claus: Das Fiasko der Forschungsplanung. Profit oder gesellschaftliche Prioritäten?, in: Die Zeit, Nr. 04.02.1972. 33 Vgl. ebd. 34 Vgl. Grossner, Claus: Das Fiasko der Forschungsplanung. Profit oder gesellschaftliche Prioritäten?, in: Die Zeit, Nr. 04.02.1972. 30
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terium die personellen und finanziellen Ressourcen, um Forschungsanträge aus der Industrie sachkundig zu prüfen und zu bewerten.35 Der Ausstieg Leussinks aus der Politik erfolgte 1972 sehr rasch. Unter dem Eindruck einer wirtschaftlichen Rezession und der fehlenden durchschlagenden Erfolge aus dem Ministerium für Bildung und Wissenschaft sahen die Beratungen für den Bundeshaushalt des Jahres 1972 erhebliche Kürzungen von Leussinks Etat vor. Finanzminister Karl Schiller hatte ihm bereits kurz zuvor eine Planungsreserve für den Hochschulbau in Höhe von fast fünfhundert Millionen DM gestrichen.36 Für Leussink war offenkundig, dass Bildungsreform und Forschungsförderung für die Bundesregierung nunmehr keine oberste Priorität mehr besaßen, wie es noch zwei Jahre zuvor der Fall gewesen war. Nach dieser Niederlage erklärte Leussink im Januar 1972 von Peru aus, wo er sich auf einer mehrmonatigen archäologischen Forschungsreise befand, seinen Rücktritt.37 Die Konstellationen und Entwicklungen in der Bildungspolitik zu Anfang der 1970er Jahre zeigen, dass Leussinks Scheitern auf mehrere Faktoren zurückzuführen ist. Zum einen kann man ihn durchaus als Opfer der übersteigerten Planungshoffnungen sehen, die zu Beginn der Legislaturperiode in das Bildungsreformprogramm der sozialliberalen Regierung gesetzt worden waren. Die Reformpläne waren weitreichend, doch tatsächlich fehlten Leussink speziell im Bereich der Schulbildung die nötigen Kompetenzen und das Instrumentarium zur Durchsetzung solcher Reformen. Diese lagen weiterhin zum Großteil bei den Ländern. Schon seit der Besetzung des Amtes mit dem parteilosen Leussink 1969 waren gelegentlich Zweifel an der Lösbarkeit der Aufgabe laut geworden, einer Aufgabe, für die kein Politiker der beiden Regierungsparteien verheizt werden sollte.38 Die Tatsache, dass Leussink sein Amt eher aufgrund seiner pragmatischen, von Ideologien unbeeindruckten Arbeitsweise erhielt, verschaffte ihm nicht in allen Teilen der Regierungskoalition Respekt und Anerkennung. Wie schon zuvor als Vorsitzender des Wissenschaftsrates, sah er sich während seiner Amtszeit dem permanenten Misstrauen linker Reformbewegungen gegenüber. Es gelang ihm nicht, die Unterstützung des linken Flügels der SPD zu gewinnen, der wiederum den Bildungsausschuss im Bundestag dominierte. Unter den SPD-Linken bezeichnete man Leussink als einen Technokraten und kritisierte seine Bereitschaft, zugunsten der Einheitlichkeit im Bildungswesen Kompromisse mit der CDU einzugehen. Für Viele galt er bald als Hindernis für Fortschritte in der Bildungspolitik.39 Der Arbeitnehmerflügel der SPD fühlte sich ebenfalls von Leussink missverstanden. In diesen Kreisen lautete der Vorwurf, Leussinks Einsatz für den Ausbau der Hochschulen gehe zu Lasten einer Verbesserung der beruflichen Bildung. Und schließlich musste Leussink auch aus dem Kabinett Kritik einstecken. Dort hieß es, sein Programm sei nicht klar genug formuliert, es sei nicht ersichtlich, wohin er das deutsche Bildungswesen führen wolle. 40 Der offensichtlich geringe oder gänzlich fehlende Rückhalt in der SPD versetzte Leussink in eine denkbar schlechte Ausgangsposition für die Auseinandersetzungen, mit denen er konfrontiert wurde. Er bewegte sich in einer politisch-institutionellen Grauzone zwischen 35
Vgl. ebd. Vgl. o.V.: Gewisse Wurstigkeit, in: Der Spiegel, 17.01.1972. 37 Vgl. v. Friedeburg 1989, S. 415; Behrmann 2001, S. 436. 38 Vgl. Grunenberg, Nina: Das Dilemma der Bildungspolitik, in; Die Zeit, 04.02.1972. 39 Vgl. dies.: Bundesforschungsminister Leussink. Ein unabhängiger Mann, für den „Technokrat“ kein Schimpfwort ist, in: Die Zeit, 24.10.1969. 40 Vgl. Grunenberg, Nina: Das Dilemma der Bildungspolitik, in; Die Zeit, 04.02.1972. 36
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Bundes- und Landesregierungen, Kultusminister- und Ministerpräsidentenkonferenz, Bildungs- und Wissenschaftsrat. So geriet er mitten ins Zentrum bildungsideologischer und finanzpolitischer Grabenkämpfe. Aus seiner Hochschulkarriere hatte Leussink zwar Erfahrung in der Moderation von Expertengremien und der Vermittlung zwischen verschiedenen Sachinteressen gewonnen. Für einen ideologischen Parteienstreit und föderale Verteilungskämpfe war er jedoch nicht gerüstet.41 Er resignierte schließlich angesichts der Widersprüche von ehrgeizigen Reformprojekten und dürftigen Kompetenzen, von kostspieligen Plänen und leeren Kassen.42
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Vgl. Behrmann 2001, S. 435 f.; Grunenberg, Nina: Das Dilemma der Bildungspolitik, in; Die Zeit, 04.02.1972. Vgl. o.V.: „Rückgriff aufs Dritte Glied“: Knüllerchen auf Lager, in: Der Spiegel, 31.01.1972.
Gert Bastian – Seitenwechsel für den Frieden? Saskia Richter
Einleitung: der Kronzeuge Gert Bastian war Bundeswehrsoldat der ersten Stunde. 1976 wurde er Generalmajor im fränkischen Veitshöchheim. Während der Westen über die Nachrüstung diskutierte, warb er um Verständnis für das militärische Handeln der Sowjetunion.1 Der „Fall Bastian“ wurde zum Politikum, Bastian selbst zum Kronzeugen der Friedensbewegung. Da er den NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979, der die Nachrüstung für Westeuropa beinhaltete, nicht mittragen wollte, bat er Bundesverteidigungsminister Hans Apel um seine vorzeitige Verabschiedung.2 Der General polarisierte und provozierte „wüste briefliche Beschimpfungen“3. Die Bonner Rundschau beschrieb ihn als „Vertreter der ‚Roten’“4. Die FAZ kommentierte: „Bastian verhält sich wie ein Kaufmann, der seinen Kiosk schließt, weil er die meisten Zeitungen nicht mag, die er dort verkaufen soll.“5 Ein Referent des Verteidigungsministeriums wandte sich schriftlich an Bastians Ehefrau Charlotte, sie hätte gegen das „Treiben“ ihres Mannes protestieren müssen.6 Bastian selbst wiederholte seine Aussage, dass die Einführung und Stationierung von neuen Mittelstreckenwaffen in Mitteleuropa ein Fehler seien, und präsentierte sich offensiv in den Medien.7 Die Debatte um die Nachrüstung wurde für ihn der Einstieg in die Politik. Im Juli 1980 wurde er pensioniert. Im November 1980 war er Mitinitiator des „Krefelder Appells“, der die Bundesregierung dazu aufforderte, die Zustimmung zur Stationierung von Pershing-2-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen. Mit elf anderen ehemaligen Militärs aus verschiedenen NATO-Staaten warnte er vor einer gesteigerten Kriegsgefahr, die von der Nachrüstung ausginge.8 Auf einer Podiumsveranstaltung der „Initiative für Frieden, Internationalen Ausgleich und Sicherheit“ warf er den USA Scheinheiligkeit in ihrer Menschenrechtspolitik vor.9 In einem Interview auf Radio Moskau sprach er von Trauer, Scham und Empörung, die der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion 1 Vgl. Stellungnahmen des Kommandeurs der 12. Panzerdivision der Bundeswehr, Generalmajor Gert Bastian, zur Einschätzung der sowjetischen Militärpolitik vom 22. März 1979, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 4/1979, S. 501-504, hier S. 503. 2 Vgl. Gert Bastian an Hans Apel, 16.01.1980, abgedruckt in: Bastian, Gert: Kernwaffenkrieg in Europa? Ein Bundeswehrgeneral nimmt Stellung, Helsinki 1981, S. 5 f. 3 Potyka, Christian: Sie soll ihres Mannes Hüter sein, in: Süddeutsche Zeitung, 20.03.1980 [im Original: „wüster brieflicher Bastian-Beschimpfungen“]. 4 Zitiert nach o.V.: „Nicht in harmloser Absicht“. Bonner Indiskretionen gegen Bastian, in: Der Spiegel, 12.04.1982. 5 O.V.: Apel hat recht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.01.1980. 6 Vgl. Mackensen, Ulrich: General Bastians Frau unter Druck gesetzt, in: Frankfurter Rundschau, 17.03.1980. 7 Vgl. Gert Bastian im Interview, in: Frankfurter Rundschau, 13.08.1980; Leserbrief von Gert Bastian, in: Der Spiegel, 06.10.1980 und Süddeutsche Zeitung, 12.12.1980. 8 Vgl. Generale für Frieden und Abrüstung (Hrsg.): Generale gegen Nachrüstung, Hamburg 1983. 9 Vgl. Bastian, Gert: Abrüstung vor Abschreckung!, in: Die Neue, 18.12.1980.
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in ihm auslöste und zog einen historischen Bogen zur Nachrüstung.10 Er positionierte sich im Konflikt der Weltmächte auf der Seite des Ostens. Aus den Strukturen der Friedensbewegung heraus kam Gert Bastian zu den Grünen. 1980 hatte sich die Partei als politische Bewegungsorganisation gegründet. Sie war ein Sammelbecken für Nachrüstungsgegner, Anti-Atom-Demonstranten und Umweltaktivisten. Bastian trat den Grünen 1982 im Zuge des Bundestagswahlkampfs bei. In seinem Leben wirkten die Proteste gegen die Nachrüstung wie eine späte politische Rebellion. Der außer Dienst gestellte General wurde Verteidigungsexperte der erklärten Friedenspartei. Gegenüber dem militärischen und politischen Establishment beging er Verrat. Das erhöhte seine Glaubwürdigkeit auf der anderen Seite. Dennoch wurde die Partei nicht zur politischen Heimat des Seiteneinsteigers. Zwar wurde Bastian im März 1983 Mitglied des Bundestages. Doch verließ er die Fraktion bereits elf Monate später. Im März 1986 kehrte er noch einmal zurück in die parlamentarische Gruppe, 1987 endete sein Mandat. Im Abseits der Grünen betrieb er weiter Politik. Nicht um ein Amt, um die Sache ginge es ihm; er war dagegen – gegen rechtsradikale Tendenzen in der Nachwendezeit, gegen Rüstungsexporte und Atomwaffentests.11 Er publizierte immer weiter, auch als ihn kaum noch jemand beachtete. Seine Texte waren wütend, die Wortwahl hart. „Da ist sie wieder, die Fratze des hässlichen Deutschlands“12, schrieb er im September 1992 in der Auseinandersetzung mit dem in Deutschland aufkeimendem Rechtsradikalismus. Die Spannungen entluden sich am 1. Oktober desselben Jahres, als Gert Bastian seine Lebensgefährtin, die Grünen-Ikone Petra Kelly mit einer Waffe tötete. Wenige Schritte von ihr entfernt erschoss er sich selbst. Wie ist dieser Weg zu erklären, warum wurde aus dem General ein Nachrüstungsgegner? Warum wirkt seine politische Tätigkeit von Anfang bis Ende skandalös? Und welche Bedeutung hatte er als Person im organisatorischen Kontext der Grünen? Diese Fragen werden im Zentrum des Beitrags stehen, der Gert Bastian als politischen Seiteneinsteiger untersucht.
Seitenwechsel I: von der Wehrmacht in die Bundeswehr Gert Bastian ging als Soldat in die Friedensbewegung. Seine Verbindung zum Militär zog sich wie ein roter Faden durch sein Leben. „Die eigentliche Religion bei uns zu Hause war der Glaube an Deutschland“, wird Gert Bastian im Spiegel zitiert.13 Darum meldete er sich 1941 freiwillig zum Kriegseinsatz, „weil ich dachte, das muss so sein, wie alle meine Mitschüler und meine Jugendfreunde aus meinem Viertel und dem Jungvolk der Hitler-Jugend. Wir haben damals alle geglaubt, wir müssten unser Vaterland verteidigen, weil es von Feinden umstellt sei.“14 1943 und 1944 wurde er dreimal verwundet, zweimal an der Ost-
10 Vgl. BPA Ostinformationen: Gert Bastian im Interview, in: Radio Moskau, 21.01.1981; Weinstein, Adelbert: Der „Dauerbrenner“ Bastian, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.02.1981. 11 Vgl. Kelly, Petra K./Bastian, Gert: Rücktritt ist einzig mögliche Konsequenz, in: Neues Deutschland, 20.02.1991; dies.: Schließt die atomaren Testgelände sofort!, in: Constructiv, November 1991. 12 Bastian, Gert: Damals Juden, heute Ausländer, in: Die Zeit, 25.09.1992. 13 Zitiert nach Bittorf, Wilhelm: „Den Gehorsam aufkündigen“, in: Der Spiegel, 12.04.1982. 14 Bastian in einem Text 1992, zitiert nach Schwarzer, Alice: Eine tödliche Liebe. Petra Kelly und Gert Bastian, Köln 2001, S. 69.
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front, einmal in Frankreich. Sein älterer Bruder starb in Russland. Bastian selbst war in USamerikanischer Kriegsgefangenschaft. Nach dem Krieg absolvierte er von 1946 bis 1948 eine Buchbinderlehre. Nach kurzer Selbstständigkeit war er ab 1950 als Büroangestellter tätig. Die Bundeswehr wurde im Oktober 1955 gegründet – für Gert Bastian eine berufliche Chance: 1956 wurde er Oberleutnant, zwanzig Jahre später Generalmajor und Kommandeur der 12. Panzerdivision in Veitshöchheim bei Würzburg. Damit absolvierte er eine für die Bundeswehr typische Nachkriegskarriere; Wehrmachtssozialisation und Kriegserfahrung prägten viele Bundeswehrsoldaten bis in die 1980er Jahre.15 Bastian zählte schon in den 1970er Jahren zur Elite des deutschen Militärs.16 Die Brüche in Bastians Lebenslauf, dieses „Wechselbad von Erwartungen und Enttäuschungen, Illusion und Ernüchterung, Hoffnung und Verzweiflung“17, waren zentral für seine Glaubwürdigkeit in der Friedensbewegung. Er selbst musste seinen mehrfachen Wandel erklären: Warum wird aus einem Wehrmachts- ein Bundeswehrsoldat, warum aus einem Bundeswehrsoldat ein Friedensaktivist? Bastian sah sich als Vertreter einer Generation, die wie keine andere missbraucht und betrogen worden sei.18 Er wurde am 26. März 1923 in München geboren, absolvierte das Notabitur und war in der Hitlerjugend. „Der jüngste Bastian ist ein glühender Hitlerjunge“, schreibt Alice Schwarzer.19 Auf das Kriegsende und die Gefangenschaft folgte 1945 der Zusammenbruch. Auch Gert Bastian gehörte zu Helmut Schelskys berühmter „Skeptischen Generation“: zu denjenigen, die die Unsicherheiten des Kriegs geprägt hatten; zu denjenigen, die mit dem Ende des NS-Regimes ein Weltbild verloren hatten; zu denjenigen die Sicherheiten suchten und Ideologien ablehnend gegenüberstanden.20 Als Achtzehnjähriger meldete er sich freiwillig. Später sagt er: „Wir waren ja Kinder-Soldaten und mich schaudert heute, wenn ich daran denke, wie wir kurz darauf als Vorgesetzte auf andere Kinder losgelassen wurden.“21 Kathartische Wirkung hätten bei ihm die Flugblätter entfaltet, die er in US-amerikanischer Gefangenschaft sah und die Fotos aus Konzentrationslagern mit zu Bergen aufgeschichteten Leichen zeigten.22 Danach sei ihm bewusst geworden, wie manipuliert er aufgewachsen sei.23 Am 8. März 1945 heiratete Gert Bastian die gebürtige Ungarin Charlotte, die er 1942 auf einem Heimaturlaub kennen gelernt hatte. Mit ihr bekam er zwei Kinder; zunächst die Tochter Eva-Marina, 1949 wurde der Sohn Till geboren. Gert Bastian wurden seit Beginn dieser Beziehung Affären nachgesagt, schon in den 1950er Jahren, später in Kreisen der Bundeswehr, danach in der Friedensbewegung. Die Ehe zu Charlotte Bastian blieb bis an sein Lebensende bestehen, auch hielten beide die Verbindung aufrecht. Charlotte Bastian arbeitete im Dienst der Psychologischen Verteidigung (PSV) im Bundesverteidigungsministerium. Bastian habe sie auch nach seinem Ausscheiden aus der Bundeswehr noch häu15 Vgl. Naumann, Klaus: Generale in der Demokratie. Generationsgeschichtliche Studien zur Bundeswehrelite, Hamburg 2007, S. 24. 16 Vgl. ebd., S. 23. 17 Ebd., S. 18. 18 Vgl. Jaenecke, Heinrich: Wehners General, in: Stern, 05.04.1979. 19 Schwarzer 2001, S. 71. 20 Vgl. Schelsky, Helmut: Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Köln 1957, u.a. S. 5 und S. 488. 21 Zitiert nach Jaenecke, Heinrich: Wehners General, in: Stern, 05.04.1979. 22 Vgl. Bittorf, Wilhelm: „Den Gehorsam aufkündigen“, in: Der Spiegel, 12.04.1982. 23 Vgl. Jaenecke, Heinrich: Wehners General, in: Stern, 05.04.1979.
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fig in ihrem Büro auf der Bonner Hardthöhe besucht.24 Charlotte Bastian war es auch, die am 19. Oktober 1992 bei Nachbarn in der Swinemünder Straße in Bonn anrief, um sie zu bitten, nach dem Rechten zu sehen.25 Politisch war Gert Bastian zurückhaltend; Parteisoldat war er nie. 1954 trat er in die CSU ein, um die Partei gegen die Regierung des damaligen bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner zu unterstützen, die aus einer Koalition aus SPD, Bayernpartei, BHE und FDP bestand.26 Anfang der 1960er Jahre verließ er die CSU, um gegen die Partei und Franz Josef Strauß zu demonstrieren, der sich bundespolitisch im Rahmen der „SpiegelAffäre“ ins politische Abseits manövriert hatte. Für die darauf folgende Zeit gibt es keine dokumentierten Partei-Mitgliedschaften von Gert Bastian. Während der 1970er Jahre galt er als Wähler der SPD.27
Seitenwechsel IIa: der Ausstieg aus der Bundeswehr Gert Bastian war General, als er in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre politisch aktiv wurde, zunächst im Rahmen seines Amtes. Die offizielle Wende vollzog er im Januar 1980. Einen Monat vorher hatten die Außen- und Verteidigungsminister der NATO-Mitgliedsstaaten in Brüssel den NATO-Doppelbeschluss verabschiedet. Der Beschluss reagierte auf militärische Modernisierungsprogramme der Sowjetunion, sah Abrüstungsverhandlungen vor, zudem jedoch – bei einem Scheitern der Gespräche – die Stationierung atomarer Mittelstreckenraketen in Westeuropa.28 Mindestens vier Jahre sollte der Beschluss in seiner Latenzzeit das politische Leben der Bundesrepublik bestimmen.29 Die entstehende Massenund Protestbewegung zielte darauf ab, die Stationierung der Mittelstreckeraketen zu verhindern und zerbrach den sicherheitspolitischen Konsens der Bundesrepublik. Auch Bastian weigerte sich, den Beschluss mit zu tragen, und bat Bundesverteidigungsminister Hans Apel am 16. Januar 1980 um vorzeitige Verabschiedung aus dem aktiven Dienstverhältnis.30 Dem Schreiben legte er ein Memorandum mit dem Titel „Warum ich die Nachrüstung ablehne“ bei.31 Darin warnte er vor der Kurzschlussgefahr, die die Nachrüstung provoziere, und forderte, den Beschluss zu überdenken. Nicht mit seiner zunächst internen Meinungsäußerung im engsten Kommandeurskreis, wohl aber mit seiner aufgekündigten Loyalität widersetzte sich Bastian dem Primat der Politik. Auf dieser Argumentationsbasis und unter Druck entschied Apel binnen einer Stunde. Er lehnte die Verabschiedung in den einstweiligen Ruhestand ab, enthob Bastian aber von seinem Posten als 24 Vgl. Baron, Udo: Der ungeklärte Tod der Petra K. Kelly, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Petra Kelly. Eine Erinnerung, Berlin 2007, S. 179-183, hier S. 182. 25 Vgl. ebd., S. 179. 26 Vgl. Jaenecke, Heinrich: Wehners General, in: Stern, 05.04.1979. 27 Vgl. Martenson, Sten: Ein Feindbild wirbelt Staub auf, in: Stuttgarter Zeitung, 30.03.1979. 28 Vgl. Kommuniqué der Außen- und Verteidigungsminister der NATO-Staaten anlässlich der Sondersitzung über den bedingten Beschluss zur Stationierung von Mittelstreckenwaffen vom 12. Dezember 1979, in: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung vom 18.12.1979, Nr. 154, S. 1409 f. 29 Vgl. Kielmansegg, Peter Graf: Nach der Katastrophe. Eine Geschichte des geteilten Deutschland, Berlin 2000, S. 234. 30 Vgl. Gert Bastian an Hans Apel am 16.01.1980, abgedruckt in: Bastian 1981, S. 5 f. 31 Vgl. Bastian, Gert: „Warum ich die Nachrüstung ablehne“, Schreiben an Bundesverteidigungsminister Hans Apel vom 16. Januar 1980, in: Argumente zur Zeit, Sonderdruck aus Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 2/1980.
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Divisionskommandeur und stellte ihm frei, ohne seine im öffentlichen Dienst erworbenen Rechte – also vor allem Bezüge – zu gehen.32 Dies wiederum lehnte Bastian ab, nahm aber die Versetzung ins Heeresamt Köln zum 22. Januar 1980 an. Wenige Tage später kursierte das Memorandum, in dem Bastian seine militärstrategische Position dargelegt hatte, in Medienkreisen und wurde veröffentlicht.33 Schon knapp ein Jahr vorher hatte Bastian einen Skandal ausgelöst. Am 9. März 1979 hatte er auf einer Diskussionsveranstaltung der Jungsozialisten in Bad Mergentheim Sympathien für die von Herbert Wehner vertretene Position in der Nachrüstungsdebatte bekundet. „Ich begrüße die Abrüstungsvorschläge des SPD-Fraktionsvorsitzenden […] und bin mit ihm der Meinung, dass die Rüstung der Sowjetunion nicht offensiv, sondern defensiv ist“34, wurde er zitiert. Damit vertrat er eine Mindermeinung, denn die Mehrheit der Offiziere wie auch der Verteidigungsminister sahen in der Sowjetarmee eine offensive Bedrohung.35 Zum „Fall Bastian“ wurde die Sympathie-Bekundung für Wehner jedoch erst, als der General seine Äußerung schriftlich bestätigte. Die Fränkischen Nachrichten hatten am 12. März 1979 über die Juso-Veranstaltung berichtet.36 In einer Stellungnahme wiederholte Bastian den Wortlaut nicht, bestätigte jedoch das von ihm gezeichnete Bild, gestand der Sowjetunion Sicherheitsinteressen zu und forderte mehr Verständnis für die andere Seite. Er fügte hinzu: „Immerhin waren wir es ja, die Sowjetrussland unprovoziert mit Krieg überzogen haben“37. „Schützenhelfer“, kommentierte die Welt.38 „Unbehagen“ äußerte die FAZ.39 Abgeordnete von CDU und CSU sprachen von einem „unglaublichen, skandalösen Vorgang“ und „unverantwortlichen Redereien“40. Bastian wurde als „Sicherheitsrisiko“ eingestuft; Franz Josef Strauß verlangte die Versetzung des Generals.41 Noch deckten ihn seine Dienstherren. Bastian habe seine Pflichten als Soldat nicht verletzt, verteidigte ein Schreiben des Verteidigungsministeriums, ermahnte jedoch gleichzeitig zur Zurückhaltung.42 Allerdings verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Minister und General im Laufe des Jahres. Im Mai 1979 – die Nachrüstungsdebatte war seit 1977 in vollem Gange – nahm Gert Bastian an einem sicherheitspolitischen Kongress der SPD in Bremen teil, wo er
32
Vgl. Potyka, Christian: General Bastian seines Postens enthoben, in: Süddeutsche Zeitung, 18.01.1980. Vgl. Schwehn, Klaus J.: CDU: Abberufung Bastians, in: Frankfurter Neue Presse, 26.01.1980. 34 Stellungnahmen des Kommandeurs der 12. Panzerdivision der Bundeswehr, Generalmajor Gert Bastian, zur Einschätzung der sowjetischen Militärpolitik vom 22. März 1979, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 4/1979 S. 501. 35 Vgl. Martenson, Sten: Ein Feindbild wirbelt Staub auf, in: Stuttgarter Zeitung, 30.03.1979; o.V.: Regelrechte Panik, in: Der Spiegel, 02.04.1979; Apel, Hans: Der Abstieg. Politisches Tagebuch eines Jahrzehnts, Stuttgart 1990, S. 80. 36 Vgl. Stellungnahmen des Kommandeurs der 12. Panzerdivision der Bundeswehr, Generalmajor Gert Bastian, zur Einschätzung der sowjetischen Militärpolitik vom 22. März 1979, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 4/1979, S. 501 ff. 37 Ebd., S. 502 f. 38 22.03.1979. 39 22.03.1979. 40 Zitiert nach Schell, Manfred: Das schrieb der General über die Russen. CDU: Ein Skandal, in: Die Welt, 22.03.1979. 41 Vgl. Jaenecke, Heinrich: Wehners General, in: Stern, 05.04.1979. 42 Vgl. Mackensen, Ulrich: Minister Apel nimmt attackierten General Bastian in Schutz, in: Frankfurter Rundschau, 29.03.1979. 33
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die Medienkampagne der NATO kritisierte.43 Im Spätsommer erschien das Buch „Mörder in Uniform“ des NS-Experten Heinz Artzt, darin ein Vorwort von Gert Bastian. Er rief zur Entschlossenheit auf, „sich niemals wieder zu ähnlich kritikloser Unterwerfung und Gefolgschaft bereit zu finden, wie sie eine der Voraussetzungen für ‚Aufstieg und Entartung des Dritten Reiches’“44 gewesen sei. Langfristig untergrub die anhaltende Publicity das Vertrauensverhältnis zu Apel,45 der Bastian mehrmals aufgefordert hatte, sich zurückzuhalten.46 Im Januar 1980 schließlich war es zerstört.47 Entscheidend ist, dass der öffentlichen Auseinandersetzung ein Ringen innerhalb der Bundeswehr vorausging. Möglicherweise wollte Gert Bastian in das Heeresamt in Köln wechseln, eventuell wurde er aufgrund einer Liaison nicht berücksichtigt. Udo Baron schreibt: „Nachdem Gert Bastian mit seiner Bewerbung scheitert, fallen seine kritischen Äußerungen zum NATO-Doppelbeschluss und zur Bedrohung durch die Sowjetunion“48. Dann wäre der Ablauf folgender gewesen: Bastian wollte in das Heeresamt wechseln, sein Antrag wurde aufgrund seiner Vorgeschichte abgelehnt. Daraufhin äußerte er sich politisch gegen seine Vorgesetzten und brach erneut Ehrenkodexe. Es folgten Eklat und Entlassung. Politische Handlungen wären privat und beruflich motiviert gewesen. Dennoch sind insgesamt die genauen Beweggründe für Gert Bastians Handeln nach wie vor unklar.
Seitenwechsel IIb: Der Einstieg in die Politik In der Friedensbewegung: der Krefelder Appell und die Generäle für den Frieden Im Juni 1980 wurde Gert Bastian aus gesundheitlichen Gründen pensioniert.49 Zeitlich war er somit freigestellt. Gert Bastian nahm sich für die Politik keine Auszeit, es lockte kein machtvolles Amt, für das er vorgesehen war, keine prestigevolle Position. Auch gab es kein Zurück mehr, seine Zeit bei der Bundeswehr war vorbei. Ein neuer Abschnitt außerhalb der militärischen Strukturen begann. Gert Bastian nutzte die Zeit zunächst, um sich selbst zu verteidigen. In Interviews rechtfertigte er sein Vorgehen vom Januar 1980, kritisierte den Umgang mit militärpolitischen Themen in der Öffentlichkeit, hielt sich jedoch gleichzeitig mit seiner eigenen Person zurück: „Ich würde mich aber wohl ziemlich überschätzen, ginge ich davon aus, meine Gedanken und Schlussfolgerungen wären von allgemeinem Interesse.“50 Dennoch: Gert Bastian mischte sich ein. Er mahnte, die „schmerzlichen, von Scham kaum freien Erinnerungen“ ehemaliger Wehrmachtssoldaten bei der zukünftigen Entwicklung der Bundeswehr zu beachten und pries den „Staatsbürger in Uniform“51. Er warb weiter um Verständnis für die Sowjetunion und verlagerte die Frage der Schuld: „Es gibt wohl noch die unbewusste oder auch bewusst gewordene Unterstellung, die Sowjetunion habe es 43
Vgl. Bittdorf, Wilhelm: „Den Gehorsam aufkündigen“, in: Der Spiegel, 12.04.1982. Zitiert nach o.V.: Ein Bundeswehrgeneral mahnt, in: Frankenpost, 18.08.1979. 45 Vgl. Potyka, Christian: Der Kommandeur zwischen den Fronten, in: Süddeutsche Zeitung, 20.12.1979. 46 Vgl. Sommer, Theo: Zwei Kurzschlüsse – eine Generalskrise?, in: Die Zeit, 25.01.1980. 47 Vgl. Apel, Hans: „Es gibt keinen Maulkorb“, in: Vorwärts, H. 1/1980. 48 Baron 2007, S. 181. 49 Vgl. o.V.: General Bastian wird wegen Dienstunfähigkeit pensioniert, in: Süddeutsche Zeitung, 13.06.1980. 50 Gert Bastian im Interview, in: Frankfurter Rundschau, 13.08.1980. 51 Leserbrief von Gert Bastian, veröffentlich in: Der Spiegel, 06.10.1980. 44
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auf die Unterwerfung der westeuropäischen Völker angelegt, eine Unterstellung, die ich für völlig abwegig halte. Eines der nicht eingestandenen Motive ist meines Erachtens das schlechte Gewissen, das wir der Sowjetunion gegenüber haben. Wenn man ein schlechtes Gewissen hat, reagiert man aggressiv, um davon abzulenken.“52 Zudem unterschied er zwischen konventioneller und atomarer Rüstung: „Wenn es zum Einsatz von Nuklearwaffen kommt, gibt es nur Verlierer.“53 Daher könne es nur darum gehen, Mittel zu besitzen, die den Einsatz dieser Waffen verhindern. In der Öffentlichkeit avancierte Gert Bastian zum quasi-unabhängigen Korrektiv der Rüstungsdebatte. Als er im Dezember 1980 dem DDR-Fernsehen ein Interview gab, in dem er erneut den Nachrüstungsbeschluss der NATO kritisierte, hatte er sich auf Seiten der Friedensbewegung positioniert. Ihm sei es egal, ob seine Gedanken aus westdeutschen Zeitungsartikeln in der DDR zitiert würden oder unmittelbar dem DDR-Fernsehen zur Verfügung stünden.54 Auch mit sowjetischen Journalisten stand er in Kontakt: Gert Bastian wurde ins Russische übersetzt. Bastian war glaubwürdig: Er wisse, was Krieg bedeute, wurde er in einer Einleitung vorgestellt. Und weiter: „Dieser waschechte Soldat kann den ungeheuerlichen Betrug nicht vergessen, der unter Hitler viele von seinen Altersgenossen in den sinnlosen Tod getrieben hatte.“55 Die Friedensbewegung, die sich ab Ende der 1970er Jahre formierte, war nach den Wieder- und Atombewaffnungsdemonstrationen in den 1950er Jahren die dritte Rüstungsprotestwelle in der Geschichte der Bundesrepublik. Ihr Ziel war es, die Implementierung des NATO-Doppelbeschlusses zu verhindern.56 Der Protest bildete sich vor einem weltpolitischen „Bedrohungspanorama“, denn die weltpolitische Lage hatte sich gegen Ende des Jahrzehntes rapide verschlechtert. Im Dezember 1979 marschierten sowjetische Truppen in Afghanistan ein. In Polen kriselte es schon seit 1980, im Dezember 1981 wurde dort das Kriegsrecht verhängt. Seit dem Mauerbau war es relativ ruhig gewesen in Europa, Ende der 1970er Jahre kehrte der Kalte Krieg aber zurück.57 Ein Wandel des gesellschaftlichen Bewusstseins hatte schon vor Mitte der 1970er Jahre eingesetzt.58 Die bis Anfang der 1970er Jahre dominierende Fortschrittsgläubigkeit geriet spätestens mit der Ölkrise von 1973 ins Wanken. Zweifel an den zeitweise unbegrenzt wirkenden Möglichkeiten des wirtschaftlichen Wachstums keimten auf. Die Frage nach dem, was Lebensqualität bedeutet, wurde neu gestellt. Auf dieser Basis konnten die politischen Bewegungen der 1970er Jahre entstehen. Die Unzufriedenheit des Einzelnen artikulierte sich zunächst im persönlichen Protest. Dabei ging es – anders als bei den intellektuellen Debatten von 1968 –59 konkret um die eigenen Lebensumstände und die Situation der Familie, um verbesserte Lernbedingungen an Schulen und modernere Wohnverhältnisse, 52
Gert Bastian im Interview, in: konkret, H. 11/1980. Ebd. Vgl. o.V.: Bastian-Kritik im DDR-Fernsehen, in: Rheinische Post, 17.12.1980. 55 BPA Ostinformationen: Gert Bastian im Interview, in: Radio Moskau, 21.01.1981. 56 Vgl. Wasmuht, Ulrike C.: Von den Friedensbewegungen der 80er Jahre zum Antikriegsprotest von 1991, in: Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.): Neue soziale Bewegungen in der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1991, S. 116-137, hier S. 116. 57 Vgl. Stöver, Bernd: Der Kalte Krieg 1947-1991. Geschichte eines radikalen Zeitalters, München 2007, S. 421 f. 58 Vgl. Bracher, Karl Dietrich/Jäger, Wolfgang/Link, Werner: Republik im Wandel 1969-1974. Die Ära Brandt, Stuttgart u.a. 1986, S. 346 ff. 59 Vgl. Kraushaar, Wolfgang: Denkmodelle der 68er-Bewegung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22-23/2001, S. 14-27. 53 54
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auch um die Furcht vor Arbeitsplatzverlust oder die Angst vor dem sozialen Abstieg.60 Betroffene Menschen handelten; Mitte der 1970er Jahre gab es in der Bundesrepublik bis zu 20.000 Bürgerinitiativen und ab 1977 sogenannte „grün-bunte“ Initiativgruppen.61 In einem zweiten Schritt organisierten sich individuelle Unruhe und persönlicher Veränderungswillen in sozialen Bewegungen, die auch die gesellschaftliche Ordnung in Frage stellten.62 Die gesellschaftliche Bewusstseinslage der ausgehenden sozialliberalen Ära gebar also die Nachrüstungsproteste, die zu sozialen Bewegungen wurden.63 Ein sehr präsentes, wenn auch umstrittenes Element der neuen Friedensbewegung war der Krefelder Appell vom 16. November 1980. Gert Bastian war Mitinitiator des Krefelder Appells und nach eigenen Angaben Hauptautor des Textes,64 der am 16. November auf dem Krefelder Forum verabschiedet wurde. Der Krefelder Appell war eine Kurzform der Krefelder Erklärung und sollte der Sammlung von Unterschriften dienen. Als Kernsatz galt: „Wir appellieren an die Bundesregierung, die Zustimmung zur Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in Mitteleuropa zurückzuziehen.“65 Dies war ein Minimalkonsens, der viele Friedensgruppen zunächst integrierte. Zum Krefelder Forum aufgerufen hatte neben Gert Bastian der SPD-Politiker und Kernphysiker Prof. Dr. Dr. Karl Bechert. Bechert war in der Anti-Atombewegung eine zentrale Figur; er soll entschieden haben, wer als Initiator beteiligt wurde.66 Dazu gehörten auch die damalige Grünen-Sprecherin Petra Kelly, Gösta von Uexküll, Dr. Martin Niemöller, Prof. Dr. Helmut Ridder, Christoph Strässer und Josef Weber. Josef Weber gehörte der Deutschen Friedensunion (DFU) an, einer Nachfolgeorganisation der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Damit kooperierten Vertreter der alten und der neuen Friedensbewegung; Martin Niemöller, Jahrgang 1892, beispielsweise gehörte schon in den 1950er Jahren zu denjenigen, die eine Volksbefragung über die deutsche Wiederbewaffnung forderten und sich an der „Kampf dem Atomtod“-Kampagne beteiligten.67 In Krefeld sollen etwa eintausend Teilnehmer anwesend gewesen sein. Bis Juni 1981 sollen den Aufruf 700.000 bis eine Million Menschen unterschrieben haben. Auch wenn es Gruppenunterschriften und undurchsichtige Zählweisen gegeben haben mag, der öffentliche Erfolg des Krefelder Appells war groß.68 Die Krefelder Initiative öffnete sich durch ihre prominenten Unterstützer – vor allem Petra Kelly und Gert Bastian – einem breiten gesell60 Vgl. Gronemeyer, Marianne: Aufgewacht aus dem Tiefschlaf. Von der Unzufriedenheit zum Protest, in: Kursbuch, Dezember 1977, S. 81-98. 61 Vgl. Stöver 2007, S. 432. 62 Zur lange diskutierten Problematik des Begriffs vgl. Roth, Roland/Rucht, Dieter: Die Veralltäglichung des Protests, in: dies. (Hrsg.) 1991, S. 11-28, hier S. 18. 63 Vgl. Wasmuht 1991, S. 121 und vgl. weiterführend Roth, Roland/Rucht, Dieter (Hrsg.): Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch, Frankfurt am Main u.a. 2008. 64 Vgl. Leserbrief von Gert Bastian, in: Süddeutsche Zeitung, 18.07.1981. 65 Zitiert nach Ooyen, Willi van: Aspekte der politischen und historischen Entwicklung der Friedensbewegung der Bundesrepublik Deutschland, in: Berndt, Michael/El Masry, Ingrid (Hrsg.): Konflikt, Entwicklung, Frieden. Emanzipatorische Perspektiven in einer zerrissenen Welt, Kassel 2003, o. S., online einsehbar unter: http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Friedensgeschichte/ooyen.html [eingesehen am 15.01.2008]. 66 Vgl. Bittdorf, Wilhelm: „Den Gehorsam aufkündigen“, in: Der Spiegel, 26.04.1982. 67 Vgl. Wasmuht 1991, S. 126. 68 Vgl. Hüllen, Rudolf van: Der „Krefelder Appell“, in: Maruhn, Jürgen/Wilke, Manfred (Koord.): Raketenpoker um Europa. Das sowjetische SS 20-Abenteuer und die Friedensbewegung, München 2001, S. 216-253, hier S. 240; Ploetz, Michael/Müller, Hans-Peter: Ferngelenkte Friedensbewegung? DDR und UdSSR im Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluß, Münster 2004, S. 305 ff.
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schaftlichen Spektrum.69 Kelly stand für die Verbindung zu den Neuen sozialen Bewegungen mit der traditionellen Friedensbewegung. Sie lehnte Kernenergie und Strahlung sowohl in der militärischen als auch in der zivilen Nutzung ab. Gleichzeitig setzte sie Ökologie und Frieden gleich, womit sie potenziell auch Anhänger aus Umweltgruppen integrierte. Gert Bastian verkörperte militärische Kompetenz und bürgerliches Engagement, mit dem er die Pläne der NATO fachkundig kritisierte. Innerhalb der Friedensbewegung und innerhalb des grünen Lagers war der Krefelder Appell umstritten. Große Teile der Gruppen, die sich friedenspolitisch engagierten, lehnten den organisatorischen Hintergrund der Initiative ab. Vor allem aber der Bundesregierung war daran gelegen, die Glaubwürdigkeit des Appells in Frage zu stellen und die ihn stützenden Strukturen aufzuzeigen. Das Bundesverteidigungsministerium beobachtete die Aktivitäten des ehemaligen Bundeswehrgenerals „mit zunehmender Sorge“70. Auch die bürgerlichen Medien artikulierten Unwohlsein. „Die Thesen, die Bastian vertritt, sind die der Sowjetischen Propaganda“71, schrieb der Militär- und Sicherheitsexperte Adelbert Weinstein in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In einer Dokumentation zum Krefelder Appell vom 15. Juli 1981 zeichnete das Verteidigungsministerium ein „Schema der organisatorischen Einordnung des Weltfriedensrates und seiner deutschen Filialen in die kommunistischen Befehlswege“72. Die „Oststeuerung“ wurde im gesamten Dokument nachgewiesen. Das Ministerium musste das Organigramm zurückziehen,73 dennoch war das Dokument bereits am 31. August 1981 unter dem Titel „Nachrede gegen Bastian“ im Spiegel veröffentlicht worden.74 Es gibt mehrere Versionen darüber, wer den Text der Krefelder Erklärung verfasst haben könnte. Neben der Version, dass Bastian den Text selbst geschrieben hatte, geht eine zweite davon aus, dass Funktionäre der Deutschen Friedensunion seine Urheber waren.75 Eine dritte besagt, dass alle Initiatoren den Text gemeinsam formuliert haben – doch das ist allein aufgrund des organisatorischen Aufwands eher unwahrscheinlich.76 Sprachliche und begriffliche Parallelen zu anderen Texten Gert Bastians werden durch persönliche Kontakte erklärt. Gert Bastian selbst bestritt Verbindungen zur Deutschen Kommunistischen Partei (DKP).77 Aussagen des FAZ-Autors Adelbert Weinstein, dass die Podiumsdiskussion durch die DKP organisiert worden war, mussten nach einem Urteil vom Oberlandesgericht Celle widerrufen werden.78 Hingegen war die Nähe zur DFU durch Josef Weber deutlich sichtbar.79 Auch wurde die Halle, in der das Krefelder Forum stattfand, vom Sekretär des Präsi-
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Vgl. v. Hüllen 2001, S. 226. Bundesverteidigungsministerium Staatssekretär Penner, zitiert nach o.V.: „Ex-General macht Sowjetpropaganda!“, in: Bild am Sonntag, 15.02.1981. 71 Weinstein, Adelbert: Der „Dauerbrenner“ Bastian, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.02.1981. 72 Dokumentation zum „Krefelder Appell“ in: AGG, A – Kelly, Petra K, Akte 2612 (Krefelder Appell). 73 Vgl. Der Bundesminister der Verteidigung an Gert Bastian, 09.09.1981, in: AGG, A – Kelly, Petra K, Akte 2612 (Krefelder Appell). 74 Vgl. Gert Bastian, Deutscher Bundestag, Pressedokumentation. 75 Vgl. Baron, Udo: Kalter Krieg und heißer Frieden. Der Einfluss der SED und ihrer westdeutschen Verbündeten auf die Partei „Die Grünen“, Münster 2003, S. 96. 76 Vgl. v. Hüllen 2001, S. 233 ff. 77 Vgl. Leserbrief von Gert Bastian, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.02.1981; Gert Bastian im Interview, in: Neue Presse, 07.02.1981; auch Leserbrief von Gert Bastian, in: Bild am Sonntag, 01.03.1981. 78 Vgl. dpa, 21.06.1982; o.V.: Teilerfolg Bastians gegen Weinstein, in: Süddeutsche Zeitung, 27.07.1982. 79 Vgl. Bittdorf, Wilhelm: „Den Gehorsam aufkündigen“, in: Der Spiegel, 26.04.1982. 70
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diums der DFU gemietet; den Mietvertrag unterzeichnete Weber, allerdings als Privatperson.80 Wie auch immer die Zusammenhänge gewesen sind: Für Gert Bastian wurden die Initiativen der Friedensbewegung nach seinem Karrierebruch zum Auffangbecken und gleichzeitig zum Tummelplatz. Nachdem er sich offensiv aus der Bundeswehr verabschiedet hatte, veränderte sich auch sein soziales Umfeld radikal. Gleichzeitig war die Friedensbewegung das politische Vorfeld und Umfeld, über das er in die Parteipolitik einstieg und sich schließlich den Grünen anschloss.81 Doch bevor er den Grünen beitrat schloss er sich 1981 einer weiteren Initiative an. In der Gruppe Generale für den Frieden hatten sich zwölf ehemalige Generale und Admirale der NATO zusammengefunden, die in den westeuropäischen Staaten und im außereuropäischen Ausland gegen nukleare Rüstung agitierten, unter ihnen Gert Bastian.82 Die Dienstränge in Zusammenhang mit dem Lebensalter und Verweis auf militärische Erfahrungen vermittelten Glaubwürdigkeit. Organisator der Gruppe und Herausgeber des gleichnamigen Buchs war Gerhard Kade. Kade war zunächst Wirtschaftswissenschaftler und Professor an der Technischen Hochschule Darmstadt. 1975 veröffentlichte er das Buch „Die Krise und die Grenze der bürgerlichen Ökonomie“. Ab Mitte der 1970er Jahre betrieb er Friedensforschung, und gehörte der Leitung des Komitees für Frieden, Abrüstung und Zusammenarbeit (KOFAZ) an, von dem aus Verbindungen zu DKP und SED bestanden.83 Entscheidend ist, dass Kade direkt mit der SED zusammenarbeitete und als Inoffizieller Mitarbeiter (IM) des Geheimdiensts der DDR wirkte. Er „bekam den Decknamen ‚Super’, der auch seine Bedeutung für uns ausdrückte“84, schrieb Markus Wolf, der Leiter des Auslandsnachrichtendienstes des Ministeriums für Staatssicherheit, über die Kontaktaufnahme. Laut Wolf wurde den Generalen für den Frieden eine Finanzierung von 100.000 DM im Jahr bewilligt, die in Form einer Spende vom Institut für Politik und Wirtschaft ausgezahlt wurde. Kade übernahm die Argumentationen der SED und verteidigte sie im Westen: „Sein Buch über die ‚Bedrohungslüge’ strotze nur so von grobschlächtiger SED-Propaganda“, schreibt Jochen Staadt.85 Im gleichen Verlag wie „Die Bedrohungslüge“ erschien das Buch „Generale für den Frieden“. Der Verlag Pahl-Rugenstein wurde ebenfalls von der DDR finanziert.86 Für Gert Bastian gab es sehr viele Hinweise darauf, wer seine Mitstreiter in der Friedensbewegung waren und wer mögliche Geldgeber sein könnten. Selbst Wolf konnte sich nicht vorstellen, dass Bastian keine Ahnung darüber gehabt habe, welche Art Ost-Kontakte Kade unterhalten habe.87 Ergebnisse aus Textanalysen geben Hinweise darauf, dass sowohl Kades als auch Bastians Argumente aus „anderen Federn“ geflossen sind,88 so beispielsweise die Formulierungen aus Kades Nachwort des 1981er Buchs, in dem er über eine „breite politische Bewe80
Vgl. v. Hüllen 2001, S. 223 f. Zur politischen Herkunft der Mandatsträger der Grünen vgl. Fogt, Helmut: Die Mandatsträger der Grünen. Zur sozialen und politischen Herkunft der alternativen Parteielite, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, H. 11/1986, S. 16-33, hier S. 23 ff. 82 Vgl. Generale für Frieden und Abrüstung (Hrsg.) 1983. 83 Zur Struktur und Arbeitsweise des KOFAZ vgl. Baron 2003, S. 43 ff. 84 Wolf, Markus: Spionagechef im geheimen Krieg. Erinnerungen, München 1997, S. 343. 85 Staadt, Jochen: Die SED und die „Generale für den Frieden“, in: Maruhn/Wilke (Koord.) 2001, S. 270-280, hier S. 271. 86 Vgl. ebd., S. 274. 87 Vgl. Wolf 1997, S. 343 f.; Staadt 2001, S. 273. 88 Vgl. Staadt 2001, S. 273. 81
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gung patriotischer Militärs“ und die „gutnachbarlichen Beziehungen zwischen Staaten unterschiedlicher politischer und sozialer Ordnung“ schrieb. Udo Baron wies ebenfalls auf den Sprachgebrauch in den im Rahmen einiger Initiativen der Friedensbewegung veröffentlichten Dokumenten hin.89 So gab es auch sprachliche Parallelen zwischen dem Brief, den Gert Bastian an Verteidigungsminister Apel geschrieben hatte, und der Krefelder Erklärung. Dennoch schließt Baron aus, dass Bastian den Text allein verfasst habe.90 Daran anschließend ergibt sich jedoch die Frage, ob das Schreiben, das Bastian an Apel geschickt hat, nicht vielleicht auch schon unter dem Einfluss kommunistischer Organisationen stand und wenn ja, wer davon außer Bastian noch gewusst haben könnte. Im April 1982 trat Bastian zusammen mit seinem holländischen Kollegen M. H. v. Meyenfeldt auf einer Veranstaltung im Zürcher Volkshaus auf.91 Beide erklärten, dass die NATO auch ohne Nuklearwaffen stark genug sei, um einen Angriff aus dem Osten abzuwehren. Die Neue Zürcher Zeitung mutmaßte, dass sie sich wenig darum zu kümmern schienen, wer ihnen die Plattform verschaffe. Weiter: „Den verschiedenen Gruppierungen in der Friedensbewegung dienen sie als militärisches Alibi und als propagandistisches Aushängeschild. Die Frage, wer hier auf längere Zeit wen benützt, stellt sich.“92 Da Bastian noch immer als Generalmajor außer Dienst auftrat, überlegte das Verteidigungsministerium Anfang der 1980er Jahre, disziplinarrechtlich gegen ihn vorzugehen, bedauerte jedoch, dass sein Verhalten vom Grundrecht der Meinungsfreiheit gedeckt sei.93 Inoffiziell mutmaßte das Ministerium über direkte Verbindungen zum Kreml.94 Ende des Jahres wurde Bastian von der Internationalen Liga für Menschenrechte mit der Carl-vonOssietzky-Medaille geehrt. Auch während seiner Zeit bei den Grünen engagierte sich Bastian weiter für die Gruppe der Friedensgenerale. Mit drei anderen Generalen – Michael Harbottle aus Großbritannien, M. H. v. Meyenfeldt aus den Niederlanden und Johan Christie aus Norwegen – fuhr Gert Bastian am 24. März 1986 nach Ost-Berlin, um die vorläufige Version eines Dokumentarfilms über die Generale für den Frieden vorzustellen.95 Gleichzeitig sollten die Generale mit der psychologischen Kriegsführung gegen das westliche Verteidigungsbündnis vertraut gemacht werden. Die fertige Fassung des Films wurde am 25. September des gleichen Jahres in Anwesenheit von Erich Honecker im Filmtheater Kosmos uraufgeführt. Staadts Bewertung dieser Ereignisse soll hier ohne Kommentar als Zitat wiedergegeben werden: „Diese Männer, die angeblich nur ihrem Gewissen folgend gegen die Verteidigungsdoktrin ihrer Heimatstaaten aufgestanden waren, haben sich gewissenhaft an der Verschleierung des tatsächlichen Entstehungszusammenhanges eines für ihre Gruppe gefertigten ostdeutschen Propagandafilmes beteiligt. Zumindest diese vier Generale wussten, dass sie damit an einem Vorhaben der gegnerischen psychologischen Kriegsführung mitwirkten. Damit musste ihnen aber auch klar sein, dass ihr Verhalten nach den Regeln ihres Berufsstandes ohne weiteres auch als Verrat betrachtet werden könnte.“96 Bei den Grünen 89
Vgl. Baron 2003, S. 90. Vgl. ebd., S. 96. Vgl. o.V.: Scharfe Kritik am „Nachrüstungsbeschluss“ der Nato, in: Neue Zürcher Zeitung, 18.04.1982. 92 Ebd. 93 Vgl. o.V.: Regierung über Aktivitäten von Bastian besorgt, in: Die Welt, 26.02.1981. 94 Vgl. o.V.: Nachrede gegen Bastian, in: Der Spiegel, 31.08.1981. 95 Vgl. Staadt, Jochen: Die Bedrohungslüge, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.04.2001. 96 Ders. 2001, S. 280. 90 91
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Die personelle Verflechtung zwischen Friedensbewegung und der grünen Partei war stark. Als größte Massenbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik trug sie nicht zuletzt dazu bei,97 dass die Grünen sich stabilisieren und später als parlamentarische Kraft etablieren konnten. Petra Kelly beispielsweise fungierte durch die politischen Themen Frieden und Abrüstung und ihre organisatorische Vernetzung im Krefelder Appell, in der GrünenPartei und zahlreichen anderen Gruppen und Vereinigungen als verbindendes Element.98 Deutlich messbar waren die Überschneidungen zwischen Bewegung und Partei zudem auf der Wählerebene.99 Für die Grünen wurde das Friedensthema neben der Ökologie zum zweiten politischen Standbein, mit dem sie Wähler erreichten.100 Programmatisch forderten sie einseitige Abrüstung, die darauf abzielten sollte, die Rüstungsspirale zu durchbrechen. Im Sinne ihres Grundprinzips der Gewaltfreiheit lehnten sie – anders als Gert Bastian – jede militärische Verteidigung ab.101 Für die Bundestagswahl von 1983 konnten die Grünen die gesellschaftliche Mobilisierung der Bewegungen nutzen. Zwar sicherten sich Union und FDP im Bundestag eine klare Mehrheit. Doch die Grünen zogen mit 5,6 Prozent erstmals in den Bundestag ein. Der Gründungsparteitag vom Januar 1980 lag noch nicht lange zurück. Gert Bastians Prominenz war herausragend zu Beginn der 1980er Jahre. So war der politische Einstieg einfach für ihn. Eine innerparteiliche Ochsentour gab es in der alternativen Partei nicht, es galt sie sogar zu vermeiden. Machtkonzentrationen und zu starker institutionalisierter Klüngel sollten verhindert werden. Das Parlament sei kein Ziel, sondern eine Strategie, sagte Petra Kelly, und besetzte den Begriff der Antipartei-Partei.102 Kurz vor der Bundestagswahl hatten die Grünen auf der Bundesdelegiertenkonferenz in Sindelfingen beschlossen, dass alle Bundestagsabgeordneten ihre Sitze in der Mitte der Legislaturperiode für ihre jeweiligen, vorher bestimmten Nachrücker zu räumen hatten. Die Mandatsträger sollten mit ihrem jeweiligen Abgeordneten in spe als Duo in Bürogemeinschaften kooperieren, um einen reibungslosen Übergang zu ermöglichen. Zwar war die rechtliche Grundlage unsicher. Doch sollten Rotation und die Trennung von Amt und Mandat eine Professionalisierung der Partei verhindern und gleichzeitig den Basiskontakt stärken. Dass die Grünen den Berufsparlamentarismus ablehnten, symbolisierten zudem die „Ökofonds“. In sie zahlten die Abgeordneten festgelegte Beiträge ihres Einkommens. Das gesammelte Geld sollte für alternative Projekte zur Verfügung stehen. Gert Bastian trat der Partei 1982 bei. Wie für viele andere Grüne war der Bundestag Neuland für ihn. Und wie die anderen Mitglieder der Fraktion hatte auch er kein Amt in der Partei. Bastians Wirkraum wurde also das Parlament.
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Vgl. Kielmansegg 2000, S. 234. Vgl. Raschke, Joachim: Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1993, S. 114. 99 Vgl. ebd., S. 502. 100 Vgl. Kleinert, Hubert: Vom Protest zur Regierungspartei. Die Geschichte der Grünen, Frankfurt am Main 1992, S. 42. 101 Vgl. Müller-Rommel, Ferdinand/Poguntke, Thomas: Die Grünen, in: Oberreuter, Heinrich/Mintzel, Alf (Hrsg.): Parteien in der Bundesrepublik Deutschland, München 1990, S. 276-310, hier S. 290; dazu auch Kahl, Werner: Vorwürfe der Grünen gegen General Bastian, in: Die Welt, 18.08.1983. 102 Vgl. Petra Kelly im Interview, in: Der Spiegel, 14.06.1982. 98
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Im Bundestag Der Kreisverband München-Mitte nominierte Gert Bastian im Dezember 1982 für die Bundestagswahl am 6. März 1983. Über die bayerische Landesliste war er zusätzlich abgesichert. Bastian sollte im Wahlkampf ein Zugpferd sein und war es auch.103 Die Grünen erzielten 4,7 Prozent der Zweitstimmen in Bayern, in Oberbayern waren es 5,5 Prozent. Der Wahlkreis München-Mitte erzielte mit 10,7 Prozent bundesweit das drittbeste Wahlergebnis der Partei – ein Ergebnis, das neben Bastian auch der relativen Wählerstärke der Grünen in München geschuldet war.104 Im Bundestag wurde Bastian Vertreter im Verteidigungsausschuss. Seine Themen auch hier: Rüstungsaufkommen in Ost und West, militärisches Handeln der USA in Deutschland, Deutschland in der NATO, Situation der Wehrpflicht in der Bundeswehr.105 Gleichzeitig war er aus dem Bundestag heraus weiterhin für die Gruppe Generale für Frieden und Abrüstung aktiv.106 Im April 1983 beispielsweise berichtete er von einer Reise mit der Gruppe zu amerikanischen Bischöfen.107 1983 war ein starkes Jahr der Friedensbewegung. Vier- bis sechstausend Initiativen soll es gegeben haben.108 Vom 1. bis zum 3. April fanden bundesweit die Ostermärsche als Abrüstungsmärsche statt. Während der gleichen Zeit blockierten 263 Demonstranten die Zufahrtsstraße vor der amerikanische Kaserne „Wiley Barracks“ in Neu-Ulm, unter ihnen auch Gert Bastian.109 Mitte April nahmen allein an der Dritten bundesdeutschen Aktionskonferenz der Friedensbewegung rund siebenhundert Menschen teil.110 Am 12. Mai war Gert Bastian an einer Demonstration auf dem Alexanderplatz beteiligt. Gemeinsam mit Lukas Beckmann, Petra Kelly und anderen war er von einer Friedenskonferenz in West-Berlin in den Osten der Stadt gereist. In der Nähe der Weltzeituhr entfalteten sie Plakate, bis die Volkspolizei die Aktion nach wenigen Minuten abbrach.111 Zwei Absichten sollten damit verfolgt werden: die Forderung von Abrüstung in beiden Blöcken und der Wunsch, sich den Bürgern der DDR unmittelbar verständlich zu machen.112 Zudem wollten die Demonstranten laut Bastian zeigen, dass sie nicht akzeptierten, dass Vertreter der Friedensbewegung der DDR nicht an der Friedenskonferenz in West-Berlin teilnehmen durften. In der Fraktion stieß die Aktion – unter anderem weil sie nicht geplant gewesen 103
Vgl. Kleinert 1992, S. 71. Vgl. Raschke 1993, S. 270. 105 Vgl. beispielsweise Die Grünen im Bundestag: Pressemitteilung Nr. 54/1983, in: AdsD, Sammlung Personalia – Bastian, Gert [1977-1983 [(P)] Box 700 oder Gert Bastian: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 10. Wahlperiode, Stenographische Berichte Band 124. Plenarprotokolle 10/1-10/17, 24. März 1983 – 24. Juni 1983, Bonn 1983, S. 135 ff. 106 Siehe Kapitel 4.1 und vgl. Gert Bastian an Ew. Exzellenz, Mai 1983, in: AdsD, Sammlung Personalia – Bastian, Gert [1977-1983 [(P)] Box 700. 107 Vgl. Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien und Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.): Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 19831987. Erster Halbband, Düsseldorf 2008, S. 66. 108 Vgl. ausführlich Leif, Thomas: Die strategische (Ohn-)macht der Friedensbewegung. Kommunikations- und Entscheidungsstrukturen in den achtziger Jahren, Opladen 1990. 109 Vgl. o.V.: Aufhebung der Immunität von Bastian gefordert, in: Stuttgarter Zeitung, 06.10.1983. 110 Vgl. Ploetz, Michael/Müller, Hans-Peter: Friedensbewegung in Ost und West. Zeitleiste 1969-1987, in: Maruhn/Wilke (Koord.) 2001, S. 326-348, hier S. 344. 111 Vgl. Gert Bastian und Petra Kelly im Interview, in: Deutschlandfunk, 13.05.1983. 112 Vgl. Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien und Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.) 2008, S. 129. 104
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war und große mediale Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte – auf starke Kritik, unter anderem von Jürgen Reents. Dennoch verbanden Bastian und Kelly mit Aktionen wie dieser, außerparlamentarische und parlamentarische Arbeit miteinander. Im Bundestag selbst war Bastian im Verteidigungsausschuss tätig.113 Am 3. Mai 1983 präsentierte er der Fraktion, der Bundesregierung völlige Atomwaffenfreiheit als ersten Schritt für eine blockfreie Bundesrepublik vorzuschlagen; dies sei für ihn das einzig vorstellbare Endziel der Sicherheitspolitik.114 Zudem kritisierte er eine allgemeine Militarisierung in allen Lebensbereichen – ein Argument, das so auch Petra Kelly benutzte. In einer Rede am 4. Mai forderte er von der Bundesregierung ein eindeutiges Bekenntnis zu Abrüstungsverhandlungen und eine Politik, die zur Auflösung beider Militärblöcke führt.115 Nach 1983 zerfaserte die Friedensbewegung.116 Die Grünen hatten schon während des ersten Jahres im Bundestag mit Konflikten zwischen Partei und Fraktion und innerhalb der Fraktion zu kämpfen. Grund dafür waren unter anderem jene Parteibeschlüsse, die Rotation, Ökofonds und imperatives Mandat regelten und so auch die Handlungsmöglichkeiten der Abgeordneten extrem einschränkten. Im Januar 1984 brachen die Streitigkeiten um die Rotation offen aus. So kam es auch zur ersten Bastian-Krise in der Fraktion. In einem Brief an die Fraktionsspitze vom Januar 1984 drohte er, die Fraktion zu verlassen.117 Bastian beklagte politische Fehlentwicklungen und die Rückkehr überholter Klassenkampfvorstellungen. Die Bürogemeinschaften bezeichnete er als „hoffnungslose Fehlkonstruktion“. Nicht Toleranz und Menschlichkeit prägten das Klima, stattdessen Intrigen und Machtkämpfe. Er forderte eine Änderung der Situation, sprach von einer „Diktatur der Inkompetenz“118. Die Fraktion sicherte ihm zwei wissenschaftliche Mitarbeiter für den Arbeitskreis Frieden/Abrüstung/ Internationales zu.119 Bastian ging trotzdem, da er davon keine Verbesserung der Arbeitsfähigkeit erwartete. Sein Mandat nahm er mit. Er zog es vor, seine Kraft in Zukunft als fraktionsloser Abgeordneter für jene politischen Ziele der Grünen- und der Friedensbewegung einzusetzen, aufgrund derer ihm die Kandidatur für den Bundestag angetragen worden sei.120 In einem offenen Brief vom 14. Januar 1984 forderte Antje Vollmer ihn dazu auf, in der Fraktion zu bleiben und die Auseinandersetzung zu suchen.121 Vollmer verbot sich den Druck, den Bastian auf die Grüne Gruppe im Bundestag ausübte und warf ihm Intoleranz gegenüber politisch Andersdenkenden Grünen vor. Bastian gefährde die Existenz der Fraktion. Jemand mit einem so großen Namen dürfe sich nicht von der Basis entfernen. Vollmer spielte auf Bastians Sonderrolle an, die er gemeinsam mit Petra Kelly einnahm – „Ihr habt
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Vgl. ebd., S. 35. Vgl. ebd., S. 114. 115 Vgl. Deutscher Bundestag: Verhandlungen des Deutschen Bundestages. 10. Wahlperiode, Stenographische Berichte Band 124. Plenarprotokolle 10/1-10/17, 24. März 1983 – 24. Juni 1983, Bonn 1983, S. 135 ff. 116 Vgl. zum Zusammenhang auch Kleinert 1992, S. 106. 117 Vgl. Gert Bastian an die Grünen im Bundestag zu Händen der Sprecher, 09.01.1984, in: AdsD, Sammlung Personalia – Bastian, Gert [1978-1988 [P] Box 699]. 118 Gert Bastian über die Grünen, in: die tageszeitung, 14.02.1984. 119 Vgl. Gert Bastian zu seinem Austritt, in: die tageszeitung, 10.02.1984. 120 Vgl. Gert Bastian an die Grünen im Bundestag zu Händen der Sprecher, 09.01.1984, in: AdsD, Sammlung Personalia – Bastian, Gert [1978-1988 [P] Box 699]. 121 Vgl. Offener Brief von Antje Vollmer an Gert Bastian, 14.01.1984, in: AdsD, Sammlung Personalia – Bastian, Gert [1978-1988 [P] Box 699]. 114
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Euch aus vielen Alltagsproblemen herausgehalten, da Ihr für Euch andere Schwerpunkte gesetzt hattet“ –, und forderte eine faire Behandlung. Das tatsächliche Problem war wahrscheinlich ein anderes. Gert Bastian hätte 1985 seinen Platz im Bundestag für seinen Nachrücker Wolfgang Daniels räumen und in der Folge für die zweite Riege der Fraktion arbeiten müssen.122 Sein Prominenten-Status wäre damit in Gefahr geraten, hierarchisch wäre er abgestiegen. Bastian war nicht der einzige Abgeordnete der Grünen, der mit der Rotation Probleme hatte. Auch Petra Kelly weigerte sich, ihr Mandat abzugeben, worin Gert Bastian sie unterstützte; er hielt die Rotation nach zwei Jahren für blödsinnig.123 Vielleicht war es daher eher Bastians „Unwillen und Unvermögen“, sich den basisdemokratischen Verhaltensregeln der Grünen anzupassen.124 Es wirkte aber auch, als wollte Gert Bastian sich mit seinem Schreiben wieder ablösen, wieder an die Seite stellen. Er hatte die Grünen nie als seine Heimat akzeptiert, daher unternahm er nun nicht den Versuch, die Strukturen zu ändern, sondern ging. Er blieb der Kronzeuge der Friedensbewegung. Seine Machtressource war sein Lebenslauf und die Abkehr von der Bundeswehr. Ein Grünen-Politiker, der versuchte, sich in den Strukturen zu orientieren oder innerparteilich aufzusteigen, wurde er nicht. Als fraktionsloser Abgeordneter verfolgte er seine Ziele innerhalb der Friedensbewegung weiter. Er engagierte sich gegen die nukleare Aufrüstung und setzte sich politisch für ein atom- und blockfreies Mitteleuropa ein. Weder sein Austritt aus der Krefelder Initiative noch das Verlassen der Fraktion änderten seinen Überzeugungen.125 Gemeinsam mit Petra Kelly reiste er durch Europa und in die USA. Wie Kelly auch, hielt er zahlreiche Vorträge und publizierte unter anderem auch in der relativ undankbaren Form des Leserbriefs. Nach wie vor warnte er vor einer militärischen Überlegenheit der USA, prangerte aber gleichzeitig den Antiamerikanismus innerhalb der Grünen an. Nach außen nutzte er das Mandat, um die Kontakte zu Politikern und Wissenschaftlerin im In- und Ausland herzustellen. Innerhalb des Bundestages trug er seine Thesen weiterhin im Plenum vor. Er rechtfertigte seine Unabhängigkeit: „Überhaupt darf ich jetzt als Fraktionsloser viel öfter sprechen, zu jedem Thema“126, sagte er in einem Interview. Weiterhin sprach er zu sicherheitspolitischen Themen, nun aber auch verstärkt zu umweltpolitischen Fragestellungen.127 Während seiner Zeit im Bundestag stellte sich immer wieder die Frage, ob Gert Bastian in die Fraktionsgemeinschaft zurückkehren wolle. Er begründete seine Distanz unter anderem damit, dass der Einfluss ehemaliger Angehöriger des Kommunistischen Bundes (KB) zugenommen habe.128 Eine Nähe zu der vor allem in Hamburg starken Gruppe lehnte er also ab.129 Nachdem der Sprecher des Landesverbands der Grünen in Bayern, HansDieter Reichhelm, laut über ein Parteiausschlussverfahren gegen Kelly und Bastian nachgedacht hatte und auch ankündigte, „künftig vorsichtiger bei prominenten Seiteneinstei122 Vgl. Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien und Archiv Grünes Gedächtnis der Heinrich-Böll-Stiftung (Hrsg.) 2008, S. 1085. 123 Vgl. Bastian, Gert: Zeichen von Harmoniebedürfnis, in: Süddeutsche Zeitung, 04.08.1984; Interview mit Gert Bastian, in: Hamburger Morgenpost, 26.01.1985. 124 Vgl. Brandes, Ada: Gert Bastian, in: Stuttgarter Zeitung, 11.02.1984. 125 Vgl. Bastian, Gert: Keine Abkehr, in: Die Zeit, 02.03.1984. 126 Hamburger Morgenpost, 26.01.1985. 127 Vgl. Deutscher Bundestag: Register zu den Verhandlungen des Deutschen Bundestages und des Bundesrates. 10. Wahlperiode 1983 – 1987, Bonn 1987, S. 78 f. 128 Vgl. o.V.: Bastian: Rotation verweigern, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.01.1985. 129 Vgl. Raschke 1993, S. 295 ff.
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gern“130 sein zu wollen, kehrte Bastian am 18. März 1986 in die Fraktion zurück. Er begründete seinen Schritt damit, die Politik der Grünen auf Bundesebene kompromisslos und mit größtmöglicher Einmütigkeit vertreten zu wollen.131 Zudem wolle er im Jahr des Bundestagswahlkampfs wieder unmittelbarer an den Programmdiskussionen in Fraktion und Partei teilnehmen können. Wahrscheinlich bröckelten aber auch einfach nur seine Beteiligungschancen in der Zeit vor der Wahl, denn seine innerfraktionelle Macht hatte er verspielt, sein Prominenten-Status sank im Zuge der zerfallenden Friedensbewegung und über innerparteiliche Machtressourcen hatte er nie verfügt. Nach zweieinhalbstündiger Diskussion entsprach die Fraktion Bastians Gesuch um Wiederaufnahme in dieselbige. Dagegen stimmten lediglich Milan Horáek und Stefan Schulte. Die relative Ruhe in der Fraktion hielt jedoch nicht lange an. Im Dezember 1986 veröffentlichte der Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Axel Vogel, die Bilanzen der Ökofonds, in die die Abgeordneten gemäß der Sindelfinger-Beschlüsse einen Teil ihrer Diäten abzuführen hatten. Er nannte die Namen von fünf Abgeordneten, darunter Gert Bastian, die mit ihren Zahlungen im Rückstand seien. 68.849 Mark stünden von ihm noch aus. Bastian reagierte verärgert, denn er habe diese Mittel nach eigenem Ermessen zugunsten der ihm politisch nahe stehenden Menschen, Gruppen und Vorhaben eingesetzt; außerdem habe er Geldstrafen und Prozesskosten, die im Rahmen von Strafverfahren angefallen waren, begleichen müssen.132 Dies sei mit der Fraktionsführung abgesprochen gewesen. Im Grunde war dies der Abschied aus der Bundestagsfraktion der Grünen. Bastian verließ den Bundestag enttäuscht: „Die Möglichkeiten, im Bundestag wirkliche Demokratie zu pflegen, sind doch wesentlich eingeschränkter, als man es als Bürger glaubt.“133 Die Entscheidungen, so resümierte er, werden an anderer Stelle getroffen, in den Fraktionsvorständen, der Regierungsbürokratie, von den Interessengruppen. Dem Parlament bliebe nur noch, diese Entscheidungen nachzuvollziehen.
Seitenwechsel III: Politik ohne Verankerung Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag blieb Gert Bastian politisch aktiv. Schon 1982 hatte er den bayerischen Landtagswahlkampf von Petra Kelly unterstützt, Wählerinitiativen organisiert und Fürsprecher mobilisiert. Während seiner Zeit als Abgeordneter arbeiteten beide eng zusammen. Nach Bastians Ausscheiden aus dem Bundestag bestand die Verbindung fort. Mittlerweile wohnten und arbeiteten beide in einer Doppelhaushälfte im Bonner Stadtteil Tannenbusch. 1990 erwog Gert Bastian, für die PDS zu kandidieren und führte Gespräche mit Gregor Gysi über einen Listenplatz.134 Sein Sohn schreibt, dass Bastian schließlich auf eine Kandidatur verzichtet habe, weil die PDS noch grundlegend mit finanziellen Mittel der SED agierte. Dieses spreche laut Till Bastian auch gegen eine IM-Tätigkeit Bastians. Fraglich bleibt jedoch, warum Gert Bastian insbesondere im Rahmen seines Engagements in130
ddp, 31.01.1985. Vgl. Gert Bastian an Die Grünen im Bundestag vom 18.03.1986, in: Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Sammlung Personalia – Bastian, Gert [1978-1988 [P] Box 699]. 132 Vgl. Brandes, Ada: Ein langer Brief zum kurzen Abschied, in: Stuttgarter Zeitung, 10.01.1987. 133 Lücke, Markus: „Was ich wollte, habe ich nicht erreicht“, in: Das Parlament, 25.07./01.08.1997. 134 Vgl. Bastian, Till: Die Finsternis der Herzen. Nachdenken über eine Gewalttat, Köln 1994, S. 60. 131
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nerhalb der Gruppe „Generale für den Frieden“ ideelle und intellektuelle Unterstützung von Seiten der DDR angenommen hatte.135
Strukturmerkmale Skandal. Was war nun das eigentlich skandalöse an Gert Bastians Handeln? Skandal bedeutet laut Duden zunächst einmal Ärgernis; Aufsehen erregendes, schockierendes Vorkommnis oder auch Lärm. Heinz Bude spezifiziert in einem Aufsatz über Typen von Skandalpolitikern: „Politische Skandale bieten Anlässe zum Ausdruck kollektiver Affekte. Das Publikum empört oder entrüstet sich, es äußert Abscheu oder Häme.“136 Der Grund für diese Häme sei eine Erfahrung der Entzauberung. Möglicherweise entzauberte sich Gert Bastian als Politiker selbst durch seine Distanz, die er zur Grünen-Partei und zu anderen Grünen-Politikern stets wahrte. „Nur nach der eigenen Überzeugung handeln und sich nicht um die öffentliche Meinung kümmern“137, war sein politisches Motto gewesen. Dies war seine Rechtfertigung, um gegen Vereinbarungen der Fraktion zu verstoßen und beispielsweise die Rotation zu verweigern. Dies war aber auch die Grundlage dafür, dass er gesellschaftliche Normen überschritt – zunächst durch die Äußerungen gegen seinen Dienstherren, den Verteidigungsminister Apel, und anschließend im Rahmen von Demonstrationen und Protesten der Friedensbewegung. Die Aktionen vor Kasernen, Botschaften und – im Sinne des Wortes – Grenzüberschreitungen in der DDR brachen gesellschaftliche, auch außenpolitische Tabus, die die Politik der 1980er Jahre bestimmten. Er verletzte damit Gefühle, die gesellschaftliches Zusammenleben regeln.138 Dies war auch eine Ursache des „Unbehagens“, das Gert Bastian bei Beobachtern auslöste. Persönlichkeit. Gert Bastian war zu Beginn der 1980er Jahre sehr präsent im politischen Prozess. Ehemalige Kollegen spekulierten, dass ihn sein Geltungsbedürfnis immer wieder antreibe, den Außenseiter zu spielen; vielleicht, sagten sie, habe er auch schon lange innerlich mit den Kommunisten sympathisiert.139 Schon im Dezember 1981 hatte er darüber berichtet, wie radikal sich sein gesellschaftliches Umfeld geändert hatte.140 „Freunde und Bekannte aus 24 Berufsjahren verschwinden schneller als Schnee an der Sonne“, wird er zitiert. Die sozialen Bewegungen und die Grünen fungierten als Auffangbecken und auch als Ort der Aufarbeitung. Die Frage bleibt, warum sich Gert Bastian seit Ende der 1970er Jahre so stark politisch engagierte und dabei und dafür sein bisheriges Leben in Frage stellte, warum er so offensiv, beinahe aggressiv die Öffentlichkeit suchte. Abhängigkeit vom Förderer? Gert Bastians politische Ressource war zunächst seine Prominenz, sicherlich auch seine Präsenz innerhalb der Friedensbewegung. Die Nähe zu einem politischen Förderer oder Ziehvater, von dem er sich hätte distanzieren müssen, 135 Vgl. o.V.: Gert Bastian. Stasi schrieb die Reden, in: Focus, H. 17 1993. Eine bessere Quelle an dieser Stelle wäre wünschenswert. 136 Bude, Heinz: Typen von Skandalpolitikern, in: Ebbighausen, Rolf/Neckel, Sighard (Hrsg.): Anatomie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 1989, S. 396-414, hier S. 396. 137 O.V.: Gert Bastian wurde bei den Grünen nie richtig heimisch, in: Die Welt, 21.10.1992. 138 Vgl. Hondrich, Karl Otto: Enthüllung und Entrüstung. Eine Phänomenologie des politischen Skandals, Frankfurt am Main 2002, S. 150 ff. 139 Vgl. Weinstein, Adelbert: Der „Dauerbrenner“ Bastian, in: Frankfurter Allgemeine, 05.02.1981. 140 Vgl. Bittdorf, Wilhelm: „Den Gehorsam aufkündigen“, in: Der Spiegel, 26.04.1982.
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bestand nicht. Vielmehr bestand eine sehr starke Nähe zu seiner politischen Weggefährtin Petra Kelly, von der er sich am Ende seines Lebens nicht mehr zu lösen vermochte. Doch hier vermischten sich private und politische Motive so stark, dass die Konstellation eher eine Ausnahme bildet. Strukturell befand sich Gert Bastian in einer Situation relativer Unabhängigkeit. Finanziell war er durch Bezüge der Bundeswehr abgesichert; zudem erhielt er Zahlungen aus seinem Mandat. Politisch war er so frei, dass er sich sogar jenseits der Fraktion bewegte. Jedoch liegt auch genau darin die Ursache einiger seiner politischen Probleme. Er agierte innerhalb von Bewegungen und war in den politischen Institutionen darauf angewiesen, Kompromisse einzugehen. Der Erfolg blieb somit mäßig. Übergang in die Berufspolitik. Letztlich gelang Gert Bastian der Übergang in die Berufspolitik nicht. Sein Wirkungsfeld war der Bundestag. Hier konnte er sein Mandat nutzen, um seine persönlichen Positionen vorzutragen. Doch da er sich im Vergleich zu erfolgreichen politischen Seiteneinsteigern, wie Angela Merkel, nicht in die Organisationsstruktur der Grünen oder später auch der PDS einfügte, sie akzeptierte und darin handelte, blieb der politische Seiteneinstieg von Gert Bastian ein, wenn auch wirkungsmächtiger, Ausflug. Momente des Scheiterns. In seiner Unfähigkeit zur organisatorischen Anpassung ist in der Karriere Gert Bastians auch der Moment des Scheiterns zu finden. Doch nicht nur darin: Gert Bastian war stark in der Friedensbewegung verankert. Mit der deutschen Einheit bestimmten andere Themen den politischen Alltag. Fast drei Jahre lang beschäftigten sich Ministerialbeamte und Regierungsvertreter nun mit der Sozialpolitik des wiedervereinigten Deutschlands.141 In den 1980er Jahren profitierte Gert Bastian, der ehemalige General, der sich nun um den Frieden zwischen den Blöcken kümmerte, obendrein von seiner Biografie. Stellvertretend erklärte er sich schuldig für die Taten Deutschlands im Zweiten Weltkrieg und gestand der Sowjetunion ein besonderes Sicherheitsbedürfnis zu.142 Doch mit dem Fall der Mauer waren diese Fragen obsolet. Nun sollte es um das Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten gehen. Hier fehlte Gert Bastian der Anknüpfungspunkt. Ein weiterer Moment des Scheiterns war sicherlich auch sein Alter. Im Jahr der Deutschen Einheit war Gert Bastian 67 Jahre alt. Er wurde zu dieser Zeit schon als müde beschrieben, im April 1992 hatte er einen Unfall. Es gab Hinweise darauf, dass er sterben wollte: „er sehe phasenweise keine Perspektive mehr für Petra und denke manchmal daran, Petra im Schlaf zu erschießen und dann sich selbst.“143, soll er zu einem Freund gesagt haben. Beide, Petra Kelly und er, waren zu dieser Zeit politisch isoliert; Petra Kelly war noch dazu psychisch krank. Ein weiteres Problem war sicherlich das der Basisdemokratie, welches bei den Grünen bestand. Gert Bastian war an die Hierarchie der Bundeswehr gewohnt gewesen, in der er sehr weit aufgestiegen war. Innerhalb der Grünen hätte er sich mit allen seinen politischen Mitstreitern – theoretisch zumindest – auf dieselbe Stufe begeben müssen. Auch dies gelang ihm nicht. Themen und Politikvermittlung. Gert Bastian kam über die Verteidigungs- und Sicherheitspolitik zu den Grünen, bei denen er im Grunde als Rüstungsexperte tätig war. Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag beschäftigte er sich vermehrt mit Umweltfragen und Menschenrechten, nach der Wende zudem mit Ostdeutschland und Rechtsradikalismus.
141 Vgl. allgemein die Ausführungen von Ritter, Gerhard A.: Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2006. 142 Vgl. Hesslein, Bernd C.: Bedingt abwehrberechtigt, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt, 01.04.1979. 143 Suliak, Hasso: Bastian kündigte Doppelselbstmord an, in: die tageszeitung, 05.03.1993.
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Gert Bastian publizierte und war als Redner tätig – so wie es viele ehemalige Bundestagsabgeordnete sind. Der Bundestag bot ihm zwischen 1983 und 1987 ein Forum. Mittel waren Anfang der 1980er zudem Petitionen und Unterschriftensammlungen. Nach 1990 waren es auch verstärkt Briefe – offene oder direkte Briefe an einschlägige Personen und Institutionen. Die Wirkkraft seiner Aktivität war stark an das Umfeld sozialer Bewegungen und die gesellschaftlichen Stimmungen gebunden.
Fazit und Fragen Die Fragestellung des Beitrags war wie folgt formuliert: Wie ist der Weg des Seiteneinsteigers Gert Bastian zu erklären, warum wurde aus dem General ein Nachrüstungsgegner? Warum wirkt seine politische Tätigkeit von Anfang bis Ende skandalös? Und welche Bedeutung hatte er als Person im organisatorischen Kosmos der Grünen? Vermutlich hatte Gert Bastian sehr persönliche Motive, die ihn den Weg aus der Bundeswehr in Organisationen der Friedensbewegung gehen ließen. Möglicherweise ist seine politische Aktivität auf eine von ihm empfundene unadäquate Behandlung zurückzuführen, eine nicht erfolgte Beförderung. Mit seinem Weg in die Öffentlichkeit rächte er sich auch ein wenig an den hierarchischen Strukturen der Bundeswehr. Vielleicht war er auch wirklich davon überzeugt oder resultierte die Überzeugung daraus, dass die Sowjetunion für den Westen keine Bedrohung darstellte und die Nachrüstung eine falsche Strategie war. Vielleicht konnte er sich darin auch sicher glauben, weil er Kontakte in den Osten hatte. Als Nachrüstungsgegner hatte Gert Bastian Erfolg, auch gefiel er sich in der Rolle, also füllte er sie weiter aus. Zudem wurde er gebraucht: Die Friedensbewegung verlangte nach Experten, die in der Argumentation gegen die staatlichen und regierenden Eliten mithalten konnten. Das skandalöse Element seines Tuns war das permanente Brechen von Tabus. Gert Bastian brach das Tabu, als General den Verteidigungsminister zu kritisieren. Innerhalb des Krefelder Appells und mit der Gruppe der Generale für den Frieden bewegte er sich auf gesellschaftlichem Grenzgebiet, wenn nicht in einem moralischen Niemandsland. Gert Bastian beurteilte die Strategien von Bundeswehr und Regierung vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus. In den Ohren von militärisch und politisch Verantwortlichen musste die implizit mitschwingende Behauptung einer Kontinuitätslinie von Bundesrepublik und Nationalsozialismus unerhört klingen. Gert Bastian lud die Schuld für die Verbrechen des Nationalsozialismus einseitig auf der Seite des Westens ab. Gleichzeitig gab er vor, eine unabhängige Expertenmeinung zu vertreten, wodurch er die westliche Militärstrategie untergrub. Innerhalb der Grünen blieb Bastian ein Außenseiter: Mit dem Fraktionsaustritt und der verweigerten Rotation hielt er sich schon wieder nicht an Regeln – in diesem Fall diejenigen der parlamentarischen Gruppe der Grünen. Die Rotation war sozusagen das Kennzeichen für die politische Besonderheit der Grünen. Dennoch blieb Gert Bastian für die frühe Zeit der Partei eine wichtige Persönlichkeit: Er war ein Prominenter, der für die Seriosität der jungen Partei stand und dem es gelang, politische Inhalte medial zu vermitteln und die Friedensbewegung als Massenbewegung zu stützen. Sein parteipolitischer und parlamentarischer Seiteneinstieg blieb jedoch halbherzig. Gert Bastian arbeitete mit Personen und Organisationen zusammen, die in direktem Kontakt zur SED standen. Ihm selbst wurde „Naivität“ in dieser Hinsicht bescheinigt. Auch
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wenn hier nur Zusammenhänge rekonstruiert werden und der Beweis für eine direkte Zusammenarbeit fehlt: Gert Bastian hatte im Sinne der SED argumentiert. Er hat politische Weggefährten im Sinne der SED beeinflusst oder zu beeinflussen versucht. Gert Bastian hat somit eine Brückenfunktion – wie auch immer diese zu bewerten ist – zwischen der DDR und den staatlichen Institutionen der Bundesrepublik eingenommen. Otto Schily war schon Bundestagsabgeordneter der SPD, als er 1992 kurz nach dem Tod schrieb: „Petra Kelly und Gert Bastian haben in herausragender Weise zu einem Bewusstseinswandel im vergangenen Jahrzehnt beigetragen, der unsere Demokratie gestärkt und zur Überwindung des Blockdenkens geführt hat.“144 Nach dem Tod der beiden ehemaligen Spitzenpolitiker war diese Äußerung einfacher zu machen als zu deren Lebzeit. Zu Beginn der 1990er Jahre war der Umgang mit Petra Kelly und Gert Bastian schwierig. Dennoch soll das Ende ihren Einfluss und ihre Bedeutung während der 1980er Jahre nicht mindern. Der Fokus des vorliegenden Beitrags liegt auf dem politischen Seiteneinstieg von Gert Bastian. Seine Rolle innerhalb der Friedensbewegung kann nicht abschließend geklärt werden. Es sind noch viele Fragen offen: Spannend wäre es, die von Gert Bastian hinterlassenen Unterlagen zusammenzutragen und auszuwerten. Fast zwanzig Jahre nach der Wende wäre eine Analyse wünschenswert, die sich jenseits der politischen Konfliktlinien der 1980er Jahre bewegt. Es bleibt offen, wie stark Gert Bastian wirklich mit Vertretern der DDR und ihrer Geheimdienste zusammenarbeitete, vielleicht auch Kontakte in die Sowjetunion unterhielt. Warum beschäftigte die DDR sich beispielsweise schon seit 1965 mit Bastian?145 In der Birthler-Behörde finden sich keine Hinweise darauf, dass Gert Bastian IM der Staatssicherheit gewesen war. Es gibt umfangreiche Dokumentationen zur Person Gert Bastians, aber keine Anhaltspunkte auf eine aktive Mitarbeit seinerseits. Dennoch wäre es wichtig, erneut und diesmal weniger emotional zu bewerten, was es bedeutet, von der DDR Argumentationsmuster zu übernehmen, die Finanzierung von Reise- und Druckkosten sowie Hilfestellungen bei der Organisation von Veranstaltungen etc. zu dulden oder in Anspruch zu nehmen – im Sinne des Friedens oder der Verteidigung, aus persönlicher Sympathie oder Antipathie oder aus welchen Gründen auch immer. Er selbst verstand sich auch nach seinem Ausscheiden aus der Bundeswehr als Militär: „Meine Motivation war die Verteidigung der Heimat.“146 Spannend wäre es, noch einmal genauer nachzuvollziehen, wie Gert Bastians Situation innerhalb der Bundeswehr gewesen war. Wie war sein informeller Status innerhalb der Bundeswehr? Begann seine politische Aktivität schon Mitte der 1970er Jahre? Wie waren seine Beziehungen zu anderen Parteien? Gab es Motive für sein Ausscheiden, die vielleicht nicht bekannt sind; solche, die hinter den öffentlich nachvollziehbaren Aussagen liegen. Inwieweit war Charlotte Bastian in seine politische Tätigkeit involviert? Wie war sein Ruf innerhalb anderer Gruppen der Friedensbewegung, beispielsweise kirchlicher Gruppen? Auch wäre es sicherlich sinnvoll, in Moskau und Washington noch einmal genauer nach weiteren Kontakten Gert Bastians zu recherchieren, um so seine politische Rolle im OstWest-Konflikt, in der Friedensbewegung und innerhalb der Grünen-Partei präziser beurteilen zu können. Genauere Hinweise könnten Unterlagen aus dem Archiv der CSU, der Bun144
Abgedruckt in: Hamburger Morgenpost, 21.10.1992. Vgl. Banse, Dirk; Berendt, Michael: Der Stasi-Maulwurf von Bonn, in: Berliner Morgenpost, 28.04.2004. 146 Bastian im Interview, in: Quick, 24.11.1983. 145
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deswehr, der Birthler-Behörde, der Friedrich-Ebert-Stiftung, dem Archiv Grünes Gedächtnis etc. geben. Doch dies wäre eine biografische Untersuchung Gert Bastians, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann.147
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Ein besonderer Dank gilt Dr. Udo Baron, der sich Zeit für ein Gespräch genommen hat. Die Mitarbeiter im Archiv Grünes Gedächtnis halfen bei der Recherche, insbesondere Robert Camp war ein verlässlicher Ansprechpartner; Dr. Christoph Becker-Schaum danke ich für Korrekturen am Text. Im politischen Archiv am WillyBrandt-Haus haben mich Peter Munkelt und Natalie Raima wie immer zuverlässig mit Materialien versorgt. Zudem halfen Zeitungsausschnitte der Pressedokumentation des Deutschen Bundestages bei der Einordnung der Materialien.
Angela Merkel – die Königin der Seiteneinsteiger Michael Schlieben
Einleitung Als Helmut Kohl 35 Jahre alt war, benötigten die Journalisten bereits eine halbe Seite um seine mannigfachen politischen Ämter zu notieren: Damals, 1965, war er seit schlappen zwanzig Jahren CDU-Mitglied und, um es auf das Wesentliche zu beschränken, Fraktionsvorsitzender im rheinland-pfälzischen Landtag und Vorsitzender des CDU-Kreisverbandes Ludwigshafen gewesen. Schon als Teenager hatte der spätere Rekord-Kanzler die Junge Union in seiner Heimstadt aufgebaut. Kein Wunder also, dass man ihn, dann mit 36 Jahren, zum Landesvorsitzenden und Mitglied des Bundesvorstandes der CDU wählte. Als Gerhard Schröder seinen 35. Geburtstag feierte, war er schon seit mehr als sechzehn Jahren SPD-Mitglied und seit einem Jahr, seit 1978, Bundesvorsitzender der Jugendorganisation seiner Partei, den Jusos. Ein Jahr später wurde in Hessen der 24-jährige Roland Koch zum jüngsten Vorsitzenden eines CDU-Kreisverbandes gewählt. Tatsächlich aber war auch Koch damals schon ein alter Hase, was die Politik anbelangte. Zehn Jahre zuvor hatte der Politikersohn seinem Idol Kohl nachgeeifert, und in seinem südhessischen Heimatkaff Eschborn einen christdemokratischen Jugendverband gegründet. Als Angela Merkel 35 Jahre alt war, hockte sie seit genau einem Jahrzehnt in einer trostlosen Baracke in Ost-Berlin. Genauer: im sozialistischen Zentralinstitut für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Adlershof, umgeben von den Stacheldrahtzäunen der Stasi. Anders als Kohl, Schröder oder Koch, ihre drei großen Rivalen in der Folgezeit, hatte Angela Merkel bis dahin noch keine einzige Wahl gewonnen, noch keinen Kontrahenten ausgestochen, noch keine große Rede gehalten, kein Positionspapier erarbeitet, kein Interview gegeben, keinen Kontakt zu Journalisten geknüpft – und auch keine Informationen über Parteifreunde gesammelt. In ihrer wichtigen Prägephase von zwanzig bis dreißig Jahren beschäftigte Merkel sich mit dem „Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden“ – so der Titel ihrer Doktorarbeit, die sie im Januar 1986 einreichte. Ganz gleich, ob Sozial- oder Christdemokraten: Eine solch steile, unkonventionelle Karriere wie die von Angela Merkel hat es in der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Seit dem Wirtschaftsfachmann Ludwig Erhard stieg kein späterer Bundeskanzler mehr so spät in das politische Geschäft ein wie sie. Kein Ostdeutscher ihrer Generation kam so weit nach oben. Merkels Aufstieg ist einzigartig, dennoch lässt er sich erklären. Um zwei wichtige historische Zäsuren kommt man nicht herum, beschäftigt man sich mit ihrer politischen Karriere: die Wiedervereinigung 1989/1990 und die Spendenaffäre der CDU 1999/2000. Beide Male wurde Merkels Heimat, das soziale Gebilde, in dem sie sich bewegte, erschüttert. Beide Male kam sie persönlich mit den Umstürzen, die sie weder erwartet, noch befördert hatte, ganz prima zurecht. Jeweils wurde ihre politische Karriere dadurch begünstigt.
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Beides waren Momente, die für Seiteneinsteiger wie maßgeschneidert waren. Viele Ostdeutsche wurden in den frühen 1990er Jahren in der bundesdeutschen Parteiendemokratie aktiv, die meisten waren absolute Greenhorns, ohne jegliche Gremien- oder Medienerfahrung. Viele von ihnen stiegen gleich mehrere Ebenen höher ein als ihre westdeutschen Generationskollegen – ganz einfach deshalb, weil schlagartig etliche hohe Posten in den neuen Ländern neu zu vergeben waren. Auch nach der Spendenaffäre der CDU gab es einen akuten Bedarf an neuem christdemokratischen Spitzenpersonal. Alle wichtigen Ämter auf Bundesebene: Partei- und Fraktionsvorsitz, Generalsekretär, Geschäftsführer und Schatzmeister wurden damals neu besetzt, und zwar überwiegend mit relativ unerfahrenen, teilweise politikfremden Personen.1 Angela Merkel hatte also, das kann man einleitend wohl sagen, Fortune. Wäre sie zwanzig Jahre früher geboren worden, hätte sie weder die Spitze der CDU noch die der Republik jemals erklommen. Politologen nennen das „ein günstiges Gelegenheitsfenster“. Allerdings: Diese äußeren Faktoren begünstigten, wie gezeigt und noch auszuführen sein wird, den raschen Aufstieg mehrerer Personen. Die meisten von ihnen sind heute wieder in der Versenkung verschwunden. Angela Merkel indes blieb und reüssierte. Sie, die ostdeutsche Naturwissenschaftlerin, ist inzwischen bereits seit acht Jahren CDU-Vorsitzende. Länger schafften das nur Helmut Kohl und Konrad Adenauer. Es ist also davon auszugehen, dass Merkel neben der Gunst der Stunde über Eigenschaften verfügte, die sie für die Führungsaufgaben in der deutschen Politik geradezu prädestinieren – und das, obwohl oder gerade weil sie keine „08/15-Karriere“ absolvierte und einen anderen sozial-biografischen Hintergrund besitzt als ihre Konkurrenz. Der folgende Text hat vier Kapitel. Das erste zeigt, dass Merkel zwar ohne JU, BILD und BMW aufwuchs, aber natürlich dennoch alles andere als apolitisch oder desinteressiert war. Ihre Biografie, ihre familiäre, berufliche und gesellschaftliche Prägung in der DDR, sollte sich für ihre spätere Politik in der Bundesrepublik als gute Schule erweisen. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit Merkels Einstieg in die Spitzenpolitik. Was führte sie dorthin? Und: Wie schlug sich die Seiteneinsteigerin in ihren Anfangsjahren? Im dritten Kapitel wird der Aufstieg Merkels zur Generalsekretärin, zur Parteichefin und schließlich zur Bundeskanzlerin analysiert: Welche Erfolge erzielte, aus welchen Niederlagen lernte sie? Wie wandelte sich ihr Verhältnis zu frühen Förderern und wie ihre Beurteilung in den Medien? Abschließend wird bilanziert: Hat Merkel sich an das System angepasst, ist sie inzwischen längst zur lupenreinen Berufspolitikerin mutiert? Oder andersherum gefragt: Inwiefern hat die erfolgreichste Seiteneinsteigerin der deutschen Parteiengeschichte ihre Partei und die Bundespolitik inzwischen beeinflusst und verändert?
Die vorpolitische Karriere Angela Merkel ist keine Femme fatale – dennoch handelt fast jedes zweite Porträt, das Journalisten über sie verfasst haben, von ihrer Beziehung zu den Männern. Das hängt damit zusammen, dass sie sich in Umfeldern durchgesetzt hat, die normalerweise von Männern 1 Zum Beispiel löste 2000 der Bankmanager Ulrich Cartellieri den „Vollblutpolitiker“ Mathias Wissmann als Parteischatzmeister ab; vgl. zum neuen Spitzenpersonal der CDU den Abschnitt „Lehrjahre in der Politik“ dieses Textes und ausführlich Schlieben, Michael: Politische Führung in der Opposition. Die CDU nach dem Machtverlust 1998. Mit einer parteihistorischen Einleitung von Franz Walter, Wiesbaden 2007.
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dominiert werden. Da ist zunächst die Politik als solche: Vor Merkel gab es in Deutschland noch nie eine Kanzlerin, ebenso wenig eine weibliche Parteivorsitzende, zumindest in den klassischen Parteien, jenseits der Grünen. Auch die Bundesministerinnen vor ihr lassen sich an zwei, die weiblichen Landesparteivorsitzenden an einer Hand abzählen. Hinzu kommt Merkels Partei, die Union. Sie besteht bis heute zu zwei Dritteln aus Männern; Frauen hatten hier jahrzehntelang wenig zu sagen. Sie hatten dieselbe Funktion, wie sie Frauen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten überall in bürgerlich-konservativen Kreisen hatten: Dekoration, Bewirtung, Unterhaltung. Merkel allerdings ist erfahren im Umgang mit Männern. Nicht nur, dass es in Ostdeutschland andere Rollenbilder gab als in der Bundesrepublik: Die DDR wies die weltweit höchste Beschäftigungsquote von Frauen auf.2 Die moderne Sozialistin sollte sich klar vom „westdeutschen Frauenverständnis“ abheben, sie sollte frei, berufstätig und selbstbewusst sein. Hinzu kommt, dass Merkels nahes Umfeld schon immer von Männern dominiert war. Selbst in der DDR wirkten Naturwissenschaften nicht besonders anziehend auf Frauen. In ihrer Abteilung am Zentralinstitut für Physikalische Chemie war sie die einzige. Aber schon viel früher, von Kindesbeinen an, hatte Merkel gelernt, Männerrituale zu deuten – und sie zu imitieren. Das erste Alpha-Tier, mit dem sie sich auseinandersetzen musste, war ihr Vater. Horst Kasner leitete im brandenburgischen Templin das Predigerseminar. Er war eine absolute Autoritätsperson, sowohl für die jungen, klugen Geistlichen (von denen Merkel ebenfalls viel über männliches Gruppenverhalten lernte), als auch für die Familie.3 Kasner hatte 1954, wenige Wochen nach der Geburt seiner ersten Tochter Angela, gemeinsam mit Frau und Kind in die DDR „rübergemacht“. Er hatte entschieden, seinen Studienort Hamburg über die noch offene Grenze zu verlassen. Damit folgte er dem Wunsch des Hamburger Bischofs: Die westdeutschen Landeskirchen wollten durch solche Versendungsaktionen dem damaligen Pfarrermangel innerhalb der DDR entgegenwirken. Hinzu kommt, dass Kasner wohl heimlich mit dem Sozialismus sympathisierte. Er scheute jedenfalls teilweise Stasi-Kontakte nicht – und verteidigte das System vor seiner Familie.4 Angela Merkel haderte später oft mit dieser Entscheidung ihres Vaters. Jahrelang lieferte sie sich mit ihm Kontroversen. Denn diskutieren – das war zulässig im protestantischen Pfarrhause Kasner. Merkels Vater war zwar DDR-staatsnah, aber kein Konformist, sondern ein ebenso kritischer wie aufgeklärter Geist. Er vermittelte seinen drei Kindern, dass Bildung keine Last, sondern der Weg zur inneren Freiheit sei. Er legte Wert darauf, dass sie lasen und lernten, dass sie schnell und logisch argumentierten und dass sie frei dachten. Neben Dialektik und Weltliteratur bekam Merkel im Pfarrhaus aber auch noch andere Dinge mit, die ihren Charakter formten und von denen sie später als Politikerin profitierte: Wie alle Pfarrkinder war sie von klein auf mit den großen Fragen von Leben und Tod, von Not und Gerechtigkeit ganz unmittelbar konfrontiert.5 Sie sah, wie ihr Vater Seelsorge betrieb, die Gemeinde organisierte, den Widerspruch von großen Heilserzählungen und trauriger Empirie interpretierte. Das bildungsbürgerliche Elternhaus sollte Merkel später ganz massiv von ihren beiden Vorgän2 1988 arbeiteten 91,3 Prozent der DDR-Frauen; vgl. Heydemann, Günther: Gesellschaft und Alltag in der DDR, in: Deutschland in den 70er und 80er Jahren, Informationen zur politischen Bildung (Heft 270), Bonn 2001,S. 5 ff. 3 Vgl. Schumacher, Hajo: Die zwölf Gesetze der Macht. Angela Merkels Erfolgsgeheimnisse, München 2006, S. 122 ff. 4 Zudem war Kasner im „Leiterkreis“ des von der Stasi „operativ betreuten“ Weißenseer Kreises; vgl. zum Beispiel Langguth, Gerd: Angela Merkel, München 2005, S. 59 ff. 5 Vgl. Schumacher 2006, S. 35 ff.
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gern im Kanzleramt unterscheiden, von dem Kleinbürgerkind Kohl und vom Kriegswitwensohn Schröder. Ihr Bildungshorizont ist breiter, ihre Argumentation differenzierter. Beides muss in der Politik allerdings nicht nur vom Vorteil sein, dazu später mehr. Das Problem der jungen Merkel, damals noch Kasner, war nicht, dass sie keinen Zugang zu Bildung hatte, sondern dass sie außerhalb des Elternhauses nicht sagen und tun durfte, was sie gern wollte. Ihr fiel es zum Beispiel leicht, Sprachen zu lernen; einmal gewann sie an der Schule die Russisch-Olympiade, auch Englisch sprach sie früh fließend. Dennoch durfte sie nicht Lehrerin werden – weil sie aus christlichem Hause stammte.6 Die Repressionen des atheistischen Staates durchkreuzten Merkels frühe Karriereplanung und machten ihr schwer zu schaffen. Linientreue Lehrer piesackten sie, das gescheite, fleißige Pfarrhauskind. Wie viele andere DDR-Bürger lernte sie daher schon früh, ihre Worte genau zu wählen, im Zweifel lieber nichts zu sagen oder allenfalls einen Zwischenton zu riskieren. Diese früh implementierte Vorsicht merkt man ihr bei vielen wichtigen Entscheidungen heute noch an. Merkel empfindet es als politisch unklug, offen über Strategien zu sprechen, von ihren engsten Mitarbeitern erwartet sie absolute Diskretion.7 Selten war das Kanzleramt so abgeschottet wie unter ihr. Als Heranwachsende litt Merkel unter der Diskriminierung. Schließlich war sie ehrgeizig und belesen, und sie mochte die Gesellschaft von anderen Menschen. Gerne organisierte sie Feten auf dem Hof, auf dem ihr Vater die Prediger unterrichtete. Aus beiden Gründen – aus mangelnder Anerkennung und dem Wunsch nach Gemeinschaft – trat sie den Jungen Pionieren bei, später der FDJ, deren Sekretärin für Agitation und Propaganda sie bis 1984 war.8 Sie tat es mit zwiespältigen Gefühlen, wie sie heute sagt. Weil sie damit einen Staat unterstützte, den sie eigentlich ablehnte. Insgeheim hatte Merkel nämlich schon früh entschieden, dass das sozialistische System nicht funktionieren könne, ein System, das klugen Mädchen den Berufswunsch verwehrt. Schon früh interessierte sie sich daher für die Politik und für den Klassenfeind. Die Parlamentsdebatten aus dem kapitalistischen Westen verfolgte sie gespannt am Radio. Als Achtjährige kannte sie das gesamte Bundeskabinett-West, von Adenauer bis Wuermeling. Später, als Schülerin, eckte Merkel hin und wieder an, etwa als sie mit ihrer Abschlussklasse eine „antisozialistische“ Kulturstunde abhalten wollte.9 Auch in ihrer Stasi-Opferakte wird sie 1984 der „politisch-ideologischen Diversion” bezichtigt.10 Kurz: Merkels Leben in der DDR war ein ständiges Balance-Halten zwischen Anpassung und Auflehnung. Das ging vielen DDR-Bürgern so, kaum jemand war hundertprozentiger Staatssozialist. Für Merkel indes sollte die distanzierte und leise-kritische Grundhaltung charakteristisch bleiben.
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Vgl. Leinemann, Jürgen: „Ich muss härter werden“, in: Der Spiegel, 03.01.1994. Vgl. Merkel, Angela/Müller-Vogg, Hugo: Mein Weg. Angela Merkel im Gespräch mit Hugo Müller-Vogg, Hamburg 2004, S. 223. 8 In dieser Funktion – keine, die man annehmen musste – organisierte sie u. a. das FDJ-Studienjahr. Merkel selbst sagt heute zu ihrer Zeit als ostdeutsche FDJ-Aktivistin: „Ich war keine Heldin. Ich habe mich angepasst.” Vgl. Nitzsche, Almut: Angela Merkel, in: http://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/angela-merkel/ [eingesehen am 01.08.2008]. 9 Vgl. Langguth 2005, S. 51 ff. 10 Außerdem wurde ihre kritische Haltung gegenüber dem Staat und ihre Zustimmung zur Solidarnosc in Polen vermerkt. Merkel sagt heute, sie habe den Ausreiseantrag als Alternative immer im Hinterkopf gehabt und nie eine DDR-Identität entwickelt; vgl. Nitzsche. 7
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Wäre die Mauer nicht gefallen, Merkel säße heute wohl noch immer hinter Stacheldraht im Zentralinstitut, Berlin-Adlershof. Sie wählte die Physik damals zum Studienfach, weil in der DDR die Naturwissenschaften neben der Theologie am ehesten die Fächer waren, in denen die Kontrolle des Staates begrenzt war. Für ihre spätere Tätigkeit als Politikerin sei das Rechnen und Experimentieren eine gute Grundausbildung gewesen, sagte Merkel später einmal.11 Immerhin könne sie „mit Zahlen operieren“ – anders als manche der vielen Anwälte, die ihre Partei und den Bundestag bevölkern. Deren Denkweise Merkel nervt bisweilen: Die Anwaltskaste, zumal die westdeutsche, gehe ihr gelegentlich zu stark von bestehenden Gesetzen und Fällen aus, nicht – wie die Naturwissenschaftler – von Phänomenen und Abweichungen.12 Damals, mit dreißig, war es aber wirklich noch nicht absehbar, dass Merkel als „Machtphysikerin“13 eines Tages die Geschicke der Bundes- und Weltpolitik beeinflussen würde. Als Wissenschaftlerin wirkte Merkel auf andere Menschen, als wäre sie innerlich emigriert. Einer ihrer Forscherkollegen beschrieb sie einmal als „das Vorbild einer illusionslosen Jungwissenschaftlerin“, die seit etlichen Jahren „vor sich hin“ promoviere.14 Erst als die Lage sich im Herbst 1989 zuspitzte, als die Aussicht auf die Wiedervereinigung realistisch wurde, bekannte sich Merkel auch in größerer Runde zu ihrer anti-sozialistischen Gesinnung und zum Klassenfeind. Am 23. September 1989 erstaunte sie den Gesprächskreis des Vaters, weil sie als einzige für die sofortige Öffnung der Mauer plädierte.15 Im Dezember 1989 heuerte sie beim Demokratischen Aufbruch (DA) an, einer kirchlich geprägten Oppositionsbewegung, die sich nur kurz zuvor im Oktober konstituiert hatte. Dass Merkel ihr angestammtes berufliches Umfeld verließ, hatte ideologische, aber auch materielle Gründe. Schließlich zeichnete sich im Herbst 1989 ebenfalls ab, dass die Institute der Akademie der Wissenschaften in bisheriger Form nicht weiter bestehen würden. Dafür bildeten sich im Osten Deutschlands überall neue, demokratische Parteistrukturen heraus. Und Merkel spürte, dass sie helfen, dass sie endlich einmal all ihre Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte. Sie begann beim DA zunächst als provisorische EDVAdministratorin zu arbeiten, unentgeltlich. Im Februar 1990 wechselte sie dann als hauptberufliche Sachbearbeiterin in die Berliner Geschäftsstelle, in die chaotische Arbeitsumgebung des Vorsitzenden Wolfgang Schnur. Bald darauf entwarf sie Flugblätter und rückte schließlich in die Position einer Quasi-Pressesprecherin auf.
Lehrjahre in der Politik Und dann ging alles wahnsinnig schnell. Binnen einen Jahres hatte Merkel die Akademie verlassen und war als jüngste Bundesministerin im ersten Kabinett der wiedervereinigten Republik vereidigt worden. Dass da zunächst keine Zeit blieb, „innerlich mal was aufzuarbeiten“16, wie sie im April 1991 dem Stern sagte, ist nachvollziehbar.
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Vgl. Gerste, Margrit: Die junge Frau von Helmut Kohl, in: Die Zeit, 12.09.1991. Ebd. 13 So nannten sie die westdeutschen Journalisten später gern. 14 Vgl. Roll, Evelyn: Das Mädchen und die Macht. Angela Merkels demokratischer Aufbruch, Berlin 2001, S. 87. 15 Vgl. Schumacher 2006, S. 162. 16 Wiedemann, Charlotte: Mit sanfter Kraft nach oben, in: Stern, 18.04.1991. 12
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Der Erfolg hat bekanntlich viele Väter und auf Merkels steile Karriere reklamierten eine ganze Reihe älterer Herren die politische Vaterschaft, eine Zeit lang zumindest. Da war zunächst der DA-Chef Schnur, der Merkel schnell viel Verantwortung übertrug. Zu DDR-Zeiten hatte Schnur als engagierter Kirchenanwalt gegolten, der sich für die Leute in den Stasi-Gefängnissen einsetzte. Den Ruf allerdings war er los, als seine „IM-Torsten“Akten veröffentlicht wurden; gegenüber der Stasi beklagte er darin unter anderem das Getue mit einem Gott, an den er selbst nicht glaube. Schnur war kein Einzelfall. Als die DDR sich anschickte, eine Demokratie zu werden, waren es in vielen politischen Gruppen ausgerechnet die Stasi- oder MfS-nahen Leute, die zunächst die Führung übernahmen.17 Nach und nach wurden sie enttarnt, Schnur vier Tage vor der ersten und letzten freien Volkskammerwahl der DDR im März 1990. Viele waren fortan für die Parteipolitik, diesseits der PDS, diskreditiert. Nicht so Merkel, die, wie gesehen, eine Akte als Stasi-Opfer hatte, nicht als IM. Aber es waren auch ganz praktische Talente, die Merkel an die Spitze des DA brachten. Merkel zeigte Einsatz, Expertise und Zuversicht in einer Zeit, da die meisten Menschen in ihrer Umgebung vorrangig mit sich selbst beschäftigt waren. Ein DA-Kollege bezeichnete sie als „die Unentbehrliche, die im Zweifelsfall wusste, wie es geht – und das hat sie mit einer großen Freundlichkeit gemacht.“18 Außerdem beförderte Merkels Karriere, dass der DA-Chef Schnur nicht nur ein Spitzel, sondern auch ein Chaot war: Einmal hatte er aus Versehen zwei wichtige Termine gleichzeitig gemacht. Er bat Merkel, ihn zu vertreten, was sie gut und fortan immer häufiger machte. Oft war außer ihr schlicht kein anderer da, der Pressekonferenzen abhalten konnte. Und so kam es, dass Merkel begann, ihre eigene Politik zu machen, eigene Themen zu setzen. Die Inhalte sprach sie kaum mehr ab – mit wem auch? Bald nahmen die Öffentlichkeit und die West-Journalisten sie als Sprecherin und zentrale Figur des DA wahr. Wenig verwunderlich also, dass Merkel auch hinterher, als der DA nach der verpatzten Volkskammerwahl mit der siegreichen Ost-CDU fusionierte,19 eine wichtige Rolle spielte. Sie wurde stellvertretende Regierungssprecherin der ersten frei gewählten und zugleich letzten DDR-Regierung. So kam sie über Umwege zur CDU. Einer Partei, die gar nicht mal zwingend zu Merkel passte, die in ihrer Jugend von Willy Brandt und John F. Kennedy geschwärmt hatte. Auch Merkels Familie mochte die CDU eigentlich nicht besonders. Nach der Wende betätigten sich vier von fünf Kasners politisch. Interessanterweise alle in unterschiedlichen Parteien oder Bürgerrechtsbewegungen – offenbar hatte die auf Eigenständigkeit zielende Erziehung des Vaters gefruchtet. Merkels Mutter Herlind war nach der Wende für die SPD aktiv, von 1993 bis 1998 als sozialdemokratische Abgeordnete im Stadtparlament von Templin. Der Vater schloss sich kurzzeitig dem Neuen Forum an, ihr Bruder Marcus, ebenfalls ein Physiker, dem Bündnis 90.20 Bevor Merkel in der Person des Bundeskanzlers ihren größten Förderer kennen lernte, machte sie noch Bekanntschaft mit Günther Krause, einem ebenso umtriebigen wie ambitionierten Führungspolitiker der Ost-CDU. Er war der Blockpartei bereits 1975 beigetreten 17 Etwa Ibrahim Böhme in der SPD und Martin Kirchner in der CDU. Manche zählen auch Manfred Stolpe, Lothar de Maizière und Gregor Gysi dazu. Merkel sagte einmal, von allen menschlichen Enttäuschungen in der Politik sei für sie Schnur die größte gewesen; vgl. Roll 2001, S. 115 ff. 18 Langguth 2005, S. 126. 19 Der DA holte 0,9, die CDU 40,8 Prozent. Im August fusionierten sie miteinander. 20 Vgl. zum Beispiel Roll 2001, S. 42 f. oder Münchhausen, Anna v.: Der Bruder der Kandidatin, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 14.08.2005.
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und hatte seine Karriere nach der Wiedervereinigung dann nahtlos in der bundesdeutschen CDU fortgesetzt. Anders als die SPD hatte die CDU keine Hemmungen gehabt, nach der Wende auf die alten, die SED stützenden Parteien der DDR organisatorisch zurückzugreifen. Ohne Skrupel schluckte die Kohl-Partei die Ost-CDU mitsamt ihren SED-Strukturen, ihrem Vermögen, ihren Immobilien und Funktionären – und verschaffte sich dadurch einen gewaltigen Startvorteil im wiedervereinten Deutschland.21 Krause jedenfalls ist heute nicht mehr gut auf Angela Merkel zu sprechen, was typisch ist für ihre ehemaligen Förderer. Krause, damals CDU-Landesvorsitzender von Mecklenburg-Vorpommern, hatte ihr für die erste Bundestagswahl 1990 den sicheren Wahlkreis Rügen-Stralsund freigeräumt. „Der wahrscheinlich größte Fehler seines Lebens“22, sagte er dazu hinterher. Schließlich sei Merkel damals ein „Versorgungsfall“ gewesen, weil der DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière sich nicht darum kümmerte, was aus seinen Regierungsmitgliedern nach der Einheit werden sollte. Er, Krause, sei es gewesen, der Kohl auf Merkel aufmerksam gemacht habe, als dieser begann, nach ostdeutschen Ministern für sein Kabinett Ausschau zu halten. Später dann, nachdem Krause wegen diverser Affären 1993 als Bundesverkehrsminister zurücktreten musste, habe sich Merkel undankbar verhalten, ihm nicht geholfen, in die Politik zurückzukehren. Krause sagte, Merkels Karriere verfahre nach dem Motto: „Die Hand, die füttert, wird zuerst gebissen“, eine Art weiblicher Ödipus-Komplex. Mit Sicherheit war Krause verbittert, als er dieses Interview gab, und er neigt generell zur Übertreibung. Dennoch, einen Funken Wahrheit versprühte er schon: Merkel ist tatsächlich ganz schön unsentimental: Alte Vorbilder vergisst sie schnell, zumindest gedenkt sie ihnen selten öffentlich. Alte Weggefährten, die sich der Freundschaft und Treue Merkels rühmen, gibt es so gut wie gar nicht. Wie Schnur und Krause erkannte auch Kohl schnell, dass Merkel über eine rasche Auffassungsgabe und ein gewisses Organisations- und Redetalent verfügte. Außerdem erfüllte sie trefflich einige Kriterien, die in sein Anforderungsprofil an eine ostdeutsche Ministerin passten. Nicht nur, dass sie protestantisch und belastbar war. Sie repräsentierte auch keinen der zerstrittenen Flügel der für Kohl undurchsichtigen Ost-CDU, sie hatte keine Stasi-Vergangenheit und keine Hausmacht. Kurz: Die junge Frau mit den wachen Augen, der Strickjacke und dem harmlos altmodischen Pagen-Haarschnitt muss koscher auf Kohl gewirkt haben. Das war keine nervige Querulantin, keine junge Süßmuth, keine Hyperambitionierte. Angeblich soll Kohl Merkel im Bewerbungsgespräch bloß gefragt haben, ob sie sich gut mit Frauen verstehe, Zicken konnte er nämlich nicht leiden.23 Merkel bejahte – und hatte den Job. Dass sie auf dem Feld der Familienpolitik zuvor keinerlei Erfahrung gesammelt hatte, war da zweitrangig. Dem Frauen- und Jugend-Ministerium, das er Merkel zudachte, maß er ohnehin nicht allzu viel Bedeutung bei. Kohl war zwar ein Vorsitzender, der von Jugend an fest in der Union verankert war. Gleichzeitig aber war er immer darauf bedacht, politik- und parteiferne Persönlichkeiten einzubinden.24 Kohl hatte ein gewisses Faible für Seiteneinsteiger. Er erhoffte sich, dass ihr 21 Vgl. zum Beispiel Walter, Franz/Schlieben, Michael: Freital. Von der roten zur toten Stadt, in: Busse, Tanja/Dürr, Tobias (Hrsg.): Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance, Berlin 2003, S. 219-239. 22 Vgl. über die Beziehung Krauses zu Merkel Roll 2001, S. 211 ff. 23 Vgl. zum Beispiel Posche, Ulrike: Doktor Merkels schwerste Operation, in: Stern, 22.12.1999. 24 Kohl und ein von ihm zusammengestelltes Team aus Denkern und Organisatoren forcierten seit den frühen 1970er Jahren den Wandel der alten Honoratiorenpartei zur Programm- und Mitgliederpartei. Zu diesem Modernisierungsprozess vgl. Bösch, Frank: Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart/München 2002;
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Renommee auf ihn, den vom Feuilleton verachteten Pfälzer, abfärben würde. Zudem hatten sie aus seiner Sicht den Vorteil, dass sie innerparteilich nicht vernetzt waren, ihm also machtpolitisch nicht so schnell gefährlich werden konnten. Dass Seiteneinsteiger aber nicht gleich Seiteneinsteiger sind, wusste Kohl nur zu gut. Vermutlich mochte er Merkel am Anfang auch deshalb recht gern, weil sie sich in ihrer unspektakulären Klugheit angenehm von ihrer unmittelbaren Amtsvorgängerin unterschied. Vor Merkel amtierte nämlich Ursula Lehr für zwei Jahre als Familienministerin.25 Lehr hatte die Politik mit dem sprühenden Selbstbewusstsein einer renommierten Altersforscherin betreten. Bevor sie an Kohls Kabinettstisch saß, hatte sie Standardwerke verfasst und Forschungszentren gegründet. In Bonn gab sie sich dann ziemlich zickig, zumindest würde Kohl das wohl so bezeichnen: Binnen weniger Monate verkrachte sich Lehr mit einem Großteil der Unionsfraktion im Bundestag. Sie hatte visionäre Ideen, forderte viel, vor allem solches, was dem traditionellen Familienbild der CDU widersprach, etwa eine flächendeckende Kinderbetreuung für unter Dreijährige. Merkels erste Gehversuche im Bundeskabinett waren anderer Art. Sie trat viel bescheidener auf, machte aus ihrem Novizen-Status keinen Hehl. An ihrem ersten Arbeitstag im Ministerium sagte sie vor versammelter Mannschaft, dass sie künftig auf Zusammenarbeit angewiesen sei, da es ihr an Erfahrung mangele.26 Merkel wusste tatsächlich wenig von der Materie, für die sie fortan politisch verantwortlich war, wenig von den ideologischen Tretminen der Familienpolitik.27 Einmal fragte Merkel öffentlich und nur halb ironisch, was die Emma eigentlich von der Elle unterscheide. Was die einen erfrischend und mutig fanden, ging den anderen zu weit. Viele Unionsmitglieder spotteten in den frühen 1990er Jahren über Kohls vermeintlich naives „Mucksmäuschen“ Merkel, die ihre Existenz in der Bundespolitik der Gnade des Kanzlers zu verdanken hatte, wofür sie sich, so eine gängige Lesart, mit Ergebenheit und Zurückhaltung erkenntlich zeigte. Aber Merkels Macht wuchs schnell, auch dank Kohl. Im Dezember 1991 wurde sie zur stellvertretenden Parteichefin der CDU gewählt. Das Amt hatte vor ihr der Ex-Ministerpräsident Lothar de Maizière innegehabt. Aber auch der war wegen seiner angeblichen Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit zurückgetreten.28 Nach de Maizières und Krauses Rückzug besaß Merkel etwas tatsächlich Rares: eine unbelastete Ost-Biografie innerhalb der CDU-Führung. Viele ostdeutsche Stars der Nachwendezeit sah Merkel scheitern. Natürlich hatten nicht alle von ihnen etwas mit der Stasi zu tun gehabt, viele verschwanden auch einfach so in der Versenkung oder auf den Hinterbänken. Sie waren für die Spitzenpolitik offenbar schlicht nicht geeignet: Der eitle Sozialdemokrat Rolf Eggert etwa oder die strebsame Claudia Nolte, Merkels Amtskollegin als Bundesministerin. Auch Lothar de Maizière wurde nachgesagt, er sei zu zart besaitet gewesen. Hätte er über die Robustheit, sagen wir: Clough, Patricia: Helmut Kohl. Ein Porträt der Macht, München 1998; Pflüger, Friedbert: Ehrenwort. Das System Kohl und der Neubeginn, Stuttgart/München 2000. 25 Zu Ursula Lehr vgl. den Beitrag von Silke Schendel in diesem Band. 26 Vgl. o.V.: Mit sanfter Kraft nach oben, in: Stern, 18.04.1991. 27 Schnell wurde Merkel damit konfrontiert, etwa bei der Regelung des Abtreibungsparagraphen. Den konservativen Christdemokratinnen aus dem Westen ging der Paragraf 218 zu weit, den liberalen aus dem Osten nicht weit genug. 28 Im Dezember 1990 schrieb der Spiegel, dass de Maizière bei der Stasi als inoffizieller Mitarbeiter geführt worden sei. De Maizière widersprach: Zwar habe er als Anwalt mit der Stasi Kontakt gehabt, sei aber nicht im Sinne der Vorwürfe tätig geworden. Im September 1991 zog er sich dennoch vollständig aus der Politik zurück; vgl. o.V.: Menschlich bewegt, in: Der Spiegel, 24.12.1990.
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Kohls verfügt, hätte er die Stasi-Vorwürfe locker überstehen können. Merkel wunderte diese hohe Quote von Abbrechern und Versagern nicht. Ihre Kohorte sei schließlich ungeübt, ja: „mehr oder weniger zufällig“29 Politiker geworden. Nie habe es „ein Selektionsverfahren“ gegeben. Kein Wunder, dass da viele erst im Amt merkten, dass das Repräsentieren und Konferieren eigentlich doch nichts für sie ist. Zwei Jahre später erklomm Merkel ein weiteres Amt, dem sie selbst rückblickend eine zentrale Bedeutung für ihre Karriere zumisst.30 Merkel wurde 1993 Landesvorsitzende in Mecklenburg-Vorpommern. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbeobachtet, lernte sie hier, einem großen heterogenen Parteiverband vorzustehen. Hier begann sie, sich von Kohl ein Stückweit zu entfernen, sich „frei zu reden“, wie sie es nannte. Zum ersten Mal war sie nun Generalistin, die zu „allen Themen“ etwas sagen musste. Allerdings verdankte Merkel auch diesen Landesvorsitz tatkräftiger Unterstützung aus dem Kanzleramt: Die ursprünglich zur Wahl stehenden Kandidaten mochte Kohl beide nicht.31 Sie waren einander spinnefeind: der Landesvater Berndt Seite und der sich an sein letztes Amt klammernde Krause. Merkel schien Kohl da schon eher als Vermittlerin geeignet. Ihre erste Amtshandlung an der Küste gefiel indes nur wenigen Honoratioren des Landesverbands. Merkel übte öffentlich Kritik an dem vorgefundenen Gezänk.32 Allerdings arrangierte man sich bald mit der von oben durchgedrückten neuen Chefin. Von vielen Seiten wurde ihr ein ordentliches Krisenmanagement attestiert. Sie habe es verstanden, zwischen Mecklenburgern und Vorpommern zu moderieren, zwischen Gläubigen und Atheisten, zwischen den Insulanern und den Festländern. Obgleich sich Merkel der Loyalität ihres Landesverbands nie ganz sicher sein konnte, verfügte sie bereits drei Jahre nachdem sie die Wissenschaft verlassen hatte, rein nominell über eine ungeheure Machtfülle. Sie war Bundesministerin, stellvertretende Partei- und Landesvorsitzende. Spätestens vom Superwahljahr 1994 an war sie deshalb öffentlich als Ost-Repräsentantin der CDU ziemlich präsent. Die Medien-Urteile waren in dieser Frühphase extrem schwankend, auch das blieb charakteristisch für Merkel: Die einen nahmen sie als Kohls Mädchen nicht ernst, die anderen bezeichneten sie durchaus wohlwollend als „politisches Talent“33 – gemein war fast allen der leicht herablassende Duktus. Nach der Bundestagswahl, die Kohl noch einmal knapp gewann, „durfte“ Merkel das Ministerium wechseln. Der Kanzler teilte ihr das Umweltressort zu. Ein strategisch wichtiges Amt, waren doch die Grünen seit einigen Jahren recht erfolgreich mit dem Vertreten ökologischer Thesen – da konnte eine junge Ost-Frau mit frischen Gedanken nur gut tun, so dachte Kohl. Merkel fühlte sich in diesem technischen Ressort wohler als noch als Frauen- und Jugendministerin. Hier konnte sie aus dem Stand erkennen, „ob eine Untersuchung Pfusch“ sei.34 Der Vergleich zu Merkels Vorgänger in diesem Amt ist aufschlussreich. Klaus Töpfer war ebenfalls ein Seiteneinsteiger.35 Auch er, der ausgebildete Raumplaner, trat der CDU 29
Zitiert nach Osang, Alexander: Die Freude am Schachspiel, in: Berliner Zeitung, 26.11.1998. Vgl. Greven, Ludwig: Das Mündel wird Vormund, in: Die Woche, 17.12.1999. 31 Vgl. o.V.: Schreckliches Gespräch, in: Der Spiegel, 17.05.1993. 32 Außerdem installierte Merkel einen jungen Baden-Württemberger als Generalsekretär. Klaus Preschle sollte die Bundesministerin als Statthalter vertreten. Später machte Merkel Preschle zum Planungschef in der CDU-Zentrale; allerdings verließ er das Team bald darauf im Streit. 33 Hefty: Georg Paul: Für ein politisches Talent ist es nicht schlimm, Berufspolitikerin geworden zu sein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.03.1994. 34 Vgl. Borchers, Andreas: Schwester unverzagt, in: Die Woche, 24.03.1995. 35 Vgl. zu Klaus Töpfer auch den Beitrag von Felix Butzlaff in diesem Band. 30
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erst bei, nachdem er promoviert hatte. Töpfer, später UN-Direktor in Nairobi, war ein toller Redner, ein Visionär. Er erklärte mit wenigen Worten die Welt und weckte dabei wahnsinnig hohe Erwartungen. Allerdings: Gesetze verabschiedete er als Umweltminister kaum. Die meiste Zeit blieb Töpfer ein „Ankündigungsminister“, der aus fast jeder neuen Idee eine Pressekonferenz machte. Dass die meisten Projekte im Sand verliefen oder scheiterten, registrierten meist nur seine Mitarbeiter. Merkels Politikstil verhielt sich dazu absolut konträr. Lieber gehe sie kleine Schritte als gar keine, sagte sie nicht nur als Umweltministerin.36 Merkel hielt sich mit großen Versprechungen zurück, sie ist eine notorische Tiefstaplerin, die dafür aber Einiges durchsetzt. Besondere Beachtung fand Merkels Verhandlungsgeschick auf der UN-Klimakonferenz. Delegierte aus 160 Ländern waren nach Berlin gekommen, um über eine globale Treibhausgasreduktion zu verhandeln. Diese traditionell schwierige Mission drohte zu scheitern. Aber Merkel, die gastgebende Umweltministerin, ließ nicht locker: In den letzten Nächten der Konferenz schoss sie zwischen den zerstrittenen Delegationen hin und her. Bis morgens um 6:30 Uhr bearbeite sie das Streitpapier, das anderthalb Stunden später als „Berliner Mandat“ verabschiedet wurde. Auf dieser Konferenz leistete Merkel etwas, das sie wahrhaft zur Spitzenpolitikerin prädestinierte. Etwas, das sie laut ihrer Biografin Evelyn Roll „am besten beherrscht“, nämlich: verfahrene Kontroversen zu „Ergebnissen zu führen, mit denen schließlich alle, wenn auch zähneknirschend leben können“37. Es folgten noch mehrere solch geschichtsträchtiger Nächte, in denen Merkel die Hauptrolle spielte: Man denke an die Nacht im Vermittlungsausschuss 2004, in der unter anderem die Hartz-Gesetze beschlossen wurden oder an die im Dezember 2005, in der Europas Staatschefs nach langem Streit den EU-Haushalt beschlossen. Jedes Mal waren die prominenten Zeugen imponiert von Angela Merkels großer Zähigkeit. Wenn alle eigentlich nur noch nach Hause oder an die nächste Bar wollen, kann sie immer noch schnell, zielstrebig und mehrsprachig argumentieren. Um eine ihr ureigene Position ringt sie dabei selten – die ist oft eher unklar –, sondern um das Ergebnis, den Kompromiss als solchen. Die Kehrseite der Medaille: Schon als Familien-, stärker noch als Umweltministerin begleitete Merkel der Ruf, sie sei harmoniesüchtig. Pikiert registrierten die Naturschützer, dass sie dem staatlichen, gleichwohl Regierungs-kritischen Umweltbundesamt einen Maulkorb verpasste. Die links-alternative taz spuckte Gift und Galle gegen die „erste Erfüllungsgehilfin“ Kohls, die bloß auf die Wirtschaft, nicht auf die Natur Acht gebe und „treu und stets“ den Willen Kohls vollziehe.38 Kam Merkel ihre konsensorientierte, unvoreingenommene Art in Verhandlungen zugute, wurde ihr diese bei öffentlichen Debatten wiederholt negativ angekreidet: Merkel sei positionslos, habe keinen inneren Kompass. Ähnlich wie in der Familienpolitik hatte Merkel als Umweltministerin mit einigen heiligen Kühen westdeutscher Streitgeschichte zu tun, vorrangig: der Atomkraft. Ausgerechnet hier aber hatte sie eine dezidierte Meinung: Merkel ist, bis heute, pro Atomstrom. Gewohnt nüchtern rechnete sie als Umweltministerin vor, dass beim Kohlebergbau ungleich mehr Menschen sterben als durch zivile Kernkraft.39 Rhetorisch offenbarte Merkel des Öfteren, dass sie kein Gespür für die Ängste und Vokabeln hatte, an die man sich im Westen ge36
Vgl. o.V.: Die Stille von Bonn, in: Die Woche, 20.06.1997. Roll 2001, S. 189. O.V.: Erste Erfüllungsgehilfin, in: die tageszeitung, 28.05.1998. 39 Vgl. o.V.: Im Profil, Angela Merkel. Umweltministerin und Fürsprecherin der Kernenergie, in: Süddeutsche Zeitung, 20.03.1998. 37 38
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wöhnt hatte. Woher auch? Manche Diskursgeschichten hatte sie im Osten schlicht nicht mitbekommen, andere konnte sie aus der Perspektive der Spät-Dazugekommenen nicht nachvollziehen: Merkel fand und findet es affig, wenn Frauen zu Hause bleiben sollen oder wenn man sich aus vorrangig psychologischen Gründen von sicheren Energiespendern trennt. Das ist für sie Ressourcenverschwendung, das Gegenteil von kluger Politik. Hat sie einen Punkt so klar für sich erkannt, kann sie ihn auch vehement vertreten. Merkels Barriere zur Westpolitik offenbarte sich rhetorisch noch in einem anderen Feld: der Verwaltungssprache. Die junge Ministerin kokettierte durchaus mit ihrem Unwissen, wenn sie sich vor Experten über eine „Lärmschutzverordnung – oder wie das Ding heißt“40 lustig machte. Auf ihre Karriere wirkte sich das nicht nachteilig aus: Anfänglich, nach 1990, zählte Merkels politisch „unverbrauchte“, vom parteipolitischen Betrieb „unverdorbene“ Sprache zu einem ihrer persönlichen Vorzüge, der Helmut Kohl und später Wolfgang Schäuble auf sie aufmerksam machte. Manch vornehmer Christdemokrat bemängelte dagegen, Merkels Ton sei ihm persönlich etwas zu schnodderig, als Ministerin müsse man die Lärmschutzordnungen doch wirklich aus dem Effeff kennen. Überhaupt: die kulturellen Differenzen! Die geschiedene, kinderlose Merkel war alles andere als eine christdemokratische Vorzeigefrau. Sie führte siebzehn Jahre lang eine Wochenendbeziehung, eine „wilde Ehe“, wie man das bisweilen in CDU-Kreisen nennt, mit Joachim Sauer, einem schweigsamen Experten für theoretische Chemie.41 Welch habitueller Kontrast zu den gleichaltrigen westdeutschen Landesvorsitzenden der CDU, die den tradierten „Normalvorstellungen“ der Partei seinerzeit noch ziemlich genau entsprachen: Die Kochs, Wulffs und Müllers waren zumeist seit langem an Ehefrau und Eigenheim in bürgerlicher Treue gebunden und nebentätig in florierenden Anwaltskanzleien in westdeutschen Großstädten. Auf diese Herren, die der CDU bereits als Teenager beigetreten waren, wirkte diese unmoderne Ostdeutsche von Anbeginn befremdlich. Heimlich fragten sie sich, ob Merkel, die offenbar keine Lust hatte, sich zu schminken, nicht vielleicht doch zu wenig Sex-Appeal für die Medien mitbrachte. Heimlich lachten sie über ihre Frisur, ihre PatscheKlatscher und ihre Rhetorik. Sie, die jungen Kronprinzen der Union, beherrschten die „Sprache der Partei“ schließlich fehlerfrei; Merkel dagegen, so eine gängige Invektive, verfüge diesbezüglich allenfalls über „angelerntes Wissen“. Wiederholt läge sie „einen Halbton“ daneben.42
Der Aufstieg Letztlich war es exakt dieser „Halbton“, den ihre Kontrahenten so gerne bekicherten, der Merkel an die Macht brachte. Als der Spendenskandal43 über die Union hereinbrach, Kohls System schwarzer Konten demaskiert wurde, sprach Merkel etwas aus, was alle wussten, 40
Borchers, Andreas: Schwester unverzagt, in: Die Woche, 24.03.1995. Sie heirateten 1998, mancher Parteifreund unterstellte: aus taktischen Gründen. Allerdings übersah Merkel auch bei ihrer Eheschließung die Etikette, die Christdemokraten für gewöhnlich beachten. Sie schickte keine Karte an Kollegen, diese wurden aus der Zeitung informiert. 42 Neukirch, Ralf/Schult, Christoph: Der Männerbund, in: Der Spiegel, 30.06.2003; o.V.: Die Generalin der Parteisoldaten, in: Bunte, 14.01.1999. 43 Vgl. hierzu zum Beispiel Leyendecker, Hans: Helmut Kohl, die CDU und die Spenden. Eine Fortsetzungsgeschichte, in: ders./Stiller, Michael/Prantl, Heribert (Hrsg.): Helmut Kohl, die Macht und das Geld, Göttingen 2000, S. 13-244. 41
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was sich aber keiner in ihrer Partei zu sagen traute. Nämlich, dass Kohl der Union „Schaden zugefügt“ habe und man sich deshalb von ihm „lösen“ müsse.44 Diese Botschaft, publiziert auf rund 150 Zeitungszeilen am 22. Dezember 1999 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, brachte Merkel die interne Meinungsführerschaft und bald darauf den Parteivorsitz ein. Merkels rascher Aufstieg an die Parteispitze wäre denn ohne den vorangegangenen Skandal, ohne den plötzlichen Autoritätsverlust der langjährigen Altvorderen nicht vorstellbar gewesen. Mit ihrem Zeitungsartikel hatte sie einen offenkundigen Nerv getroffen, ein Gelegenheitsfenster genutzt, das sich plötzlich öffnete, als das bislang Gültige nicht mehr länger galt. Obwohl sie selbst von Kohl protegiert worden war, fühlte sie sich ihm gegenüber nicht mehr zur Loyalität verpflichtet. Genau dies unterschied sie von ihren früheren Kabinettskollegen, die zunächst in Schockstarre verfielen, sich zeitweilig von Merkels Scheidungsbrief distanzierten und so in eine schlechte Position um die Nachfolge brachten.45 Merkels machtpolitische Stärke resultierte im Jahr 1999/2000 gerade aus ihrer fehlenden Verankerung und inneren Unabhängigkeit von den gewachsenen Parteistrukturen. Mit den 1990 vorgefundenen informellen Parteimechanismen, dem rheinischen Paternalismus und der unverbrüchlichen „Kameradschaft“, hatte sie, wie viele andere ostdeutsche Politiker auch, vermutlich nie besonders viel anfangen können.46 Insofern war ihr der demonstrative Bruch mit dem verfilzten westdeutschen Parteiherrschaftssystem wohl tatsächlich ein Anliegen.
Generalsekretärin Bevor der Spendenskandal 1999/2000 die Union erschütterte, hatte 1998 der Machtverlust gestanden. Beides waren für die Union arge Krisenmomente, von beiden profitierte Merkel persönlich, jedes Mal kletterte sie auf der Karriereleiter weiter nach oben. Kohls Nachfolger im Parteivorsitz, der langjährige Fraktionsvorsitzende Wolfgang Schäuble, machte Merkel 1998 zunächst zur Generalsekretärin. Eine Entscheidung, die viele überraschte, denn bislang war Merkel kaum als Strategin aufgefallen: Kohl, lästerten Kritiker, hätte „sein Mädchen“ nie zur Generalin gemacht, weil die „den Angriff“ nicht beherrsche.47 Was bewog also Schäuble dazu, Merkel zu befördern? Nun, zunächst waren es dieselben Eigenschaften, die auch schon andere Förderer, auch Kohl, auf sie aufmerksam gemacht hatten: Merkel schien Schäuble „pflegeleichter“ als der frühere Verteidigungsminister Volker Rühe, ein anderes Ziehkind Kohls, den viele Zeitungen favorisierten. Sie sei „erfrischend normal“, sagte Schäuble über Merkel, er schätze ihre Belastbarkeit und spontane Herzlichkeit. Hinzu kam eine strategische Erwägung: Merkel war in dem Milieu groß 44 Merkel, Angela: Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.12.1999. 45 Volker Rühe oder Jürgen Rüttgers war es zum Beispiel deutlich schwerer gefallen, dem langjährigen Förderer Kohl öffentlich die Treue zu kündigen; vgl. etwa Stock, Wolfgang: Angela Merkel. Eine politische Biographie, München 2000, S. 137. 46 Merkel sagte zum Beispiel schon 1994, ihre Politiker-Generation sei desillusioniert: Sie habe „gedacht, dass in der Politik anständig gestritten werde“; Leinemann, Jürgen: „Ich muss härter werden“, in: Der Spiegel, 03.01.1994. 47 Vgl. zum Beispiel Fietz, Martina: Östlich, sachlich, weiblich, in: Die Welt, 21.10.1998.
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geworden, in dem die CDU künftig punkten musste: im evangelischen Norden und atheistischen Osten. Auch Merkel sprach eine Zeit lang ausgesprochen gut über Schäuble. 1991 nannte sie ihn ein frühes „Vorbild“. Ihr imponiere, wie klug er verhandeln könne, ohne sich vorschnell zu positionieren. Und noch etwas verband die beiden am Ende der Regierungszeit: der heimliche Dissens mit ihrem gemeinsamen Förderer und Chef. Die Ablösung von Kohl begann vor der Spendenaffäre: Schäuble, der auserkorene Kanzlernachfolger, beobachtete zunehmend ungeduldig und schmallippig, wie Kohl ein Strukturproblem ums andere aussaß, verdrängte oder banalisierte.48 Auch Merkel erlebte die Schlussphase als lähmend, was sich in ihrer zunehmenden Konfliktfähigkeit widerspiegelte. So nannte sie sechs Monate vor der Bundestagswahl 1998 den von den Grünen langfristig propagierten Benzinpreis von fünf DM pro Liter eine gute Idee.49 Außerdem kritisierte sie, leise, die rigorose Ablehnungshaltung im Kabinett gegenüber einer Ökosteuer. Schäuble und Merkel waren sich darin einig, dass sich in der Zeit „nach Kohl“ einiges ändern müsste. Das ging dann auch gleich so los. An ihrem ersten Tag als Generalsekretärin drehte Merkel den Slogan der Bundestagswahl von 1998 frech um. „Risiko statt falscher Sicherheit“, sollte künftig das Motto der CDU sein. Eine Ohrfeige für Kohl, ebenso wie auch die Erfurter Leitsätze, die die CDU im Frühjahr 1999 unter Merkels Federführung beschloss. Demnach war es ausgerechnet die CDU, die künftig die „modernste Gesellschaft Europas“ schaffen wollte. In vielen Politikfeldern setzten Merkel und Schäuble im Jahr 1999 neue Akzente: Da wurde ein Thesenpapier veröffentlicht, das erstmals Fehler beim Einigungsprozess einräumte. Da war das Treffen mit den Schwulen- und Lesbenvereinigungen, das Merkel arrangierte; und die Forderung, künftig mehr Betreuungsplätze für Kinder zu schaffen, was in einem neuen, parteiintern umstrittenen Familienkonzept mündete, das die CDU im Herbst 1999 vorstellte. Da gab es die Forderung Merkels, sich mit der PDS künftig ohne Scheuklappen auseinanderzusetzen, die ebenso auf Widerspruch stieß wie der Antrag, dem Merkel und siebzig weitere Unionsabgeordnete zustimmten und demzufolge Ausländerkinder künftig die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten sollten. Schäubles und Merkels Programm war in erster Linie politisch-kulturell orientiert. Ihr Ziel war klar definiert: Sie wollten die CDU nach der langen Regierungszeit Kohls öffnen, abgeschlagene Brücken in die Gesellschaft wieder aufbauen. Schäuble ließ Merkel in vielen Dingen gewähren. Die Parteizentrale, in der sie fortan residierte – oft allein, da Schäuble als Fraktionsvorsitzender meist im Bundestag war – gewann in diesem Jahr, nach dem Verlust des Kanzleramts, an strategischer Bedeutung für die Union. Merkel lernte in diesem Jahr ihre eigene Bundespartei erst so richtig kennen. Sie gab ihren Landesvorsitz in Mecklenburg-Vorpommern auf, klapperte sämtliche Landesverbände ab, stellte sich vor, hörte mehr zu, als dass sie erzählte. Zur Europawahl gab es von den beiden ein Wahlplakat: der weise Mann im Rollstuhl und die mittlerweile 45-jährige Frau, die einander zulächelten. 48 In den späten Jahren seiner Kanzlerschaft büßte Kohl gewisse Führungskompetenzen ein, zum Beispiel seine langjährige Stärke der Personalpolitik. Durchschnittstypen und „Jasager“ dominierten ab Mitte der 1990er Jahre seine Umgebung, für die sich die Auswahlkriterien mehr und mehr auf Loyalität und Verschwiegenheit verengten. In dieser Zeit prägten Begriffe wie „Politikstillstand“ oder „Reformstau“ den öffentlichen Diskurs. Auch die Blockade der SPD im Bundesrat bewirkte ein Übriges; vgl. Müller, Kay/Walter, Franz: Graue Eminenzen der Macht. Küchenkabinette in der deutschen Kanzlerdemokratie. Von Adenauer bis Schröder, Wiesbaden 2004, S. 165. 49 Vgl. Geißler, Heiner: Mut kann sie brauchen, in: Spiegel Spezial, 01.04.1999.
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Allerdings: Zu einer wirklichen Erneuerung, einem „harten Cut“, kam es 1999 im Schäuble/Merkel-Jahr nicht. Dem stand der Erfolg der CDU zu sehr im Weg. Die rot-grüne Bundesregierung startete chaotisch, und der Union flogen die Wählerstimmen nur so zu. In sechs Bundesländern konnte sie bei Landtagswahlen hohe Gewinne verbuchen, darunter den sozialdemokratischen Hochburgen Hessen und Bremen.50 Da schien es widersinnig, sich selbst grundlegend zu reformieren. Viel mehr Profit brachte es doch, einen scharfen Oppositionskurs, einen Kulturkampf gegen die neuen Bundesminister zu fahren. Das Initial hatte im Frühjahr 1999 Roland Koch gesetzt, als er Hessen eroberte. Koch, wie Kohl ein christdemokratisches Urgewächs, hatte die erste Landtagswahl nach dem Machtverlust auf Bundesebene gewonnen, weil er gegen das Vorhaben der Regierung polemisiert hatte, eine doppelte Staatsbürgerschaft einzuführen. Das fand zahlreiche Nachahmer, etwa in Nordrhein-Westfalen, wo die CDU, weniger erfolgreich, mit dem Slogan „Kinder statt Inder“ warb. Von einer „gesellschaftlicher Modernisierung“ der CDU war da wenig zu sehen. Der Altkanzler und einstige Förderer Kohl wurde von der neuen Parteiführung zunächst weiterhin hofiert und zum Ehrenvorsitzenden gekürt – obwohl er den Erneuerungswillen gehörig untergrub. Kohl nahm, präsent wie eh und je, an den Sitzungen des Präsidiums und des Vorstands teil. Er triumphierte auf dem Erfurter Parteitag, auf dem eigentlich über die neuen Leitsätze diskutiert werden sollten, und gefiel sich in der Rolle des „Elder Statesman“, der im Hintergrund eifrig Strippen zog.51 Auch nach der Spendenaffäre stand Merkel der Re-Integration Kohls nicht im Weg. Im Gegenteil, sie lud ihn bald wieder zu diversen Zeremonien und Brimborien ein. Das hatte sie gelernt, schon bei Günther Krause: Die Partei mag es nicht, wenn ihre alten Helden dauerhaft demontiert und in die Büßer-Ecke gestellt werden.
Parteichefin Was eigentlich hatte Angela Merkel mit Walther Leisler Kiep zu schaffen?, fragte im November 1999 die ZEIT. Die Antwort ist einfach: Nichts! Genau das machte sie glaubhaft. Als Kiep das CDU-Geld und die schwarzen Konten verwaltete, saß Merkel noch tief im Osten. Anders als Schäuble, der über widersprüchliche Aussagen über einen dubiosen Deal mit einem noch dubioseren Waffenhändler stürzte, konnte Merkel glaubhaft vermitteln, dass sie von all den unlauteren Finanzpraktiken rein gar nichts gewusst hatte. Woher denn auch? Merkel war nie eine Insiderin gewesen, viel eher ein Mobbing-Opfer. So wurde aus dem langjährigen Nachteil, der Exklusion, zum wiederholten Mal ein Vorteil für sie. Während Schäuble in Interviews herum eierte und die jungen Landesfürsten vornehm schwiegen, wirkte Merkel in der akuten Krisensituation als einzige authentisch und unverbraucht, nicht zynisch, sondern fast froh. Plötzlich war außer ihr keiner mehr da, der Interviews geben konnte. Die Situation kannte sie bereits. Im April 2000 wurde Merkel mit 95 Prozent und ohne Gegenkandidaten zur siebten Parteivorsitzenden der CDU gewählt. Sie war damit nicht nur die erste Frau an der Spitze; es war auch das erste Mal, dass ein Generalsekretär in den christdemokratischen Parteivor50 Die CDU legte 1999 neben Hessen und Bremen in Brandenburg, im Saarland, in Thüringen und Berlin im Vergleich zur Vorwahl zu, bei der Europawahl sogar um 9,9 Prozentpunkte. Nur in Sachsen verlor sie leicht. 51 Die „CDU nach Kohl“ blieb auch unmittelbar nach dessen Demission eine „CDU mit Kohl“. Zu dieser häufig zitierten Formulierung vgl. Bösch 2002, S. 148.
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sitz aufstieg.52 Helmut Kohl, der seinen Generälen beim Entmachten stets zuvorgekommen war, blieb diesem Parteitag, auf dem auch organisatorische Konsequenzen aus der Spendenaffäre getroffen wurden, erstmals seit 1951 fern. Zuvor hatte er bereits seinen Ehrenvorsitz niedergelegt und sich aus den Führungsgremien zurückgezogen. Noch einmal: Merkel war an den Vorsitz durch eine Revolution gelangt, ausgelöst, als sie dem diskreditierten Patron öffentlich und als erstes die Gefolgschaft aufkündigte. Honoriert worden war dieser Bruch vor allem von zwei Gruppen. Zunächst und insbesondere von der gesamtdeutschen „Basis“ der Partei: Merkel war im Frühjahr 2000 die beliebteste Politikerin des Landes, zum ersten Mal in ihrer Karriere. „Angie“, wie die CDU-Delegierten auf den schon im Voraus geplanten Regionalkonferenzen in Recklinghausen oder Stuttgart skandierten, wurde wortwörtlich an die Parteispitze „gerufen“.53 Bezeichnenderweise waren es die Frauen-Union und Junge Union, die sich damals für Merkel stark machten, außerdem: viele Kohl-Kritiker, fast alle großstädtischen sowie die ost- und norddeutschen CDULandesverbände.54 Die zweite Gruppe waren die Medien, zumindest ein Großteil davon. Linksliberale Wochenblätter – wie Woche und Stern – titelten damals, die Krisenmanagerin Merkel solle nun selbst die durch ihren Ausspruch entstandene Macht-Vakanz füllen. Auch der Boulevard war wohlwollend: Die Bild-Zeitung handelte die „tapfere Frau Merkel“ in diesen Wochen erstmals als Kanzlerkandidatin. Weniger euphorisch waren die konservativen Blätter, die bald ausgesprochen hart mit Merkel ins Gericht gingen. Unisono forderten FAZ, Welt und Rheinischer Merkur in den folgenden Monaten und Jahren mehr Führungskraft, mehr Kontur, mehr Stärke von der neuen Parteichefin der Konservativen.55 Das fand seine Entsprechung bei der alteingesessenen christdemokratischen Funktionärsschicht. Hier war die Abnabelung von Kohl nie besonders gut angekommen, hier deutete man sie als Königsmord, schlimmer: als Königsmeuchelmord. Merkel hatte das Partei-Idol von der Bühne gekegelt, die wichtigste CDUInstanz der letzten dreißig Jahre. Sie hatte den Christdemokraten mit ihrem frommen Aufruf zur Aufklärung ein Stück Heimat genommen. Die Demografin Elisabeth Noelle veröffentlichte in diesen Tagen eine Studie, nach der der Putsch vor allem der Öffentlichkeit und weniger den Entscheidungsträgern der Partei gefallen habe.56 Wie groß die Missgunst war, die der Parteichefin entgegenschlug, zeigte sich spätestens am 7. Januar 2002. An diesem Tag kündigte Merkel in einer Fernsehsendung an, dass sie für die Kanzlerkandidatur von CDU/CSU zur Verfügung stehe. Sie traute sich das Kanzleramt, die Herausforderung Schröders, zu und signalisierte mit fester, wenn auch belegter Stimme ihre Bereitschaft. Es dauerte damals nicht eine Woche, bis sie diesen Ans52 Bei SPD oder FDP war dieser Rekrutierungsweg bislang noch nicht vorgekommen, ereignete sich aber bald darauf mit Guido Westerwelle und Franz Müntefering ebenfalls. 53 Auch als Parteivorsitzende nutzte Merkel Regionalkonferenzen oft als individuelles „Führungsinstrument“: In diesen allen Parteimitgliedern offen stehenden Versammlungen sicherte sie sich die Unterstützung für politische Entscheidungen; vgl. Bösch, Frank/Brandes, Ina: Die Vorsitzenden der CDU. Sozialisation und Führungsstil, in: Forkmann, Daniela/Schlieben, Michael (Hrsg.): Die Parteivorsitzenden der Bundesrepublik 1949 – 2005, Wiesbaden 2005, S. 23-63, hier S. 58. 54 Selbst der Heimatverband des inoffiziellen Merkel-Rivalen Volker Rühe, Hamburg, setzte sich für Merkel ein. Auch die gehandelten „Übergangskandidaten“ Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel unterstützten Merkel rasch angesichts der Zustimmung, die sie in deren Landesverbänden Sachsen und Thüringen erfuhr. 55 Vgl. zum Beispiel Feldmeyer, Karl: „Merkel beschwört die CDU und bleibt in Floskeln stecken“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.06.2001. 56 Noelle, Elisabeth: Die Kohl-Linie. Der Graben durch die Anhängerschaft der CDU, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11.04.2000.
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pruch revidieren musste. Andere gewichtige Parteivertreter hatten ihr, ebenfalls häufig öffentlich, das Misstrauen ausgesprochen.57 Insbesondere die Vorsitzenden der Landesverbände sträubten sich gegen die Vorstellung, Merkel zu nominieren, und forderten stattdessen den bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber. Es war nicht nur das Misstrauen, das alteingesessene Gruppen häufig gegenüber Fremden oder Dazugestoßenen aufbringen. Es waren auch waschechte Führungsfehler, oder sagen wir weniger streng: Versäumnisse, welche die Seiteneinsteigerin Merkel in ihren ersten Jahren als Nummer eins der Union machte und die sie ziemlich „einsam“ dastehen ließen. Merkel unterschätzte zu Beginn ihrer Amtszeit gewisse Parteirituale, wie zum Beispiel das „Einbinden“ gewichtiger Parteivertreter als machtstabilisierende Notwendigkeit. So wunderte sie sich über die ihr irrational, ja infantil erscheinende Art, Beschlüsse aus dem Grund nicht mitzutragen, weil man vorher nicht persönlich gefragt worden war.58 Merkel setzte stattdessen mit großer Vorliebe auf Experten, Persönlichkeiten und Zuarbeiter, die sie von außen oder aus der zweiten Reihe rekrutierte. Die Seiteneinsteigerin vertraute personalpolitisch vor allem ihresgleichen. Als neuen Bundesgeschäftsführer installierte sie ihren langjährigen Mitarbeiter Willi Hausmann, als Generalsekretär wählte sie den nachdenklichen, weithin unbekannten Ruprecht Polenz, als Schatzmeister den renommierten Bankmanager Ulrich Cartellieri. Dieses Muster bei der Personalrekrutierung sollte typisch für Merkel bleiben. Die Quereinsteiger entsprachen Merkel: Sie verkörperten Fachkompetenz und eine natürliche Distanz zum parteipolitischen Betrieb, was auch von der Öffentlichkeit freundlich goutiert wurde. Ihre Umgangsformen und Themen lagen ihr persönlich näher als etwa die Rituale und das Diskussionsniveau von Fraktionssitzungen. Insofern ist es nur verständlich, dass sie immer wieder gern auf Wissenschaftler, Wirtschaftsberater oder Publizisten zurückgriff. Ein solcher Führungsstil ist aber natürlich auch riskant: Hausmann kannte das Geschäft nicht, das er künftig führen sollte. Er versagte als Frühwarnsystem, wurde nach knapp einem Jahr ausgewechselt. Cartellieri merkte, dass er eigentlich doch keine Lust auf Parteipolitik hatte – und ging alsbald. Polenz wiederum blieb so still, dass er bald durch den forschen Laurenz Meyer ersetzt wurde. Dass Merkel so spärlich aus dem vorhandenen Substrat der – gerade abgewählten und von einem Skandal erschütterten – Partei schöpfte, sondern stattdessen ein unerfahrenes Team anheuerte, machte sie angreifbar. Der übergangenen Parteielite wurde es so noch einfacher gemacht zu mosern, man hätte sie ja nicht gefragt. Allerdings: Ganz so einfach ist das mit „dem Einbinden“ ja nun auch nicht. Roland Koch zum Beispiel fuhr anfangs einen fast unverhohlenen Oppositionskurs gegen die gleichaltrige, schnell aufgestiegene Parteichefin. Er verzichtete zunächst darauf, unter Merkel stellvertretender Parteichef zu werden. Stattdessen verbreitete er Strategiepapiere, die Positionen einnahmen, die den von Merkel herbeigeführten Beschlüssen grundsätzlich widersprachen. Zudem ging er wiederholt mit personalpolitischen Forderungen an die Öffentlichkeit, die konträr zu Merkels Vorstellungen lagen, wie bei der Nominierung des Bundespräsidenten, als er sich für Schäuble – und gegen Horst Köhler – stark machte. Ein Tiefpunkt dieser konfrontativen Phase war eine Sitzung von Parteipräsidium und -vorstand im
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Vgl. Deupmann, Ulrich u.a.: Unter Männern, in: Der Spiegel, 14.01.2002. Zu den „ritualisierten Kontakten“ innerhalb der CDU, die Merkel anfangs übersah vgl. Roll 2001, S. 284 f.
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Oktober 2003, bei der Merkel und Koch in einem Streit aneinander gerieten, wie er sich in derart unverhohlener Form in diesen Gremien nur selten ereignet.59 Auch Friedrich Merz, der gleichaltrige Fraktionsvorsitzende, stänkerte, wo er nur konnte. Er gab ein ums andere Merkel-kritische Interviews und verdrehte die Augen zur Decke, sobald sie in Sitzungen zu sprechen begann.60 Im Jahr 2000 war Merz neben Merkel noch einer der Krisengewinnler der CDU gewesen. Ohne nennenswerte vorherige Ämter hatte er die Nachfolge Schäubles im Bundestag angetreten. Merz war ein Politiker, der – theoretisch – gut zu seiner frisch abgewählten Partei hätte passen können. Einer, der seine durch den Machtverlust demoralisierte Partei mit Feuereifer gegen die Regierung bei Laune hielt, einer, der scharfzüngig und rhetorisch versiert den Kurs vorgab, der bereit war, sich Beulen im politischen Nahkampf zu holen. Dennoch aber lässt Merz sich als einer der größten Verlierer der CDU während ihrer Oppositionszeit bezeichnen. Und das nicht nur, weil er 2002 von Merkel und Stoiber entmachtet wurde.61 Nein, Merz’ Scheitern war hausgemacht. Um Unterstützung zu werben, zu feilschen, entspricht bis heute nicht seinem „ungeduldigen“, „einzelgängerischen“, leicht „exzentrischen“ Charakter – so die Beschreibungen seiner früheren Vorstandskollegen.62 Merz „hasst es“, das sagte er selbst voll Inbrunst, „in hunderten von Sitzungen“ altbekannte Argumente hören zu müssen. Er sei „gradlinig“, verabscheue „faule Kompromisse“ und könne sich furchtbar über die „Dummheit“ Anderer aufregen. Tatsächlich benötigt aber ein auf Unterstützung angewiesener, frisch arrivierter Vorsitzender kaum etwas mehr an persönlichen Grunddispositionen als Ausdauer, Verhandlungsgeschick und Kompromissfähigkeit. Das zeigte Kohl, das wird sich bei Merkel zeigen. Merz dagegen ist kapriziös, schnell gekränkt und dünnhäutig. Nachdem er einige Male öffentlich kritisiert worden war – schließlich nichts Ungewöhnliches für Spitzenpolitiker – wurde er im Auftritt noch schriller. Er wollte gegen Spott „vorpreschen“63, sein Amt voll ausschöpfen. Zudem wähnte er sich gegenüber Merkel, der potenziellen Rivalin um die nächste Kanzlerkandidatur, intellektuell, strategisch und habituell überlegen, was sich noch verstärkte, nachdem sein Konzept für eine bierdeckelgroße Steuerklärung für Furore in wirtschaftsliberalen Kreisen gesorgt hatte. So, ohne Erfahrung, ohne Langmut, aber mit hohem Posten und großem Ego, entwickelte sich Merz zum jungen Fanatiker. 2006 atmeten viele seiner Fraktionskollegen auf, als er ankündigte, die Politik zu verlassen. Merkel ist da besonnener. Zwar war Merz der bessere Redner, sie aber die bessere Zuhörerin. In ihrer Karriere zeigte Merkel oftmals, dass sie nicht ideologisch oder unumstößlich denkt, sondern vor allem, so eines ihrer Lieblingswörter, „pragmatisch“64. Sie ist 59
Vgl. Graw, Ansgar: CDU-Vorstand streitet offen um Strategie, in: Die Welt, 21.10.2003. Vgl. zum Beispiel Kister, Kurt: Merz wirft Merkel Vertrauensbruch vor, in: Süddeutsche Zeitung, 16.12.2002; Tartler, Jens: Merz kann seine Aggressionen gegen Merkel nicht zügeln, in: Financial Times Deutschland, 23.09.2003. 61 Nach der verlorenen Bundestagswahl 2002 wurde Merkel Unions-Fraktionsvorsitzende im Bundestag. Das hatte sie mit Stoiber vor dessen Kanzler-Kandidatur vereinbart. Merz wurde zum ersten Stellvertreter degradiert. 62 Interviews im Rahmen der Untersuchung von Schlieben 2007 sowie hierzu und auch im Folgenden: Interview mit Friedrich Merz, geführt von Thomas Koblitz im Rahmen seiner unveröffentlichten Diplomarbeit am 12.05.2005. 63 Zum Beispiel o.V.: Harsche Kritik am Fraktionsvorsitzenden, in: Süddeutsche Zeitung, 31.05.2000: „Einmal mehr, so hieß es in der Fraktion, sei der Vorsitzende ohne Absprache ‚ungestüm vorgeprescht’. In der Unionsführung wird der Führungsstil von Merz seit Tagen mit Unverständnis verfolgt.“ 64 Merkel forderte u.a. eine „pragmatische“ Kulturpolitik; vgl. ihr Interview in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.07.2005. Nach dem Irak-Krieg empfahl sie ein „pragmatisches Vorgehen“; Merkel, Angela: Den politischen 60
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durchaus flexibel und lernfähig, was auch ins Auge springt, betrachtet man ihre von einer Vielzahl an unterschiedlichen Ämtern geprägte Biografie. Im Gegensatz zu ihren gleichaltrigen, innerparteilichen Kontrahenten, die von Jugend an durch die westdeutsche Parteiorganisation geprägt worden sind, stieß die Uckermärkerin Merkel erst als 35-jährige Erwachsene und „gelernte“ Bürgerin der DDR zur CDU. Sie ist eine Politikerin auf dem zweiten Bildungsweg, die weiß, dass sie „on the job“ lernen muss. Folglich reagierte Merkel durchaus auf Kritik, etwa auf die, nach der sie keine wichtigen Persönlichkeiten aus der Partei „einbinde“. Allerdings wählte sie dafür Politiker, die ihr charakterlich entsprachen: Allesamt waren unaufgeregt und unvorbelastet, fleißig, liberal und Kohl-kritisch: etwa Norbert Röttgen, Ronald Pofalla und Hildegard Müller, Ursula von der Leyen, Peter Altmaier oder Eckart von Klaeden. Alle kamen aus durchaus einflussreichen Landesgruppen, fast alle hatten den dortigen JU-Landesverbänden in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren vorgestanden, waren also hinlänglich in der Partei vernetzt.65 Mit Merkel kommunizieren sie, so weiß man, oftmals per SMS – eine Methode, von der es etwa bei dem alten Machttelefonisten Helmut Kohl fraglich ist, ob er sie überhaupt beherrscht. Merkel dagegen soll eine richtige Meisterin im Versenden von Kurzmitteilungen sein. Angeblich tippt sie blind und blitzschnell, unter dem Tisch, mit ausgefeilten Abkürzungen.66 Das Handy gilt als ihr Machtinstrument. Die SMS, so könnte man analog erweitern, steht in ihrer knappen, aufs Wesentliche beschränkten Art quasi als Sinnbild für die informelle Komponente des Führungsstil von AM (so ihre SMS-Signatur). Obgleich Merkel von ihren Mitarbeitern als gute „Teamarbeiterin“ charakterisiert wird, wirken ihre politischen Freundschaften nicht besonders vertraut und belastbar. Der saarländische CDU-Chef Peter Müller klagte diesbezüglich einmal, Merkel kümmere sich gedanklich mehr um ihre Gegner als um ihre Freunde.67 Das stimmt schon, zum Teil jedenfalls: Merkel, die zuweilen andeutet, sich über die Emotionalität männlicher politischer Freundschaften zu wundern, ist tatsächlich misstrauisch – ein Kontrollfreak: Jedes Wort und Bild von ihr muss peinlich genau mit ihrer Presseabteilung abgestimmt werden. Private Merkel-Bilder gibt es so gut wie gar nicht. Zum Misstrauen indes hatte sie auch allen Grund, in jeder Station ihres Lebens. Als ostdeutsches Pfarrhauskind konnte sie schlechterdings nicht an stabilen politischen Seilschaften von westdeutscher Qualität basteln. Und sobald Merkel dann Politikerin war, war sie immer Protegierte. Kaum hatte sie ein Amt erreicht, wurde sie auch schon in das nächste befördert. Das geschah nicht von allein – hätte sie die Jobs verbockt, wäre sie schnell weg gewesen. Aber es schaffte Neid und provozierte genaues Hinsehen bei den übergangenen Kollegen: Was hat die denn schon, was ich nicht habe? Bei Merkel wiederum produzierte der schnelle Aufstieg eine gewisse Unempfindlichkeit. Die Ängste und Nöte anderer ignorierte oder übersah sie bisweilen; auf Kollegen, die weniger arbeiteten, wussten oder dachten als sie, konnte und kann sie ganz schön spöttisch und kalt reagieren. Neubeginn und Aufbau des Irak mitgestalten. Gefunden unter: http://www.cdu.de/doc/pdfc/170403_ angela_merkel.pdf [eingesehen am 01.08.2008]. Auch ihren eigenen Führungsstil sieht sie als „pragmatisch“; vgl. ihr Interview in: Berliner Zeitung, 17.07.2004. 65 Vgl. etwa Wagner, Christoph: Pizza-Connection, in: Dürr, Tobias/Soldt, Rüdiger (Hrsg.): Die CDU nach Kohl, Frankfurt am Main 1998, S. 30-45; Schlieben 2007, Kapitel 2.3. 66 Vgl. zum Beispiel Schmiese, Wulf: „Du musst jetzt dein Ding machen“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 17.10.2004. 67 Vgl. Schwarz, Patrick: Die Haifischdompteuse, in: die tageszeitung, 21.09.2002.
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Der andere kapitale Vorwurf, der Merkel als Parteichefin begleitete, hängt mit dem eben Gesagtem zusammen, auch wenn er, streng genommen, der Klage, sie berücksichtige die Partei zu wenig, widerspricht: Immer wieder wurde Merkel von Parteifreunden oder Publizisten vorgehalten, dass sie zu wenig eigenes Profil zeige, sich zu sehr aus der Öffentlichkeit zurückziehe, sich abschirme, mit der eigenen Meinung hinter dem Berg halte. Ihre Art der Selbstdarstellung sei mangelhaft im Vergleich zu ihren langjährigen ParteichefKollegen, den Schröders, Fischers, Westerwelles und Gysis. Auch das stimmt nur zum Teil. Merkel ist in der Tat keine geborene Entertainerin, die aufblüht, sobald sie das Kameralicht wittert. Sie ist zwar schnell und schlagfertig, aber keine begeisternde, eloquente oder herzerwärmende Rednerin, im Gegenteil, eher eine betont nüchterne. Auf rhetorische Stilmittel, auf Anekdoten oder Witze, verzichtet sie in der Regel. Was man ihr, der neuen Parteichefin, aber nicht vorwerfen konnte, war programmatische Untätigkeit, im Gegenteil. Unter Merkels Führung entwickelte die Union bis zum Jahr 2005 ein ziemlich scharfes Profil, ein zu scharfes sogar. An zwei Bereichen sei das verdeutlicht: Familienpolitisch führte Merkel den Kurs fort, den sie schon als Generalsekretärin eingeschlagen hatte. Sie berief eine neue Kommission, besetzte diese mit Ursula von der Leyen an der Spitze, ansonsten paritätisch aus CDU-Funktionären und externen Experten. Und so warb die Union, die alte Partei der Machos und Hausfrauen, plötzlich und mit Nachdruck für eine liberalere Familienpolitik, für staatliches „Elterngeld“ und „bedarfsgerechte“ Ganztagsbetreuung.68 Wirtschaftspolitisch verabschiedete sich die Union dagegen vom Staat. Angela Merkel sagte als Oppositionsführerin mehrfach, dass sie das bundesrepublikanische System mit seinem komplexen Geflecht an Sozialtransfers nicht nur für zu teuer und unüberschaubar halte, sondern auch für grundsätzlich ungerecht.69 Gefragt, was sie von der SPD – der Partei ihrer Mutter – trenne, antwortete sie im Jahre 2005, sie selbst stehe für das Prinzip der „Chancengerechtigkeit“, während die Sozialdemokraten an das konträre Konzept der „Verteilungsgerechtigkeit“ glauben würden.70 Und dieses „sozialdemokratische Konzept“ habe, so ihre Beobachtung, Staatsschulden und gesellschaftlichen Müßiggang zur Folge. Merkel hielt angesichts der strukturellen Probleme und geschrumpften Verteilungsspielräume nichts von einem behutsamen politischen Schräubchendrehen, sondern sie bereitete argumentativ den Boden für einen gewaltigen Umbruch vor. Es war durchaus ernst gemeint: Merkel wollte es „grundsätzlich anders“ machen.71 Ihr ausgegebenes Wahlkampfziel 2005 war es, den von Helmut Kohl und Norbert Blüm aufgebauten Sozialstaat umzubauen, ihn effizient und „wetterfest“ zu machen, wie sie es häufig nannte. Den Schlüssel dazu sah die Pfarrerstochter in der Generierung von Wachstum und der Steigerung der Produktivität. Alle, die dazu fähig sind, sollten nach Merkels Diktion künftig mehr und länger arbeiten und sich in der Arbeitsplatz- und Wohnortwahl flexibler
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Vgl. zum Beispiel o.V.: CDU setzt auf mehr Ganztagsangebote, in: Stuttgarter Zeitung, 19.01.2004. Vgl. exemplarisch: „Das heutige System ist ungerecht“. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel über Sozialreformen, das Frauenbild ihrer Partei und die Zukunft der Atomkraft, in: Frankfurter Rundschau, 24.06.2004. 70 „Wir schaffen eine Gründerzeit“. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel über den Papst, Werte, Kapitalismus und das Jobwunder, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.04.2005. 71 Ihre in diesem Zusammenhang gebrauchten, ansonsten generell eher spärlich verwendeten Metaphern und Vergleiche wiesen alle in eine ähnliche Richtung. Sie appellierte an einen „neuen Gründergeist“ und verglich die heutige Zeit mit der Umbruchsituation nach 1945; vgl. zum Beispiel Leithäuser, Johannes: „Wir verschlafen unsere Oppositionszeit nicht.“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.12.2003. 69
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als bislang verhalten. Gebündelt wurde das Ansinnen in der sprachlich etwas holprigen Parole „Vorfahrt für Arbeit“72 Allein, es verfing nicht. Zwar integrierte Merkel mit diesem Reformprogramm geschickt ihre heimlichen Rivalen – was dadurch gelang, dass sie zunehmend nach inhaltlichen Gemeinsamkeiten suchte. Sie griff vermehrt auf die Ideen und Konzepte zurück, die in den Staatskanzleien entstanden: Den hessischen Landesvater schmeichelte es, wenn seine arbeitsmarktpolitischen Forderungen maßgeblich für das neue Grundsatzprogramm der Bundespartei wurden. Der niedersächsische Ministerpräsident konnte die neuen familienpolitischen Leitlinien der Bundespartei nicht bekritteln, wenn sie seine eigene Ministerin ausgearbeitet hatte. Die Situation war 2005 dadurch anders als noch 2002, als die Landesfürsten und Präsidiumsmitglieder die Begriffe konsequent ignorierten, die Merkel in die Debatte geworfen hatte.73 Aber, und das war gravierend für Merkels Werdegang bis heute, all die klaren scharfen Positionen eröffneten neue Fronten. Innerparteilich waren das, zur linken, die Sozialpolitiker. Etwa der langjährige Arbeitsminister Norbert Blüm, der mit pathetischen Worten deklarierte, dass die „Merkel-CDU“ nichts mehr mit „seiner“ Union gemein habe.74 Allein die geplante „Kopfpauschale“, ein Schmäh-Synonym für die Gesundheitsprämie, bezeichnete Blüm als ein unerträgliches „Nivellierungsinstrument“. Ein System, bei dem Chefarzt und Krankenschwester das Gleiche zu zahlen hätten, so Blüm, lege auf einen solidarischen Ausgleich offenbar keinen Wert mehr. Auf dem rechten Flügel löste die neue Familienpolitik ein mittelschweres Erdbeben aus: Was bildeten sich diese beiden frisch dazu gestoßenen Frauen, Merkel und von der Leyen, eigentlich ein? Einer auf festen Werten basierenden Partei plötzlich erklären zu wollen, wie man das mit dem Kinderkriegen richtig hinbekommt? So schallte es damals und schallt es heute noch. Die innerparteiliche Kritik hätte Merkel verkraften können, darin war sie mittlerweile erprobt – das, was ihre politische Karriere aber beinahe jäh beendet hätte, war der Wähler. Im ersten Wahlkampf, den sie überhaupt als Spitzenkandidatin bestritt, bekam sie die klaren, scharfen Positionen um die Ohren gehauen. Die Union kam 2005 auf 35,2 Prozent. Das Ergebnis, das ziemlich genau dem Abwahlergebnis von Kohl entsprach, war, gemessen an den Ansprüchen und Umfragen, eine Blamage. Es war auch deshalb für die „Merkel-Partei“ so bitter, da sie bei keiner der anvisierten Zielgruppen zulegen konnte: Die Großstädter, die jungen Frauen, das kulturprotestantische Milieu – sie alle, mit denen man geliebäugelt hatte, schienen die Programmbemühungen der Union überhaupt kaum mitbekommen zu haben.75 Hinzu kam ein Einbruch bei den Stammwählern, der die Parteistrategen beunruhigen musste: Gerade bei den Kirchen stießen die unter Merkel neu erarbeiteten sozial- und familienpolitischen Vorstellungen auf wenig Gegenliebe, was sich im Wahlergebnis der CDU niederschlug: Im Jahr 2005 wählten weniger als fünfzig Prozent der Katholiken die christ-
72 Vgl. etwa Hefty, Paul Georg: Die Union zwischen C und C, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.07.2005. Hefty interpretiert einen Bedeutungswandel des CDU-„C“s im Jahre 2005 hin zu „commercial“. 73 Etwa „die neue soziale Marktwirtschaft“, mit der Merkel damals hausieren ging und die sich letztlich vom späteren Wahlprogramm 2005 nicht sonderlich unterschied. 74 Zitiert nach Blüm, Norbert: Ich stelle mir die CDU anders vor, in: Süddeutsche Zeitung, 08.10.2003. 75 Vgl. die Wahlanalyse von Deckers, Daniel: Vier Sieger, ein Verlierer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.09.2005.
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demokratische Partei.76 Auch unter den Senioren votierte im Jahr 2005 nicht einmal jeder zweite für CDU/CSU, und das in einer zunehmend „ergrauenden Gesellschaft“.77 Ähnlich wie die Katholiken wurden auch die Über-65-Jährigen in den vergangenen Jahren nicht gerade umschmeichelt von der „Merkel-CDU“, welche sich stattdessen, haushälterisch durchaus nachvollziehbar, für kapitalgedeckte Renten, die Erhöhung des Renteneintrittsalters und weitere Nullrunden stark machte. Gewohnt schlecht schnitt die Union bei den jungen Frauen ab, zumal den gebildeten, trotz weiblicher Spitzenkandidatin. Wäre eine rechnerisch durchaus mögliche Regierungskoalition ohne die CDU zustande gekommen, Merkel hätte wohl keine zweite Chance erhalten. Aber es reichte, auch weil Merkel in den Koalitionsverhandlungen einige Kröten schluckte, die Verhandlungshoheit aber nie aus der Hand gab. Sie ließ sich weder davon abschrecken, dass Franz Müntefering als SPD-Parteivorsitzender zurücktrat, noch davon, dass der CSU-Chef Edmund Stoiber beschloss, doch nicht als Wirtschaftsminister nach Berlin zu wechseln. Die anderen Parteien um sie herum wackelten und wankten und verloren binnen Stunden ihre Führungsfiguren. Merkel indes blieb, verhandelte, gab Interviews – und irgendwann hatte sie den größten Job im ganzen Land erreicht. Fünf Jahre, nachdem sie zur, so hofften damals viele, Übergangsvorsitzenden der CDU gewählt worden war und fünfzehn Jahre nach dem Zusammenbruch der DDR.
Kanzlerin Fragt man also, ob Merkel sich im Laufe ihrer politischen Karriere angepasst hat, ob sie binnen anderthalb Jahrzehnten zur „stinknormalen“ Berufspolitikerin mutiert ist, fällt die Antwort zwiespältig aus. Ihre größte programmatische Wende vollzog sie ausgerechnet, als sie die Macht erreicht hatte. Als Kanzlerin kehrte sich Merkel ziemlich schnell von ihrem scharfen wirtschaftsliberalen Reformprogramm ab, was ihr zahlreiche frühere Unterstützer bis heute verübeln. Vermutlich hat sie das maue Wahlergebnis tatsächlich erschreckt, jedenfalls machte sich bei ihr schon in den ersten Wochen als Kanzlerin ein semantischer Kurswechsel bemerkbar. So benutzte Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung die Worte „sozial“ und „Solidarität“ weit häufiger als ihren langjährigen Lieblingsbegriff der „Reform“.78 „Harte Wahrheiten“, „alles anders machen“ – diese in der Opposition für Merkel noch so charakteristischen Vokabeln, gehören heute nicht mehr zu ihrem Jargon. Stattdessen legte sie sich lieber mit den Managern der Republik an, deren Gehälter sie kritisierte. Aber mehr noch, der Wandel spielte sich nicht nur auf rhetorischer, sondern auch auf faktischer Ebene ab. Zwei Beispiele: Die von Merkel geführte Bundesregierung führte einen Mindestlohn für die Postbranche ein (für die Oppositions-CDU eigentlich ein regulatives Unding) und nahm Maßnahmen der Agenda 2010 zurück – und zwar solche, die Merkel als Oppositionsführerin selbst noch als „zu lasch“ kritisiert hatte.
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Die Union unter Merkel hat sich sukzessive von den Positionen der katholischen Kirche entfernt, etwa in der Familien- und Sozialpolitik oder in der Gentechnik- und atomaren Umweltpolitik; vgl. Bösch, Frank: Die Parteireform der CDU, in: CIVIS, H. 1/2002, S. 16-20. 77 Vgl. die Wahlanalyse, in: Der Spiegel. Wahlsonderheft `05, S. 62. 42 Prozent der Rentner wählten die Union. 78 Vgl. Feldenkirchen, Markus u.a.: Kanzlerin auf Kuschelkurs, in: Der Spiegel, 05.12.2005; Walter, Franz: Zurück zur allgefälligen Volkspartei, in: Die Welt, 31.01.2006.
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Kurzum: Als Kanzlerin mied Merkel bislang große Risiken. Sie hat Gefallen an populären Themen gefunden, an der Außen- und Umweltpolitik. Innenpolitische Probleme, etwa das Renten- oder Gesundheitswesen, werden auf spätere Legislaturperioden vertagt. All das klingt nach Machtabsicherung und nicht besonders couragiert. Aber Merkel ist und war immer schon eine misstrauische Realistin, die ihre Wünsche den Umständen anpasst. Vermutlich glaubt sie durchaus noch an ihre einst beworbenen Tugenden, an Freiheit, Leistung und Eigenverantwortung. Ihr Misstrauen gegenüber dem Staat war schon authentisch. Mit einer schwarz-gelben Regierungsmehrheit im Rücken hätte sie diesen vermutlich ordentlich umgepflügt und entrümpelt. Aber Merkel weiß, dass sie derzeit einer Konstellation vorsteht, die im Prinzip handlungsunfähig ist, die kaum mehr als ein moderierend-nichtstuendes Agieren zulässt: Nämlich einer Großen Koalition, bestehend aus einer SPD, die zwischen Linksschwenk und Hartz-Reform hin und hergerissen ist. Und einer Union, die... ja was eigentlich? Einer Union, die seit acht Jahren von einer Fremden geführt wird. Wer einmal einen CDU-Parteitag besucht hat, weiß, dass „Frau Merkel“ nicht wirklich verehrt wird von ihrer Partei. Ihre vorgelesenen Reden werden höflich beklatscht, nicht frenetisch. Das Misstrauen gegenüber der kinderlosen Protestantin aus dem Osten wird in manchen CDU-Kreisen wohl nie verschwinden. Noch unmittelbar vor Merkels Nominierung zur Kanzlerkandidatin kursierte unionsintern die wenig charmante Formel „es führt kein Weg mehr an ihr vorbei“79. Indes: Es ist und bleibt beidseitig ein distanziertes Verhältnis, ein Fremdeln. Ganz nachvollziehen kann Merkel viele der bürgerlich-konservativen Glaubenssätze bis heute nicht. Kontinuierlich drang sie deshalb auf eine gesellschaftliche Öffnung, auf eine Veränderung von dem, was vielen ihrer Parteifreunde am Herzen lag. Das neue Grundsatzprogramm, das die Partei 2007 verabschiedete, trägt deutlich Merkels Handschrift. Es ist ebenso wirtschafts- wie gesellschaftsliberal und wird von einigen Christdemokraten nur zähnefletschend akzeptiert. Noch immer wirkt Merkel im Kreise ihrer Partei viel stärker wie eine Seiteneinsteigerin als im Arkanum der Bundespolitik. Verwunderlich ist das aber eigentlich nicht. Ihre Tätigkeitsfelder nach der Wende waren erst acht Jahre lang die Bundesministerien, anschließend sieben Jahre der Bundestag und inzwischen fast drei Jahre das Kanzleramt. Das färbt ab und produziert andere (macht-)politische Denkschemata als der Aufstieg über den Jugendverband, Ortsverein oder den Kreistag. Hinzu kommt, dass Merkel schon immer das dezente Vermitteln zwischen politischen Gegnern gelegen hat. Sie kam schließlich nicht in die Politik, weil sie so glühende Reden hielt, sondern weil sie aufmerksam, belastbar, klug und zupackend war, als die Mauer zusammenkrachte. Und sie stieg auf, weil sie sich immer wieder schnell an neue Situationen anpassen konnte. Insofern passt sie in das FünfparteienSystem ganz gut hinein. Sie könnte von den Grünen bis zur FDP mit jeder Partei koalieren, auch und nicht zuletzt, weil sie sich die Distanz zu ihrer eigenen Partei bewahrt hat.
Fazit Angela Merkels Aufstieg stellt einige Lehrsätze der Parteienforschung in Frage. Zunächst sind da die Hausmächte und Seilschaften (meist erworben durch Ochsentouren). Spitzenpo79
Zitiert nach Graw, Ansgar: Die K-Frage ist entschieden, in: Die Welt, 23.05.2005.
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litiker, so heißt es oftmals, brauchen einen starken Landesverband, der auf Parteitagen Stimmen bringt, der sie in Krisenzeiten stützt, den sie repräsentieren und bei dem sie sich ständig mit irgendwelchen Gefälligkeiten revanchieren. Und sie brauchen Männer und Frauen, auf die sie sich blind verlassen können, mit denen sie zusammen alt und mächtig werden. So war das immerhin bei Kohl, Koch und Schröder. Nun, Angela Merkel hatte weder das eine noch das andere – oder beides nur sehr eingeschränkt: Weder einen Landesverband, auf den sie sich kontinuierlich verlassen konnte und kann. Noch ein Netzwerk oder eine Spitzencrew mit gewachsenem Profil innerhalb der Union: Von den einflussreichen Ministern und Landeschefs würden nur sehr wenige für sie durchs Feuer gehen. Ihre wirklichen Vertrauten dagegen bleiben blass und abgeschottet. Indes, bringt es nicht auch Vorteile mit sich: Wenn man keine Rücksicht auf Vertraute von früher nehmen muss, wenn man keine mittelmäßigen Spätpubertätsfreunde mitschleppen und mit Posten versorgen muss? Der lästigen Seilschafterei entbunden, konnte Merkel personalpolitisch frei experimentieren. Hier eine interessante Familienministerin, da ein paar kluge und ambitionierte Kohl-Gegner, hier ein Generalsekretärs-Flop, da ein Bundespräsidenten-Coup. Und werden nicht auch die Landesverbände in ihrer Wichtigkeit überschätzt? Es kostet doch ungeheure Zeit und Energie, zumal in einem Flächenland, ständig nach dem Rechten zu sehen: das Gezänk, die Veranstaltungen, die Eitelkeiten, die Rechenschaftsberichte, die Grußworte, die Namen, die man alle kennen muss – ganz schön viel Aufwand für ein paar Stimmen. Der zweite Lehrsatz, der bei Merkel nicht so recht greifen will, lautet: Wichtig sei es, Wahlen zu gewinnen, eine gewisse Anziehungskraft auf den Souverän auszuüben. Zumal, wenn’s mit dem innerparteilichen Standing nicht so weit her ist. Kohl, Lafontaine, Schröder, Koch – an vielen Landesfürsten konnten die jeweiligen Parteioberen damals gar nicht vorbeisehen, weil sie populär bei den Wählern waren. Nur, so richtig hat Merkel als Spitzenkandidatin noch nie eine Wahl gewonnen – und zu den Wählern hat sie ein eigenartiges Verhältnis. Bevor sie Bundeskanzlerin wurde, sprach ihr die demoskopisch ermittelte Mehrheit des Volkes sämtliche Kernkompetenzen ab: Bis zur Mitte des Jahres 2005 galt Angela Merkel öffentlich nicht als überdurchschnittlich tatkräftig, sachverständig oder sympathisch.80 Kohl und Schäuble hatten immer darauf gebaut, dass Merkel bei den Ostdeutschen gut ankäme. Tatsächlich aber trat sie nie als „Anwältin des Ostens“ auf. Im Gegenteil: Mit ihren Landsleuten war Merkel immer ganz schön streng. Die „akzeptieren die Freiheit, aber nicht das Risiko“ und „über alles und jeden wird abgemeckert“, klagte sie bereits 1991.81 Kein Wunder, dass sie die Wahl 2005 auch deshalb fast verloren hätte, weil die CDU im Osten so schwach blieb. Andere in der Union hatten da schon mehr Erfolge vorzuweisen. Es gab durchaus mächtige Konkurrenten, die zwischen den Jahren 1999 und 2005 satte Wahlgewinne in den Bundesländern einfuhren. Merkel wurde also nicht aus Mangel an Alternativen Kanzlerkandidatin. Die gab es mit Koch, Wulff oder Stoiber zuhauf. Die CDU war in diesen Jahren so stark wie nie zuvor, sie gewann eine sozialdemokratische Hochburg nach der anderen. Dadurch gab es fast zu viele Wahlgewinner bei den Christdemokraten. Merkel erlebte die paradoxe Situation, dass jede neue gewonnene Landtagswahl, jeder neue ambitionierte CDU-Ministerpräsident im Bundesrat sie stärkte, weil er die anderen in Schach hielt. 80 Vgl. etwa Bommarius, Christian: Gerhard Merkel, in: Berliner Zeitung, 31.05.2005. Abgesehen von der kurzen Phase um das Jahr 2000 herum, als Merkel den Kohl-Putsch beging. 81 Gerste, Margit: Die junge Frau von Helmut Kohl, in: Die Zeit, 12.09.1991.
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Die nächste vermeintliche Regel für Politiker: Die Medien spielen eine bedeutende Rolle. Angeblich befördern und zerstören sie Karrieren.82 Nun, Angela Merkel hatte durchaus Phasen, in denen ihr die veröffentlichte Meinung freundlich gewogen war: Etwa als sie im Frühjahr 2000 Parteivorsitzende wurde, als sie im Frühjahr 2004 den Bundespräsidenten Köhler installierte und in den Monaten nach ihrer Vereidigung als Bundeskanzlerin im Herbst 2005. Die meiste Zeit dazwischen aber hatte sie kein gutes Standing bei den Medien. Mehr noch: Bis auf Rainer Barzel, den unglücklichen CDU-Chef der frühen 1970er Jahre, hatte wohl kein christdemokratischer Parteiführer eine derart schlechte Presse, gerade in den konservativen Stammblättern. Vom Politik- bis hin zum Kleidungsstil – nichts blieb an Merkel unkritisiert. Dieses oft negative und despektierliche Pressecho erzwang bei den CDU-Funktionären häufig einen paradoxen Solidarisierungseffekt und Dementis, die zwar nicht immer ernst gemeint, aber überall zu lesen waren, und auf die Merkel sich berufen konnte. Zusammengefasst: Merkel hatte also weder einen starken Landesverband noch Netzwerke, sie ist ohne Wahlsiege aufgestiegen, ohne dass sie besonders populär bei den Medien oder in der Bevölkerung war und trotz wahnsinnig starker sowie missgünstiger Konkurrenten. Was sie dagegen immer hatte, war, wie schon ausgeführt: die historische Gunst der Stunde. Und zudem etwas ganz Profanes: Protektoren, einflussreiche Politiker, die qua parteiinterner Autorität das notwendige Durchsetzungsvermögen besaßen, um sie für bestimmte politische Ämter durchzusetzen. Ohne Schnur, Krause, Kohl und Schäuble wäre Merkels schnelle Karriere nicht möglich gewesen. Sie förderten Merkel nicht aus reiner Nächstenliebe, sondern weil sie erkannten, dass sie über mehrere Politik-taugliche Wesenszüge verfügt: Zum einen über eine grundsätzliche Distanz zum parteipolitischen Geschehen westdeutscher Prägung, die sie in den spezifischen Situationen des Umbruchs interessant machte. Zum anderen über politische Kernkompetenzen, also über Fähigkeiten, die den Erhalt von Macht und deren Konservierung begünstigen. Bei Merkel sind das zum Beispiel: eine ausgeprägte Kunst des Zuhörens, eine gewisse Zähigkeit, Unempfindlichkeit und Zuverlässigkeit. Gleichwohl blieb Merkel ihren Förderern gegenüber relativ unabhängig. Als diese scheiterten oder schlagartig an Reputation verloren, weil sie alle jeweils einen größeren oder kleineren Dreck am Stecken hatten, fiel es ihr leicht, sich von diesen abzusetzen, mehr noch: ihren vakanten Platz einzunehmen. Merkel selbst dagegen hatte in ihrer jungen Karriere noch kaum eine echte Krise zu überstehen gehabt. Was ihr, anders als vielen Kontrahenten, nie unterlaufen ist, sind: Affären, Falschaussagen, Wahlkampf-Tricks, organisatorisches Chaos. Sie verfügt über eine gewisse Integrität, die es ihren Kontrahenten grundsätzlich schwer macht, sie abzusägen. Wegen Unehrlichkeit wird sie wohl nicht scheitern. Was für sie allerdings prekär werden könnte, sind die schlechten Wahl- oder Umfrageergebnisse. In ihren Anfangsjahren als Parteivorsitzende profitierte Merkel stark davon, dass die Union in dieser Hinsicht Rekordwerte erzielte, nicht zuletzt dank der chaotischen Schröder-Regierung. Seit Merkel allerdings Kanzlerin ist, hat die Union ausnahmslos bei allen Landtagswahlen an Prozentpunkten verloren. Nichts bereitet einer Partei auf Dauer mehr Unbehagen als anhaltende Phasen des Misserfolgs. Solche durchzustehen fällt einer Spitzenkraft immer schwer, erst recht ohne „echte“ Freunde. Verliert die Union also weiter 82 Zu diesem Mythos vgl. Schlieben, Michael: Politische Führung und Medienkompetenz, in: CIVIS, H. 2/2005, S. 13-21.
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in den Umfragen an Prozenten und in den Landtagen an Abgeordneten, kann man von verschärftem innerparteilichen Widerstand gegen sie ausgehen. Sollte Merkel die Bundestagswahl 2009 verlieren, wird sie höchstwahrscheinlich weg vom Fenster sein. Das wäre sie vermutlich allerdings auch nach einer langjährigen Ochsentour und mit einer ganzen Horde von Seilschaften im Handgepäck.
Matthias Platzeck – der natürliche Seiteneinsteiger Felix Butzlaff
Dass ein Seiteneinsteiger in der Politik im Laufe seiner Karriere bei fünf verschiedenen Parteien Mitglied wird oder für sie bei Wahlen antritt und sich zusätzlich noch als parteiloser Minister in einer Landesregierung behaupten kann, ist für sich selbst schon beachtlich.1 Dass demselben Quereinsteiger darüber hinaus eine politische Laufbahn beschieden ist, bei der er mittlerweile gute achtzehn Jahre ohne Unterbrechung ein Regierungsamt innerhalb eines Bundeslandes inne hat, dass er nach nur einer Dekade Parteizugehörigkeit an die Spitze der mitgliederstärksten Partei Deutschlands gewählt wurde und eine Zeit lang als ihre gefeierte Zukunftshoffnung beschrieben wurde, macht ihn als Untersuchungsgegenstand für eine Betrachtung zu politischen Seiteneinsteigern mehr als interessant. Gleiches gilt für die Tatsache, dass er sich nach kurzer Zeit an der Parteispitze wieder in das ihm bekannte Brandenburg zurückzog und der Bundespolitik – vorübergehend zumindest – erneut den Rücken zukehrte. Matthias Platzeck nimmt als ostdeutscher Seiteneinsteiger, der über ein Engagement in der DDR-Umweltbewegung an die Politik herangeführt wurde, im Rahmen der in diesem Buch behandelten Quereinsteiger-Politiker eine Art Sonderrolle ein. Der demokratische Neuanfang in den neuen Ländern spülte fast zwangsweise den Typus des Seiteneinsteigers in die Politik und auch schnell in Amt und Würden.2 Gerade in den sich aus der Bürgerbewegung entwickelnden kleineren Parteien wie dem Demokratischen Aufbruch, dem Neuen Forum, der Grünen Partei, Grünen Liga oder dem Bündnis 90 sammelten sich Menschen, die aus zunächst ehrenamtlichen Engagement und dem Unmut über die Verhältnisse in der untergehenden DDR den Weg in die politische Verantwortung suchten und auch fanden. Dass man in einem solchen Fall keine klassische Parteikarriere machen, eine Ochsentour durch die innerparteilichen Hierarchien mangels Existenz solcher gar nicht durchlaufen konnte, liegt auf der Hand. Annahmen über traditionelle Rekrutierungspfade in einer Parteiendemokratie verloren angesichts der Umbruchsituation der Wiedervereinigung jedenfalls ihre Erklärungskraft. Der politische Seiteneinstieg stellte folglich in dieser Situation nicht die Ausnahme dar, als die er gemeinhin bei der politikwissenschaftlichen Analyse von politischen Biografien begriffen wird. Während gesellschaftlicher Umwälzungen und Ausnahmesituationen, wie sie die Wiedervereinigung zweifelsohne eine war, wurde das politische Engagement zuvor nicht in der Politik aktiver Menschen auch zu einem Legitimation stiftenden Merkmal des neuen, erst entstehenden Parteiensystems, waren diese Quereinsteiger doch zumeist in hohem Maße weniger mit dem zuvor existierenden Regime verquickt, weniger vorbelas-
1 Matthias Platzeck war Mitglied bzw. kandidierte auf Wahllisten der LDPD, für die Grüne Liga, die Grüne Partei, für Bündnis 90, schließlich für die SPD. 2 Vgl. Hinck, Gunnar: Eliten in Ostdeutschland. Warum den Managern der Aufbruch nicht gelingt, Berlin 2007, S. 31-34.
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tet, waren glaubwürdiger als die Angehörigen der „alten“ DDR-Funktionseliten.3 Politische Seiteneinsteiger waren daher eine gewichtige Gruppe in der Landespolitik der Aufbaujahre, sie hatten einen nicht geringen Anteil an der entstehenden politischen Landschaft in der ehemaligen DDR. Matthias Platzeck war in diesem Sinne anfangs nur einer unter vielen. Was die entscheidenden Faktoren seines – im Gegensatz zu den meisten anderen „bürgerbewegten“ Mitstreitern – erfolgreichen Aufstiegs durch die verschiedenen Parteien waren, was es ihm ermöglichte, sich bis heute nahezu zwei Jahrzehnte lang in Exekutiv-Funktionen zu halten und von einem an der Umwelt interessierten Naturwissenschaftler zu einem der zeitweise beliebtesten Politiker der Bundesrepublik zu werden, soll im folgenden erörtert werden. Dabei soll der Schwerpunkt der Betrachtungen tatsächlich auf der Zeit des Quereinstiegs liegen und nicht in eine Analyse der gesamten Biografie münden. Herkunft, Prägung und Hintergrund sollen ebenso beleuchtet werden wie die Annäherung an und der Einstieg in die Politik. Als Endpunkt soll dabei die Regierungsübernahme in Brandenburg als Nachfolger Manfred Stolpes gelten, da spätestens dann – nach dem Abtritt seines langjährigen politischen Mentors, der Übernahme der unangefochtenen innerparteilichen Führungsposition durch Platzeck und dem zielstrebigen Aufbau einer auch innerparteilichen Hausmacht – wichtige Kriterien und Charakterzüge eines Seiteneinstiegs nicht mehr gegeben waren.
Herkunft und frühe Prägungen Der Familie Platzeck ging es für realsozialistische Verhältnisse materiell sehr gut. Man residierte in einem Haus in der nobelsten Villen-Gegend Potsdams ganz in der Nähe des späteren Grenzübergangs an der Glienicker Brücke. Zwar waren die Platzecks keine Villenbesitzer, konnten kein ganzes Anwesen ihr eigen nennen, bewohnten aber immerhin eine große Mietwohnung in einem der Altbauhäuser in einem von Wohnungsknappheit geprägten Potsdam. Für eine sorglose Kindheit standen alle Zutaten bereit: ein großer Garten bis hinunter zum Tiefen See, der Blick vom Seeufer auf das Babelsberger Schloss, stets ein Boot im Wasser zum Spielen und eine Haushaltshilfe, die der Mutter und den Kindern Arbeit abnahm. Den eigenen Vater beschrieb Matthias Platzeck als geradezu klischeehaften, bürgerlichen und gebildeten Mediziner. Hans Platzeck war Arzt mit Leib und Seele, ging früh in die Praxis und blieb stets bis spät abends. Auch am Wochenende ging er zur Visite der von ihm im katholischen St. Josephs Krankenhaus operierten Patienten. Der 1953 geborene Matthias Platzeck und seine ältere Schwester Petra wurden von der Mutter erzogen. Dem realen Sozialismus stand die Familie nicht nahe, ein Jahr nach der Geburt ließen sie den Sohn evangelisch taufen, versuchten sich und auch die Kinder aus der Politik herauszuhalten. Matthias Platzeck sollte später immer wieder auf diese sich gegenüber der Diktatur abschottenden, bürgerlich-kirchlichen Seiten der Familie hinweisen; der eine Großvater war als Pfarrer tätig, der andere standhafter Sozialdemokrat, der zuvor den SPD-Ortsverein Nordhausen mitgegründet hatte.4 3
Vgl dazu auch Müller-Enbergs, Helmut: Beobachtungen zum BÜNDNIS 90 in Brandenburg, in: Eichener, Volker u.a. (Hrsg.): Organisierte Interessen in Ostdeutschland, Marburg 1992, S. 463-477, hier S. 467 f. 4 Vgl. Mara, Michael: Visionär und Realist, in: Der Tagesspiegel, 28.06.1995.
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Die Schulzeit in der Polytechnischen Oberschule brachte erste Kontakte zum Arbeiterund Bauernstaat, die auf den jungen Platzeck durchaus sehr anziehend wirken: Er war ein Musterschüler, begeisterte sich für DDR-Jugendcomics, für die Mitarbeit bei den Jungen Pionieren. Seine Schulleistungen waren so gut, dass er im Alter von zwölf Jahren an der Erweiterten Spezialoberschule „Erich Weinert“ in Kleinmachnow angenommen wurde, einer Art Hochbegabten-Gymnasium für Naturwissenschaften. Dort lernte Platzeck die Vorteile von wissenschaftlicher Elitenförderung am eigenen Leib kennen und die Begeisterung über Innovationen in Forschung und Unterrichtstechniken: Der Unterricht in kleinen Klassen à zehn Schüler, junge, hoch motivierte Lehrer, eigene kleine Forschungsprojekte für die Eleven. Matthias Platzeck ragte selbst hier noch mit seiner Schulleistung heraus und nahm beim sozialistischen Pendant zum bundesdeutschen „Jugend-forscht-Wettbewerb“ teil. Das Engagement im Rahmen der Elitenausbildung der DDR und für den Realsozialismus wurde für ihn zu seiner Art Rebellion gegen das eigene Elternhaus. Damals leuchteten ihm – wie er später sagt – die Ideen der Versöhnung und der Überwindung aller gesellschaftlichen Widersprüche „durchaus ein“5. Er trat als junger Erwachsener aus der Kirche aus, abonnierte die FDJ-Zeitung Junge Welt und wurde der Sekretär der Blauhemden in seiner Klasse. Auch erlebte er den Ausbau des sozialistischen Staates nicht als Niedergang, sondern eben als greifbaren Aufbau: Dass Plattenbauten entstanden, wo zuvor noch die Kriegsruinen verfielen; dass Neues geschaffen wurde im Versuch, die Vision der sozialistischen Gesellschaft auch materiell und für alle sichtbar entstehen zu lassen. Bei vielen der 1950er Geburtsjahrgänge traf hier die Prosperitätsphase der DDR in den ausgehenden 1960er Jahren – mit sozialer Stabilität, wachsendem Wohlstand, einem funktionierenden Bildungssystem und gewissen Ansätzen einer Liberalisierung – auf eine Kohorte in ihrer lebensalterspezifischen Phase der politischen Sozialisation. In der Zeit der Bildung und Stabilisierung politischer Orientierungen und moralischer Überzeugungen der 1950er Geburtsjahrgänge befand sich die DDR „auf dem Höhepunkt ihrer politischen und moralischen Reputation“6. Aufgrund seiner systemkonformen Einstellungen wurde Matthias Platzeck daher, obwohl er im Arbeiter- und Bauernstaat mit einem herkunftlichen Handicap leben musste – seine Eltern und Großeltern waren nicht stramm systemkonform, er entstammte einer eher gebildeten, bürgerlichen Familie, nicht dem eigentlichen Zielobjekt der (wissenschaftlichen) Ausbildung, dem Proletariat –, in die Förderung künftiger Wissenschaftseliten aufgenommen.
Auf dem Weg zur technischen Intelligenz: Studium in Ilmenau Matthias Platzeck ließ sich anstecken vom Fortschrittsglauben und der Planungseuphorie der ausgehenden 1960er Jahre. Er schwärmte für die sowjetische Raumfahrt und den vom Sozialismus propagierten Erfindergeist und begeisterte sich auch für „Unsere Welt von morgen“, einen im staatlichen Jugendbuchverlag erschienenen Bestseller über die Innovationskraft der kommunistischen Gesellschaften. Auf vielen Seiten wurden dort die in Bälde 5
Schuler, Ralf: Pragmatiker mit Perspektive, in: Die Welt, 09.08.1997. Ahbe, Thomas/Gries, Rainer: Die Generationen der DDR und Ostdeutschlands, in: Berliner Debatte Initial, Jg. 17 (2006) H. 4, S. 90-109, hier S. 99. 6
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zu erwartenden Fortschritte in buntesten Farben ausgemalt. In diesem Buch wurde auch eine „neue Wissenschaft“ herausgehoben: die Kybernetik, die sich mit den Steuerungs- und Regelungsmechanismen innerhalb von Systemen und Prozessen beschäftigt. Der junge Schüler Matthias Platzeck war fasziniert von der Vorstellung von intelligenten Maschinen, sich selbst regulierenden Fabriken, „von prinzipiell neuen technischen Möglichkeiten […], die so phantastisch und zukunftsträchtig sind, dass trotz aller Phantasie die Grenzen ihrer Auswirkungen nicht abzustecken sind“7. Er bewarb sich um einen Studienplatz für Kybernetik an der Universität Ilmenau in Thüringen.8 Auch im Rahmen des Studiums engagierte er sich weiterhin für die Ideologie, übernahm eine Zeit lang den Posten des FDJ-Sekretärs seines Jahrgangs. Die Ilmenauer Uni stand allerdings im Ruf, ein eher liberaler Ort unter den DDR-Hochschulen gewesen zu sein. Dies mag mit der naturwissenschaftlichen und damit eher rationalen Ausrichtung zu tun gehabt haben. Jedenfalls war laut Platzeck das Klima offener, gab es mehr Freiräume als an anderen Universitäten.9 Nach seinem Studienabschluss 1979 nahm Platzeck dann eine erste Stelle am Institut für Lufthygiene in Karl-Marx-Stadt an, seine Aufgabe bestand unter anderem im Aufbau eines Messsystems für Luftverschmutzung. Noch während des Studiums in Ilmenau hatte Matthias Platzeck 1977 seine Kommilitonin Ute Bankwitz geheiratet, im folgenden Jahr brachte diese Zwillinge zur Welt. Da Studentenfamilien in der DDR durchaus erwünscht gewesen waren, griff die Universität den jungen Eheleuten unter die Arme, organisierte eine größere gemeinsame Bleibe, ermöglichte ein abwechselndes Studieren.10
Die Wissenschaft als Politik: Abkehr vom Sozialismus Ende der 1970er waren in der DDR und besonders im Erzgebirge die Luftverschmutzung und das beginnende Baumsterben schon nicht mehr zu übersehen, die gemessenen Werte mitunter dramatisch. Matthias Platzeck stellte dies alles auch so fest, sammelte Daten über Smog-Konzentrationen und Schadstoffbelastungen. Seine Berichte aber, die Messergebnisse, verschwanden in den Schränken seines Instituts. Anfang der 1980er Jahre beschloss das Politbüro, die immer heikler werdende Umweltsituation in vielen Regionen der Republik nicht mehr zu veröffentlichen, generell keine staatlichen Informationen mehr zu Umweltdaten und -einschätzungen heraus zu geben.11 In Bereichen, die man für besonders sensibel hielt, hatte man aber auch zuvor schon strikt nach diesem Grundsatz gehandelt. Platzecks Warnungen vor gesundheitlichen Risiken der von Braunkohlerauch und Industrieabgasen verpesteten Luft am Rande des Erzgebirges jedenfalls verschwanden im Institutsarchiv.12 Ein Großteil der akademisch gebildeten „Intelligenz“ der DDR, die sich im Laufe der 1980er Jahre – wie dann auch Platzeck – in der DDR-Umweltbewegung engagierte, hatte ähnlich frustrierende Erlebnisse mitgemacht; hatte erlebt, dass das Postulat der Wissenschaft, der Forschung und der Innovationen eng begrenzt war durch den Primat der Partei7
Böhm, Karl/Dörge, Rolf: Unsere Welt von Morgen, Berlin 1959, S. 48. Vgl. Mara, Michael/Metzner, Thorsten: Matthias Platzeck. Die Biografie, München 2006, S. 30. 9 Vgl. ebd., S. 39. 10 Vgl. ebd., S. 41. 11 Vgl. Choi, Sung-Wan: Von der Dissidenz zur Opposition: die politisch alternativen Gruppen in der DDR von 1978 bis 1989, Köln 1999, S. 51. 12 Vgl. Mara/Metzner 2006, S. 42. 8
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linie. In diesem Fall hieß dies: Schon per Definition konnte es gravierende Umweltverschmutzung in den sozialistischen Staaten nicht geben, da es der Kapitalismus war, der eine die Natur und die Menschen ausbeutende Wirtschaftsweise verkörperte. Der Sozialismus hingegen habe im Grundsatz „technische und humanistische Rationalität (miteinander) versöhnt“13. Insofern waren Umweltzerstörungen in der DDR – wenn überhaupt existent – auf die Fernwirkungen der kapitalistischen Ökonomien Westeuropas zurückzuführen.14 Das Erlebnis, mit seiner Arbeit wider besseres Wissen hinter der Aufrechterhaltung einer Systemfassade zurückstehen zu müssen, war für einen motivierten Absolventen eines naturwissenschaftlichen Studiengangs, der jahrelang den kommenden Durchbruch der Technik vor Augen hatte, sicherlich schockierend und mag viel zu Matthias Platzecks Abkehr vom sozialistischen Regime beigetragen haben. Wie bei vielen Menschen seiner Geburtsjahrgänge hatte eine Desillusionierung gegenüber dem realen Sozialismus aber schon früher, während der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, eingesetzt. Die Ausbürgerung Wolf Biermanns 1976 und der Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan 1979 hatten für viele DDR-Bürger eine Art Entfremdungseffekt bewirkt, die den freundlichen und an der Völkerverständigung, an Wohlstand und Selbstbestimmung orientierten Charakter ihres eigenen Landes mehr als fraglich werden ließen.15 Nach der Geburt der dritten Tochter 1980 bewarb sich Matthias Platzeck auf Stellen in anderen Landesteilen, bekam einen Posten als Direktor für Ökonomie und Technik im Krankenhaus in Bad Freienwalde angeboten. Dort war Platzeck einer der jüngsten Verwaltungsdirektoren der DDR, arbeitete auf einem Nomenklaturposten, einem Karrieresprungbrett für höhere Ebenen. Im Nachhinein schildert Matthias Platzeck, dass er dort mehrmals ins örtliche Parteibüro gebeten wurde, um ihn zu einem Parteieintritt zu bewegen. Zwecks Karrierebeschleunigung der SED beizutreten, sei für ihn aber 1981/82 aber schon nicht mehr in Frage gekommen.16 Schon 1982 also, kaum drei Jahre nach dem Eintritt ins Berufsleben, war Matthias Platzeck von der vorgezeichneten Bahn vom Eliteschüler bis in die oberen Partei- und Forschungsebenen abgewichen. Der Weg vom technikbegeisterten Schüler hin zu einem von naturwissenschaftlichen Prinzipien überzeugten Erwachsenen erklärt hierbei vieles. Gerade bei Naturwissenschaftlern leuchtet eine sich entwickelnde Skepsis gegenüber diktatorischer Praxis oft besonders ein. Denn die Rahmenbedingungen sind hier – anders als in den Sozial- oder Wirtschaftswissenschaften –von der Natur und nicht von sozialen Verhältnissen diktiert; Ergebnisse und Theorien sind per Selbstverständnis nicht im Lichte der gegenwärtigen Politik zu interpretieren, sondern erheben einen viel stärkeren Anspruch auf Unabhängigkeit von den momentanen sozialen Gegebenheiten und dem ideologischen Gebrauchswert. Viele der ihn umgebenden Geburtskohorten, die 1950er Jahrgänge, haben wohl ähnliche Erfahrungen gemacht. Thomas Ahbe und Rainer Gries beschreiben in ihren Untersuchungen der Generationengeschichte der DDR die „integrierte Generation“ zunächst als 13 Knabe, Hubertus: Umweltkonflikte im Sozialismus. Möglichkeiten und Grenzen gesellschaftlicher Problemartikulation in sozialistischen Systemen. Eine vergleichende Analyse der Umweltdiskussion in der DDR und Ungarn, Köln 1993, S. 289. 14 Vgl. Choi 1999, S. 152. 15 Vgl. Ahbe, Thomas/Gries, Rainer: Gesellschaftsgeschichte als Generationengeschichte. Theoretische und methodologische Überlegungen am Beispiel der DDR, in: Schüle, Annegret u.a. (Hrsg.): Die DDR aus generationengeschichtlicher Perspektive. Eine Inventur, Leipzig 2006, S. 475-571, hier S. 541. 16 Vgl. Mara/Metzner 2006, S. 42.
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Profiteure der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, die aber nach dem Eintritt ins Berufslebenbald, enttäuscht vom ausbleibenden Versprechen von mehr Liberalisierung, steigendem Lebensstandard und gesellschaftlichem Aufstieg, dem von ihnen lange Zeit unterstützten realen Sozialismus den Rücken zukehrte. Die angekündigten Ziele der andauernden wirtschaftlichen und sozialen Prosperität hatten nicht eingehalten werden können und die „hoffnungsvolle Parallelität zwischen persönlichem Aufbruch ins Leben und dem […] Aufbruch der DDR [war] dahin“17.
Rückzug und neue Initiativen: wieder in Potsdam Matthias Platzeck zog nach dem Verwaltungsdirektorenposten in Bad Freienwalde nun eine aus diesen Erfahrungen logische Konsequenz. Wie viele in seiner Generation, die später im Rahmen der Bürgerbewegungen einmal in der Politik eine Rolle spielen sollten, suchte er nach einer Nische, die ihm beruflich und privat Freiraum ließ.18 1982 bot sich ihm die Möglichkeit, samt seiner Familie ins heimische Potsdam zurückzukehren und an der dortigen Kreishygieneinspektion die Abteilung für Lufthygiene zu übernehmen.19 Abteilungsleiter in einer Kreisinspektion war für den Ilmenau-Absolventen und vormaligen Verwaltungsdirektor eine Stelle, für die er klar überqualifiziert war, die aber den Vorteil bot, weniger kontinuierlich gegenüber politischen Fährnissen zu exponieren. Sein Vorgesetzter Volker Gutsmuths war Patient seines Vaters, stand der SED und dem DDRSystem eher skeptisch gegenüber und war stolz darauf, sein Kreisamt bis dahin frei von Parteimitgliedern gehalten zu haben. Damit ermöglichte er auch Matthias Platzeck einen kleinen Schutzraum innerhalb dieser in der DDR durchaus heiklen Themengebiete der Umweltproblematik. Den Anspruch allerdings, weiterhin Forschung und Wissenschaft betreiben zu können, musste Platzeck fahren lassen, die Aufgaben einer Kreishygieneinspektion waren anders gelagert: Abnahmen, Bauinspektionen, Gutachten, Verwaltungsarbeit. Es war nicht mehr die Eliteposition, in der Platzeck nun Intellekt, Innovationsdrang und glänzende Ideen beweisen konnte, sondern die alltägliche Kärrnerarbeit und die Routine einer Umweltbehörde, mit der er sich arrangieren musste, die ihm aber unzweifelhaft auch Lernerfahrungen ermöglichte, von denen er in seiner politischen Karriere profitieren sollte.20 Überhaupt hatte Matthias Platzeck im Laufe der 1980er und 1990er Jahre durchgehend Vorgesetzte und – später – politische Mentoren, die schützend die Hand über ihn hielten; die seinen Namen in der Überwachung durch die Staatssicherheit lange Zeit von einem Verdachtsmoment befreiten, ihn vor zu genauem Nachfragen und Beobachten abschirmten. Und die ihm auch eine Arbeit ermöglichten, mit der er einen marginal kleinen Beitrag zu einer etwas offeneren Umweltpolitik in den ausgehenden 1980er Jahren in der DDR leisten konnte.
17
Ahbe/Gries 2006, S. 542. Vgl. auch Knabe, Hubertus: Neue Soziale Bewegungen im Sozialismus. Zur Genesis alternativer politischer Orientierungen in der DDR, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 40 (1988) H. 3, S. 551-569. 19 Vgl. Mara/Metzner 2006, S. 44. 20 Vgl. ebd., S. 45. 18
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Wie angesprochen, war das Themenfeld der Umweltproblematik in der DDR durchaus ein heikles, umso mehr, wenn die eigene Arbeit eigentlich in der Kontrolle und Überwachung der selbst von der Partei postulierten Standards bestand. Dass dies oft in einen diplomatischen Drahtseilakt mündete, leuchtet intuitiv ein. Offen konnten Mängel nicht angeprangert werden, Badestellen nicht wegen Verschmutzung geschlossen, Bauvorhaben nicht wegen etwaiger Umweltschäden verweigert werden. Es ging vielmehr um Zwischentöne, um alternative Wege und Vorschläge zur Verhinderung der schlimmsten Schädigungen und Verschmutzungen. Platzeck lernte hier schnell, dass ein Vorpreschen und ein zu dezidiertes Eintreten für oder gegen etwas zu keinerlei Ergebnissen geführt, ihn im Gegenteil gegenüber den Behörden zur Persona non grata gemacht hätte. Die „Politik“ jener Jahre, die Matthias Platzeck erfuhr und erlernte, war ein permanentes Abwägen und Aushandeln. Nicht das dogmatisch vorgetragene Wort konnte hier Erfolg haben, sondern nur die vorsichtige, auch lavierende und nicht zupackende, immer am momentan möglichen Gelegenheitsfenster orientierte Vermittlung.
Umweltengagement im Sozialismus: Argus Umweltgruppen hatte es in der DDR seit den ausgehenden 1970er Jahren vermehrt gegeben. Zwar verlief die Entstehung der Neuen sozialen Bewegungen im realen Sozialismus, verglichen mit den westlichen Industrienationen, deutlich verzögert. Trotz der unbestritten gänzlich anderen Rahmenbedingungen für gesellschaftliches Engagement außerhalb der staatlichen Institutionen in der DDR konnte man jedoch vielerlei Parallelen verzeichnen. Das Entstehen dieser Bewegungen oder Gruppen war Ausdruck struktureller Tendenzen: Auch im Sozialismus waren die Menschen beunruhigt über die Verschmutzung und Zerstörung ihrer Umgebung, verstört und verängstigt von Umweltkatastrophen wie dem Reaktorunfall in Tschernobyl; auch in der DDR engagierten sich Menschen in unabhängigen Bündnissen und Gruppen zu Themen der Friedenssicherung, zur Gleichberechtigung von Minderheiten und eben zu Themen und Fragen der Umwelt.21 Kernmotivation des Umweltengagements war – wie in anderen Ländern auch – neben dem Wunsch, selbst etwas beizutragen, ein Bedürfnis nach vertrauenswürdiger Information über den Zustand und die Entwicklung der lebensweltlichen Umgebung und die Sorge um die eigene Gesundheit. Auch in der DDR hatten mit dem Aufwachsen der Generationen, die nur im realen Sozialismus gelebt hatten, die mit der DDR auch materiellen Wohlstand und soziale Sicherheiten kennen gelernt hatten, die traditionellen Werte eine leichte Erosion erfahren, waren postmaterialistische Anklänge zumindest in manchen sozialen Gruppen durchaus zu finden.22 Die einseitig auf materielle Bedürfnisbefriedigung setzende Orientierung der SED mag entscheidend dazu beigetragen haben, bei einem Teil der wachsenden, nicht mehr im klassischen Industrieproletariat verortbaren, gut ausgebildeten Dienstleistungsmittelschichten ein Unbehagen zu verursachen, dass sich aus der immer sichtbareren Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Regimes speiste. Auch die Tatsache, dass den 1950er Jahrgängen durch die Vorherrschaft der Gründungseliten der DDR Aufstiegs- und Partizipationschancen verbaut wurden, dass diese weiterhin die Funktionsstellen besetzt hielten, 21 Vgl. Kühnel, Wolfgang/Wielgohs, Jan/Schulz, Marianne: Die neuen politischen Gruppierungen in der DDR, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 1/1990, S. 22-37, hier S. 23; vgl. dazu exemplarisch Knabe 1993; ders. 1988. 22 Vgl. Knabe 1988, S. 562.
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mag zu einer Entfremdung der „integrierten Generation“23 vom Staatssozialismus beigetragen haben. Gerade in Bereichen, die von der Politik vernachlässigt wurden, weil sie nicht in das Bild eines strahlenden Systems passten, gab es zudem nur wenig offizielle Ansprechpartner, die ein Bedürfnis nach Diskussion oder Eigeninitiative überhaupt hätten kanalisieren können. Und wenn doch, so wie dies 1980er mit der Gründung der „Gesellschaft für Natur und Umwelt“ (GNU) versucht worden war, so blieben viele dennoch misstrauisch, sich erneut einer dem Staatsapparat unterstellten Organisation anzuschließen. Die Freiräume für von der sozialistischen Norm abweichende Lebensweisen und Verhalten waren deutlich enger als in westlichen Industrienationen.24 Kombiniert mit dem staatlichen Misstrauen gegenüber jeglicher Gruppenbildung außerhalb der offiziellen Institutionen führte dies dazu, dass sich Umweltengagement in der DDR weitgehend auf Verhaltensänderungen beim Einzelnen konzentrierte. Aktionen auf „niedrigster Aktivitätsstufe“25, Baumpflanzaktionen, Aufrufe, Leserbriefe und Diskussionen um persönliche Verantwortung und Lebensweise waren ein Stück weit unverdächtiger als Fragen nach dem wirtschaftlichen System oder dem Verhältnis der DDR zur Natur.26 Auch kooperierten viele Umweltgruppen oft mit den entsprechenden Behörden und Staatsorganen, wie eben der GNU oder dem DDR-Kulturbund, um Repressionen oder Verbote zu vermeiden. Auch im zivilgesellschaftlichen Bereich waren Pragmatismus, Kompromiss und ideologische Beweglichkeit eine Folge der Diktatur, jedenfalls im Vergleich mit den Neuen Sozialen Bewegungen in den westlichen Ländern. Matthias Platzeck gründete Anfang 1988 mit Bekannten und Interessierten die „Arbeitsgemeinschaft für Umweltschutz und Stadtentwicklung“, Argus. Aus dem privaten Aushelfen beim Renovieren und Ausbessern der zum Teil verfallenden Altbauwohnungen und Gärten, dem gegenseitigen Austausch von Werkzeug und Wissen um Dämmmaterial, Heizungsbau und dem Instandsetzen von Fenstern war die Idee entstanden, den Potsdamer Pfingstberg aufzuräumen und wieder der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.27 Der Pfingstberg war ein Bau aus preußischen Zeiten mit einem großen Park darum; ein Gelände, das nach vierzig Jahren Sozialismus langsam verrottete. Motivation mag einfach die Frustration über den wenig respektvollen Umgang mit den eigentlich öffentlichen, jedoch nicht-sozialistischen Prestigeobjekten gewesen sein. Altbauten und Bausubstanz aus VorDDR-Zeiten sowie die gerade in Potsdam vorhandenen Parkanlagen preußischer Könige verwelkten und zerfielen unter den Augen der Anwohner. Der Wunsch nach „benutzbaren“ Grün- und Erholungsflächen artikulierte sich in den ausgehenden 1980er Jahren nicht allein in Potsdam: Auch in anderen Städten der Republik fanden sich Bürgergruppen, die gemeinsam Bäume pflanzten, Parkanlagen aufräumten und in Eigeninitiative anpackten.28 Den Anschein konspirativer Zusammenkunft wollte man von Beginn an vermeiden. Argus wurde unter dem Dach des örtlichen DDR-Kulturbundes gegründet, die regelmäßigen Treffen fanden in den dazu gehörenden Räumlichkeiten statt. Der Nukleus des gemeinsamen Aufräumens blieb bestehen, Arbeitseinsätze auf dem Pfingstberg wurden weiterhin 23
Ahbe/Gries: Die Generationen der DDR und Ostdeutschlands, S. 98. Vgl. Knabe 1993, S. 280 ff. 25 Ders. 1988, S. 555. 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. Mara/Metzner 2006, S. 57. 28 Vgl. Choi 1999, S. 55. 24
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durchgeführt, zudem Diskussionen zu Themen der Stadtökologie, der Bausubstanz und der Müllproblematik veranstaltet. In einem Mitteilungsblatt der Arbeitsgemeinschaft firmierte Platzeck als Ansprechpartner für Interessierte.29 Dass Matthias Platzeck schnell zu einem der Wortführer der Arbeitsgruppe aufstieg, lag auch darin begründet, dass er mit seinem Wissen und seiner Erfahrung einen der Hauptbeweggründe für das Umweltschutz- und Stadtökologie-Engagement seiner Mitstreiter bediente: Informationsbeschaffung und -vermittlung. Gerade in einem Regime wie der DDR waren verlässliche Informationen kaum zu bekommen, erst recht nicht für Menschen, die beruflich dem Themenkomplex fern standen. Auch deswegen waren in den Umweltgruppen der DDR zu einem nicht unwesentlichen Teil Wissenschaftler engagiert, da diese bessere Möglichkeiten besaßen, die Problematik der Umweltverschmutzung überhaupt zu erfassen. Matthias Platzeck passte in dieses Schema hinein und hatte zudem im Rahmen seiner Arbeit im Hygieneinstitut gelernt, mit der Überwachung und dem Misstrauen der staatlichen Organe umzugehen. Ins Visier der Staatssicherheit geriet die Argus-Gruppe natürlich trotzdem rasch. Doch wiederholten sich hier zwei Muster, die an anderer Stelle bereits angedeutet worden sind: Matthias Platzeck fand mit der noch kleinen Runde Mitstreiter eine Schutzfigur, die sie gegenüber der Stasi abschirmte, ihnen einen kleinen Freiraum ließ. Die Vorsitzende des örtlichen Kulturbundes, Juliane Nitsche, sympathisierte mit der Gruppe und reichte in diesem Fall keine Informationen über Platzeck und Argus an die Behörden weiter. Im Gegenzug achtete Platzeck darauf, dass bei den Treffen in den Kulturbundräumen keine allzu starke Kritik geübt wurde, Nitsche darüber nicht in Schwierigkeiten geriet.30 Zudem gelang es Matthias Platzeck, die Initiative lange in einer kaum fassbaren Grauzone gegenüber der Beobachtung der Sicherheitsbehörden zu halten. Aus seiner Erfahrung in der Hygieneinspektion wusste er, wie er Veröffentlichungen und Diskussionen halten und steuern musste, um keine Angriffsflächen zu bieten. Argus wollte nichtsdestotrotz bei aller Selbstbeschränkung auf Pragmatik und nüchterne Diskussionen über Potsdam und die Parkanlagen hinaus in der Umweltpolitik etwas bewegen. Auch die Potsdamer Arbeitsgemeinschaft machte – ähnlich vielen Stadtökologiegruppen in anderen Landesteilen – eine Entwicklung hin zu mehr Initiative mit, machte in Diskussionen und kleinen Veröffentlichungen deutlich, dass man nicht nur den Bürger zu umweltbewusstem Verhalten ermahnen, sondern eben auch die umweltschutztechnischen Anforderungen und Verantwortlichkeiten der Stadt und ihrer Verwaltung klar herausarbeiten und der „Sorglosigkeit begegnen“ wollte.31 Es blieb jedoch bei solcherart sachlichem „Aufbegehren“. Anders als viele mit der Kirche verbundene Umwelt- und Oppositionsgruppen nahm im Rahmen der Argus-Treffen der Zerfall der DDR erst recht spät einen Raum ein.
29
Vgl. Mara/Metzner 2006, S. 61. Vgl. ebd., S.61. 31 Vgl. Knabe 1993, S. 232. 30
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Turbulente Wendezeiten: von Parteien und Runden Tischen Im Frühsommer 1989 trat Platzeck in die LDPD ein, deren Vorsitzender sich zuvor in einer Rede vorsichtig von der SED distanziert hatte.32 Es war bei Argus diskutiert worden, einen Parteieintritt bei einer der Blockparteien zu nutzen, um sich einen größeren Freiraum verschaffen zu können. Matthias Platzeck wandte sich aber nach nur drei Monaten enttäuscht wieder ab: Die Realitäten einer mit der SED und dem Auseinanderbrechen des Staates ringenden Blockpartei passten nicht zu den Ideen und Hoffnungen eines jungen, von Veränderungswillen erfüllten Umweltschützers. Dass eine Mitgliedschaft in einer der Blockparteien weder ihm selbst ein größeres Maß an Bewegungsspielraum einbringen, noch die LDPD zu einem forscheren Auftreten gegenüber der SED oder zu schärferen Forderungen in der Umweltpolitik drängen würde, war ihm schnell deutlich geworden. Die mit der liberaldemokratischen Partei gemachten Erfahrungen bestärkten ihn in der Folgezeit darin, die Beharrungskräfte und eingeschliffenen Reaktions- und Verhaltensmuster innerhalb von Parteien nicht zu unterschätzen und Parteien als Vehikel für seine eigenen Ziele zunächst einmal skeptisch zu begegnen: „Ein Parteimensch werde ich nie.“33 Nichtsdestotrotz hatte Platzeck sich über das Jahr 1989 schon voll in die Organisation und sein Engagement bei Argus gestürzt. Schnell hatte er gespürt, dass Bewegung in lange Zeit fest betonierte Kräfteverhältnisse gekommen war und bereitete sich darauf vor, größere Verantwortung zu übernehmen. In den Wirrungen der Wendetage gründete er als Abgesandter von Argus mit anderen Umweltgruppen in einer Berliner Kirchengemeinde das „Umweltnetzwerk Grüne Liga“, hervorgegangen aus den zuvor von Argus mitgetragenen Vernetzungstreffen. Von „Parteien“ allgemein wollte man sich abgrenzen, ein verständliches Postulat angesichts der in der DDR mit der Parteiendiktatur der SED gemachten Erfahrungen. Auch Neugründungen wie die „Grüne Partei“ betrachtete Platzeck skeptisch, allzu dogmatisch und wolkig erschienen ihm die dort gemachten Vorstellungen und Pläne. Aber auch die Grüne Liga strebte dorthin, wo etablierte und neue Parteien, Oppositionsgruppen und alte Machteliten zusammentrafen – an den von den Kirchen moderierten Runden Tisch in Berlin, der den Zerfall der DDR und den Übergang zu einer neuen Staatsform begleiten und in geordnete Bahnen lenken sollte. Die Grüne Liga war anfangs nicht dabei; auch in den ersten Sitzungen des Runden Tisches ab Anfang Dezember saß keiner ihrer Vertreter mit am Tisch. Die Dissidentengruppen und Oppositionsparteien der ersten Stunde hatten peinlich darauf geachtet, nicht zu vielen der nun überall aus dem Boden sprießenden Parteineugründungen ein Forum zu bieten. Dennoch begehrten in den ersten Sitzungen jeweils noch Vertreter nicht berücksichtigter Parteien oder Initiativen zum Teil lautstark Zugang und Teilnahme. Da sich einige SED-Massenorganisationen mit großem Personalaufgebot und in tumultartigen Szenen noch die Aufnahme „erkämpft“ hatten, musste ein erneutes Gleichgewicht der Kräfte hergestellt werden zwischen den regimetreuen und den oppositionellen Stimmen.34 In den folgenden Diskussionen schaffte es Matthias Platzeck, dass die Grüne Liga als weitere Partei am Runden Tisch zugelassen wurde; in
32 Vgl. Hinze, Albrecht: Matthias Platzeck. Verkehrs- und Umweltminister in Brandenburg, in: Süddeutsche Zeitung, 02.04.1991. 33 Mara/Metzner 2006, S. 81. 34 Vgl. Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wer war das Volk? Teil I, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 1/1990, S. 71-100, hier S. 84 f.
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seiner Erinnerung schildert er seine Rede als „in Kampfstimmung“35 gehalten. Er habe geredet, bis man ihm die Aufnahme zugesagte. Die Politik- und Verhandlungsgeschichte des Runden Tisches soll hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden, die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit unter Hans Modrow über eben jenen Runden Tisch aber zeigt erneut einen kleinen Ausschnitt des platzeckschen Politikverständnisses. Entgegen der Auffassung vieler weiterer Oppositionsparteien sträubte sich Platzeck nicht lange, als Modrow am Runden Tisch den Vorschlag einer Allparteienkoalition unterbreitete.36 Und anders als viele Vertreter der Bürgerbewegung hatte er persönlich keine Schwierigkeiten mit Modrow selbst. Platzeck honorierte dessen Engagement für einen gewaltfreien Übergang und stieß sich eher an den zum Teil dogmatisch-verbohrten Positionen einiger Oppositioneller. Platzeck übernahm neben der Arbeitsgruppe „Ökologischer Umbau“ am Runden Tisch schon im Februar 1990 ein Ministeramt ohne Geschäftsbereich in der Übergangsregierung unter Modrow.37 Matthias Platzeck bewegte sich schnell erstaunlich selbstbewusst in der Politik der untergehenden DDR. Ohne das Pathos der demokrathietheoretischen Diskussionen, sondern mit dem schon konstatierten Pragmatismus suchte er auch mit dem Personal des noch regierenden Regimes den Kompromiss und den Fortschritt in den jeweiligen Sachfragen. Neben den bürgerbewegten Dissidenten der großen Oppositionsgruppen, wie beispielsweise dem Neuen Forum oder auch vielen anderen „Grünen“ der neuen Länder, fällt er – im Nachhinein – als bemerkenswert zielstrebig und unideologisch auf. Sein Auftreten gegenüber den Vertretern des Regimes war geprägt vom Blick auf das eventuell Mögliche und Durchsetzbare; das Rechthaberische und Eifernde der kirchlich geprägten Bürgerbewegung gingen ihm ab. Auch durch den eigenen persönlichen Werdegang vom Sozialismusanhänger zum eher durch die Prinzipien seines naturwissenschaftlichen Studiums geleiteten jungen Mann sowie durch seine Erfahrungen mit ihn schützenden Mentoren mag ihm klar geworden sein, dass es eine glasklar und über alle Zweifel erhabene, moralisch unangreifbare Position nicht geben mochte. Die moralisierenden Postulate, die in vielen Teilen der Bürgerbewegung der ausgehenden DDR nun den raschen Aufbau einer mustergültigen Direktdemokratie forderten, die kompromisslos den Ausschluss aller dem Regime nahe Stehenden verlangten – nach all diesem hatte Platzeck jedenfalls nicht gerufen. Dadurch konnte er sich weitaus flexibler den neuen Verhältnissen anpassen. Nicht nur hatte er als mittlerweile erfahrener und ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der DDR-Umweltprobleme fachliche Qualifikationen aufzuweisen, die dringend gebraucht wurden. Sondern er zeigte auch eine Offenheit gegenüber möglichen politischen Konstellationen, die ihn sehr beweglich machte auf der Suche nach Positionen und Einfluss. Neben dem Antrieb durch die Sorgen um eine ökologische Katastrophe im östlichen Deutschland schienen den jungen Politikeinsteiger auch die vielen Möglichkeiten der Übernahme von Verantwortung und Gestaltungsmacht motiviert zu haben. Für die Grüne Liga erstritt er den Zugang zum Runden Tisch und für sich selbst einen Sitzplatz dort. Schon im März 1990 trat er bei der letzten Volkskammerwahl als Parteiloser für die Grüne Partei an und wurde dort parlamentarischer Geschäftsführer für das Fraktionsbündnis der Grünen Partei mit dem Bündnis 90. Ein gutes halbes Jahr später, Platzeck war mittlerweile 35
Mara/Metzner 2006, S. 79. Vgl. Thaysen, Uwe: Der Runde Tisch. Oder: Wer war das Volk? Teil II, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 2/1990, S. 257-308, hier S.266. 37 Vgl. ebd., S. 275. 36
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qua Automatismus Mitglied des gesamtdeutschen Bundestages geworden, kandidierte er im Oktober 1990 wieder als Parteiloser für die Listenverbindung Bündnis 90 bei der Landtagswahl in Brandenburg. Matthias Platzecks rastloses Springen zwischen Parteien und Listenkandidaturen zeigt, wie fremd ihm die kirchlich geprägte Bürgerbewegung bereits geworden war und wie wenig der Nukleus des Widerstands gegen die Diktatur im Aufbau der neuen Länder zu tragen vermochte. Die Welt vieler Grüner erschien ihm abgehoben und realitätsfremd und die Diskussionen seiner Bonner Fraktionskollegen kamen ihm naiv vor angesichts des Problemdrucks der Vereinigung. Dass er die Grüne Liga, die Grüne Partei und später auch das Bündnis 90 stets wieder verließ, liegt in dieser Suche nach politischer Nüchternheit und rationalerer Problemorientierung begründet. Mit seinen Fraktionskollegen Marianne Birthler und Günther Nooke vom Bündnis 90 hatte er sich noch in der Volkskammer darauf verständigt, nach Brandenburg zurück zu gehen und dort bei der anstehenden Landtagswahl anzutreten. Alle drei waren mittlerweile zu lokal bekannten Gesichtern geworden und brachten ein gewisses Maß an Wendeerfahrung durch ihren Sitz als Volkskammerabgeordnete sowie vom Runden Tisch mit, Platzeck gar als Minister der letzten Modrow-Regierung.38 Zudem bot das Bundesland um die zukünftige Hauptstadt herum eine überschaubare Politikbühne, verglichen mit dem fernen Bonn. Zuletzt war ein Weg in Macht und Ämter auf Landesebene eher zu bewerkstelligen als im Bund, wo die westdeutschen Parteien die Personalrekrutierung und Regierungskonstellationen diktierten. Matthias Platzeck setzte sich auch – selbst als Parteiloser – im Bündnis 90 rasch als Wortführer durch, und die Forderung nach dem Sessel des Umweltministers für ihn wurde im Wahlkampf zum primären Ziel erhoben.39 Allein seinem Profil nach stellte er für das Bündnis mehrerer DDR-Oppositionsgruppen die perfekte Besetzung für einen etwaigen Kabinettsposten dar: Unverdächtig der Kooperation mit dem sozialistischen Regime, aber durch die Argus-Vergangenheit auch kein auf Rache sinnender, durch seine Dissidenz moralisch gegenüber dem Rest der Bevölkerung überhöhter Kämpfer. Sein Ruf als unideologischer Umweltexperte, der zudem aus Potsdam stammte, verband Lokalkolorit mit Sachkenntnis, konnte die Bürgerrechtler ansprechen, ohne etwaige frühere Mitläufer oder Kollaborateure gänzlich zu vergrätzen.
Die Natur der Heimat: Minister in Brandenburg Sicherlich war Brandenburg auch ein Glücksfall für Matthias Platzeck. Nur hier schaffte es die SPD in den 1990er Landtagswahlen, die CDU zu übertrumpfen und stärkste Partei zu werden.40 Und nur in Brandenburg konnte eine Koalition auf Landesebene einer Partei wie dem Bündnis 90 den Weg in die Regierungsverantwortung ebnen. Der populäre ehemalige Konsistorialpräsident der evangelischen Kirche der DDR, Manfred Stolpe, war erst vier Monate vor der Landtagswahl in die SPD eingetreten und ließ seinem Gegenkandidaten, 38
Vgl. ebd., S. 82. Vgl. o.V.: In die Kiste, in: Der Spiegel, 29.10.1990. Vgl. dazu Feist, Ursula/Hoffmann, Hans-Jürgen: Landtagswahlen in der ehemaligen DDR am 14. Oktober 1990: Föderalismus im wiedervereinten Deutschland – Tradition und neue Konturen, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 1/1991, S. 5-34.
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dem vielfach angefeindeten, spröde und grau wirkenden ehemaligen DDR-Innenminister Peter-Michael Diestel, keine Chance. Stolpe hatte zu DDR-Zeiten Politikerfahrungen sammeln können und war diplomatisch lange Zeit als Kontaktmann zu Kirchen im Ausland tätig gewesen, hatte aber außer einem Volkskammermandat und der Teilnahme an Verhandlungsrunden – wie Platzeck – keine dezidiert politischen Funktionen inne gehabt. Bekannt und respektiert wurde er aber weit über die Grenzen der neuen Länder hinaus.41 Der 55-jährige Stolpe traf gegenüber verunsicherten Wählern den richtigen Ton, er wohnte seit langer Zeit in Potsdam, seine Verwurzelung im Land war daher glaubhaft stark. Zudem war die direkte Konkurrenz der Union in Brandenburg noch mehr als in anderen ostdeutschen Ländern fast ausschließlich mit alten Blockpartei-Kadern besetzt.42 Wie in allen neuen Ländern nahmen die Sorgen bezüglich der sozialen Situation und des Arbeitsmarktes auch in Brandenburg die vordersten Plätze bei den wahlentscheidenden Faktoren ein. 1990 jedoch wurde an dritter Stelle, und noch vor Themen wie der gesamtwirtschaftlichen Lage oder der Gesundheitspolitik, die Lage der Umwelt in der DDR als gewünschte Priorität genannt.43 Die umweltpolitischen Positionen im Wahlprogramm von Bündnis 90 jedenfalls trugen mit dazu bei, dass die Partei und Matthias Platzeck mit 6,4 Prozent in den Potsdamer Landtag einzogen. Die Koalitionsbildung zog sich hin, die SPD sondierte sowohl mit der CDU für eine große Koalition als auch mit Bündnis 90 und der FDP. Gerade die Verhandlungen mit der FDP gestalteten sich schwierig, da hier mit dem Konflikt Ökonomie – Ökologie zwei der jeweiligen Herzensangelegenheiten der Parteien aufeinander trafen. Platzeck schaffte es aber als einer der Verhandlungsführer für das Bündnis 90 zwei Ministerposten zu bekommen: für sich das Umweltressort und das Bildungsministerium für Marianne Birthler. Der Aufbau der Parteien und neuen Landesverbände im Osten erwies sich als sehr schwierige Aufgabe. Die Organisationsstrukturen waren – besonders bei jenen Parteigründungen, die keine organisatorischen Kontinuitäten zur ehemaligen Regimepartei oder ihren Blockanhängseln aufweisen konnten: der SPD, den Grünen und den Bürgerrechtlern – nur äußerst schwach ausgeprägt. Der Aufbau stockte rasch, die Euphorie über die Wiedervereinigung in weiten Teilen der ostdeutschen Länder ließ sich nicht in Parteibetritte ummünzen.44 Die starke Politisierung der Bevölkerung im Staatssozialismus hatte bei Vielen eine Ernüchterung in Bezug auf die Wirkungskraft von politischen Parteien bewirkt.45 Das Misstrauen gegenüber Parteien im Allgemeinen, und den sich für den Einzelnen aus einer Mitgliedschaft ergebenden Möglichkeiten, war denkbar stark ausgeprägt.46 Gerade die Sozialdemokraten, aber auch die Grünen Parteien waren in den 1990er Jahren in den ostdeutschen Ländern gezwungen, Nichtmitglieder in großer Zahl für die Mitarbeit zu gewinnen. In Brandenburg etwa wurde bis zu einem Viertel der auf Kommunalebene erlangten Mandate der Sozialdemokraten mit Nichtmitgliedern besetzt.47 Die Akzeptanz von politischen Seiteneinsteigern war vor diesem Hintergrund ungleich größer als in traditionell organisations41
Vgl. o.V.: Die Kunst der leisen Töne, in: Der Spiegel, 08.10.1990. Vgl. ebd.; vgl. auch Feist/Hoffmann 1991, S. 9. 43 Vgl. Feist/Hoffmann 1991, S. 13. 44 Vgl. Birsl, Ursula/Lösche, Peter: Parteien in Ost- und Westdeutschland: Der gar nicht so feine Unterschied, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 1/1998, S. 7-24, hier S. 10 f. 45 Vgl. Guhl, Markus: Die ehemals westdeutschen Parteien in den neuen Ländern: Organisationsschwäche und deren Ursachen, in: Gegenwartskunde, H. 4/1999, S. 469-476, hier S. 472. 46 Vgl. Birsl/Lösche 1998, S. 18. 47 Vgl. Guhl 1999, S. 471. 42
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starken Landesverbänden im Westen Deutschlands. Aber auch in der Wählerschaft wurde ob fehlender gewachsener Parteibindungen der für Naturwissenschaftler eher typische, rational-nüchterne Pragmatismus stärker goutiert.48 Die Rahmenbedingungen des Neuanfangs der ostdeutschen Länder erschienen insofern günstig für den Erfolg von Quereinsteigern in die Politik. Nahezu alle Kabinettsmitglieder in Stolpes erster Landesregierung wiesen irgendwelche Merkmale von politischen Seiteneinsteigern auf, angefangen beim Ministerpräsidenten selbst. Zwei vorherrschende Typen politischen Quereinstiegs waren auszumachen: Ein erster Typ, der in den ersten Landesregierungen und den oberen Verwaltungsebenen oft anzutreffen war, war der des politischen Westimports. Diese brachten zwar oft wichtige und weitreichende Erfahrungen als Politiker mit, als Neulinge in den ostdeutschen Ländern konnte man bei ihnen aber eine seiteneinsteigerhafte Unkenntnis der politisch-kulturellen Gegebenheiten beobachten.49 Dann gab es da noch diejenigen mit einem Weg in die Politik ähnlich dem Platzecks und Stolpes. Über die Jahre der DDR waren sie der Politik mehr oder weniger fern gestanden, hatten vielleicht einige Erfahrungen im Umgang mit der Politik gesammelt, aber nicht als klassische Politiker schon Ämter besetzt oder politische Exekutivfunktionen wahrgenommen. Über die ereignisreichen Monate vor und nach der Wiedervereinigung hatte es sie zunächst in die überall entstehenden Oppositionsgruppen gedrängt und über die Runden Tische waren sie sukzessive in die politischen Prozesse hineingerutscht, hatten schnell die sonst jahrelangen Rekrutierungswege absolviert. Im Gegensatz zu den auch vor der Wende dezidiert (fundamental-)oppositionell orientierten Bürgerrechtlern hatten sie sich lange Zeit mit den Realitäten im Realsozialismus abgefunden, weshalb sie nun pragmatisch die konkrete Veränderung oder den kleinen Freiraum dem großen Ideal vorzogen und anpassungsbereit gegenüber den schnell wandelnden Rahmenbedingungen blieben.50 Matthias Platzeck war als Umweltminister jedenfalls kein aus dem Kabinett herausragendes Beispiel für in der Landespolitik vollkommen unerfahrene Quereinsteiger, er war im Moment der ersten Landesregierungen nach der Wiedervereinigung vielmehr ein ganz typischer Wendepolitiker, der durch die gesellschaftliche Umwälzung in sein Ministeramt gespült worden war.
Schwieriger Aufbau der neuen Ordnung Die Koalitionsarbeit begann 1990 mit dem Aufbau der Ministerien. Matthias Platzeck sorgte schnell für Unmut unter den Koalitionspartnern – und hier besonders bei der SPD –, da er sich weigerte, parteipolitische Präferenzen bei der Besetzung von Posten innerhalb seines Umweltministeriums geltend zu machen. Er sei nun mal kein Parteimensch und denke nicht in Machtkategorien, sondern schaue auf den Enthusiasmus und die Motivation seiner Mitarbeiter.51 So berief er das CDU-Mitglied Paul Engstfeld, der bis dato bei der EU-Kommission gearbeitet hatte, zum Staatssekretär und begründete dies damit, dass dieser ein Quer-
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Vgl. ebd., S. 474. Vgl. Hinck 2007, S. 28 f. 50 Vgl. ebd., S. 32. 51 Vgl. unter anderem Mara/Metzner 2006, S. 94. 49
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denker und hervorragender Organisator sei.52 Auch sammelte er bei der Rekrutierung von Mitarbeitern für das Umweltministerium hauptsächlich alte Bekannte aus seiner Zeit im Potsdamer Hygieneinstitut und seines Engagements bei der Umwelt- und Bürgerbewegung. Motivation und Enthusiasmus seien das Entscheidende bei der Arbeit im Umweltbereich, anders könne man das Arbeitspensum nicht bewältigen. Die Staatskanzlei und vor allem die SPD-Fraktion protestierten zum Teil heftig, Platzeck beharrte aber auf seinen Personalentscheidungen. Man ließ ihn schließlich gewähren, beäugte das Ressort aber lange Zeit argwöhnisch, unkte, Platzeck sei eben ein „Radikal-Ökologe“53. Gegenüber vielen Kollegen auf Bundes- oder Länderebene besaß Matthias Platzeck allerdings von Anfang an einen vielleicht entscheidenden institutionellen Vorteil. In der Kompetenzordnung innerhalb der Koalition war seine Position entschieden robuster als dies bei vielen anderen deutschen Umweltministerien der Fall war. Durch ein Einspruchsrecht im Kabinett, wie es zuvor nur Finanzministerien zugesprochen war, und die Kombination aus einem starken Raumordnungsmandat und dem Umweltschutzbereich konnte er bei vielen Kompromissen und Gesetzesvorhaben zumindest ein Veto androhen, sobald die Zugeständnisse zu einschneidend zu werden drohten.54 Zudem war der Regierungsstil Stolpes sehr auf ressortübergreifende Kompromisse zugeschnitten. In einer Ansiedlungsgruppe, in der strittige Vorhaben koordiniert und gemeinsame Lösungen abgestimmt wurden, konnte Platzeck mehr Druck ausüben, als dies gemeinhin bei Landesumweltministerien bis dato der Fall gewesen war.55 In Zeiten ökonomischer Rezession und steigender Arbeitslosigkeit war es für einen Umweltminister nicht leicht, für etwaige Vorhaben zu werben, die womöglich gar mit ökonomischen Anreizstrukturen in Konkurrenz standen. Gerade die Kabinettskollegen der Ressorts Wirtschaft (Walter Hirche, FDP), Verkehr (Jochen Wolf, SPD) und Landwirtschaft (Edwin Zimmermann, SPD) schimpften laut und deutlich über den „Verhinderungsminister“56 Platzeck, der eine schnellere wirtschaftliche Erholung verhindere.57 Um die Obstruktionsrolle innerhalb des Kabinetts nicht dauerhaft zu besetzen und das Image eines Querulanten und dogmatischen Abblockministers los zu werden, musste Platzeck sich zwischen eigenen Naturschutzvorhaben und den Forderungen der anderen Ressorts sehr vorsichtig bewegen, sich permanent kompromissbereit und am – auch ökonomischen – Gemeinwohl orientiert zeigen. Um gerade auch bei der Bevölkerung nicht das konstatierte Interesse und Verständnis für ökologische Themen zu verspielen, musste Matthias Platzeck den Anschein, er habe einzig und allein seine Ressortinteressen im Sinn, von vorneweg vermeiden. Da er zudem eine nur sechsköpfige Landtagsfraktion als Machtbasis im Rücken und obendrein sein eigenes Mandat 1992 noch zurückgegeben hatte,58 war es zwangsläufig notwendig, sich auf anderen Wegen Zustimmung und Unterstützung für seine jeweiligen Politikvorhaben zu 52
Vgl. Thieler, Jutta: Trotz allem ein Grüner, in: Märkische Allgemeine, 04.01.1991. Hinze, Albrecht: Matthias Platzeck, in: Süddeutsche Zeitung, 02.04.1991. 54 Vgl. Thieler, Jutta: Trotz allem ein Grüner, in: Märkische Allgemeine, 04.01.1991. 55 Vgl. Glöde, Hans-Jörg: Die Natur ist unser wichtigstes Kapital, und das dürfen wir nicht verschleudern, in: Neues Deutschland, 24.07.1991. 56 O.V.: Platzeck will keine neue Zerstörungswelle zulassen, in: Der Tagesspiegel, 08.01.1992. 57 Vgl. Horn, Peter-Hans: Matthias Platzeck, Umweltminister Brandenburgs, in: Berliner Zeitung, 05.01.1994. 58 Die Bündnis 90-Minister Platzeck und Birthler hatten ihre Landtagsmandate niedergelegt, um Nachrückern Platz zu machen, die sich mit mehr Zeit der parlamentarischen Arbeit widmen konnten, hatten ihre Stimmrechte innerhalb der Fraktion allerdings behalten. 53
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sichern.59 Platzeck versuchte von Anfang an, Koalitionen jenseits der Parteikonstellationen seiner Regierung zu schmieden. Er betonte oft, dass er seine politische Heimat fern der Parteien bei den Bürgerinitiativen sehe und dass er bei den Ansätzen der Grünen und der Sozialdemokraten für sich selbst eine eigene politische Schnittmenge suche.60 Auch gründete er einen Umweltbeirat, in dem in regelmäßigen Abständen alle anstehenden Gesetzesvorhaben mit der Öffentlichkeit und den relevanten zivilgesellschaftlichen Akteuren besprochen und abgestimmt werden sollten. Auf diese Weise holte er alle großen UmweltInteressenverbände, Kirchen, Gewerkschaften, sowie Unternehmer- und Bauernverband an einen Tisch und konnte sich für seine Gesetzesvorschläge Zustimmung und Durchsetzungskraft über die Einbeziehung der Öffentlichkeit sichern.61 Die Medien, die eine solche Offenheit natürlich goutierten, bezog er so weit wie möglich in seine Politik mit ein und wurde auf diese Weise schnell zu Stolpes populärstem und am stärksten in der Öffentlichkeit präsenten Minister.62
Die politische Schutzfigur: Manfred Stolpe Darüber hinaus konnte Platzeck aber auch auf starke Unterstützung durch den Ministerpräsidenten selbst zählen; Manfred Stolpe protegierte den jungen Umweltminister auch gegen zum Teil heftige Widerstände aus der sozialdemokratischen Partei. Wieder gab es eine Art Schutzherrn, der Platzeck Freiraum ließ und ihn gleichzeitig vor allzu heftigen politischen Wettern abschirmte. Manfred Stolpe hatte schnell gemerkt, dass es zu Matthias Platzeck in den Reihen der SPD keine realistische, ähnlich beliebte oder fachlich qualifizierte Alternative gab. Zweitens fühlte sich Stolpe der DDR-Bürgerbewegung, mit der er als Kirchenmann in engem Kontakt gestanden hatte, verbunden. Platzeck war aus dieser hervorgegangen und repräsentierte für viele in Brandenburg deren Ideen und Politikverständnis. Darüber hinaus war er Stolpe noch in Volkskammer-Zeiten aufgefallen, er hielt den Potsdamer für ein politisches Talent, welches er nicht ziehen lassen wollte. Und viertens kam im Laufe der ersten Legislaturperiode noch ein Moment hinzu, welches Platzeck für die kommenden Jahre eng an Manfred Stolpe binden sollte. Anfang 1992 hatte der Spiegel – und alle bedeutenden deutschen Medien folgten – über eine etwaige Stasi-Mitarbeit Stolpes berichtet.63 Der Ministerpräsident kommentierte erst kaum, dann nur mehr grummelig, gab Informationen über seinen Kenntnisstand sehr zögerlich und scheibchenweise heraus und berief sich darauf, dass er mit seinen Stasi-Kontakten eben auch dissidenten Gruppen helfen konnte. Es wurde ein Untersuchungsausschuss eingerichtet, der dem Ausmaß von Stolpes IM-Tätigkeit nachgehen sollte, Marianne Birthler vom Bündnis 90 reichte aus Protest ihren Rücktritt ein. Matthias Platzeck stellte von Anfang an klar, dass er die Stasi-Kontakte Stolpes in einem anderen Licht beurteilen würde als seine Fraktionskollegen vom Bündnis 90. Für ihn war stets klar gewesen, dass Stolpe als Spitzenfunktionär der evangelischen Kirche im Realsozialismus regelmäßige Kontakte zur Staats59
Vgl. DDP, 30.09.1992; vgl. auch Mara/Metzner 2006, S. 91. Vgl. Horn, Peter-Hans: Matthias Platzeck, Umweltminister Brandenburgs, in: Berliner Zeitung, 05.01.1994. 61 Vgl. Helling, Christiane: Krause-Vorschlag zeigt Grundhaltung, in: Neues Deutschland, 14.06.1991. 62 Vgl. o.V.: Platzeck will keine neue Zerstörungswelle zulassen, in: Der Tagesspiegel, 08.01.1992; vgl. auch Horn, Peter-Hans: Matthias Platzeck, Umweltminister Brandenburgs, in: Berliner Zeitung, 05.01.1994. 63 Vgl. o.V.: „Der erste Schritt zum Fall“, in: Der Spiegel, 20.01.1992. 60
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sicherheit unterhalten haben musste. Angeblich war Stolpes Telefonnummer unter den Oppositionsgruppen in Potsdam kursiert als eine Kontaktmöglichkeit, wenn man verhaftet worden war oder sonstige Schwierigkeiten mit der Stasi bekommen hatte.64 Auch dass Stolpe den Kontakt mit der Staatssicherheit nicht prinzipiell abgelehnt hatte, sondern die Gegenwart der DDR zu „verbessern“ suchte, hatte Platzeck eingeleuchtet, er selbst war ja auch lange Zeit nicht von einer nahenden Einheit ausgegangen. Ähnlich seinen Erfahrungen mit Juliane Nitsche im Potsdam der ausgehenden DDR deutete er die Verstrickungen und Geheimdienst-Kontakte Stolpes als notwendiges Übel und als fast zwangsläufig, wollte man sich an den damals gegenwärtigen Machtstrukturen orientieren und konkrete Verbesserungen und Freiräume abstrakten Diskussionen über eine demokratische Zukunft vorziehen. Er empfand die Kritik an Stolpes Verhalten zu DDR-Zeiten als moralisierend und verlogen, da man sich zu Oppositionszeiten der Hilfe solcher Stasi-Kontakte bewusst gewesen war und diese natürlich auch in Anspruch genommen hatte. Matthias Platzeck hielt über die Dauer des Konflikts zu Stolpe, brach darüber aber mit Günther Nooke und dem Bündnis 90, das 1994 die Koalition verließ. Platzeck hatte zuvor schon einen Weichen stellenden Schritt der Partei nicht mit vollzogen und die Fusion mit den westdeutschen Grünen abgelehnt.65 Er war zwar nur als parteiloser Kandidat für das Bündnis 90 angetreten, nun aber kehrte er zum wiederholten Male einer Partei den Rücken, weil sie ihm – über die Fusion mit den Westgrünen und die Angriffe auf den im StasiVerdacht stehenden Stolpe – zu abgehoben, borniert, auf weltfremde Prinzipien und wolkige Grundsatzfragen kapriziert erschien.66 Die Möglichkeit, weiterhin Regierungspolitik betreiben zu können, sah Matthias Platzeck nach dem hauptsächlich von Günther Nooke ausgetragenen Konflikt um Stolpe nicht mehr – insofern hatte seine Entscheidung, das Bündnis 90 zu verlassen, im Kabinett allerdings zu verbleiben, auch eine eindeutig machtpolitische und taktische Komponente. Es war für ihn die einzige Möglichkeit, auf seinem Ministeriumssessel zu verbleiben. Ob es nun sachorientierte Motive, nur auf diese Art und Weise weiterhin die notwendigen Maßnahmen in der Brandenburger Umweltpolitik treffen zu können, oder bereits die Anziehungskraft, die Verlockungen der Macht waren, die ihn zu dieser Entscheidung drängten, mag vorerst dahingestellt bleiben. Platzeck jedenfalls verbrachte das halbe Jahr bis zur nächsten Landtagswahl als Minister ohne Fraktion und Partei.67 Dass er sich über die Koalitionskrise und auch die Landtagswahlen 1994 hinaus als Nicht-SPD-Mitglied weiterhin der tatkräftigen Unterstützung und des Rückhalts Stolpes sicher sein konnte, war jedenfalls zu einem Gutteil auch der Dankbarkeit Stolpes über die Loyalität Platzecks geschuldet. In der ersten Hälfte der 1990er Jahre sollte Stolpe mehrmals Ärger im Kabinett mit seiner Weisung beziehungsweise seinem politischen Gewicht von Platzeck abwenden. Das erste politische Großprojekt Platzecks, ein Naturschutzgesetz für Brandenburg, bekam nach seiner viel diskutierten und umstrittenen Ausarbeitung bei einer Probeabstimmung im Kabinett Anfang 1992 keine Mehrheit. Erst nach dem Eingreifen des Ministerpräsidenten wurde das Prestigeprojekt des Umweltministers mit einer Stimme Mehrheit beschlossen.68 Als dann zu Beginn der 1990er Jahre das Umweltministerium in 64
Vgl. Mara/Metzner 2006, S. 62. Fast die gesamte Landtagsfraktion hatte diesen Schritt abgelehnt und war der neuen Partei Bündnis 90/Die Grünen nicht beigetreten. 66 Vgl. auch Neues Deutschland, 29.06.1995. 67 Vgl. Schmitt, Karl: Die Landtagswahlen 1994 im Osten Deutschlands. Früchte des Föderalismus: Personalisierung und Regionalisierung, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 2/1995, S. 261-295, hier S. 265. 68 Vgl. Mara/Metzner 2006, S. 93. 65
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riesigem Ausmaß den Bau von Abwasseraufbereitungsanlagen genehmigte und wegen der viel zu großen Kapazitäten damit für heftig steigende Preise beim Abwasser sorgte, wurde per Dekret die Zuständigkeit für die Abwasserregelung vom Umweltministerium auf den Innenminister übertragen, bevor ein Skandal daraus erwachsen konnte. An Matthias Platzeck blieb jedenfalls nichts hängen.69 Dass diese Art Unterstützung durch Manfred Stolpe und die starke Präsenz in den lokalen und – später – auch überregionalen Medien Matthias Platzeck im Kreise der Koalition nicht nur Freunde machte, liegt nahe. Gerade bei den Koalitionspartnern wuchs der Argwohn und Neid gegenüber dem Potsdamer, der sich zu einem der beliebtesten Landespolitiker mauserte. Gerade bei SPD und FDP sahen darüber hinaus viele eine mögliche wirtschaftliche Erholung durch mehr Nationalparks und strikte Umweltrichtlinien stark gefährdet, was die Skepsis gegenüber Platzeck noch verstärkte.
Der Mentor wird absolut: Brandenburg als Stolpe-Land Die mit der Bundestagswahl 1994 kombinierte Landtagswahl bescherte der SPD dann einen glänzenden Sieg: Stolpe, der gemeinsam mit Kurt Biedenkopf in Sachsen der weitaus populärste Ministerpräsident der neuen Bundesländer war und auch Kohl und Scharping als Kanzlerkandidaten von SPD und CDU an Zustimmungswerten um mehr als das Doppelte überragte, hatte an der Debatte um seine Stasi-Vergangenheit keinen Schaden genommen, im Gegenteil.70 Der von vielen Wählern als ungerecht empfundene Umgang mit der Vergangenheit des Ministerpräsidenten im Speziellen und den Lebenswegen in der DDR im Allgemeinen hatte viele Brandenburger vielmehr in ihrer Wahlansicht für Stolpe bestärkt. Platzeck hatte mit seinem Eintreten für seinen Ministerpräsidenten jedenfalls auch einen Nerv der Bevölkerung getroffen, vielen aus dem Herzen gesprochen71 und Manfred Stolpe beließ den parteilosen Umweltminister gegen einigen Unmut auf sozialdemokratischer Seite auf seinem Posten. Auch um die Bürgerbewegungs-Parteien in Brandenburg langfristig klein zu halten, sollte ihre bekannteste Figur in die Regierung weiter integriert werden. Seine Unabhängigkeit hatte Platzeck unter anderem dadurch unter Beweis zu stellen versucht, dass er sowohl für die Sozialdemokraten als auch für das Bündnis 90 eine Wahlempfehlung abgab. Für jene unter den sozialdemokratischen Kabinettsmitgliedern und Funktionsträgern, die zuvor schon nicht glücklich mit Platzecks Amtsführung gewesen waren, war dies eine weitere Provokation.72 Gegen den Personalvorschlag Stolpes konnte jedoch auch der Landesvorstand nicht opponieren, da die absolute Mehrheit der Landtagswahl für alle sichtbar auf den Ministerpräsidenten selbst zurück zu führen war. Dass sein politisches Durchsetzungsvermögen in einer SPD-Alleinregierung als Minister ohne Fraktion und Hausmacht nun aber noch schwieriger aufrecht zu erhalten sein würde, wurde Platzeck schnell klar.
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Vgl. ebd., S. 112. Vgl. Schmitt 1995, S. 268. 71 Vgl. oV.: Der Vormann zeigt Nerven, in: Der Spiegel, 14.06.1993; o.V.: König Kurt grüßt Super-Stolpe, in: Der Spiegel, 05.09.1994. 72 Vgl. Woldt, Martin: Der Alte und Neue, in: Junge Welt, 17.09.1994; vgl. auch Winters, Peter Jochen: Grünes Gewissen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.09.1994. 70
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Gleichzeitig wechselte Rainer Speer, SPD-Gründungsmitglied in Brandenburg und Abteilungsleiter in der Staatskanzlei, als neuer Staatssekretär ins Umweltministerium. Der enge Stolpe-Vertraute sollte – anders als der farblos gebliebene Paul Engstfeld – zu Platzecks wichtigstem Mitarbeiter und Berater werden. Zudem führte er den Umweltminister näher an die SPD heran, wurde zu seinem Verbindungsmann und Übersetzer in Parteisachen, konnte so ein Stück weit auch Platzecks fehlende Verbindung zur Regierungspartei ausgleichen. Die Berufung Speers besänftigte auch die ob der Weiterbeschäftigung Platzecks aufgebrachte SPD-Basis ein wenig. Über die Frage, wer den Wechsel Speers von der Staatskanzlei ins Umweltministerium initiierte, gibt es verschiedene Versionen.73 Letztlich profitierten beide Seiten: Stolpe, weil er seinen Umweltminister und Protegé noch näher an die SPD band, dessen Popularität er für die eigene Partei und Landesregierung zu nutzen suchte; Platzeck, weil er durch die engere Verbindung mit der Sozialdemokratie seine fehlende Rückendeckung und Hausmachtsicherung abfedern konnte und einen erfahrenen Partei- und Politikmanager gewann, der ihm in den kommenden Jahren zum unverzichtbaren Wegbereiter an die Spitze der Landespartei werden sollte.
Der nächste Schritt: Sozialdemokrat Dass die SPD in Brandenburg und insgesamt in den neuen Bundesländern personell und programmatisch viel weniger starke Strukturen ausgebildet hatte als die Sozialdemokratie im Rest der Bundesrepublik, dass das gesamte Parteiensystem – am stärksten in Brandenburg und Sachsen – viel mehr auf die Führungspersönlichkeiten ausgerichtet war,74 machte es Manfred Stolpe möglich, einen Seiteneinsteiger und Parteilosen zu einem der wichtigsten Kabinettsmitglieder werden zu lassen und ihn auch ohne Mitgliedsausweis weiter auf seinem Posten zu lassen. Dass Sticheleien und Angriffe auf Platzeck aus den Reihen der Sozialdemokratie, aus den Agrar- und Verkehrsressorts nicht nachlassen würden, war aber vorhersehbar. Insofern war Platzecks Nachgeben, sein Eingehen auf die Werbungen des Landesparteivorsitzenden Steffen Reiche im Jahr 1995 und sein Eintritt in die SPD nur folgerichtig. Matthias Platzeck scheute aber einen pompös inszenierten Eintritt in die Partei direkt nach der Landtagswahl, um sich nicht dem Verdacht des politischen Opportunismus – Eintritt gegen Ministersessel – auszusetzen.75 Allzu schnell nach der Wahl durfte er also nicht auf die Annäherungen des Landesvorsitzenden eingehen. Platzeck wollte den haut goût des Kuhhandels umschiffen und zunächst noch die schwierige Landtagsabstimmung über sein zweites großes Prestigeprojekt, den Nationalpark Unteres Odertal, abwarten. Als dieses Gebiet nach zähen Diskussionen per Landtagsbeschluss unter Schutz gestellt war, verkündete er zur Mitte des Jahres 1995 schließlich auf einer Pressekonferenz seinen Eintritt in die Stolpe-Partei.76 Er begründete diesen Schritt auf zweierlei Art und Weise: Zunächst sei es 73
Vgl. Mara/Metzner 2006, S. 109 f. Vgl. dazu exemplarisch Schmitt 1995. 75 Vgl. Mara, Michael: Visionär und Realist, in: Der Tagesspiegel, 28.06.1995. 76 Vgl. o.V.: Brandenburgs Umweltminister Platzeck wird Sozialdemokrat, in: DPA, 27.06.1995; vgl. auch Frings, Ute: Krötenschlucken für den ersten Internationalpark, in: Frankfurter Rundschau, 28.06.1995; Krauß, Matthias: Als grünes U-Boot im roten Hafen, in: Lausitzer Rundschau, 28.06.1995. 74
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ihm ohne SPD-Mitgliedschaft in einer Alleinregierung fast unmöglich, politisch zu arbeiten, nur durch eine Parteimitgliedschaft sah er sich in der Lage, seine auf ökologische und soziale Komponenten ausgerichtete Politik in Brandenburg fortsetzen zu können. Darüber hinaus habe er sich aber schon immer der SPD nahe gefühlt, da ein Großvater und gar ein Urgroßvater einst bei den Sozialdemokraten aktiv gewesen seien.77 In der Presselandschaft wurde der Schritt jedenfalls ohne große Aufregung kommentiert, man hatte bereits damit gerechnet.78 Mit den sozialdemokratischen Genossen stand er allerdings weiterhin in einer eher schwierigen Beziehung. Das betont unbekümmerte, an sachlichen und fachlichen Entscheidungskriterien und kaum parteitaktisch ausgerichtete Auftreten des Potsdamers sowie ganz grundsätzlich seine umweltschutzpolitischen Ansichten verschafften ihm keinen Empfang mit offenen Armen. Noch ein Jahr nach seinem Beitritt wurde er nicht in den Landesvorstand gewählt, sondern verlor eine fällige Stichwahl gegen einen kaum bekannten Bewerber.79 Wenn man auch Stolpes Personalentscheidungen nichts entgegen zu setzen hatte, so wollte man doch wenigstens ein kleines Ausrufezeichen setzen, Platzeck nicht gleich voraussetzungslos in sämtliche Gremien wählen und ihn die – mittlerweile – geläufigen innerparteilichen Aufstiegswege allesamt überspringen lassen.
Der Märtyrer von der Oder Zur Mitte der Legislaturperiode dann brach mit der Oderflut über Brandenburg und weite Teile der angrenzenden polnischen Landstriche eine Katastrophe herein, die sich für Matthias Platzeck im Hinblick auf seine politische Laufbahn als Glücksfall heraus stellen sollte. Für politische Karrieren können öffentliche, dramatische Notsituationen Wendepunkte darstellen, die je nach Agieren der Beteiligten Treibstoff oder Bremssteine für den weiteren Weg sind. Die Bewährung eines Politikers unter hohem Druck kann ihn auszeichnen als Führungsfigur, die trotz starker Stressintensität nüchtern, rational und rasch die geforderten Entscheidungen treffen kann, die folglich auch für höhere Ämter qualifiziert sein mag – während ein Zaudern oder Versagen in ähnlichen Lagen ein schnelles Ende der Hoffnungen auf einen weiteren politische Aufstieg bedeuten mag. Matthias Platzeck nahm die auf Brandenburg zurollende Flutwelle aus tschechischen und polnischen Regengebieten als einer der ersten Landespolitiker ernst. Obwohl die Nachrichtenlage aus den Nachbarländern zunächst widersprüchlich war, was das tatsächliche Ausmaß der Pegelstände anging, sagte er seinen anstehenden Urlaub ab und verlegte seinen engsten Mitarbeiterstab von Potsdam in ein Hotel nach Frankfurt an der Oder.80 Platzeck war zuvor formal gar nicht der für Hochwasserkatastrophen und deren Bewältigung zuständige Minister, dies war der Geschäftsordnung der Landesregierung nach der Innenminister Alwin Ziel. Stolpe und Platzeck trauten dem als etwas zögerlich und grau geltenden Ziel einen medienwirksamen Kampf gegen die Fluten jedoch nicht zu und Platzeck übernahm ohne Kabinettsbeschluss die Leitung der Krisenstäbe.81 Ziel musste zurück stehen. Dass er 77
Vgl. Mara, Michael: Visionär und Realist, in: Der Tagesspiegel, 28.06.1995. Vgl. exemplarisch Müller, Michael: Kronprinz in Spe?, in: Neues Deutschland, 29.06.1995. Vgl. o.V.: Wahlergebnisse Landesparteitag am 16.Juni 1996 in Schwedt, in: Vorwärts, H. 7/1996. 80 Vgl. Mara/Metzner 2006, S. 120 f.; vgl. auch Berliner Zeitung, 17.07.1997. 81 Vgl. Schuler, Ralf: Pragmatiker mit Perspektive, in: Die Welt, 09.08.1997. 78 79
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von Anfang an darauf drängte, in der Hochwassersituation eine entscheidende Rolle zu spielen, lässt einen politischen Instinkt erahnen, der über das für Seiteneinsteiger oft als etwas naiv vermutete Maß weit hinaus geht. Ohne seine Rolle gering schätzen oder klein reden zu wollen, so war Platzecks persönliche und wichtigste Funktion im Rahmen der Hochwasserbekämpfung doch eindeutig symbolischer Natur. Er fungierte als Mittler zwischen den zunehmend erschöpften, gegen die drohenden Deichbrüche ankämpfenden Soldaten und Freiwilligen, den um ihr Hab und Gut bangenden Anwohnern – ständig in der Angst vor absichtlichen beziehungsweise taktischen Überflutungen und Gebietsaufgaben, um wiederum andere Regionen zu retten – und der in der politischen Sommerpause sich auf das Überschwemmungsgebiet stürzenden Öffentlichkeit. Dass Matthias Platzeck innerhalb von wenigen Wochen von einem außerhalb Brandenburgs nur mehr Fachleuten bekannten Umweltminister zu einem Liebling der gesamtdeutschen Medienlandschaft avancierte, hatte viel mit der Art und Weise zu tun, wie er diese Rolle ausfüllte. Phänotypisch passte er perfekt in die mit Heldentum und Dramatik aufgeladenen Berichte vom schier aussichtslosen Kampf um die schützenden Deichkronen: Platzeck blieb die gesamte Hochwasserdauer vor Ort im bedrohten Frankfurt an der Oder und fuhr pausenlos die Flussabschnitte ab, sprach mit Helfern und Anwohnern, gab tagtäglich Pressekonferenzen, in denen er in nüchternem und sachlichem Tonfall den aktuellen Stand der Bemühungen wiedergab. Er stand – unrasiert und übermüdet – für die unerlässliche Anstrengung, aber auch für das Nicht-aufgeben-Wollen aller Beteiligten über lange Tage der kaum sinkenden Wasserpegel. Darüber hinaus kannte er sich in den bedrohten Gebieten bestens aus, hatte viele der kleinen Ortschaften schon zuvor als Umweltminister kennen gelernt, traf als gebürtiger Brandenburger gegenüber den Anwohnern den richtigen Ton und konnte gegenüber der Medienöffentlichkeit die lokalen Eigenheiten Ostbrandenburgs, die Deichverläufe und potenziellen Bruchstellen sowie die Bedeutung der Schäden für die Region sachkundig erläutern.82 Aber auch wenn – wie schon erwähnt – sein Instinkt ihm half, die Flut als drohende Katastrophe zu erahnen und ihm die „Deichgrafen“83-Rolle erst ermöglichte, so sollte doch nicht übersehen werden, dass ein großer Teil auch schlichtweg glücklichen Zufällen geschuldet waren. Zwar hatte das Umweltministerium in den Jahren zuvor beim Bau und bei der Instandhaltung der Deiche trotz klammer Haushaltslage nicht gespart und selbige waren nach Expertenuntersuchungen vor der Flut in einem guten Zustand gewesen.84 Dass die Schutzwälle in Brandenburg aber schlussendlich den Wasserständen größtenteils standhalten konnten – wenn auch nur sehr knapp –, hatte man zu einem großen Teil den desolaten Deichanlagen in den Nachbarländern zu verdanken. Wenn diese dort nicht zuvor gebrochen wären, hätte es dadurch nicht in Polen und Tschechien weiträumige, viel stärkere Überschwemmungen gegeben, so hätte ein noch größerer Wasserdruck spätestens in Brandenburg die Deiche zum Bersten gebracht – mit allen Konsequenzen für Land und Politik.85 Dass in Brandenburg im Gegensatz zu den Nachbarländern keine Todesopfer zu beklagen waren, war somit auch ein Stück weit den Opfern in Polen zu verdanken, eine Größe, auf
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Vgl. Dieckmann, Christoph: Grüner Fisch im roten Meer, in: Die Zeit, 01.08.1997. Weis, Jörg Otto/Frings, Ute: Überspülte Landschaften, in: Frankfurter Rundschau, 23.07.1997. Für die Deiche war – anders als bei der Hochwasserbekämpfung – das Umweltministerium verantwortlich. 85 Vgl. Jacobs, Maike: „Der Begriff Katastrophe passt für Brandenburg nicht“, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 05.09.1997. 83 84
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die Platzeck keinen Einfluss hatte, die den Erfolg seiner Bemühungen aber sehr wohl entscheidend mitbestimmte. Auch die für eine solche Notsituation vergleichsweise reibungslose Organisation der Deichreparaturbemühungen lag nicht allein in Platzecks Hand. Das schnelle Einbinden der Bundeswehr, von deren Logistik und Befehlsstrukturen, schuf rasch klare Hierarchien, in denen Anweisungen unkompliziert übermittelt und ausgeführt werden konnten – eine wichtige Voraussetzung, um auf erratisch wechselnde Gefahrenherde an verschiedensten Deichabschnitten reagieren zu können. Die Bilder, die Matthias Platzeck mit den unvermeidlichen Besuchern der Bonner Politprominenz an der Oder zeigten, gaben ihm andererseits in seinen umweltpolitischen Standpunkten recht. Sein zuvor oft bemühtes Credo von den Flüssen, die mehr Raum bräuchten, übernahmen angesichts der Fluten selbst der Umweltpolitik eher fern stehende Politiker wie der amtierende Bundeskanzler Kohl. Auch waren die im Odertal ausgewiesenen Naturschutzgebiete nun von großem Nutzen, da sie ohne Schäden geflutet werden konnten und so mithalfen, den Druck an anderen Deichabschnitten zu mildern. Platzeck stand nach der Flut als jemand da, der im Recht gewesen war, obwohl auch seine eigene Partei ihn für seine Ideen oder Vorschläge oft angefeindet hatte.86 Letztendlich bedeutete die ElbeOderflut für den Politiker Matthias Platzeck den Abschluss eines Wandlungsprozesses vom Seiteneinsteiger und Umweltpolitiker hin zu einem politischen Generalisten, der sich anschickte, die Ebene der Fachpolitik hinter sich zu lassen. In der Bevölkerung war sein Ansehen noch weiter gestiegen, er war bundesweit zu einem Liebling der Medien geworden, die auf der Suche nach unverbrauchten Gesichtern und markanten Geschichten bei ihm fündig geworden waren.87 In den Augen der Wähler bewährte sich Platzeck im Laufe der Oderflut nicht nur – wie zuvor – als authentischer, ehrlicher und umsichtiger Umweltpolitiker, sondern als verlässliche Führungsfigur in Zeiten der Bedrohung, als nüchterner Kopf und sehr sachlicher Analyst, der unter großer Anspannung und enormem Zeitdruck pragmatisch und – wo nötig – auch ganz unorthodox und schnell Entscheidungen zu treffen vermochte. Dass eine naturwissenschaftliche Prägung und Herangehensweise, die rational Handlungsoptionen durchspielt, Spielräume auslotet und Vor- und Nachteile ruhig abwägt, in einer solchen Situation von großem Vorteil sein kann, liegt auf der Hand. Auch bei seiner Partei konnte Platzeck mit der Rolle des „Deichgrafen“ und Fluthelfers an Zustimmung gewinnen. Nach dem Abklingen der Wassermassen und seiner Rückkehr nach Potsdam wurde er von der SPD-Landtagsfraktion regelrecht begeistert und mit stehendem Applaus empfangen.88 Er galt immer stärker als Nachfolgehoffnung für den Posten des Ministerpräsidenten, als jemand, der die herausragende Stellung der Sozialdemokraten Brandenburgs auch über die Ära Stolpe hinaus sichern könnte, angesichts seiner Zustimmungswerte und nun auch angesichts seiner politischen Rolle in der Landespolitik, die unübersehbar über die Ressortpolitik des Umweltschutzes hinausdrängte. Natürlich war nicht alle zuvor herrschende Skepsis über eine allzu wirtschaftsfeindliche Umweltpolitik, aller Neid über seinen privilegierten Zugang zu Stolpe plötzlich der ungebremsten Begeis-
86 Vgl. Mara, Michael: Der Deichgraf, in: Der Tagesspiegel, 26.07.1997; vgl. auch Theyssen, Andreas: Der Krisengewinnler, in: Die Woche, 08.08.1997. 87 Matthias Platzeck bekam nach der Flut für seine Bemühungen gar die „Goldene Kamera“ verliehen. 88 Vgl. Heuwagen, Marianne: Blumen für den Umweltminister, in: Süddeutsche Zeitung, 20.08.1997.
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terung gewichen. Aber der Vorteil, den nun auch die SPD im Land aus ihrem populären Umweltminister zog, ließ die Skeptiker doch verstummen.
Zurück nach Potsdam: Oberbürgermeister Darüber hinaus stellte sich Matthias Platzeck mit einer weiteren Entscheidung in den Dienst der Partei, die ihm weit über ihre Grenzen hinaus Respekt einbrachte. Nach einem Korruptionsskandal um den Potsdamer Baudezernenten, der erst nach langem Zögern und nur sehr widerwillig demissioniert worden war, forderten CDU und Grüne sowie das Bürgerbündnis eine vorzeitige Abwahl des entscheidungsschwachen, zurückgezogenen und in der Bevölkerung nicht gerade beliebten Oberbürgermeisters Horst Gramlich.89 Die PDS witterte ihre Chance und warb öffentlich um eine Koalition, um signalwirksam hoffähig zu werden und ein Bürgerbegehren gegen Gramlich zu verhindern. Stolpe sah sich in einer Zwickmühle zwischen den nicht abreißenden Negativschlagzeilen um eine unfähige Verwaltung in der Landeshauptstadt und einer im Vorfeld der Bundestagswahl 1998 mehr als ungelegen erscheinenden Debatte um mögliche Koalitionen der Sozialdemokraten mit der PDS.90 Der gemeinsam mit Steffen Reiche und Rainer Speer eingefädelte politische Befreiungsschlag war die Ankündigung einer Kandidatur von Matthias Platzeck als Oberbürgermeister Potsdams. Allein die Erklärung Platzeck, er würde im Falle einer Neuwahl als Kandidat für die SPD antreten, besaß schon den Charakter einer Lösung der Potsdamer Krise. Die nötigen Unterschriften wurden schnell erreicht, in einem Bürgerentscheid der Oberbürgermeister abgesetzt und der Neuwahltermin auf den Tag der Bundestagswahl 1998 gelegt. Platzeck hatte sich zuvor geziert, hatte die erkennbaren Risiken der Übernahme einer als lahm, zäh und inkompetent verschrienen Stadtverwaltung gescheut. Doch Stolpe und Reiche hatten ihn geradezu bekniet, die Aufgabe zu übernehmen.91 Auch die Tatsache, dass sein eigener Staatssekretär als Vorsitzender der Potsdamer SPD fungierte, mag ein Überzeugen des Umweltministers erleichtert haben. Ein Verheddern in lokalen Parteiverstrickungen erschien insofern weniger bedrohlich, als dass dieser zumindest zum lokalen Vorstand sehr enge Verbindungen unterhielt. Wohl wissend, dass er im Erfolgsfall für eine Nachfolge Stolpes kaum zu umgehen war, stimmte Platzeck schließlich doch zu und konnte so seine Brandenburger Verwurzelung noch ein weiteres Mal deutlich unterstreichen. Er gerierte sich als ein Sohn der Stadt, der nun – da die Stadt in Not war – von der Landespolitik zur kommunalen Ebene zurückkehrte.92 Für seine persönliche Glaubwürdigkeit bei den Brandenburger Wählern war dies auch deswegen ein sehr geschickter Schachzug, weil er sich vom Range eines Ministers kommend auch finanziell schlechter stellte – eine Konstellation, auf die hinzuweisen nie vergessen wurde.93 Und auch bei den Sozialdemokraten selbst konnte Platzeck auf diese Weise an Sympathie gewinnen, stellte er sich doch in den Dienst der Partei, als diese ihn brauchte. Die Funktionäre der eigenen Partei jedenfalls dankten ihm die Kandidatur und wählten ihn im Juli 1998 – gänzlich anders als noch drei 89 Vgl. Metzner, Thorsten: Platzeck will Oberbürgermeister von Potsdam werden, in: Der Tagesspiegel, 18.02.1998. 90 Vgl. Karutz, Hans-Rüdiger: Auf verschlungenen Pfaden immer weiter voran, in: Die Welt, 18.02.1998. 91 Vgl. Mara, Michael: Kein Bedauern für Gramlich, in: Der Tagesspiegel, 18.02.1998; o.V.: Rückhalt bei Papst Manfred, in: Der Spiegel, 23.02.1998. 92 Vgl. o.V.: Platzeck für Streit über das Schloß, in: Der Tagesspiegel, 02.03.1998. 93 Vgl. Mara, Michael: Kein Bedauern für Gramlich, in: Der Tagesspiegel, 18.02.1998.
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Jahre zuvor – mit dem weitaus besten Ergebnis aller gewählten Beisitzer in den Landesvorstand.94 Darüber hinaus bot der Abstecher in die Kommunalpolitik für Matthias Platzeck die Möglichkeit, eine parteipolitische Verwurzelung von Grund auf nachzuholen, sich nachträglich eine Hausmacht auszubauen, die er für eine spätere, gewichtige Rolle in der Landespolitik brauchen würde.95 Ein engerer Kontakt zur Parteibasis, zu den innerparteilich einflussreichen Funktionsträgern der Bezirks- und Stadtverbandsebenen war ihm als Oberbürgermeister jedenfalls erleichtert. Letztlich gewann Matthias Platzeck die fällige Wahl mit deutlichen 63,5 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang, abgeschlagen dahinter landeten die Kandidaten der PDS (25 Prozent) und der CDU (acht Prozent). Auch die SPD in Potsdam profitierte von der Ausstrahlung des prominenten Landesministers, steigerte sich um acht Prozentpunkte und verdrängte die PDS als stärkste Fraktion der Stadtverordnetenversammlung.96 Gegen die PDS-Fraktion im Stadtrat war trotzdem nur schwer zu regieren. Die Gräben zwischen den sich als Wendeverlierer fühlenden, an der DDR auch noch hängenden Potsdamern und den nach der Wiedervereinigung in die Potsdamer Villenviertel gezogenen Neuanwohnern waren ausgeprägt.97 Durch die Nähe zu Berlin stand Potsdam Ende der 1990er Jahre in wirtschaftlichen Globaldaten vergleichsweise nicht allzu schlecht da.98 Ein großer Teil der Unzufriedenheit mit der Stadtverwaltung war daher schlichtweg auf die Stimmungslage zurückzuführen, die innerhalb der Stadt durch die Art der Kommunikation und die Abkapselung und Arroganz der obersten Bürgervertreter gegenüber ihren Bürgern entstanden war. Als „Jammerstadt des Ostens“99 war Potsdam tituliert worden. Matthias Platzeck dagegen stand seit seinem Fluteinsatz für positive Motivation, Aufopferungsbereitschaft und lächelnde Offenheit. Die von der eigenen Stadtverwaltung enttäuschten Hauptstädter atmeten auf, als der neue Oberbürgermeister Platzeck sein Amt antrat und dieser verstand es schnell, durch kleine Änderungen und eine weiträumige Einbindung lokaler Akteure einen Politikwechsel zu suggerieren, der durch harte politische Fakten sicherlich nicht hätte unterstrichen werden können. Zunächst lehnte Platzeck es ab, eine Koalition in der Stadtverordnetenversammlung anzustreben, er wollte den parteipolitischen Interessen keinen Raum mit großer Signalkraft einräumen. Vielmehr sollten je nach Interessenlage der Stadt wechselnde Mehrheiten gesucht werden, um Entscheidungen zu fällen und durchzusetzen. Er wolle alle Potsdamer einbinden und „zum Mittun einladen“100, die in der Vergangenheit aufgeworfenen Gräben zuschütten und in einen offenen Dialog aller treten. Die Parallelen zu den Ansätzen der Argus-Arbeit der Vorwendezeit streichen noch einmal Platzecks politische Prägungen he-
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Vgl. o.V.: Ergebnisse bei den Landesvorstandwahlen, in: Vorwärts, H. 7/1998. Vgl. Rogge, Joachim: Der Held des Oderhochwassers liegt in Potsdam vorn, in: General-Anzeiger, 25.09.1998. 96 Vgl. Krauß, Matthias: Matthias Platzeck ist der neue Oberbürgermeister Potsdams, in: Lausitzer Rundschau, 28.09.1998. 97 vgl. Mara, Michael: Potsdam erwartet seinen Retter, in: Der Tagesspiegel, 05.11.1998; vgl. auch o.V.: Zementierte Ungleichheit, in: Die Zeit, 02.09.1999. 98 Vgl. Küpper, Mechthild: Potsdam ist anderswo, in: Süddeutsche Zeitung, 24.09.1998. 99 Weis, Jörg Otto: Der überwältigende Sieg in Potsdam bereitet dem „Deichgrafen“ nicht nur Freude, in: Frankfurter Rundschau, 29.08.1998. 100 Winters, Peter Jochen: Mit dem Glauben an die Kraft des preußischen Erbes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.09.1998. 95
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raus: Die Betonung des Eigenengagements, der ausgeprägte Pragmatismus und eine möglichst offene Diskussion unter Einbeziehung aller Beteiligten. Aber auch ein Oberbürgermeister Platzeck musste sich den Restriktionen eines knappen Budgets und der innerstädtischen Machtverteilungen unterwerfen. Und so war ein erster Haushaltsplan schon schnell nach der Amtseinführung entworfen und sorgte dafür, dass die Begeisterung über den neuen Stil der Stadtpolitik nicht überschäumte. Gerade auch im kulturellen Bereich mussten die Potsdamer zum Teil empfindliche Einschnitte hinnehmen.101 Letztlich aber blieb in der Beurteilung seiner Arbeit als Oberbürgermeister durch die Potsdamer Bürger und in der Presseberichterstattung der politische Stimmungswechsel in der Landeshauptstadt als Errungenschaft vorherrschend. Dass mehrmals ein Haushaltsentwurf nicht genehmigt und gerügt wurde sowie neu vorgelegt werden musste, dass die Wirtschaftslage auch nicht viel rosiger wurde, und dass Matthias Platzeck schlussendlich weit vor Ende der Legislaturperiode ins Ministerpräsidentenamt wechselte – all dies wurde zwar erwähnt, zu einigen kritischen Kommentaren reichte es allenfalls in der bundesweiten Presse.102 Die Brandenburger dankten dem Potsdamer seinen Einsatz für die Stadt und die Tatsache, dass der Imagewandel der Stadt und ihrer Verwaltung durch den offensiv freundlich auftretenden Platzeck angeschoben und verkörpert wurde. Im Nachhinein betrachtet, stellen der Gegenwind und die kritischen Kommentare, denen Platzeck an dieser Stelle und in dieser Form zum ersten Mal in seiner politischen Karriere ausgesetzt war, ein neues Mosaiksteinchen in seiner Wandlung zum politischen Generalisten und späteren Ministerpräsidenten Brandenburgs dar. Hatte die Oderflut, deren Bewältigung, seine erfolgreiche Bilanz als Umweltminister und seine enorme Beliebtheit im Land ihn als nervenstarken, als offen und freundlich konnotierten, diplomatischen und fachlich versierten Politiker herausgestellt, so kam nun ein ergänzendes Moment hinzu, welches sicherlich für eine politische Führungsrolle fast unabdingbar sein mag: Die Fähigkeit, auch unpopuläre Entscheidungen innerparteilich und öffentlich durchzusetzen, politischen Gegenwind auszuhalten und als notwendig erachtete Weichenstellungen zu verteidigen. Auch für einen Kandidaten im Wartestand – als der Platzeck ja immer stärker auch wahrgenommen wurde –war und ist eine solche Durchsetzungsfähigkeit sicherlich von entscheidender Wichtigkeit. Dass er mit der Amtszeit in Potsdam endgültig die Position des Seiteneinsteigers und den Geruch des etwas unkonventionellen Lokalpolitikers verlor, veränderte langfristig die Erfolgs- und Rahmenbedingungen seiner politischen Laufbahn. Die Wandlung zum Parteipolitiker, der nicht nur einem Fachgebiet verpflichtet war, ließ bei Matthias Platzeck den politischen Stil der positiven Motivation und des optimistischen Pragmatismus vor die jeweiligen inhaltlichen Fragen treten. Der politische Ton Platzecks wurde damit mehr und mehr zu seinem Markenzeichen. Über die rein pragmatische, jeweils an aktuellen Gesichtspunkten orientierte Bewältigung des politischen Alltagsgeschäfts hinaus gelang es Platzeck aber nicht, in Potsdam eine politische Perspektive aufzuzeigen, die ernsthafte Entwicklungsalternativen aufzeigte – von dem schon beschriebenen offensiv vertretenen Stimmungswandel und der Betonung des Modernitätspostulats einmal abgesehen. Dies wurde ihm daher bald in der eigenen Partei und später vermehrt auch darüber hinaus vorge101
Vgl. Mara/Metzner 2006, S. 135. Vgl. exemplarisch Berg, Stefan: Monarch aus Potsdam, in: Der Spiegel, 19.06.2000; Kowitz, Dorit: Notorischer Aspirant für Höheres, in: Süddeutsche Zeitung, 18.06.2002; Billerbeck, Liliane von: Der ewige Sympathikus, in: Die Zeit, 27.06.2002. 102
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halten: dass er sich für eine zukünftige Führungsrolle in der Landespartei und der regierung viel zu sehr auf sein Markenzeichen der Pragmatismus und der Freundlichkeit, auf sein gewinnendes Wesen, zurückziehe und zu wenig Gewicht darauf lege, tatsächliche politische Projekte oder ein inhaltliches Profil zu entwickeln, das über Stolpe hinausweise.103
Preußische Konsequenz: Stolpes langsamer Abschied Die 1999 abgehaltenen Landtagswahlen in Brandenburg hatten eine fast schon erwartbare Quittung gebracht für die in der Vergangenheit doch erdrückende Dominanz der Sozialdemokraten. Die Verschleißerscheinungen und Verkrustungen einer absoluten Mehrheit hatten zu einer Häufung von Affären und Skandalen geführt, die nur wenige Minister ausnahm, sodass die – neben Manfred Stolpe – populärsten Landespolitiker entweder nicht mehr in der Landesregierung vertreten oder aber politisch und moralisch beschädigt waren. Der Popularitätseinbruch der rot-grünen Bundesregierung, die zum Zeitpunkt der Landtagswahlen ein knappes Jahr im Amt war, hatte zudem die Rahmenbedingungen verändert. Stolpe hatte zwar zuvor schon stets seine Unabhängigkeit gegenüber der Partei und besonders der Bundespolitik betont, eine Bundesregierung unter einem Kanzler seiner eigenen Partei aber führte dazu, dass die Bundespolitik 1999 als Faktor bei den Landtagswahlen deutlich stärker firmierte als bei den Urnengängen zuvor.104 Das Ergebnis von knapp unter vierzig Prozent für die SPD und deutliche Zugewinne von CDU (plus acht Prozentpunkte) und PDS (plus fünf Prozentpunkte) machten eine Koalition unumgänglich. Dabei spalteten sich die Sozialdemokraten entlang der Koalitionspräferenzen in zwei Lager, dessen eines ein Zusammengehen mit der PDS durchsetzen wollte. Der Landesvorsitzende Steffen Reiche, Stolpe selber und auch Matthias Platzeck sprachen sich von Anfang an dagegen für eine Koalition mit den Christdemokraten aus. Die zerstrittene und unter eklatanter Personalnot leidende Landes-CDU versprach ein angenehmerer Koalitionspartner zu sein als die selbstbewussten Postsozialisten unter Lothar Bisky. Letztlich war allerdings auch die wirtschafts- und sozialpolitische Ausrichtung der CDU für die einer pragmatischeren und „moderneren“ Auffassung von Politik anhängenden Sozialdemokraten wie Matthias Platzeck ein ausschlaggebendes Argument gewesen. Die von der PDS vorgeschlagene „große Koalition der sozialen Gerechtigkeit“105 klang ihnen altbacken und setzte sich zu deutlich ab von Gerhard Schröders Politik der Neuen Mitte, welche die SPD im Bund verfolgte. Stolpe war nun seit einem knappen Jahrzehnt Ministerpräsident und die prägende Figur der Sozialdemokraten. Er hatte für einen überparteilichen, präsidialen Regierungsstil gestanden, der nun in einer Koalition – im Verbund mit den Christdemokraten zumal – so nicht mehr aufrecht zu erhalten sein würde. Über die drastischen Einbußen bei den Wahlen geriet der Landesvorsitzende Reiche unter Druck und Spekulationen über eine Ablösung machten bald nach den Wahlen die Runde. Dass bei vielen Genossen sich die Einsicht 103
Vgl. exemplarisch Hartwig, Gunther: Matthias Platzeck, in: Stuttgarter Nachrichten, 17.11.1999; Nolte, Barbara: Der Graf lässt bitten, in: Der Tagesspiegel, 23.05.2000. 104 Vgl. Schmitt, Karl: Die Landtagswahlen in Brandenburg und Thüringen vom 5. und 12. September 1999: Landespolitische Entscheidungen im Schlagschatten der Bundespolitik, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 1/2000, S. 43-68, hier S. 62. 105 Ebd., S. 64.
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Bahn brach, auf mittlere Sicht müsse ein geeigneter Nachfolger auch für Stolpe gefunden werden, wollte man die Stellung der immer noch deutlich stärksten Partei im Land nicht aufs Spiel setzen, überrascht ebenfalls wenig. Und dass, drittens, Matthias Platzeck für beide Positionen – zuerst und verbindlicher beim Landesvorsitz, auf lange Sicht als Ministerpräsident – als der quasi natürliche Kandidat erschien, war ebenso wenig verblüffend. Durch seinen Wechsel nach Potsdam und die auch dadurch weiterhin starken Popularitätswerte war er für die Führungsnachfolge innerhalb der Landes-SPD kaum zu umgehen. Und wie um den Anspruch Platzecks auf den Posten des Ministerpräsidenten zu festigen, wechselte sein Staatssekretär im Umweltministerium zurück in die Staatskanzlei und übernahm deren Leitung. Rainer Speer hatte das Umweltressort fest im Griff gehabt und Platzeck fester an die SPD gebunden. Der Vertraute von Manfred Stolpe und einer der engsten Mitarbeiter von Matthias Platzeck stellte von nun an eine schnelle und reibungslose Verbindung zwischen dem Potsdamer Rathaus und der Staatskanzlei sicher. Als einer der mächtigsten Männer in der Landesregierung konnte er die Überleitung des Ministerpräsidentenamts von Manfred Stolpe auf Matthias Platzeck vorbereiten.
In die Staatskanzlei: Fazit und Ausblick Die Entscheidung Stolpes, ohne einen ganz unmittelbaren Anlass zur Mitte der Legislaturperiode 2002 das Amt des Ministerpräsidenten an Matthias Platzeck abzugeben, überrascht allerdings doch ein wenig. Zwar war die innerparteiliche Personalentwicklung zielgerichtet auf eine Staffelübergabe an Matthias Platzeck hinaus gelaufen, und auch in der Art und Weise, wie der Übergang und die Durchführung zwischen Rainer Speer, dem Ministerpräsidenten selbst und dem Potsdamer Oberbürgermeister verabredet worden waren, ähnelte der Vorgang vorherigen Postenrochaden Platzecks. Derart unspektakuläre, einvernehmliche Übergaben und Abtritte von langjährig in Spitzenämtern fungierenden Politikern erscheinen aber doch zumindest etwas erstaunlich, setzt man die Härte und Zähigkeit, die Ausdauer, Ungeduld und das Drängende voraus, die bei solch führenden Exekutivposten gemeinhin als zwingend notwendige persönliche Eigenschaften angenommen werden. Stolpes gelassene, manchmal auch etwas zurückgezogene, preußisch-brummige Art ließ ihn jedoch fürchten, irgendwann den Zeitpunkt für einen geordneten, kontrollierten Rückzug aus der Politik zu verpassen.106 Ein zähes Taktieren mit dem Ziel, so lang wie möglich den Ministersessel halten zu können, sich darüber womöglich selbst zu beschädigen, wollte er unter allen Umständen vermeiden. Stolpe hatte mehr als zwölf Jahre lang Matthias Platzeck als Ministerpräsident gegen vielerlei Widerstände in der SPD und den Brandenburger Koalitionsregierungen protegiert. Neben der bloßen Einsicht, dass es neben Matthias Platzeck 2002 einfach keine andere Figur gab, die eine Kontinuität als stärkste Partei sichern konnte, wird die Dankbarkeit und Anerkennung über die von Platzeck gezeigte Loyalität eine mit entscheidende Rolle gespielt haben. Diese Seite Platzecks, die Unterstützung, die dieser für seinen Regierungschef stets äußerte, war die andere Seite derselben Medaille. Durch die politische Sozialisation in der ausgehenden DDR hatte er den Umgang mit Autoritäten gelernt, hatte sich in Geduld geübt und erfahren, dass ein Drängen oft das Gegenteil des Gewollten bewirkte. Und er 106
Vgl. Kowitz, Dorit: Das Küchen-Kabinett, in: Süddeutsche Zeitung, 24.06.2002.
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hatte selbst bei seiner Arbeit für die Argus-Initiative gespürt, wie wichtig Mentoren oder schützende Hände waren, um eigenen Freiraum und Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten. Platzeck hatte diese Erfahrungen verinnerlicht und auf eine Nachfolge Stolpes keineswegs gedrängt, den Landesvater nicht ungeduldig zu treiben oder sich gegen den Ministerpräsidenten zu profilieren versucht. Platzeck hatte aber andererseits auch nie fürchten müssen, Stolpes und Speers Gunst wieder zu verlieren. Speer unterstützte Platzeck auch, um eigene Aufstiegswege zu sichern, sein weiterer Aufstieg war vorteilhaft mit dem Platzecks verknüpft. Insofern war die zitierte Geduld für Matthias Platzeck auch leicht aufzubringen, erlaubte sie ihm doch ein Hineinwachsen in die politische Spitze, ohne dass er Gefahr lief, auf ungewohntem Terrain zu stolpern – wie es so vielen neuen politischen Spitzenkräften in den Jahren nach der Wende in den ostdeutschen Ländern ergangen war. Diese Geduld war auch deswegen geradezu zentral für Matthias Platzeck, da er als politischer Quereinsteiger in der SPD nicht in den Verdacht geraten durfte, ein politischer Ehrgeizling und Karrierist zu sein. Die persönliche Glaubwürdigkeit und Authentizität seines Vorwendeengagements in der Umweltbewegung aufrecht zu erhalten, war – im Nachblick – unerlässlich, um das öffentlichkeitswirksame Bild des um seine Heimat Potsdam und Brandenburg sich sorgenden Politikers aufrecht zu erhalten. Dass er sich auf diese Art und Weise eine politische Basis und Hausmacht zu schaffen vermochte – zuerst vermittelt über die regionalen Medien, dann über seine Popularität in Brandenburg und Potsdam, schließlich über den SPDLandesverband –, zeigt, dass er schnell verstanden hatte, wie wichtig solcherart Rückzugsbasen zur Absicherung seiner politischen Arbeit waren. Und die Tatsache, dass er sich über sehr lange Zeit scheute, aus dem Brandenburger Wirkungskreis herauszutreten und in der Bundespolitik Verantwortung zu übernehmen, zeigt, dass er sich der Bedeutung einer lokalen Verwurzelung bewusst war. So etwa nahm Platzeck als Potsdamer Oberbürgermeister zunächst auf Bitten Schröders den Vorsitz einer Kommission für nachhaltige Entwicklung an, legte ihn aber bald darauf wieder nieder, um seine Prioritätenstruktur öffentlich deutlich machen zu können, die da hieß: Potsdam (und Brandenburg) zuerst.107 Matthias Platzeck hatte sich zu Beginn seiner politischen Laufbahn im noch jungen Brandenburg zunächst auf eine Außenposition zurück gezogen und – mit Hilfe von Medien und Öffentlichkeit – Politik als demokratische Verlängerung seines Umweltengagements noch zu Diktaturzeiten betrieben. Anders als bei anderen Seiteneinsteigern hatte es bei Platzeck nie die Unabhängigkeit und Distanz sichernde etablierte Alternative einer beruflichen Perspektive außerhalb der Landespolitik gegeben, zumindest nicht manifest. Insofern erscheint die Suche nach einer möglichen Verstetigung des Quereinstiegs, nach dem Aufbau von politischen Unterstützerstrukturen, die über die lokale Presse und Öffentlichkeit hinaus Rückendeckung und Positionssicherung im politischen Betrieb garantierten, nur folgerichtig. Ex post betrachtet, erscheint Platzecks Konstellation geradezu ideal: Zwei politische Mentoren – Stolpe und Speer –, die in Kabinett und Partei eine Hand über ihn hielten, die aber gleichzeitig bei seinem weiteren Aufstieg nicht um eigene Pfründe fürchten und argwöhnen mussten. Wie beschrieben, hielt diese Konstellation bis zur eigenen Regierungsübernahme Platzecks 2002 an. Zumindest für die Brandenburger Politik hatte für Platzeck ein solcher Schutz über lange Jahre bestanden, bis er sich so weit und so dicht ins partei107
Vgl. Mara, Michael: Die Strategie des Kronprinzen, in: Der Tagesspiegel, 30.08.2001.
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und landespolitische Netz hineingearbeitet hatte, um auf einen garantierenden Mentor verzichten zu können. Nicht viele Quereinsteiger haben das Glück gehabt, in einer solchen Konstellation in die Politik hineinwachsen zu können; Obhut, Ruhe und Gunst über eine derart lange Periode zu gewärtigen, ohne mit der eigenen Mentorenfigur in der politischen Laufbahn zu kollidieren. Die Wirkung Matthias Platzecks als Politiker auch über Brandenburg hinaus hatte sicherlich auch viel mit der Tatsache zu tun, dass er die lokalen Wurzeln in der Potsdamer DDR-Umweltbewegung sehr rasch als politische Ressource begriffen, diese bis heute nicht in Frage gestellt und die Verankerung in Brandenburg als entscheidende Grundlage seines persönlichen Ansehens nie aufgegeben hatte. Wie die spätere Kritik an ihm in seiner Zeit als Bundesparteivorsitzender zeigte, war sein Auftreten außerhalb Brandenburgs und ohne den ihm Sicherheit gebenden Lokalrahmen schnell unsicher, geriet sein politischer Stil hier sehr rasch als blendend, effektheischend und substanzlos in die Kritik.108 Nur innerhalb seines eigenen Brandenburger Wirkungskreises, in den er über lange Jahre hineingewachsen war, hatte es ihm gelingen können, zu einem derart unangefochtenen Politiker zu werden. Die in ihn gesetzte Hoffnung – innerparteilich und in der Öffentlichkeit – wurde für ihn zudem auch deshalb nicht so schnell zur Hypothek, da er nicht sichtbar um Aufstieg rang, sondern oft genug überredet werden musste, fast immer zunächst vermeintlich bescheiden abwinkte.109 Diese Vorgehensweise erwies sich als Schutzmechanismus gegen sezierende und politische Potenziale genau prüfende Betrachtungen.110 Sie konservierte die Rolle eines Politikers, der vor allem gerufen wurde und nicht aus eigenem Antrieb nach mehr Einfluss und Macht strebte. Die Bedingungen seines Aufstiegs in der Landespartei und -regierung sollten sich allerdings – nun als kleiner Ausblick über das hier betrachtete Quereinsteigertum hinaus – im Hinblick auf seine weitere politische Laufbahn auch als durchaus problematisch erweisen. Sein lokalpolitischer Fokus bedeutete eine Schwäche in der Bundespartei, in der er wenige Beziehungen hatte knüpfen können und wo ihm deshalb der Rückhalt und die Basis fehlten, um ohne politische Schutzfigur selbstbewusst agieren zu können. Auch der viel gerühmte Pragmatismus als politischer Stil war an der Spitze der Bundespartei ein beständiger Quell für Kritik an seiner vermeintlichen Farblosigkeit und Blässe. Schon in seiner Zeit als Landesvorsitzender in Brandenburg waren Vorwürfe dieser Art aufgeblitzt. Als Bundesvorsitzender einer Volkspartei in der Krise jedoch wurde die Frage nach seinen politischen Grundüberzeugungen und inhaltlichen Weichenstellungen plötzlich sehr viel lauter gestellt.111 Die zuvor im Osten viel gelobte Flexibilität, das undogmatische Zupackende war nun eher als Profil- und Haltungslosigkeit verschrien, als Pragmatismus ohne Ziel und Richtung. Matthias Platzeck hat die vielen ihn begünstigenden Faktoren in der Landespolitik mit einem bemerkenswerten Instinkt zu nutzen verstanden, hatte auch glücklichen Konstellationen viel zu verdanken. Über das Bundesland Brandenburg hinaus, aber erst recht als Vorsitzender einer kriselnden Partei, vermochten die Einflussgrößen, die ihn als politischen Quereinsteiger bis in die Staatskanzlei geführt hatten, nicht mehr zu tragen.
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Vgl. Feldenkirchen, Markus/Nelles, Roland: Wundersamer Aufstieg, in: Der Spiegel, 21.11.2005. Vgl. Hildebrandt, Tina: Jetzt regieren uns die Ossis, in: Die Zeit, 03.11.2005. 110 Vgl. Seils, Christoph: Wie viel DDR steckt in Matthias Platzeck?, in: Cicero, H. 12/2005, S. 64-69, hier S. 68. 111 Vgl. Feldenkirchen, Markus/Nelles, Roland: Wundersamer Aufstieg, in: Der Spiegel, 21.11.2005. 109
Konklusion
Die flüchtige Macht begabter Individualisten Robert Lorenz / Matthias Micus
Zum Begriff In diesem Band ist nun allerhand zum politischen Phänomen des Seiteneinsteigers zusammengetragen worden. Und nicht ganz zu Unrecht wird man kritisch anmerken können, dass etwa Klaus Töpfer womöglich gar kein richtiger Seiteneinsteiger war, weil er vor seinen politischen Führungsämtern bereits Erfahrungen mit der Politik in der saarländischen Staatskanzlei hatte sammeln können. Und Ursula v. d. Leyen stieg nicht unmittelbar an der Spitze eines Ministeriums in die Politik ein, sondern mühte sich zunächst kurzzeitig in der Kommunalpolitik ab. Dem bereits im Wahlkampf gescheiterten Paul Kirchhof wurden die Ministerweihen gar nicht erst zuteil. Allein diese kurz angerissenen Beispiele geben einen Eindruck von der Fluidität des Seiteneinsteiger-Begriffs. Denn trotzdem können Töpfer, v. d. Leyen und Kirchhof plausibel als Seiteneinsteiger gedeutet werden, lag doch die Priorität beruflicher Tätigkeit vor ihrem politischen Engagement ganz eindeutig in einem anderen Bereich als der Politik. Auch hatten sie jedenfalls keine parteipolitische Ochsentour absolviert, hatten sich nicht in mehrjähriger intensiver Parteiarbeit ihre Ämter und Mandate „verdient“. Es liegt im Wesen der Definition – und zumal jeder sozialwissenschaftlichen Definition –, dass sie objektive Eindeutigkeit formuliert, wo die Realität vielschichtig, subjektivistisch, polyvalent ist; dass sie klare Ursache-Wirkungs-Ketten suggeriert, wo sich Kausalzusammenhänge allenfalls annäherungsweise rekonstruieren lassen. Insofern ist auch die Kategorie des politischen Seiteneinsteigers ein Konstrukt. Es gibt nicht das eine, absolute, ausnahmslos gültige Kriterium, in dem sich Seiteneinsteiger fundamental von anderen, professionellen Politikern unterscheiden. So verschiedenartig Politikerkarrieren sein können, so variabel sind die Zugänge von Seiteneinsteigern zur Politik. Dennoch lassen sich aufgrund der Beiträge dieses Bandes einige Merkmale benennen, die Seiteneinsteiger typischerweise kennzeichnen und die eine Präzisierung der in der Einleitung vorgenommenen Basisbestimmung: Seiteinsteiger entbehrten einer langjährigen Ochsentour und verfügten über eine politikferne Karriere, erlauben.
Bedeutung von Mentoren Seiteneinsteiger bedürfen zunächst eines Mentors. Mentoren erfüllen für Seiteneinsteiger in dreierlei Hinsicht wichtige Funktionen. Erstens die der Rekrutierung: Als politikexterne Persönlichkeiten, die zuvor keine parteiinternen Meriten erworben haben, können Seiteneinsteiger nicht ohne Weiteres den Anspruch auf eine Spitzenposition anmelden. Vielmehr brauchen sie dafür eine Parteiautorität, die ihnen den Zutritt zur politischen Eliteebene verschafft, ihnen Macht und Einfluss delegiert, sie manchmal auch überhaupt erst für den Politikeinstieg motiviert. Zweitens die Instruktionsfunktion: Als politische Ziehväter agieren Mentoren als ein Rollenvorbild, an dessen Denken und Handeln man sich lehrreich
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orientieren, aus dessen Erfahrungsschatz man schöpfen kann. Klaus Töpfer beobachtete aufmerksam bei Franz Josef Röder, dem seinerzeit dienstältesten Ministerpräsidenten, die listenreiche Kunst der öffentlichen Darstellung. Drittens schließlich die Protektionsfunktion: Ohne eigene Unterstützergruppen im politischen Umfeld, ohne den individuelle Abweichungen von Verhaltensnormen tolerierenden Idiosynkrasiekredit langjährigen Engagements für die Partei fehlt Seiteneinsteigern der für die Amts- oder Mandatsausübung notwendige Rückhalt. Ihr Mentor muss sie deswegen an seiner persönlichen politischen Macht teilhaben lassen. Von außerhalb des regulären Personalreservoirs – Fraktion und Parteispitze – geholte Minister wie Rita Süssmuth oder Siegfried Balke waren Schützlinge ihrer Förderer und erfuhren Protektion durch mächtige Akteure, in diesen Fällen Helmut Kohl/ Heiner Geißler und Franz Josef Strauß. Egon Bahr konnte seine ostpolitischen Ideen gegen vehemente Kritik aus der eigenen Partei allein wegen Brandts Rückendeckung durchsetzen. Der bildungsbürgerliche Carlo Schmid war als Staatsrat lange Zeit Protegé der französischen Besatzer und in der Parteiführung konnte er sich nur mit der Billigung Kurt Schumachers etablieren. Anfänglich stehen Seiteneinsteiger deshalb in starker Abhängigkeit von ihren Mentoren. Diese Patronatsrolle ist daher ambivalent. Einerseits sind diese als schützende Instanz kaum zu entbehren, andererseits begeben sich Quereinsteiger zu ihnen in ein Abhängigkeitsverhältnis. Der Entzug der Mentorunterstützung aber kann ganz plötzlich eintreten, wie es bei Walter Riester unter Kanzler Gerhard Schröder der Fall gewesen ist. Mentoren erweisen sich somit als eine höchst prekäre Machtressource, von der es sich beizeiten zu emanzipieren gilt. Hätte sich Rita Süssmuth allein auf das Wohlwollen Kohls verlassen, wäre sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht drei Legislaturperioden lang Präsidentin des Deutschen Bundestages gewesen.
Annäherung an die Politik Der letzte Schritt auf dem Weg von Seiteneinsteigern in die Politik jedenfalls vollzieht sich über die Auswahl und Förderung eines Mentors. Gänzlich spontan, wie es das überraschende Auftauchen eines von außerhalb der Politik stammenden Ministers oder Abgeordneten vermuten lässt, ereignet sich der Modus des Seiteneinstiegs jedoch nicht. Vielmehr bahnen sich über Jahre allmählich – in der Regel über mehrere Jahre – Kontakte zur Politik an, werden im Vorfeld wichtige Vorbereitungen für den Einstieg getroffen. Karl Lauterbach, Ursula Lehr und Ralf Dahrendorf beispielsweise näherten sich im Rahmen ihrer Berufstätigkeit schrittweise über eine Gutachter- und Beratertätigkeit in Kommissionen und Beiräten dem Politikbetrieb an. Im Falle Lauterbachs handelte es sich sogar um eine QuasiSeilschaft, stieg er doch im Gefolge Ulla Schmidts auf. Siegfried Balke war vor seiner Berufung zum Bundesminister als Koordinator von Spendengeldern seit geraumer Zeit Gast in den Büros von Unionspolitikern gewesen und Klaus Töpfer hatte als Abteilungsleiter in den Fluren der saarländischen Staatskanzlei eifrig Pressemeldungen formuliert. Die Tätigkeit in einer Regierungskommission oder einem Beraterstab prädestiniert ziemlich stark für ein aktives Amt in der Politik. Kosten Seiteneinsteiger im Zuge ihrer Tätigkeit als Politikberater erst einmal von den gestalterischen Möglichkeiten der Politik, sind sie konkreten Angeboten des Einstiegs gegenüber viel offener. Es lässt sich mithin feststellen, dass die meisten Seiteneinsteiger aktiv nach politischen Ämtern, nach Positionen von Entschei-
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dungsmacht, strebten. Man kann dies bei Dahrendorf und im Übrigen auch bei Ludwig Erhard und Ursula v. d. Leyen gut beobachten.
Seiteneinsteiger als Mittel politischer Führung Dennoch: Das eigene Interesse an politischer Arbeit, die eigene Bereitschaft, sich politisch zu engagieren, ist zwar eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung zur Erklärung für den Einstieg in die Politik auf hohem Niveau. Als ein entscheidendes Rekrutierungskriterium und somit als hinreichende Bedingung muss ein konkreter Nutzen des Quereinsteigers für den Mentor hinzukommen. In vielerlei Variation instrumentalisiert werden Seiteneinsteiger zunächst aufgrund ihrer individuellen Qualifikationen. Ganz oft geschieht dies hinsichtlich ihrer Expertise für ein bestimmtes Ressort oder Projekt, dem vorpolitisch gewonnenen Fachwissen, der im Beruf gemachten Erfahrung, kurz: der Sachund Handlungskompetenz. Hans Leussink hatte vor der Übernahme des Bildungs- und Forschungsministeriums der Westdeutschen Rektorenkonferenz und dem Wissenschaftsrat präsidiert. Der erste Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard war Volkswirt, die wissenschaftlichen Forschungsarbeiten der Professorinnen Süssmuth und Lehr passten dem Inhalt nach trefflich zum Familienministerium und der Wirtschaftsmanager Ludger Westrick sollte als „Generalstäbler im Wirtschaftsministerium“ administrieren. Des Weiteren versprechen sich Partei und Mentoren von Seiteneinsteigern verbesserte Zielgruppenansprache und Stimmenzuwächse bei Wahlen. Indem Ressorts vermeintlich kompetent besetzt, Frauen oder Protestanten erwartete Geschlechter- und Konfessionsproporze erfüllen, sollen Seiteneinsteiger als elektorale Türöffner neue Wählerschichten erschließen. Die für eine Arbeiterpartei unkonventionelle Herkunft und Rhetorik eines Carlo Schmids oder auch Otto Schilys sollte in den Kalkülen der SPD-Parteistrategen auch Menschen mit anderem sozialen Habitus und ökonomischen Status ansprechen und die Partei in bisher parteifernen Bevölkerungssegmenten wählbar machen. Seiteneinsteigern kann darüber hinaus auch ein noch unmittelbarerer persönlicher Wert für den Förderer im Hinblick auf politische Führung zukommen. Sechs Aspekte eines „Mentorprofits“ lassen sich dabei ausmachen. Erstens können politisch Führende mit der konsultationslosen Auswahl politikferner Personen Macht demonstrieren, wie dies zum Beispiel Kohl im Falle Lehrs gegenüber der Bundestagsfraktion tat. Die Verschaffung neuer Leitfiguren oder die fachkundige Besetzung eines bis dato verwaisten Sujets kann – zweitens – zur Befriedigung von Parteibedürfnissen beitragen. Der Import von externer Kompetenz kann in Parteikreisen als weitsichtige und kluge Handlung beispielsweise eines Parteivorsitzenden oder Bundeskanzlers positiv bewertet werden. Auch kann, drittens, politische Führung durch die Expertenzustimmung eines sachkompetenten Seiteneinsteigers zusätzliche Legitimation erfahren, wie man es bei Lauterbach beobachten konnte, mit dessen Fachkunde Ulla Schmidt ihre Reformmaßnahmen rechtfertigen konnte; oder auch Töpfer, der mit der Reputation des Öko-Wissenschaftlers die Regierungspolitik der Öffentlichkeit vermitteln sollte. Viertens kann man mit der Berufung eines in Mentor-Abhängigkeit stehenden Seiteneinsteigers die Kontrolle über ein Ressort gewinnen. Heiner Geißler glaubte beispielsweise, mit Rita Süssmuth einen Platzhalter bis zu seiner Rückkehr an der Spitze des Familienministeriums einsetzen zu können. Seiteneinsteiger können Gegner blockieren, indem sie die Berufung von Politikern aus Partei und Fraktion verhindern. Des
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Weiteren können Seiteneinsteiger, fünftens, in kritischen Phasen Mentoren dazu dienen, bei der politischen Umsetzung unpopulärer Maßnahmen als Blitzableiter Ärger und Missmut zu absorbieren. Sechstens erfüllen sie eine auch eine Mobilisierungsfunktion. Zum einen, indem sie das programmatische Profil des politisch Führenden bereichern oder verstärken. Walter Riester und Michael Naumann – übrigens auch die in diesem Band nicht behandelten Werner Müller und Jost Stollmann – benutzte Gerhard Schröder im Wahlkampf 1998 als personelle Identifikationen des Entwurfs der Neuen Mitte. Sie sollten mit ihren Konzepten und Werten diesen neuen Kurs in der Öffentlichkeit symbolisieren. Zum anderen durch die Inkarnation einer neuen Koalition. Als Protegé von Peter Glotz verkörperte Otto Schily eine neue, auf die Grünen abzielende, sozialdemokratische Bündnisstrategie; Werner Maihofer galt als Vordenker des sozialliberalen Projekts aus SPD und FDP unter Willy Brandt.
Seiteneinsteiger können Komplikationen verursachen Risikolos ist ihre Berufung andererseits nicht. Seiteneinsteiger sind eigenwilligen Naturells, ihr Verhalten birgt für ihre politischen Unterstützer folglich nicht unerhebliche Risiken. Nicht selten agieren sie ungestüm und lassen sich schwer in Zaum halten. Dahrendorf war so ein Fall. Als genialer Rhetoriker und politischer Star feierten ihn Medien und Parteijugend, sodass er sich von formellen Rügen des Parteivorstands nicht beeindrucken ließ. Auch Töpfer und Süssmuth beschieden sich nicht mit den ihnen von Kohl zugedachten Funktionen – die Bevölkerung vermittels ihres Expertenwissens zu beschwichtigen bzw. Frauen auf Führungsebene zu repräsentieren. Paul Kirchhof machte die Union mit seinen unbedarften Stellungnahmen und unglücklichen Richtigstellungsversuchen zu einem hilflosen Objekt sozialdemokratischen „negative campaignings“. Die Arglosigkeit von Seiteneinsteigern stellt eine Bedrohung für den verantwortlichen Mentor dar, kann sie doch dessen Image ramponieren, seine Machtposition destabilisieren. Im Gegenzug entziehen dann Mentoren ihren Schützlingen die Unterstützung und wenden sich von ihnen ab. Kirchhof etwa wurde faktisch aus dem Wahlkampf herausgenommen. Er ist auch ein tragisches Beispiel für die Lehre, vollständige Politikneulinge nicht in kritischen Phasen des politischen Wettbewerbs – also in Wahlkampfzeiten – an exponierter Position einzusetzen. Der mentorielle Kontrollverlust über „ihre“ Seiteneinsteiger vollzieht sich mitunter sehr schnell, vor allem wenn diese einen neuen Mentor finden oder sich stark genug fühlen, mit eigenen Ambitionen in die Domäne ihres Ziehvaters zu streben. Mit ausreichend weiteren Ressourcen ausgestattet, können sich Seiteneinsteiger von ihrem Mentor emanzipieren, wie dies Süssmuth gegenüber Kohl und Lauterbach gegenüber Schmidt gelang. In der Folge machen sie ihrem einstigen Förderer das Leben durch permanente Kritik schwer oder verstärken die politische Macht eines anderen. Ludger Westrick entzog sich Adenauers Patronat, indem er in die Gefolgschaft Erhards wechselte und außerordentlichen Anteil an dessen politischem Erfolg hatte. Lauterbach wandelte sich vom Ratgeber zum Kritiker Ulla Schmidts. Und die einige Zeit harmonische Komplementarität des überaus erfolgreich anmutenden Tandems Kohl-Biedenkopf schlug in eine maliziöse Rivalität und erbitterte Bekämpfung des jeweils anderen um.
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Was bewegt Seiteneinsteiger zum Gang in die Politik? Doch machen wir noch einmal einen Zeitsprung zurück, zu den Ursachen und Anfängen des politischen Wirkens von Seiteneinsteigern: Welche persönlichen Motive liegen dem Seiteneinstieg zugrunde? Zumal sie die mühsam errungene Eliteposition in ihrem Herkunftsbereich zugunsten des prekären politischen Karrierefelds aufgeben. Zunächst: Der Schritt in die Politik ist in der Regel kein selbstloses Wagnis, um der Gesellschaft einen Dienst zu erweisen. Er bedeutet normalerweise auch nicht die Aufgabe einer lukrativen Karriereperspektive. Die meisten Seiteneinsteiger haben gewissermaßen wenig zu verlieren. Viele von ihnen verfügen über garantierte Rückkehroptionen, die sie zumindest materiell von der Politik unabhängig machen. Balke zum Beispiel hätte auf Wunsch in seinem Managersessel sofort wieder Platz nehmen können; als verbeamtete Professoren waren Maihofer, Töpfer, Lehr oder Süssmuth zur jederzeitigen Rückkehr auf ihren Lehrstuhl berechtigt; Gert Bastian war finanziell über Pensionszahlungen der Bundeswehr abgesichert. Wiederum andere Seiteneinsteiger, wie Riester, verharrten in ihrem vorpolitischen Beruf in karrieristischer Stagnation oder gaben einigermaßen fragile Positionen für politische Ämter auf. Die überwiegende Mehrheit der Seiteneinsteiger wird zudem von der Sehnsucht nach einem politischen Gestaltungserlebnis getrieben. Seiteneinsteiger zeigen sich von der Politik fasziniert, da diese verspricht, am wissenschaftlichen Reißbrett entworfene Konzeptionen nunmehr real umsetzen zu können. Sie reizt die Praxis, weil sie der bloßen Theorie überdrüssig geworden sind. Spätestens zum Zeitpunkt ihres Seiteneinstiegs messen sie der Politik im Vergleich zu ihrer berufsmäßig ausgeführten Tätigkeit eine erheblich größere Attraktivität bei. Dem Wechsel in die Politik geht zumeist eine Frustration im Herkunftsberuf voraus, die durch eine Überwindung der Grenzen theorielastiger Beratung kuriert werden soll. Dazu kommt der politiknaive Glaube, politische Masterpläne unverwässert und unmittelbar durch eigene Ämter und Positionen in der Politik umsetzen zu können. Den in Staatsphilosophie beschlagenen Carlo Schmid verlockte in Württemberg-Hohenzollern die Vorstellung, einen Staat nach seinem Gusto gestalten zu können. Paul Kirchhof wagte das Abenteuer Politik, weil er alle Karrieresprossen erklommen hatte und für die Verwirklichung seines „Lebensthemas“ – eine universale Steuerreform – die Zeit gekommen sah. Politisches Engagement vormaliger Nichtpolitiker zeigt insofern die Unzulänglichkeit des Herkunftsberufs an, Karriere- und Handlungsbedürfnisse vollkommen zu befriedigen. Damit hegen Seiteneinsteiger unrealistische Erwartungen an die Politik, die sich für die Zukunft als zuverlässige Quelle von Ernüchterung, Unzufriedenheit, ja bitterer Enttäuschung erweisen. Maihofer musste sich mit der Abwendung der FDP-Spitze von seinem sozialliberalen Projekt und seiner anschließenden Demontage auf einem Parteitag abfinden. Balke litt unter dem Desinteresse Adenauers für seine zukunftsorientierten Investitionsvorhaben und wollte dem Kanzler am Ende nicht einmal mehr unter die Augen treten. Am deutlichsten tritt die wachsende Politikverdrossenheit allerdings bei Professoren ein. Lauterbach, Lehr, Dahrendorf und – am drastischsten – Paul Kirchhof mussten die Erfahrung machen, dass sich ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht kompromisslos in politische Maßnahmen übertragen ließen.
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Gelegenheitsfenster des Einstiegs Die Chancen zur Umsetzung visionärer Ideen sind freilich durch die Zeit hindurch nicht konstant, die Gelegenheitsfenster für den Schritt in die und den Erfolg in der Politik nicht immer dieselben. Es lassen sich für einen Seiteneinstieg günstige oder ungünstige Bedingungen ausmachen. Phasen starker gesellschaftlicher Politisierung, wie etwa die späten 1960er und frühen 1970er Jahre, in denen ein kreatives Klima der Reformbereitschaft dominiert, verleiten häufig zu politischem Engagement. Viele Seiteneinsteiger gewinnen in solchen Zeiten die Zuversicht, ihren in intellektueller Abgeschiedenheit erstellten Entwürfen für politische Maßnahmen aktiv zur Umsetzung verhelfen zu können. Dahrendorfs politisches Handeln zum Beispiel stimmte mit der in den 1960er Jahren aufgekommenen Vorstellung überein, Sozialwissenschaftler sollten politisch zu aktiver Intervention schreiten, statt in passiver Abstinenz zu verharren. Technikbegeisterung und Wissenschaftsgläubigkeit beförderten auch die politischen Karrieren Siegfried Balkes und Horst Ehmkes. Und Hans Leussink hatte sich durch seine vorpolitische Gremienarbeit als Pragmatiker ausgezeichnet, dem man die gesellschaftlich brisant gewordene Reformierung des Bildungssystems zutraute. In diesem Zusammenhang sind auch Themenkonjunkturen zu sehen, die stets mit dem Ruf nach einem bestimmten Know-how verbunden sind und die dessen Inhaber für die Politik interessant machen. Die Wahrscheinlichkeit, von politischen Autoritäten rekrutiert zu werden, steigt mit der Gegenwartspassung des Sachverstands, wenn also das persönliche Wissen und die eigene spezifische Originalität politisch gerade nachgefragt werden. Mit Kirchhof versuchte Angela Merkel dem Expertendefizit der Union in dem für den Wahlkampf relevanten Bereich Finanzpolitik zu begegnen. Lehrs fachliche Schwerpunkte der Gerontologie und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf waren zum Zeitpunkt ihrer Berufung nicht nur zukunftsträchtig, sondern bereits aktuell. Der Mauerbau im Jahr 1961 ließ neue Außenpolitikkonzeptionen notwendig werden und verlieh Bahrs alternativem Ansatz einer Annäherung an den Osten plötzlich Relevanz. Und Töpfer kam zugute, dass die durch wiederholte Umweltkatastrophen gewachsene Sensibilität der Öffentlichkeit für die ökologische Problematik nach einem Umweltexperten in der Regierung verlangte. Die Beispiele Matthias Platzecks bei der deutschen Wiedervereinigung und Carlo Schmids nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Zusammenbruch des Dritten Reichs zeigen, wie Systemtransformationen in Verbindung mit der Diskreditierung der alten Elite politische Vakanzen schaffen, die ambitionierten Seiteneinsteigern weitreichende Gestaltungsräume und Aufstiegskanäle öffnen. Wo Strukturen in Trümmern liegen und erst wieder herangebildet, wo Verfassungstexte geschrieben und Institutionen aufgebaut werden müssen, werden fähige Personen gebraucht, deren Biografien nicht durch eine RegimeVergangenheit eingetrübt, die folglich politisch unbelastet und somit für das neue System geeignet sind. Umbruchzeiten sind, wie auch die CDU-Spendenaffäre im Falle Merkels illustriert, ein erheblicher Gunstfaktor für den politischen Seiteneinstieg. Sie offerieren Gestaltungsräume und geringe Personalkonkurrenz, sodass politische Karrieren wie die von Seiteneinsteigern vital gedeihen können. Bei personellen Defiziten, wenn sich die eigenen Reserven erschöpft haben, greift die Politik gerne auf externes Personal zurück: Balke erfüllte als einziger im Umfeld Strauß’ die Proporzkriterien; Kirchhof versprach den Abgang von Friedrich Merz finanzpolitisch zu kompensieren; und Naumann verlieh der zerrütteten Hamburg-SPD Glanz und Seriosität. Dies gilt gleichfalls für neue Bewegungen und
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Parteien, die nicht selten mit der Parole antreten, ganz anders zu agieren, Regeln zu durchbrechen, Tabus zu überschreiten, alternativ oder „anti“ zu sein. Soziale Bewegungen benötigen – viel stärker, als das ihre zumeist radikaldemokratische Basis wahrhaben möchte – elitäre Akteure, die Wissen sowie Erfahrung einbringen, Seriosität ausstrahlen und eine Vorbildrolle übernehmen. Gert Bastian, der über eine pazifistische Bürgerinitiative den Weg zu den Grünen fand, steht hierfür exemplarisch. Insgesamt sind Krisen ein vorteilhaftes Umfeld für Seiteneinsteiger. Sie bieten nicht nur Gelegenheiten zu einem schnellen Einstieg, sondern sie können auch Führungs- und Gestaltungsansprüche rechtfertigen. Dort, wo die herkömmlichen Politikeliten offenkundig versagt haben, wo sich ohnehin bereits Vieles in desolater Unordnung befindet, können Quereinsteiger ihre Qualitäten umso wirkungsvoller entfalten. Kurt Biedenkopf zum Beispiel war stets dort erfolgreich, wo gravierende Defizite herrschten und die Niedergeschlagenen nach neuen Reformmaßnahmen lechzten – in dieser Stimmung ließ sich zum Beispiel die erstmals von der Regierung abgewählte Bundes-CDU in eine moderne Apparatpartei transformieren. Der kaufmännisch geschulte Balke übernahm das bankrotte Postministerium, um es nach betriebswirtschaftlichen Regeln zu sanieren. Nach der Krisenbewältigung entfiel diese begünstigende Bedingung allerdings und der Seiteneinsteiger büßte seinen akuten Nutzen ein.
Institutionelles Umfeld Auch wenn unter den hier behandelten Seiteneinsteigern mehrere Kanzleramtschefs, Innenund Familienminister waren: Ein typisches Seiteneinsteiger-Ressort gibt es nicht. Problematisch wird es für Seiteneinsteiger aber, wenn man ihnen Funktionen zuweist, die zu ihren Mentalitäten, Fertigkeiten und Vorstellungen nicht passen. Seiteneinsteiger benötigen eine institutionelle Umgebung, in der sie sich entfalten können, die sie nicht frustriert oder überfordert. Bahr erhielt in Brandts Außenministerium eine Position, die ihn konzeptionell nicht behinderte. Leussink hingegen fand sich in einem für seine Ambitionen hinsichtlich von Befugnissen und Mitteln unzureichend ausgestatteten Ministerium wieder. Das von dem juristischen Experten Maihofer geleitete Innenministerium wiederum erforderte die Talente eher eines Generalisten. Plastisch ist dieser Gesichtspunkt auch an der politischen Karriere Ludwig Erhards darstellbar. Im Wirtschaftsministerium konnte er über vierzehn Jahre unbehelligt agieren. Im Kanzleramt, an der Spitze der Regierung, fehlten ihm dann jedoch generellere Führungsqualitäten wie Machtbewusstsein, Entschlossenheit, Durchsetzungskraft und die Fähigkeit zur Moderation von Konflikten. Ein Wechsel in andere Ämter und Funktionen – das zeigt das Beispiel Erhards – kann einen vormals erfolgreichen Seiteneinsteiger karrieristisch ruinieren. Und so lassen sich zwar nicht vollkommen Seiteinsteiger-resistente, aber doch eher Seiteneinsteiger-feindliche Amtsbereiche lokalisieren. Das bildungspolitische Feld ist traditionell mit föderalistischen Vetospielern übersät und jegliche Finanz-, Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik bekommt es in der Alltagsarbeit mit mobilisierungsfähigen, artikulationsmächtigen Vetogruppen zu tun. Ein Kernenergie- oder Umweltministerium, erst Recht ein Kulturstaatsministerium, kann sich demgegenüber vermittels spezifischer Erwartungen an die Kompetenz des politischen Kopfes durchaus als Experten-offen herausstellen. Oder
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man denke an das Außenministerium, in dem sich der Minister in der Öffentlichkeit von profanen innen- und parteipolitischen Konfliktlinien distanzieren kann.
Koalitionen Das Schicksal einiger Seiteneinsteiger ist ferner mit bestimmten Parteien- oder Wählerkoalitionen verknüpft. Dieser Tatbestand muss nicht immer so signifikant durchschlagen, wie bei Dahrendorf und erst Recht bei Maihofer, der die sozialliberale Koalition nicht nur regelrecht symbolisierte, sondern ihr auch historische Bedeutung zuschrieb, indem er sie in die lange Geschichte der Bündnisbestrebungen von Arbeiterbewegung und fortschrittlichem Bürgertum seit der Revolution von 1848/49 einbettete. Häufiger schon dienen Seiteneinsteiger als personelle Angebote an umworbene Zielgruppen. In diesem Sinne war Schily eine Offerte an das kritische, postmaterialistische Bildungsbürgertum, die dessen Vertretern die Wahl der SPD erleichtern sollte; während Naumanns Berufung in der Logik des Werbens der Schröder-Lafontaine-SPD um die sogenannte und eine Zeit lang viel zitierte Neue Mitte stand. Kirchhof wiederum sollte im Bundestagswahlkampf 2005 als Attraktion für den potenziellen Unionspartner FDP dienen. Koalitionen können aber auch noch auf andere Weise für Seiteneinsteiger ein Einfallstor in die Politik darstellen. Ganz allgemein halten Koalitionswechsel, also Veränderungen der politischen Mehrheitsverhältnisse, analog zu gesellschaftlichen Umbruchzeiten zahlreiche Chancen für Seiteneinsteiger bereit. Stets findet in ihrem Gefolge ein umfangreicherer Austausch der politischen Eliten statt und es werden zahlreiche Posten vakant, die nun zu besetzen sind und für die neben anderen auch und besonders Seiteneinsteiger in Frage kommen. Im Speziellen kann zudem koalitionsinternes Postengeschacher die Berufung parteiloser Seiteneinsteiger ratsam erscheinen lassen – wie im Falle Leussinks, der Bildungsminister allein deshalb wurde, weil die FDP nach ihrer Niederlage bei der Bundestagwahl 1969 keinen Anspruch auf ein weiteres Ressort neben dem Außen-, Innen- und Landwirtschaftsministerium erheben konnte. Und da die Besetzung des bildungspolitischen Themenfelds mit einem Parteigänger der Sozialdemokraten gleichfalls nicht ratsam erschien, hatten sich in den Jahren zuvor doch vor allem die Liberalen in diesem politischen Segment profiliert, verfielen die SPD-Strategen auf die Idee eines parteilosen, somit auf den ersten Blick überparteilichen Ministers.
Prekäre Macht- und Erfolgsressourcen Die Ressourcen, die dem Anfangserfolg von Seiteneinsteigern zugrunde liegen, sind jedoch oftmals prekär und drohen schnell zu versiegen. Der instrumentelle Nutzen für einen protegierenden Mentor, die persönliche Popularität bei den Medien und der Bevölkerung, die konjunkturelle Aktualität und gesellschaftliche Brisanz bestimmter Themen, der Status als Galionsfigur einer spezifischen Bündniskonstellation: Ein Großteil der karriereförderlichen Bedingungen entpuppt sich alsbald als Keimzelle späteren Scheiterns, sind sie doch von temporärer Dauer, nur fragilen Halt gewährend. Ohne Kohl war Lehr genauso hilflos wie es Bahr ohne Brandt gewesen wäre. Der Verlust an plebiszitärer Zustimmung beendete Erhards Kanzlerschaft und die seines Kanzleramtschefs Westrick. Maihofer und Dahrendorf
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avancierten zu Gurus freidemokratischer Linksliberalität, die ihnen die Unterstützung der Parteijugend einbrachte. Als dieses Projekt allerdings seine strategische Bedeutung für die Parteigranden Genscher und Lambsdorff verlor, die linksliberale Stimmung kippte und es keiner visionären Zukunftsprogrammatiken mehr bedurfte, wandten sich ihre Jünger von ihnen ab; der Niedergang ihrer Karriere in der Politik dauerte dann nur noch kurze Zeit. Die hier vorliegenden Fallstudien haben viele Exempel für die im Vergleich mit klassischen Berufspolitikern hohe Karrierediskontinuität von Seiteneinsteigern und für Situationen des Scheiterns dargeboten, in denen Quereinsteiger dem Versäumnis zum Opfer fielen, kurzfristig gültige Erfolgsbedingungen durch den Aufbau von Verpflichtungsverhältnissen, Netzwerken und Hausmächten auf Dauer zu kompensieren. Seiteneinsteiger, heißt das, sollten für den weiteren Verlauf ihrer politischen Karriere deshalb tunlichst Vorsorge treffen. Sonst bleiben ihre Abstecher in den Politikbetrieb gleichermaßen episodisch wie die diesen zugrunde liegenden Ressourcen.
Berufliche Prägung Vorpolitische Kenntnisse und Erfahrungen, im Herkunftsberuf erworbene Fähigkeiten können sich für Seiteneinsteiger in mehrfacher Hinsicht zum einen als Ressourcen, zum anderen als Schwächen herausstellen. So zehren sie nur so lange von ihrem Expertenstatus, wie dieser auf politische Nachfrage stößt. Der monopolistische Besitz eines bedeutsamen Konzepts kann einerseits Konkurrenzlosigkeit bedeuten, andererseits aber auch in monotone Einfallslosigkeit umschlagen. Exzeptionelles Wissen kann eine Diskursüberlegenheit erbringen, aber bei Parteifreunden und Kooperationspartnern Inferioritätsgefühle erwecken. Konzepte und Fertigkeiten können an Aktualität verlieren, Phasen des euphorischen Aufbruchs und der innovativen Produktivität schnell auch wieder zu Ende gehen. Ehmkes politische Karriere ging abwärts, nachdem sich die Vision politischer Planung im zweiten Kabinett Brandts erschöpft hatte; die Ostpolitik Bahrs war irgendwann Realität geworden; und Bastians Militärvergangenheit, die ihn anfangs noch zu einem gefragten Experten gemacht hatte, büßte nach dem Ende des „Kalten Kriegs“ und in der Nach-Wende-Zeit alsbald ihre Bedeutung ein. Ähnlich erging es Carlo Schmid, dessen staatsrechtliche Kenntnisse 1949 auf Herrenchiemsee bedeutend gewesen sein mochten, nicht jedoch in den Jahren danach. Der Erfolg von Expertentum ist folglich an die Zeitumstände gekoppelt. Mit dem Bedeutungsverlust einer bestimmten Qualifikation verliert auch ihr Träger an Relevanz, sofern er keine alternativen Fähigkeiten aufzubieten hat. Dann die Rhetorik und der Stil. Was in den Medien und auf Parteitagen zunächst als erfrischend und brillant gelobt und gefeiert wird, kann schnell als enervierend und abgehoben empfunden werden. Der selbstbewusst und intellektuell daher kommende Biedenkopf bot einen willkommenen Kontrast zu dem eher farblosen Parteimenschen Kohl. Schmid bereicherte die SPD-Spitze mit geistreichen Sentenzen und Dahrendorf wusste mit vorzüglichen Reden zu glänzen. Doch irgendwann überholten sich ihre Weisheiten, war man der Sprache überdrüssig und beklatschte die herausstechende Intelligenz dieser Männer nicht mehr als inspirierend, sondern schalt sie arrogant und überkomplex. So wenig es ein charakteristisches Ressort für Seiteneinsteiger gibt, so wenig garantiert ein bestimmter Beruf den Erfolg der politischen Karriere. Dennoch gibt es Arbeitsgebiete, die mehr als andere politiktaugliche Fähigkeiten schulen. Bahr hatte als Polit-
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Journalist jahrelang den politischen Betrieb beobachtet, verfügte über Informationsquellen und persönliche Kontakte. Auch Naumann war berufsmäßig Experte für die Funktionsweise der Medien, die als Instanzen der Politikvermittlung und als bestimmende Faktoren der veröffentlichten Meinung für politische Führung bekanntlich nicht zu ignorieren sind. Professoren – wie Lauterbach und Kirchhof – sind häufig im Umgang mit Medien geübt, pflegen eine geschliffene Rhetorik und wissen mit Chuzpe und Originalität pressewirksame Aussagen zu produzieren. Riester entstammte als Gewerkschafter aus der Führungsetage eines der wichtigsten Adressaten der Arbeitsmarktpolitik, zudem waren ihm als Tarifpolitiker politische Verhandlungstechniken und Kompromisszwänge nicht fremd. Balke und Biedenkopf brachten als Unternehmensführer aus der freien Wirtschaft Organisations- und Administrationserfahrungen mit; Klaus Kinkel wusste als verbeamteter Staatssekretär, wie ein Ministeriumsapparat funktioniert. Belastbarkeit und Einsatzbereitschaft wird von Ministern ebenso wie von Chefmanagern verlangt; in der Politik müssen Debatten durch einschlägige Argumentation ähnlich wie in der Wissenschaft bestritten werden. Berufliche Vorprägungen einer nichtpolitischen Karriere haben allerdings auch ihre Schattenseiten. Ganz besonders Professoren neigen zur Erstellung sogenannter Masterpläne, deren Modifikation durch Laien sie nicht dulden. Eine solche Radikalität von Reformkonzepten verträgt sich jedoch nicht mit der Politik, in welcher der Kompromiss eher zum Erfolg führt als die Intransigenz. Die Professorin Lehr verstand nicht, dass sie ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse nicht gegensätzlich zur Parteilinie und vorbei an einflussreichen Gremien durchsetzen konnte. Die Gewohnheit, in Vorlesungen lernwilligen Studenten gegenüber zu stehen, kontrastiert in der Politik mit dem Erfordernis, Widerspruch zu ertragen, Begründungen zu liefern, Mehrheiten zu erringen und Kompromisse zu schmieden. Auch stoßen wissenschaftlicher Duktus, verschachtelte und fremdwortlastige Satzkonstruktionen, überhaupt: der universitäre Dünkel eines sich elitär gerierenden Akademikers beim Durchschnittsauditorium einer politischen Veranstaltung negativ auf. All dies empfinden selbst die Politikerkollegen als professorale Allüren und eitle Zurschaustellung eigener Bildung. Abgesehen davon, dass sie sich in ihrem alternativ zur Universität erworbenen Fachwissen herabgestuft und entwertet sehen, dadurch aber letztlich auch zum Widerspruch herausgefordert fühlen. Viele wissenschaftlich ausgebildete Seiteneinsteiger überschätzen überdies die Macht des rationalen Arguments und unterschätzen das Akklamationsbedürfnis des Publikums – abgesehen davon, dass in der Politik „richtige“ Lösungen nicht autoritativ vorgegeben werden können, ja ganz im Gegenteil in der Politik das Gesetz des kleinsten gemeinsamen Nenners herrscht, die Kompromisszwänge des politischen Systems also nur eben jenes Quantum an Vernunft zulassen, das auch dem potenziell unvernünftigsten Akteur einleuchtet. Dass Polemik und Polarisierung reguläre Waffen des politischen Gefechts sind, ist Seiteneinsteigern allerdings oft fremd. Starke Wissenschaftler verkümmern dadurch zu schwachen Politikern. Die Fallstudien konnten die problematischen Aspekte vorberuflicher Prägung von Seiteneinsteigern in vielfältiger Variation aufzeigen: Kirchhof konnte die politische Attacke nicht parieren, weil er sich über die diffamierende Gangart seines Kontrahenten empörte, oder er verprellte seine Parteikollegen, indem er dem politischen Gegner bei sachlicher Übereinstimmung beipflichtete. Leussink besaß ein realitätsfernes Verständnis von Politikvermittlung: Ihm leuchtete nicht ein, dass in der Politik oftmals das Resultat ohne die richtige Darstellung in den Medien weniger durchsetzungsstark ist, weshalb er sein politisches Handeln nicht öffentlichkeitswirksam kommunizierte. Ein General Bastian musste auf-
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grund seiner militärischen Hierarchiegewohnheit von dem basisdemokratischen Chaos der Grünen geradezu bestürzt sein. Biedenkopf betrat die Parteizentrale mit dem Handlungsverständnis eines Unternehmensführers und betrachtete die Politik als eine marktwirtschaftliche Konkurrenzsituation, doch die CDU ließ sich nicht wie eine Firma leiten und ein Wahlkampf sich nicht wie eine Geschäftsperiode bewältigen. Kurzum: Wissenschaftler, Juristen und Wirtschaftsadministratoren gehorchen anderen Imperativen, Logiken und Prinzipien als Berufspolitiker. Politik lässt sich eben nicht mit wissenschaftlicher Methodik und betriebswirtschaftlicher Kalkulation, geschweige denn mit dem Führungsverständnis eines Bundesverfassungsrichters gestalten.
Das Manko fehlender Parteiarbeit Aller Mitgliederverluste und abnehmender Wahlbeteiligung zum Trotz besitzen Parteien im politischen System der Bundesrepublik eine zentrale Stellung. Anders als in den USA, wo Parteimitgliedschaften nicht einmal formal existieren und lediglich eine ideologische Richtung etikettieren, sind Parteien in Deutschland wichtige Ausbildungsstätten politischen Personals. Viele Seiteneinsteiger-Schicksale zeigen, dass der langjährige Aufenthalt in Parteistrukturen im Rahmen der Ochsentour für die Bekleidung von Elitepositionen veritable Vorteile mit sich bringt. Klassische Ressourcen eines Profipolitikers wie Hausmacht oder Seilschaft scheinen tatsächlich schwer entbehrlich zu sein. Sie können den Verfall temporärer Machtquellen im Ernstfall kompensieren und die politische Karriere abzusichern helfen. Die bewusste Distanz zur Partei, der Verzicht auf den Erwerb von Loyalitäten und den Aufbau eines Netzwerks sowie eine fehlende Lagerzugehörigkeit erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass Seiteneinsteiger früher als Berufspolitiker scheitern. Seiteneinsteiger tendieren jedoch dazu, die Bedeutung innerparteilicher Unterstützungsreserven zu unterschätzen, weshalb sie für kontroverse Entscheidungen nur schwerlich Gefolgschaft mobilisieren können. Das Versäumnis, zumeist sogar die ostentative Weigerung, die temporär gültigen, somit aber prekären Machtressourcen zum Aufbau einer dauerhaft beständigen Machtgrundlage auszunutzen, macht eine erkennbare Differenz zu den Berufspolitikern aus. Die ausgebliebene Ochsentour – verstärkt durch die Prägung des Vorberufs – führt dazu, dass Seiteneinsteiger genuin politische Verhaltensweisen und Gepflogenheiten nicht beherrschen, die sie sonst über Jahre hinweg internalisiert hätten. Der Politik sind spezifische Gesetzmäßigkeiten von Problemlösung und Entscheidungsfindung zueigen. Klientelinteressen restringieren die politischen Entscheidungsprozeduren und die Entdeckung adäquater Maßnahmen ist in der Politik – anders als in Wirtschaft, Wissenschaft oder Justiz – nur einer von mehreren Entscheidungsfaktoren. Hinzu kommt, dass die Autoritätsreichweite politischer Ämter sehr begrenzt ist, da viele Vetomächte existieren. Gute Politiker müssen es zudem in den Disziplinen „einfallsreiche Ranküne“ und „verschlagene Konspiration“ zu einiger Meisterschaft bringen. Daneben spielt die komplizierte Mechanik von Konsensbildung, Mehrheitsfindung und Konfliktregulierung eine elementare Rolle. Die völlige Gestaltungsfreiheit – wie sie zum Beispiel Schmid vorschwebte – kann vielleicht in der Wissenschaft oder in musischen Kulturtätigkeiten genossen werden; in der Politik aber ist sie nur in der extremen Ausnahmesituation eines völligen Neuaufbaus des Staats möglich. Merkel hing einer für Seiteneinsteiger symptomatischen Utopie an, wenn sie tatsächlich
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glaubte, mit einer gemeinsamen Bundesrats- und Bundestagsmehrheit „durchregieren“ zu können. Politik umfasst eben nicht nur „policy“, sondern auch „politics“. Aber Seiteneinsteiger wissen häufig nicht um die Bedeutung und Handhabung der Mehrheitsbildung, missachten vielfach die bestehenden politischen Aushandlungsvorgänge und entbehren der nötigen Antennen, um Intrigen und Gegnerschaften rechtzeitig zu erspüren. Tabubrüche werden von ihnen oftmals nicht in Erwartung eines Medienspektakels bewusst, sondern vielmehr in Unwissenheit begangen. Politik erfordert gewiefte Kommunikation, die Fähigkeit, auch ohne Expertenwissen kompetent zu wirken, sich Wissen über Mitarbeiter effizient und zeitsparend zu organisieren, Sachverhalte schnell aufzunehmen. Sie erzwingt die Bereitschaft, Einbußen am präferierten Konzept vorzunehmen, um im Gegenzug an anderer Stelle per Junktim eigene Positionen durchsetzen zu können. Man erlernt die Beherrschung und Ausnutzung der Verhandlungsreziprozität; man lernt, Widerstände im Prozess der Mehrheitsbeschaffung zu antizipieren und potenzielle Vetospieler präventiv zu berücksichtigen. Wichtige Begabungen eines Politikers ist die als „Simplexity“ bezeichnete situative Intelligenz – die Klugheit, die Orientierung in unübersichtlichen Situationen zu bewahren –1 sowie die soziale Intelligenz, also „zu erkennen, was in sozialen Situationen angebracht und unangebracht ist“2. Viele solcher Geschicke werden zwar auch in anderen Berufen verlangt und entwickelt, doch in der Politik bündeln sie sich. Parteien lassen sich dahingehend als Akademien politischer Ausbildung sehen, in deren Binnenraum Qualifikationen erworben werden können, die zur Bewältigung politischer Komplexität und der Konsolidierung politischer Spitzenpositionen vielleicht unerlässlich sind. Seiteneinsteiger dagegen sind häufig Experten der Sache, aber Dilettanten des politischen Procedere. Der nicht unbestrittene Berufscharakter professioneller Politik – umstritten vor allem infolge des Mangels an feststehendem Lehrbuchwissen und an formalen Ausbildungsabschlüssen – wird dadurch noch einmal verdeutlicht. Der Befund, dass die politische Standardkarriere Eliteaspiranten „einer Vielzahl von Lern- und Einübungsprozessen [aussetzt], die sie für die Bewältigung der vielfältigen und komplexen Aufgaben eines wichtigen politischen Amtes vorbereiten“3, wird durch die Betrachtung der alternativen Quereinstiegskarriere bestätigt. Das durch den Mentorschutz oder die Wirkung diverser zeitlich befristeter Stärken gewährte Moratorium für die Aneignung von Qualitäten, die normalerweise von der Ochsentour vermittelt werden, bleibt von Seiteneinsteigern bemerkenswert oft ungenutzt. Beispiele wie das von Angela Merkel zeigen freilich, dass eine nachgeholte Parteiverankerung dennoch möglich ist. Auch Lauterbach steht für einen bislang erfolgreichen Seiteneinsteiger, der die Modi Operandi des Politbusiness akzeptiert, die Bedeutung von informellen Runden und Faktionen erkannt und verinnerlicht hat. Eine weitere Problemquelle lässt sich in der häufigen Verweigerung gegenüber parteilichen Verpflichtungen und der Verletzung von binnenorganisatorischen Normen ausmachen. Viele Seiteneinsteiger haben schlichtweg keine Lust auf Parteiarbeit. Bahr wollte die Außenpolitik der Bundesregierung leiten, Schmid Verfassungen entwerfen – aber niemand machte die verrauchten Hinterzimmer von Ortsvereinstagungen oder die Bierzeltgarnituren 1 Vgl. dazu o.V.: Führung heißt entscheiden – aber in Zukunft mit Gefühl (Interview mit Peter Wippermann), in: http://www.in-fuehrung-gehen.de/download/Wippermann_Interview.pdf [eingesehen am 20.08.2008], S. 2. 2 Goleman, Daniel: Emotionale Intelligenz, München/Wien 1996, S. 206. 3 Weege, Wilhelm: Karrieren, Verhaltensmerkmale und Handlungsorientierungen von Bundestagsabgeordneten, Ausarbeitung des Fachbereichs XI Geschichte, Zeitgeschichte und Politik der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages, in: http://www.bundestag.de/wissen/analysen/2003/2003_07_10_karrieren.pdf [eingesehen am 19.06.2008], S. 5.
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von Volksfesten zu seinem bevorzugten Arbeitsort. Das gesellige Miteinander in abendlichen Runden behagte dem beflissenen Professor Biedenkopf ebenso wenig wie sich Ursula v. d. Leyen von repräsentativen Stehempfängen begeistern lässt. Dies aber verstimmt die Gemüter von Parteiaktivisten – besonders dann, wenn man wie Schmid fest eingeplante Wahlkampftermine platzen lässt und Terminen auf höherer Ebene größere Bedeutsamkeit beimisst als jenen des Wahlkreises oder Heimatbezirks. Dass Seiteneinsteiger mit Parteiämtern Lästigkeiten und Querelen assoziieren, wirft noch einmal ein bezeichnendes Licht auf die Unterschätzung der Absicherung durch parteiverankernde Ämterkumulation. Notorisch widersetzen sich etliche politische Seiteneinsteiger gleichfalls normativen Verhaltenserwartungen wie der Fraktionsdisziplin oder der Parteiräson. Gert Bastian war ein regelrechter Quertreiber, der sich widerspenstig nicht bloß dem Rotationsprinzip der Grünen verweigerte. Auch Lauterbach konterkarierte Sozialisationsnornen, indem er sich als Parlamentsneuling nicht mit einer Hinterbänklerrolle begnügte, sondern sich öffentlich exponierte und seine Fraktion dadurch in Aufruhr versetzte. Gewisse Ordnungsmaximen der Politik frustrieren Seiteneinsteiger jedenfalls regelmäßig. Ganz oft ignorierte Schmid SPD-Parteibeschlüsse und agierte lieber unabhängig, was ihm das Misstrauen des Parteivorstands einhandelte. Freilich: Nicht allein ihr gegenüber der Partei als abschätzig auffassbares Verhalten, sondern allein schon ihr Status als solcher stellt für Seiteneinsteiger eine belastende Hypothek dar. Lehr zog sich die Abneigung der Unionsfraktion im Bundestag in dem Moment zu, in dem sie von ihrem Mentor Kohl an diesem bedeutungsschweren Gremium vorbei lanciert wurde. Seither stand sie in dem Ruf, ein Kanzler-Oktroi zu sein. Viele Genossen fühlten sich Jahre zuvor von Brandt durch die Beförderung des suspekten Emporkömmlings Bahr übervorteilt. Zumal der Import von Sachverstand in die Politik neben konventionellen Aufstiegsmustern auch die innerparteilich vorhandenen Experten desavouiert. Süssmuth wurde bereitwillig ein Wahlkreis angetragen, die Novizin v. d. Leyen stach bei ihrer Nominierung einen gestandenen Landespolitiker aus und die Personalie Riester brüskierte den sozialpolitischen Fraktionsexperten Rudolf Dreßler. Noch bevor Seiteneinsteiger zum ersten Mal ihre Amtsräume betreten haben, sehen sie sich daher bereits mit der Verärgerung und dem Argwohn ganzer Gruppen von Profipolitikern konfrontiert.
Seiteneinsteiger und Parteien: keine amouröse Liaison Es gibt die eindrucksvollen Beispiele von Politikern, die ihr Leben der Parteiarbeit widmeten und die – wie über Jahrzehnte hinweg und bis in die Frühzeit der Bundesrepublik hinein die Vorsitzenden der SPD – erst durch Tod aus ihren Ämtern und Funktionen schieden. Seiteneinsteiger sind aus einem anderen Holz geschnitzt. Sie pflegen weniger ein emotionales denn ein instrumentelles Verhältnis zur Partei. Parteien gelten ihnen oftmals als bloße Vehikel zur Verwirklichung ihrer persönlichen Absichten. Eintritten von Seiteneinsteigern in eine Partei haftet daher nicht selten etwas Willkürliches und Zufälliges an. Schmid und Erhard beispielsweise hätten genauso gut bei der FDP anheuern können wie Dahrendorf bei der Union. Ihre Parteibücher holten sie sich letztlich jeweils dort, wo sie sich – ganz pragmatisch – die günstigsten Aufstiegsbedingungen und besten Wirkungsmöglichkeiten versprachen.
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Der Parteibeitritt wurde ihnen jedenfalls in der Regel nicht in die Wiege gelegt. Die Entscheidung für eine politische Richtung ergibt sich daher nicht geradezu zwangsläufig aus der persönlichen Lebensgeschichte, aus familiären Sozialisationsprozessen, prägenden Jugenderlebnissen oder beruflichen Konflikterfahrungen. Die Einflüsse, denen sie sich ausgesetzt sehen, halten eher widersprüchliche denn eindeutige Lehren bereit, die Identifikation mit einer bestimmten Parteifamilie fällt ihnen daher lange schwer, wie der zumeist späte Zeitpunkt ihres Parteibeitritts, das relativ hohe Alter, in dem sie sich einer Partei anschließen, belegt. In dieser Fremdheit gegenüber der eigenen Partei ruhen für Seiteneinsteiger auch durchaus einige Chancen. Distanz kann eine Ressource sein. Sei es, dass kultivierte Eigenständigkeit die politischen Neulinge dagegen immunisiert, in den Abwärtsstrudel des Ansehensverlusts von Parteien und politischer Klasse gezogen zu werden; oder aber, dass ihr Außenseiterstatus mit erfrischender Unkonventionalität, Buntheit und der Auflockerung von Routinen assoziiert wird. Die Beispiele Schilys und Bastians jedenfalls deuten darauf hin, dass ein bürgerlicher Habitus oder eine militärische Vergangenheit in einer dezidiert antibürgerlichen und pazifistischen Partei einer rasanten Karriere nicht zwangsläufig im Wege stehen müssen. Kurzum: Die Unabhängigkeit und der Solitismus von Seiteneinsteigern bedeuten nicht per se und in jeder Hinsicht einen Nachteil.
Professionalisierung Die gängige Forderung, sich in Amt und Würden – wenn man so will: nachholend – zu professionalisieren, ist für Seiteneinsteiger folglich ein zweischneidiges Schwert. Von außerhalb der Politik zu kommen, kann für sie eben auch eine wertvolle Ressource bedeuten. Ihre Herkunft setzt sie nicht dem Verdacht politischer Verdorbenheit aus, nur aus genuin politischen Gründen wie einem Proporz oder honoris causa aufgrund langjähriger Parteiarbeit in ein Amt gehoben worden zu sein. Vielmehr suggerieren sie – dem klassischen Elitegedanken folgend, ausschließlich Leistung berechtige zu einer Führungsposition –, ihre Stellung allein eigenen Fähigkeiten zu verdanken. Sehr viele Seiteneinsteiger gefallen sich darum in ihrer Exotenrolle, kultivieren den Habitus des Außenseiters und stilisieren sich bewusst als zwar eigentümlicher, aber nicht-korrumpierbarer Solitär. Klaus Töpfer war so ein Fall: Er verfügte über besondere Glaubwürdigkeit, weil er als umweltpolitischer Experte berufen worden war und profitierte von seinem Image, ein aufrichtiger Streiter für die ökologische Sache zu sein. Ihm wurde deshalb eher zugetraut, primär nach Erfordernissen der Sachlage und nicht nach parteitaktischen Erwägungen zu handeln. Auch für v. d. Leyen, Süssmuth und Balke waren dies ergiebige Legitimitätsquellen. Töpfer und Balke, die sich als Wissenschaftler zu bezeichnen pflegten, hielten zudem demonstrativ Kontakt zu ihrem Herkunftsberuf und verschrieben sich äußerlich nie gänzlich der Politik. Auch Naumann blieb in der Medienwahrnehmung der schöngeistige Intellektuelle, als der er sich selbst verortete – und schöpfte eben daraus Kraft, Anerkennung, Zustimmung. Von der Bewahrung des Seiteneinsteiger-Flairs ist daher nicht grundsätzlich abzuraten. Gleiches gilt aber auch umgekehrt für eine nachgeholte Professionalisierung. Assimilation kann sich desgleichen als sinnvoll und karrierestabilisierend herausstellen, insofern sie einen Autonomiegewinn bedeutet. Lauterbach schloss sich einem SPD-Parteiflügel an, Süssmuth erkannte die Wichtigkeit eines Mandats und den Rückhalt einer innerparteilichen
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Gruppierung wie der Frauenunion, deren Vorsitz sie annahm. Die „Königin der Seiteneinsteiger“ Merkel schuf sich ein eigenständiges Netzwerk, indem sie Vertraute in Führungspositionen von Partei und Regierung einsetzte. Hinsichtlich des Professionalisierungsaspekts sticht ein vermeintlich kurioser Punkt ins Auge. Einige Seiteneinsteiger bewiesen in der politischen Paradedisziplin des Wahlkampfs beachtliche Fertigkeiten. Lauterbach und Balke erwarben wie Süssmuth ein Direktmandat. Auch Dahrendorf konnte sich als herausragender Wahlkämpfer profilieren. Doch je stärker Seiteneinsteiger in die politischen Arenen miteinbezogen werden, desto mehr verliert die Inszenierung als unpolitischer Fachmann an Glaubwürdigkeit. Bei Karl Lauterbach lässt sich sogar eine positive Korrelation von Professionalisierung und Kritik durch die Medien konstatieren. Skandale wie die Maihofers oder Süssmuths bestätigten negative stereotypische Bilder von Politikern. Eine eindeutige Aussage – eine Professionalisierungsempfehlung mithin – lässt sich demzufolge hier nicht treffen.
Die ambivalente Rolle von Medien Politische Seiteneinsteiger können sich eines immensen Medienechos gewiss sein. Ihre Berufung wird von unzähligen Meldungen und Kommentaren der Politikredaktionen in aller Regel euphorisch begleitet. Die Erwartungshaltung ist dabei zumeist groß, sehr häufig verspricht man sich von den unkonventionell Berufenen außergewöhnliche Leistungen, einem Messias gleich die Vollbringung großartiger Taten. Andererseits ist dieser Jubel ausgesprochen flüchtig. Der Mechanismus der medialen Reaktion auf politische Seiteneinsteiger gehorcht eindeutig den Geboten der Sensationsberichterstattung. Seiteneinsteiger werden am Anfang gefeiert und am Ende demontiert. Mit der Ausnahme von Balke ist keiner der untersuchten Seiteneinsteiger von der Mehrheit der Medien kontrastierend zu seinem Ansehensstatus in der Politik dargestellt worden. So gut wie immer wurde die vorherrschende Tendenz bloß verstärkt: Von den politischen Mentoren als Hoffnungsträger präsentiert, schlossen sich die Medien diesem Urteil an. In Partei- und Regierungsquerelen zerrieben, wurden die Seiteneinsteiger parallel in den Medien niedergeschrieben. Dies hängt auch damit zusammen, dass Medienvertreter Teil des routinierten Politikgeschäfts sind. Sie erwarten einen professionellen Umgang, ihr Bild des fähigen Politikers wurde letzten Endes in der langjährigen Beobachtung des herkömmlichen Politikbetriebs samt dem dort vorherrschenden konventionellen Politikertypus geschärft. Ihre Normalitätsvorstellungen entsprechen daher denen der politischen Klasse insgesamt. Seiteneinsteiger sind in der Folge auch für Journalisten Exoten, die zunächst faszinieren, mit der Zeit aber belächelt werden.
Gesellschaftlicher Wert von Seiteneinsteigern Unabhängig davon ist die Rekrutierung von Seiteneinsteigern gesellschaftlich folgenreich, zeitigen Amateure in der Politik unzweifelhaft auch einige positive Effekte. Seiteneinsteiger stärken erstens die Integrationskraft der Politik. Sie liefern neue Integrationsangebote, tragen außerparlamentarische Anliegen in die politischen Arenen und sensibilisieren die Politik für gesellschaftliche Themen und Probleme. Naumann trug dazu bei, die SPD mit
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der intellektuellen Elite zu versöhnen; Dahrendorf zeigte Empathie für die Forderungen der Jugend und band diese vermittels seiner Popularität an das politische System; v. d. Leyen modernisierte die Sichtweisen des konservativen Unionsflügels. Zum Zweiten können Seiteneinsteiger ihre außerpolitische Erfahrung in das politische System einspeisen. Dies ist besonders im Hinblick auf die aktuelle Entwicklung bedeutsam; denn in der Bundesrepublik herrscht ein Trend der ausschließlichen Berufspolitik vor. Der Funktionsverlust sozialmoralischer Milieus, die in früheren Zeiten ganz selbstverständlich die Eliten von Milieuorganisationen wie der Gewerkschaft oder den Kirchen für politische Ämter rekrutierten, bedarf der Kompensation. Immer mehr Bundestagsabgeordnete haben ihr Geld nie in einem außerhalb der Politik verorteten Beruf verdient, sondern stiegen über die Stationen des wissenschaftlichen Mitarbeiters in der Fraktion oder des Büroleiters eines Abgeordneten auf. Die Anbindung an die Gesellschaft und die Verständniskraft für außerpolitische Realitäten drohen gegenwärtig verloren zu gehen. Peter Glotz identifizierte dies einst als Problem der „Erfahrungsverdünnung“, die aus einer „Abschirmung der Binnenkommunikation der Parteien vom Zeitgespräch der gesamten Gesellschaft“ resultierte.4 Gerade deshalb, so Glotz weiter, müsse sich die Politik der Gesellschaft für Seiteneinstiegskarrieren öffnen. Drittens ermöglicht die Sachverständigkeit von Seiteneinsteigern, dass politische Amtsund Entscheidungsträger Experten auf Augenhöhe begegnen können, Probleme bestimmter gesellschaftlicher Bereiche oder von Berufsgruppen aus eigener Anschauung kennen, daher als Seismografen für zukünftige Aufgaben und Gefahren fungieren können. Auch ist es ihnen möglich, ohne den Umweg von Mitarbeitern Untersuchungs- und Diskussionsergebnisse von Expertengremien fachkundig zu dechiffrieren. Ehmke und Balke bereicherten den Bundestag mit ihrem Wissen auch einige Jahre über den Verlust ihrer Spitzenämter hinaus. Nicht zuletzt können Seiteneinsteiger – viertens – dazu beitragen, den Nachweis der Regierungsbefähigung einer Partei oder eines Kabinetts zu erbringen. Viele Reformimpulse gingen von Seiteneinsteigern wie Bahr, Süssmuth und v. d. Leyen aus. Sie alle leisteten einen Beitrag, das als zu langsam beklagte „Tempo der Bewältigung neuer Themen“5 zu steigern. Die Hoffnung, Seiteneinsteiger könnten ein wirksames Medikament gegen die Verdrossenheit vieler Bürger gegenüber dem politischen System und seiner Akteure sein, dürfte sich dennoch nicht erfüllen – selbst wenn sie erfolgreich agieren. Werden Seiteneinsteiger auf Dauer gepriesen und gelobt – wie etwa Balke, eine Zeit lang auch Süssmuth –, so kontrastieren sie positiv zum konventionellen Berufspolitiker und lassen diesen in einem noch schlechteren Licht erscheinen. Seiteneinsteiger konturieren dann erst das negative Beispiel des Partei- und Berufspolitikers. Außerdem entwerten die politischen Erfolgsbilanzen von Seiteneinsteigern die klassische Norm des Berufspolitikers, die als überflüssig und inkompetent stigmatisiert wird. Jedenfalls: Eine veritable Imageverbesserung der Politik ließ sich durch eine hohe Seiteneinsteiger-Präsenz bisher nicht messen. Allein durch die Hinzuziehung politikferner Eliten lässt sich ein grassierender Ansehensverlust der Politik allem Anschein nach nicht therapieren. Ganz anders: Das Gegenteil ist sogar naheliegend. Von einer Vielzahl von Seiteneinsteigern zeichneten die Medien in der Endphase ihrer Karriere ein desaströses Bild. Oft wurden Seiteneinsteiger in den Mediendarstellungen als politisch völlig inkompetent beschrieben. Doch die Demontage des Einzelnen blamiert und demütigt auch den Typus des 4 Glotz, Peter: Die politische Krise als Kommunikations-Krise. Eine kommunikationswissenschaftliche Makroanalyse, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Jg. 47. (1997) H. 36-37, S. 3-7, hier S. 3. 5 Ebd., S. 4.
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politischen Seiteneinsteigers im Allgemeinen. Er wird zu einer Form von „Problemelite“, die „zu Lösungen der großen Probleme wenig beisteuern“ und die Erwartung überdurchschnittlicher Leistung nicht erfüllen kann.6 Ganz abgesehen davon, dass Seiteneinsteiger entgegen vielfach geäußerter Erwartungen nicht die formale sozialstrukturelle Repräsentanz der politischen Elite verbessern. Ähnlich wie in den USA sind auch in Deutschland politische Seiteneinsteiger in erster Linie Angehörige höherer sozialer Schichten, verstärken die Überrepräsentanz von Akademikern und Beamten also nur noch weiter.
Nutzen des Scheiterns Bei weitem nicht alle Seiteneinsteiger müssen so fundamental wie Paul Kirchhof scheitern. Einigen – Balke, Lehr und Riester zeigten dies – gelingt es, beispielsweise den Verlust ihres Ministeramts mit einem zuvor erhaltenen Bundestagsmandat zu überdauern und ihre politische Karriere partiell fortzusetzen. Viele profitieren möglicherweise auch von ihrer Zeit in der Politik. Lehr erhielt ein ihr versprochenes Zentrum für Altersforschung und Balke wurde zum Arbeitgeberpräsidenten gekürt. Sogar Paul Kirchhof wird seinem politischen Intermezzo etwas Positives abgewonnen haben, steigerte es doch seine Prominenz gewaltig. Obzwar nur ein biografisches Kapitel, kann ein Politikengagement Seiteneinsteigern lukrative Kontakte einbringen und für andere Aufgaben qualifizieren. Apropos Scheitern: Eine ganze Reihe von Seiteneinsteigern hielt sich erstaunlich lange in der Politik und absolvierte bemerkenswerte Karrieren. Schmid wurde noch fast zwanzig Jahre nach seinem Einstieg in die Politik ein Ministeramt zuteil, Süssmuth amtierte drei Jahre als Ministerin und weitere zehn als Bundestagspräsidentin – und mit Erhard und Merkel wurden sogar zwei Seiteneinsteiger Kanzler. Scheitern ist ohnehin eine unklare Kategorie, gelten doch auch die Rekordkanzler Adenauer und Kohl am Ende ihrer Karriere letztlich als gescheitert.
Fazit Insgesamt vier Kerngedanken politischen Seiteneinstiegs lassen sich aus dem hier Ausgeführten herausdestillieren. Erstens vermögen Seiteneinsteiger die Probleme des politischen Systems augenscheinlich nicht zu lösen – ein Allheilmittel sind sie jedenfalls nicht. Zweitens fehlt Seiteneinsteigern das Repertoire an genuin politischen Fertigkeiten hinsichtlich Kommunikation, Arbeitsweise und Institutionenverständnis. Es ermangelt ihnen als Amateuren schlichtweg an für den politischen Ablauf zentralen Kompetenzen, die konventionellerweise über die parteiinterne Ochsentour eines langjährigen Organisationsengagements vermittelt werden. Drittens aber unterscheiden sich Seiteneinsteiger zumindest in einem Punkt nicht fundamental von Profipolitikern: Auch ihre Fähigkeiten und Qualitäten unterliegen der Nachfrage von Konjunkturen politischer Führung. Dynamisch können sich anfängliche Stärken in spätere Schwächen wandeln, erweisen sie sich als situativ veränder-
6 Grieswelle, Detlef: Eliten. Fortschritt oder Stagnation – Blockieren Eliten notwendige politische Entscheidungen? in: Gabriel, Oscar W./Neuss, Beate/Rüther, Günther (Hrsg.): Konjunktur der Köpfe? Eliten in der modernen Wissensgesellschaft, Düsseldorf 2004, S. 224-236, hier S. 224.
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lich, können heute vor-, morgen aber schon nachteilig sein.7 Viertens schließlich sind politische Seiteneinsteiger durchaus in der Lage, lange politische Karrieren zu etablieren – allerdings haftet diesen im Vergleich zu denen professioneller Berufspolitiker insgesamt ein erheblich größeres Risiko frühen Scheiterns an. Seiteneinsteiger, heißt das, sind gegenüber Berufspolitikern weniger stark gegen den Verlust temporär gültiger Ressourcen imprägniert, somit weniger krisenresistent.
7 Die Ambivalenz und konjunkturelle Angemessenheit von Attributen ähnelt den Befunden über Parteivorsitzende; vgl. Lösche, Peter: „Politische Führung“ und Parteivorsitzende. Einige systematische Überlegungen, in: Forkmann, Daniela/Schlieben, Michael (Hrsg.): Die Parteivorsitzenden in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 2005, Wiesbaden 2005, S. 349-368.
Anhang
Personenregister Adenauer, Konrad 181, 190, 200ff., 303, 305ff., 309, 316, 322, 370, 375, 394ff., 400, 432, 490, 503 Ahlers, Conrad 50 Albertz, Heinrich 323 Albrecht, Ernst 155, 274ff., 278, 282f. Altmaier, Peter 448 Annan, Kofi 138 Apel, Hans 413, 415, 426 Arendt, Walter 241 Arndt, Adolf 313, 375 Ashcroft, John 206 Baader, Andreas 78 Bahr, Egon 67, 69, 315, 319ff., 488, 492ff., 498f., 502 Balke, Siegfried 175ff., 488, 491ff., 496, 500ff. Bangemann, Martin 42, 60 Baring, Arnulf 318 Baron, Udo 420 Barzel, Rainer 85, 94, 102, 108, 203, 307, 399, 454 Bastian, Charlotte 429 Bastian, Gert 410ff., 491, 493, 495f., 500 Baum, Gerhart 260 Bebel, August 113 Bechert, Karl 417 Beck, Kurt 66, 269f., 356 Beckmann, Lukas 422 Beckstein, Günther 161, 206 Berg, Fritz 187 Berger, Roland 263 Bethge, Iris 291 Beust, Ole von 269 Biedenkopf, Kurt 81ff., 243, 473, 490, 493, 496f. Birthler, Marianne 467f., 471 Bisky, Lothar 481 Blank, Theodor 240 Blessings, Karlheinz 262 Blüm, Norbert 110, 249, 449f. Böhm, Franz 82 Böhmer, Maria 236 Böhmer, Wolfgang 289 Bolívar, Simón 270 Brandt, Willy 20, 34, 47, 50, 53, 67, 69ff., 82, 148, 314ff., 318ff., 322ff., 386, 388, 403, 436, 490, 494, 499 Brauchle, Georg 205 Brill, Hermann 375 Brusis, Ilse 241 Bucerius, Gerd 307 Bude, Heinz 312, 426
Carstens, Karl 328 Cartellieri, Ulrich 446 Caspers-Merk, Marion 351 Christie, Johan 420 Clay, Lucius D. 393 Clement, Wolfgang 61, 253 Dahrendorf, Gustav 31f. Dahrendorf, Ralf 31ff., 165, 189, 192, 349, 488, 490f., 495, 499, 501f. Daniels, Wolfgang 424 Dehler, Thomas 199, 305, 392 Dehm, Dieter 215 Dettling, Warnfried 90 Diepgen, Eberhard 269 Diestel, Peter-Michael 468 Ditfurth, Jutta 214 Dohnanyi, Klaus v. 270f. Dollinger, Werner 200, 203 Dregger, Alfred 148 Dreßler, Rudolf 246f., 499 Dückert, Thea 241 Dufhues, Hermann Josef 84, 91 Dutschke, Rudi 211 Duve, Freimut 258 Eberhard, Fritz 382f. Ebermann, Thomas 214 Eggert, Rolf 438 Ehard, Hans 177, 183ff., 392 Ehlers, Hermann 181 Ehmke, Horst 303ff., 311ff., 330, 492, 495, 502 Eichel, Hans 169 Engelen-Kefer, Ursula 247 Engelhard, Hans 336 Engholm, Björn 262 Engstfeld, Paul 469, 474 Ensslin, Gudrun 78, 212 Erbe, Walter 37 Erhard, Ludwig 101, 270, 305ff., 311, 390ff., 431, 489f., 493f., 499, 503 Erler, Fritz 313, 372, 385 Ernst, Klaus 241 Ertl, Josef 41, 404 Eschenburg, Theodor 305, 308, 314, 367, 389 Etzel, Franz 396 Faltlhauser, Kurt 161 Feuerbach, Ludwig 61 Fischer, Andrea 348, 350 Fischer, Joschka 132, 212, 214, 258, 353 Fischer, Leni 147 Flach, Karl-Hermann 66, 70, 72, 79
508 Fliszar, Fritz 58 Focke, Katharina 56 Frank, Ludwig 377 Frebel, Karl Heinz 353 Freitag, Walter 240 Friderichs, Hans 74 Frommel, Wolfgang 364 Fuchs, Anke 241 Gabriel, Sigmar 281 Gaulles, Charles de 397 Gaus, Günter 312f. Gauweiler, Peter 227f. Geil, Rudi 124, 131 Geiler, Karl 370 Geißler, Heiner 102, 128, 133, 143, 145, 147, 149, 151, 155, 157, 228, 233f., 489 Genscher, Hans-Dietrich 44f., 47f., 58, 60, 66, 70f., 73, 77, 79f., 335, 337ff., 342f., 495 Gerhardt, Wolfgang 346 Gerster, Florian 252 Globke, Hans 305, 307, 309f. Glotz, Peter 215ff., 262, 502 Gollwitzer, Helmut 213 Gölter, Georg 121, 123 Göring, Herrmann 304 Görner, Regina 241 Gotthelf, Herta 384 Gramlich, Horst 478 Gramsci, Antonio 216, 220 Grass, Günter 270 Griefahn, Monika 265 Gross, Johannes 310 Grundmann, Konrad 310 Gscheidle, Kurt 241 Guillaume, Günter 337 Gutsmuths, Volker 461 Gysi, Gregor 425 Habermas, Jürgen 403 Hahn, Wilhelm 35 Hamm-Brücher, Hildegard 215, 345 Händel, Thomas 241 Hansen, Ursula 124 Harbottle, Michael 420 Hartz, Peter 252 Hasselfeldt, Gerda 156 Hasselmann, Wilfried 275 Haubach, Theodor 32 Hausmann, Willi 446 Haussmann, Helmut 137 Heck, Bruno 91, 203 Hefty, Georg Paul 226 Heide, Lutz v. d. 280 Heine, Fritz 384 Heinemann, Gustav 313 Heller, Hermann 371
Personenregister Hellwag, Christine 211 Hellwig, Renate 236 Herzog, Roman 345 Hiller, Walter 241 Hirche, Walter 470 Hirsch, Burkhard 216 Hirschfeld, Hans 322f. Höcherl, Hermann 78 Hoegner, Wilhelm 413 Hohmann, Karl 307 Honecker, Erich 420 Hoofe, Gerd 291 Horáþek, Milan 425 Hoyer, Werner 344 Huber, Berthold 244 Hundt, Dieter 242 Jacoby, Peter 136 Jaeger, Richard 180 Jenninger, Philipp 144, 229 Jochimsen, Reimut 317 Joffe, Josef 258 Johnson, Lyndon B. 399 Jung, Franz Josef 161 Jünger, Ernst 370 Kade, Gerhard 419 Kaisen, Wilhelm 376 Kaiser, Jakob 240, 322 Kalbfell, Oskar 372 Kanther, Manfred 221 Kasner, Horst 433 Kauder, Volker 295 Kelley, Stanley 226 Kelly, Petra 212, 214, 411, 417, 421ff., 427, 429 Kennedy, John F. 325, 436 Kiep, Walther Leisler 444 Kiesinger, Kurt Georg 35, 41, 82, 316, 328, 399 Kinkel, Helmut 345 Kinkel, Klaus 333ff., 496 Kirchhof, Paul 160ff., 192, 356, 487, 490f., 494, 496, 503 Klaeden, Eckart von 448 Klepsch, Egon 310 Knieps, Franz 351 Koch, Roland 267, 297, 353, 431, 444, 446, 453 Koeppen, Wolfgang 206 Kohl, Helmut 20, 58, 82ff., 88, 92, 94ff., 104ff., 110ff., 114, 121, 127ff., 131ff., 135, 137ff., 143ff., 149, 155ff., 163, 226, 229ff., 233ff., 238, 247, 262, 270, 336, 338ff., 344f., 431f., 437ff., 441ff., 447ff., 453f., 473, 477, 488, 490, 494f., 499, 503 Köhler, Horst 297, 446, 454 Köppler, Heinrich 82, 102, 107, 111 Krämer, Beate 230 Kraske, Konrad 89, 91
Personenregister Krause, Günther 137, 436f., 444, 454 Lafontaine, Oskar 120, 128, 133ff., 218f., 245, 247, 249 Lambsdorff, Otto Graf 118, 216, 339ff., 343, 495 Lauterbach, Karl 348ff., 488ff., 496, 498f., 501 Leber, Georg 241 Leber, Julius 32, 47 Leggewie, Claus 143 Legien, Carl 240 Lehr, Ursula 140ff., 438, 488f., 491, 494, 496, 499, 503 Lemmer, Ernst 240 Lenz, Hans 204 Leonhardt, Elke 264f. Leussink, Hans 192, 402ff., 489, 492ff., 496 Leyen, Ursula v. d. 161, 158, 274ff., 448ff., 487, 489, 499f., 502 Lippelt, Helmut 215 Lorenz, Peter 78 Löwenthal, Richard 376 Lübke, Heinrich 385 Lukacs, Georg 211 Maier, Reinhold 37, 46 Maihofer, Werner 61ff., 490f., 493f., 501 Maizière, Lothar de 437f. Männle, Ursula 147 Mappus, Stefan 295 Marx, Karl 211 Matthäus, Ingrid 217 Matthöfer, Hans 241 Mayr, Karl Sigmund 182 Meister, Michael 166 Mende, Erich 39f., 42, 67 Menzel, Walter 375 Merkel, Angela 156, 160f., 170f., 274, 281, 284, 289, 294, 296f., 300, 427, 431ff., 492, 498, 501, 503 Merz, Friedrich 161, 164, 166, 171, 447, 492 Metzger, Oswald 215 Meyenfeldt, M. H. v. 420 Meyer, Laurenz 446 Meyers, Franz 82 Mierendorff, Carlo 32 Milbradt, Georg 81 Mischnick, Wolfgang 44f., 51 Modrow, Hans 466f. Moersch, Karl 42 Möllemann, Jürgen 132, 137, 339f., 342, 345 Möller, Alex 317 Monheim, Ursula 352 Morlok, Jürgen 58 Moses, Dirk 312 Müller, Gerd 366 Müller, Hildegard 448 Müller, Josef 199
509 Müller, Peter 448 Müller, Werner 251, 263, 490 Müller-Armack, Alfred 307 Müntefering, Franz 352, 451 Nahles, Andrea 356, 358 Naumann, Michael 255ff., 490, 492, 494, 500f. Nerreter, Paul 182 Neumann, Franz 384 Neusel, Hans 309 Nida-Rümelin, Julian 266, 268 Niederalt, Alois 200, 203 Niemöller, Martin 417 Nitsche, Juliane 464, 472 Nolte, Claudia 438 Nooke, Günther 467, 472 Ohnesorg, Benno 36 Ollenhauer, Erich 379, 383, 385 Oppenheimer, Franz 391 Piëch, Ferdinand 243 Platzeck, Hans 457 Platzeck, Matthias 456ff., 492 Pofalla, Ronald 448 Pohl, Ottmar 107 Polenz, Ruprecht 446 Popper, Karl 34 Porsch, Peter 114 Ramelow, Bodo 241 Rau, Johannes 345 Reents, Jürgen 423 Reiche, Steffen 474, 478, 481 Reichhelm, Hans-Dieter 424 Reimann, Carola 354 Renner, Victor 366 Reuter, Ernst 323, 376 Ridder, Helmut 417 Riemer, Horst-Ludwig 66 Ries, Fritz 83, 98 Riester, Walter 240ff., 263, 266, 488, 490f., 503 Rieth, Gustav Adolf 366 Ristau-Winkler, Malte 291 Rodenstock, Rolf 189 Röder, Franz Josef 118ff., 122, 488 Rönsch, Hannelore 156 Roser, Dieter 366 Roth, Karin 241 Roth, Norbert 335 Rühe, Volker 155, 338, 442 Rürup, Bert 351 Rushdie, Salman 338 Sartre, Jean-Paul 211 Sauer, Hans 196 Sauer, Joachim 441 Schäffer, Fritz 186, 199 Scharping, Rudolf 218, 247, 473 Schäuble, Wolfgang 344, 441ff., 446, 453f.
510 Schavan, Annette 161 Scheel, Walter 40f., 44ff., 50f., 58, 63f., 66f., 69ff., 79f., 314, 327 Schelsky, Helmut 312, 412 Schiele, Margrit 62 Schiller, Karl 95, 263, 379, 387f., 408 Schily, Franz 210 Schily, Otto 206ff., 429, 490, 494, 500 Schleyer, Hanns-Martin 78, 83, 99 Schmid, Carlo 313, 363ff., 488f., 491f., 495, 498f., 503 Schmidt, Helmut 71ff., 76f., 97, 100, 104, 314, 317, 320, 330f., 388 Schmidt, Renate 244, 288 Schmidt, Ulla 348, 350ff., 355, 357f., 488ff. Schmitthenner, Horst 247 Schmoller, Gustav von 366 Schmücker, Kurt 307 Schneider, Hans Karl 117 Schnur, Wolfgang 435ff., 454 Schoettle, Erwin 382f., 385 Scholz, Olaf 268 Schönbohm, Jörg 295 Schröder, Gerhard 160, 165ff., 170f., 218f., 236, 243ff., 248, 250, 253ff., 258ff., 265ff., 270, 272, 288, 348, 352f., 401, 431, 445, 481, 483, 488, 490 Schröder, Gerhard (Außenminister) 311 Schuberth, Hans 180ff., 190 Schulte, Dieter 250 Schulte, Stefan 425 Schultz-Tornau, Joachim 343 Schumacher, Kurt 319, 322, 372, 374ff., 388, 488 Schütz, Klaus 326f. Schwaetzer, Irmgard 339, 341f. Schwarzer, Alice 412 Seidel, Hanns 184 Seite, Berndt 439 Seuffert, Walter 199 Sinn, Hans-Werner 351 Söder, Markus 295 Solms, Hermann Otto 161, 344 Sonnenschein, Carl 304 Spannenberg, Dietrich 328 Späth, Lothar 133, 144ff., 155ff. Speer, Rainer 474, 478, 482f. Sperner, Rudolf 242 Stegerwald, Adam 240 Stein, Gustav 186 Steinkühler, Franz 242f. Sternberger, Dolf 121 Stiegler, Ludwig 265 Stoiber, Edmund 161, 252, 446f., 451, 453 Stollmann, Jost 245, 255, 262f., 266, 490 Stolpe, Manfred 457, 467f., 471ff., 477, 481ff.
Personenregister Stoltenberg, Gerhard 101f., 110 Storch, Anton 240 Strässer, Christoph 417 Strauß, Franz Josef 64, 89, 95f., 98, 101f., 175, 177f., 180, 184, 186, 188, 190, 193, 199f., 202f., 311, 319, 327, 399, 413f., 488, 492 Streibl, Max 148 Struck, Peter 354f. Suhr, Otto 322 Süssmuth, Hans 238 Süssmuth, Rita 133, 140, 143f., 147, 149ff., 156, 158, 223ff., 437, 488ff., 499ff. Tilly, Ulrich 351 Töpfer, Klaus 115ff., 439, 487ff., 500 Trampert, Rainer 214 Traube, Klaus 77 Uexküll, Gösta von 417 Ulbricht, Walter 328 Ulrich, Fritz 370 Verheugen, Günter 217 Verhülsdonk, Roswitha 147 Vogel, Axel 425 Vogel, Bernhard 121f., 124f., 128, 131 Vogel, Hans-Jochen 218f., 318 Vollmer, Antje 423 Wagner, Horst 241 Waigel, Theo 150, 154, 163 Wallmann, Walter 127f., 131 Walser, Martin 259 Wasserhövel, Kajo 356 Weber, Josef 417f. Weber, Max 68, 226 Wehner, Herbert 314, 324f., 379, 383, 385, 414 Weinstein, Adelbert 418 Weizsäcker., Ernst-Ulrich v. 263 Welajati, Akbar Ali 338 Wessel, Gerhard 257 Westerwelle, Guido 341 Westrick, Ludger 303ff., 489f., 494 Wieczorek-Zeul, Heidemarie 351 Wildenmann, Rudolf 38 Wille, Eberhard 355 Windelen, Heinrich 102, 105, 107f., 111 Wissell, Rudolf 240 Wolf, Jochen 470 Wolf, Markus 419 Wolfgang, Günther 437 Wowereit, Klaus 171, 269 Wulff, Christian 169, 274, 279ff., 289, 296, 453 Ypsilanti, Andrea 356 Zerhau, Ulrike 241 Ziel, Alwin 475 Zimmermann, Edwin 470 Zimmermann, Friedrich 183 Zwickel, Klaus 243, 245f., 250
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Ina Brandes, geboren 1977 in Dortmund, ist Historikerin und arbeitet als Leiterin Marketing, Kommunikation, Personalentwicklung bei der Grontmij A&T GmbH. Felix Butzlaff, geboren 1981 in Celle, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der AG Parteienund Politische Kulturforschung. Prof. Dr. Ulrich Eith, geboren 1960 in Villingen/Schwarzwald, ist Geschäftsführer der Arbeitsgruppe Wahlen an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und vertrat im akademischen Jahr 2007/08 den Lehrstuhl von Franz Walter an der Georg-August-Universität Göttingen. Christina Gillessen, geboren 1981 in Würselen, ist Politikwissenschaftlerin an der AlbertLudwigs-Universität Freiburg und Mitglied der dortigen Arbeitsgruppe Wahlen. Stine Harm, geboren 1983 in Rostock, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der AG Parteienund Politische Kulturforschung. Johanna M. Klatt, geboren 1982 in Wolfenbüttel, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der AG Parteien- und Politische Kulturforschung und arbeitet in einem Projekt zur Zivilgesellschaft in Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Stephan Klecha, geboren 1978 in Göttingen, ist Sozialwissenschaftler und arbeitet als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung an einer Dissertation über die Rolle der gewerkschaftlichen Jugendarbeit am Beispiel der IG Metall. Robert Lorenz, geboren 1983 in Kassel, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der AG Parteienund Politische Kulturforschung und arbeitet in einem Projekt zu Gewerkschaften in Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Michael Lühmann, geboren 1980 in Leipzig, studiert Politikwissenschaft sowie Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen und ist Mitarbeiter der AG Parteien- und Politische Kulturforschung. Matthias Micus, geboren 1977 in Hannover, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der AG Parteien- und Politische Kulturforschung und arbeitet in einem Projekt zu Parteien in Deutschland, Österreich und den Niederlanden. Katharina Rahlf, geboren 1983 in Göttingen, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der AG Parteien- und Politische Kulturforschung und arbeitet in einem Projekt zu Kirchen in Deutschland, Österreich und den Niederlanden.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Saskia Richter, geboren 1978 in Gehrden, ist Doktorandin an der Georg-August-Universität Göttingen und arbeitet an einer Biografie über die Grünen-Politikerin Petra Kelly. Silke Schendel, geboren 1979 in Peine, ist Diplom-Sozialwirtin und studierte Sozialwissenschaften mit den Schwerpunkten Europa- und Parteienforschung in Göttingen und Dijon. Sie ist Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit im Berliner Abgeordnetenhaus. Michael Schlieben, geboren 1979 in Frankfurt am Main, ist Politologe und Germanist und arbeitet als Redakteur bei ZEIT ONLINE. Frauke Schulz, geboren 1983 in Northeim, ist Mitarbeiterin der AG Parteien- und Politische Kulturforschung und arbeitet in einem Projekt zu politischer Führung im Föderalismus am Beispiel niedersächsischer Ministerpräsidenten. Benjamin Seifert, geboren 1984 in Kiel, studiert Politikwissenschaft, Alte Geschichte sowie Mittlere und Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen und ist Mitarbeiter der AG Parteien- und Politische Kulturforschung. Ingar Solty, geboren 1979 in Lüdenscheid, ist Promotionsstipendiat der Provinzregierung von Ontario/Kanada. Christian Teevs, geboren 1980 in Göttingen, ist Volontär bei Spiegel Online in Hamburg und arbeitet als Doktorand der Georg-August-Universität Göttingen an einer Dissertation über Nachwuchspolitiker und Elitenrekrutierung. Prof. Dr. Franz Walter, geboren 1956 in Steinheim/Westfalen, lehrt Politikwissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen und ist Direktor der Arbeitsgruppe Parteien- und Politische Kulturforschung. Christian Werwath, geboren 1982 in Bremerhaven, ist Mitarbeiter der AG Parteien- und Politische Kulturforschung und arbeitet in einem Projekt zu politischer Führung im Föderalismus am Beispiel niedersächsischer Ministerpräsidenten.