Soziologie
Impressum Satz: Cornelia Schneider und Thorsten Kneip
Hartmut Esser
Soziologie Spezielle Grundlagen
Band 5: Institutionen
Campus Verlag Frankfurt/New York
Soziologie Spezielle Grundlagen Band 1: Situationslogik und Handeln Band 2: Die Konstruktion der Gesellschaft Band 3: Soziales Handeln Band 4: Opportunitäten und Restriktionen Band 5: Institutionen Band 6: Sinn und Kultur
Hartmut Esser ist Professor für Soziologie und Wissenschaftslehre an der Universität Mannheim. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen. Zuletzt erschien von ihm als Buch die „Soziologie. Allgemeine Gundlagen“(3. Aufl. 1999)
Inhalt
IX
Vorwort 1.
Der Begriff der Institution
1
1.1 Was ist eine Institution?
1
Exkurs über die sog. totale Institution
2. 3.
4.
12
1.2 Warum gibt es Institutionen? 1.3 Wie entstehen Institutionen?
14 38
Institutionelle Analyse Soziale Normen
45 51
3.1 3.2 3.3 3.4
51 57 69 92
Eigenschaften von Normen Normen als soziale Regeln Erwartungen und Ansprüche Die Logik der Angemessenheit
Geltung, Legitimität und Herrschaft
97
Der Rat der Ratten
109
5.
Sanktion und Sanktionierung
111
5.1 Arten von Sanktionen 5.2 Die Wirkung von Sanktionen 5.3 Sanktionierung
111 115 119
Eine kurze Zusammenfassung: Normstrukturen und die Mechanismen der Normgeltung
128
6.
133
Abweichendes Verhalten
VI 7.
Inhalt
Soziale Rollen
141
7.1 7.2 7.3 7.4 7.5 7.6
143 159 166 175 184 186
Position und Rolle Homo Sociologicus Rollenkonflikte Rollendistanz Rollenambiguität Rollenhandeln
Exkurs über die Frage, ob es eine Beziehung zwischen dem Typ des Rollenhandelns und den Strukturen der gesellschaftlichen Verhältnisse gibt
193
8.
Soziale Drehbücher
199
8.1 Skript und Schema 8.2 Wenn die sozialen Drehbücher versagen ...
199 212
Exkurs über die Liebe Drehbuch?
oder: Was geschieht bei Lücken im sozialen
8.3 Die Änderung der sozialen Drehbücher 8.4 Wir alle spielen Theater?
219 221 223
Formel 1 am Herd
233
9.
Organisation
237
9.1 Was ist eine Organisation? 9.2 Warum gibt es Organisationen und wie entstehen sie? 9.3 Die beiden Grundprobleme der Organisation: Kollektive Entscheidungen und die Verteilung des Ertrags 9.4 Organisationskultur 9.5 Das Überleben und der Wandel von Organisationen 9.6 Die Organisation als Handlungsfeld
238 249 256
Exkurs über den Begriff der Figuration 9.7 Organisationen als „rationale“ soziale Systeme Exkurs über die Bindestrich-Soziologien am Beispiel von Organisations-Soziologie und Verwaltungswissenschaft
264 266 271 283 291 301
VII
Inhalt
10. Die Entstehung von Institutionen 10.1 10.2 10.3 10.4 10.5
Drei Beispiele und eine Feststellung Normbedarf Die „effektive“ Einrichtung von Normen Die Objektivation von Institutionen Fundierung und Durchsetzung
305 306 314 319 322 328
Exkurs über die Behauptung, bei der Entstehung von Ordnungen sei aller Anfang leicht
331
11. Legitimation
339
11.1 11.2 11.3 11.4
Nomisierung Verständigung Der Schleier des Nichtwissens Legitimation durch Verfahren
12. Institutioneller Wandel 12.1 Arten des institutionellen Wandels 12.2 Evolutionärer Wandel 12.3 Die Revolution der institutionellen Ordnung Literatur Register
340 348 356 361 369 370 373 382 403 415
Vorwort
Institutionen sind wohl der zentralste Bestandteil der gesellschaftlichen Ordnung, der Festlegung der sozialen Produktionsfunktionen und damit dessen, was in einer Gesellschaft Wert hat und was nicht. Um sie geht es in Band 5 der „Speziellen Grundlagen“. In Kapitel 1 wird zunächst auf das allgemeine Konzept der Institution eingegangen, einem in der Soziologie nicht immer deutlich benannten Begriff, sowie auf die verschiedenen „Funktionen“ und Entstehungsbedingungen von Institutionen. In einem kurzen (Zwischen-) Kapitel (Kapitel 2) wird erläutert, warum die in der Soziologie gelegentlich vorgeschlagene „institutionelle Analyse“ eigentlich nicht ausreichen kann, um die betreffenden Vorgänge zu erklären. Der Grund ist einfach, und Max Weber hat ihn in dem Satz zusammengefaßt, daß eben nicht die Konventionalregel des Grußes den Hut vom Kopf nehme, sondern immer nur Akteure, die dabei etwas im „Sinn“ haben. In Kapitel 3, 4 und 5 werden im Zusammenhang der sozialen Normen, als dem wohl wichtigsten Unterfall von Institutionen, einige der zentralen Bestandteile von Institutionen näher erläutert: Das Konzept der sozialen Regel, das des Anspruchs als einer gesteigerten Art von Erwartungen, die Legitimität und die (moralische) „Geltung“ von Normen und Institutionen, insbesondere in Gestalt einer legitimen „Herrschaft“, und das Problem der Sanktionierung von Abweichungen von den institutionellen Regeln. Hier wird auch die Verbindung zu den Umständen der Entstehung von besonderen Formen des Ordnungsbedarfs hergestellt, die in Band 3, „Soziales Handeln“ im Zusammenhang gewisser strategischer Situationen ausführlich besprochen worden sind. Dabei wird deutlich, daß bei der „Organisation“ von Sanktionen und sozialen Kontrollen, als einer der Grundlagen der „Geltung“ von institutionellen Ordnungen, erneut ein Problem des kollektiven Handelns entsteht, das nicht leichthin oder gar von alleine zu lösen ist. Kapitel 6 geht dann kurz auf ein spezielles Problem ein: Das sog. abweichende Verhalten, auch in ihrer besonderen Form als Kriminalität. Kapitel 7 und 8 befassen sich mit speziellen Formen instituioneller Regeln. In Kapitel 7 geht es um die sog. sozialen Rollen an funktional definierte Positionen, etwa in Betrieben oder Behörden, gebundene Muster von Erwartungen an die Personen, die diese Positionen besetzen. In diesem Zusammenhang werden auch die verschiedenen
X
Vorwort
Problemstellungen, Konflikte, Ambiguitäten und Interpretationszwänge erläutert, denen Akteure in Konfrontation mit institutionellen Erwartungen ausgesetzt sein können und wie sich die Akteure, oft erstaunlich geschickt und findig, dabei aus der Affäre ziehen. Das ist auch eine Gelegenheit die verschiedenen Rollenkonzepte diverser soziologischer Schulen, insbesondere die des normativen und des interpretativen Paradigmas, aufzugreifen und wie üblich in das Modell der soziologischen Erklärung als Spezialfälle sozialer Situationen bzw. sozialer Beziehungen zu integrieren. Die Behandlung der sog. sozialen Drehbücher („scripts“) stellt in Kapitel 8 die Verbindung von neueren Entwicklungen der kognitiven (Sozial-)Psychologie über die „mentale“ Organisation von Wissen in „Schemata“ zum soziologischen Rollen-, Normen- und Institutionenkonzept her. Vor diesem Hintergrund ist auch eine zwanglose Einordnung der von der mainstream-Soziologie meist eher etwas ratlos wahrgenommenen Beiträge von Harold Garfinkel und Erving Goffman möglich. Das Kapitel 9 befaßt sich mit der wohl deutlichsten Form der institutionellen Regelung sozialer Abläufe der „Organisation“ von kollektiven Unternehmungen. Hier wird sowohl auf die Umstände der Einrichtung von Organisationen als eigenen sozialen Gebilden, wie auf die Bedingungen ihres „Überlebens“ bzw. ihres Endes, vor allem aber auf das oft sehr komplizierte Verhältnis zwischen den institutionellen Vorgaben einerseits und den stets weiter bestehenden Interessen, Handlungsspielräumen und Machtbeziehungen der Akteure eingegangen. Das gibt auch eine Gelegenheit, den soziolologischen Ansatz von Erving Goffman systematisch in den Rahmen der erklärenden Soziologie einzufügen und zu zeigen, daß Goffman alles andere als bloß eine „Dramaturgie“ des Alltags entwickelt, sondern demonstriert hat, wie geschickt Akteure mit dem Problem umgehen, eines ihrer wichtigsten Ziele auch gegen alle „normativen“ und „materiellen“ Begrenzungen durchzusetzen den Erhalt eines positiven Selbstbildes. Seine Ideen werden vor dem Hintergrund des Konzepts der sozialen Produktionsfunktionen leicht verständlich, und er muß nicht, wie üblich, zu einem etwas skurrilen Sonderfall des interpretativen Paradigmas degradiert werden. Die letzten drei Kapitel des Bandes behandeln dann die Entstehung von Institutionen. In Kapitel 10 wird der Vorgang der Institutionalisierung erläutert: die Entstehung sozialer Ordnung vor dem Hintergrund der drei typischen Situationen eines Ordnungsbedarfs: Koordination, Dilemmasituation, Konflikt. Das Kapitel 11 behandelt vier Arten der stets erforderlichen „Legitimation“ von institutionellen Ordnungen, die sich insbesondere im Grad der „Rationalität“ der Legitimation unterscheiden und damit darin, wie geeignet sie sind, Institutionen in modernen Gesellschaften mit Legitimität zu versehen. Den Abschluß bildet das Kapitel 12 mit einer Behandlung des Wandels von institutionellen Ordnungen, insbesondere der
Vorwort
XI
beiden wichtigsten Formen dieses Wandels: Evolution und Revolution. Dieses Kapitel knüpft dabei, selbstverständlich, an das Kapitel 7 über „sozialen Wandel“ aus Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ an und vertieft die Ausführungen dort über den evolutionären bzw. insbesondere über den revolutionären Wandel. Dieser Band 5 über die Institutionen hat wohl noch die größte Affinität zu dem, was man üblicherweise in Einführungen über die Soziologie zu lesen bekommt: Normen, Rollen, Sanktion und Sozialisation, abweichendes Verhalten alles kommt vor, und oft auch in der gewohnten Weise. Der Hauptunterschied ist freilich wieder der, der auch alle anderen Bände ausmachte: Der konsequente Versuch, die verschiedenen Konzepte der Soziologie miteinander und mit den jeweils relevanten Ansätzen der Nachbarwissenschaften unter dem Dach des Modells der soziologischen Erklärung systematisch und in sich gegenseitig ergänzender Weise in Verbindung zu bringen. Das ist beispielsweise bei der Zusammenführung des Rollenkonzepts der Soziologie mit dem Schema- und Skriptkonzept der (Sozial-)Psychologie in Kapitel 8 oder bei der tausch- und produktionstheoretischen Modellierung des Konzepts der Rollendistanz in Kapitel 9 so geschehen. Damit ist auch dieser Band zwar durchaus auch wieder alleine für sich zu lesen. Aber diesmal dürfte die Lektüre der vorausgehenden Bände hier und da nicht zu umgehen sein. Das betrifft vor allem den Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, in dem die Basis für ein Verständnis dafür gelegt wurde, wann Menschen überhaupt einen „Bedarf“ nach Ordnung und der Etablierung von institutionellen Regeln verspüren und ein Interesse daran, sich eine, auch bindende und entfremdende, Herrschaft zu schaffen. Und wieder wurde auch hier deutlich, was sich auch an allen anderen sozialen Prozessen und Strukturen zeigt: Das Geschehen kann nur dann angemessen verstanden werden, wenn neben den institutionellen Regeln auch die materiellen Opportunitäten und Restriktionen, wie sie in Band 4 zur Sprache kamen, und die kulturellen Rahmungen von Situationen im Blick bleiben. Auf die letzteren kommen wir dann noch in dem die „Speziellen Grundlagen“ abschließenden Band 6 über „Sinn und Kultur“ ausführlich zu sprechen. Stefan Ganter danke ich dafür, daß er mich noch rechtzeitig daran erinnert und dazu gebracht hat, die „Organisation“ in einem Band über „Institutionen“ in einem eigenen Kapitel und als eigenes „grundlegendes“ soziales System zu behandeln und nicht nur als Anwendungsfall für die Entstehung und Wirkung institutioneller Regeln über die verschiedenen Kapitel verstreut.
Hartmut Esser
Mannheim, im Juli 2000
Kapitel 1
Der Begriff der Institution
Die strukturellen Möglichkeiten bilden den weitesten Spielraum des Handelns in einer Situation. Jedes soziale Handeln und jede Kooperation muß innerhalb dieser Grenzen organisiert werden und zwar so, daß die mit der Komplexität und Kontingenz sozialer Situationen und die mit der antagonistischen Kooperation zusammenhängenden Probleme zuverlässig gelöst werden. Nur auf sich gestellt und durch individuelle, allein an Interessen orientierte Entscheidungen ist das den Akteuren aber nicht möglich. Es muß auch eine „gesellschaftliche“ Unterstützung geben. Die Institutionen einer Gesellschaft sind die Antwort auf dieses Problem. Doch: Was sind eigentlich Institutionen? Warum gibt es sie? Und wann und warum ändern sie sich?
1.1
Was ist eine Institution?
Ist die Abseitsregel eine Institution? Ist es ein Wochenmarkt? Die Schule? Eine Nervenheilanstalt? Ein Betrieb? Die Ehe? Eine eheliche Gemeinschaft? Das Geld? Die Konventionalregel des Grußes? Die 5%-Klausel? Die Meinungsfreiheit? Die Europäische Gemeinschaft? Helmut Kohl (vor der Spendenaffaire)? Marcel Reich-Ranicki und das Literarische Quartett? Oder ein Stammplatz in der Vorlesung weit ab vom fragenden Blick des Herrn Professors? Die Soziologie ist gewiß nicht arm an zentral wichtigen, aber nach wie vor nicht eindeutig geklärten Konzepten. Der Begriff der Institution gehört auch dazu.1 1
Vgl. zur Definition des Begriffs der Institution insbesondere M. Rainer Lepsius, Institutionenanalyse und Institutionenpolitik, in: Birgitta Nedelmann (Hrsg.), Politische Institutionen im Wandel, Sonderheft 35 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1995, S. 392-403; M. Rainer Lepsius, Institutionalisierung und Deinstitutionalisierung von Rationalitätskriterien, in: Gerhard Göhler (Hrsg.), Institutionenwandel, Sonderheft 16 des Leviathan, Opladen 1997, S. 57-69; Viktor Vanberg, Markt und Organisation. Individualistische Sozialtheorie und das Problem korporativen Handelns, Tübin-
Institutionen
2
Begriffsbestimmungen haben stets etwas Unbefriedigendes an sich. Das liegt nicht zuletzt daran, daß jeder Begriff letztlich nur eine Vereinbarung ist, die auch anders ausfallen könnte und deren Fruchtbarkeit sich immer erst in der Arbeit mit dem Begriff zeigt. Aber angesichts der Vieldeutigkeit des Wortes und der Wichtigkeit des Konzeptes wollen wir doch den Versuch einer Präzisierung wagen. Insofern sei auch die mit „Was ist ... ?“ in der Abschnittsüberschrift ganz und gar falsch gestellte Frage ausnahmsweise verziehen.
Es ist allein schon deshalb vielleicht besser, bereits jetzt zu sagen, was hier unter einer Institution verstanden werden soll: Eine Institution sei ganz knapp und allgemein gesagt eine Erwartung über die Einhaltung bestimmter Regeln, die verbindliche Geltung beanspruchen. Der Rest des Kapitels und des gesamten Bandes über die Institutionen soll erläutern, was das im einzelnen heißt, und zeigen, daß es eine vernünftige begriffliche Festlegung ist.
Zur Geschichte des Begriffs Der Begriff der Institution gehört mit zu den wichtigsten Grundkonzepten der Soziologie überhaupt.2 Er ist erst mit dem Aufkommen bzw. mit dem Bedeutungszuwachs jener Zwischeninstanzen entstanden, die zwischen dem Handeln der Individuen und den großen gesellschaftlichen Strukturen liegen: die Ordnungen und Vorschriften der Stände und Zünfte, die Städteordnungen oder die Regeln spezieller Glaubensgemeinschaften zum Beispiel. Vorher gab es in der politischen Theorie zur Erklärung der Ordnung des individuellen Handelns nur den Staat bzw. das Gemeinwesen insgesamt. Bei Aristoteles und Cicero waren es die polis bzw. die res publica, bei Thomas Hobbes der Leviathan. Für die gesellschaftliche Ordnung irgendwie bedeutsame Vermittlungsinstanzen zwischen Staat bzw. Gemeinwesen und Individuum gab es in dieser Sicht nicht. Auch die Familien, die Verwandtschaftssysteme, die Kirchen u.a. wurden nur als konkrete Handlungsgebilde oder göttliche Einrichtungen, nicht aber als eigene „Institutionen“ der Gesellschaft angesehen. Der Begriff spielt dann als „institutio“ seit Martin Luther und Johannes Calvin im theologischen Denken bereits eine gewisse Rolle. Ein wichtiger Schritt für das heutige soziologische Verständnis war die rechtstheoretische Interpretation der Institutionen durch den Rechtstheoretiker und Philosophen Maurice Hauriou zu Beginn dieses Jahrhunderts, der Institu-
2
gen 1982, S. 32ff. Vgl. auch die ausführliche Übersicht über verschiedene begriffliche Varianten und über die Geschichte des Begriffs der Institution in der Soziologie bei: Johann August Schülein, Theorie der Institution. Eine dogmengeschichtliche und konzeptionelle Analyse, Opladen 1987. Vgl. die Darstellung der Entwicklung des Begriffs bei Thomas Luckmann, Theorie des sozialen Handelns, Berlin und New York 1992, S. 123ff.
Der Begriff der Institution
3
tionen wie auch Emile Durkheim (siehe gleich) als soziale Tatsachen begriff, in denen sich die einer Rechtsordnung zugrunde liegenden Leitideen die „idées directrices“ unmittelbar verkörpern und mit den Sanktionen der gesellschaftlichen und staatlichen Macht verbunden werden.3 In der Soziologie ist der Begriff der Institution explizit wohl zuerst von Herbert Spencer, implizit und explizit später vor allem von den Vertretern des Struktur-Funktionalismus verwandt worden: von Emile Durkheim, wie gesagt, ferner von Marcel Mauss, von Alfred R. Radcliffe-Brown, von Bronislaw Malinowski und insbesondere natürlich von Talcott Parsons. Die in dieser Hinsicht: speziell deutsche soziologische Anthropologie hat den Begriff der Institution ebenfalls sehr betont: Max Scheler und Helmut Plessner mit ihrer Auffassung von der „Exzentrizität“ des Menschen und den Institutionen als Instinktersatz zur Kompensation der Weltoffenheit des Menschen, sowie insbesondere Arnold Gehlen und Helmut Schelsky. Arnold Gehlen und Helmut Schelsky haben daraus auch manchen Schluß gezogen, der für konservativere und andere, gottlob nach tausend Jahren wieder verschwundene Geister einen angenehmen Beigeschmack haben konnte. Einer der wichtigsten neueren soziologischen Beiträge zum Begriff und zur Erklärung von Institutionen ist schließlich die Konzeption von der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit“ von Peter L. Berger und Thomas Luckmann: Institutionen sind Regeln für Problemlösungen des Alltags, sie „definieren“ das, was möglich und sinnvoll ist und gewinnen über das Handeln der Menschen bald eine objektive Macht, der sie sich kaum noch entziehen können, obwohl nur sie die Regeln und die darauf aufbauenden Institutionen geschaffen haben und durch ihr Tun auch fortwährend reproduzieren.4
Soziologische Tatbestände Endgültig in das Zentrum der soziologischen Analyse wird der Begriff der Institution durch Emile Durkheim gerückt. Er tut dies im Vorwort zur zweiten Auflage der „Regeln“ als Antwort auf die zunächst durchaus kritische Rezeption seines Begriffs des soziologischen Tatbestandes. Es handele sich bei den 3
4
Vgl. Maurice Hauriou, Die Theorie der Institution und der Gründung, in: Roman Schnur (Hrsg.), Die Theorie der Institution und zwei andere Aufsätze von Maurice Hauriou, Berlin 1965, S. 36ff. Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1977 (zuerst: 1966), Teil II: Gesellschaft als objektive Wirklichkeit; vgl. dazu auch noch Kapitel 10 und 11 unten in diesem Band ausführlich.
Institutionen
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soziologischen Tatbeständen um eine Form des „sozialen Zwanges“, der von bestimmten „Gewohnheiten“, „sozialen Überzeugungen und Gebräuchen“ ausgehe und „von außen“ her auf die Menschen einwirke.5 Es seien also stets gewisse Regelmäßigkeiten und stabile Erwartungen, die einen soziologischen Tatbestand ausmachen. Aber hinzu trete insbesondere deren soziale Verbindlichkeit: „Damit aber ein soziologischer Tatbestand vorliege, müssen mindestens einige Individuen ihre Tätigkeit vereinigt haben, und aus dieser Verbindung muß ein neues Produkt hervorgegangen sein. Und da diese Synthese außerhalb eines jeden von uns ... stattfindet, so führt sie notwendig zu dem Ergebnis, außerhalb unseres Bewußtseins gewisse Arten des Handelns und gewisse Urteile auszulösen und zu fixieren, die von jedem Einzelwillen für sich genommen unabhängig sind.“ (Ebd., S. 99f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Dieser Erläuterung des Begriffs des soziologischen Tatbestandes fügt Emile Durkheim dann die Anmerkung hinzu: „Es gibt, worauf schon verwiesen wurde, ein Wort, das in geringer Erweiterung seiner gewöhnlichen Bedeutung diese ganz besondere Art des Seins ziemlich gut zum Ausdruck bringt, nämlich das Wort Institution. Tatsächlich kann man, ohne den Sinn dieses Ausdrucks zu entstellen, alle Glaubensvorstellungen und durch die Gesellschaft festgesetzten Verhaltensweisen Institutionen nennen; ... .“ (Ebd., S. 100; Hervorhebung nicht im Original)
Institutionen weisen damit als soziologische Tatbestände zwei zentrale Merkmale auf: Es handelt sich erstens um „Glaubensvorstellungen“ bzw. damit verbundene „Verhaltensweisen“ der Akteure, die aber zweitens nicht in das Belieben der Akteure gestellt sind, sondern „durch die Gesellschaft“ geregelt, „festgesetzt“ und damit nötigenfalls erzwungen werden. Emile Durkheim fügt den nicht nur für seine Begründung des Faches Soziologie wichtigen Hinweis hinzu: „ ... die Soziologie kann also definiert werden als die Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart.“ (Ebd.)
So ist es bis heute geblieben: Die Soziologie ist vor allem die Wissenschaft von der Beschreibung und von der Erklärung der vielen verschiedenen Institutionen der Gesellschaften der Menschen. Die institutionelle Analyse ist der Kern einer jeden Analyse der Logik der Situation und damit Anfang und Ende einer jeden soziologischen Erklärung (vgl. dazu schon Kapitel 10 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch Kapitel 2 unten in diesem Band). 5
Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben und eingeleitet von René König, 5. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1976 (zuerst: 1895), Vorwort zur zweiten Auflage, S. 99; Hervorhebungen nicht im Original.
Der Begriff der Institution
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Regelmäßigkeiten und Organisationen Institutionen sind, so war oben festgelegt worden, Regeln mit erwartetem Geltungsanspruch. Mit dieser Fassung läßt sich der Begriff der Institution von zwei damit oft verwechselten anderen Sachverhalten unterscheiden: erstens von einfachen, aber nicht als Erwartungen verankerten oder gar durch Sanktionen erzwungenen oder über bestimmte moralische Gefühle getragenen, bloßen Regelmäßigkeiten des Handelns wie das etwa ein Wochenmarkt, ein Stammplatz in der Vorlesung oder auch Helmut Kohl als Bundeskanzler normalerweise sind oder waren (vgl. dazu auch noch Abschnitt 3.3 unten in diesem Band). Erst wenn ein Wochenmarkt, der Stammplatz oder Helmut Kohl mit Geltungsanspruch erwartet würden, wären sie eine „Institution“. Zweitens sind Institutionen von den konkreten und inhaltlich bestimmten sozialen Gebilden zu unterscheiden, in denen soziale Regeln zwar angewandt werden, die aber nicht allein daraus bestehen wie ein Betrieb, eine Ehegemeinschaft oder eine Nervenheilanstalt zum Beispiel. Hierfür ist der Begriff der Organisation vorgesehen: ein für bestimmte Zwecke eingerichtetes soziales Gebilde mit einem formell bzw. „institutionell“ vorgegebenen Ziel, mit formell geregelter Mitgliedschaft, einer das Handeln der Mitglieder regelnden institutionellen „Verfassung“, sowie meist einem eigenen „Erzwingungsstab“ zur Durchsetzung dieser Verfassung. Organisationen sind somit konkrete soziale Gebilde mit bestimmten Eigenschaften, die unter anderem auf der Grundlage von institutionellen Regeln aufgebaut sind, sich darin aber nicht erschöpfen (vgl. dazu auch noch den Exkurs über die sog. totale Institution im Anschluß an diesen Abschnitt, sowie noch Kapitel 9 unten in diesem Band). Der Unterschied einer Institution zu einer bloßen Regelmäßigkeit ist leicht zu sehen: Soziale Regelmäßigkeiten bestehen, ohne daß damit auf diese Struktur hin ausgerichtete, spezifische Erwartungen oder Sanktionen verbunden wären. Die Selbstmordrate eines Landes, die Entwicklung der Scheidungsraten, der Benzinpreis, ja oft genug auch die Harmonie des Zusammenlebens der Menschen entstehen, ohne daß irgend jemand dies als „Norm“ erwartet oder beabsichtigt oder einer darauf bezogenen Regel folgt. Soziale Regelmäßigkeiten sind meist unbeabsichtigte Folgen von oft ganz anders motivierten und auf diese Strukturen hin eben nicht geregelten Handlungen, Gewohnheiten oder Reaktionen. Auch der Unterschied einer Organisation zur Institution wird sofort deutlich: Die in dem Ziel, den Mitgliedschaftskriterien und der Verfassung niedergelegten Regeln sind jeweils durchaus „Institutionen“. Institutionelle Regeln sind damit nicht nur ein Teil, sondern geradezu das Kernstück, ein Definitionsbestandteil des Begriffs der Organisation. Sie sind mit dem sozialen Gebilde der Organisation selbst aber nicht identisch, weil eine Organisation nicht nur aus ihren institutionellen Regeln besteht, sondern u.a. auch aus informellen Vorgängen und Machtverteilungen, die – zum Beispiel – die Geltung der institutionellen Regeln in der Organisation nachhaltig beeinflussen können.
Institutionen
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Institutionen sind also so können wir nun noch einmal zusammenfassen im Unterschied zu sozialen Regelmäßigkeiten und Organisationen bestimmte, in den Erwartungen der Akteure verankerte, sozial definierte Regeln mit gesellschaftlicher Geltung und daraus abgeleiteter „unbedingter“ Verbindlichkeit für das Handeln. Sie „gelten“ daher auch dann, wenn einzelne Akteure diese Regeln nicht kennen, sie mißachten oder einfach vergessen haben. Bei „Geltung“ wird man sie schon daran erinnern: strafende Blicke, Mahnschreiben, Verfassungsgericht. Rein auf Interessenkonvergenz beruhende Abstimmungen und „freiwillige“ Kooperationen wären damit auch nicht zu den Institutionen zu zählen. Auch das wären ja nur Regelmäßigkeiten, die sich ergeben, ohne daß die Akteure diese Regelmäßigkeiten im Sinn hätten. Märkte sind ebenfalls nur „Regelmäßigkeiten“ und wären demnach auch keine Institutionen, ebensowenig wie dies Organisationen sind. Das aber aus einem anderen Grund: Organisationen sind „mehr“ als ihre Regeln, Märkte sind gewissermaßen „weniger“ als die Regeln, die sie umgeben. Märkte brauchen „als solche“ keine besonderen Regeln, da sich die Akteure dort bereits allein über ihre bilateralen, interessenbedingten Aktivitäten und ungeplant koordinieren. Gleichwohl beruhen empirisch natürlich auch die Märkte – und andere bloß „interessenbedingte“ Kooperationen – auf institutionellen Regelungen – zum Beispiel auf der jeweils herrschenden „Marktordnung“ des Wirtschaftssystems, auf der Währungsordnung für das Geld, mit dem gezahlt wird, oder auf den städtischen Verordnungen zur Abhaltung des Wochenmarktes. Anders als über eine solche institutionelle Einbettung wären die vielen riskanten Einzeltransaktionen auch auf ganz engen und stark interessegeleiteten Märkten gar nicht denkbar (vgl. dazu bereits Kapitel 7 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und für andere Formen und Inhalte des sozialen Handelns – gemeinsame Unternehmungen, langfristige Vorhaben oder riskantes Vertrauen – gilt dies erst recht.
Praktisch alle sozialen Gebilde und Strukturen haben deshalb zwingend in irgendeiner Weise mit institutionellen Regeln zu tun. Den Grund dafür kennen wir bereits: Die Bedürfnisse der Menschen sind zwar allgemein, aber die Art, wie sie bedient werden können, muß immer erst noch durch die soziale Definition der primären und indirekten Zwischengüter geregelt werden. Und genau das tun die Institutionen: Sie definieren die sozialen Produktionsfunktionen und damit die Regeln des „Spiels“, in dem sich die Akteure nun befinden und innerhalb dessen sie nun ihre vielen guten wie schlechten Talente ausprobieren können (vgl. zum Konzept der sozialen Produktionsfunktionen u.a. Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und sobald sich die Institutionen und die „Spielregeln“ ändern, tun das auch die Strukturen und sozialen Gebilde, die sich in ihrem Rahmen als naheliegend oder sinnvoll erweisen und die Menschen in ihren Vorlieben und Überzeugungen prägen, ja erst als handlungsfähige Subjekte konstituieren. Der amerikanische Historiker und Ökonom (und ebenfalls: Nobelpreisträger) Douglass C. North hat diese Zusammenhänge so beschrieben:
Der Begriff der Institution
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„Institutions are the rules of the game in a society or, more formally, are the humanly devised constraints that shape human interaction. In consequence they structure incentives in human exchange, whether political, social, or economic. Institutional change shapes the way societies evolve through time and hence is the key to understanding historical change.“6
Die institutionellen Regeln sind der Kern aller gesellschaftlichen Strukturen und der wohl wichtigste Aspekt der Logik der Situation für die Akteure. Deshalb besteht die Soziologie zu Recht darauf, die Beschreibung und Erklärung von Institutionen als das Zentrum ihrer Analysen anzusehen.
Drei Definitionen Das Konzept der Institution als in den Erwartungen der Akteure verankerte und sozial verbindlich geltende Regeln des Tuns findet sich bei aller Verschiedenheit der Definitionen des Begriffs in den verschiedensten Fachkontexten wieder, die sich mit dem Phänomen befassen. Eine typisch soziologische Fassung stammt von René König, der sich bekanntlich sehr an der Soziologie von Emile Durkheim orientiert hat. Danach ist eine Institution einfach „ ... die Art und Weise, wie bestimmte Dinge getan werden müssen.“
Der Philosoph John H. Rawls definiert in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“ eine Institution so: „Unter einer Institution verstehe ich nun ein öffentliches Regelsystem ... . Nach diesen Regeln sind bestimmte Handlungsformen erlaubt, andere verboten; für den Übertretungsfall sehen sie bestimmte Strafen, Gegenmaßnahmen usw. vor.“
Und aus spieltheoretisch-ökonomischer Sicht findet sich die folgende, etwas umständliche Formulierung von Andrew Schotter: „Eine Verhaltensregularität R von Mitgliedern einer Gruppe G, die an einer wiederholt auftretenden Situation S beteiligt sind, ist genau dann eine Institution, wenn es wahr ist und wenn es in G zum gemeinsamen Wissen gehört, daß bei jedem Auftreten von S unter Mitgliedern von G (1) (2) (3.1)
6
jeder R folgt; jeder vom anderen erwartet, daß er R folgt; jeder es vorzieht, R zu folgen, sofern auch die übrigen es tun, weil S ein Koordinationsproblem ist und die allseitige Befolgung von S ein koordinatives Gleichgewicht ergibt oder
Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge u.a. 1990, S. 3; Hervorhebungen nicht im Original.
Institutionen
(3.2)
8
dann, wenn irgendjemand je von R abweicht, es bekannt ist, daß einige oder alle anderen dies ebenfalls tun und die Bewertung der unter den Abweichungsstrategien entstehenden Situation schlechter ist als unter R.“7
Immer geht es um Regeln, die von den Akteuren eines Kollektivs erwartet werden, und die im Kollektiv für den Fall der Abweichung eine bestimmte Geltung beanspruchen worauf dieser Anspruch auf Geltung auch immer beruhen mag: auf der Androhung von Sanktionen oder darauf, daß die Befolgung der Regeln schon im eigenen Interesse als vernünftig angesehen wird.
Sanktion und Legitimität Aus den Definitionen wird deutlich, daß die Geltung der institutionellen Regeln auf den Folgen beruht, die mit einer Übertretung verbunden wären: Die Dinge „müssen“ getan werden; bestimmte Handlungen sind „erlaubt“ und andere „verboten“; und unter Umständen ist es in meinem unmittelbaren Interesse, den Regeln zu folgen, weil ansonsten alle anderen sich so verhalten, daß es mir schaden würde. Dies ist die Absicherung der Regeln über Sanktionen seien es extern verhängte Sanktionen, intern wirksame Kontrollen oder die Verletzung der eigenen Interessen durch eine Abweichung von den Regeln, woraus sich die Institution gewissermaßen von alleine „self-enforcing“ stabilisiert. Max Weber hat auf einen zweiten, von den Sanktionen zu unterscheidenden Grund der Geltung von Institutionen hingewiesen: die Legitimität einer wie Max Weber sagt „Ordnung“. Es handelt sich dabei um eine spezielle Art der subjektiven Orientierung der Akteure. In den „Soziologischen Grundbegriffen“ lesen wir: „Handeln, insbesondre soziales Handeln und wiederum insbesondere eine soziale Beziehung, können von seiten der Beteiligten an der Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung orientiert werden. Die Chance, daß dies tatsächlich geschieht, soll ‚Geltung‘ der betreffenden Ordnung heißen.“8
Die „Vorstellung“ vom Bestehen der legitimen Ordnung definiert dabei den subjektiven Sinn bzw. den Sinngehalt des Handelns unter der betreffenden 7
8
René König, Institution, in: René König (Hrsg.), Soziologie, Neuausgabe, Frankfurt/M. 1967, S. 143; John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 6. Aufl., Frankfurt/M. 1991 (zuerst 1971), S. 74f.; Andrew Schotter, The Economic Theory of Social Institutions, Cambridge u.a. 1981, S. 11; Hervorhebungen jeweils (so) nicht im Original. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 16; Hervorhebungen im Original.
Der Begriff der Institution
9
Ordnung. Der Sinngehalt muß dazu in deutlichen „Maximen“ formuliert sein. Und das Handeln muß diesen Maximen als „verbindlich oder vorbildlich“ folgen. Die Legitimität einer Institution ist also eine bestimmte subjektive Einstellung der Akteure zu der Regel. Sie besteht aus zwei Teilen: Richtigkeit und Gerechtigkeit. Richtigkeit meint die Beurteilung, daß die Regel insgesamt als kognitiv zutreffend und nach dem derzeitigen Erkenntnisstand sachgerecht eingeschätzt wird; Gerechtigkeit bedeutet, daß sie als moralisch vertretbar und vor dem Hintergrund übergreifender Bewertungsstandards als angemessen empfunden wird. Das Gefühl der Richtigkeit und der Gerechtigkeit, das die Legitimität der institutionellen Regeln ausmacht, hat sehr verschiedene Grundlagen (vgl. dazu auch noch die Kapitel 4 und 11 in diesem Band). Die Legitimität ihrerseits ist die Basis für die auch subjektive Geltung der Institution bei den Akteuren als verbindliches und anerkanntes Modell des Handelns in bestimmten Typen von Situationen auch gegen allen Augenschein des Faktischen inmitten eines Meeres der Abweichung von den Regeln. Die Sanktionen einerseits und die Legitimität andererseits sind so die Grundlage der dauerhaften Geltung der Regeln einer institutionellen Ordnung. Die Sanktionen bilden dabei den Rahmen der externen Garantie der Ordnung im Hintergrund, die Legitimität den der internen Verankerung einer institutionellen Ordnung beim aktuellen Handlungsvollzug.
Die Bedeutung der Interessen Die Interessen sind, woran das Konzept von Schotter erinnert, ohne Zweifel auch eine wichtige Komponente der Unterstützung der Regeln. Sie sind aber eben keine Garantie für ihre Geltung. Genau das ist ja der Clou: Institutionen mit ihrer ganz eigenen externen und internen Absicherung durch Sanktionen und durch die empfundene Legitimität ihrer Geltung sind dazu da, das soziale Handeln unter den Bedingungen auch einer antagonistischen Kooperation von den Unwägbarkeiten, Risiken und Dilemmata der bloßen Interessenlagen der Akteure zu befreien. Bei einer hohen Legitimität der Institution treten die Interessen der Akteure (und sogar: die Sanktionen) als Handlungsmotive in den Hintergrund. Jedoch hat ohne Zweifel die empfundene Legitimität einer Ordnung auch damit zu tun, daß die Akteure sich in ihr wohlfühlen können und ihre Interessen bedient sehen. Gegen alle Interessen der Menschen kommen letztlich auch die stärksten Sanktionen nicht an. Ohne irgendeine Fundierung in den Interessen der Menschen oder gar gegen sie
Institutionen
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kann sich auf die Dauer die Legitimität einer institutionellen Ordnung nicht halten. Und dann bewirken auch noch so harte Sanktionen schließlich nicht mehr viel.
Normen, Rollen und soziale Drehbücher Regeln mit Geltungsanspruch kommen in zahllosen verschiedenen Varianten und Bezeichnungen vor. Drei davon sind für die institutionelle Definition von Situationen besonders wichtig: Normen, Rollen und soziale Drehbücher. Der Begriff der Norm ist fast nicht von dem der Institution bzw. einer Regel mit Geltungsanspruch zu unterscheiden (vgl. dazu noch ausführlich Kapitel 3 unten in diesem Band). Vielfach wird er in der exakt gleichen Bedeutung wie der der Institution verwendet. Karl Dieter Opp definiert beispielsweise eine Norm als eine „ ... von Individuen geäußerte Erwartung ... , daß etwas der Fall sein soll oder muß oder nicht der Fall sein soll oder muß. Normen sind also Standards, Regeln oder Vorschriften.“9
Man erkennt die Schwierigkeit gleich: Das gilt eigentlich für alle institutionellen Regeln. Dennoch erscheint eine begriffliche Abgrenzung sinnvoll: Mit Heinrich Popitz sei unter einer Norm eine institutionelle Regel verstanden, die wenigstens: auch mit negativen Sanktionen für den Fall der Überschreitung bedacht ist.10 Damit soll der Einschränkungscharakter der Normen und ihre meist auch essentielle und repressive Regelungsfunktion, besonders betont werden (vgl. dazu bereits Kapitel 4 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Rollen sind begrifflich besser vom allgemeinen Begriff der Institution bzw. der Regel bzw. der Norm abzugrenzen. Es sind normative Regeln mit Geltungsanspruch, die als Erwartungen an Personen gerichtet werden, die bestimmte Positionen in einer Organisation besetzt halten etwa die Rollen „Filialleiter“, „Kunde“ und „Kassierer“ in einem Aldi-Laden. Die Befolgung der mit der Position verbundenen Regeln werden von jeder individuellen Person verlangt, die die Position innehat und die Rolle ausübt (vgl. dazu noch ausführlich Kapitel 7 unten in diesem Band). Aber es gibt natürlich auch Normen, die nicht Rollen sind wie etwa die DIN-Norm, bestimmte admi9
10
Karl-Dieter Opp, Die Entstehung sozialer Normen. Ein Integrationsversuch soziologischer, sozialpsychologischer und ökonomischer Erklärungen, Tübingen 1983, S. 4; Hervorhebungen so nicht im Original. Heinrich Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 21.
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nistrative Vorschriften, wie ein Haus gebaut werden soll, oder die Regeln des Umgangs zweier Fremder in einem Zugabteil, die während ihrer gemeinsamen Fahrt ja in der Regel keine Organisation bilden. Soziale Drehbücher sind schließlich mehr oder weniger formelle Regeln für ganze Sequenzen von koordinierten Handlungsabläufen und für ganze Komplexe von ineinandergreifenden Situationen wie ein Restaurantbesuch, eine Vorlesung oder eine Hinrichtung (vgl. dazu noch ausführlich Kapitel 8 unten in diesem Band). Solche sozialen Drehbücher bestehen natürlich zu einem großen Teil aus Normen den mit Sanktionen bedrohten Anweisungen des „Skriptes“ für den „Film“ der gerade inszeniert wird. Diese normativen Vorschriften sind zum Teil auch Rollen. Es gibt in jedem Skript neben den inhaltlichen normativen Vorgaben aber auch nicht-normative Freiräume und offene Stellen für Improvisationen, die in einem weiten Rahmen mit eigener Initiative gefüllt werden können oder müssen. Wann das der Fall ist, ist jedoch auch vorgeschrieben. Und manchmal enthalten die sozialen Drehbücher sogar Vorschriften, daß jetzt keiner Norm, keiner Rolle, keiner Vorschrift gefolgt werden darf. Und wenn doch: Dann setzt es aber etwas wie etwa im Kölner Karneval, bei frisch Verliebten oder in der Sponti-WG.
Institutionen als „Modelle“ des Handelns Institutionen sind sei es als Normen, als Rollen oder als soziale Drehbücher immer mit orientierenden Modellen des angemessenen Handelns in typischen Situationen verbunden, die den Akteuren kognitiv präsent und „selbstverständlich“ sind und bei ihnen auch eine emotionale Verankerung haben. Die vorgestellten Modelle beschreiben dabei sowohl den Inhalt wie die Form des Handelns in einer Situation. Der Inhalt der vorgestellten Modelle der Ordnung besteht im wesentlichen aus den primären Zielen in der Situation und aus dem Wissen über die jeweils zugelassenen bzw. vorgeschriebenen Mittel. In ihnen ist beschrieben, „was“ jeweils getan werden muß. Die Form gibt an, „wie“ jeweils zu handeln ist zweckrational, wertrational, affektuell oder traditional, beispielsweise. In der Familie wird nicht nur erwartet, daß man sich gegenseitig hilft, sondern auch, daß dabei Gefühle im Spiel sein sollen. Und in der Chefetage der Deutschen Bank müssen Sie nicht nur einen feinen Zwirn tragen, sondern auch ein kalter homo oeconomicus sein. Wenn dann die Situation „da“ ist, dann folgen die Akteure ohne großes Nachdenken oder Zögern den Vorgaben und Maximen der Modelle der betreffenden vorgestellten Ordnung inhaltlich und formal. Ausgelöst werden die Vorstellungen über Form und Inhalt des erwarteten Handelns dabei durch be-
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stimmte „signifikante“ Zeichen bzw. Symbole in einer Situation. Wenn die Vorstellungen und deren Verbindung mit solchen typischen Zeichen gut im Gedächtnis verankert, und wenn die Zeichen in der Situation deutlich erkennbar sind, dann erfolgen die Auslösung der betreffenden Erwartungen und das dazugehörige Handeln nahezu automatisch. Jede Störung freilich unterbricht diese automatische Auslösung des institutionellen Handlungsprogramms. Eine dieser Störungen ist die, daß die Befolgung der Regeln plötzlich deutlich mehr zu kosten droht als üblicherweise vorgesehen ist, eine andere, daß ein kleines Detail nicht mehr so ist wie eigentlich ganz selbstverständlich erwartet. Die Vorstellungen über das Modell von Form und Inhalt des in einer typischen Situation typischerweise erwarteten Handelns und die signifikanten Symbole als Auslöser dieser Vorstellungen bilden somit die kulturelle Schnittstelle zwischen den individuellen Akteuren und der institutionellen Struktur der Gesellschaft. Sie stellen als Bezugsrahmen des Handelns die Verbindung zwischen der objektiven sozialen Existenz der Institutionen einer Gesellschaft und deren subjektiver Geltung in der Identität der Individuen her. Ohne kulturelle und symbolische Vermittlung in die Vorstellungen und Einstellungen der Menschen sind die Institutionen einer Gesellschaft wirkungslos (vgl. dazu noch Teil B in Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
Exkurs über die sog. totale Institution Die Unterscheidung zwischen sozialen Regelmäßigkeiten und Organisationen einerseits und Institutionen andererseits ist keine bloße abstrakte Spielerei. Sie verweist auf das grundlegende Merkmal aller institutionellen Regeln: ihre „Geltung“ bei den Akteuren eines Kollektivs im Unterschied zu der Art und Organisation des Handelns vor dem Hintergrund dieser Geltung. Große Mißverständnisse können aufkommen, wenn diese Unterscheidung nicht beachtet wird: Die Regeln sind der Rahmen der Organisation des Handelns. Die konkrete „Organisation“ einer Organisation ist die Folge dieses Rahmens und aller anderen Umstände der jeweiligen Situation sonst noch. Kurz: Es ist nicht der institutionelle Rahmen alleine, der eine Organisation ausmacht, wenngleich er das Herzstück einer jeden Organisation ist (vgl. dazu auch noch Kapitel 9 unten in diesem Band). Wohl am geläufigsten ist die Verwechslung einer Institution mit einer „Anstalt“. Diese Verwechslung ist in der Alltagssprache angelegt. Oft genug sprechen wir von Institutionen, wenn wir eigentlich Anstalten, Einrichtungen oder Organisationen meinen. Bei Erving Goffman lesen wir (in der deutschen Ü-
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bersetzung) gleich zu Beginn seines ansonsten soziologisch beeindruckenden und auch emotional und moralisch berührenden Buches über „Asyle“ die folgende Festlegung: „Soziale Einrichtungen – in der Alltagssprache Anstalten (institutions) genannt – sind Räume, Wohnungen, Gebäude oder Betriebe, in denen regelmäßig eine bestimmte Tätigkeit ausgeübt wird.“11
Natürlich sind Räume, Wohnungen, Gebäude, Betriebe und regelmäßige Tätigkeiten in unserem Sinne keine Institutionen. Erving Goffman weist selbst darauf hin, daß die Definition der Alltagssprache folgt. In dem Buch behandelt er dann eine besondere Form solcher „sozialen Einrichtungen“: die von ihm so genannten totalen Institutionen. Gleich zu Beginn der Einleitung des Buches definiert er sie so: „Eine totale Institution läßt sich als Wohn- und Arbeitsstätte einer Vielzahl ähnlich gestellter Individuen definieren, die für längere Zeit von der übrigen Gesellschaft abgeschnitten sind und miteinander ein abgeschlossenes, formal reglementiertes Leben führen.“ (Ebd., S. 11)
Als Beispiele nennt er Gefängnisse, Kasernen, Abteien, Klöster, Konvente, Internate, Konzentrations- und Kriegsgefangenenlager, Krankenhäuser und Sanatorien, Blinden- und Altersheime, Waisenhäuser und Erziehungsanstalten, auch das Kibbuz, bestimmte Schiffe auf hoher See, Gutshäuser und koloniale Stützpunkte, insbesondere aber psychiatrische Kliniken. Ihnen allen gemeinsam ist ihr „allumfassender oder totaler Charakter“. Der wird „ ... symbolisiert durch Beschränkungen des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt sowie der Freizügigkeit, die häufig direkt in die dingliche Anlage eingebaut sind, wie verschlossene Tore, hohe Mauern, Stacheldraht, Felsen, Wasser, Wälder oder Moore.“ (Ebd., S. 15f.)
Die Besonderheit der totalen Institutionen ist die Aufhebung der für das Normalleben in halbwegs zivilisierten Gesellschaften üblichen Trennung von Arbeitsbereich, Schlaf und Freizeit. Alle Angelegenheiten werden an der gleichen Stelle und im Prinzip in unmittelbarer Gesellschaft aller anderen Akteure abgewickelt. Alle Phasen des Alltags sind exakt geplant und vorgeschrieben, und alle Aktivitäten unterliegen einem einzigen Plan, der angeblich dazu dient, die Ziele der Einrichtung zu erreichen. Unter den Bedingungen einer totalen Institution verlieren die Menschen alles, was sie an „individueller“ Identität mitgebracht haben: Es gibt jetzt Uniformierungen in Kleidung, Haarschnitt und Verhalten, und den Verlust von (nahezu) jeder Privatheit oder persönlichem Besitz. Dieser „bürgerliche Tod“ (Ebd., S. 26) ist oft genau das, 11
Erving Goffman, Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen, Frankfurt/M. 1972, S. 15; Hervorhebung im Original.
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was die Einrichtung anstrebt: den Insassen zu einem gefügigen Objekt der Anstaltsmaschinerie zu machen. Nicht immer ist das so beabsichtigt, aber gleichwohl eine Folge der Zielsetzungen der Einrichtung und der Restriktionen der Routinetätigkeiten des Personals, das sich aus sehr vielen Gründen oft genug mit der Individualität der Insassen gar nicht (mehr) auseinandersetzen oder gar identifizieren kann. Totale Institutionen sind somit offensichtlich vor dem Hintergrund des üblichen Verständnisses von Institutionen keine Institutionen. Es sind spezielle Arten von Organisationen. Aber sie haben als solche selbstverständlich auch ein institutionelles Regelsystem als Hintergrund: die Ziele der Einrichtung und die vor diesem Hintergrund geltenden Vorschriften, wie die Dinge getan werden müssen. Diese Regeln sind ohne Zweifel ebenfalls von einer ganz speziellen und sozusagen „totalen“ Sorte: Sie lassen kaum Raum für individuelle Ausgestaltungen und schreiben in besonders kleinlichem und verschärftem Maße vor, was wann wie zu geschehen hat. Wenn man es denn so sagen will: Eine „totale Institution“ beruht auf dem besonders totalen Geltungsanspruch der Regeln einer besonderen Form der Organisation der Unterbringung, Behandlung und Verwaltung von Menschen als eine Art von Material. Aber sie ist keine Institution.
1.2
Warum gibt es Institutionen?
Institutionen entstehen und bestehen nicht ohne Grund, wenngleich oft genug ohne explizite Planung und meist ohne besonderes Nachdenken über ihren Zweck und Sinn. Sie sind Teile und Folgen der Versuche der Menschen, ihre Probleme im Alltag zu lösen. Institutionen haben in diesem Sinne für die Menschen eine Vielzahl von Funktionen. Vor allem aber diese: die Schaffung von individueller Orientierung und von kollektiver Ordnung in einer komplizierten Welt dadurch, daß mit ihnen die Unberechenbarkeiten der psychischen Motive und die Unwägbarkeiten des sozialen Handelns einigermaßen kontrollierbar und vorhersehbar werden. Thomas Luckmann hat diese beiden Aspekte der Funktionen von Organisationen so zusammengefaßt: „Gesellschaftliche Institutionen organisieren die Lösung grundlegender (und auch nicht so grundlegender) menschlicher Lebensprobleme. Sie tun das, indem sie bestimmte Ausschnitte gesellschaftlichen Handelns einigermaßen verpflichtend steuern und dafür Durchsetzungsmechanismen und – unter Umständen – einen Zwangsapparat bereitstellen. Sie entlasten den einzelnen durch die Vorlage mehr oder minder selbstverständlicher Lösungen für die Probleme seiner Lebensführung und gewährleisten und bewahren dadurch zugleich – sozusagen en détail – den Bestand gesellschaftlicher Ordnungen.“ (Luckmann 1992, S. 130; Hervorhebungen im Original)
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Wir wollen die Funktion der Entlastung von Unsicherheit und Entscheidungsdruck die Orientierungsfunktion und die der Absicherung der sozialen Ordnung und der Kooperation die Ordnungsfunktion der Institutionen nennen. Sie beruhen beide auf einer ganz allgemeinen Funktion von Institutionen: die Einordnung eines Handelns in einen den Akteuren im Prinzip verständlichen und sie dann auch bindenden weiteren Zusammenhang den Sinnzusammenhang der sozialen Regeln, der die Legitimität der Institution ausmacht. Diese Funktion sei als die Sinnstiftungsfunktion der Institution bezeichnet.
1.2.1 Die Orientierungsfunktion Der homo oeconomicus der Wirtschaftswissenschaften bedarf der Institutionen nicht: Er weiß um alle seine Möglichkeiten, hat seine wohlgeordneten Präferenzen und findet auch ganz zuverlässig und ohne größere Probleme stets genau den Tangentialpunkt von Budgetgerade und höchst erreichbarer Indifferenzkurve, an dem sein Nutzen maximiert wird. Effizient handeln kann er ganz alleine (vgl. dazu u.a. die Kapitel 7 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und Kapitel 3 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und Orientierungsprobleme? Sehen Sie sich doch die Betriebswirte um sich herum einmal an, die alle so aussehen wie Robert T. Online! Dieses Bild gilt nicht erst seit gestern als sehr unrealistisch, ja als in grotesker Weise falsch. Die Kritik kommt von allen Seiten: früh schon von der soziologischen Anthropologie und der (Sozial-)Psychologie des menschlichen Handelns, und nicht erst neuerdings sogar von vielen Ökonomen selbst (vgl. dazu bereits Kapitel 8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
Instinktersatz Die Position der soziologischen Anthropologie ist jedem Soziologen wohlbekannt: Aufgrund der Triebungerichtetheit und Plastizität des homo sapiens ist er dringend auf eine gesellschaftliche Lenkung seiner Entscheidungen und Aktivitäten angewiesen. Dies leisten die Institutionen. Sie gelten als eine Art von „Instinktersatz“: Wo vorher die Instinkte und das Programm der Gene die Funktion der Verhaltenssteuerung übernahmen, tun das jetzt die Institutionen. Ohne institutionelle Vorgaben wäre der Mensch im wörtlichen Sinne ziellos und anomisch und verloren. Und das nicht bloß in den sog. Grenzsituationen wie bei Krankheit, Todesfurcht oder Angst um die weitere Existenz.
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Die These von der für das psychische Überleben dringend notwendigen Reduktion von übermäßiger Komplexität durch Institutionen geht vor allem auf Arnold Gehlen zurück. Der Ausgangspunkt ist das Postulat von der Weltoffenheit des Menschen und die Annahme, daß die Menschen diese Weltoffenheit nicht ertragen können: „Denn schon die Weltoffenheit ist ... grundsätzlich eine Belastung. Der Mensch unterliegt einer durchaus untierischen Reizüberflutung, der ‚unzweckmäßigen‘ Fülle einströmender Eindrücke, die er also irgendwie zu bewältigen hat. Ihm steht nicht eine Umwelt instinktiv nahegebrachter Bedeutungsverteilung gegenüber, sondern eine Welt – richtig negativ ausgedrückt: ein Überraschungsfeld unvorhersehbarer Struktur, das erst in ‚Vorsicht‘ und ‚Vorsehung‘ durchgearbeitet, d.h. erfahren werden muß.“12
Die Institutionen sind nicht nur für Arnold Gehlen dung zur Bewältigung dieses Problems:
die wichtigste Erfin-
„Alles gesellschaftliche Handeln wird nur durch Institutionen hindurch effektiv, auf Dauer gestellt, normierbar, quasi-automatisch und voraussehbar.“13
Arnold Gehlen meinte im übrigen, daß für diese orientierende Funktion nur ganz starke, am besten: religiös fundierte, Institutionen in Frage kämen. Kein Wunder: Sein Hauptwerk erschien im Jahre 1940. Auch er war ein Meister aus Deutschland.
Begrenzte Rationalität Menschen sind auch ohne Instinkte nicht hilflos. Ihr wichtigstes Kapital ist ihr Geist und ihre Fähigkeit zum zielgerichteten und mittelgerechten problemlösenden Handeln. In dieser Rationalität sind sie aber sehr begrenzt. Um noch einmal das Begriffspaar von Herbert Simon aus Abschnitt 8.4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die begrenzte Rationalität zu bemühen: Menschen sind zu einer substantiellen Rationalität so gut wie nicht in der Lage, wohl aber zu einer für die meisten Dinge ausreichenden prozeduralen Rationalität. Dennoch ist dieses Defizit nicht bedeutungslos. Es steht in engem Zusammenhang mit der Existenz und Funktion von Institutionen. Es sei erinnert: Die Begrenzungen in der substantiellen Rationalität haben für das Handeln der Menschen die zunächst etwas unerwartete Folge, daß 12
13
Arnold Gehlen, Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, 5. Aufl., Bonn 1955 (zuerst: 1940), S. 38; Hervorhebungen im Original. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956, S. 48; Hervorhebung nicht im Original.
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neue Möglichkeiten des Tuns ignoriert werden (vgl. dazu bereits Abschnitt 8.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Institutionen gewinnen vor diesem Hintergrund eine zweifache Bedeutung. Erstens dienen sie bei Unsicherheit als erster Anker des Handelns. Dies ist ein wohlvertrautes Phänomen: Je unsicherer die Zeiten, um so konservativer werden die Menschen. Der zweite Aspekt klingt ungewöhnlicher: Institutionen können den Akteuren dabei helfen, aus ihren gewohnten Pfaden herauszutreten, die sie vor lauter bounded rationality von alleine zu verlassen sich nie getrauen würden, und neue Wege zu gehen. Denn: Nur wenn hinreichend abgesichert ist, daß ein neuer Weg nicht nur erfolgversprechend, sondern auch einigermaßen sicher ist, wird er von den vorsichtigen Normalmenschen beschritten. „Wirkliche“ Innovationen sind selten, weil die Menschen ohne institutionelle Unterstützung nicht sehr wagemutig sind. Durchgreifende gesellschaftliche Neuerungen müssen daher stets von nachhaltigem institutionellem Wandel begleitet, nein: durch ihn vorbereitet und abgesichert sein. Herbert Simon erinnert nachdrücklich an die Hilfen, die gerade die Institutionen den Menschen angesichts ihrer begrenzten Vernunft bieten können: „Institutionen nun verschaffen uns eine stabile Umwelt, die uns wenigstens ein bißchen Vernunft ermöglicht.“14
Es ist eine Sicherheit, mit der die Menschen mit ihrer begrenzten Rationalität gleichwohl leichtfüßig und unbesorgt und verständig und ohne viel Nachdenken über das dünne Eis einer ansonsten fast leeren, chaotischen und überkomplexen Welt laufen können: „So umgibt uns unsere institutionelle Umwelt ... mit verläßlichen und deutlich wahrnehmbaren Mustern von Ereignissen. Die ihnen zugrundeliegenden kausalen Mechanismen müssen wir gar nicht verstehen, auch nicht die Ereignisse im einzelnen, nur ihre Muster, wie sie unser Leben, unsere Bedürfnisse und Wünsche bestimmen. Die Stabilität und Vorhersagbarkeit unserer Umwelt, der sozialen wie der natürlichen, ermöglichen es uns, in ihr im Rahmen unseres Wissens und unserer Denkfähigkeiten zu handeln.“ (Ebd., S. 88f.)
Und gerade die kühle Überlegung und die kühne Unternehmung verlangen, daß man nicht alles gleichzeitig beachten und bedenken muß.
14
Herbert A. Simon, Homo rationalis. Die Vernunft im menschlichen Leben, Frankfurt/M. und New York 1993, S. 88.
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Die Korrektur der Unvernunft Die Existenz von Institutionen und die Grenzen der Rationalität sind also offenkundig auf das engste miteinander verbunden. Institutionen befreien die Menschen von Unsicherheit und Anomie, entlasten sie von Entscheidungsdruck und helfen ihnen, neue und interessante Dinge wohlgemut und sicher anzugehen. Noch eine dritte Funktion haben sie in diesem Zusammenhang: Sie können den Menschen auch dabei behilflich sein, die oft schlimmen Folgen der Begrenzungen ihrer substantiellen Rationalität zu kontrollieren, ja sogar: sie vor ihrer eigenen Unvernunft zu schützen. Manche Institutionen sind geradezu deshalb erfunden worden, um die Defizite auszugleichen, die sich aus der fehlenden substantiellen Rationalität der Menschen ergeben. Einige dieser Defizite in der Vernunft sind ja in der Tat sehr ärgerlich und vom Standpunkt einer substantiellen Rationalität auch objektiv schädlich: Die Menschen halten beispielsweise an Dingen beharrlich fest, die sie besser aufgeben sollten. Sie konsumieren langfristig für sie schädliche Dinge wegen kurzfristigen Genusses. Sie nehmen die Welt – meist zu ihrem eigenen Schaden – verzerrt wahr. Und sie fallen vor allem gerne auf aktuelle Ereignisse in ihrer Nahumwelt herein, geben diesen ein übergroßes Gewicht und achten auf andere Dinge kaum, die ihnen nutzen, aber zeitlich, sachlich und sozial entfernter sind. Kurz: Ohne externe Hilfe sind die Menschen allein gelassen mit ihrer Akrasia und Myopia – mit ihren Versuchungen und ihren Unzulänglichkeiten, damit in ihrem eigenen Interesse richtig umzugehen (vgl. dazu bereits Abschnitt 8.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die geschilderten Abweichungen von der substantiellen Rationalität sind sämtlich immer wieder empirisch gefundene und zweifellos auch weithin zutreffende „Anomalien“ des seinen Nutzen maximierenden homo oeconomicus. Der schweizer Ökononom Bruno S. Frey, der sich besonders intensiv auch mit der empirischen Untersuchung solcher Anomalien beschäftigt hat, faßt die in dieser Hinsicht hilfreichen Funktionen von Institutionen so zusammen: „While institutions serve several purposes, three major types may be distinguished with respect to dealing with anomalies of individuals behaviour: 1. Prevention of anomalies. People are guided by institutions so that they behave in a rational manner. 2. Reduction of cost. Institutions serve to mitigate the consequent cost for people who have fallen prey to anomalies. 3. Redistribution of cost. Institutions shift the cost of an irrational behavior among people and/or between time periods. Thus, consumption may be reduced in one period in order to compensate the same person when becoming the victim of an irrational action brought about by him or herself.“15 15
Bruno S. Frey, Behavioural Anomalies and Economics, in: Bruno S. Frey, Economics as a Science of Human Behaviour. Towards a New Social Science Paradigm, Boston, Dordrecht und London 1992, S. 191; Hervorhebungen nicht im Original.
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Pflichtversicherungen, vorgeschriebene Vorsorgeuntersuchungen, Hinweise der Gesundheitsminister auf Zigarettenschachteln, feste Verabredungen, Terminkalender und Rechnungshöfe sind allesamt auch dazu erfunden worden: daß die Menschen mit ihren Schwächen im Kampf gegen die Versuchungen des Hier und des Jetzt nicht alleine gelassen sind. Die Institutionen sind es, die uns wie einst den Odysseus an den Mast binden, damit wir den Versuchungen der vielen Sirenen um uns herum in unserem eigenen Interesse widerstehen können.
Die institutionelle „Definition“ der Situation Daneben haben die Institutionen für die Menschen natürlich noch eine weitere wichtige Funktion: die objektive Definition der Situation im Sinne einer fraglosen Festlegung der Regeln des gerade geltenden „Spiels“ (vgl. dazu auch die Anmerkungen über die „Sechs Lesarten des Thomas-Theorems“ im Anschluß an Kapitel 5 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Sie ersparen dadurch den Menschen für ihr Handeln in den oftmals ja sehr komplexen sozialen Situationen nicht nur viel an Unsicherheit und Irrtum, sondern bereinigen die Situationen auch um einen Großteil ihres „strategischen“ Potentials, mit dem die meisten Menschen ohnehin rettungslos überfordert wären. Institutionen „parametrisieren“ sozusagen die in ihrer Überkomplexität fast nicht zu bewältigenden strategischen Situationen (vgl. dazu auch schon Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Durch sie wird Handeln gerade für die ansonsten fast unmöglichen Abstimmungen bei komplexen Interaktionen und Transaktionen transparent und vorhersagbar. Das alleine macht dann wieder ein entlastetes, verständiges, innovatives sowie vor diesem eingegrenzten und definierten Hintergrund auch: strategisches und dann oft auch wieder höchst erfreuliches und lusterzeugendes soziales Handeln möglich. Jeder Fußballspieler weiß, was gemeint ist: Gerade weil die Regeln so einfach und so durchschaubar sind, und gerade weil niemand im Zweifel ist, welches Spiel gerade gespielt wird, ist jetzt besonders viel Raum für die individuelle Entdeckung neuer Finten und ungewohnter Varianten im Rahmen der Regeln des Spiels. Für die etwas unbedeutenderen Sphären dieser Welt hat Helmut Schelsky diese Entlastung durch Schaffung eines fraglos definierten Raumes so ausgedrückt: „Die von den großen Leitideen geschaffenen Institutionen – und wir können als solche Leitideen aufführen: die Götter und Gott, die monogame Familie, das Recht, das Eigentum, die
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Herrschaft, die Demokratie, die kritisch-rationale Wissenschaft, die Toleranz, die Meinungsfreiheit usw. – schaffen ihrerseits erst die entlasteten Handlungsfelder, in denen dann sekundär funktionale Zweckmäßigkeiten untergebracht werden und zum Zuge kommen können.“16
Zusammengefaßt: Für die individuellen Menschen haben Institutionen eine Reihe von nachgerade unentbehrlichen entlastenden und orientierenden Funktionen, aus denen sich schon ergibt, daß sie ohne die Institutionen gar nicht handlungsfähig wären und nicht (über-)leben könnten: Entlastung von zu großem Entscheidungsdruck, Hilfe bei der Übernahme riskanter Alternativen, Schutz vor ihrer eigenen Unvernunft und die gerade für Initiative und Innovation nötige Festlegung und „Definition“ der Situation.
1.2.2 Die Ordnungsfunktion Das wohl schwierigste Problem bei der Vergesellschaftung der Menschen ist das der sozialen Ordnung. Darauf hat die Soziologie von Beginn an und zu Recht immer wieder hingewiesen. In der Ökonomie herrschte lange Zeit eine andere Sicht vor. Sie folgte der Idee von Adam Smith, wonach sich die Interessen der Menschen geradezu zwangsläufig und ohne ein besonderes Dazutun über eine unsichtbare Hand zum Wohle aller koordinieren würden. Diese Annahme hat zwei Hintergründe: In der aseptischen Welt der neoklassischen Ökonomie sind die Menschen erstens nicht nur perfekt informiert und ihrer Sache sicher, es gibt auch jenseits der Kosten und Preise von Produktion zweitens keinerlei weitere Probleme der Abwicklung des und Konsum Marktgeschehens und anderer gesellschaftlicher Prozesse. Es gebe, so die Annahme, nur die Kosten der Umwandlung der Produktionsfaktoren in die auf den Märkten angebotenen Güter die sog. Transformationskosten. Bei der Abwicklung der für das Marktgeschehen nötigen Transaktionen würden jedoch keine weiteren Kosten anfallen: Die Beschaffung von Informationen, das Auffinden des richtigen Tauschpartners und das Aushandeln des Preises bei einem Tausch etwa seien allesamt frei zu haben. Infolgedessen bedürfe es auch keinerlei externer Hilfen bei der Lösung von Transaktionsproblemen, weil es ein besonderes Problem der sozialen Ordnung nicht gebe. Der vollkommene, sich über eine unsichtbare Hand selbst regulierende Markt mit seinen perfekt informierten Teilnehmern ist das Paradebeispiel für diese Welt ohne besondere Transaktionskosten.
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Helmut Schelsky, Zur soziologischen Theorie der Institution, in: Helmut Schelsky (Hrsg.), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf 1970, S. 23.
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Soziale Kosten Die optimistische Sicht von der unsichtbaren Hand klingt heute etwas sehr blauäugig, wenn nicht ideologisch, mindestens aber sehr von gestern. Ganz so blauäugig waren die Ökonomen aber keineswegs. Unter der Annahme, daß es keinerlei Transaktionskosten gebe, lassen sich nämlich auch für eine Marktökonomie des rationalen Egoismus in der Tat sehr unangenehme Ordnungsprobleme theoretisch leicht entschärfen. Eines dieser sperrigen Probleme war und ist die Frage, wie man Akteure, die mit ihrem Handeln negative externe Effekte für die Allgemeinheit schaffen, dazu bringen könnte, selbst für die „Internalisierung“ dieser sozialen Kosten ihres Tuns zu sorgen. Der amerikanische Ökonom Ronald H. Coase hat dafür eine elegante, mit dem Marktmodell vollkommen harmonierende, Lösung gefunden.17 Und dafür hat auch er einen Nobelpreis bekommen. Wir werden sehen: Zu Recht. Ronald H. Coase geht von der üblichen, auch heute in der Öffentlichkeit gängigen, Sichtweise des Problems der sozialen Kosten als Ergebnis von negativen externen Effekten aus: Wenn etwa eine Fabrik A ihre Umgebung B durch Abgase oder Lärm belästigt, dann müsse der Eigner der Fabrik natürlich nach dem „Verursacherprinzip“ für einen Ausgleich des Schadens sorgen, eine Steuer bezahlen oder aber die Produktion einstellen. Kurz: Die externen Effekte werden ganz dem „Verursacher“ angelastet. Das klingt auf den ersten Blick ganz plausibel, ist aber nach Ronald H. Coase dem Problem nicht angemessen. Denn: Die Fabrik produziert ja auch ein mehr oder weniger wertvolles Produkt, das vielleicht die Anrainer der Fabrik selbst benötigen und auf dem Markt nachfragen etwa ein wirksames Mittel gegen Haarausfall. Obendrein schafft die Fabrik natürlich auch Arbeitsplätze. Und sie sorgt für den Gewinn des Unternehmers, was ja auch nicht verwerflich ist, da der davon ja unter anderem wieder Steuern zahlt, von denen der Staat seine Lehrer und die Sozialhilfe bezahlen kann. Mit der Unterbindung der Produktion ausschließlich im Interesse der Vermeidung externer Effekte würden also selbst wiederum negative externe Effekte geschaffen: für den Unternehmer die Erhöhung seiner Kosten, für die Angestellten der Firma die Gefährdung der Arbeitsplätze, für den Staat die Einbuße an Steuern und nicht zuletzt für die Öffentlichkeit das Fehlen eines von ihr selbst nachgefragten Produktes auf dem Markt. Kurz: Es handelt sich um ein Problem, das beide Seiten die Parteien A und B betrifft und nicht nur den „Verursacher“:
17
Ronald H. Coase, The Problem of Social Cost, in: The Journal of Law & Economics, 3, 1960, S. 1-44.
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„We are dealing with a problem of reciprocal nature. To avoid the harm to B would inflict harm on A. The real question that has to be decided is: should A be allowed to harm B or should B be allowed to harm A? The problem is to avoid the more serious harm.“ (Coase 1960, S. 2; Hervorhebungen nicht im Original)
Ronald H. Coase illustriert das Problem am Beispiel eines Zahnarztes, der sich von dem Lärm und den Vibrationen einer in seiner Nähe neu eingerichteten Textilfabrik belästigt fühlt, seinen Beruf auf einmal nicht mehr so ausüben kann wie bisher und jetzt vor Gericht um eine Schließung des Betriebes nachsucht: „To avoid harming the doctor would inflict harm on the confectioner. The problem posed by this case was essentially whether it was worth while, as a result of restricting the methods of production which could be used by the confectioner, to secure more doctoring at the cost of a reduced supply of confectionery products.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Wie aber könnte bei diesem Konflikt darüber, wer in welchem Maße welche Einbuße hinzunehmen hat und wie man zu einer für alle Beteiligten optimalen Lenkung der Produktionsfaktoren kommt, eine Lösung gefunden werden?
Ein Beispiel Die von Ronald H. Coase entwickelte Idee wollen wir an dem in den Einzelheiten etwas veränderten Beispiel entwickeln, das er selbst in seinem Artikel vorgetragen hat. Es geht dabei um einen Farmer, dessen Ernte durch die Rinder eines Viehzüchters beeinträchtigt wird, die über die Felder des Farmers trampeln. Wenn es keine Rinder gäbe, würde der Farmer natürlich keinen Verlust erleiden. Das erste Rind aber trampelt Ernte im Werte von 100 DM nieder, das zweite schon für 200 DM, das dritte für 300 und das vierte schließlich für 400 DM – und so weiter. Der Gesamtschaden durch ein Rind umfaßt damit 100 DM, bei einer Herde von zwei Rindern beträgt er schon 300 DM, bei dreien 600 und bei vieren sogar 1000 DM – und wieder so weiter. Die Rinder würden – so sei ferner angenommen – dem Viehzüchter je Stück 301 DM an Gewinn erbringen, wenn er sie auf dem Viehmarkt anbieten würde. Kurz: Der Gewinn aus dem Verkauf der Rinder wächst mit der Größe der Herde proportional, der durch die Herde angerichtete Schaden und die damit evtl. erforderlichen Entschädigungen an den Farmer jedoch überproportional.
Die Beziehungen zwischen Herdengröße, Schaden und Nettogewinn sind in der folgenden Übersicht für eine Herde bis zu sechs Rindern zusammengefaßt (Tabelle 1.1):
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Der Begriff der Institution
Tabelle 1.1: Schaden, Erlöse und Gewinne bei einer Herde unterschiedlicher Größe
Größe der Herde
Schaden durch ein Rind
Gesamtschaden
Erlös aus Verkauf
1 2 3 4 5 6
100 200 300 400 500 600
100 300 600 1000 1500 2100
301 602 903 1204 1505 1806
Nettogewinn
201 302 303 204 5 -294
Betrachten wir zunächst den Fall, daß der Farmer den Viehzüchter etwa über ein Gerichtsurteil zwingen könnte, ihm den Schaden zu ersetzen. Die Folge der Entschädigungszahlungen in Höhe der angerichteten Schäden sind leicht einzusehen: Es sind zusätzliche Produktionskosten, die sich auf den (Netto-)Gewinn aus der Viehzucht auswirken: Die Entschädigungen müssen vom Erlös abgezogen werden. Zunächst wächst der (Netto-)Gewinn, weil die Schäden noch nicht so hoch sind. Weil der Erlös aus dem Verkauf proportional, der Schaden aber mit der Größe der Herde überproportional wächst, ist rasch die obere Größe der Herde erreicht, bei der der Nettogewinn sein Maximum erreicht und dann wieder unterschreitet. In unserem Beispiel würde der Viehzüchter die Herde auf eine Größe von drei beschränken, weil dort mit 303 DM sein Nettogewinn maximal wäre. Bei vier Rindern sinkt der Gewinn auf 204 – und würde mit jedem weiteren Rind noch kleiner, schließlich ab dem sechsten Rind sogar mit -294 DM negativ werden. Mit dieser Begrenzung der Herde auf drei Rinder, die allein durch die Nutzenüberlegungen des Viehzüchters und die Produktionskosten, einschließlich der Entschädigungen an den Farmer, motiviert ist, würde somit auch der Schaden in den Feldern des Farmers begrenzt: auf 600 DM. Aber es würde dieser Schaden auch entstehen und eben nicht, wie bei einem Verbot der Rinderproduktion wegen Umweltschädigung, komplett vermieden werden.
Das Ergebnis ist interessant: Es tritt keine Vermeidung der externen Effekte und sozialen Kosten, sondern eine Mischung von Produktion, Schädigung und Produktionsbegrenzung ein, bei der jede der Parteien bezogen auf ihre Maximalvorstellungen etwas abgeben muß. Ronald H. Coase will mit seinem Beispiel vor allem zeigen, daß das eine solche Mischung ist, die zu einer insgesamt für die Volkswirtschaft optimalen Lenkung der Produktionsfaktoren führt. Diese Einsicht ist allein deshalb wichtig, weil deutlich wird, daß durch die Einschränkung einer Produktion im Interesse der Vermeidung von externen Effekten nicht das Kind mit dem Bade ausgeschüttet werden darf. Es kann auch ein Schaden dadurch entstehen, daß ein allgemein nützliches Gut wegen eines einseitigen Interesses an der Vermeidung externer Effekte nicht hergestellt wird. Und dieser Schaden wird hier vermieden.
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Der Markt der sozialen Kosten Nicht immer gibt es freilich Gesetze und Gerichte, die dafür sorgen, daß der „Verursacher“ des Schadens herangezogen wird. Aber auch nun hätte der Farmer eine Möglichkeit, den Schaden auf seinen Feldern zu begrenzen: Er könnte dem Viehzüchter einen bestimmten Betrag dafür anbieten, auf die Vergrößerung der Herde zu verzichten oder die Herde sogar zu verkleinern. Das aber führt nach Ronald H. Coase zu dem gleichen Ergebnis wie die Erzwingung der Entschädigung durch ein Gericht. Wie das? Nehmen wir an, die Herde des Viehzüchters sei schon drei Rinder groß. Die Verringerung der Herde auf zwei wäre – wie man der Übersicht entnehmen kann – dem Farmer 300 DM an ersparten Schädigungen wert, eine Reduzierung auf ein Rind schon 500 DM, und der komplette Verzicht auf die Viehzucht 600 DM. Diese Beträge würde er dem Viehzüchter für die Begrenzung der Herde jeweils anbieten, wenn er selbst jeweils unter Berücksichtigung dieser Kosten beim Verkauf seines Produktes einen maximalen Nettogewinn erzielen würde. Jede Vergrößerung der Herde bedeutet bei einem solchen Angebot des Farmers für den Viehzüchter aber einen Verzicht auf die Entschädigung durch den Farmer, beispielsweise auf 300 DM, wenn er die Herde von zwei auf drei Rinder vergrößern würde. Das heißt aber: Ob der Viehzüchter per Gerichtsbeschluß die 300 DM als Entschädigung an den Farmer zahlen muß, wenn er seine Herde von zwei auf drei vergrößert, oder ob er die vom Farmer angebotenen 300 DM nicht bekommt, wenn er auf die Verringerung von drei auf zwei verzichtet oder die Herde von zwei auf drei vergrößert, ist für die allein maßgeblichen Kosten der Rinderproduktion und für den zu erzielenden Gewinn ganz unerheblich.
Und so wird auch in dem Falle, daß das Verursacherprinzip nicht anwendbar ist, die gleiche Mischung von Produktionsverzicht und Schädigung erreicht wie oben, als ein Gericht die Entschädigung durchsetzte: „In both cases $3 is part of the cost of adding a third steer, to be included along with the other costs. If the increase in the value of production in cattle-raising through increasing the size of the herd from 2 to 3 is greater than the additional costs that have to be incurred (including the $3 damage to crops), the size of the herd will be increased. Otherwise, it will not. The size of the herd will be the same whether the cattle-raiser is liable for damage caused to the crop or not.“ (Ebd., S. 7; Hervorhebungen nicht im Original; der Betrag von $3 entspricht der Summe von 300 DM in dem von uns gewählten Zahlenbeispiel; HE)
Kurz: Wenn das System des „Tauschs“ von Schäden und Zahlungen zwischen den Parteien perfekt funktioniert und wenn bei den nötigen Verhandlungen keine Zusatzkosten auftreten, dann werden die externen Effekte und die sozialen Kosten als Kosten der Produktion bei allen beteiligten Akteuren anfallen und in die Produktionsentscheidung für die Güter „internalisiert“.
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Das Coase-Theorem Unter den geschilderten Umständen bildet sich also ein Gleichgewicht der Produktion der Güter und einer gewissen Schädigung mit anschließenden Ausgleichszahlungen, das die relativen Knappheiten der Produktionsbedingungen korrekt widerspiegelt und die Lenkung der Produktionsfaktoren optimal regelt. Ronald H. Coase zusammenfassend: „I think it is clear that if ... the pricing system works smoothly, the reduction in the value of production elsewhere will be taken into account in computing the additional cost involved in increasing the size of the herd. This cost will be weighed against the value of the additional meat production and, given perfect competition in the cattle industry, the allocation of resources in cattle-raising will be optimal.“ (Coase 1960, S. 5; Hervorhebungen nicht im Original)
Der geschilderte Sachverhalt ist der Hintergrund des nach seinem Erfinder so genannten Coase-Theorems. Das Coase-Theorem besagt nicht nur, daß sich ein solches optimales Gleichgewicht einstellt, sondern daß es für die Herstellung dieses Gleichgewichtes letztlich gleichgültig ist, wie die Rechte an den Produkten und wie die Verantwortlichkeiten an den externen Effekten verteilt sind. Egal, ob ein Produzent für die externen Schäden herangezogen werden kann oder nicht das Gleichgewicht mit seiner gesamtwirtschaftlich effizienten Lenkung des Einsatzes der Produktionsfaktoren wird sich in jedem Fall einstellen.18
Der Hintergrund: Das Fehlen von Transaktionskosten Diese wie man wohl zugestehen wird: theoretisch elegante, genial einfache und ideologisch für einen überzeugten Marktwirtschaftler höchst genehme Lösung funktioniert aber nur unter der einen Annahme: Die Kosten für die dazu nötigen Transaktionen die Transaktionskosten seien allesamt gleich null. Ob das wirklich so ist, muß indessen sehr angezweifelt werden und ist auch sofort gegen die Brauchbarkeit des Coase-Theorems eingewandt worden, nicht zuletzt von Ronald H. Coase selbst. Allein etwa schon die Möglichkeit, daß sich die Akteure strategisch verhalten könnten, erzeugt ja Friktionen in den nötigen Vereinbarungen. Aber auch unabhängig davon ist die Sache meist schwierig genug. Denn: Wer bringt die Streithähne zusammen? Wieviel Zeit geht bei den Verhandlungen verloren? Wer bezahlt das Gericht? Und vor al18
Vgl. für eine kurze Darstellung des Coase-Theorems: Joachim Weimann, Umweltökonomik. Eine theorieorientierte Einführung, 2. Aufl., Berlin u.a. 1991, S. 27ff.
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lem: Wie sollen die korrekten Werte der Schädigungen ermittelt werden, an deren richtiger Ermittlung die effiziente Lenkung der Produktionsfaktoren hängt?
Was sind Transaktionskosten? Alles hängt also von der Existenz von Transaktionskosten ab. Was unter Transaktionskosten genauer verstanden wird, hat Ronald H. Coase in seinem Artikel freundlicherweise gleich auch noch mitgeteilt. Es ist eine bis heute unübertroffen klare Darstellung des Begriffs: „In order to carry out a market transaction it is necessary to discover who it is that one wishes to deal with, to inform people that one wishes to deal and on what terms, to conduct negotiations leading up to a bargain, to draw up the contract, to undertake the inspection needed to make sure that the terms of the contract are being observed, and so on.“ (Coase 1960, S. 15; Hervorhebungen nicht im Original)
Also: Die Kosten der Suche nach Informationen, der Beschaffung von Informationen, der Verhandlung mit den betroffenen Parteien sowie die der Entscheidung, der Vertragsschließung, der Durchsetzung und der Überwachung der Abmachungen umfassen den Gesamtkomplex der Transaktionskosten. Die Annahme, daß diese Kosten gering oder gar gleich null seien, ist sehr unrealistisch. Man schätzt, daß inzwischen weit mehr als 45% des Bruttosozialproduktes alleine auf diese Art der Kosten entfällt und daß dieser Anteil immer mehr ansteigt.19 Ronald H. Coase befindet in seinem Artikel selbst: „These operations are often extremely costly, sufficiently costly at any rate to prevent many transactions that would be carried out in a world in which the pricing system worked without cost.“ (Ebd., S. 15)
Bei der Existenz von (hohen) Transaktionskosten würde also keine hilfreiche unsichtbare Hand die Interessen der Akteure so wunderschön koordinieren und die Mischung von Schädigung und Produktion so leicht optimieren, wie es das Coase-Theorem besagt. Es gibt gleichwohl die Nachfrage nach Transaktionen allüberall. Was aber nun?
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John Joseph Wallis und Douglass C. North, Measuring the Transaction Sector in the American Economy, 1870-1970, in: Stanley L. Engerman und Robert E. Gallman (Hrsg.), Long-Term Factors in American Economic Growth, Chicago und London 1986, S. 95161.
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Lösungen Für die Lösung des Problems der Sicherung von Transaktionen auch bei hohen Transaktionskosten hat Ronald H. Coase selbst eine Reihe von Wegen vorgeschlagen. Etwa: Die Bildung einer Firma, die die betroffenen Bereiche umfaßt und unter ein gemeinsames Dach einer übergreifenden „Governance“ der vielen Einzelbeziehungen stellt (siehe dazu auch noch gleich unten). Vor allem aber dachte Ronald H. Coase an die Schaffung geeigneter Institutionen letztlich sogar an den Staat als einer Art von Superfirma oder Überinstitution. Sie alle sind „Lösungen“ des Problems der Internalisierung der externen Effekte und sozialen Kosten, wenn die Coase-Lösung wegen der Existenz von Transaktionskosten nicht zu erwarten ist. Institutionen sind daher in der Sprache von Ronald H. Coase man höre! auch nichts anderes als das, was wir in der Soziologie schon immer darunter verstehen. Nämlich „ ... regulations which state what people must or must not do and which have to be obeyed.“ (Ebd., S. 17)
Bindende und eingrenzende Institutionen werden also nötig, sobald es Transaktionskosten gibt, die das institutionenfreie Funktionieren des perfekten Preissystems verhindern. Eine ganz andere Frage ist es freilich, ob die mit der Hilfe von Institutionen gefundenen Lösungen auch wirtschaftlich so effizient sind wie es das Coase-Theorem für den Fall des Fehlens von Transaktionskosten behauptet. Darüber streiten sich die Ökonomen bis heute. Lassen wir sie dabei. Für unsere Zwecke bleibt nur wichtig: Institutionen können helfen, Transaktionen zuwege zu bringen, die ohne sie unterbleiben würden. Die Soziologie hat es immer schon gewußt.
Opportunismus und begrenzte Rationalität Den Hintergrund des meist immensen Ausmaßes an Aufwand für die Transaktionen schon bei bloßen Marktbeziehungen bilden zwei Eigenschaften, die man realistischerweise den Menschen unterstellen muß oder vorsichtshalber annehmen sollte: ihre nie auszuschließende gerissene Schlechtigkeit einerseits und ihr ohne Zweifel immer sehr begrenztes Wissen sowie ihre ebenso sehr begrenzte Fähigkeit der Verarbeitung von Informationen andererseits. Kurz: Opportunismus und begrenzte Rationalität sorgen dafür, daß mit Transaktionskosten auch schon bei einfachen Marktbeziehungen praktisch immer zu rechnen ist.
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Informationsasymmetrie und die Unvollständigkeit der Verträge Das zeigt sich im Wesentlichen in zwei Dingen: in den sog. Informationsasymmetrien und deren strategischer Nutzung durch die opportunistischen Menschen. Und in der Unmöglichkeit, in die Verträge alle Eventualitäten hineinzuschreiben mit der nicht zu beseitigenden Gefahr, daß diese Unvollständigkeit bei günstiger Gelegenheit von irgend jemandem auch weidlich ausgenutzt wird. Mit Informationsasymmetrie ist gemeint, daß der eine Akteur über das Produkt, das er dem anderen anbietet, mehr weiß als der andere und daß er diesen Wissensvorsprung auch ausnutzen könnte. Nur der Gebrauchtwagenhändler kennt beispielsweise die Zitronen in seinem Angebot, nur der Bewerber auf eine Stelle oder der Heiratskandidat seine Macken, und nur der Versicherte seine klammheimlichen Pläne, die Versicherung bald über einen fingierten Unfall zur Kasse zu bitten. Man spricht auch von moral hazard. Und die Folge, wenn nichts geschieht: Es gibt nur noch Zitronen auf dem Gebrauchtwagen-, auf dem Bewerber-, dem Heirats- und auf dem Versichertenmarkt. Dieses Phänomen nennt man auch adverse selection.20 Das Problem wird sofort erkennbar: Natürlich könnte der Abnehmer des Produktes versuchen, die wahren Eigenschaften des Produktes herauszubekommen – durch Gutachten, durch Tests, durch Gütesiegel, durch eine Probeehe, zum Beispiel. Aber das kostet: Transaktionskosten eben. Die Unvollständigkeit der Verträge ergibt sich daraus, daß nicht alle zukünftigen Ereignisse antizipiert werden können, daß man jetzt noch nicht wissen kann, wie die später erforderlichen „Anpassungen“ der Verträge aussehen müßten, und daß es deshalb stets neuen Anlaß zu Nachverhandlungen und Disputen gibt. Verträge lassen daher ganz zwingend immer Lücken und Flexibilitäten, die auszufüllen auch nach der Vertragsschließung stets aufmerksame Beobachtungen und vertrauenserhaltende Maßnahmen erfordern. Das aber bedeutet erneut: Transaktionskosten.21
Die Lösung dieser beiden Probleme der Informationsasymmetrie und der Unvollständigkeit der Verträge ist im Rahmen des einfachen Marktmodells der kostenlosen und effizienten Anpassung der Interessen und Möglichkeiten grundsätzlich nicht möglich. Sie liegt wie bei den anderen Unzulänglichkeiten und Unsicherheiten des überhaupt nicht perfekt informierten homo sapiens in der Schaffung von Institutionen, die einen festen Rahmen des Handelns schaffen, innerhalb dessen alle diese Transaktionskosten so gesenkt werden, daß die betreffenden Transaktionen dennoch möglich werden und die Akteure sich auch im Vertrauen auf die Wirksamkeit der Institutionen auf riskante Unternehmungen miteinander einlassen können.
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Vgl. dazu etwa Eric Rasmusen, Games and Information. An Introduction to Game Theory, Oxford und New York 1989, Teil II: Asymmetric Information. Vgl. North 1990, S. 30f.; Oliver E. Williamson, Transaction-Cost Economics: The Governance of Contractual Relations, in: The Journal of Law & Economics, 22, 1979, S. 237f.
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Firmen und Organisationen Die Idee, daß es bei wie immer entstehenden hohen Transaktionskosten sinnvoll werden kann, die für eine Produktion benötigten Faktoren und Vorprodukte nicht alle auf dem Markt mühsam einzukaufen, sondern innerhalb eines festen Rahmens selbst herzustellen und zu koordinieren, hatte Ronald H. Coase schon früh in einem ebenfalls berühmt gewordenen Artikel. Darin befaßt er sich mit der Frage, warum es eigentlich Firmen als zentral organisierte Betriebe gibt und warum diese sich in ihrer Größe unterscheiden.22 Es geht also um die Frage, wann Firmen und Organisationen mit einer bestimmten institutionellen Ordnung aus zuvor „reinen“ Marktbeziehungen entstehen. Die Grundidee ist wieder sehr einfach und einleuchtend: Anstelle einer Vielzahl von Einzelverträgen wird unter dem Dach einer Organisation nur noch ein übergreifender Vertrag benötigt. Ein solcher Rahmen spart natürlich Kosten. Das wird besonders interessant, wenn die Perspektiven der Partner auf längere Fristen angelegt und sie wechselseitig aufeinander angewiesen sind. Dann steigen ja die Risiken besonders stark an, daß einer der benötigten Partner, wenn er auf dem freien Markte bleibt, ausfallen könnte. Das aber wäre eine Katastrophe, die mit allen Mitteln zu verhindern ist. Auf diese Weise erklärt Ronald H. Coase das Entstehen von Firmen: „A firm is likely therefore to emerge in those cases where a very short term contract would be unsatisfactory.“ (Ebd., S. 392)
Je höher die Vertragskosten werden, einschließlich der Risiken, daß etwas schief gehen könnte, wenn die benötigten Güter immer wieder auf dem Markt neu besorgt werden müßten, desto eher lohnt sich also die Bildung einer Firma bzw. einer Organisation: „We may sum up ... by saying that the operation of a market costs something and by forming an organisation and allowing some authority (an ‚entrepreneur‘) to direct the resources, certain marketing costs are saved.“ (Ebd.)
Was Ronald H. Coase für die Entstehung von Firmen und Organsiationen sagt, läßt sich verallgemeinernd auf alle übergreifenden Regulierungen beziehen, die aus kurzfristigen und riskanten bilateralen, immer wieder neu ausgehandelten Transaktionen langfristige und mit einem nur einmal geschlossenen Rahmenvertrag gesicherte, multilaterale Beziehungen machten. Also: auch auf die Entstehung von Institutionen, die, so wissen wir, freilich etwas anderes sind als Firmen und Organisationen. 22
Ronald H. Coase, The Nature of the Firm, in: Economica, 4, 1937, S. 386-405.
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Märkte and Hierarchien Der amerikanische Ökonom Oliver E. Williamson hat den Gedanken von Ronald H. Coase aufgegriffen, daß mit dem Ansteigen der Transaktionskosten die zentrale Organisation vieler bilateraler Beziehungen zu einer Firma sinnvoll werden kann, und um einen weiteren Gesichtspunkt ergänzt: Wenn mir der Partner, mit dem ich es auf einem Markt zu tun habe, zu kompliziert und zu eigenständig wird, weil er der einzige ist, der das spezifische Produkt anbietet, das ich benötige, dann lasse ich ihn schon allein wegen dessen Monopolstellung nicht auf dem Markt, sondern binde ihn in Form eines gemeinsamen vertraglichen Daches an mich. Kurz: Ich schaffe eine im Vergleich zum „horizontalen“ Markt hierarchische Organisation der Produktion, innerhalb deren nun der Partner die Leistungen erbringt, die er vorher auf dem Markt deshalb immer teurer anbot, weil er mich wegen seiner Monopolstellung zunehmend ausbeuten konnte. Das kann beispielsweise bei Zulieferern der Autoindustrie so sein. Wenn ein kleiner Zulieferer – sagen wir für die Elektrik der hergestellten Autos oder für den unentbehrlichen Stern auf dem Kühler – ein anderswo wegen des im Laufe der Zeit angesammelten speziellen know how so gut nicht beziehbares Produkt anbietet, dann hat er die große Autofirma in der Hand. Irgendwann lohnt es sich dann für die Autofirma, den Zulieferer der Elektrik oder des Sterns aufzukaufen, und sei es nur, um die Unsicherheit einzudämmen, ob der Zulieferer auch in Zukunft sein Produkt, das ja dringend benötigt wird, auch bereitstellen wird oder kann.
Kurz: Die Umwandlung der zuvor horizontal-gleichberechtigten Marktbeziehungen in die hierarchische Kommandoform einer Organisation löst das Problem der zunehmenden Monopolisierung eines Angebotes auf der Seite eines Anbieters.23 Ganz besonders naheliegend wird dann die gemeinsame Organisation der Produktion, wenn eine solche Monopolisierung auf beiden Seiten vorliegt und die Parteien wechselseitig aufeinander angewiesen sind, weil sie gegenseitig sehr spezifische, nur in dieser Beziehung wertvolle Leistungen nachfragen; bei einem bilateralen Monopol also. Denn: Auch der Zulieferer eines Mercedessterns oder einer speziellen Wasserpumpe ist ja auf den großen Bruder angewiesen, kann mit seinem spezifischen Produkt ansonsten nichts anfangen und hat deshalb seinerseits ein großes Interesse an der langfristigen Sicherung der für beide so nützlichen Beziehung, deren Ertrag aber gerade daran hängt, daß es diese besondere und „einmalige“ Beziehung auch weiterhin gibt.
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Das erklärt auch den Titel des programmatischen Buches von Oliver E. Williamson dazu: Oliver E. Williamson, Markets and Hierarchies: Analysis and Antitrust Implications. A Study in the Economics of Internal Organization, New York und London 1975. Vgl. dazu auch die Unterscheidung von horizontaler und vertikaler Integration in Kapitel 6 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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Die in einer gemeinsamen Organisation koordinierte Herstellung eines Produktes anstelle der Beschaffung auf dem freien Markt wird daher im wesentlichen unter drei Bedingungen interessant und naheliegend, oft sogar zwingend:24 erstens bei einem hohen Grad der Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung, zweitens bei einer großen Häufigkeit der Transaktionen zwischen den Akteuren und drittens bei einer ausgeprägten Spezifität der wechselseitigen Leistungen wie etwa im Falle eines bilateralen Monopols. Diese drei Bedingungen führen nicht nur im Bereich der Wirtschaft zur Entstehung von Firmen, Hierarchien und Organisationen. Auch die Existenz von Ehen etwa läßt sich so erklären:25 Die beiden Partner sind es leid, ihre wechselseitig geschätzten, aber füreinander inzwischen sehr spezifischen Leistungen immer wieder neu auszuhandeln und befürchten zu müssen, daß doch einer von der Fahne geht. Das gilt insbesondere dann, wenn die Unsicherheit wächst, einen alternativen Partner auf dem Heiratsmarkt (noch) zu finden, wenn man sich schon so aneinander gewöhnt hat, daß die individuellen Schrullen nur noch von dieser einen anderen Person ertragen oder nett gefunden werden, und – last not least – wenn eine längerfristige Beziehung mit häufigen Transaktionen in wichtigen Dingen zu regeln ist. Diese Bedingungen treten in einer nicht-ehelichen Beziehung unausweichlich dann ein, wenn sich plötzlich ein Kind einstellt. Dann wächst sofort das Interesse, die vorher sehr horizontal und offen gehandhabte (Heirats-„Markt“-)Beziehung in die bindende vertikale Hierarchie einer Ehe zu überführen. Und dann heiraten auch diejenigen, die zuvor alle Eide auf die postmoderne Freiheit der nicht-ehelichen Lebensgemeinschaft geschworen hatten: Mit Kindern werden offene Beziehungen zu kleinen Firmen, eingebettet in die gesellschaftliche Institution der Ehe. Es geht fast nicht anders.
Das Grundargument für die Erklärung der Zusammenlegung von zwei Firmen A und B, die sich zuvor in einem bilateralen Monopol auf dem Markt gegenüberstanden, zu einer hierarchischen Organisation besagt: Sobald die Transaktionskosten für die Regelung der Marktbeziehungen höher werden als die Kosten der Organisation dieser Beziehungen zu einer Hierarchie, wird die Hierarchie entstehen: „Suppose A is buying a product from B and that both A and B could organise this marketing transaction at less than its present cost. B, we can assume, is not organising one process or stage of production, but several. If A therefore wishes to avoid a market transaction, he will have to take over all the processes of production controlled by B. ... . It is probable that A’s cost of organising the transactions previously organised by B will be greater than B’s cost of doing the same thing. A therefore will take over the whole of B’s organisation only if his cost 24
25
Vgl. zu den speziellen Bedingungen der Überführung von Marktbeziehungen in eine hierarchische Organisation auch noch Williamson (1979). Sowie zusammenfassend Thomas Voss, Rationale Akteure und soziale Institutionen. Beitrag zu einer endogenen Theorie des sozialen Tauschs, München 1985, S. 108ff. Vgl. dazu Yoram Ben-Porath, The F-Connection: Families, Friends, and Firms and the Organization of Exchange, in: Population and Development Review, 6, 1980, S. 1-30; Robert A. Pollak, A Transaction Cost Approach to Families and Households, in: Journal of Economic Literature, 23, 1985, S. 581-608.
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of organising B’s work is not greater than B’s cost by an amount equal to the costs of carrying out an exchange transaction on the open market.“ (Coase 1937, S. 395f.; Hervorhebung nicht im Original)
Alle diese Überlegungen zur Entstehung eines Bedarfs nach der „Organisation“ von Marktbeziehungen lassen sich auf die Nachfrage nach Institutionen übertragen: Mit dem Ansteigen der Abhängigkeiten und der Risiken und mit der Zunahme von Transaktionskosten für das Aushandeln der Verträge auf einem freien Markt steigt die Nachfrage nach bindenden institutionellen Regeln ganz allgemein. Der bloße Bedarf nach einer Regel erzeugt aber bekanntlich die Regel nicht auch schon. In dieser Hinsicht haben es sich die Ökonomen lange Zeit zu einfach gemacht. Sie glaubten, daß nur der Nutzen einer Institution höher sein muß als die Kosten ihrer Einrichtung. Das liegt auch daran, daß sie die betriebliche „Organisation“ von Marktbeziehungen und die Gründung von Firmen im Auge hatten und nicht das schwierige Geschäft der Etablierung einer Institution als mit „Geltung“ versehener Regel. Organisationen kann man gründen und andere Firmen, wenn man das nötige Kleingeld hat, aufkaufen. Bindende und mit Legitimität versehene institutionelle Regeln sind nicht derart einfach zu „organisieren“.
Inzwischen ist wohlbekannt, worauf es bei der Einrichtung einer institutionellen Ordnung selbst bei einem extrem hohen Bedarf danach meist noch ankommt: auf die Überwindung eines Dilemmaproblems des kollektiven Handelns.
Neue Institutionenökonomie Auf die Lösung des Problems der Transaktionskosten durch Institutionen hatte Ronald H. Coase selbst schon hingewiesen. In der Ökonomie ist vor dem Hintergrund des Problems der Transaktionskosten als Folge gerade der opportunistischen Gerissenheit, der moralischen Unzuverlässigkeit und der begrenzten Rationalität des homo oeconomicus inzwischen eine eigene Schule entstanden: die sog. Neue Institutionenökonomie (New Institutional Economics) in ganz bewußter Nachfolge der auch stark von institutionellen Überlegungen geprägten klassischen Ökonomie um Adam Smith und David Ricardo. Die Neue Institutionenökonomie befaßt sich vor allem mit der Untersuchung der Bedeutung von institutionellen „governance structures“ hinter den Markttransaktionen, und dann besonders mit den Auswirkungen unterschiedlicher institutioneller Regulierungen von Eigentumsrechten.26 26
Vgl. dazu insbesondere die Beiträge von Armen A. Alchian und Harold Demsetz: Armen A. Alchian, Uncertainty, Evolution, and Economic Theory, in: The Journal of Political Economy, 58, 1950, S. 211-221; Armen A. Alchian und Harold Demsetz, Production, In-
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Von den drei Hauptvertretern dieses Ansatzes haben zwei inzwischen den Nobelpreis für Ökonomie erhalten. Wir kennen diese beiden bereits: Ronald H. Coase und Douglass C. North. Der dritte ist der oben erwähnte Autor von „Markets and Hierarchies“: Oliver E. Williamson. Er wird auf seinen Nobelpreis sicher nicht mehr lange warten müssen.
Warum die Neue Institutionenökonomie gerade derzeit ein so gutes standing nicht nur bei den Nobelpreiskomitees hat, läßt sich gut verstehen: Die Transformation der Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme in den osteuropäischen Ländern führte eigentlich auch dem betriebsblindesten Neoklassiker unter den Ökonomen vor, daß die reinen Interessen es alleine nicht sind, die die Beziehungen der Menschen (pareto-)optimal koordinieren. Immer gibt es Opportunismus, begrenzte Rationalität und spezifisches Kapital, für das nur ein bestimmter Tauschpartner in Frage kommt. Immer gibt es kurz gesagt teilweise massive Transaktionskosten. Und das gerade in Zeiten des institutionellen Umbruchs. Wenn jetzt die erforderlichen Institutionen fehlen, kann das reine Spiel der Interessen nur Anarchie, Korruption und den Verfall des komplizierten Netzwerkes weiträumiger Arbeitsteilung hinterlassen. Aber den Bedarf nach Sicherheit, nach abgesicherter Kooperation und nach verläßlichen Transaktionen gibt es natürlich auch unter Anarchie und Institutionenverfall weiter wenn nicht mehr als zuvor. Wenn es nun aber die offiziellen institutionellen Strukturen nicht mehr sind, die die erforderliche Absicherung für diese Transaktionen bieten können, dann suchen sich die Menschen die transaktionskostensparenden ordnenden Lösungen und die transaktionssichernden Organisationen da, wo sie sie finden. Und sie finden sie schließlich vielleicht nur bei einer Art von Mafia, die ja im Grunde lediglich eine besondere Art einer Firma ist, deren Leistung in der Herstellung von Sicherheit für riskante Transaktionen besteht27 durch Angebote, die man nicht ablehnen kann.
1.2.3 Die Sinnstiftungsfunktion Institutionen mindern die Unsicherheiten des Menschen und ermöglichen ihm interessante, aber riskante Transaktionen. In der Sichtweise der Ökonomie, auch der Neuen Institutionenökonomie, kommt es jetzt nur auf die Relation des Aufwandes für eine Institution gegenüber dem durch sie gestifteten Nut-
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formation Costs, and Economic Organization, in: The American Economic Review, 62, 1972, S. 777-795. Siehe auch den Sammelband von Eirik G. Furubotn und Svetozar Pejovich (Hrsg.), The Economics of Property Rights, Cambridge, Mass., 1974; sowie die aktuelle Übersicht bei Rudolf Richter und Eirik G. Furubotn, Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung, 2. Aufl., Tübingen 1999 Vgl. Diego Gambetta, Die Firma der Paten. Die sizilianische Mafia und ihre Geschäftspraktiken, München 1994.
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zen an. An dieser Stelle macht die Soziologie eine weitere Annahme: Die beschriebenen Orientierungs- und Ordnungsfunktionen alleine machen die Bedeutung der Institutionen nicht aus. Das Motiv zur Minderung der individuellen Anomie und das an der ordnenden Sicherung der Interessen alleine reichen nicht aus, daß sich Orientierung und Ordnung auch wirklich einstellen.
Der „Sinn“ einer Institution Das Problem ist uns bereits oben mit dem Begriff der Regel und dem der Legitimität begegnet: Institutionen erhalten ihre orientierende und ordnende Kraft (erst) dadurch, daß sie dem Handeln einen Sinn geben, der den Akteuren selbst einsichtig und verständlich ist, der es im Rahmen der institutionellen Regeln als „richtig“ oder „falsch“, als „gerecht“ oder „ungerecht“ erscheinen läßt, und den die Akteure bei den anderen Akteuren auch verläßlich unterstellen können. „Sinn“ bedeutet – in einem sehr weiten Sinne –, daß es für einen Sachverhalt eine Verweisung auf andere Sachverhalte gibt, die den Sachverhalt in einen Rahmen stellt, der über das einzelne Ereignis hinausweist. Meist wird bei der Rede vom Sinn an das Handeln der Menschen gedacht. Handeln hat danach Sinn, wenn es nicht isoliert für sich steht, sondern in einem weiteren Zusammenhang eingebettet ist – sei das eine Zweck-Mittel-Beziehung, eine übergreifende soziale Ordnung, eine gedachte kosmische oder sakrale Ordnung oder ein gesellschaftlicher Funktionszusammenhang. Max Weber spricht auch vom „Sinnzusammenhang“, in den ein bestimmter mit Sinn belegter Sachverhalt oder Ablauf – wie er sagt – „hineingehört“ (Weber 1972, S. 4; vgl. dazu auch bereits Abschnitt 6.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie den Exkurs über Sinn in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).
Zwei Arten des Sinns sind im Zusammenhang der institutionellen Regelung des Handelns bedeutsam: der subjektive und der soziale Sinn. Beim subjektiven Sinn eines Handelns besteht die Verweisung in seiner Einbettung in die subjektiven Absichten des Akteurs und in die aus seiner Sicht mittelgerechte Wahl des Handelns. Beim sozialen Sinn eines Handelns beziehen sich die Verweisungen auf sozial geltende Regeln, in die ein Handeln eingebettet ist: die Regeln einer übergreifenden, von allen Mitgliedern eines Kollektivs geteilten, Vorstellung einer Ordnung. Subjektiven Sinn hat ein Handeln daher schon, wenn es allein den individuellen Interessen dient und wenn die Wahl der Mittel situationsgerecht war. Damit werden – nach Überzeugung der Soziologie – die Probleme der Orientierung und der Ordnung aber nicht gelöst. Die Orientierung an der Bedienung von Interessen alleine ist dazu ebenso wenig geeignet wie die bloße Furcht vor der Sanktionsgewalt der Institutionen. Rein subjektive Motive und eine nur zweckrationale Orientierung können die „Geltung“ einer Ordnung nicht begründen, sondern erlauben allenfalls eine punktuelle „mutualistische“ Regelung eines Interessenaustausches
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oder eine nicht-bindende Fügsamkeit unter eine ansonsten äußerlich bleibende Macht. Eine verläßliche, weil aus den Überzeugungen und Motiven der Akteure selbst heraus unterstützte und von ihnen auch als Gemeinsamkeit geteilte, Lösung beider Probleme geht nur über eine übergreifende, auch sozial verankerte Einordnung in ein System von Verweisungen. Das aber sind die Regeln, auf denen jede Institution beruht.
Diese Regeln müssen dabei soziale Regeln sein, die die Menschen wenigstens im Prinzip „verstehen“ können. Private Regeln, die niemand sonst kennt, oder äußerliche Anstöße, die keine weitere Verweisung haben, können die Funktion der Sinnstiftung grundsätzlich nicht haben (vgl. dazu auch noch Abschnitt 3.2 unten in diesem Band).
Verstehen und Bindung Sinn und Legitimität hat eine Institution dann, wenn ihre soziale Sinnhaftigkeit mit der subjektiven Einsicht einhergeht, daß alles im Prinzip „richtig“ ist und „gerecht“ zugeht. Die Funktion der Sinnstiftung durch eine Institution wird über zwei Effekte der Einbettung eines Handelns in Regeln erzeugt Verstehen und Bindung. Verstehen meint: Das Handeln wird den Akteuren selbst subjektiv und sozial „verständlich“. Und das heißt: Sie wissen kognitiv, worum es geht. Bindung bedeutet: Ein einmal nach einer sozialen Regel begonnenes Handeln zwingt die Akteure psychisch und sozial an die Abläufe der Regel zuweilen auch gegen ihre „Interessen“. Sie fühlen sich moralisch oder sonstwie emotional an die Regel gebunden und ihren Imperativen verpflichtet. An einem hoffentlich verständlichen Beispiel lassen sich diese beiden Wirkungen etwa so beschreiben. Bayern München gegen Hansa Rostock im Olympiastadion. Bayern verliert 0:2 und letztlich dadurch Otto Rehagel sowie die Meisterschaft 1995/6. Lang ist’s her, aber das allgemeine Problem immer wieder aktuell. Die Wende war das 0:1 in der 61. Minute, als plötzlich vier Spieler von Hansa Rostock alleine vor Oliver Kahn auftauchten und einer den herübergepaßten Ball nur noch einschieben mußte. Was war geschehen? Der Libero Lothar Matthäus hatte im entscheidenden Moment den ballführenden Stürmer nicht angegriffen, sondern war ein paar Schritte nach vorne gelaufen. War Lothar von allen guten Geistern verlassen, vielleicht weil er gerade an Lolita denken mußte? Keineswegs. Lothar Matthäus gab, als man ihn in der Sendung „ran“ später danach fragte, gute, ihm selbst und allen anderen höchst verständliche, Gründe dafür an, warum er vom eigenen Tor wegeilte, obwohl doch der gegnerische Sturm zu viert auf ihn zukam: Er wollte den konternden Gegner in eine Abseitsfalle laufen lassen. Das aber hatte nur Sinn, weil es die Abseitsregel – und alle anderen institutionellen Strukturen um sie herum – gab und weil er davon ausgehen konnte, daß die Finte bei seinen Mitspielern saß. Bei einer Feierabendmannschaft, die ohne diese Regel spielt, wäre die gleiche Handlung vollkommen sinnlos gewesen, ebenso bei einer nicht eingespielten Abwehr. Insoweit handelte Lothar Matthäus für sich selbst verständlich und subjektiv wie sozial ausgesprochen sinnhaft, weil er sich an einer Regel orientierte, die er für alle Beteiligten an dem Spiel als gültig und geläufig unterstellen konnte. Das Vorpreschen im Rahmen des Sinns der Abseitsregel hieß aber gleichzeitig auch, daß Lothar Matthäus und jeder der sonst Beteiligten – ein-
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mal mit dem Tun begonnen – an die innere Logik einer Abseitsfalle gebunden war und damit fortfahren mußte: Wenn er plötzlich innegehalten hätte oder gar wieder umgekehrt wäre, wäre die ganze Aktion erst recht vollkommen sinnlos gewesen: Der Gegner hätte jetzt um so leichter die aufgerückte Abwehr überspielen können. Und Lothar alleine kommt schon lange nicht mehr gegen einen entschlossenen Sturm an. Sicher kann bei solchen Aktionen – wie auch geschehen – vieles schief gehen: Der Schiedsrichter vergißt das Pfeifen, die Mitspieler passen wider Erwarten einmal doch nicht auf, oder der ballführende Stürmer überläuft überraschenderweise ohne verbotenen Paß die aufgerückte Abwehr einfach. Aber das ist nicht der Punkt. Wichtig ist nur, daß den Akteuren der Sinnzusammenhang einer Abseitsfalle im Rahmen der FIFA-Regeln des Fußballspiels einsichtig ist und sie sich mit dem „Anlaufen“ der betreffenden Handlungssequenz daran gebunden fühlen. Nicht immer müssen die Spieler darüber bei ihrem Tun reflektiert nachdenken. Das wäre beim Fußball wie im alltäglichen Leben auch nicht gut. Und ob Lothar M. überhaupt so viel Intelligenz besitzt? Er hat sicher nicht viel gedacht dabei. Aber als Reinhold Beckmann den Lothar Matthäus anschließend in der Sendung „ran“ fragte, warum er denn in der 61. Minute den Gegner nicht entschlossen attackiert habe, sondern nach vorne gelaufen sei, da konnte er mit sehr guten Gründen erklären, was seine Absichten waren, und verständlich machen, warum das Vorlaufen so sinnlos nicht gewesen sei. „Ja gut“, hat Lothar M. da gemeint. „Ich wollte sie ins Abseits laufen lassen. Nur hat es leider nicht geklappt, weil niemand mich und meine überragende Spielintelligenz verstanden hat. Das war früher anders. Da gab es noch ein blindes Verstehen unter uns.“ Und alle haben ihn verstanden.
Wenn es eine soziale Regel gibt und wenn sich ein Akteur daran orientiert, dann kann auch für den weiteren Ablauf unterstellt werden, daß er dem sozialen Sinn der Regel folgt. Auf diese Bindewirkung eines ganzen Sinnzusammenhangs können sich die Akteure eines unter einer sozialen Regel stehenden Tuns fast sicher verlassen. Dieses in die Konstruktion und in die Sinnstiftungsfunktion einer sozialen Regel gewissermaßen eingebaute Regelvertrauen ist die Grundlage auch der Orientierungsfunktion wie der Ordnungsfunktion von Institutionen. Ohne sozialen Sinn und Legitimität und nur auf Interessen und nur auf der Absicht der Vermeidung von (Transaktions-)Kosten beruhend sind Institutionen zwar nicht völlig bindungs- und wirkungslos. Aber erst ihr Sinn und ihre Legitimität geben ihr die nötige „Verbindlichkeit“, in den Situationen, die einer solchen verbindlichen Regelung wirklich bedürfen.
Sinn und Interessen Sinn und Legitimität einerseits und die Interessen an Orientierung und Ordnung andererseits stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Je ausgeprägter die Sinnstiftungsfunktion ist, um so weniger an externen Anreizen und Sanktionen ist erforderlich, um einer Institution zur Geltung zu verhelfen. Die Verständlichkeit einer Regel und ihre Bindewirkung leiden jedoch, wenn die Kosten der Regelbefolgung zu hoch oder gar die eigenen Interessen gegen die Unterstützung der Regel gerichtet sind. Kurz: Der Sinn und die Legitimität einer Institution und die Interessen an ihr unterstützen sich gegenseitig.
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Institutionen als Restriktionen Institutionen helfen den Menschen, mit ihren Schwächen fertig zu werden, die Begrenzungen ihrer Möglichkeiten zu überwinden, riskante Transaktionen dennoch abzuwickeln und Sinn in ihrem Tun zu finden. Über alledem darf jedoch nicht vergessen werden, daß die Institutionen diese Leistung gerade dadurch erst erbringen können, daß sie andere Möglichkeiten als die, die in den Regeln vorgeschrieben sind, verläßlich ausschließen. Institutionen ermöglichen daher nicht nur, sie begrenzen auch. Nicht immer werden die betreffenden Begrenzungen als hilfreich, sinnvoll oder legitim empfunden, besonders dann, wenn man von den Möglichkeiten aus der institutionellen Ordnung nicht viel hat.
Entfremdung und Sinnlehre Institutionen können die Menschen daher leicht von ihren Bedürfnissen und Interessen „entfremden“ und sie nicht selten sogar massiv unterdrücken. Ein Bürokrat, der nicht mehr darüber nachdenken mag, warum er seine Vorschriften erfüllt, gehört ebenso dazu, wie der Lohnarbeiter, der unter den Institutionen der kapitalistischen Marktwirtschaft gerade erfährt, daß er jetzt alle Freiheiten hat, sich auf dem Arbeitsmarkt umzusehen, oder der Sklave, der nur schwerlich einzusehen vermag, daß die Institution der Sklaverei eine auch für ihn nützliche und als richtig und gerecht geltende Angelegenheit sein soll. Es gibt bei der gesellschaftlichen Konstruktion von Institutionen immer einen solchen payoff von Ermöglichung und Beschränkung, der für die verschiedenen Gruppen einer Gesellschaft notwendigerweise unterschiedlich ausfällt, die Menschen in unterschiedlicher Weise mit dem Sachverhalt versöhnt, daß sie im Interesse der Ordnung einen Teil ihrer Interessen und Bedürfnisse hintanstellen müssen und es ihnen gestattet, Sinn in einer institutionellen Regel zu finden. Institutionen, insbesondere die Institutionen der staatlichen Herrschaft, sind allein deshalb eine der Hauptquellen für die Gegensätze der Interessen, für die Spaltung einer Gesellschaft, für die Sinnentleerung der betreffenden Regeln und darüber dann auch für das Entstehen sozialer Konflikte und gesellschaftlicher Umwälzungen (vgl. dazu bereits Kapitel 4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie noch die Abschnitte 1.3 und das Kapitel 12 unten in diesem Band). Kurz: Institutionen haben den Keim ihrer Sinnentleerung und damit ihres Wandels oder gar Verfalls gewissermaßen logisch schon eingebaut. Es gibt, solange es Unterschiede unter den Menschen gibt, keine Institutionen, die allen Akteuren gleichermaßen verständlich, sinnvoll und legitim vorkommen.
Institutionen
1.3
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Wie entstehen Institutionen?
Institutionen entstehen, so haben wir gesehen, nicht ohne Grund. Sie müssen eingerichtet, gegen allerlei Gefahren abgesichert und mit „Geltung“ versehen werden. Die Einrichtung und Absicherung einer institutionellen Ordnung mit Geltungsanspruch wird auch als Institutionalisierung bezeichnet. Institutioneller Wandel ist ein Spezialfall der Einrichtung und der Absicherung von Institutionen (vgl. dazu insbesondere noch die Kapitel 10 bis 12 unten in diesem Band).
Einrichtung Drei grundlegende Wege der Einrichtung von institutionellen Regeln gibt es: das Dekret durch eine Herrschaftsinstanz, die Schließung eines Vertrages zwischen gleichberechtigten Akteuren und die ungeplante, die „spontane“ bzw. evolutionäre Entstehung einer Ordnung, etwa aus den zaghaften Anfängen einer einfachen Koordination des Handelns heraus. Durch Dekret entstehen Institutionen dann, wenn es bereits eine besondere Institution gibt, die die neue Institution durchsetzt und dadurch legitimiert, daß sie selbst schon als legitim gilt: eine politische Herrschaft, etwa in Form eines Staates. So entstehen neue Gesetze, fast immer mit bestimmten Absichten und mehr oder weniger expliziten Plänen verbunden. Natürlich können sich Kollektive auch darauf einigen, nach welchen Regeln sie sich ab jetzt zu richten gedenken. Dies ist die Form der Institutionenentstehung über Vertrag. Meist wird dies nur in kleinen Kollektiven von Akteuren mit ähnlichen Interessen möglich sein. Auch vertragsbedingte Institutionen gehören zu denen, mit denen bestimmte Absichten verbunden sein können. Vertraglich und per Dekret geschaffene Institutionen haben daher eine Gemeinsamkeit: Sie beruhen beide auf einer mehr oder weniger rationalen Planung. Das ist ganz anders bei den durch Evolution entstandenen Institutionen. Hier gab es keinen expliziten Plan. Die Institution ist aus kleinen Anfängen der Gewöhnung an eine als Problemlösung empfundene Regelmäßigkeit schließlich zu einer sanktionierten und als sinnvoll und legitim empfundenen Regel geworden und hat sich auf dem Wege dahin Schritt für Schritt verändert und tut es weiterhin (vgl. dazu auch noch Abschnitt 10.4 unten in diesem Band). Die vielen eingelebten Praktiken des Alltages, auch die der Höflichkeit und des Umgangs miteinander, sind so entstanden. Beispielsweise:
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„Weder Löffel, noch Gabel, oder Serviette werden einfach, wie ein technisches Gerät, mit klar erkennbarem Zweck und deutlicher Gebrauchsanweisung eines Tages von einem Einzelnen erfunden; sondern durch Jahrhunderte wird unmittelbar im gesellschaftlichen Verkehr und Gebrauch allmählich ihre Funktion umgrenzt, ihre Form gesucht und gefestigt. Jede noch so kleine Gewohnheit des sich wandelnden Rituals setzt sich unendlich langsam durch, selbst Verhaltensweisen, die uns ganz elementar erscheinen oder ganz einfach ‚vernünftig‘, etwa der Brauch, Flüssiges nur mit dem Löffel zu nehmen; jeder Handgriff, die Art z.B., in der man Messer, Löffel oder Gabel hält und bewegt, wird nicht anders, als Schritt für Schritt standardisiert.“28
Der gesamte Alltag ist umgeben von einer Unzahl meist gar nicht als besonders „geregelt“ bewußter Regeln dieser Art. Sie sind wie Messer, Gabel und Löffel genau deshalb meist von einer ganz unglaublichen inneren Abstimmung und Weisheit, weil sie sich allmählich und in engem Kontakt mit den Alltagsproblemen entwickeln konnten. Sie verkörpern daher in der Regel mehr an problemlösendem Wissen als sich dies je ein Planungskomitee, ein Parlamentsausschuß oder eine Runde von Verhandlungspartnern über einen Vertrag hätte ausdenken können. Carl Menger hat daher die evolutionäre Entstehung solcher „Socialgebilde“ auch nicht zu Unrecht als „organische Entwickelung“ bezeichnet und wurde nicht müde, an die „ ... ‚unverstandene Weisheit‘ in den auf organischem Wege entstandenen socialen Institutionen (nicht ganz unähnlich jener ‚Zweckmäßigkeit‘, welche in den natürlichen Organismen vor das bewundernde Auge des sachkundigen Naturforschers tritt, aber vom Stümper leicht verkannt wird! ... .)“
zu erinnern.29
Fundamentale und abgeleitete Institutionen Hieraus läßt sich eine wichtige Unterscheidung von Institutionen vornehmen: solche, die aufgrund expliziter Planung, und solche, die auf „organische“ Weise, evolutionär entstanden sind. Nicht nur weil die evolutionär entstandenen Institutionen die meist älteren und für den Alltag elementareren sozialen Regeln sind, sondern vor allem, weil alle geplanten Institutionen in ein weites, oft unmerkliches Netzwerk der organisch entstandenen eingebettet sind und ohne diese gar nicht denkbar wären, sind sie die wichtigeren. Daher läßt sich 28
29
Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 1. Band: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt/M. 1976a, S. 144. Carl Menger, Ueber den „organischen“ Ursprung des Rechtes und das exacte Verständniss desselben, in: Carl Menger, Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften, und der Politischen Öekonomie insbesondere, Leipzig 1883a, S. 283.
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gut einer Unterscheidung folgen, die der Ökonom Helmut Dietl in einer langen Tradition der liberalen Bewunderung für die organisch entstandenen Institutionen stehend vorgeschlagen hat. Er nennt die evolutionär entstandenen auch fundamentale, und alle anderen abgeleitete (oder sekundäre) Institutionen.30 Beide Arten von Institutionen stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander: „Fundamentale Regeln und Normen stehen in der Institutionenhierarchie an oberster Stelle. Sie statten jedes Gesellschaftsmitglied mit grundlegenden Handlungs- und Entscheidungsrechten bzw. -pflichten aus. Sofern fundamentale Institutionen einzelnen Gesellschaftsmitgliedern das Recht zustehen, die Handlungsmöglichkeiten anderer einzuschränken, entstehen aus den fundamentalen Institutionen abgeleitete, sekundäre Institutionen. Wird z.B. im Rahmen einer Volksabstimmung eine Steuergesetzänderung beschlossen, entsteht unter Berufung auf die fundamentale Institution des allgemeinen Wahlrechts eine abgeleitete Institution in Form eines neuen Steuergesetzes.“ (Dietl 1993, S. 73; Hervorhebungen nicht im Original)
Dietl nimmt also an, daß beispielsweise das allgemeine Wahlrecht die Folge einer „organischen“ institutionellen Entwicklung sei. Im Rahmen der darauf aufgebauten „sekundären“ Institutionen einer Stufe 2 lassen sich dann weitere abgeleitete Institutionen der Stufe 3, 4 ... bis n bilden. Und allmählich sinken bei Bewährung und stetiger evolutionärer Anpassung die Institutionen der vorderen Stufen in den Rahmen der fundamentalen Grundlage des Alltagslebens ab. Die fundamentalen Institutionen bilden so einen Kranz an nicht mehr thematisierten, „lebensweltlich“ verankerten und deshalb als fraglos legitim geltenden Selbstverständlichkeiten institutioneller Regeln, in dessen Rahmen Dekrete und Verträge, sowie alle „nur“ interessengeleiteten Einzelbeziehungen und Handlungen der Menschen ihre Sicherung und ihre Ordnung finden auch wenn sich das niemand mehr klar macht oder daran denkt.
Absicherung Die Absicherung einer jeden institutionellen Ordnung besteht aus zwei, eng miteinander in Beziehung stehenden Vorgängen: Die Einrichtung eines Sanktionierungsapparates, eines Erzwingungsstabes, wie Max Weber sagt, der für die Verhängung der Sanktionen zuverlässig sorgt. Und die Legitimation der Ordnung derart, daß den Akteuren die Vorstellung der Legitimität vermittelt wird; und das heißt: daß ihnen die Sinnhaftigkeit der Regeln einsehbar ist und sie über Bewertungsstandards verfügen, wonach die Befolgung der Regeln unmittelbar mit positiven, die Abweichung unmittelbar mit negativen Gefühlen erlebt wird (vgl. dazu noch die Kapitel 4, 5 und 11 unten in diesem Band). 30
Helmut Dietl, Institutionen und Zeit, Tübingen 1993, S. 71ff.
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Externe und interne Institutionen In diesem Zusammenhang wird eine Terminologie nützlich, die auf Ludwig Lachmann zurückgeht. Er unterscheidet äußere und innere Institutionen. Der Anlaß der Unterscheidung ist die Frage nach der Ordnung des Marktgeschehens. Kein Markt kann ganz ohne äußeren rechtlichen Rahmen auskommen. Nur innerhalb dieses Rahmens können sich das konkrete Marktgeschehen und die vielen Usancen und speziellen Formen herausbilden: „Wir nennen diese Art von Institutionen, die das notwendige Rahmenwerk der marktwirtschaftlichen Ordnung darstellen, die äußeren Institutionen der Marktwirtschaft. ... . Von ihnen zu unterscheiden sind nun die inneren Institutionen, die sich im Marktgeschehen langsam herausbilden und die Entwicklung von primitiven zu höheren Marktformen begleiten, wie etwa das Termingeschäft, die Börse und das Versicherungswesen.“31
Für die Unterscheidung von äußeren und inneren Institutionen hat sich inzwischen die Begrifflichkeit der externen und internen Institutionen eingebürgert.32 Externe Institutionen sind solche, die einen weiten Rahmen von Regeln definieren, innerhalb dessen sich spezielle Regeln erst definieren lassen. Es ist im allgemeinsten Fall die politische Verfassung einer Gesellschaft. Das ist sowohl die durch Dekret gesatzte politische Verfassung, wie aber auch all die selbstverständlichen Regeln der fundamentalen Institutionen, die ja auch zu dem weiten Rahmen gehören, innerhalb dessen sich alles Spezielle nur bewegen und entwickeln kann. Interne Institutionen sind dagegen diejenigen Regeln, die sich im Rahmen der externen Institutionen herausgebildet haben. Die Absicherung einer institutionellen Ordnung beruht vor allem auf der Schaffung eines stabilen Rahmens externer Institutionen. Im Schatten dieses Rahmens kann viel an den internen Regeln ausprobiert und geändert werden, ohne daß es zu einer besonderen Unordnung kommen müßte. Wenn aber der externe Rahmen ins Wanken gerät, ist es mit den friedlichen Reformen jedoch rasch vorbei. Dann droht oder winkt: je nach den Interessen der Gruppen eine Revolution der kompletten gesellschaftlichen Ordnung (vgl. dazu auch noch Kapitel 12 unten in diesem Band).
31
32
Ludwig M. Lachmann, Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Institutionen, in: Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, 14, 1963, S. 67; Hervorhebungen so nicht im Original. Vgl. Viktor Vanberg, Kulturelle Evolution und die Gestaltung von Regeln, Tübingen 1994, S. 44.
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Institutioneller Wandel Im Hintergrund der Institutionalisierung und der verläßlichen Geltung einer Ordnung sei es durch Sanktionen oder durch welche Form der Legitimation auch immer stehen stets die Interessen der Menschen, abgeleitet aus den jeweils gegebenen Möglichkeiten der Produktion von Wertschätzung und Wohlbefinden unter einer gegebenen Ordnung. Man kann es auf eine einfache Formel bringen: Je mehr eine Ordnung sich mit den Interessen der Menschen deckt, um so geringer ist der Aufwand bei der Institutionalisierung, um so weniger sind Sanktionen nötig, um so höher ist der Grad der Legitimität und um so eher stabilisiert sie sich von innen heraus und fast ganz von selbst. Widersprüche zwischen den Interessen und Möglichkeiten der Akteure einerseits und den Imperativen einer Ordnung andererseits sind daher der Hauptmotor für die Änderung einer bereits bestehenden Ordnung für den institutionellen Wandel. Diese Widersprüche sind in die Logik von Institutionen unmittelbar eingebaut: Jede Institution unterstützt die Interessen bestimmter Gruppen mehr als die anderer Gruppen. Das geht allein deshalb nicht anders, weil jede Regelung immer andere Regelungen ausschließt und sich die Interessen der Akteure an den Regeln so gut wie immer unterscheiden, meist sogar massiv. Es ist der Kern dessen, was auch die Dialektik der Herrschaft genannt wird, dem wichtigsten Aspekt der institutionellen Ordnung einer Gesellschaft (vgl. dazu bereits Abschnitt 3.3 über die Konflikte in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie die Bemerkungen oben über die Entfremdung und Sinnleere von Institutionen).
Insofern keine Gesellschaft ganz ohne derartige Widersprüche zwischen den Interessen und Möglichkeiten bestimmter Gruppen und bestimmten Regeln organisiert werden kann, sind (latente) Konflikte und Tendenzen zum institutionellen Wandel mit der Existenz von Gesellschaften nahezu logisch miteinander verbunden (vgl. dazu bereits Abschnitt 4.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Institutionen und Konflikte sind fast schon in logischer Weise aufeinander bezogen. Die Analyse der durch eine bestimmte institutionelle Ordnung notwendigerweise erzeugten Widersprüche ist daher der Schlüssel für die Erklärung latenter Tendenzen des sozialen Wandels wie der manifest ablaufenden Änderungen in einer Gesellschaft. *** Institutionen sind die wohl wichtigste Erfindung der Menschen zur gesellschaftlichen Lösung der vielen Widerstände, Probleme, Konflikte und Fallen gewesen, die mit den für sie überlebenswichtigen, aber stets riskanten Kooperationen und Transaktionen zusammenhängen. Sie sind der Kern einer jeden
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gesellschaftlichen Ordnung und arbeitsfähigen Organisation der Produktion und Reproduktion des Alltags. Welche Art an Institution jeweils nötig oder angemessen ist, hängt natürlich von der Art des zu lösenden Problems ab. Welche möglich und naheliegend sind, ist von der materiellen Basis, von den Opportunitäten der natürlichen und technischen Gegebenheiten und der dadurch erzeugten relativen Knappheiten, sowie von der Verteilung der Interessen der Menschen und der Organisation zur Wahrnehmung dieser Interessen abhängig. Kurz und mit Karl Marx gesagt: Die Institutionen sind die Produktionsverhältnisse, die sich für eine bestimmte materielle Basis an Produktivkräften zur Organisation der alltäglichen Reproduktion anbieten. Im wesentlichen kennen wir die Grundstrukturen der mit den Institutionen zu lösenden Probleme und die Anforderungen an die Lösungen bereits. Es sind die in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich besprochenen Probleme der Einrichtung einer reibungslosen Koordination von kontingenten Handlungen, der verläßlichen Überwindung von Dilemmasituationen und der sicheren Beherrschung und Entschärfung von Konflikten.
Kapitel 2
Institutionelle Analyse
Bei einer soziologischen Erklärung ist die Beschreibung der geltenden institutionellen Regeln der wohl wichtigste und meist auch der anspruchsvollste und schwierigste Teil der Arbeit. Die Analyse der institutionellen Regeln und ihrer Beziehungen zueinander ist das zentrale Element in der Logik der Situation der Akteure. Aus den Institutionen ergeben sich ja oft gerade erst die Strukturen der Möglichkeiten und der primären Ziele der Akteure sowie die ganz spezielle „Logik“ des sozialen Sinns in einer Situation, der dann den alles bestimmenden Bezugsrahmen des Handelns bildet. Nicht aus Zufall hat Karl R. Popper diesen Teil seines Konzeptes der Situationslogik als institutionelle Analyse bezeichnet und für deren eigentlichen Kern angesehen bzw. für den Kern einer selbstbewußten „autonomen“ Soziologie (vgl. dazu bereits Kapitel 10 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Worum es bei einer solchen institutionellen Analyse geht, und was dabei zu beachten ist, läßt sich nicht leicht beschreiben und erst recht nicht leicht kodifizieren. Meist müssen zur Demonstration dieser Kunst klassische Vorbilder der sociological imagination herangezogen werden. Alexis de Tocqueville, Karl Marx, Emile Durkheim, Max Weber und Robert K. Merton gehör(t)en jeder auf seine Weise zu den Virtuosen der institutionellen Analyse: die typisierende Beschreibung der institutionellen Besonderheiten der Logik der Situation der Akteure, des dadurch strukturell nahegelegten typischen Handelns und dessen typischer struktureller Folgen.1 Wir haben in Kapitel 1, 3 und 10 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ am Beispiel der Professoren und deren typischer Differenzierung in kosmopolitische Forscher und lokale Lehrer gezeigt, wie eine institutionelle Analyse im Prinzip funktioniert. Dazu mußten die wichtigsten Grundzüge der institutionellen Regeln des Hoch1
Vgl. zum Konzept und zum Vorgehen bei einer institutionellen Analyse insbesondere den programmatischen Artikel von M. Rainer Lepsius, Institutionenanalyse und Institutionenpolitik, in: Birgitta Nedelmann (Hrsg.), Politische Institutionen im Wandel, Sonderheft 35 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1995, S. 392-403.
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schulsystems einbezogen werden: die offiziellen Pflichten der Professoren ebenso wie die eher inoffiziellen Bewertungen der verschiedenen Tätigkeiten. Kernstück der Analyse war die Untersuchung der im Teilsystem der Wissenschaft geltenden sozialen Produktionsfunktionen und damit die Identifikation der maßgeblichen kulturellen Ziele und der verfügbaren materiellen wie der zugelassenen oder vorgeschriebenen institutionalisierten Mittel, diese Ziele dort zu erreichen. An dieser Stelle wurden dann aber auch bestimmte technische und kulturelle Einzelheiten wichtig, die ganz unabhängig von den institutionellen Regeln auf die Opportunitäten des Handelns wirken und die Beachtung bestimmter Regeln für typische Akteure unterschiedlich teuer und sinnvoll machten: beispielsweise, daß Publikationen schon technisch ein weiteres Publikum erreichen als Vorlesungen und daß man bei den Publikationen gewisse Symbole – Zitierweisen, verwendete Verfahren, Stil – beachten muß, um „richtig“ verstanden und akzeptiert zu werden. Kurz: Keine institutionelle Analyse darf die materiellen Opportunitäten und den kulturellen Bezugsrahmen des Handelns der Akteure für die Beschreibung der Logik der Situation vergessen.
Die institutionelle Analyse ist so gesehen zwar „nur“ ein Teil der soziologischen Erklärung, aber ein ganz entscheidender. Ihr Ergebnis muß wie wir ja wissen über die sog. Brückenhypothesen in die Variablen einer Handlungstheorie übersetzt werden. Auch das ist oft genug keine leichte Sache. Vor allem braucht man eine Theorie des Handelns, die solche Übersetzungen zuläßt. Mit der Wert-Erwartungstheorie ist das relativ leicht: Institutionen strukturieren sowohl die Erwartungen wie die Bewertungen der Menschen. Was sonst? Allein deshalb bietet sich die Wert-Erwartungstheorie für die Umsetzung einer institutionellen Analyse in die Handlungslogik der Akteure besonders an. Das ist freilich die besondere Sicht der erklärenden Soziologie mit ihrer Forderung nach einer handlungstheoretischen Tiefenerklärung der strukturellen Folgen institutioneller Regeln für bestimmte soziale Abläufe. Es gibt indessen eine bestimmte Variante der Soziologie, die zwar letztlich, wenngleich implizit, auch so vorgeht, aber unter einer institutionellen Analyse die Beschreibung der Zusammenhänge, Konflikte, Dynamiken und Entwicklungen von Institutionen alleine auf der Makro-Ebene versteht und das dann auch schon als eine Erklärung der institutionellen Dynamik einer Gesellschaft ausgibt. Diese Richtung der Soziologie sei als Institutionalistische Soziologie bezeichnet. Ihre Hauptvertreter waren bzw. sind der Norweger Stein Rokkan sowie der wohl bedeutendste lebende deutschsprachige Soziologe M. Rainer Lepsius und dessen Nachfolger auf seinem Mannheimer Lehrstuhl, Peter Flora, der in dieser Tradition insbesondere die Arbeiten von Stein Rokkan weiterführt. M. Rainer Lepsius hat für das Vorgehen bei einer institutionellen Analyse fünf Schritte und die Klärung einer zentralen Vorfrage vorgeschlagen. Die Vorfrage ist, im Anschluß an das in Kapitel 1 oben in diesem Band schon behandelte Konzept einer Institution als einer die Akteure orientierenden Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung nach Max Weber, die folgende:
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„Welche Leitideen wirken in welchen Handlungskontexten bis zu welchem Grade verhaltensstrukturierend.“ (Lepsius 1995, S. 395; Hervorhebungen nicht im Original)
Genau das ist auch der Kern der institutionellen Analyse im Rahmen der erklärenden Soziologie: Welches sind die primären kulturellen Ziele und welche die materiell möglichen und institutionell zugelassenen bzw. vorgeschriebenen Mittel? Welche typischen Interessen haben die Menschen deshalb? Welchen sozialen Sinn in den betreffenden Handlungskontexten müssen sie beachten? Die Institutionalistische Soziologie geht dann aber anders als die erklärende Soziologie sofort wieder auf die Makroebene zurück bzw. bleibt gleich dabei. Es geht ihr vor allem um das von ihr so genannte Konstitutionsproblem der Institutionen. Seine Lösung besteht im einzelnen aus der Klärung der bereits angesprochenen fünf Fragen. Diese lauten (Lepsius 1995, S. 395f.): 1. Wie geschieht die Ausbildung der jeweiligen Normen, deren Befolgung dann in dem jeweiligen Handlungskontext nur noch als „rational“ gilt, die sich dann von den individuellen Interessen und Motiven verselbständigen und den Akteuren in dem Handlungskontext als schließlich nicht mehr weiter reflektierte Handlungs-„Modelle“ gelten? 2. Wie erfolgt auf der gesellschaftlichen Ebene dann die Ausdifferenzierung des betreffenden Handlungskontextes als eine eigene „Sphäre“ mit einem jeweils eigenen sozialen Sinn, einer eigenen „Rationalität“ des Handelns – gemäß dem „Code“ der jeweiligen Normen bzw. Handlungs-Modelle? 3. Wie erfolgt die Entwicklung der Sanktionsmittel zur Durchsetzung und Absicherung der Normierungen und der Ausdifferenzierung der normierten Handlungssphären und damit der Geltungskraft der institutionellen Leitideen für die Orientierung der Akteure? 4. Welche Brüche, Widersprüche und Konflikte entstehen zwischen den so ausdifferenzierten und abgegrenzten Sphären? Und welche Formen der Bearbeitung der weiteren, meist nicht vorhergesehenen, Folgen gibt es dann? 5. Welche Formen der Konfliktaustragung und Vermittlung zwischen den verschiedenen und auch gegensätzlichen institutionellen Leitideen stellen sich ein?
Am Beispiel der Institution der Wissenschaft beschreibt Lepsius das Ergebnis einer solchen institutionellen Analyse (Lepsius 1995, S. 396f.). Nämlich: Welche Kriterien des Handelns gelten im Bereich der Wissenschaft? Zum Beispiel: Die Gebote der Prüfbarkeit von Aussagen und die Orientierung am Code der Wahrheit und der Vermeidung von Werturteilen. Wie ist die Durchsetzung dieser Imperative geregelt? Etwa: Durch methodische Standards und durch ein System von Begutachtung, Publikation und Replikation der Ergebnisse. Weiter: In welchen weiteren institutionellen Rahmen ist das Teilsystem der Wissenschaft eingebettet? Etwa: In die Freiheitsgarantie von Wissenschaft, Forschung und Lehre in Art. 5, Abs. 3 des Grundgesetzes. Schließlich: Wie sieht die innere Organisation der Wissenschaft aus? Die Antwort: Es ist die Organisation der Universitäten, ihrer Grundordnung und ihrer Gremien.
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Die Perspektive dieser Art der institutionellen Analyse liegt wie man sieht in der deskriptiven Draufsicht: die Beschreibung der „Verflechtung der Institutionenordnung“ und des „Institutionenkampfes“ zwischen den Sphären der verschiedenen institutionalisierten Leitideen. Beispielsweise: Die Beschreibung des Kampfes zwischen den institutionellen Sphären der Universitäten mit ihrem Oberziel der wertfreien und letztlich auch verwendungsfreien Forschung und Lehre und den in der politischen und ökonomischen Sphäre verankerten Imperativen der Effizienz auch von Hochschulen. Oder: Die Analyse des Widerspruchs zwischen den Leitideen der Marktwirtschaft und der Sozialpolitik im Rahmen der Institution der sozialen Marktwirtschaft, der die Stimmungslage etwa zwischen dem Grafen Lambsdorf und Norbert Blüm immer wieder neu belebt.
Dabei sind stets auch wieder die Folgen für die die Gesellschaft übergreifende institutionelle Ordnung zu beachten, die sich aus dem „Institutionenkampf“ der sich ja rasch verselbständigenden institutionellen Sphären spezieller Leitideen ergeben. Es geht um die „ ... Untersuchung des Verhältnisses zwischen den institutionalisierten Ordnungen einer Gesellschaft und des durch sie bestimmenten Charakters der Gesamtordnung.“ (Ebd., S. 399; Hervorhebung nicht im Original)
Kurz: Die institutionelle Analyse führt letztlich zu einer Untersuchung der gesamtgesellschaftlichen Ordnung und der übergreifenden Zusammenhänge und Prozesse, der Widersprüche wie der Komplementaritäten, der integrierenden wie der desintegrierenden Tendenzen innerhalb und zwischen den verschiedenen institutionellen Sphären. Eine solche institutionelle Analyse ist letztlich immer eine Art der Beschreibung der institutionellen Differenzierung einer Gesellschaft bzw. wenn möglich im Vergleich verschiedener Gesellschaften. Wir wollen an dieser Stelle nicht weiter auf die Frage eingehen, ob die von der Institutionalistischen Soziologie gestellten Fragen zu mehr führen können als zu Beschreibungen der Entstehung, der Konsolidierung, der Verflechtungen, der Widersprüche und des Wandels institutioneller Strukturen. Aber ein wenig zurückhaltend sind wir von der erklärenden Soziologie schon. Ganz ohne Zweifel sind diese Beschreibungen für die erklärende Soziologie von ganz erheblicher und unverzichtbarer Bedeutung. Aber kann das denn alles sein? Es geht doch schon bei der folgenden Frage los: Wenn die Entstehung der sozialen Ordnung – unter anderem – etwas mit sozialen Dilemmasituationen zu tun hat, wie könnte man dieses Problem und seine Überwindung eigentlich verständlich machen – und somit erklären –, ohne auf die strategischen Verflechtungen der Akteure, ihre Möglichkeiten und Handlungsalternativen, ihre Interessen und Ideen einzugehen, die sie vorher haben und aus denen sich ergibt, warum sie eine bestimmte institutionelle Ordnung anstreben und warum sie sich – wenn die Bedingungen stimmen – diese – und keine andere! – schaffen?
Etwas vorsichtig müßte man also schon sein: Mit der Beantwortung von Fragen, die mit „Wie geschah es, daß ... ?“ anfangen, oder etwa lauten „Welchen
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Widerspruch zwischen welchen Sphären haben wir denn jetzt?“, wird man der Dynamik institutioneller Entwicklungen wohl nicht wirklich auf den Grund gehen können. Erklärungsfragen beginnen immer mit „Warum ... ?“ und sie enden mit „Aha, deshalb war das so!“. Und dazwischen muß ein erklärender und damit auch allgemeiner Mechanismus erkennbar werden, der mehr ist als die bloße Auskunft, daß der beschriebene historische Prozeß der Institutionalisierung, die Verselbständigung der institutionellen Sphären und die damit aufkommenden Widersprüche und Konfliktlagen es wohl waren, die alles bewirkten (vgl. dazu auch schon den Exkurs über die Methode der abnehmenden Abstraktion und über das Verhältnis von Soziologie, Psychologie und Ökonomie im Anschluß an Kapitel 9 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Denn: Das wissen wir mit der Beschreibung der Institutionen ja schon. Wir wissen aber dann immer noch nicht: „Warum?“ Und genau hier beginnt das Geschäft der soziologischen Erklärung mit ihren bekannten drei Schritten ausgehend von der Makroebene der institutionellen Strukturen hinunter in die Mikroebene der Akteure und deren Handeln und wieder hinauf auf die Makroebene der gesellschaftlichen Strukturen und von dort über die zahllosen Modelle der Dynamik sozialer Prozesse, von denen die Dynamik der Institutionen nur eine ist, wenngleich die wichtigste vielleicht.
Kapitel 3
Soziale Normen
Soziale Normen sind der wichtigste Spezialfall einer Institution. Das folgende Kapitel und die Kapitel 4 und 5 unten in diesem Band über die sozialen Normen ist daher in weiten Teilen auch eine Vertiefung der Eigenschaften und Besonderheiten von Institutionen allgemein.
3.1
Eigenschaften von Normen
Soziale Normen sind Standards für ein bestimmtes Handeln.1 In ihnen sind Soll-Aussagen formuliert, von denen als Anspruch erwartet wird, daß sie erfolgsunabhängig und unbedingt befolgt werden: Du sollst nicht töten und Du sollst die rechte Fahrbahn benutzen, zum Beispiel. Jon Elster definiert soziale Normen gerade so: „I define social norms by the feature that they are not outcome-oriented. ... The imperatives expressed in social norms ... are unconditional ... . “2
1
2
Vgl. zum Konzept der sozialen Norm allgemein u.a.: Gerd Spittler, Norm und Sanktion. Untersuchungen zum Sanktionsmechanismus, Olten und Freiburg/Br. 1967; Rüdiger Lautmann, Wert und Norm. Begriffsanalyse für die Soziologie, Köln und Opladen 1969; Karl-Dieter Opp, Die Entstehung sozialer Normen. Ein Integrationsversuch soziologischer, sozialpsychologischer und ökonomischer Erklärungen, Tübingen 1983. Die Einzelheiten in dem folgenden Abschnitt orientieren sich u.a. an den Beiträgen von James S. Coleman und Heinrich Popitz zu dem Problem der sozialen Normen. James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990a, Kapitel 10: The Demand for Effective Norms, S. 245ff.; James S. Coleman, The Emergence of Norms, in: Michael Hechter, Karl-Dieter Opp und Reinhard Wippler (Hrsg.), Social Institutions. Their Emergence, Maintenance and Effects, Berlin und New York 1990b, S. 36ff.; Heinrich Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 37-48 insbesondere. Jon Elster, The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge u.a 1989, S. 98; Hervorhebungen so nicht im Original.
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Normen haben also einen Wert schon „an sich“ und werden deshalb nicht (nur) in Hinblick auf irgendwelche Konsequenzen befolgt: Sie sind selbst schon das Ziel des Handelns, nicht irgendein äußerer Erfolg des damit verbundenen Handelns. Ihre Befolgung selbst ist somit schon der als belohnend erlebte „Erfolg“. Die Befolgung von Normen ist außerdem stets mit Sanktionen belegt: Konformität mit der Norm zieht positiv bewertete, Abweichung von ihr negativ bewertete Reaktionen nach sich. Soziale Normen haben wegen dieser engen Verbindungen zu bewerteten Folgen anders als manche anderen eher „kalten“ institutionellen Regeln daher stets auch eine besonders ausgeprägte emotionale Prägung. Noch einmal Jon Elster: „Social norms have a grip on the mind that is due to strong emotions their violations can trigger. I believe that the emotive aspect of norms is a more fundamental feature than the more frequently cited cognitive aspects. If norms can coordinate expectations, it is only because the violation of norms is known to trigger strong negative emotions, in the violator himself and in other people.“ (Ebd., S. 100; Hervorhebungen so nicht im Original)
Die Unbedingtheit der Normen, die Erfolgsunabhängigkeit des dadurch gesteuerten Handelns und ihre Fundierung in Sanktionen sind die grundlegenden Aspekte aller Fassungen des Konzeptes der sozialen Norm. Im Hintergrund steht die Vorstellung, daß es der Unbedingtheit, der Erfolgsunabhängigkeit und der Sanktionsdrohungen insbesondere deshalb bedarf, weil rein kognitive Erwartungen und die Interessen der Akteure alleine keine Grundlage für eine verläßliche Regelung des Handelns sind, und weil die Versuchungen zur Abweichung von einer Norm „unbedingt“ und wirksam unterbunden werden müssen, soll soziale Ordnung möglich sein.
Fokalhandlungen Soziale Normen definieren bestimmte Handlungen als mit Ansprüchen aufgewertete und mit Sanktionen bewehrte Erwartungen. Die mit einer Norm so verbundene Handlung wird als Fokalhandlung der betreffenden Norm bezeichnet: „Du sollst nicht töten!“ betrifft den Mord, der Satz „Es gilt das Rechtsfahrgebot“ das Fahrverhalten als Fokalhandlung. Normen können in bezug auf ihre Fokalhandlungen als Vorschriften bzw. als Gebote oder als Verbote formuliert sein. Vorschriften ermutigen oder verlangen die Fokalhandlung, Verbote entmutigen oder untersagen sie. Die Regelung des Rechtsverkehrs ist ein Gebot für das Rechtsfahren und ein Verbot des Linksfahrens. Das fünfte Gebot ist dagegen eigentlich kein „Gebot“, sondern ein Verbot der Fokalhandlung „Mord“.
Soziale Normen
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Normsetzer, Normsender, Normhüter Normen müssen, wie alle Institutionen, gesetzt und vor allem durchgesetzt werden. Das ist keine Angelegenheit, die die „Gesellschaft“ erledigt. Letztlich sind es ja nur Akteure, die für die Geltung von Normen sorgen. Das müssen nicht unbedingt individuelle Akteure sein. Oft sind gerade bei der Einrichtung und Durchsetzung von Normen und Institutionen Organisationen und korporative Akteure beteiligt der parlamentarische „Gesetzgeber“ zum Beispiel. Akteure, die dafür sorgen, daß Normen eingerichtet, durchgesetzt oder wirksam verändert werden, seien mit Heinrich Popitz (1980, S. 45) als Normsetzer bezeichnet. Meist ist das jemand, der genügend Interesse und Kontrolle aufbringt, um die (neue) Norm auch gegen andere Interessen zur Geltung zu bringen. Normsender sind dann Akteure, die durch ihr Handeln bewußt oder unbewußt zum Ausdruck bringen, daß sie die Norm unterstützen (Popitz 1980, S. 43). Die Normsender zeigen, daß die Norm „gilt“ und wie man sich in einer bestimmten Situation „richtig“ zu verhalten hat. Jene Akteure schließlich, die für die Einhaltung der Normen durch eigens darauf abzielende Aktivitäten der sozialen Kontrolle (siehe Kapitel 5 unten in diesem Band) sorgen, werden Normhüter genannt.
Adressaten und Benefiziare Normen haben mit ihren Fokalhandlungen und den jeweils drohenden oder winkenden Sanktionen Adressaten und Nutznießer. Adressaten sind die Personen oder Gruppen, von denen die Fokalhandlung verlangt wird, Benefiziare (oder Nutznießer) einer Norm sind jene Personen oder Gruppen, die von der normkonformen Handlung profitieren. Ob und wieviel jemand von einer Norm profitiert, strukturiert natürlich seine Interessen an der Geltung der Norm. Leicht läßt sich vorstellen, was geschieht, wenn immer nur der eine von der Befolgung einer Norm etwas hat und der andere nicht: Es wird Konflikte über den Sinn, die Legitimität und die Geltung der Norm geben. Manchmal fallen Adressaten und Benefiziare zusammen, wie beim Rechtsfahrgebot, manchmal aber eben nicht, wie bei einem Rauchverbot (siehe auch noch unten dazu).
54
Institutionen
Soziale Beziehungen Normen regeln das Handeln und damit die Beziehungen zwischen den Akteuren: Normen geben den Akteuren „vorbildliche“ Modelle an die Hand, wie sie jetzt ihre Situation und einander sehen sollen und welches Handeln, Denken und Fühlen jetzt das richtige und sinnvolle Tun ist. Sie sind der Kern des wie Max Weber sagt seinem Sinngehalt nach aufeinander eingestellten und dadurch orientierten Sichverhaltens mehrerer. Normen strukturieren damit die Situation des gegenseitigen Handelns mit einer typischen Orientierung und zwar so, daß sie nicht mehr komplett nur „strategisch“ ist, sondern wenigstens teilweise einfach-parametrisch wird. Kurz: Normen konstituieren damit soziale Beziehungen der wechselseitigen Orientierung (vgl. dazu bereits Kapitel 9 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Selbst der Kampf im Kriege und die Konkurrenz auf dem Markte bilden so eine soziale Beziehung: Auch sie unterliegen stets einer gewissen normativen Regelung, in deren Rahmen erst die Art der sinnvollen Strategien definierbar und verständlich wird. Die sog. sozialen Rollen, in denen die gegenseitigen Erwartungen der Akteure über ihre jeweiligen Positionen definiert sind, aber auch die vielen sozialen Drehbücher des Alltags sind die wichtigsten Fälle einer solchen normativen Definition von sozialen Beziehungen (vgl. dazu auch gleich unten, sowie noch Kapitel 7 und 8 unten in diesem Band).
Normstrukturen Die durch Normen eingeforderten Handlungen und die durch sie geregelten sozialen Beziehungen müssen keineswegs aus einer einzigen normativen Erwartung bestehen. Heinrich Popitz spricht von Normbündelung, wenn in einer Beziehung gleich mehrere normative Erwartungen zusammengefaßt werden wie beim Hochschullehrer, der ja gleichzeitig lehren und forschen soll. Eine Normverklammerung liegt vor, wenn sich die Normen wechselseitig und komplementär an beide Akteure einer sozialen Beziehung richten wie bei einem Kunden und einem Verkäufer in einem Geschäft. In einem solchen Fall sind beide Akteure sowohl Adressaten wie Benefiziare der Norm. Eine Positionalisierung schließlich ist gegeben, wenn die normativen Erwartungen fest mit einer „Position“ in einer Organisation verbunden sind. Solche Positionen sind eine Art von „Leer“-Stellen, die mit lebendigen Menschen besetzt werden müssen. An jede konkrete Person, die eine solche Stelle dann besetzt, richten sich sofort die mit der Position verbundenen normativen Erwartungen.
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Sie „müssen“ dann erfüllt werden. Die sozialen Rollen sind dann jene Spezialfälle von Normen, bei denen es eine Normbündelung, Normverklammerung und Positionalisierung gleichzeitig gibt.
Partikulare und universale Normen Normen sind immer nur für einen begrenzten Bereich definiert. Soziale Systeme als Einheiten der soziologischen Betrachtung können geradezu über Normgrenzen, die stets auch immer Sinngrenzen sind, definiert werden. Davon zu unterscheiden sind die Kollektive als bloße Mengen von Akteuren mit bestimmten Merkmalen. Die Merkmale der Akteure sind die Kategorien, aus denen sich soziale Aggregate bzw. die sozialen Klassen mit typisch unterschiedlichen Interessen ableiten lassen, wie wir das in Kapitel 1 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ bereits getan haben. Beispielsweise: Männer und Frauen, Professoren und Studenten, Arbeiter und Kapitalisten, Türken und Deutsche. Der hier wichtige Punkt ist dann der: Nicht immer fallen soziale Systeme der Normgeltung und des normativ definierten Sinns des Handelns mit den Grenzen bestimmter Aggregate und den damit verbundenen Interessen zusammen. Normen, die nur für einige Mitglieder eines Aggregates gelten, seien als partikulare Normen bezeichnet, solche, die für alle Mitglieder des Aggregates zutreffen, als universale Normen.
Gruppen-Normen Manche Aggregate werden von den Mitgliedern oder den Normsendern selbst als eine Sinneinheit betrachtet: Die „Fakultät“, „ZUMA“, „Schalke 04“, zum Beispiel. Normen, die ein Aggregat als eigene Sinneinheit betreffen, werden Gruppen-Normen genannt. Hier richten sich die Geltungserwartung und die Wirkung der Norm an die „Gruppe“ als Adressat insgesamt und damit an alle einzelnen Mitglieder. Konjunkte und disjunkte Normen Wenn Adressat und Nutznießer die gleiche Person oder Gruppe sind, dann spricht man von konjunkten Normen. Dies ist beim Rechtsfahrgebot der Fall: Der Radfahrer, dem zugemutet wird, sich auch auf dem Radweg daran zu
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halten, profitiert selbst davon, daß er es tut sofern, natürlich, sich auch die anderen daran gebunden fühlen. Sind Adressat und Nutznießer verschiedene Personen oder Gruppen, dann handelt es sich dagegen um eine disjunkte Norm. Der in Lauerstellung stehende Raubmörder, dem das fünfte Gebot etwas im Wege steht, ist der Adressat, die arme Großmutter die Nutznießerin dieser Norm wenn der Raubmörder sich rechtzeitig auf die Geltung der Norm des 5. Gebotes und der Sanktionen des Strafgesetzbuches besinnt. Konventionelle, essentielle und repressive Normen
Normen und Institutionen lassen sich vor dem Hintergrund der Beziehungen zwischen Adressaten und Benefiziaren nach dem Grad der Interessengegensätze zwischen Adressaten und Benefiziaren, nach den Schwierigkeiten und Unwahrscheinlichkeiten ihrer Einrichtung und nach ihren sozialen Funktionen unterscheiden. Wir folgen hier der zusammenfassenden Systematik aus Kapitel 4 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und unterscheiden konventionelle, essentielle und repressive Normen (vgl. auch die Zusammenfassung im Anschluß an Kapitel 5 in diesem Band). Konventionelle Normen und Institutionen reichen zur Lösung von Problemen der Koordination aus, essentielle Normen zu der von Dilemmasituationen (verschiedener Art) und repressive Normen schließlich zu der von Konflikten. Konventionelle, essentielle und repressive Normen verlangen einsichtigerweise daher in dieser Reihenfolge „mehr“ an Aufwand der Einrichtung und Durchsetzung: Bei Koordinationsproblemen geht es um konjunkte Normen mit Interessenkonvergenz, bei Dilemma- und Konfliktsituationen um disjunkte Normen mit einem immer deutlicheren Auseinanderfallen von individuellem und kollektivem Interesse. Symbole, Moral und Herrschaft sind die wichtigsten gesellschaftlichen Mechanismen zur Einrichtung dieser drei Typen von Normen oder Institutionen. Sie sind in ihrer Wirksamkeit wegen der Asymmetrie in der Schärfe des Ordnungsproblems asymmetrisch: Herrschaft vermag beispielsweise immer auch das zu leisten, was Symbole und Moral schaffen, aber das Umgekehrte gilt nicht. Ob Nutznießer und Adressat von Normen die gleichen Personen sind oder nicht, hat also einsichtigerweise ganz massive Auswirkungen auf die Umstände der Einsetzung und Absicherung einer normativen Ordnung – insbesondere auf das zentrale Problem der Norm-geltung: die Legitimität einer sozialen Norm oder Institution (vgl. dazu noch die Kapitel 4 und 11 unten in diesem Band).
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Normen als soziale Regeln
Jede soziale Norm besteht wie jede Institution in ihrem Kern aus einer sozialen Regel. Beide Bestandteile des Wortes sind wichtig: Regel und sozial. Das heißt: Eine Regel ist mehr als eine bloße Regelmäßigkeit. Und es darf sich nicht bloß um eine private Regel handeln, sondern es muß eine soziale Regel sein. What is Meant by Rules?
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Wie für die Begriffe Norm und Institution gibt es auch über den so zentralen Begriff der sozialen Regel keine rechte Einigkeit. Dabei ist die Sache letztlich einfach und leicht einsehbar. Der britische Philosoph Peter Winch demonst4 riert die Bedeutung des Begriffs einer Regel an einem einfachen Beispiel. Er tut das im Anschluß an Überlegungen des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein zur Frage, was es heiße: „ ... einer Regel folgen“. 5 Angenommen, ein Akteur A schreibt die folgende Zahlenreihe an eine Tafel: 1, 3, 5, 7. Nun fordert er seinen Freund B auf, die Zahlenreihe fortzusetzen. Fast jeder würde die Reihe so weiterführen: 9, 11, 13, 15 ... . Das tut der Freund B auch. Darauf entgegnet ihm A, daß das die falsche Regel wäre. Korrekterweise hätte die Reihe so aussehen müssen: 1, 3, 5, 7, 1, 3, 5, 7, 9, 11, 13, 15, 9, 11, 13, 15. B wundert sich zwar etwas, akzeptiert aber die von A vorgeschlagene Regel und fährt nun seinerseits fort: ... 17, 19, 21, 23, 17, 19, 21, 23, 25, 27 ... . Darauf entgegnet ihm A wiederum, daß er – B – die Regel wieder nicht richtig verstanden habe, und schlägt eine neue, wiederum etwas spitzfindige Regel vor. Wieder folgt B dem Vorschlag. Wieder versucht er es. Und wieder korrigiert ihn A. Schließlich aber gibt B – inzwischen etwas ärgerlich – auf und meint: Das seien zwar alles sehr schöne Regeln, die A da im Kopf habe. Aber es wären doch wohl keine Regeln, die jeder nachvollziehen und dann auch selbst korrekt anwenden könne. Eine allgemein verständliche und deshalb sinnvolle Regel wäre die mathematische Arithmetik, die er – B – ja gleich zu Anfang angewandt habe. Diese Regel der Ordnung von Zahlenreihen habe er voraussetzen können. So sei die von A angewandte Regel nichts weiter als eine sehr private und nach außen sinnlos erscheinende Ideosynkrasie ohne jede weitere „Bedeutung“.
Das Beispiel zeigt den Kern des Begriffs einer Regel, so wie er für den Beg-riff einer Institution bzw. einer sozialen Norm verstanden werden muß: Es kommt nicht nur auf das Bestehen einer Regelmä3
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So die Frage bei Elinor Ostrom, An Agenda for the Study of Institutions, in: Public Choice, 48, 1986, S. 5. Peter Winch, Die Idee der Sozialwissenschaft und ihr Verhältnis zur Philosophie, Frankfurt/M. 1966, S. 42ff. Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen I, in: Ludwig Wittgenstein, Schriften, Frankfurt/M. 1960, S. 382ff.
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ßigkeit an, die betreffende Regelmäßigkeit muß auch für das Handeln der Akteure in einem sozialen Zusammenhang bekannt, „verständlich“ und maßgeblich sein. Das Wort „ ... einer Regel folgen“ bedeutet daher: „... nur in einer Situation, in welcher sinnvoll angenommen werden kann, daß ein anderer im Prinzip in der Lage wäre, die von mir befolgte Regel zu entdecken, kann man vernünftigerweise sagen, daß ich einer Regel folge.“ (Winch 1966, S. 43; Hervorhebungen nicht im Original)
Eine Regel, die Orientierungs- und Ordnungsfunktionen haben soll, kann deshalb nur eine soziale Regel sein. Bloß private Regeln sind als Kern von Institutionen und sozialen Normen grundsätzlich ungeeignet. Kurz: Regeln müssen sozialen Sinn haben. Erst darüber erhalten sie auch die Funktion der Sinnstiftung, an der die Orientierungs- und die Ordnungsfunktion hängen. Für Normen und Institutionen geeignete Regeln müssen daher soziale Regeln sein. Standards, Fehler und Kontrollen Soziale Regeln sind somit stets gesellschaftlich etablierte Regeln. Sie setzen die Standards für die Unterscheidung eines sozial sinnvollen von einem sozial sinnlosen Handeln. Abweichungen davon sind keine bloßen Irrtümer oder ideosynkratische Schwankungen, sondern gesellschaftlich belangvolle und individuell peinliche Fehler. Sie werden im Prinzip als unerlaubte Abweichungen von einem „Soll“ aufgefaßt und auch emotional so erlebt. Wer hier irrt, hat sich nicht nur getäuscht, sondern blamiert. Manchmal bis auf die Knochen. Abweichungen vom Soll führen daher eben nicht zur Änderung der Regel, sondern zur Korrektur des Fehlers und ggf. auch des Verfehlers. Nicht immer ziehen freilich Fehler bei der Regelanwendung spürbare Folgen nach sich. Damit Fehler überhaupt auf einen Soll-Standard bezogen werden können, müssen sie erkennbar und korrigierbar sein und auch, wennzwar nicht lückenlos, korrigiert werden. Es wird deutlich, daß soziale Regeln stets auch etwas mit der Verhängung von Sanktionen und mit der Organisation einer Überwachung und Korrektur von Abweichungen zu tun haben. Regeln, die keine sozial kontrollierte Geltung haben, verlieren ihre Eigenschaft als Regel. Schon der Begriff einer Regel ist daher untrennbar mit der sozialen Kontrolle von Abweichungen davon verbunden, wie auch immer diese soziale Kontrolle aussehen mag. Und dazu bedarf es wiederum Regeln und Institutionen und vor allem eigener Organisationen, Organisationen der sozialen Kontrolle wie die Polizei, der Rechnungshof oder der informell organisierte Klatsch in der Lindenstraße.
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Regeln und Regelmäßigkeiten Mit dem so verstandenen Regelbegriff fallen gleich ganze Klassen von nur wiederkehrenden, aber nicht im besprochenen Sinne geregelten Handlungsweisen als Kern von Institutionen oder sozialen Normen aus. Max Weber trennt deshalb auch die „Geltung“ einer Ordnung von der bloßen „Regelmäßigkeit eines Ablaufs sozialen Handelns“. Solche Regelmäßigkeiten sind für ihn „ ... in einem typisch gleichartig gemeinten Sinn beim gleichen Handelnden sich wiederholende oder (eventuell auch: zugleich) bei zahlreichen Handelnden verbreitete Abläufe von Handeln.“ 6
Bloße Regelmäßigkeiten begründen für Max Weber noch nicht die Vorstellung des Geltens einer legitimen Ordnung dem von Max Weber verwandten Ausdruck für den Begriff der Institution (vgl. dazu bereits Abschnitt 1.1 oben in diesem Band). Mit der „Geltung“ ist ja noch eine besondere Orientierung der Akteure gemeint, die bei den bloßen Regelmäßigkeiten selbst als subjektives Korrelat des Handelns fehlt. Brauch und Sitte Max Weber unterscheidet zwei Arten derartiger Regelmäßigkeiten der bloßen Wiederholung oder Verbreitung eines Tuns: den Brauch und die Sitte. Ein Brauch ist die „ ... tatsächlich bestehende Chance einer Regelmäßigkeit der Einstellung sozialen Handelns ..., wenn und soweit die Chance ihres Bestehens innerhalb eines Kreises von Menschen ledig-lich durch tatsächliche Uebung gegeben ist“.
Ein Brauch ist also nur eine regelmäßig ausgeübte Praktik in einem sozialen Zusammenhang von Akteuren. Ein Brauch wird für Max Weber zur Sitte, „ ..., wenn die tatsächliche Uebung auf langer Eingelebtheit beruht.“
Eine Sitte kann aber auch „interessebedingt“ sein. Sie beruht dann auf einer „Interessenlage“,
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Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 14; Hervorhebungen so nicht im Original; vgl. dazu auch die Erläuterungen bei Wolfgang Schluchter, Rechtssoziologie als empirische Geltungstheorie, in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechtssoziologie am Ende des 20. Jahrhunderts. Gedächtnissymposion für Edgar Michael Wenz, Tübingen 2000, S. 21ff.
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„ ..., wenn und soweit die Chance ihres empirischen Bestandes lediglich durch rein zweckrationale Orientierung des Handelns der Einzelnen an gleichartigen Erwartungen bedingt ist.“ (alle Zitate bei Weber 1972, S. 15; Hervorhebungen so nicht im Original)
Der Oberbegriff für eine bloße soziale Regelmäßigkeit ist also der Brauch. Die Sitte ist ein Spezialfall des Brauchs. Sitten kann es auf zwei Grundlagen geben: aus langer Eingelebtheit und aus bloßen Interessen. Für die „Geltung“ einer Ordnung sind Brauch oder Sitte, beruhen sie auf Eingelebtheit oder Interessenlage, also nicht ausreichend. Max Weber erläutert den Unterschied zwischen einer Regelmäßigkeit und der bindenden Orientierung an den Maximen einer sozialen Regel am Beispiel des Verhaltens von Spediteuren und „Hökern“ einerseits und einem Beamten andererseits: „Wenn Möbeltransportgesellschaften regelmäßig um die Zeit der Umzugstermine inserieren, so ist diese Regelmäßigkeit durch ‚Interessenlage‘ bedingt. Wenn ein Höker zu bestimmten Monats- oder Wochentagen eine bestimmte Kundschaft aufsucht, so ist das entweder eingelebte Sitte oder ebenfalls Produkt seiner Interessenlage (Turnus in seinem Erwerbssprengel). Wenn ein Beamter aber täglich zur festen Stunde auf dem Büro erscheint, so ist das (auch, aber:) nicht nur durch eingelebte Gewöhnung (Sitte) und (auch, aber:) nicht nur durch eigene Interessenlage bedingt, der er nach Belieben nachleben könnte oder nicht. Sondern (in der Regel: auch) durch das ‚Gelten‘ der Ordnung (Dienstreglement) als Gebot, dessen Verletzung nicht nur Nachteile brächte, sondern – normalerweise – auch von seinem ‚Pflichtgefühl‘ wertrational (wenn auch in höchst verschiedenem Maße wirksam) perhorresziert wird.“ (Ebd., S. 16; Hervorhebungen so nicht im Original)
Max Weber versäumt es in dem Beispiel nicht, auf die negativen Sanktionen und auf die emotionale Verankerung der Regel des Dienstreglements eines Beamten hinzuweisen: Nachteile bei Verletzung der Vorschriften und ein wertrationales Pflichtgefühl für die Bedeutung der Norm „an sich“.
Regeln und der Sinn des Handelns Soziale Regeln sind nicht nur dazu da, den Institutionen und Normen einen Kern zu geben, damit die Menschen zu Orientierung und Ordnung kommen. Ihre Funktion geht erheblich weiter: Ohne soziale Regeln kann es ein auch subjektiv sinnhaftes Handeln nicht geben. Auch darauf hatten wir in Abschnitt 1.2.3 oben in diesem Band über die Sinnstiftungsfunktion von Institutionen schon hingewiesen. Sinnhaftes Handeln ist ein Verhalten, das mit subjektivem Sinn verbunden ist, eines, das sich auf „gute Gründe“ beziehen läßt, die der Akteur zu haben glaubt. Was ist aber ein „guter Grund“ für ein Tun? Peter Winch erläutert den Begriff des guten Grundes am Beispiel einer Person N, die bei den letzten Wahlen deswegen für die Labour-Partei gestimmt hatte, weil sie annahm, eine Labour-Regierung würde am ehesten den wirtschaftli-
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chen Frieden erhalten, und weil das in ihrem besonderen Interesse lag (Winch 1966, S. 61). Der einfachste und deutlichste Fall für einen guten Grund, Labour zu wählen, ist dann der, „ ... daß N vor dem Wählen das Für und Wider einer Stimmabgabe für Labour diskutiert hat und ausdrücklich zu dem Ergebnis gekommen ist: ‚Ich werde Labour wählen, weil das die beste Möglichkeit ist, den wirtschaftlichen Frieden zu erhalten.‘“ (Ebd.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Peter Winch nennt diesen Fall der rationalen Reflextion des Für und Wider und der Wahl der danach subjektiv besten Alternative „ ... ein Paradigma dafür, daß jemand eine Handlung aus einem Grunde ausführt.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Aber wieso kann der Akteur das so sehen? Wie ist er in der Lage, das „Für und Wider“ abzuwägen und eine vernünftige, an guten Gründen orientierte Wahl zu treffen? Die Antwort ist nicht schwer: Weil der Akteur weiß, was eine Stimmabgabe „bedeutet“, weil er weiß, was ein Parlament ist, welche Interessen für die Labour-Partei stehen, und was geschehen würde, wenn eine andere Partei die Wahl gewinnen würde. Das aber weiß er nur, weil er mit den sozialen Institutionen seiner Lebenswelt vertraut ist, in die sein Handeln auch in der Einsamkeit der Wahlkabine eingebettet ist. Und nur vor diesem Hintergrund wird sein Handeln vernünftig, einsehbar und sinnvoll ihm selbst und allen anderen, denen er seine Gründe erläutert. Es zeigt sich „ ... daß die Analyse sinnvollen Verhaltens dem Begriff ‚Regel‘ eine zentrale Stellung einräumen muß; daß jedes sinnvolle (und darum spezifisch menschliche) Verhalten ipso facto von Regeln geleitet ist.“ (Ebd., S. 69; Hervorhebungen nicht im Original)
Es ist der gleiche Vorgang wie bei Lothar Matthäus im Beispiel aus Abschnitt 1.2.3 oben in seiner Erklärung bei Reinhold Beckmann in „ran“, warum er die Rostocker Stürmer nicht angegriffen hatte: Subjektive Vernunft, Rationalität und soziale Regelgerechtigkeit gehen Hand in Hand. Grundsätze und Lebensweisen Soziale Regeln durchziehen praktisch alle Situationen des Lebens. Nicht die privaten Ziele und die ideosynkratischen Interessen isolierter Einzelmenschen bestimmen die Regeln, sondern die Regeln definieren die Ziele und die Inte-ressen der Akteure. Ein Koch ist so schreibt Michael Oakeshott7 nicht je-
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mand, der zuerst die Vision eines Kuchens hat, sondern ein in den Regeln des Kochens versierter Mann, dessen Pläne aus dieser Versiertheit stammen. Ein Mystiker so lesen wir wieder bei Peter Winch (1966, S. 70ff.) verfolgt sein Ziel der Weltabwendung nur innerhalb bestimmter religiöser Traditionen. Und ein Wissenschaftler, der Atome spalten will, kann nur verstanden werden, wenn man die moderne Physik kennt. Das alles haben wir in Kapitel 3 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon erfahren: Die sozialen Produktionsfunktionen legen fest, was die Menschen wollen und was sie können. Erst im Rahmen einer institutionellen Ordnung sind kulturelle Ziele und institutionalisierte Mittel und dadurch die Maßstäbe der Vernunft des Handelns definierbar. Selbst ein Anarchist ist vor diesem Hintergrund nicht jemand, der keine Regeln kennen und beachten würde. Seine Regel besteht darin, keine der bestehenden Regeln zu beachten. Er macht sich einen Grundsatz daraus, sich nicht von ausdrücklichen Normen leiten zu lassen. Auch ein Anarchist und gerade wohl er kultiviert eine Lebensweise. Und das ist oft schwerer, als einfach den Regeln der Konformität zu folgen. Wenn man die Sponti-Szene kennt und die Regeln dieser Lebensweise verstanden hat, ist nichts Unbegreifliches und nichts Unerklärliches mehr in dem, was der Sponti, der Autonome, der Anarchist tut. Und nirgendwo ist der Zwang zur Konformität wohl größer als unter der Lebensweise der Non-Konformität. Reflexion Der Sinn des Handelns liegt in den guten Gründen, die man dafür hat und bei Bedarf benennen könnte. Die guten Gründe entstammen der Regel- und Situationsgerechtigkeit eines Handelns in einer bestimmten Situation. Sie bil-den eine unhintergehbare, fast schon „logische“ Logik der Situation. Nicht immer sind dem Akteur diese guten Gründe auch bewußt. Nicht immer unter-zieht er die Anwendung der Regeln einer ausdrücklichen Reflexion des Für und Wider. Manches Routinehandeln gleicht nach außen der Regelmäßigkeit eines eingelebten Brauches. Aber es gibt dennoch einen wichtigen Unterschied zwischen einer bloßen Sitte und einer Routine, deren Kern in sozialen Regeln besteht. Der Unterschied liegt nicht darin, daß die Wahl der Handlung reflektiert wird oder nicht, sondern „ ... darin, ob es im Zusammenhang mit dem, was er tut, einen Sinn ergibt, wenn man zwi-schen einer richtigen und einer falschen Weise, etwas zu tun, unterscheidet.“ (Ebd, S. 77)
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Michael Oakeshott, Rational Conduct, in: Cambridge Journal, 4, 1962.
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Ein Brauch, eine eingelebte oder interessenbedingte Sitte, ist nicht „richtig“ oder „falsch“, sondern vorhanden oder nicht, im eigenen privaten Interesse oder nicht. Eine routinemäßig und unreflektiert angewandte Regel bleibt dagegen wie die im Rahmen einer Regel bewußt und reflektiert gewählte Handlung an einem sozial geltenden Standard orientiert, kann deshalb normativ richtig oder falsch sein und ist auch mit Sanktionen aller Art bedroht und von Emotionen umgeben. Auch für die unbewußteste Routinehandlung im Rahmen einer Regel könnte der Akteur notfalls und bei einigem Nachdenken daher wieder gute Gründe angeben. Es sind die Gründe, die er sich bei den ersten reflektierten Versuchen für den Sinn seines Tuns zurechtgelegt hat. Diese guten Gründe sind inzwischen vielleicht längst vergessen. Aber es gibt sie auch für die Routine immer noch. Habits und Skripte Als Gewohnheiten, als Habits, wollen wir im Unterschied zu Brauch und Sitte Handlungen (oder ganze Bündel und Sequenzen von Handlungen) nach sozialen Regeln bezeichnen, die bei ihrer Anwendung nicht mehr ausdrücklich bedacht werden, aber gleichwohl in das nähere und weitere System der institutionellen Regeln passen und deshalb zwar vielleicht keinen ausdrücklichen subjektiven, aber stets einen von den anderen Akteuren gut verstandenen sozialen Sinn haben. Soziale Drehbücher oder Skripte sind wichtige Spezialfälle solcher Habits (vgl. dazu auch noch Kapitel 8 unten in diesem Band, sowie Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der weitaus größte Teil des Alltagshandelns läuft nach derartigen unreflektierten, aber gleichwohl höchst sinnvollen Gewohnheiten und Habits ab. Erst bei Störungen der gewohnten Abläufe beginnen die Menschen, darüber nachzudenken, was sie denn da tun. Solche Störungen sind gottlob nur selten. Denn Nachdenken und das Reflektieren guter Gründe kostet Zeit und Nerven. Und beides ist immer sehr knapp. Die Regeln der Sprache Das wohl wichtigste Beispiel eines sozial definierten und in der Anwendung kaum mehr reflektierten Regelsystems ist die Sprache. Sie muß beherrscht werden, damit überhaupt soziale Situationen erlebt und sinnvoll bewältigt werden können. Je nach Typ der Situation werden andere „Sprachregelungen“ verlangt: Dialekt zur Volkstümelei, unaufdringliche Hochsprache beim Be-
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werbungsgespräch und das Fachchinesisch dann, wenn zwei oder drei Soziologen im Namen von Talcott Parsons oder Niklas Luhmann beisammen sind. Die grammatikalischen Regeln und die semantischen Vereinbarungen der Sprache bilden den sozial geteilten und verbindlichen Hintergrund, vor dessen Einhaltung jede Anwendung der Sprache als Mittel der Verständigung und des Ausdrucks und jede Sprachvariation, jeder literarische Stil und jede sprachliche Spielerei stehen. Eine gänzlich individuelle private Sprache ist wie eine ausschließlich private Regel undenkbar. Sie hätte keinerlei sozialen Sinn. Es wäre allenfalls ein harmloser Spleen für das Führen von Selbstgesprächen mit den verschiedenen Teilpersonen, aus denen sich jemand zusammengesetzt fühlt. Arno Schmidt mit Zettels Traum und Niklas Luhmann mit seiner Systemtheorie haben diese Grenze manchmal fast schon überschritten. Regelung durch Sprache Die Sprache ist aber nicht nur ein System sozialer Regeln, sondern selbst mit den institutionellen Regeln der Gesellschaft insgesamt eng verbunden: Sie ist das mit Abstand wichtigste symbolische Medium zur Identifikation von Regeln und zur Festlegung des sozialen Sinns in einer Situation. Sprache zeigt den Akteuren ganze Komplexe von Regeln und vereinbarten Abläufen an. Sprache verstehen, so schreibt Ludwig Wittgenstein, heißt, eine Technik beherrschen die Technik des geregelten Zusammenlebens. Mit Hilfe der Sprache können sich die Akteure in der Situation vor allem ganz mühelos wechselseitig „anzeigen“, in welchem Typ von Situation sie sich gerade befinden und welche anderen, nicht-sprachlichen sozialen Regeln gerade gelten: Mit einer kurzen gestelzten Wendung können der Herr Graf seine mühsam beherrschte Empörung über den Sittenverfall in der Fakultät gerade noch unterdrücken und gleichzeitig wortlos an die Segnungen der Institution der alten Ordi- narienuniversität erinnern, in denen noch kein ungezogener Emporkömmling die Ruhe der professoralen Selbstzufriedenheit zu stören sich wagte. Man kann daher durchaus sagen, daß erst die sprachliche Benennung eine Regel wirklich zu einer sozialen Regel macht, und daß erst mit der sprachli-chen Etikettierung eine Praxis oder eine bloße Regelhaftigkeit zur Institution wird. Das liegt daran, daß Menschen Regeln immer nur über ihre „Bedeu-tung“ verstehen können: Daß der Mount Everest ein Berg und zwar der höchste der Welt ist, wird erst verständlich, wenn man weiß, was das Wort „Berg“ bedeutet. Und daß die Labour-Partei den Frieden fördert und daß des-halb mein Kreuz hier und nicht dort gemacht werden muß, macht auch erst dann Sinn, wenn ich weiß, was die Worte „Labour-Partei“ und „Frieden“ bedeuten.
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Es ist daher nicht abwegig, anzunehmen, daß im Grunde alles sozial sinnhafte, geregelte Handeln in irgendeiner Weise in sprachliche Kommunikation eingebettet ist und anders gar nicht möglich wäre. Das hat einen einfachen Grund: Die sprachliche Kommentierung, die ein fortlaufendes Handeln begleitet, sichert die Symbolik der Situation gemeinsam mit der Wiedererkennung der ablaufenden Handlungen als zur Situation und zu den Regeln gehörig fortlaufend ab. Die Akteure beobachten sich wechselseitig in ihrem Tun, reden dabei und versichern sich so in einem fortlaufenden Prozeß gegenseitig, daß alles seine Ordnung hat. Sprache, soziale Regeln und das daran orientierte Handeln der Akteure bilden die Basis der Definition der Situation als regelgeleiteten und immer wieder neu geschaffenen sozialen Prozeß einer sozialen Konstitution von Sinn und Ordnung. Sie sind die Grundlage einer jeden gesellschaftlichen Konstruktion der institutionellen Wirklichkeit (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Regelkompetenz Damit sozial und subjektiv sinnvoll gehandelt werden kann, müssen die Akteure die Regeln nicht nur kennen und beachten, sondern auch anwenden können. Daher ist die Regelkompetenz die unverzichtbare technische Grundlage des sinnhaften Handelns in Orientierung an sozialen Regeln. Die sprachliche Kompetenz ist hier wiederum besonders wichtig: Wegen ihrer Doppelfunktion als eigenes, erst noch zu beherrschendes Regelsystem und als Zeichensystem für alle anderen sinnstiftenden sozialen Regeln. Sie ist damit der wohl wichtigste Schlüssel für die Regelkompetenz der Menschen in fast allen sozialen Situationen. Sprachlernen und Regellernen, Sprachverstehen und Regelverstehen, richtiges Sprechen und sinnvolle Regelbefolgung gehen eng zusammen. Institutionelle Regeln und das regelgerechte Beherrschen von Sprache befähigen den Menschen erst zu einem sinnhaften und verständigen Handeln. Sie sind die Grundlage seiner Handlungsfähigkeit und intelligenten Subjektivität. Symbole und Interpretation Soziale Regeln sind stets mit Symbolisationen verbunden. Die sprachlichen Zeichen sind das wichtigste System von Symbolen, die die Geltung und den Inhalt sozialer Regeln anzeigen. Sie wecken Assoziationen und füllen ansonsten leere oder nicht ganz sinnhafte Situationen mit Bedeutung. Oft ist die symbolische Definition der Situation, der Hinweis eines Zeichens auf die
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Geltung einer bestimmten Regel, aber nicht eindeutig. Dann muß aus den Bruchstücken der erkennbaren Zeichen der Rest zu einem sinnvollen Ganzen zusammengesetzt werden. Es ist eine Art von Schlußverfahren, eine „Interpretation“, eine hermeneutische Leistung des Akteurs, die letztlich jedem regelgerechten Handeln mit sozialem Sinn vorausgeht. Eine solche Leistung wird unumgänglich in Fällen, die dem Lesen oder Hören etwa des folgenden Satzes ähneln: „Der Heuhaufen war wichtig, weil der Stoff riß.“
Was soll das? Was geht hier vor? Wo ist der Sinn? Vielleicht reimt sich der Hörer selbst einen Sinn des Satzes und der Situation zusammen. Meist kommt ihm der „Kontext“ zu Hilfe. Beispielsweise das Wort „Fallschirm“, das hinzugefügt wird. Nun wird durch eine kleine unscheinbare Lautfolge bloß die Geschichte sofort einsichtig: Wahrscheinlich hatte der Fallschirmspringer einen Baum gestreift, wobei der Stoff des Schirms gerissen war, der Fallschirmspringer aber Glück im Unglück! weich in einem Heuhaufen gelandet ist. Letztlich müssen die Akteure in jeder Situation die geltenden Regeln aus unvollständigen symbolischen Anzeichen selbst interpretieren, sich aus mehr oder weniger unvollständigen Hinweisen einen „sinnvollen“ Zusammenhang zurechtreimen und darauf ihr Handeln ausrichten. Kurz: Es müssen die Regeln nicht nur „gewußt“, sondern sie müssen in Situationen auch in ihrer Geltung „richtig“ identifiziert und eventuell „interpretiert“ werden (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.6 unten in diesem Band, sowie Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Diese hermeneutische Leistung geht jeder Regelbefolgung und daher: auch jedem sinnhaften Handeln, voraus, gerade auch demjenigen Handeln, das halbbewußt, automatisch, gewohnheitsmäßig erfolgt. Daß hier keine besondere Reflexion erfolgt, hat einen einfachen Grund: Es gibt keinen Anlaß, in die Interpretation mehr hineinzustecken, weil offenkundig! nichts dagegen spricht, daß alles so weitergehen kann wie bisher bei diesem Typ der Situation üblich.
Die Grammatik der Lebenswelt Soziale Regeln könnte man angesichts dieser Voraussetzung der hermeneutischen Interpretation jeder Regelbefolgung dann sogar selbst „wie“ sprachliche Sätze auffassen, die unabhängig von allem, was man sonst noch tut und wie man zu ihnen steht ja auch erst einmal „verstanden“ werden müssen auch wenn man dann noch überlegen kann, ob man der Mitteilung folgen mag. So gesehen ist es nicht unverständlich, wenn manche Soziologen glauben, daß es die wichtigste Aufgabe der Soziologie sei, die verborgene Grammatik der sozialen Regeln zu entschlüsseln.
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Und man kann sie auch verstehen, wenn sie weiter meinen, daß man dabei so vorgehen wenn sie etwa ein Gedicht von Rainer Maria Rilke hermeneutisch interpretieren und ihm einen Sinn zuschreiben. Wir wissen es wie immer besser: Ohne Zweifel ist die Entschlüsselung der Grammatik der in einer Lebenswelt geltenden sozialen Regeln ein wichtiger und unverzichtbarer Teil der soziologischen Erklärung. Aber es ist nur ein Teil. Die Hermeneutik der natürlichen Lebenswelt definiert die Logik der Situation. Eine soziologische Erklärung braucht aber mehr als das. Die Besonderheit der Sozialwissenschaft Der Hinweis auf die Grammatik der sozialen Regeln und auf die Hermeneutik der natürlichen Lebenswelten der Akteure verweist jedoch auf ein wichtiges, für die Sozialwissenschaften typisches Problem, das so keine der Naturwissenschaften hat: Das Wissen um die richtigen sozialen Regeln müßte nicht nur der Akteur, sondern auch ein Beobachter der Szene haben, um richtig „interpretieren“ und „verstehen“ und schließlich „erklären“ zu können, was dort geschieht. Ohne dieses Wissen wäre etwa das Geschehen einer Stimmabgabe ganz und gar unverständlich: Jemand wirft ein Stück Papier in einen Holzkasten. Wie interessant! Welch seltsames Gebaren! Wir sollten eine Studie machen! Und wie einfach wird die Sache für jemanden, der die Institution der demokratischen Wahl von Kindesbeinen an mitbekommen hat. Kurz: Um das Handeln eines Akteurs zu erklären, muß der beobachtende, beschreibende und erklärende Sozialwissenschaftler exakt die sozialen Regeln kennen, von denen her der Akteur, um den es geht, die guten Gründe und den Sinn seines Handelns bezieht. In den technischen Ausdrücken der Handlungserklärung bedeutet dies: In der Matrix des Wissens und im Vektor der Werte, aus denen die EU-Gewichte für die Logik der Situation und für die Selektion des Handelns berechnet werden, dürfen nur Angaben stehen, die den sozialen Regeln der Lebenswelt folgen, in die der betreffende Akteur eingebettet ist. Manchmal kennt freilich der Forscher diese Regeln schon, weil er selbst Teilnehmer der betreffenden Lebenswelt ist. Wir haben die Lebenswelt der Hochschullehrer (in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“) nicht ohne Grund zur Demonstration der Modellierung einer sozialen Situation genommen. Oft genug ist die Lebenswelt der Akteure dem Sozialwissenschaftler aber fremd. Dann muß er sich darum bemühen, die Regeln der ihm noch fremden Lebenswelt in Erfahrung zu bringen. Und wenn es nicht anders geht: durch eine Teilnahme am Leben derjenigen, deren Handeln erklärt werden soll.
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Das ist eigentlich eine ganz selbstverständliche Forderung. Die lebensweltlichen Regeln der Akteure gehören ja zu den Randbedingungen der Handlungserklärung, die für jede soziologische Erklärung nötig ist. Und das wissen wir ja seit anno Hempel-Oppenheim: Die Randbedingungen müssen in einem Erklärungsargument wie das Gesetz und das Explanandum empirisch zutreffend sein. In dieser Hinsicht unterscheidet sich ein Naturwissenschaftler von einem Sozialwissenschaftler also nicht. Wohl aber in dem eher technischen Erfordernis, sich in die Binnenwelten seiner Objekte hineinzubegeben: Kein Naturwissenschaftler müßte die „Regeln“ in Erfahrung bringen, die etwa einen Stein umtreiben, wenn er zu fallen droht. Der Stein folgt nur den kausalen Kräften des Gravitationsgesetzes. Die Regeln der Naturgesetze sind den Objekten der Natur grundsätzlich äußerlich. Ein Sozialwissenschaftler muß dagegen ganz anders als der Naturwissenschaftler in seine Erklärungen die Sichtweisen seiner „Objekte“ einbauen. Und das sind im wesentlichen die sozialen Regeln, die in der Lebenswelt dieser „Objekte“ gelten. Die Regeln der institutionellen Gesetze sind den Subjekten der Gesellschaft eben nicht äußerlich, sondern ein Teil dessen, was sie als sinnhaft handelnde „Subjekte“ ausmacht.
Doppelte Hermeneutik Diese Problematik wird, wie wir aus Abschnitt 6.5 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ wissen, auch als die doppelte Hermeneutik der Sozialwissenschaften bezeichnet: Die Sozialwissenschaftler müssen sich nicht nur wie auch die Naturwissenschaftler untereinander in der Sprache ihrer Theorien und Modelle verständigen. Sie müssen darüber hinaus anders als die Naturwissenschaftler auch ihre „Objekte“ als „Subjekte“ verstehen und deren Wissen und Werte über die bei ihnen geltenden sozialen Regeln in ihre erklärenden Theorien und Modelle einbauen, über die sie sich dann wiederum ja untereinander zu verständigen haben. Das heißt aber: In den Theorien müssen Begriffe und Zusammenhänge auftauchen, die auch den Objekten verständlich sind, über die die Theorien und Modelle etwas aussagen. Das aber heißt natürlich nicht, daß die erklärenden Theorien und Modelle, in denen die sozialen Regeln der Subjekte vorkommen, wiederum den Akteuren verständlich sein müssen. Es klingt etwas kompliziert, ist aber letztlich ganz einfach: Wenn der Sozialwissenschaftler die sozial geltenden Regeln der Akteure in einer bestimmten Lebenswelt richtig erfaßt hat, dann kann er un-
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ter Verwendung dieser Regeln! genauso verfahren wie ein Naturwissenschaftler. Er erklärt das Handeln der Akteure, indem er deren guten Gründe versteht und in die Randbedingungen seiner erklärenden (Handlungs-)Theorie einbaut. Etwa: in die EU-Theorie, die ja auch Peter Winch für die Erklärung eines Handelns mit guten Gründen vorschlägt. Aber die Einzelheiten der EUTheorie und des damit konstruierten Modells einer soziologischen Erklärung muß kein Akteur, dessen Handeln verstehend erklärt werden soll, kennen oder verstehen. Wohl aber die Sozialwissenschaftler, die sich auf Kongressen begegnen und sich über ihre Theorien und Modelle des sozialen Handelns und der gesellschaftlichen Institutionen verständig unterhalten wollen.
3.3
Erwartungen und Ansprüche
Soziale Normen sind wie Institutionen allgemein als Ansprüche verdichtete Erwartungen über die Geltung einer sozialen Regel. Ansprüche sind damit „mehr“ als bloße Erwartungen. Was aber sind Erwartungen? Was unterscheidet sie von den Ansprüchen? Und wie geht die Verdichtung einer Erwartung zu einem Anspruch vor sich?
Erwartungen Erwartungen sind zunächst nichts weiter als gedankliche Assoziationen über einen selektiven Zusammenhang zwischen Ereignissen und Sachverhalten aller Art: Bei Regen beißen die Fische besser. Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann bebt in spätestens drei Minuten die Erde mit einer Stärke von 6.3 auf der nach oben offenen Richterskala. Rheinländer sind schlechte Soldaten. Beim Halma gibt es keinen Elfmeter. Bei Rot an der Fußgängerampel geht niemand über die Straße. In einer Vorlesung wird nicht gestrickt. Beerdigungen sind eine traurige Sache. Zum Beispiel. Erwartungen können in allen Formen der Assoziation auftreten: Als gedankliche Korrelation von Ereignissen, als Stereotyp über gemeinsam auftretende Merkmale bei Personen oder Gegenständen, als logische Bedingungshypothese, als mehr oder weniger komplexe Kausaltheorie über die Wirkung eines Situationsmerkmals auf ein anderes. Erwartungen können mehr oder weniger bestimmt, sicher, riskant oder unsicher sein. Immer aber sind sie rein kognitiv: Es ist kein „Gefühl“ mit ihnen verbunden. Ein Spezialfall der rein kognitiven Erwartungen sind die subjektiven Kausalannahmen über die vermutete Wirkung des eigenen Handelns auf die Erreichung eines bestimmten Ziels. Wir
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haben den Begriff der Erwartungen in diesem Sinne bereits in Kapitel 7 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ im Zusammenhang mit der WertErwartungstheorie kennengelernt und in der Erwartungsmatrix P zusammengefaßt. Mit ihnen werden die Bewertungen U der Folgen des Handelns jeweils gewichtet. Erst durch die Bewertungen U gelangen die Emotionen und Interessen in das Kalkül. Kognitive Erwartungen bilden zusammen mit den emotionalen Bewertungen das, was das Streben der Menschen ausmacht und in den EU-Gewichten der Handlungsalternativen zum Ausdruck kommt.
Alles das gilt auch für Erwartungen über die Geltung sozialer Regeln. Bei genauerem Hinsehen gibt es hier aber zwei verschiedene kognitive Erwartungen: Erstens eine Erwartung über den Zusammenhang zwischen dem „Typ“ der Situation und der jeweils damit „angesagten“ sozialen Regel, angezeigt meist durch ein signifikantes Symbol. Und zweitens eine Erwartung über den Zusammenhang zwischen der Beachtung der Regel und dem Eintreten typischer Folgen des Handelns, wenn es der Regel folgt oder nicht. Die Folgen des regelgeleiteten Handelns können wiederum zweierlei Art sein. Erstens solche Folgen, die mit dem entsprechenden Handeln instrumentell zusammenhängen: Durch die Beachtung eines Fahrplans gelange ich pünktlich ans Ziel, weil ich den Zug nicht verpasse. Solche Folgen seien als instrumentelle Anreize bezeichnet. Wegen der Anreize können Regeln auch aus reinen „Interessen“, und damit: zweckrational, befolgt werden. Davon zu unterscheiden sind, zweitens, jene Folgen, die unmittelbar mit der Tatsache der Befolgung oder Mißachtung der Regel zusammenhängen. Solche, an die Regel unmittelbar geknüpfte Folgen sind die Sanktionen, die mit der Regel institutionell verbunden sind. Für das beobachtbare Handeln bzw. für die sichtbare Befolgung sozialer Regeln sind prinzipiell beide Formen von Folgen bedeutsam: Anreize können Sanktionen überspielen und umgekehrt (vgl. dazu auch noch Kapitel 5 unten in diesem Band). Die beiden Teilerwartungen sind in Abbildung 3.1 zusammengefaßt. Die Teilerwartung 1 verbindet die erkennbaren Objekte der Situation mit der Annahme, daß jetzt eine bestimmte Regel gilt; diese Erwartung wird als Geltungserwartung bezeichnet, die beiden Teilerwartungen 2a und 2b verweisen auf die instrumentellen Anreize einerseits und die institutionellen Sanktionen andererseits als bei Regelbefolgung oder Regelabweichung zu erwartende Folgen; sie seien als Anreizerwartung bzw. als Sanktionserwartung bezeichnet. Für die „Geltung“ einer sozialen Regel oder Norm sind dann besonders die Geltungs- und die Sanktionserwartung wichtig. Die Anreizerwartung bezieht sich dagegen „nur“ auf die Interessen der Akteure auch unabhängig von der sozialen Geltung der Regel oder Norm.
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Auch über die Geltung sozialer Regeln kann man natürlich enttäuscht werden. Die Enttäuschung kann sich auf beide Teilerwartungen der Geltung beziehen. Erstens also: Auf das eindeutige signifikante Symbol folgt überraschenderweise nicht, daß die Regel von den anderen Akteuren auch eingehalten wird (Geltungserwartung): Die Fußgänger laufen auch bei starkem Verkehr bei Rot über die Ampel als gäbe es sie nicht. In der Vorlesung fängt ein Student (männlich!) doch mit dem Stricken an. Und am offenen Grabe einer Beerdigung erzählen sich die Hinterbliebenen laut lachend einen Witz. Und sofort kommt die Frage auf: Ist das überhaupt eine richtige Ampel, Vorlesung oder Beerdigung? Zweitens dann: Die Regel gilt zwar offenkundig, aber die erwarteten Folgen bleiben aus (Sanktionserwartung): Ein vorbeikommender Polizist ermahnt den Fußgänger, der gerade eine rote Ampel überquert hat, nicht einmal. Der ehemals 68-er-Dozent tut so, als ginge ihn das Stricken nichts an. Und nach kurzem Zögern lacht die ganze Trauergemeinde auch über den Witz, so daß der Pfarrer fast ins offene Grab fällt.
Aber was geschieht nun? Mindestens wohl: Verwunderung. Aber auch: Empörung und Entsetzen. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Wenn die Erwartungen indessen „nur“ Erwartungen sind und sonst nichts! , dann geschieht nicht viel. Erwartungen können geradezu durch diese Art der Reaktion auf ihre Enttäuschung hin definiert werden: Eine Erwartung wird nach ihrer Enttäuschung mehr oder weniger rasch und ohne viel Aufheben geändert. Man hat sich eben geirrt. Also muß man die Erwartung ändern. Man muß und will lernen. Und das geschieht auch mehr oder weniger flugs. Für die nächste Gelegenheit steht jetzt eben die neue, der neuen Erfahrung entsprechende, Erwartung bereit: Man kann offenbar ungestraft rote Ampeln ignorieren, in Vorlesungen stricken oder bei Beerdigungen lustig sein. Empört darüber, daß die Welt augenscheinlich nicht so ist, wie man das bisher gedacht hatte, ist bei Erwartungen niemand. Bei Ansprüchen ist das typischerweise anders.
Erwartungserwartungen Erwartungen können selbst zum Gegenstand von Erwartungen werden. Sie werden dabei zu einem „Modell“ oder „Typ“ des Handelns stilisiert, auf welche Weise erwartet wird. Beispielsweise können Ereignisse in der Form der Zweifelsfreiheit oder der Vorsicht, der optimistischen Hoffnung oder des verzagten Zögerns, der Zurechnung als passives Erleben oder als Folge eigenen Handelns erwartet werden. Solche Modelle der Art und des Stils von Erwartungen werden auch als Erwartungserwartungen bezeichnet. Einfache Erwartungen werden bei Enttäuschung leicht und ohne Aufsehen geändert. Bei einer Erwartungserwartung ist das anders: Jede lernende Änderung ist in den öffentlichen, in den sozialen Bereich verlagert. Es steht jetzt
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nicht mehr im Belieben des einzelnen Akteurs, flugs bei einer Enttäuschung zu „lernen“, daß etwas schief gegangen ist. Jetzt muß man sich auch vergewissern, ob auch andere nicht mehr erwarten, daß die Erwartung richtig und der Stil des Erwartens gerechtfertigt ist. Und erst, wenn auch andere enttäuscht werden und mit der Änderung ihrer Erwartungserwartung beginnen, kann das Modell der in bestimmter Weise erwarteten Erwartung geändert werden. Das geht aber nur im Austausch gegen eine neue Erwartungserwartung. Das Lernen ist nun schon eine Art von Konversion oder Verfassungsänderung: Ein bestimmtes Modell der Stilisierung des Erwartens wird gegen ein anderes, dazu nicht kompatibles, aber ebenfalls bestimmtes Modell ausgetauscht. Und das muß dann obendrein bei allen Beteiligten erfolgen. Alle sozialen Regeln sind allein wegen ihres zwingend sozialen Charakters immer auch mit solchen Erwartungserwartungen verbunden. Manchmal enthalten sie Erwartungen für den Fall, daß sie enttäuscht werden. Für „rein“ kognitive Erwartungen wird dann sogar erwartet, daß sie geändert werden. Wer einfache Erwartungen nicht rasch ändert, stößt auf Verwunderung, ebenso wie derjenige, der einen einmal geäußerten Anspruch beim ersten Zweifel aufgibt.
Vertrauen Eine besonders wichtige Form einer Erwartungserwartung ist das sog. Vertrauen.8 Vertrauen ist eine generalisierte Erwartung, daß eine Vorleistung nicht ausgenutzt wird. Eine Enttäuschung des Vertrauens wird anders als bei der ganz einfachen Erwartung schon in der Erwartung nicht ignoriert, sondern im Stillen vorausgesehen, in Rechnung gestellt und intern verarbeitet. Wer vertraut, weiß, daß er ein Risiko eingeht (Luhmann 1973, S. 23f., 87f.). Weil die Enttäuschung im Erwartungsmodell des Vertrauens gewissermaßen erwartet wird, schlägt ein einmal enttäuschtes Vertrauen auch sofort in Mißtrauen um: Wer einmal ein Vertrauen bricht, dem vertraut man hinfort nicht mehr. Dabei wird nicht einfach nur eine enttäuschte Erwartung korrigiert, sondern eine neue Erwartungserwartung aufgebaut: Mißtrauen als neues
8
Vgl. dazu Niklas Luhmann, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, 2. Aufl., Stuttgart 1973; James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990a, Kapitel 5: Relations of Trust, S. 91f., 96ff; Tanja Ripperger, Ökonomik des Vertrauens. Analyse eines Organisationsprinzips, Tübingen 1998. Vgl. auch schon Kapitel 2 in Band 3, „Soziales Handeln“, und Kapitel 7 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ zum Problem der Plazierung von Vertrauen als „Rahmung“ einer (strategischen) Situation.
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Modell der Erwartung für die betreffende Situation oder Person. Nun wird erwartet, daß das Vertrauen nicht gerechtfertigt ist. Solche Modelle des Erwartens Erwartungserwartungen bilden schon Formen einer „Institution“: Es sind Regeln für vereinfachende Zuschreibungen, die niemals ganz gerechtfertigt sind, aber jeweils als „Soll“ erwartet werden. Als präskriptiv wirkende Vereinfachung einer komplexen Situation erfüllen sie ihren Zweck: Sie halten den Akteur unter verschiedenen Graden der Unsicherheit handlungsfähig und strukturieren so auch die sozialen Interaktionen und Transaktionen.
Ansprüche Normalerweise ist nicht anzunehmen, daß Fußgänger oder Polizisten an der Ampel, die Hörer und Dozenten einer durch Stricken gestörten Vorlesung oder die Teilnehmer an einer Trauerfeier, bei der Witze gerissen werden, noch dazu von den Angehörigen des Toten, die Sache rasch abtun und bloß „lernen“, daß alles offenbar ganz anders ist als erwartet. Bei Verletzungen sozialer Regeln sind die Menschen nicht bloß einfach enttäuscht, sondern verstimmt, empört, verbittert, wütend oder beschämt je nach dem, wie wichtig ihnen die Einhaltung der Regel war und ob sie die Abweichung bei anderen beobachtet oder selbst begangen haben. Normen und Institutionen schwimmen eben wie Heinrich Popitz (1980, S. 26) so hübsch sagt nicht in einem Meer der Indifferenz. Genau das ist es, was dann die Ansprüche im Unterschied zu den einfachen Erwartungen ausmacht: Sie sind mit Wertungen, mit Wünschen, mit Gefühlen versehen. Heinrich Popitz nennt solche mit intensiven Interessen und Maßstäben des Wünschbaren versehenen Erwartungen auch desiderative Erwartungen. Für sie gilt: „Das Gewünschte wird gleichsam beschwert durch das Gewicht des sozialen Sollens.“ (Ebd., S. 7)
Ansprüche bzw. desiderative Erwartungen sind daher: „ ... mehr als ein bloßes Wahrscheinlichkeitskalkül. Wir wollen, was wir erwarten, oder wir befürchten es. ... Sie sind verbunden mit Wertungen, Wünschen, Forderungen.“ (Ebd., S. 8; Hervorhebung nicht im Original)
Erwartungen sind also bloß kognitiv und „kalt“, Ansprüche dagegen auch emotional und „heiß“. Erwartungen beziehen sich auf eine kalkulierende Praktik, die bei Enttäuschungen leicht geändert wird, Ansprüche auf eine mo-
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ralische Ethik, die enttäuschungsfest und lernunwillig und in gewissen Grenzen auch: lernunfähig ist. Erwartungen sind am „Sein“ und an der „Faktizität“, Ansprüche am „Sollen“ und an der „Geltung“ orientiert. Der mit einem Anspruch Erwartende setzt sein Erwarten auch bei „kontrafaktischer“ Enttäuschung unbeirrt fort, der „nur“ eine Erwartung Erwartende ändert die Erwartung. Er ist im Enttäuschungsfalle nicht blamiert und kann ohne weitere Angabe von Gründen sein Handeln auf der Basis der „beanspruchten“ Regelbefolgung fortsetzen. Mehr noch: Er muß es fortsetzen. Man erwartet es von ihm.
Von der Praktik zur Ethik Wie aber geht das vor sich, daß sich eine kalte Erwartung in einen heißen Anspruch verdichtet, daß eine eher bloß technische Praktik zur moralischen Ethik mutiert, daß Lernwilligkeit in Änderungsresistenz umschlägt (vgl. dazu auch noch Abschnitt 10.4 unten in diesem Band)? Drei Beispiele wollen wir uns für diesen Vorgang ansehen (vgl. dazu auch schon Abschnitt 5.4 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wir werden feststellen, daß nicht von vornherein feststeht, was als Erwartung und was als Anspruch zu gelten hat. Die Akteure können in gewissen Spielräumen selbst darüber „entscheiden“, wie sie die Situation sehen möchten: Als Erwartung oder als Anspruch. Dabei spielen stets auch, wenngleich: nicht nur, die Folgen der Beibehaltung oder der Aufgabe des Anspruches eine Rolle. Und es hängt auch sehr vom sozialen Umfeld, vor allem von der sozialen Einbettung und den Nahkontakten zu signifikanten Bezugspersonen, ab, ob eine Erwartung als Anspruch auch gegen allen empirischen Augenschein beibehalten wird oder nicht.
Das erste Beispiel: Der Stellungskrieg im Ersten Weltkrieg Robert Axelrod beschreibt in seinem Buch „Die Evolution der Kooperation“ eine interessante historische Begebenheit aus dem Ersten Weltkrieg:9 Selbst unter den Bedingungen des heftigsten Konfliktes um Leben und Tod bildeten sich ungeplant, wenngleich ganz allmählich, Systeme wechselseitiger Koope9
Robert Axelrod, Die Evolution der Kooperation, München 1987, insbesondere Teil I bis III; vgl. dazu auch schon Kapitel 5 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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ration heraus. Hintergrund und Ausgangspunkt war die mehr oder weniger zufällige Entstehung von Regelmäßigkeiten: Bei einer längeren Phase des Stellungskrieges schoß die fremde Artillerie warum auch immer bald stets zu einer regelmäßigen Tageszeit und auf ein schließlich gut vorhersagbares Terrain. Dies half etwa den Essensträgern der eigenen Truppen sehr, die vorderen Linien zu erreichen. Und um das nicht zu stören, begann man, auf die eigene Artillerie einzuwirken, sich auch an gewisse Zeiten und Orte zu halten. Das war aber meist nicht nötig, weil die selbst schon mit der Etablierung einiger Regelmäßigkeiten begonnen hatte: Schießen ist eine schwere Arbeit und kann nicht immer ganz „spontan“ und neu organisiert werden. Und die Folge: Es entstand eine stillschweigend eingehaltene Vereinbarung, die nur über das wechselseitige Schieß-Verhalten indirekt und durch das mit der Zeit offensichtlich regelgeleitete Handeln selbst kommuniziert wurde. Jeder in diesem Sinne regelgerechte Schuß war ein signifikantes Symbol dafür, daß das schweigende Abkommen weiter galt. Und jede Abweichung hätte das Ende der stillen Übereinkunft bedeutet. Niemand hätte freilich zu Beginn etwas Besonderes dabei gefunden, wenn das Abkommen durchbrochen würde: Daß man im Krieg aufeinander schießt, kann ja erwartet werden. Und über das stille Abkommen der Kanoniere wurde einstweilen ja nur eine „Erwartung“ gebildet, deren Enttäuschung zwar bedauerlich, aber sonst nicht weiter zu beanstanden wäre. Diese neutrale, rein „kognitive“ Einstellung ändert sich jedoch wenigstens für die „betroffenen“ Soldaten in den vorderen Linien nach einiger Zeit eines stabiler gewordenen Stellungskrieges. Die stumme Vereinbarung wurde nach und nach und ganz unmerklich in das gesamte System des Alltags im Schützengraben integriert. Und die Folge: Nun bedeutete die Enttäuschung der Erwartung über das stille Abkommen viel mehr als nur das Ende einer willkommenen Regelmäßigkeit. Robert Axelrod verdeutlicht die nach einiger Zeit im Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges an vielen Stellen der Front im Westen entstandene Situation mit einer kleinen Episode. Ein britischer Offizier erinnert sich an einen Vorfall mit einer gegenüberliegenden sächsischen Einheit: „Ich trank gerade Tee bei der Kompanie A, als wir lautes Geschrei hörten. Wir gingen nach draußen, um zu sehen, was vorgefallen war. Unsere Männer und die Deutschen standen auf der Brustwehr. Plötzlich schlug eine Salve ein, die jedoch keinen Schaden anrichtete. Beide Seiten gingen natürlich in Deckung und unsere Leute fluchten über die Deutschen. Auf einmal kletterte ein mutiger Deutscher auf seine Brustwehr und rief ‚Wir bedauern das sehr.
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Hoffentlich wurde niemand verletzt. Es war nicht unsere Schuld. Es war die verfluchte preußische Artillerie‘.“10
Aus einer Regelmäßigkeit war eine Regel, aus einem Sein ein Sollen, aus einer Kognition eine Emotion, aus Faktizität Geltung, aus einem änderbaren Tun eine unbedingte Moral, aus einer Praktik eine Ethik geworden. Kurz: Aus einer Erwartung ist ein Anspruch erwachsen. Begleitet und abgesichert wurde die einmal entstandene Ethik des „Leben und leben lassen“ im übrigen von einer Vielzahl von Ritualen. Die Rituale bestanden u.a. im nachlässigen Gebrauch kleiner Waffen und im bewußt unschädlichen Artilleriebeschuß. Axelrod nennt eine britische Quelle, die berichtet, daß die Deutschen „ ... ihre offensiven Operationen mit einer taktvollen Mischung aus gleichbleibendem und schlecht gezieltem Beschuß (führten), der einerseits die Preußen zufrieden stellt und andererseits Thomas Atkins keine ernsthaften Schwierigkeiten macht.“11
Dadurch wurde gezielt das Vertrauen in die Geltung der Ethik bekräftigt, gleichzeitig aber auch ein anderes Problem einigermaßen gelöst: den nichts ahnenden und angriffslüsternen Preußen im Hinterland Kampfeswillen zu demonstrieren. Durch zwar regelmäßigen, aber sehr gut gezielten Beschuß, etwa durch einzelne Scharfschützen auf exakt immer die gleiche Stelle, wurde außerdem wirksam signalisiert, daß jede einseitige Verletzung sofort vergolten werden würde. Die Rituale trugen so auf eine vielfältige Weise dazu bei, das entstandene moralische System des „Leben und leben lassen“ zu bestärken und gegen einzelne Mißgriffe und Enttäuschungen abzusichern. Das System verfiel im übrigen rasch, als die Linien wieder in Bewegung gerieten und die Regelmäßigkeiten, die die Regeln des Systems symbolisch und kognitiv unterstützten, nicht mehr einzuhalten waren. Für diese Änderung sorgten, das sei noch hinzugefügt, die Generale im Hinterland, nicht die Soldaten in den vorderen Linien.
10
11
Axelrod 1987, S. 77; dort zitiert nach: Owen Rutter (Hrsg.), The History of the Seventh (Service) Battalion, the Royal Sussex Regiment 1914-1919, London 1934, S. 29. Axelrod 1987, S. 78; dort zitiert nach Ian Hay, The First Hundred Thousand, Boston und New York 1916, S. 206.
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Das zweite Beispiel: Der Bundeskanzler raucht wieder. Ansprüche sind enttäuschungsfest. An ihnen wird festgehalten, wenn sich die Dinge anders verhalten. Die Verantwortung für den Fehler hat nicht der Akteur, sondern die „Wirklichkeit“, die nicht so ist wie sie sein soll. Die Reaktion auf das „abweichende Verhalten“ ist nicht die Aufgabe der Regel als Richtschnur des Handelns, sondern die oft stark emotionalisierte moralische Empörung über denjenigen, der die Regel verletzt. In diesem Sinne beruhen soziale Regeln stets auf Ansprüchen. Sie sind keine bloßen kognitiven Erwartungen, sondern enthalten emotionale, moralische und normative Elemente. Nicht immer ist die Grenze zwischen Erwartung und Anspruch aber deutlich gezogen. Meist bleibt ein weiter Raum für die Interpretation der Situation. „Anspruch“ und „Erwartung“ sind verschiedene Arten, eine Situation zu interpretieren. Sie sind verschiedene Modelle oder Typen der Definition der Situation, über die der Akteur letztlich immer selbst zu entscheiden hat. Kurz: Ob man aus einer Abweichung kühl etwas lernen oder sich enttäuschungsfest und leidenschaftlich empören möchte, ist selbst eine Entscheidung, die der Akteur trifft. Niklas Luhmann hat in einer hübschen Passage seines Buches „Soziale Systeme“ beschrieben, wie flexibel Akteure und er selbst? mit der Entscheidung über das Modell „Anspruch“ versus „Erwartung“ umgehen können, wenn eine Erwartung schief geht. Zunächst die Frage: „Die Orientierung des Erwartens am Enttäuschungsfall bedeutet Orientierung an einer Differenz. Die Differenz geht vom Enttäuschungsfalle aus, sie besteht also nicht in der Frage, ob die Erwartung enttäuscht wird oder nicht. Das Unsichere, die Enttäuschung, wird vielmehr so behandelt, als ob es sicher wäre, und die Frage ist dann: ob man in diesem Falle die Erwartung aufgeben oder ändern würde oder nicht. Lernen oder Nichtlernen, das ist die Frage.“12
Genau das ist hier die Frage: Soll sich der Akteur angesichts einer zweifelsfreien Enttäuschung dafür entscheiden, zu lernen oder eben nicht zu lernen? Zunächst die Entscheidung zur „Erwartung“: „Lernbereite Erwartungen werden als Kognitionen stilisiert. Man ist bereit, sie zu ändern, wenn die Realität andere, unerwartete Seiten zeigt. Man hatte gedacht, der Freund sei zu Hause, aber er nimmt das Telephon nicht ab: Also ist er nicht zu Hause. Man muß davon ausgehen und für diese Sachlage das nächstsinnvolle Verhalten suchen.“ (Ebd., Hervorhebungen so nicht im Original)
12
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, S. 437; Hervorhebung im Original.
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Luhmann sagt, daß „lernbereite“ Erwartungen als Kognitionen stilisiert werden. Also: Es ginge auch anders. Nämlich: „Dagegen werden lernunwillige Erwartungen als Normen stilisiert. Sie werden auch im Enttäuschungsfalle kontrafaktisch festgehalten. Man erfährt später, daß der Freund doch zu Hause war, aber sich nicht stören lassen wollte. Oder: Er hatte zugesagt, zu Hause zu sein und auf den Anruf zu warten. Dann sieht man keinen Anlaß, seine Erwartungen zu revidieren, weil man auf Telephonabnehmebereitschaft und erst recht auf Zusagen nicht verzichten möchte. Man fühlt sich im Recht und läßt das den Freund spüren. Er wird nach einer Entschuldigung suchen, die die Erwartung reetabliert.“ (Ebd.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Niklas Luhmann stellt den Fall ganz bewußt als eine nicht von vorneherein festliegende Entscheidung dar, bei der die Akteure alle Gesichtspunkte zusammentragen und abwägen, was auf dem Spiele stünde, wenn gelernt würde, wo ein Anspruch besser gewesen wäre, oder wenn an der Erwartung festgehalten würde, wenn eine Änderung günstiger wäre: „Das Beispiel ist bewußt so gewählt, daß kognitives und normatives Erwarten dicht beieinander liegen, ja ineinander übergehen. Man kommt nicht umhin, die Fakten zur Kenntnis zu nehmen, man läßt das Telephon nicht endlos weiterklingeln. Und im Moment erlebt man auch Spuren eines Widerstandes gegen das Durchkreuzen der Erwartung: Wie ärgerlich! Man hatte etwas Wichtiges mitzuteilen und muß jetzt nach anderen Wegen suchen, diese Absicht zu verwirklichen. Das komplette Auseinanderziehen von kognitiven und normativen Erwartungen, das Etablieren der Differenz ist deshalb auf der Ebene des Erwartens kaum möglich – nicht einmal bei einer so unwahrscheinlichen Erwartung, jemanden sprechen zu können, den man gar nicht sieht.“ (Ebd., S. 437f.)
Meist kommen die Akteure erst gar nicht in die Verlegenheit, ihre „Erwartungen“ als lernbereit oder als lernunwillig stilisieren zu müssen, weil im üblichen Alltag so viel an Enttäuschung guter wie schlechter Art nicht passiert. Die Entscheidung über „Erwartung“ und „Anspruch“ wird erst nötig, wenn eine Enttäuschung eintritt. Man schlägt die Zeitung auf und liest eine unerwartete Meldung: „Man hatte unbedacht in die Situation hineingelebt. Die Enttäuschung passiert. Der Bundeskanzler13 raucht wieder. Jetzt muß man sich klar darüber werden, ob man das Gegenteil kognitiv oder normativ erwartet haben würde.“ (Ebd.)
Und warum ist diese Entscheidung nötig. Ganz einfach: Sie dient der Zurückführung von Überraschungen in die normalen Abläufe des Alltags und zwar auf eine, aus der Sicht des Akteurs wenigstens, möglichst sinnvolle Weise: „Die Enttäuschung ist ein Ereignis ... , das Momente der Überraschung mit sich führt und dadurch Ereignis ist, das aber eben deshalb wieder in Normalstrukturen der Erwartbarkeit zurückgebettet werden muß.“ (Ebd.) 13
Gemeint ist Helmut Schmidt. Der raucht immer noch.
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Kurz: Es hängt von den weiteren Folgen ab, ob es sinnvoller ist, eine Enttäuschung im Modell der lernbereiten Erwartung oder des lernunwilligen Anspruchs zu behandeln. Und wenn es ganz anders etwa als im Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges nicht weiter wichtig ist, ob man die Abweichung des Bundeskanzlers als normativen Anspruch empörend finden oder nur als enttäuschte kognitive Erwartung hinnehmen soll, dann wird der Anspruch auch flugs wieder zur Erwartung heruntergekühlt.
Das dritte Beispiel: When Prophecy Fails Die Entscheidung über das Modell der Behandlung von Enttäuschungen gilt wie in dem von Niklas Luhmann geschilderten Beispiel zuerst einmal für einzelne Akteure. Der ganze Vorgang kann aber auch zu einem interaktiven Prozeß zusammengeschlossen sein, in dem sich aus kleineren Anfängen im Kollektiv eine gemeinsam erzeugte, extrem starke Definition der Situation derart ergibt, daß eine Enttäuschung nicht mehr als bloße fehlgeschlagene Erwartung, sondern als jetzt erst recht durchzuhaltender Anspruch anzusehen wäre. Ein Beispiel für diesen Prozeß der kollektiven Definition eines Anspruchs schildern die Sozialpsychologen Leon Festinger, Henry W. Rieken und Stanley Schachter in einer Studie, die nicht zu Unrecht zu den Klassikern der Sozialpsychologie zählt. Sie hat den alles sagenden Titel „When Prophecy Fails“.14 Festinger, Rieken und Schachter berichten von einer Sekte den Seekers in zwei amerikanischen Städten: Lake City und Collegeville. Die Seekers hatten für einen 21. Dezember eine außerirdische Invasion und die Zerstörung der Städte vorhergesagt. Der 21. Dezember kam aber nichts geschah. Was machten nun aber die Anhänger der Sekte? Zwei Arten von Reaktionen gab es nach dem ersten großen Schock. Die eine Reaktion war die Aufgabe der zuvor gesuchten Absonderung von der Welt, die Preisgabe aller Geheimnistuerei, die Flucht in die Öffentlichkeit mit dem Ziel, „dennoch“ potentielle Anhänger zu finden oder gerade jetzt die Ungläubigen zu überzeugen und vor allem die Beibehaltung der Prophezeihung:
14
Leon Festinger, Henry W. Rieken und Stanley Schachter, When Prophecy Fails. A Social and Psychological Study of a Modern Group that Predicted the Destruction of the World, New York, Evanston und London 1956.
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„After December 21, this situation (die Geheimnistuerei der Sekte; HE) completely reversed itself as the group exposed its innermost secrets to the world, in effect saying, ‚See these wonderful things that have been given to us. Do you not wish to learn more?‘“ (Ebd., S. 212)
Besonders eine gewisse Mrs. Keech tat sich dabei sehr hervor: Sie machte jetzt immer neue Vorhersagen und sah in den vielen Besuchern und Presseleuten in ihrem Hause zunehmend geheime Gesandte aus dem All, die von ihr als Vorboten des immer noch bevorstehenden Weltuntergangs angesehen wurden. Das geschah in Lake City. In Collegeville fand die andere Art der Reaktion statt: Die enttäuschte Erwartung wurde von den einzelnen Anhängern der Sekte klammheimlich aufgegeben und die Treffen der Sektenmitglieder bald nach dem Fehlschlag der Prophezeihung ganz eingestellt. Die ehemaligen Anhänger der Sekte wollten nicht gerne an den Vorfall erinnert werden: „In the following months our observers occasionally ran into former members of the Seekers. They were usually greeted warmly but their attempts to talk about December 21 or the ‚old days‘ were usually unsuccessful. Dr. Armstrong’s former disciples did not wish to talk about the whole affair and seemed to want to put all of it behind them.“ (Ebd., S. 226)
Die so vollkommen unterschiedliche Reaktionen in den beiden Städten ist leicht erklärt: In Collegeville traf der Fehlschlag der Prophezeihung die Mitglieder in sozialer Isolation von ihresgleichen: „By isolation we mean simply the physical absence of any fellow believers. With the exception of one pair, each of the Seekers faced the morning of December 21 and the following days at best in the company of people who voiced neither agreement nor disagreement; at worst with people who were openly opposed to the views of the Seekers.“ (Ebd., S. 228)
Das war in Lake City ganz anders: „In Lake City, on the other hand, most of the members were in the constant presence of fellow believers during the period following disconfirmation.“ (Ebd., S. 229)
Also: Bei Anwesenheit ähnlich Gesinnter wird die fehlgeschlagene Erwartung zu einem Anspruch hochstilisiert, wobei sich offenbar eine Art von Wettlauf wechselseitiger Bestärkung und Bestätigung in der Richtigkeit dieser Sicht entwickelt. Die Studie von Festinger, Rieken und Schachter war der Ausgangspunkt einer wichtigen sozialpsychologischen Theorie über die Dynamik von belief systems: die Theorie der kognitiven Dissonanz. Sie beruht auf der Hypothese, daß Menschen zu einer Harmonisierung ihrer Wissens- und Bewertungs-Systeme neigen. Die Theorie geht vor allem auf den Erstautor der Studie, Leon Festinger, und auf Fritz Heider zurück.15 Sie besagt, daß zwischen den einzelnen 15
Leon Festinger, A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford und California 1957; Fritz Heider, The Psychology of Interpersonal Relations, New York und London 1958. Zu Einzelheiten siehe: Martin Irle, Lehrbuch der Sozialpsychologie, Göttingen, Toronto und Zü-
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Kognitionen eines Erwartungssystems bestimmte Beziehungen bestehen, daß bei Eintreffen einer damit nicht vereinbaren – dissonanten – Information das System der Kognitionen in ein Ungleichgewicht kommt und daß der Akteur dann zu einer Beseitigung der Dissonanz tendiert. Beispielsweise: Ein starker Raucher, der wirklich gerne raucht, erfährt, daß Rauchen Lungenkrebs verursacht. Was kann er tun? Es gibt drei Möglichkeiten: die Umwertung der Präferenz für das Rauchen, die Abwertung der Gefahr der Gesundheitsschädigung oder die Abwertung der Präferenz für ein langes – aber für ihn sehr freudloses – Leben. Was der Akteur tut, hängt davon ab, welche der verschiedenen Varianten am leichtesten durchführbar und insgesamt am zuträglichsten ist. Kompliziert wird die Sache dann, wenn die betreffende Region des kognitiven Systems – Rauchen, gutes Leben, Lungenkrebs – mit anderen Regionen in Verbindung steht und wenn die Umwertung, die das lokale Problem löst, an anderer Stelle heftige, neue Schwierigkeiten schafft. Zum Beispiel: Der Raucher beschließt, sein Leben kurz, aber mit intensivem Genuß zu verbringen – aber die wirklich sehr geliebte Ehefrau protestiert dagegen, weil sie um die Altersrente fürchtet. Und erneut geht das Problem der Bewertung der Folgen einer dissonanzvermindernden Änderung los. Kurz: Auch der Umgang mit kognitiven Dissonanzen ist ein Problem, das über verschiedene Alternativen des „inneren Tuns“ gelöst werden kann. Und welche Alternative gewählt wird, liegt auch auf der Hand: diejenige, die in der gegebenen Situation die höchste Nutzenerwartung mit sich bringt. Was denn sonst?
Das wichtigste Problem bei der Auflösung der Dissonanz über die fehlgeschlagene Prophezeihung ist, für den Fehlschlag eine „rationale“ Erklärung, eine Rationalisierung also, zu finden. Beispielsweise: Daß gerade durch die intensive Vorbereitung auf das Ereignis die Gruppe so viel an Gnade und Erleuchtung auf sich versammelt habe, daß das Unglück gerade noch einmal vorübergezogen sei. Und alle, auch die absurdesten Hinweise werden nun gierig gesucht und benutzt, um die Rationalisierung zu unterstützen. Von der bereits erwähnten Mrs. Keech berichten Leon Festinger und seine Koautoren: „As the day wore on, Mrs. Keech began to make more and more of the importance of some recent new items. The morning newspapers contained an article about an earthquake in Nevada that had occurred about five days earlier, pointing out that if the quake had happened in a populated area, the destruction would have been enormous. Mrs. Keech showed the story excitedly to the members of the group, emphasizing the fact that, indeed, cataclysms were happening; though the Lake City area had been spared because of the light shed by this little group, upheavals were taking place elsewhere. Here, she declared, was evidence for the validity of the prediction.“ (Ebd., S. 180; Hervorhebungen im Original)
Die Hilfskonstruktion zur Rettung der Prophezeihung hat ein wichtiges individuelles Ziel: Man will das Gesicht wahren und die mit der Vorbereitung auf das Ereignis verbrachte Zeit nicht nutzlos vertan haben und möchte auch nicht die anderen, mit der Prophezeihung verbundenen Glaubensvorstellungen preisgeben. Kurz: Die Leugnung der Realität ist eine Art der Nutzenmaximierung, wenn die Anerkennung der Wirklichkeit zu teuer kommt. Bei sozialer Isolation brechen diese Konstruktionen zur Rettung der Prophezeihung freirich 1975, S. 310ff; Jürgen Beckmann, Kognitive Dissonanz. Eine handlungstheoretische Perspektive, Berlin u.a. 1984, Kapitel 1 insbesondere.
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lich bald zusammen. Dann ist es besser, rasch ins Leben zurückzukehren, auch wenn dies einiges an Überwindung und Ansehen kostet. Bei Anwesenheit von Personen, denen an der Wahrheit der Fiktion ebenfalls viel liegt, ist das anders: Jeder klammert sich an den kleinsten Hinweis und indem er das tut, wird jeweils den anderen angezeigt, daß ja doch etwas daran sein muß. Und die Folge: „The Lake City people, who had social support, were able to accept the rationalization, thus reducing dissonance somewhat, and they regained confidence in their original beliefs. The presence of supporting co-believers would seem to be an indispensable requirement for recovery from such extreme disconfirmation.“ (Ebd., 229)
Die wechselseitige Einrede der „eigentlichen“ Richtigkeit der Erwartung vermindert den nach dem Fehlschlag ohne Zweifel bei allen Sektenmitgliedern schmerzlich empfundenen inneren Widerspruch zwischen der offenkundigen Wirklichkeit und der als wichtiges Ereignis herausgestellten Prophezeihung. Verstärkt wird der Prozeß der kollektiven Definition der Fiktion durch die strategische Konstellation: Jeder im Kollektiv muß fürchten, daß er vielleicht der einzige ist, der sich irrt. Jeder scheut wie bei des Kaisers neuen Kleidern vor der Blamage zurück, derjenige zu sein, der nicht die richtige Sicht der Dinge hat und einen Verrat an der gemeinsamen Sache zu begehen im Begriffe ist. Kurz: Die Anerkennung der Wirklichkeit in der Öffentlichkeit der Mitgläubigen ist ein Gefangenendilemma, aus dem die Seekers in Lake City nicht heraus finden. Die enttäuschte Erwartung vom Weltuntergang ist so über einen kollektiven Prozeß der Orientierung und der Definition eines Kristallisationskerns für die soziale Wertschätzung – die Unterstützung der Hypothese – in einen moralischen Anspruch umgewandelt worden, jetzt erst recht daran zu glauben. Und wer das nicht tut, verstößt sich selbst aus der Gemeinschaft. Manche andere kollektive Hysterie – Hexenwahn, Fremdenhaß, Lynchorgien, die Suche nach sexueller Gewalt bei jedem Jugendpfleger, die „Fabrikation von Erkenntnis“ in wissenschaftlichen Labors, wie etwa nach der „Entdeckung“ der „kalten“ Kernfusion, – sind auf diese Weise schon entstanden: Die kollektive Umwandlung von ganz offenkundig falschen Erwartungen in um so massivere Ansprüche, daß der Schein nur trüge, durch die wechselseitige Bestärkung in einem rasch ablaufenden Prozeß dichter Interaktion. Auf diese Weise haben – nicht zuletzt – viele hierzulande noch Ende 1944 kollektiv an den „Endsieg“ geglaubt, obwohl alles ganz zweifelsfrei bereits in Trümmer fiel (vgl. auch dazu noch ausführlich Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
So war es in Lake City. In Collegeville waren die sozialen Umstände der gesellschaftlichen Konstruktion des Weltuntergangs ganz anders. Hier waren die Erwartungen nicht so stark in ein ganzes System anderer Vorstellungen und vor allem der sozialen Kontakte und Beziehungen integriert wie in Lake City (vgl. dazu auch Kapitel 7 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). So konnte sich ein jeder ganz still und ein-
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sam gedanklich aus dem Staube machen und den ganzen peinlichen Vorgang möglichst bald vergessen ohne viel Aufhebens und ohne größere Konsequenzen.
Die Entscheidung zur Unbedingtheit Die Unbedingtheit eines Anspruchs ist also offenbar nicht festgelegt, sondern von gewissen sozialen Bedingungen in der Situation abhängig. Es scheint sich tatsächlich um eine Art von innerer „Entscheidung“ zu handeln, die aufgrund gewisser Situationsumstände jeweils anders ausfällt: eine innere Entscheidung über den Typ einer Erwartungserwartung.
Noch einmal: Die drei Beispiele Das wird am deutlichsten in dem Beispiel von Niklas Luhmann über den wieder rauchenden Bundeskanzler Helmut Schmidt. Hier liegen kognitives und normatives Erwarten in der Tat ganz dicht beieinander. Der Leser der Zeitungsmeldung weiß nicht recht, ob er auf die Enttäuschung seiner Erwartungen im Stile des Anspruchs oder dem der einfachen Erwartung reagieren soll. Dieses Changieren hat einen Grund: Es hätte für den Akteur kaum Folgen, wenn er die „falsche“ Entscheidung über den Typ der Erwartungserwartung träfe. Es ist eine low-cost-Situation ohne nennenswerte Konsequenzen bei einer „falschen“ Entscheidung. Beim System des „Leben und leben lassen“ im Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges war das ganz anders. Hier hing für die Soldaten enorm viel von der Fortdauer der einmal eingespielten Regel ab: Es ging um Leben und Tod und inzwischen um eine ganze Lebensweise der Gestaltung des Alltags. Und deshalb war für sie das „moralische“ Festmachen der Regeln des Systems die deutlich begreiflichere Reaktion als das Gewährenlassen des Geschehens. Das verschiedene Muster der Reaktion bei der Sekte der Seekers war schließlich auf eine ähnliche Weise erklärbar: In der dichten Gemeinschaft der Sekte von Lake City hätte eine einfache Abkühlung des Fehlschlags zu einem bloßen Irrtum ein ganzes System der inneren Überzeugungen und der Beziehungen untereinander tangiert und gefährdet. In Collegeville ging es dagegen nur um ein mehr oder weniger isoliertes Detail im belief system der einzelnen Akteure, die mit der Änderung ihres Glaubens vergleichsweise wenig zu verlieren hatten und in ihrem Glauben an eine Fiktion auch nicht durch an-
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dere wieder bestärkt wurden darin ganz ähnlich dem etwas gleichgültigen Zeitungsleser bei Niklas Luhmann. Kurz: Ansprüche entstehen offenbar erst dann, wenn das „kontrafaktische“ Bestehen auf einem Sollen ein wichtiges Problem zu lösen verspricht.
Die Wahl des Aspirationsniveaus Die Idee, daß sich die Menschen die Maßstäbe ihres Tuns nach Überlegungen der Machbarkeit und der Nützlichkeit setzen, ist die Grundlage der sozialpsychologischen Theorie über das Anspruchs- bzw. Aspirationsniveau.16 Damit ist der Standard gemeint, den sich ein Akteur für die Lösung von unterschiedlich schwierigen Aufgaben setzt, bei dessen Unterschreiten er unzufrieden und bei dessen Überschreiten er zufrieden ist. Der Hintergrund ist der Sachverhalt, daß die Lösung schwierigerer Aufgaben meist mehr Anerkennung bringt als die Lösung leichterer. Normalerweise würde man daher erwarten, daß sich alle an die jeweils schwierigste Aufgabe machen. Das wird aber nicht beobachtet. Vielmehr wählen die Menschen meist Aufgaben mit mittlerem Schwierigkeitsgrad. Warum das so ist, läßt sich mit der EU-Theorie leicht zeigen. Der Schwierigkeitsgrad der Aufgabe kann als die eingeschätzte Erwartung pe aufgefaßt werden, die Aufgabe auch korrekt zu lösen, der Grad an Anerkennung bei Erfolg als die Bewertung U. Dann hat den Regeln der EU-Theorie gemäß die Aufgabe die höchste erwartete Anerkennung, bei der das Produkt aus peU am höchsten ist. An einem einfachen Beispiel sei das Prinzip der Wahl des Aspirationsniveaus gezeigt. Ein angehender Student steht vor der Entscheidung, was er denn studieren soll. Natürlich ist die Auswahl groß. Aber das Problem ist vor allem, daß die Studienfächer mit dem höchsten Prestige wie Mathematik oder Physik auch die schwersten sind; und daß es leichte Fächer gibt, die aber leider auch nicht viel wert sind. Für sechs Fächer haben wir in Tabelle 3.1 in die Spalten 1, 2 und 3 jeweils die Prestigewerte U, die vom Studenten angenommene Erfolgseinschätzung pe und das Aspirationsniveau AN als Produkt aus beiden Größen eingetragen: AN peU. Der Student müßte bei diesen Einschätzungen Soziologie studieren wollen. Es ist das in der Tabelle in Spalte 3 mit * versehene Fach, das ihm die größte Erfolgsaussicht verspricht, wenn Attraktivität und Schwierigkeit zusammen 16
Vgl. zur sozialpsychologischen Theorie des Aspirationsniveaus die Zusammenfassung bei Heinz Heckhausen, Motivation und Handeln, 2. Aufl., Berlin u.a. 1989, S. 172ff.
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berücksichtigt werden: ANSoziologie 168. Der Magister in Politik wäre zwar leichter, brächte aber wegen des geringeren Prestiges mit ANPolitik 160 weniger an Anspruchsniveau. Die Volkswirtschaft wäre attraktiver, aber auch riskanter. Sie hat deshalb mit ANVWL 160 einen gleich geringen Wert des Anspruchsniveaus wie der Magister Politik. Tabelle 3.1: Bewertung, Erfolgseinschätzung und Aspirationsniveau für sechs Studienfächer
(1)
(2)
(3)
(4)
(5)
+
-
(6) +
(7)
U
pe
AN
pe
pe
AN
AN-
Medienwissenschaften
100
1.0
100
1.0
0.8
100
80
Magister Politik
200
0.8
160
1.0
0.6
200
120*
Soziologie
280
0.6
168*
0.8
0.4
224
112
Volkswirtschaft
400
0.4
160
0.6
0.2
240*
80
Physik
520
0.2
104
0.4
0.0
208
0
Mathematik
900
0.0
0
0.2
0.0
180
0
Empirisch scheint die Wahl von Aspirationsniveaus in der Tat so zu verlaufen. Mindestens wird so gut erklärbar, warum die Menschen mittlere Aspirationsniveaus bevorzugen. Aber ist das einmal so gewählte Aspirationsniveau auch ein „Anspruch“ im Sinne einer kontrafaktisch wirksamen, desiderativen Erwartung? Die sozialpsychologischen Forschungen sagen etwas anderes: Wenn die Akteure die sich selbst gesetzte Aufgabe bewältigen, dann erhöhen sie ihr Anspruchsniveau sofort, wenn sie Mißerfolg haben, senken sie es rasch ab bis sich der für sie „richtige“ Standard eingependelt hat. Diese Änderungen würden in das Entscheidungsmodell über eine Erhöhung oder Absenkung der Erfolgserwartung pe einzubeziehen sein. Die Bewertungen U können dabei unberührt bleiben, wenngleich sie sich empirisch oft mit den Erwartungen ändern: Was ich nicht bekomme, mag ich, wie der Fuchs die sauren Trauben, nicht mehr. Am einfachsten wäre die Annahme einer linearen Änderung von pe. Wir haben in den Spalten 4 und 5 für den Erfolg mit pe+ eine lineare Erhöhung um 0.2, für den Mißerfolg mit pe- eine lineare Absenkung um den gleichen Betrag angenommen. Das Ergebnis steht in den Spalten 6 und 7: Bei Erfolg wechselt unser Student zur Volkswirtschaftslehre, bei Mißerfolg macht er wenigstens den Magister in Politik. Hoffentlich geht das dann gut.
Die Folgen der raschen Anpassung des Aspirationsniveaus an die Realitäten des Lebens sind ambivalent: Da Menschen nur bei Überschreiten ihres An-
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spruchsniveaus glücklich sind, sie aber auch immer sofort bei einem Erfolg ihren Standard anheben, sind sie einerseits nie längere Zeit glücklich. Happiness is a warm gun. Andererseits sind sie aber auch nicht lange unglücklich: Wenn ich die Trauben nicht bekommen kann, dann nehme ich eben die Stachelbeeren.
Die „Wahl“ eines Anspruchs Die sozialpsychologische Erklärung der Setzung eines Anspruchsniveaus hat uns also leider nicht sagen können, wie und warum es zu jener oft unbegreiflichen Unbedingtheit eines Anspruchs auf Geltung auch gegen allen Augenschein kommt, von der her aber die sozialen Regeln erst die nötige kontrafaktische Absicherung erhalten. Ein Aspirationsniveau wird offenbar gewählt wie man eine Tube Zahnpasta nach Preis und Qualität prüft und ggf. wieder in das Regal zurücklegt, um eine andere zu nehmen. Heißt das aber, daß die Entstehung von unbedingten Ansprüchen nicht als eine solche Wahl modelliert und erklärt werden kann? Aus den drei Beispielen läßt sich zunächst herauslesen, daß ein unbedingter Anspruch an die Beibehaltung einer Regel erst dann entsteht, wenn die Regel für die Problemlösung im Alltag als dringlich und notwendig eingeschätzt wird, und wenn die Konsequenzen einer Aufgabe des „Anspruchs“ auf die Regel hoch sind. Das war aber bei der Wahl der Studienfächer nur begrenzt der Fall. Ob Magister in Politik oder ein Diplom in Soziologie oder in Volkswirtschaftslehre – das Leben geht schon irgendwie weiter, ganz ähnlich wie bei dem Luhmannschen Zeitungsleser und bei den Seekers in Collegeville. Die Situation der Studenten steht – was die Tragweite eines Festhaltens an einem Anspruch angeht – jedenfalls in keinem Vergleich zu der der Soldaten an der Front oder der armen Mrs. Keech in Salt Lake City.
Alles also doch nur eine Frage der Größenordnungen und der Opportunitätskosten? Versuchen wir es also noch einmal mit der EU-Theorie. Es geht um die Entscheidung, für die Regelgeltung eine Erwartungserwartung in Form eines enttäuschungsfesten Anspruchs zu stilisieren oder in der Form einer anpassungsbereiten Erwartung. Es stehen damit zwei Alternativen der inneren Entscheidung zur Wahl: die Erwartungserwartung des Typs A als änderungsunwilliger Anspruch; und die dazu alternative Erwartungserwartung des Typs E als lernbereite Erwartung. Eine Orientierung als „Anspruch“ wird dann „gewählt“, wenn das EU-Gewicht dafür höher ist als das entsprechende EU-Gewicht für eine Orientierung als „Erwartung“. Die Bewertungen für die Bildung der EU-Gewichte folgen den Konsequenzen, die mit einer Beibehaltung oder einer Aufgabe der Regel erwartet werden. Beispielsweise: Was ist das System des „Leben und leben lassen“ den Soldaten wert? Welche Folgen sind zu erwarten, wenn es zusammenbricht? Der Wert der Situation bei Existenz der Regel sei mit UA, der für die Situation bei Verfall der Regel mit UE angegeben. Nun kommt die Einschätzung hinzu, wie sinnvoll, wie wirksam, wie notwendig die Stilisierung als An-
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spruch für den Erhalt der Regel und für die Verwirklichung von UA ist. Der sächsische Soldat war sich sicher, daß sein Festhalten an der Regel einen Sinn machte. Die gute Mrs. Keech hoffte sehr, daß sich ihre Hartnäckigkeit auszahlen werde. Und ihre Umgebung bestärkte sie darin fortwährend. Der Extremwert für diese Einschätzung ist 1. Erscheint die Stilisierung als Anspruch weniger notwendig, sinnvoll oder wirksam, dann wird ein Abschlag p (mit 0
Das EU-Gewicht für die Erwartungserwartung vom Typ A ist dann die Erwartung, daß UA über die Stilisierung als Anspruch mit einer Wahrscheinlichkeit von 1-p verwirklicht werden kann: EU(A) (1-p)UA. Für die Erwartungserwartung vom Typ E gilt entsprechend das EU-Gewicht EU(E) pUE. Schreibt man die Nutzenerwartung für A als entgangenen Nutzen, der mit E verwirklicht würde, und damit als (Opportunitäts-)Kosten der Anspruchstilisierung, dann erhält man: EU(A)
(1-p)UA pUE
Das EU-Gewicht für einen Anspruch als „desiderative Erwartung“ steigt danach mit dem Wert dessen, was insgesamt, sozusagen als konstitutionelles Interesse, auf dem Spiele steht, mit der eingeschätzten Sicherheit, daß die Aufregung einer Stilisierung als Anspruch nicht sinnlos ist wie im Stellungskrieg des Ersten Weltkrieges oder bei Mrs. Keech in Salt Lake City. Und es wird geringer, wenn die leichte Aufgabe der Regel keine bodenlosen Verluste nach sich zieht wie bei der Wahl des falschen Studienfaches, bei Luhmanns Zeitungsleser oder bei den alleine gelassenen Seekers in Collegeville.
Die Unbedingtheit des Anspruchs Eine Regel wird mit einem kontrafaktischen Anspruch auf Beibehaltung dann belegt, wenn EU(A) größer ist als EU(E). Wir wollen aber auch etwas über die Unbedingtheit dieses Anspruchs wissen. Die Unbedingtheit ist so wollen wir annehmen um so größer, je weniger ein Akteur an eine Änderung seiner Einstellung zur Regel auch nur denkt. Das hieße: Je weiter der Akteur von einer Situation der Indifferenz entfernt ist, ob er nicht doch den Anspruch aufgeben solle. Es geht also um die Annäherung an die Schwelle zum Wechsel von A nach E. Ein Wechsel von A nach E würde natürlich nur stattfinden, wenn EU(E)>EU(A) gilt. Daraus ergibt sich für den Wechsel von A nach E die folgende Bedingung:
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würde auch sein Urteil „unbedingter“ werden – sei es als Anspruch oder sei es als Erwartung, je nachdem. In Punkt 2 finden sich die Soldaten des Stellungskrieges wieder. Hier „gilt“ nach einiger Zeit der Etablierung des Systems die Regel des „Leben und leben lassen“ schon fast als Selbstverständlichkeit. Deshalb ist p fast null. Und die Kosten einer Änderung der Regel wären enorm: UE wäre auf jeden Fall sehr klein. UA ist dagegen auf jeden Fall sehr groß. Und deshalb geht der Bruch UE/UA auch gegen null. Man könnte die Lage dieses Punktes sogar in den negativen Bereich der senkrechten Achse bringen, wenn man davon ausgeht, daß mit dem Wiederaufleben des Bewegungskrieges die Soldaten einen negativen Nutzen verbinden. Die Folgen dieser Kombination von Bewertungen und Erwartungen sind offensichtlich: Der Punkt 2 ist weit von der Übergangsschwelle entfernt. An eine Stilisierung der Erwartungserwartung als bloße kalte Erwartung ist nicht einmal zu denken. Und deshalb werden auch größte Kosten getragen, wenn das System auf dem Spiele steht: Der sächsische Emissär, der den ungeplanten Beschuß durch die preußische Artillerie bei den Briten entschuldigte, riskierte tatsächlich sein Leben. Aber er wußte auch warum. Und er wußte mit einer Sicherheit von (1-p) nahe eins, daß sich das Risiko lohnen würde, weil für ihn klar war, daß die Gegenseite ihn verstehen würde. Die Punkte 3a und 3b schließlich geben die Situation der Sekte der Seekers nach dem Fehlschlag der Prophezeihung wieder. Wir gehen davon aus, daß es in beiden Städten – in Salt Lake City und in Collegeville – zunächst zu einer starken Abschwächung der Einschätzung führte, daß die Beibehaltung der Prophezeihung als Soll-Vorschrift für das Handeln und Denken weiter gelten könne. Die Punkte 3a und 3b kennzeichnen die nun einsetzenden unterschiedlichen Entwicklungen. In Salt Lake City führen die Interaktionen in der dichten Gemeinschaft rasch wieder zu einer Zurückführung der „Geltung“ der Soll-Vorschrift, daß die Prophezeihung doch richtig war (Punkt 3a). Die Rückführung der Erwartungserwartung darüber in einen Anspruch erfolgt auch schon bei nur kleinen Änderungen von p in Richtung des Null-Punktes, weil die Kosten für die Aufgabe der Regel in der Gemeinschaft zu hoch wären. Solche Änderungen der Einschätzung p gibt es in Collegeville (3b) nicht. Hier bestärken sich die Mitglieder aus Mangel an Kontakten nicht wieder gegenseitig darin, daß die Regel der Prophezeihung weiterbestehe. Aber auch die Kosten sind hier anders: Das Weiterverfechten der Prophezeihung ist in einer verständnislosen Umgebung eine nur peinliche Angelegenheit. Und somit bewegen sich die Sektenmitglieder in Collegeville alsbald auf den Punkt 3b – und verdrängen, woran sie zuvor fest mit einer hohen Unbedingtheit als desiderative Erwartung geglaubt hatten.
Das Modell macht deutlich, worauf es Niklas Luhmann in seiner zuerst etwas seltsam anmutenden These von der „Entscheidung“ zur Stilisierung von Erwartungen und Ansprüchen wohl besonders ankam: Erwartungserwartungen als bestimmte „Einstellungen“ des Umgangs mit Enttäuschungen sind keine fixen Gegebenheiten. Das Modell zeigt dabei aber auch, daß die Unbedingtheit von Ansprüchen viel mit den erwartbaren Erträgen und den Kosten der Unbeirrbarkeit zu tun hat. Eine Moral, die zu teuer wird, verliert zuerst ihre Unbedingtheit und danach auch ihre Geltung.
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Die sozialen Bedingungen der Unbedingtheit Eine wichtige Frage schließt sich sofort an: Unter welchen sozialen Bedingungen gewinnen Ansprüche eine besonders starke Unbedingtheit? Die abstrakten theoretischen Variablen kennen wir aus dem Modell: der Nutzen UA aus der Existenz der Regel, der bei Verfall der Regel immer noch zu erwartende Nutzen UE und die Einschätzung (1-p), daß die Regel für die mit ihr verknüpfte Lebensweise notwendig ist. Wann aber haben bestimmte Lebensweisen solche Werte auf diesen Variablen, daß daraus jeweils „unbedingte“ Ansprüche an die Einhaltung der jeweiligen sozialen Regeln folgen müßten? Eine Lebensweise ist ein eingespieltes System sozialer Produktionsfunktionen, getragen von der institutionell abgesicherten Kooperation von Akteuren (vgl. dazu auch schon Abschnitt 3.2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wie solche Systeme selbst unter rationalen Egoisten entstehen können, wissen wir schon (vgl. Kapitel 5 und 7 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Der Schatten der Zukunft und die Anreize zur Kooperation müssen hoch genug sein. Damit es darüber zur spontanen Kooperation kommt, waren einige soziale Bedingungen identifiziert worden: Geringe Gruppengröße und Isolation vor allem, und dann noch: Sichtbarkeit des Handelns, Kommunikation, Identität, gemeinsame Geschichte, Stabilität der Situation und das Fehlen von Alternativen, sowie, insbesondere, eine hohe Dichte im Netzwerk der Beziehungen (vgl. dazu auch schon Kapitel 7 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Alle die Umstände erhöhen den Schatten der Zukunft und/oder die Anreize zur Kooperation. Institutionen und soziale Normen sind Vorkehrungen, um ein derartiges, einmal „spontan“ entstandenes System der Kooperation gegen Fluktuationen im Schatten der Zukunft und in den Anreizen wirksam zu schützen. Darin besteht ihre, von den Akteuren auch als zuträglich erlebte Ordnungsfunktion. Die Praktik der Kooperation und die Ethik der sie unterstützenden sozialen Regeln bilden den Kern einer jeden Lebensweise und Gesellschaft. Sie stützen einander gegenseitig. Am Erhalt der Institution und ihrer Ordnungsfunktion entwickeln die Akteure in einer eingespielten Lebensweise schließlich ein – durchaus reflektiertes – Interesse. Dieses Interesse besteht aus der Einsicht in die Notwendigkeit der Institution einerseits und in der Wichtigkeit in Hinsicht auf die Konsequenzen eines Verfalls der Kooperation. Genau dieses konstitutionelle Interesse an einer einmal entstandenen und als problemlösend erlebten Lebensweise aber ist der Hintergrund für die „Entscheidung“, die Regeln der Institution mit einem um so unbedingteren Anspruch zu belegen (vgl. dazu auch schon Kapitel 4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Er ist um so höher, je stärker die Einschätzung der Wichtigkeit und der Notwendigkeit der institutionellen Regeln für den Erhalt der Lebensweise ist. Die eingeschätzte Wichtigkeit folgt unmittelbar den Anreizen für die Kooperation, die eingeschätzte Notwendigkeit der Dependenz der Akteure von der jeweiligen Lebensweise. Das Interesse am Erhalt der Lebensweise wird dann besonders mas-
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siv, wenn sie die einzige Alternative einer erträglichen Organsation des Alltags darstellt und – insbesondere – individuelle exit-Möglichkeiten nicht bestehen.
Damit aber wird auch erkennbar, daß bei gegebenem Schatten der Zukunft die gleichen allgemeinen sozialen Variablen, die das spontane Entstehen einer Kooperation erklären, auch die Umwandlung von kalten Erwartungen und heiße Ansprüche erklärt und den Grad der Unbedingtheit, mit der sie das Fühlen und Handeln der Menschen belegen: Ein hoher Schatten der Zukunft und insbesondere die Anreize, die Lebensweise und die sozialen Produktionsfunktionen vor dem Verfall zu schützen, besonders dann, wenn es keine Alternative gibt. Unbedingte Moral und Ansprüche auf unbedingte Geltung entstehen daher nicht aus Zufall am ehesten in kleinen, isolierten Gruppen mit hoher Kontaktdichte in einer stabilen Umgebung und bei einer starken Abhängigkeit vom Bestehen der Lebensweise und der Gruppe. Etwa: In der Steinzeit, in einem Eifeldorf und wie gesehen in Salt Lake City. Weniger dagegen am Kaffeetisch mit der Zeitung in der Hand bei einer überraschenden Meldung, die einem eigentlich nichts weiter bedeutet.
3.4
Die Logik der Angemessenheit
Das Handeln der Menschen folgt, so wissen wir aus den vorhergehenden Bänden der „Soziologie“ („Allgemeine“ wie „Spezielle Grundlagen“), letztlich den Regeln der möglichst effizienten Nutzenproduktion. Die institutionellen Regeln und die diversen sozialen Normen bilden dafür einen unhintergehbaren Rahmen, nicht zuletzt weil sie die sozialen Produktionsfunktionen festlegen und damit die zentralen Ziele und die zu ihrer Erreichung angemessenen Mittel. Im vorigen Abschnitt haben wir gesehen, daß unter bestimmten Umständen eine bloße kooperative „Praktik“ in eine normative, emotional getönte „Ethik“ übergehen kann. Dabei findet, wie es scheint, auch eine Änderung in dem Mechanismus statt, wie die Akteure mit der jeweiligen Situation umgehen: Im ersten Fall wird immer noch „berechnet“, welche Folgen ein bestimmtes Handeln hätte, und die Normen sind dabei nur weitere (Rand-) Bedingungen bei dieser Kalkulation. Im zweiten Fall wird eben nicht mehr gerechnet, sondern die Akteure folgen den normativen Vorgaben ganz „unbedingt“ und (daher) auch ohne weiteres Nachdenken oder Kalkulieren von Folgen. Es sieht also so aus, als würde sich mit dem Übergang von der Praktik der Kooperation zur Ethik der Normen auch die „Logik der Selektion“ ändern und als würden die Akteure dann einem ganz anderen Prinzip folgen als den Ge-
Soziale Normen
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setzen der WE-Theorie: Es werden keine EU-Gewichte eventueller Folgen mehr berechnet, sondern es wird den Vorgaben der jeweils „geltenden“ Normen gefolgt. Und daher habe die WE-Theorie auch nur eine sehr begrenzte Reichweite, die nämlich auf eine bloße kooperative Praktik, und zu dem großen Bereich des normativ geregelten Handelns habe sie nicht viel zu sagen: „Grenzen des Rational-Choice-Ansatzes“ eben. Viele Soziologen sind in der Tat dieser Meinung, und Jon Elster, von dem zu Beginn dieses Kapitels schon die Rede war, ist beileibe nicht der Einzige, der das auch so sieht. In der Soziologie gibt es vielfach die Überzeugung, daß es sich bei dem „normativen“ Handeln also eben nicht bloß um andere „Randbedingungen“ der Nutzenproduktion, sondern auch um eine ganz andere „Logik“ der Selektion des Handelns handele. Statt einer, wie es heißt, „logic of consequentiality“, wie sie für das (übliche) rationale Handeln typisch sei, gebe es für die Regeln und Routinen des Alltagslebens und für die sozialen Normen und Institutionen eine „logic of appropriateness“.17 Was ist damit gemeint? James G. March und Johan P. Olsen stellen die beiden Logiken mit jeweils drei Fragen und einer Antwort gegenüber, die sich der Akteur vorlege (Ebd., S. 23): Die Logik der Kalkulation
Die Logik der Angemessenheit
1. Was sind meine Alternativen?
1. Welche Art von Situation ist das?
2. Was sind meine Interessen?
2. Wer bin ich?
3. Was sind die Folgen meiner Alternativen für meine Interessen?
3. Wie angemessen sind die verschiedenen Handlungen für mich in der betreffenden Situation?
4. Wähle die Alternative mit den günstigsten Folgen!
4. Tue, was in der Situation am angemessensten ist!
Bei der Logik der Kalkulation werden also die Alternativen in ihrem zukünftigen Wert berechnet. Bei der Logik der Angemessenheit geht es demgegenüber um die Übereinstimmung des Handelns mit der „Identität“ des Akteurs und mit dem Typ der jeweiligen Situation, also um eine Überprüfung in Hinsicht auf in der Vergangenheit entstandene Bereitschaften, Erwartungen, Dispositionen und situationale Verhältnisse. Und wenn alles „paßt“, der Typ der Situation, die in der Identität verankerten Erwartungen und Dispositionen und das dafür „angemessene“ Handeln, dann folgt der Akteur der Regel ohne langes Nachdenken oder gar „Berechnen“ möglicher zukünftiger Folgen: 17
Vgl. James G. March und Johan P. Olsen, Rediscovering Institutions. The Organizational Basis of Politics, New York u.a. 1989, S. 22 ff. und 160f.
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„To describe behavior as driven by rules is to see action as a matching of a situation to the demands of a position. ... . Political actors associate specific actions with specific situations by rules of appropriateness. ... . Search involves an inquiry into the characteristics of a particular situation, and choice involves matching a situation with behavior that fits it.“ (Ebd., S. 23; Hervorhebungen nicht im Original)
Der Mechanismus der Selektion ist also ein ganz anderer als bei der kalkulierenden Berechnung von EU-Gewichten: Es wird der Typ der Situation mit in der Identität des Akteurs gespeicherten Erwartungen verglichen. Der Akteur sucht, wenn er denn sucht, nach gewissen Merkmalen der jeweiligen Situation, um festzustellen, welche Situation gerade „angesagt“ ist. Und wenn der „match“ stimmt, dann assoziiert der Akteur gleich ein dafür „angemessenes“ Handeln und führt es sofort und nahezu automatisch aus. Das ist das Modell des sog. normativen Paradigmas der Soziologie (vgl. dazu auch noch Abschnitt 7.6 unten in diesem Band, sowie Teil A in Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“), wie es unter anderem von Talcott Parsons und, mit einer ganz speziellen Deutung, von George C. Homans gedacht war: Der Akteur denkt nicht lange über die Zukunft nach, sondern vergleicht den an gewissen Symbolen bzw. Stimuli erkennbaren Typ der Situation, „identifiziert“ ihn und folgt unverzüglich und „reaktiv“ seinen Vorgaben den Regeln eben, die für diesen Typ der Situation „gelten“ und das jeweils „angemessene“ Handeln festlegen. Und „reflektiert“ oder „interpretiert“ wird dabei nicht viel, und schon gar nicht „kalkuliert“. Die Gegenüberstellung der beiden Logiken die der Kalkulation und die der Angemessenheit erinnert nicht sehr zufällig an eine uns inzwischen wohlbekannte andere Unterscheidung, die Unterscheidung von rationalem und normativem Handeln bei Jon Elster etwa, oder auch, natürlich, die Handlungstypen bei Max Weber, insbesondere die des zweckrationalen und die des traditionalen Handelns (wenigstens). Ist aber die Logik der Angemessenheit so etwas derart anderes als die Logik der Kalkulation, wie das March und Olsen (bzw. Elster und viele andere) inaugurieren? An zahllosen Stellen der „Soziologie“ sind wir auf dieses Problem schon gestoßen (vgl. etwa die Abschnitte 6.7, 6.8, 7.3.3 und 8.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Was geschieht eigentlich, wenn der „match“ zwischen Situation und Identität nicht perfekt ist? Oder wenn es plötzlich um sehr viel geht, mehr jedenfalls als sonst üblich? Reagieren die Menschen dann immer noch nur auf die Regeln oder fangen sie nicht auch an, über Dinge nachzudenken, an die sie zuvor in der Tat kaum einen Gedanken verschwendet haben? Sind Menschen immer „Regelbefolger“ oder immer „Kalkulierer“? Wechseln sie nicht auch manchmal ihren „Charakter“? Und tun sie das nicht auch nach gewissen Merkmalen der Situation und horribile dictu! gewissen Konsequenzen, die mit der Befolgung der einen oder der
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sen Konsequenzen, die mit der Befolgung der einen oder der anderen „Logik“ wohl zu erwarten wären? Dahinter steckt, wie man leicht sieht, ein noch allgemeineres theoretisches Problem: Wenn es denn schon, woran so gesehen kaum zu zweifeln ist, zwei verschiedene „Logiken“ der Selektion eines Handelns gibt nach welcher Regel wird entschieden, welche Regel jeweils zur Anwendung kommt? Kurz: Müßte es nicht eigentlich eine übergreifende Logik der Selektion geben, diesmal eben nicht eine bloß der Selektion von einzelnen Handlungen, sondern eine solche der Selektion der jeweiligen „Logik“, nach der die Selektion stattfinden soll? Und dann sind die Logik der Kalkulation und die Logik der Angemessenheit ihrerseits nichts weiter als „Alternativen“ zwischen denen die Akteure zu selektieren haben: alternative „Logiken“ der Selektion. Und die große Frage ist dann: Nach welcher Logik selektieren sie denn dann die jeweilige „Logik“ der Selektion? An dieser Stelle waren wir schon in Abschnitt 6.7 bzw. 6.8 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“. Dort haben wir die Lösung nur angedeutet, aber noch nicht verraten. Wir wollen auch hier noch nicht die Katze ganz aus dem Sack lassen und wieder auf den Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ verweisen. Aber soviel kann man schon sagen: Es wird auch eine Selektion sein, die etwas mit der möglichst effizienten Reproduktion des Alltags zu tun hat. Regeln sind ja nichts anderes als Bündel von erfolgreichen und erprobten Erfahrungen oder eingespielte und als verläßlich eingeschätzte Anhaltspunkte für die Lösung eines bestimmten Ordnungsproblems, und ihre Beachtung ist daher, wenn sie denn „gelten“, schon im Interesse der Akteure selbst, oft genug auch dann sogar, wenn sie „repressiv“ sind. Und wenn es nichts, aber auch gar nichts in der Situation gibt, das darauf hinweist, daß jetzt ganz andere Verhältnisse herrschen als wie bisher immer, dann wäre alles andere als die spontane Befolgung der als in der jeweiligen Situation als „angemessen“ identifizierten Handlungen schon sehr unvernünftig. Die (spontane) Befolgung von Regeln ist wenn der „match“ stimmt so gesehen sogar eine besonders kluge Art des vernünftigen Handelns. „Vernunft“ hat eben nicht alleine mit „Berechnung“ und mit „Konsequenzen“ zu tun, sondern mit dem gesamten Aufwand bei der Selektion des Handelns und allen Aspekten der Optimierung der Nutzenproduktion. Und so auch damit, daß man offensichtlich verläßliche Erfahrungen nicht immer wieder neu in Frage stellt und die in den Regeln geronnene Vernunft vergangener Problemlösungen in der aktuellen Situation ohne Zögern nutzt. Und sofort sieht man noch etwas: Auch das ist eigentlich wiederum nichts anderes als eine besondere Form der Beachtung von „Konsequenzen“: Es
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wird mit dem perfekten „match“ ganz selbstverständlich und ohne großes Nachdenken erwartet, daß mit der Beachtung der Regeln die bisher üblichen Folgen auch wieder eintreten und daß jede Abweichung mit großer Wahrscheinlichkeit, nein: mit Sicherheit, ein ungünstigeres Ergebnis brächte. Man muß die „Konsequenzen“ eben nicht eigens „bedenken“ oder gar „berechnen“, um etwas zu „erwarten“. Man kann auch aufgrund von in der Vergangenheit gelernter Erfahrungen ganz gedankenlos assoziieren, was eintreten würde, wenn man den Vorgaben der Situation unverzüglich folgt. Es ist eine Art von kurzgeschlossener Kalkulation über Folgen, die man zuvor in vergleichbaren Situationen schon tausendmal ganz handgreiflich erlebt hat. Genau deshalb ist ja auch so sicher, daß das, was jetzt gedanklich und emotional assoziiert wird, auch alsbald tatsächlich eintritt. Meistens jedenfalls. Und wenn nicht: Dann gibt es (erst) wieder Anlaß, sich die Sache noch einmal zu überlegen.
Kapitel 4
Geltung, Legitimität und Herrschaft
Soziale Normen und Institutionen sind Regeln nicht nur mit Geltungsanspruch, sondern auch mit faktischer Geltung. Geltung hat eine institutionelle Ordnung in dem Maße, wie die Verletzung der Regeln Folgen hat: Wenn zum Abendessen einmal grüne statt der üblichen blauen Servietten aufliegen, geschieht weiter nichts, anders als beim Überqueren einer Kreuzung bei Rot an der Ampel. Die Folgen müssen zwar nicht immer schwerwiegend sein. Sie müssen auch nicht immer eintreten. Sie sind aber mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten. Deshalb werden soziale Normen und Institutionen oft auch als sanktionierbare Erwartungen definiert. Zur Geltung gehört neben der Sanktionierbarkeit auch, daß die betreffende normative Regel als im Prinzip gerechtfertigt, als legitim angesehen wird. Nach Max Weber ist die Geltung einer Ordnung dann auch die „Chance“, daß eine Orientierung an der Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung tatsächlich vorliegt.1 Wie aber erhalten soziale Normen und Institutionen eine derartige legitime „Geltung“?
Das Prestige der Legitimität Der Kern der institutionellen Ordnung und der sozialen Normen sind gewisse Maximen, an denen sich das Handeln orientieren soll (vgl. zu den folgenden Einzelheiten Weber 1972, S. 16ff.). Die institutionelle Ordnung gewinnt ihre normative Kraft auch gegen die „rationalen“ Interessen und instrumentellen Anreize insbesondere durch das, wie Max Weber sagt, „Prestige der Vorbildlichkeit oder Verbindlichkeit“ (Weber 1972, S. 16; Hervorhebungen nicht im Original).
1
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 16.
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Vorbildlichkeit bedeutet dabei, daß es ein „Modell“ des Denkens, Fühlens und Handelns für die Situation gibt, an dem sich die Akteure orientieren sollen. Eine solche Vorbildlichkeit erhält eine Maxime durch zwei Einschätzungen: Es wird erstens geglaubt, daß die Regel richtig, und zweitens, daß sie gerecht ist. Die Legitimität einer sozialen Regel aus dem Glauben an ihre Vorbildlichkeit besteht damit gleichermaßen aus einem kognitiven und aus einem evaluativen Element. Dabei ist es unwichtig, ob die kognitive Einschätzung objektiv zutreffend ist oder die moralische Bewertung überall geteilt wird oder gar einer „objektiven“ Ethik unterliegt. Bedeutsam ist lediglich, daß die Menschen im Geltungsbereich der sozialen Regel jenes – mehr oder weniger reflektierte – Bewußtsein der Richtigkeit und der Gerechtigkeit der Regel teilen – und sie deshalb unterstützen. Die beiden Bestandteile der Vorbildlichkeit von sozialen Regeln haben jeweils auch einen typischen gesellschaftlichen Ort, von dem her sie „verwaltet“ und abgesichert werden: Die Wissenschaft ist für die kognitive Richtigkeit bzw. für die Wahrheit der mit der Regel verbundenen Hypothesen und Aussagen über die Welt zuständig, die Religion, natürlich nicht unbedingt die offiziellen Kirchen, für die Begründung der „letzten Realität“ jener kulturellen Werte und transzendentalen Überzeugungen, die die Grundlage jener Standards der evaluativen Gerechtigkeit abgeben, die in ihnen zur Anwendung kommen. Leicht wird so verständlich, daß sich auch die Art der Legitimität ändern muß, wenn sich das wissenschaftliche Wissen einerseits und/oder die Grundlagen für die kulturellen Standards der Gerechtigkeit ändern: Moderne, komplexe, „entzauberte“ Gesellschaften bedürfen – zum Beispiel – ganz anderer Formen und Inhalte des Glaubens an die Legitimität der sozialen Regeln als einfache Stammesgesellschaften mit ihrer noch sehr starken Nähe zu animistischen Vorstellungen über die Welt.
Die Vorbildlichkeit alleine erzeugt schon wie wir bei der Besprechung der Kraft von sozialen Regeln und der Entstehung von Ansprüchen im vorigen Kapitel bereits gesehen haben eine starke bindende Kraft. Es ist der zwanglose Zwang der rational einsehbaren und unter vernünftigen Akteuren auch kommunizierbaren „guten Gründe“, warum es jeweils individuell und kollektiv besser ist, einer bestimmten Regel zu folgen (vgl. dazu auch noch Kapitel 11 unten in diesem Band). Die Verbindlichkeit einer sozialen Regel bedeutet dann noch darüberhinaus, daß die Beachtung der Regel nicht ohne weiteres zu ignorieren ist, und daß es eine gewisse Sicherheit gibt, daß die Regel auch von anderen beachtet wird: Verträge sind eigentlich zu halten, und wäre es der Untergang. Dies gilt auch für diejenigen, die die Regel innerlich nicht akzeptieren oder gar bewußt davon abweichen wollen: Ein Dieb orientiert sein Tun unter anderem auch an den Regeln des Strafgesetzes. Die „Geltung“ dieser Regel äußert sich dann aber gerade darin, daß er dies tun muß, will er sich nicht ganz unvernünftig abweichend verhalten. Legitimität nennt Max Weber dann die Kombination von Verbindlichkeit und Vorbildlichkeit. Regeln, die derart mit dem Prestige der Legitimität versehen sind, haben eine besonders starke Chance der Geltung. Deren Geltung ist jedenfalls weit
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größer als bei Regeln, die nur traditional verankert sind, denen die Akteure aus bloßer Gewohnheit folgen, oder denen sie lediglich aus (zweck)rationalen Interessen und Überlegungen heraus nachgehen wie der Dieb vielleicht, der die Aussicht auf Entdeckung und Bestrafung höher einschätzt als den Erwartungsnutzen der Beute. Der Glaube an die Legitimität einer sozialen Regel verleiht ihr erst das, was sie letztlich zur Institution oder sozialen Norm macht: ihre kontrafaktische, moralische und unbedingte Bindekraft gegen fast alle Versuchungen und externen Schwankungen in den Anreizen. Und ihre objektive Geltung auch gegen allen empirischen Augenschein und gegen alle am Erfolg des Handelns orientierten Erwägungen und Versuchungen, einschließlich der Orientierung an individuellen Interessen und instrumentellen Anreizen, die es ja immer auch gibt. Das sechste Gebot Du sollst nicht töten „gilt“ für einen Pazifisten deshalb auch inmitten einer Welt von Mord und Totschlag. Und dort für ihn wahrscheinlich gerade mehr als unter friedlichen Umständen, wo es dieser Norm nicht sonderlich bedarf.
Garantien Die Vorbildlichkeit alleine kann die nötige Verbindlichkeit und die Geltung einer Ordnung aber noch nicht erzeugen. Immer gibt es auch Kosten der Regelbefolgung, Versuchungen der einseitigen Ausbeutung der Regelbefolgung anderer und nicht zuletzt Regeln, bei denen eine Partei mehr gewinnt als die andere und deren Vorbildlichkeit von einer Partei mindestens nur schwer nachzuvollziehen ist. Kurz: Eine Regel muß für ihre Geltung noch andere Grundlagen haben als die bloße Einsicht in ihre Vorbildlichkeit, in ihre Richtigkeit und Gerechtigkeit. Sie muß auch von Garantien umgeben sein.
Innere und äußere Garantien Die Garantien bestehen aus der Unterstützung durch Sanktionen, die mit den Regeln erwartbar verbunden sind (vgl. dazu noch näher das folgende Kapitel 5 in diesem Band). Max Weber unterscheidet zwei Arten der Garantie einer legitimen Ordnung. Sie kann garantiert sein: „rein innerlich“ und „durch Erwartungen spezifischer äußerer Folgen“ (ebd., S. 17). Die innerliche Garantie einer Ordnung ist so Weber möglich „1. rein affektuell: durch gefühlsmäßige Hingabe; 2. wertrational: durch Glauben an ihre absolute Geltung als Ausdruck letzter verpflichtender Werte (sittlicher, ästhetischer oder irgendwelcher anderer);
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3. religiös: durch den Glauben an die Abhängigkeit eines Heilsgüterbesitzes von ihrer Innehaltung.“ (Ebd)
Es sind also Gefühle, Werte und religiöse Überzeugungen, die innerlich für die unbedingte Geltung eines Legitimitätsglaubens sorgen. Ein Verstoß gegen die Regeln würde unmittelbar von starken negativen Gefühlen und Befürchtungen begleitet sein. Diese innerlich erlebten Sanktionen machen die Ordnung von der Existenz äußerer Garantien bzw. Sanktionen weitgehend unabhängig. Es ist das gute wie das schlechte Gewissen, das schlägt, wenn das Handeln der Regel entsprach oder nicht gänzlich unabhängig von den äußeren Folgen oder gar vom instrumentell-rationalen Erfolg des Handelns. Die äußeren Folgen sieht Max Weber in erster Linie durch die „Interessenlage“ der Akteure bedingt. Dazu gehören einerseits alle instrumentelle Anreize, die eine Regelbefolgung auch unabhängig von auf die Norm bezogenen Sanktionen lohnend oder abschreckend machen. Vor allem aber gehören die institutionellen, von außen an den Regelverletzer herangetragenen, Sanktionen dazu alle möglichen Formen der Mißbilligung, von Vermahnungen, des Boykotts, der Rüge und des Zwanges, die in die Regel als Sanktionierung eingebaut sind.
Konvention und Recht Die inneren Garantien wirken sofern die Regelgeltung auch tatsächlich bei den Akteuren „internalisiert“ wurde immer. Das ist bei den äußeren Garantien nicht der Fall. Das hat damit zu tun, daß die erforderlichen Sanktionen aus Aktivitäten anderer Akteure bestehen. Mißbilligung und Bestrafung macht ebenso wie auch Lob und Anerkennung nicht immer nur Spaß. Daher ist die Garantie einer Ordnung auch davon abhängig, wie die Verhängung von Sanktionen gesellschaftlich organisiert ist. Max Weber unterscheidet in dieser Hinsicht zwei spezielle Formen der sozialen Regeln bzw. der Ordnung: die Konvention und das Recht. Eine Ordnung soll nach Max Weber dann im Unterschied zu Brauch und Sitte Konvention heißen, „ ... wenn ihre Geltung äußerlich garantiert ist durch die Chance, bei Abweichung innerhalb eines angebbaren Menschenkreises auf eine (relativ) allgemeine und praktisch fühlbare Mißbilligung zu stoßen.“ (Ebd., S. 17; Hervorhebungen so nicht im Original)
Solche Konventionen stehen also, wie es zunächst scheint, auf recht schwachen Füßen: auf informellen Sanktionen bloß. Stärker müssen die Sanktionen dafür aber auch kaum sein: Konventionelle Normen sind, wie wir aus Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon wissen, leicht als
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vernünftig einsehbar und daher meist self-enforcing. Wer von einer Konvention abweicht, schadet meist sich selbst. Und gerade deshalb bedarf es für ihre Geltung keiner besonderen Sanktionen. Das ist bei den essentiellen und erst recht bei den repressiven Normen anders. Sie bedürfen stärkerer Formen der Garantie. Die stärkste Form der Organisation der Garantie einer legitimen Ordnung ist das Recht. Von Recht soll im Unterschied zur Konvention nach Max Weber dann gesprochen werden, „ ... wenn sie (die Ordnung; HE) äußerlich garantiert ist durch die Chance des (physischen oder psychischen) Zwanges durch ein auf Erzwingung der Innehaltung oder Ahndung der Verletzung gerichtetes Handeln eines eigens darauf eingestellten Stabes von Menschen.“ (Ebd.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Das Recht beruht also auf einem eigens dazu eingerichteten und unterhaltenen Erzwingungsstab für die Verhängung von Sanktionen. Es ist deshalb der Bereich, der den äußeren Rahmen der faktischen Durchsetzung der formellen Regeln bildet. Das Recht ist damit die gesellschaftliche Shpäre nicht nur der Durchsetzung der essentiellen Normen, sondern, mehr noch, der „Erzwingung“ von repressiven Normen, die ja nicht alleine schon aus Interessen befolgt werden oder weil damit eine pareto-superiore Situation in ein ParetoOptimum umgesetzt wird. Es ist nötig, weil die Normen oft sogar gegen die Interessen zumindest einiger Gruppen durchgesetzt werden müssen. Das Recht ist kurz gesagt der gesellschaftliche Ort der Absicherung von Herrschaft. Daneben hat das Recht eine Reihe weiterer Funktionen, die alle mit einem Sachverhalt zu tun haben: der Absicherung eines äußeren Rahmens der Geltung einer institutionellen Ordnung und damit – letztlich – der Integration der gesamten Gesellschaft. Mit den gesellschaftlichen Funktionen, den sozialen Bedingungen der Entstehung, den unterschiedlichen Varianten und den Prozessen des Wandels des Rechts befaßt sich eine eigene Spezialsoziologie: die sog. Rechtssoziologie. Sie ist eine der wichtigsten Sparten der Gesellschaftswissenschaften überhaupt, weil sie den Aspekt der sozialen Ordnung im Blick hat, auf dem letztlich die institutionelle Definition der sozialen Produktionsfunktionen beruht: welche kulturellen Ziele zulässig und welche institutionalisierten Mittel erlaubt sind.2
Das Recht einer Gesellschaft ist gewissermaßen das Gerüst, um das sich letztlich auch die informellen Regeln und Sanktionen ranken, abarbeiten und entwickeln. Rechtslücken werden von den findigen Akteuren rasch erkannt und 2
Vgl. dazu insbesondere die grundlegenden Beiträge von Niklas Luhmann und Manfred Rehbinder. Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, 2 Bände, Reinbek 1972; Manfred Rehbinder, Rechtssoziologie, Berlin und New York 1977. Zur Einführung in die Rechtssoziologie vgl. etwa: Leo Kißler, Recht und Gesellschaft. Einführung in die Rechtssoziologie, Opladen 1984.
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ausgenutzt. Und eine Überbeanspruchung der Instanzen des formellen Rechts weist mit einiger Sicherheit darauf hin, daß die Legitimität der durchzusetzenden Normen und damit letztlich: die Legitimität der Herrschaft, deren Sicherung das Recht dient gelitten hat.
Sozialisation und soziale Kontrolle Die inneren und die äußeren Garantien fallen nicht vom Himmel wie wir gesehen haben. Sie müssen selbst organisiert und in die institutionelle Ordnung eingebaut werden. Zwei grundlegende soziale Prozesse bilden den Hintergrund der Organisation der Geltung von sozialen Normen: die Sozialisation der Mitglieder eines Kollektivs und die soziale Kontrolle von Abweichungen (vgl. dazu noch die Kapitel 5 und 10 unten in diesem Band). Ihre Ergebnisse die Geltung der institutionellen Ordnung bilden ein Kollektivgut, von dem auch alle die profitieren, die sich nicht daran beteiligen. Kurz: Für die Geltung einer sozialen Ordnung bedarf es schon einer sozialen Ordnung. Die Sozialisation übernehmen freundlicherweise die Familien und die Schule, die soziale Kontrolle die Instanzen des Rechts und die vielen keifenden Tanten um uns herum, aber gänzlich selbstverständlich ist das nicht.
Die Zuschreibung von Legitimität Die legitime Geltung einer Institution ist ganz allgemein das Ergebnis einer Zuschreibung: Ob eine Regel richtig und erst recht ob sie gerecht ist, steht nicht an sich fest, sondern ist die Folge einer Definition. Für diese Zuschreibung von Legitimität hat Max Weber vier verschiedene Möglichkeiten benannt: „Legitime Geltung kann einer Ordnung von den Handelnden zugeschrieben werden: a) kraft Tradition: Geltung des immer Gewesenen; b) kraft affektuellen (insbesondere: emotionalen) Glaubens: Geltung des neu Offenbarten oder des Vorbildlichen; c) kraft wertrationalen Glaubens: Geltung des als absolut gültig Erschlossenen; d) kraft positiver Satzung, an deren Legalität geglaubt wird.“ (Weber 1972, S. 19; Hervorhebungen im Original)
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In grober Einteilung werden also drei Mechanismen unterschieden: Erstens wird eine Ordnung für legitim gehalten, weil ihre Vorbildlichkeit als fraglos gegeben angesehen wird so wie eine lange eingelebte Gewohnheit ebenfalls die Aufmerksamkeit für jede Alternative ausblendet und sich so von alleine rechtfertigt. Zweitens gilt eine Ordnung als legitim, weil der Glaube an sie mit starken Gefühlen verbunden ist. Und der unbedingte Glaube an die Richtigkeit absolut gesetzter letzter Werte, unter die die Regel subsumiert wird und der jeden anderen Aspekt, insbesondere die „rationalen“ Interessen und instrumentellen Anreize, in den Hintergrund drängt, ist der dritte Mechanismus der Zuschreibung von Legitimität.
Legitimität und Legalität Die genannten drei Mechanismen knüpfen alle an inhaltlich erlebte oder inhaltlich definierte Vorgänge an: Tradition, Gefühl, Werte. Das ist bei dem vierten Mechanismus bei der Zuschreibung der Legitimität über die angenommene Legalität der „Satzung“ einer Ordnung anders. Legalität ist der Glaube an eine formale Eigenschaft der Ordnung: der Glaube an die Rechtmäßigkeit einer Ordnung wegen der angenommenen Richtigkeit und Gerechtigkeit eines selbst als legitim geltenden Verfahrens (vgl. dazu auch noch näher Kapitel 11 unten in diesem Band). Als derart legitim würde beispielsweise die Behandlung in einer staatlichen Behörde empfunden, die erkennbar und nachprüfbar den formalen Regeln der „formalistischen Unpersönlichkeit“ folgt, wenn man vorher diesen Regeln zugestimmt oder sie als legitim empfunden hat: sine ira et studio, ohne Ansehen der Person und nur nach den Kriterien der formalen Gleichheit wurde mein Antrag auf Asylgewährung abgelehnt. Das schmerzt zwar, wird aber nicht als illegitim und empörend empfunden, weil ich selbst das Verfahren vorher als legitim anerkannt hatte.
Legitimität über den Glauben an ihre Legalität erhält eine Ordnung nach Max Weber über zwei Mechanismen: „Diese Legalität [(d)] kann [den Beteiligten] als legitim gelten D) kraft Vereinbarung der Interessenten für diese; E) kraft Oktroyierung (aufgrund einer als legitim geltenden Herrschaft von Menschen über Menschen) und Fügsamkeit.” (Ebd.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Der Glaube an die Rechtmäßigkeit einer Institution oder Norm kann also auf direkte und auf indirekte Weise entstehen.
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Direkt entsteht dieser Glaube als Folge der unmittelbaren Beteiligung an der Schließung eines Vertrages, dessen konkreter Vollzug deshalb als legitim akzeptiert wird, weil der formalen Regelung vorab selbst zugestimmt wurde. Die eigene unmittelbare Teilnahme an der Satzung einer Verfassung begründet den Glauben an die Legalität der Verfassung. Es ist die Legitimität der (Basis-)Demokratie. Auf indirekte Weise entsteht der Glaube an die Legalität durch die – gedankliche und emotional gefühlte – Übernahme der Legitimität eines Verfahrens, an dessen Vereinbarung man zwar nicht unmittelbar beteiligt war, das man aber deshalb für legal hält, weil die herrschende Macht, die es anwendet oder auferlegt, vom Akteur aus anderen Gründen schon für legitim gehalten wird. Es ist die Übertragung der Legitimität, die ein Akteur bereits vorher mit der Autorität verbindet, die die jeweilige Ordnung „oktroyiert“ hat, auf die von dieser Macht gesatzte Ordnung. Es ist letztlich also eine Art von traditionaler Fortführung der Unterwerfung unter eine Autorität. Auf diese Weise wurde beispielsweise nach dem 2. Weltkrieg von den Amerikanern in (West-)Deutschland die Demokratie eingeführt – und – mehr oder weniger – als legitim akzeptiert.
Der erste Mechanismus leuchtet sehr ein: Eine Regelung, an der ich selbst mitwirkte, gewinnt dadurch Legitimität, weil ich mich an der Begründung des Verfahrens selbst beteiligen konnte und jetzt selbst mittragen muß, was beschlossen wurde. Basisdemokratien sind aber selten. Noch nicht einmal in Wohngemeinschaften funktioniert sie. Ohne Oktroyierung von Ordnungen funktioniert keine Gesellschaft, keine Gemeinschaft und auch keine Demokratie. Immer gibt es bei jeder Ordnung Nachteile für die einen und Vorteile für die anderen. Und Tradition, Gefühle und Werte können für moderne Gesellschaften jedenfalls auch nicht immer als Grundlage der Legitimität ihrer Ordnung dienen. Damit wird die Frage nach dem zweiten Mechanismus so wichtig: Wann glauben die Menschen an die Legalität einer Ordnung, wenn sie bei der Begründung der Verfassung nicht selbst dabei waren und sich nun auf die Legitimität einer Herrschaft verlassen, der nun im Glauben an die Legalität gefolgt wird? Damit aber sind wir beim eigentlichen Kern des Problems: der Entstehung der Legitimität von Herrschaft allgemein. Die Begründung der Legitimität einer Herrschaft ist sozusagen der Ernstfall für die Geltung einer legitimen Ordnung.
Herrschaft Was ist „Herrschaft“? Zitieren wir noch einmal die klassische Definition von Max Weber (vgl. auch bereits Kapitel 4 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, oder insbesondere Kapitel 12 in Band 3, „Soziales Handeln“ dieser „Speziellen Grundlagen“):
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„Herrschaft soll heißen die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden; ... .“ (Weber 1972, S. 28; ähnlich: S. 122; Hervorhebungen so nicht im Original)
Herrschaft ist von der Macht einer Person über eine andere zu unterscheiden: „Macht“ ist die Chance, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, egal, worauf diese Chance beruht (Ebd., S. 28). Herrschaft ist sozusagen institutionell geregelte Macht: Ihre Durchsetzungskraft „gilt“ nur für Befehle mit bestimmtem Inhalt und nur bei angebbaren Personen. Warum aber soll man jemanden für vorbildlich und seine Anweisungen und „Befehle“ für richtig und gerecht, für verbindlich und damit für legitim halten, daß man diese Anweisungen und Befehle dann auch flugs und ohne Zwangsanwendung ausführt? Die einfache Antwort finden wir bei James S. Coleman (vgl. dazu auch bereits Abschnitt 10.3 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Transaktion von Rechten).3 Der Ausgangspunkt der Überlegungen bei James S. Coleman ist die Feststellung, daß Menschen nicht nur physische Güter unter ihre Kontrolle bringen oder aus der Kontrolle entlassen können, sondern auch gewisse Rechte (Coleman 1990a, S. 49ff.). Solche Rechte können sich auf sehr verschiedene Dinge beziehen: das Recht zum Gebrauch, zum Konsum oder zum weiteren Verkauf eines Gutes, beispielsweise. Bei Privatgütern fallen beispielsweise alle diese drei Rechte zusammen. Eine besondere Art von Rechten ist nun das Recht, über die Handlungen eines anderen Akteurs – etwa mit Hilfe von Befehlen – bestimmen zu können, ohne daß es über die Ausführung der Handlung dann noch zu längeren Verhandlungen oder Disputen käme. Ein Recht „gilt“ dann in einer Beziehung zwischen Akteuren, wenn der eine Akteur dieser Regelung – warum auch immer – zustimmt. Das Recht „gilt“ in einem Kollektiv als allgemein anerkannte Regel des Verhaltens, wenn alle dieser Übertragung zustimmen. Die Geltung einer Norm kann dann als Spezialfall einer solchen Rechtsübertragung angesehen werden: Alle Akteure eines Kollektivs haben das Recht zur freien Handlungswahl in einem spezifischen Bereich des Handelns an die Regeln der Norm abgetreten.
Die Übertragung eines Rechtes geschieht aus einem einfachen, uns inzwischen wohlvertrauten Grund: Wenn sich jemand von der Übertragung einen Vorteil verspricht, der mehr wiegt als die damit zu erwartenden Nachteile, dann gibt er das Recht über sein Handeln ab. Freilich kann sich der sein Recht abgebende Akteur bei seinen Überlegungen irren und eine böse Überraschung erleben, wenn der „Herrscher“ nicht hält, was er verspricht. Manche Ehe, die mit großer Hingabe begonnen hatte, hielt nicht lange der traurigen Wirklichkeit stand, daß der jeweils als Herrscher Auserkorene nicht richtig herrschen wollte oder konnte. Auch kann sich herausstellen, daß die Übertragung des Rechtes nicht mehr so einfach rückgängig zu machen ist, wenn sich die Verhältnisse ändern. Und vor allem: Das Tauschverhältnis zwischen den beiden Akteuren – der Vorteil der Rechtsübertragung gegenüber den Leistungen, die damit verbunden sind – kann zwischen dem Herrn und dem Knecht gleich zu Beginn schon sehr 3
James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990a, Kapitel 4: Authority Relations, S. 66ff.
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ungleich sein. Alles das ändert nichts an der Grundhypothese: Es kommt nur dann und nur so lange zur Übertragung des Rechtes, wie darüber zwischen den beiden Akteuren letztlich ein Konsens besteht, wobei dieser Konsens immer mit der Macht gewichtet ist, die zwischen den Akteuren besteht. „Freiwilligkeit“ und „Zwang“ sind stets nur Spezialfälle dieser Gewichtung im Konsens.
Dieser mit Macht gewichtete Konsens über die beiderseitigen Vorteile der Rechtsübertragung ist die Grundlage für die Einschätzung, daß die Rechtsübertragung alles in allem als richtig und gerecht angesehen wird und die so entstandene Herrschaftsbeziehung damit als legitim gilt. Das trifft auch für den Fall extremer Unterschiede im Tauschverhältnis zu, also auch für die in Abschnitt 3.3 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ besprochene Konstellation eines Nullsummenkonfliktes über die ordnende Verfassung, der ja jede Herrschaft unterliegt und jede Verfassung unter dieser Bedingung zur „repressiven“ Ordnung macht. Auch eine extrem benachteiligende Unterordnung unter eine ordnende Gewalt wird noch konsensuell hingenommen, wenn es zu dieser Unterordnung keine besser bewertete Alternative gibt.
Legitime Herrschaft Auch die Legitimität einer Herrschaft beruht also wie die jeder anderen Regelung einer Organisation der Kooperation auf ihren für die Menschen erlebbaren handlungserleichternden und produktiven Folgen. Dadurch, daß eine Person das Handeln einer anderen über Herrschaft kontrolliert – etwa über Befehlsgewalt, liebevolle Hingabe oder wissenschaftliche Fachautorität – werden institutionelle Abläufe und Interaktionen ganz beträchtlich erleichtert: Ich glaube dem Herrn Prorektor, daß eine externe Evaluation der Fakultät jetzt günstig für alle wäre. Es beginnt auf dem Kasernenhof kein langer herrschaftsfreier Diskurs nach dem Kommando „links um!“, sondern es wird einfach losmarschiert. Und so lasset uns doch nach Poona fahren, wo uns der Guru alle Sorgen der Entscheidung – über unser Leben und über unser Geld – abnimmt, wenn wir uns ihm ganz ausliefern. Ganz ähnlich geht es bei allen anderen Verhältnissen von „Herr und Knecht“ zu, sei es auf dem Gutsherrenhof, in der Liebe, in der Wissenschaft und auch noch anderswo.
Max Weber unterscheidet ganz in diesem Sinne der konsensuellen Übertragung von Rechten an eine Autorität drei Formen der legitimen Herrschaft: die traditionale, die charismatische und die rationale Herrschaft (Weber 1972, S. 124). Bei der traditionalen Herrschaft wird das Recht auf die Handlungsverfügung an einen Herrn übertragen. Dem Herrn wird bei der traditionalen Herr-
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schaft „kraft Pietät“ und ohne viel Nachdenken über dessen Fähigkeiten gehorcht, und zwar: im „ ... Alltagsglauben an die Heiligkeit von jeher geltender Traditionen und die Legitimität der durch sie zur Autotrität Berufenen ... .“ (Ebd.)
Die charismatische Herrschaft beruht dagegen auf der „ ... außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen ... .“ (Ebd.)
Der Gehorsam wird hier einem „charismatisch qualifizierten Führer“ (Ebd.; Hervorhebung im Original) entgegengebracht. Kaiser Wilhelm der Zwote sah sich wahrscheinlich so, später jemand anders. Die rationale Herrschaft schließlich bezieht ihre Legitimität aus dem oben bereits angesprochenen „ ... Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen und des Anweisungsrechts der durch sie zur Ausübung der Herrschaft Berufenen ... .“ (Ebd.)
Die rationale Verwaltung und die Bürokratie sind für Max Weber die Orte der rationalen Herrschaft. Hier gilt der Gehorsam keiner Person wie beim Herrn oder beim Führer , sondern einer unpersönlichen Ordnung, die durch einen Vorgesetzten mit Leben gefüllt und ver„körpert“ wird, dessen ganze Autorität aber nur auf einer formal definierten Position innerhalb dieser formalen Ordnung beruht (vgl. dazu noch Kapitel 7 über die sozialen Rollen unten in diesem Band).
Legitimität und Wirkung Leicht wird erkennbar, daß alle drei Formen der Legitimität letztlich auf gewissen Leistungen der Herrschaft für die der Herrschaft folgenden Akteure beruhen. Bei der traditionalen Herrschaft wird dem Herrn gehorcht, weil das immer schon besser so war und weil es keinen erkennbaren Grund gibt, wonach das ausgerechnet jetzt anders sein sollte. Alles aber hängt genau davon ab, ob die Verhältnisse auch tatsächlich stabil bleiben: Das Leben im Rahmen der Traditionen muß erträglich und ungestört bleiben. Und zu dieser Ungestörtheit gehört auch, daß es nicht plötzlich Chancen gibt, an die man vorher nicht einmal denken konnte. Die rationale bzw. die bürokratische Herrschaft lebt auch von ihrer erlebbar ordnenden Leistung, besonders unter komplexer gewordenen Verhältnissen, in denen mit Tradition und Charisma alleine eine Gesellschaft nicht mehr
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zu verwalten sind. Wichtig ist hier die besondere Form der Gerechtigkeit, die unter ihr möglich wird: die Gewährleistung der Fairneß im Verfahren, das sicherstellt, daß jeder unter gleichen Umständen auch gleich behandelt wird. Das Wissen darum ist der Kern des Glaubens an die Legalität der bürokratischen Herrschaft und damit: die Grundlage ihrer Legitimität (vgl. auch noch Kapitel 11 unten in diesem Band speziell zum Vorgang der „Legitimation durch Verfahren“ dazu). Die Abhängigkeit der Legitimität von gewissen Leistungen der Herrschaft ist bei der Hingabe an einen charismatischen Führer besonders augenfällig. Die Gefolgschaft hängt hier stark von den vorher erbrachten und jetzt weiter erwarteten außergewöhnlichen Taten ab. Der „Führer“ muß schon etwas Besonderes sein oder wenigstens scheinen, bevor die Aura des Heiligen, des Helden oder des Vorbilds ihn umgibt. Und nichts zerfällt rascher als diese Aura, wenn letztlich die Leistungen hinter dem Schein ganz ausbleiben wie viele „Führer“, Schlageridole und Altstars der Bundesliga nur zu gut wissen. Marvin Harris hat dies am Beispiel der Schamanen erläutert.4 Ein Schamane hat u.a. die Aufgabe, durch Zauberei und Hexerei bestimmte Konflikte zu regulieren und den Spannungen in einer Dorf-Gemeinschaft ein Ventil zu geben. Dies geschieht durch Anschuldigungen, die dann zu entsprechenden Ritualen der Verfolgung bzw. Tötung des „Schuldigen“ oder zur sonstigen Bewältigung des Problems führen. Aber: Die Anschuldigungen des Schamanen sind keine willkürliche Angelegenheit. Er muß genau herausfinden, wo die tatsächlichen inneren Konfliktlinien und Normverletzungen liegen, wie die „öffentliche Meinung“ in der Gemeinschaft über die „wahren“ Schuldigen aussieht und was als Reaktion erwartet wird. Das können die Schamanen nicht im Alleingang. Sie sind vielmehr sehr davon abhängig, wie korrekt und wie genau sie die Sachlage insgesamt einschätzen. Erst dann „wirkt“ auch der ganze „Zauber“. Und zwar: weil der Schamane nur noch ausführt, was die „Öffentlichkeit“ ohnehin vorhatte und als moralisch geboten fühlte. Der Schamane erforscht, formuliert und verkündet lediglich den Willen der Gruppenmitglieder. Darauf beruht seine gesamte Autorität und die Festigkeit seiner Legitimität. Schamanen mißbrauchen ihre übernatürlichen Gaben, wenn sie Personen mit großem Ansehen oder mit der Unterstützung einer starken Verwandtschaftsgruppe beschuldigen. Viele Mißgriffe kann sich kein Schamane erlauben: „Begehen sie derartige Fehler häufiger, werden sie schließlich selbst aus der Gesellschaft ausgestoßen und umgebracht“. (Harris 1989, S. 207)
Heiligkeit, Heldenkraft und Vorbildlichkeit sind aber nicht nur riskant, sondern auf die Dauer auch anstrengend. Verfallen die Leistungen in der unausweichlichen „Veralltäglichung des Charismas“, wird auch die charismatische Legitimität immer fadenscheiniger bis sie schließlich ganz verfällt, spätestens dann, wenn der Führer seine Gefolgschaft erkennbar in die Nähe des Abgrundes bringt.
4
Marvin Harris, Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt/M. und New York 1989, S. 206ff.
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Die Legitimität der Ordnung und die Interessen der Akteure Der Glaube an die Legitimität einer Ordnung ist also gerade auch im prekärsten Fall der Herrschaft sehr davon abhängig, ob die Ergebnisse der Ordnung mit den Interessen der Akteure in Einklang stehen. Sicher gibt es auch Herrschaft, die die Menschen lange Zeit gegen ihre „objektiven“ Interessen sogar enthusiastisch unterstützen wie die Parzellenbauern von Frankreich ihren Louis Bonaparte, die deutschen Arbeiter im Kaiserreich ihren Wilhelm Zwo oder zu den Zeiten der Nazis denjenigen, den sie als ihren Führer verehrten, zum Beispiel. Aber immerhin wurde ihnen ja auch etwas geboten: das glanzvolle Schauspiel der Monarchie oder das der Reichsparteitage und der Blitzkriegserfolge, mit dem sie sich identifizieren konnten. Aber irgendwann hatte das Schauspiel ein Ende. Und ein Ende hatte dann bald auch die Legitimität der Herrschaft. In diesem Fall: die Legitimität der charismatischen Herrschaft. Dies alles verweist darauf, daß jede institutionelle Ordnung ihre letzte harte Grundlage darin hat, daß sie für die Lösung von Alltagsproblemen einen einsichtigen Beitrag leistet. Die Legitimität einer Ordnung darf zwar sicher nicht vorwiegend oder primär darin gesehen werden, daß sie für die Akteure in einem sehr „konsumatorischen“ Sinne als bloß „nützlich“ angesehen wird. Über jeden Nutzen hinaus muß es ohne Zweifel immer auch andere Bindungen geben, die die stets auftretenden kurzfristige Schwankungen in der „rationalen“ Akzeptanz leicht überspielen. Andererseits zehrt sich aber ein noch so affektueller, kathektisch besetzter oder an geheiligte Traditionen anknüpfender Glaube mehr oder weniger rasch auf, wenn eine bestimmte Ordnung immer wieder die Interessen der Menschen verletzt und gegen ihre offenkundigen Einsichten beständig verstößt.
Der Rat der Ratten Bevor wir in der Besprechung der vielen wichtigen Einzelheiten bei den Institutionen und sozialen Normen fortfahren: Noch ein Gedicht. Es ist die Fabel vom Rat der Ratten, erzählt von Jean de La Fontaine.5 Das Gedicht wird manchmal fälschlicherweise dem griechischen Fabeldichter Äsop zugeschrieben.
5
Jean de La Fontaine, Der Rat der Ratten, in: Jean de La Fontaine, Die Fabeln. Gesamtausgabe in deutscher und französischer Sprache, mit über 300 Illustrationen von Gustave Doré, Wiesbaden o.J., S. 36.
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Ein Kater namens Rodilard wütet so grimmig unterm Volk der Ratten, daß keine fast gesehn mehr ward, so viele sandt’ hinab er in das Reich der Schatten. Der kleine Rest wagt sich, von Angst und Schrecken matt, nicht aus dem Loch und ißt sich kaum zur Hälfte satt. Als einstmals nun der Held auf fernem Dache war, galantem Liebesdienst zu frönen, da, während er sich baß ergötzt mit seiner Schönen, versammelt heimlich sich zum Rat der Ratten Schar, was in der Not man wohl beginne! Der Obmann rät sogleich, begabt mit klugem Sinne, daß eine Schelle man befest’ge jedenfalls, und zwar in größter Eil’, an Rodilardus’ Hals, so daß, wollt’ auf die Jagd er ziehen, man schon von fern ihn hört und Zeit hat zu entfliehen. Daß dies das einz’ge Mittel sei, darin trat jedermann des Obmanns Meinung bei; ‘nen bessern Weg zum Heil wußt’ keiner anzusagen. Allein wie bindet man die Schell’ ihm um? Der spricht: „Ich sollt’ es tun? Nein, ich bin nicht so dumm!“ Ein andrer: „Ich kann’s nicht!“ Ohn’ eine Tat zu wagen, trennt man sich. Der Versammlungen gar viel sah ich, wie diese, ohne Zweck und Ziel, nicht nur von Ratten, nein, von weisen Magistraten, selbst von geschulten Diplomaten. Handelt sich’s nur um weisen Rat? An Ratsherr’n wird es nie gebrechen. Doch gilt’s entschloßner, frischer Tat – ja, Freund, dann ist kein Mensch zu sprechen!
Was diese Geschichte mit den Institutionen und sozialen Normen zu tun haben soll, ist vielleicht nicht gleich einsichtig. Aber warten Sie ab! Gleich werden Sie es erfahren. Und eigentlich müßten Sie es sich selbst schon vorstellen können, wenn Sie lesen, daß es jetzt gleich um die Sanktionen und die Sanktionierung der Abweichung von den Normen geht.
Kapitel 5
Sanktion und Sanktionierung
Die Sanktionen bilden den Hintergrund für die Garantie der Geltung einer sozialen Ordnung. Eine Sanktion ist dabei zunächst ein ganz neutral gemeinter Sachverhalt: Es ist die bewertete Folge, die in direktem Zusammenhang mit der institutionellen Geltung einer sozialen Regel auftritt. Es ist eine institutionelle Folge des Handelns, im Unterschied zu den instrumentellen, mit Anreizen und Interessen verbundenen Folgen dieses Handelns im Geltungsbereich einer sozialen Regel.
5.1
Arten von Sanktionen
Es gibt verschiedene Arten von Sanktionen. Wir wollen auch in Zusammenfassung der Ausführungen in den vorhergehenden Kapiteln dieses Bandes drei Dimensionen unterscheiden: positive und negative, formelle und informelle, sowie externe und interne Sanktionen.
Positive und negative Sanktionen Positive Sanktionen sind die Belohnungen, die einem bestimmten regelkonformen Handeln folgen, negative Sanktionen die Bestrafungen, die bei einer Abweichung davon zu erwarten sind. Es geht also um Lob oder Tadel, Belohnung oder Bestrafung, „Nutzen“ oder „Kosten“. Die Belohnung der Befolgung und die Bestrafung für eine Abweichung von einer sozialen Regel kommen zu den instrumentellen Folgen den Anreizen hinzu. Sie fungieren damit als eine eigene motivationale Kraft für die Regeleinhaltung auch unabhängig davon, ob der Akteur die Regel selbst für sinnvoll ansieht oder nicht.
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Formelle und informelle Sanktionen Formelle Sanktionen sind solche, die nach explizit formulierten Regeln und in einem formellen „Verfahren“ mit deutlich vorgeschriebenen und eigens geregelten Einzelschritten verhängt werden wie bei Beförderungen oder beim unerbittlichen Gang von Gerichtsverfahren. Wenn von den formellen Regeln der Sanktionierung abgewichen wird, hagelt es wieder formelle Sanktionen beispielsweise Abmahnungen oder Dienstaufsichtsbeschwerden. Die Verhängung der formellen Sanktionen geschieht meist durch einen eigenen Kontrollapparat, durch einen Erzwingungsstab also, von dem oben in Kapitel 4 schon die Rede war. Das Recht ist der gesellschaftliche Ort der formellen Sanktionierung. Informelle Sanktionen werden ohne diese besonderen eigenen Sanktionsregeln verhängt. Informelle Sanktionen wären: beiläufiges Lob und eher unmerklicher Tadel, Zuspruch und Spott, soziale Wertschätzung und Mißbilligung aus Gesten und Mimik. Sie steuern das Alltagshandeln der Menschen meist weitaus stärker als dies jede formelle Sanktionierung könnte. Warum die Macht der informellen Sanktionen so groß ist, wissen wir bereits: Ein positives Selbstbild ist eines der beiden zentralen Bedürfnisse aller Menschen. Und die soziale Wertschätzung der jeweiligen sozialen Nahumgebung der sog. Bezugsgruppe ist eine der dafür wichtigsten und effizientesten Bedingungen (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Externe und interne Sanktionen Ihre fraglose Geltung erhält eine Ordnung letztlich erst durch gewisse Garantien. Die Garantien können „rein innerlich“ und durch „spezifische äußere Folgen“ einer wie Max Weber sagt1 „besonderen Art“ erfolgen (vgl. bereits Kapitel 4 oben in diesem Band). Das ist die Unterscheidung zwischen internen und externen Sanktionen. Die externen Sanktionen sind die Reaktionen der äußeren Umwelt des Akteurs auf sein Verhalten im Geltungsbereich der Norm aufgrund der Geltung der Norm. Die sonst noch möglicherweise gegebenen instrumentellen Anreize gehören damit nicht zu den externen Sanktionen. Für die externe Sank-
1
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 17.
Sanktion und Sanktionierung
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tionierung sorgen mehr oder weniger zuverlässig strafende Politessen, keifende Tanten oder ein Bundespräsident, der das Bundesverdienstkreuz verleiht, beispielsweise. Die internen Sanktionen sind die Reaktionen der inneren Umwelt des Akteurs seiner Identität also auf sein Verhalten aufgrund der Geltung der Norm: ein gutes Gewissen für regelkonformes, ein schlechtes für abweichendes Verhalten. Erworben wird diese innere Disposition durch die bereits angesprochene Verinnerlichung bzw. die Internalisierung der sozialen Regel als Teil der Identität des Akteurs. Die Besonderheit bei verinnerlichten Ordnungen ist ihre Unabhängigkeit von äußeren Folgen von den instrumentellen Anreizen wie von den externen Sanktionen. Das regelkonforme Handeln ist in diesem Fall automatisch mit einer sicheren Prämie, das abweichende mit einem ebenso sicheren Malum bedacht. Der Weg ist in diesem Falle schon das Ziel des Tuns. Internalisierte Normen wirken daher auch dann, wenn keine externen Sanktionen zu befürchten sind: „ ... we can ... observe that norms do not need external sanctions to be effective. When norms are internalized, they are followed even when violation would be unobserved and not exposed to sanctions. Shame, or anticipation of it, is a sufficient internal sanction ... . People have an internal gyroscope that keeps them adhering steadily to norms, independently of the current reactions of others.“2
Die Internalisierung geschieht über Erziehung bzw. über die Sozialisation (vgl. dazu noch Band 6 „Sinn und Kultur“, ausführlich, aber auch schon Kapitel 9 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Folge einer erfolgreichen Vermittlung eines Gewissens etwa von den Eltern an ihre Kinder sieht so aus: „ ... what the adult wants for the child, the child comes to want for itself.“3
Die mit einer internalisierten Norm verbundene Handlung ist somit ein primäres, an die individuellen Ideosynkrasien der Person direkt angeschlossenes Zwischengut der Nutzenstiftung, ein unmittelbares „Ziel“ und kein bloß indirektes „Mittel“ mehr, wie das jeder externe Anreiz und jede äußere Sanktion immer bleiben.
2
3
Jon Elster, The Cement of Society. A Study of Social Order, Cambridge u.a 1989, S. 131; Hervorhebungen nicht im Original. Talcott Parsons, Edward A. Shils, Gordon W. Allport, u.a., Some Fundamental Categories of the Theory of Action: A General Statement, in: Talcott Parsons und Edward A. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge, Mass., 1954, S. 18; Hervorhebung nicht im Original.
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Die Befolgung einer internalisierten Norm erzeugt also schon unmittelbar ein psychisches Wohlbefinden in Form eines guten Gewissens und anderer wohltuender Gefühle, die Mißachtung psychisches Mißbehagen über ein schlechtes Gewissen und unangenehme innere Spannungen. Internalisierte Normen sind personale Zwischengüter in dem Sinne, wie sie in Abschnitt 3.2 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ beschrieben wurden, und daher ganz besonders produktiv für die Nutzenproduktion des Akteurs. Gerade wegen dieser kurzgeschlossenen Verbindung zwischen Handlung und innerer Reaktion gibt es beim normenbezogenen Handeln oft Phänomene sogar der Begeisterung und der Identifikation mit den betreffenden sozialen Regeln. Friedrich H. Tenbruck hatte deshalb zu Recht Ralph Dahrendorf vorgehalten (vgl. dazu schon Abschnitt 3.1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Es sei eine „ungeheure Verkürzung“, anzunehmen, daß die Menschen die sozialen Rollen nur deswegen übernähmen, weil sie sich nur „kalkulierend“ die Vorteile der positiven Sanktionen sichern und die Nachteile der negativen vermeiden möchten.
Interne und externe Sanktionen unterscheiden sich somit vor allem im Mechanismus ihrer Wirkung. Die Wirksamkeit der äußeren Garantien einer sozialen Ordnung hat im Unterschied zu den externen Sanktionen sehr viel damit zu tun, daß die Wahrscheinlichkeit auch groß genug ist, daß das Handeln überwacht, Abweichungen entdeckt und auch wirklich geahndet werden (vgl. dazu auch noch Kapitel 6 unten in diesem Band über das „abweichende“ Verhalten). Das aber die Überwachung, die Entdeckung und die Ahndung von Abweichungen verursacht Mühe und große Kosten. Um so wichtiger wird für die Garantie einer Ordnung, daß diese Kosten möglichst gering bleiben und das Interesse der Menschen an einer Reaktion auf das abweichende Verhalten nicht abstirbt. In kleinen „lebensweltlichen“ Gruppen naher Bekannter geht das alles ganz gut, in großen anonymen Aggregaten schon wesentlich weniger. Die Eigenschaft der unmittelbaren Sanktionierung macht dann die Internalisierung der Normen so wichtig. Gelingt sie, dann ist die Sicherstellung der Ordnung im allgemeinen kein großes Problem mehr und das selbst dann, wenn die Interessen ganz anders, die Anreize zur Abweichung sehr verführerisch und die Überwachung des Verhaltens sehr lückenhaft ist: Der Herr sieht alles, und das Gewissen ist immer wach, und soziale Kontrolle ist gut, Verinnerlichung aber besser, weil billiger und sicherer. Einstweilen jedenfalls. Denn auch das ist eine Angelegenheit, die verläßlich und „spontan“ nur in kleinen Gruppen mit einem hohen Schatten der Zukunft und einer großen Abhängigkeit der Akteure vom Gelingen ihrer Kooperation zu bewerkstelligen ist.
Sanktion und Sanktionierung
5.2
115
Die Wirkung der Sanktionen
Jon Elster hatte in seiner Gegenüberstellung von rationalem und normativem Handeln gemeint, daß für Normen eine ganz andere Logik der Selektion gelte, nämlich die der Erfolgsunabhängigkeit (vgl. dazu schon Abschnitt 3.1 oben in diesem Band). Warum aber sollte das so sein? Gibt es denn nicht auch „abweichendes“ Verhalten, wenn nur die Anreize dazu hoch genug sind? Und das sogar bei solchen Akteuren, die die Normen stark verinnerlicht haben und ein sehr schlechtes Gewissen verspüren? Es wird deutlich, daß die Funktion der internen Sanktionen als Garantie einer sozialen Ordnung in den Zusammenhang der Logik der Situation allgemein einschließlich der Anreize und der externen Sanktionen gestellt und mit einer Handlungstheorie verbunden werden muß, die sowohl die Anreize wie die Sanktionen in ihren Randbedingungen unterbringen kann. Das wollen wir jetzt tun mit Hilfe der WertErwartungstheorie. Womit auch sonst?
Ein Beispiel: Arbeit oder Raubmord? Sehen wir uns dazu die Wirkung von Sanktionen einmal etwas näher an. Ganz allgemein ist diese Wirkung einfach anzugeben: Sie addiert sich zum Betrag der Nutzenerwartung über die Anreize einfach hinzu. Und je nachdem, welche Sanktionen wie zu erwarten sind, ändern sich die Gewichte für die Alternativen so, daß nun die Entscheidung mal normenkonform, mal anders ausfällt. Wir gehen von einem Beispiel aus, dessen Grundlogik von William H. Riker und Peter C. Ordeshook stammt4. Ein Akteur stehe vor der Entscheidung, ob er zum Zwecke der Vermögensbildung lieber eine Arbeit aufnehmen (A) oder einen Raubmord begehen (R) soll.
Die instrumentellen Anreize Zunächst werden nur instrumentelle Anreize angenommen: der mögliche Geldgewinn durch die Aufnahme einer Arbeit, abzüglich der mit der Arbeit verbundenen Mühen U1; und der durch den Raubmord mögliche Geldgewinn, abzüglich der damit sicher verbundenen Aufwendungen U2. Da die beiden outcomes jeweils nur mit je einer Alternative verbunden sind, vereinfacht sich die Bestimmung der EU-Gewichte für die Alternativen A und R wie folgt: 4
William H. Riker und Peter C. Ordeshook, An Introduction to Positive Political Theory, Englewood Cliffs, N.J., 1973, S. 50ff.
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EU(A) EU(R)
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pa1U1 pr2U2
Alles hinge jetzt von den jeweiligen Größen für die Wahrscheinlichkeiten p und die Bewertungen U bei diesen rein instrumentellen Anreizen ab: von der Wahrscheinlichkeit, einen Job zu finden, und von der Lohnrate, sowie vom wahrscheinlichen Erfolg des Raubmordes und von der anzunehmenden Höhe der Beute. Man sieht gleich, mit nur ein wenig Alltagsverstand, daß es die instrumentellen Anreize alleine nicht sein können, die für das Handeln maßgeblich sind: Es gibt ja Normen und die Aussichten auf Sanktionen, die normalerweise einen Raubmord als Mittel des Gelderwerbs ausschließen. Das heißt aber: In die beiden Gewichtungsfunktionen müssen die inneren und äußeren Sanktionen, die mit den beiden Alternativen A und R jeweils verbunden sind, einbezogen werden. Wie aber wirken sich die Sanktionen auf die EUGewichte aus?
Die externen Sanktionen Zunächst zu den externen Sanktionen. Die drohen für den Raubmord natürlich: eine lebenslange Zuchthausstrafe. Es gibt sie aber auch vielleicht für die Erfüllung der Norm einer Arbeitsethik: soziale Anerkennung für den besonderen, nicht weiter auch materiell belohnten Fleiß und Arbeitsamkeit. Wie auch immer: Auch das sind „Folgen“ des Handelns unter der Geltung der Norm. Und diese Folgen sind jeweils nichts weiter als zusätzliche outcomes, die bei der Wahl der Alternative mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind und mit einem gewissen Nutzen bewertet werden. Für die Anerkennung des Fleißes sei der Term Uf als Wert einer positiven externen Sanktion, für die Zuchthausstrafe der Term -Uz als Wert einer negativen externen Sanktion eingesetzt. Sie werden mit den Wahrscheinlichkeiten paf bzw. prz gewichtet, daß die entsprechenden „normativen“ outcomes auch wirklich eintreten, wenn die betreffende Alternative gewählt wird. Die Erwartungen der Akteure über das Eintreten von externen Sanktionen hängt zum Teil mit den einzelnen rechtlichen Bestimmungen, mit dem Ausbau des Verfolgungsapparates, mit der sozialen Kontrolle in einem kulturellen Milieu usw. zusammen. Normen unterscheiden sich ohne Zweifel auch danach, wie stark sie institutionalisiert sind und damit: wie sicher die entsprechenden Konsequenzen erwartet werden können. Unterschiede darin lassen sich über die entsprechenden pij-Werte berücksichtigen. Ein Raubmörder müßte schon mit einiger Sicherheit damit rechnen, daß er gefaßt wird. Der Wert von prz kann daher sicher nicht mit null angesetzt werden. Er ist aber auch nicht 1: Nicht alle Täter werden gefaßt.
Sanktion und Sanktionierung
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Für die externen Sanktionen wollen wir, weil sie immer noch verhängt werden müssen, immer nur „Wahrscheinlichkeiten“ annehmen, die in gewissen Fällen auch die Extremwerte 1 oder 0 haben können. Aber das sind nur Extremfälle der Normalsituation, daß nicht jede Konformität wahrgenommen und belohnt und erst recht nicht jede Abweichung entdeckt und bestraft wird.
Die internen Sanktionen Die Wirkung der internen Sanktionen liegt in ihrer „inneren“ Erzeugung von Wohlbefinden oder Mißbehagen, die mit der Ausführung der Handlung auftreten. Diese inneren Folgen sind auch durch Nutzenterme modellierbar: Ein gutes Gewissen erzeugt inneres Wohlbehagen und damit einen „Nutzen“, ein schlechtes entsprechend Mißbehagen und negativen Nutzen. Diese inneren Folgen der Nutzenerzeugung sind, anders als bei den externen Sanktionen, jedoch direkt an die Fokalhandlung der Norm angeschlossen. Das kann einerseits dadurch geschehen, daß im Index des Nutzenterms die Fokalhandlung selbst steht: Die Handlung selbst schon ist das Ergebnis, das den Nutzen mit sich bringt. Und andererseits damit, daß die Wahrscheinlichkeit p für das Auftreten der internen Sanktion immer mit 1 angenommen wird. Eine Arbeitsethik kann so durch den mit der Wahl der Alternative A sicher eintretenden Wert Ua, und die innere moralische Hemmung gegen Raub und Mord entsprechend durch den Wert -Ur dargestellt werden, wenn die Wahl auf die Alternative R fallen sollte.
Die Gesamtbilanz Bürgerliche Arbeit ist also so sei angenommen in der vorliegenden institutionellen Ordnung mit positiven, ein Raubmord mit negativen externen wie internen Sanktionen versehen. Daneben gibt es natürlich immer noch die instrumentellen Anreize. Bezieht man die externen und die internen Sanktionen in die Gewichtungsfunktionen für die beiden Alternativen ein, dann verändern sich die Gleichungen für die EU-Gewichte gegenüber der einfachen Gewichtung nur mit den Anreizen deutlich: EU(A) EU(R)
pa1U1 + pafUf + Ua pr2 U2 przUz Ur.
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Und die Folge: Auch bei u.U. sehr hohen instrumentellen Anreizen sorgen die Normen dafür, daß die Variante des Raubmordes normalerweise nicht in Frage kommt. Besonders wichtig sind hier die inneren Reaktionen: Die internen Folgen sind sicher, sie spreizen die EU-Gewichte der erlaubten und der unerlaubten Handlungen daher weit auseinander und können somit die externen Konsequenzen leicht überspielen, vor allem dann, wenn diese nur unter einem hohen Risiko negativer Folgen zu haben sind. Allein so wird verständlich, warum Jon Elster immer so auf die Internalisierung als Basis der Wirkung von Normen hinweist: Die Internalisierung sorgt in der Tat dafür, daß die Befolgung einer Norm weitgehend „unabhängig“ von äußerlichem Erfolg ist. Aber, so sei Jon Elster entgegengehalten, das ist sie nicht vollständig, denn sonst gäbe es ja nur konformes Handeln oder nur Gewissenlosigkeit bei einer Abweichung. Kaum zu glauben.
Anreize versus Sanktionen Bei hohen und sicheren externen Sanktionen und bei einer starken Internalisierung von Normen können so ohne Zweifel auch große Versuchungen und instrumentelle Anreize für ein abweichendes Verhalten neutralisiert und überspielt werden. In Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die kulturelle und symbolisch gesteuerte „Rahmung“ des Handelns werden wir sehen, daß die einfache Erweiterung der EU-Funktion um „normative“ outcomes eine noch zu einfache Lösung des Problems der „unbedingten“ Geltung von Normen ist. Meist werden nämlich bei normorientiertem Handeln die Folgen gar nicht bedacht (vgl. dazu auch schon Abschnitt 3.4 oben in diesem Band über die „Logik der Angemessenheit“). Es ist eher eine Art von automatisch-habitueller Reaktion, bei der bestimmte Alternativen nicht einmal als denkbar in den Sinn kommen. Gleichwohl müssen alle Größen in die – wie dann auch immer aussehende – Selektionsfunktion des normativ gesteuerten Handelns eingehen: Anreize, externe und interne Sanktionen steuern allesamt das normative „Framing“ einer Situation.
Die Sanktionen sind natürlich am wirksamsten, wenn es keine gegen sie gerichteten Anreize gibt. Wenn es sie gibt, dann entsteht ein Problem des inneren Widerspruchs: Die Konformität kostet etwas, nämlich den Verzicht auf den Anreiz. Leicht lassen sich dann Situationen ausmalen und modellieren, in denen die Akteure in massive Konflikte zwischen den normativ begründeten Sanktionen und den Anreizen geraten (vgl. dazu auch Abschnitt 7.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und oft genug gibt es sogar massive Widersprüche schon in den normativen Folgen wie bei den sog. Rollenkonflikten, zum Beispiel (vgl. dazu noch Abschnitt 7.3 unten in diesem Band). Normensysteme, in denen die internalisierten Gewin-
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ne und Verluste dauerhaft und strukturell in Widerspruch zu den externen Chancen und Einbußen davon abweichender Handlungen geraten, kommen rasch unter einen starken Änderungsdruck: Die Normen sind dann eben keine „primären“ Objekte mehr, mit denen man sich auch gut identifizieren kann, sondern zunehmend nur noch als lästig und unproduktiv erlebte Teile der jeweiligen sozialen Produktionsfunktionen. Die betreffende institutionelle Ordnung gerät dann zunehmend in Legitimationsprobleme. Es ist nun einmal so: Die Befriedigung der Grundbedürfnisse und die Nutzenproduktion bilden letztlich die Basis einer jeden institutionellen Ordnung und der als legitim empfundenen Geltung einer jeden sozialen Norm.
5.3
Sanktionierung
Sanktionen fallen nicht vom Himmel. Es sind Leistungen, die stets wieder nur von Akteuren erbracht werden müssen. Sie sind wie alles auf dieser Welt nicht kostenlos zu haben. Dazu kommt ein uns schon sehr vertrautes Problem: Wenn es die Sanktionen gibt und eine bestimmte Ordnung dadurch Geltung hat, dann nützt dies allen Akteuren im Geltungsbereich der Norm auch denjenigen, die sich nicht an dem mühsamen Geschäft der Sanktionierung beteiligen. Eine funktionierende Sanktionierung ist, wie wir in Abschnitt 8.6 von Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ gesehen haben, ein wertvolles soziales Kapital, genauer ein wertvolles Systemkapital für die Akteure in einem Kollektiv. Kurz: Die Implementation der Sanktionen, die Sanktionierung ist ein Öffentliches Gut und unterliegt den einschlägigen Problemen des kollektiven Handelns. Zwei Mechanismen werden für die Verortung der Sanktionierung als Prozeß des kollektiven Handelns unterschieden: die Sozialisation für die Organisation der Internalisierung von Normen, und die soziale Kontrolle für die Organisation der externen Sanktionierung. Sie sind der Kern der Institutionalisierung einer normativen Ordnung (vgl. dazu auch noch Kapitel 10 unten in diesem Band).
5.3.1 Die Organisation der internen Sanktionierung: Sozialisation Unter Sozialisation wird jener soziale Prozeß verstanden, über den kleine Kinder von brüllenden und egoistischen Barbaren zu einigermaßen zurechnungsfähigen und wenigstens: begrenzt moralischen Personen, zu Menschen eben, werden (vgl. dazu insbesondere noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Das Problem Die wichtigste Leistung der Sozialisation besteht in der Vermittlung der Kultur einer Gesellschaft von einer Generation von Akteuren auf die nächste. Die Kultur ist die Gesamtheit des sozial geteilten Wissens und der sozial geteilten Werte in einer Gesellschaft. Zur Kultur gehören daher insbesondere auch die sozialen Regeln, die in einer Gesellschaft gelten. In der Sozialisation werden somit auch die sozial bedeutsamen kognitiven Erwartungen und verbindlichen moralischen Ansprüche der geltenden sozialen Regeln vermittelt. Entsprechend können – theoretisch – eine kognitive und eine moralische Sozialisation unterschieden werden. Empirisch sind beide Vorgänge freilich nicht zu trennen.
Sozialisation ist eine aufwendige Sache. Kinder mißraten, wenn man sich nicht um sie kümmert. „Kümmern“ aber erfordert den Einsatz von zwei Ressourcen, die sehr knapp sind: interessierte Aufmerksamkeit und Zeit. Die Sozialisation kann nur in Grenzen auf mehrere Schultern verteilt werden. Mindestens während der sog. primären Sozialisation der Kleinstkinder ist es enorm wichtig, daß sich immer nur eine „signifikante“ Bezugsperson bekümmert und im wesentlichen alleine das nötige Interesse und die benötigte Zeit aufbringt. Das heißt aber: Es müssen persönliche Opfer gebracht werden, für die der Mutter- ggf. der Vatertag nur ein etwas mickriger Ausgleich sind. Die Sozialisation ist aber nicht ein Problem der individuellen Familie alleine, sondern sie erfüllt auch gesellschaftliche Funktionen: die Garantie der Geltung einer sozialen Ordnung, die allen zugute kommt auch denjenigen, die keine Kinder sozialisieren. Wer es tut, nimmt also Kosten auf sich für einen Ertrag, an dem auch die kostenfrei partizipieren, die keine Kinder haben und/oder sich nicht um sie kümmern. Eigentlich, so sollte man meinen, müßte die Sozialisation also unterbleiben: Sie ist ein Öffentliches Gut, das stets etwas kostet, aber auch den free-ridern wie den DITCs double income, two cats zugute kommt. Gleichwohl sah und sieht die Wirklichkeit anders aus. Bislang haben sich immer noch genügend Personen in den allermeisten Fällen: Mütter gefunden, die sich der gesellschaftlichen Aufgabe der Sozialisation unterzogen haben. Warum?
Die spontane Organisation der Sozialisation Gehen wir zur Klärung dieser Frage einmal von einer vor-industriellen, agrarischen Gesellschaft aus, die aus lauter kleinen Dorfgemeinschaften bestehe. Wir wollen annehmen, daß Kinder in allen Gesellschaften gleichermaßen eine gewisse Freude machen. Zu diesem sog. Prozeßnutzen von Kindern kommt in agrarischen Gesellschaften ein nicht unbeträchtlicher instrumenteller Nutzen hinzu: Mithilfe in Feld und Hof, vor allem
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Sanktion und Sanktionierung
aber eine Art von Versicherung für den Fall, daß man doch nicht rechtzeitig mit der mittleren Lebenserwartung von etwa 32 Jahren stirbt. Dieser Nutzen sei für die Familien in diesen Gesellschaften mit 100 Einheiten angesetzt. Hinzu kommt der kollektive Nutzen der erfolgreichen Vermittlung einer moralischen Orientierung. Der Wert dieses Systemkapitals sei auch mit 100 Einheiten pro erfolgreich sozialisiertem Kind angenommen. Den kollektiven Nutzen genießen natürlich auch diejenigen, die sich an der Sozialisation nicht beteiligen. Die Auszahlungen sehen für eine Mini-(Dorf-)Gemeinschaft von nur zwei Familien dann so aus: Wenn beide Familien sich an der Aufgabe der Sozialisation von Kindern beteiligen (SS), erhält jeder den individuellen Ertrag des ökonomischen Nutzens in Höhe von 100 – zusätzlich zu dem überall gleichen Prozeßnutzen natürlich. Hinzu kommt der Wert des Öffentlichen Gutes einer Sozialisation von zwei erzogenen Kindern in Höhe von dann 2100=200. Das macht für jede Familie zusammen eine Auszahlung von 300. Wer nicht sozialisiert, erhält keinen individuellen ökonomischen Ertrag, genießt aber gleichwohl den öffentlichen Wert der Erziehung der Kinder in den anderen Familien. Wenn nur eine Familie sozialisiert (KS oder SK), vermindert sich natürlich dieser kollektive Ertrag für alle entsprechend; er beträgt hier dann 1100=100. Und niemand hat etwas zu erwarten, wenn es keine Kinder und keine Sozialisation gibt (KK).
Die dadurch entstehende Auszahlungsstruktur zeigt eine deutliche Interessenkonvergenz der Familien in vorindustriellen (Dorf-)Gemeinschaften (Abbildung 5.1a): Die Aufzucht und Sozialisation von Kindern ist zwar ein Öffentliches Gut, aber alle haben auch ein beträchtliches individuelles Interesse, sich daran zu beteiligen.
a. Vorindustrielle Verhältnisse
S
K
S
300/300
200/100
K
100/200
0/0
b. Moderne Gesellschaft
S
K
S
50/50
-50/100
K
100/-50
0/0
Abb. 5.1: Sozialisation als Öffentliches Gut in vorindustriellen und in modernen Gesellschaften
Die strategische Situation in einer agrarischen Gesellschaft ist offenkundig eine Kombination aus Assurance Game und Chicken Game, wobei gerade die große Abhängigkeit von einer funktionierenden Ordnung dafür sorgt, daß die Aufzucht von Kindern als eine lohnende und wichtige, ja lebensnotwendige Sache angesehen wird, an der sich alle mit großer Bereitwilligkeit beteiligen werden, die es nur können (vgl. zu diesen Begriffen und Einzelheiten Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Sozialisation als Dilemmasituation Wie aber sieht die Angelegenheit unter den Verhältnissen moderner Gesellschaften aus? Der Prozeßnutzen von Kindern ändert sich in modernen Gesellschaften – so wollten wir ja annehmen – nicht, wohl aber der ökonomische Nutzen. Dafür sei jetzt einfacherweise ein Wert mit 0 angesetzt. Anders als in der agrarischen Gesellschaft kostet eine auf „Moral“ bedachte Sozialisation jetzt aber sehr viel: Enorm viel Zeit mit hohen Schattenpreisen, eine hohe Aufmerksamkeit für die großen und vor allem die kleinen Nachlässigkeiten der lieben Kleinen, die immer wieder neu zu mobilisierende Anstrengung, selbst ein gutes Vorbild zu sein, wahrscheinlich sogar ein wenig Spott in der Umgebung, die es längst schon aufgegeben hat, aus ihren kleinen bunten Ungeheuern aufrechte klare Menschen zu machen, und nicht zuletzt die Widerstände der Kinder gegen ihre für die Verhältnisse in der Postmoderne schon etwas seltsamen Eltern. Auf Moral bedachte Sozialisation ist in den hochvernetzten kleinen Gemeinschaften der Agrargesellschaften dagegen viel billiger zu haben oder sogar mit gewissen Prämien versehen: Wer bestimmt oder gar autoritär auf die Moral seiner Kinder achtet, genießt dort selbst ein hohes Ansehen. Die betreffenden Kosten einer „moralischen“ oder anti-autoritären Sozialisation unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft wollen wir daher mit -150 Werteinheiten ansetzen, wo sie vorher gleich null waren. Aber immer noch erzeugen auch jetzt wohlerzogene Kinder einen kollektiven Nutzen: Sie sorgen für die normative Ordnung der Gesellschaft, von der alle etwas haben, auch die Eltern, die es sich mit der Erziehung leicht gemacht haben. Dieser kollektive Nutzen bleibe in der Höhe gleich: 100 Werteinheiten pro erfolgreich sozialisiertem Kind.
Aus dieser Konstellation ergibt sich die Auszahlungsstruktur in Abbildung 5.1b. Es ist die Struktur eines Gefangenendilemmas. Nun ist die Organisation der moralischen Sozialisation von Kindern als Basis der internen Sanktionierung der normativen Ordnung ein Problem. Und dieses Problem wird immer größer, je differenzierter, komplexer und reicher eine Gesellschaft wird. Um so wichtiger wird dann die Organisation anderer Formen der Garantie einer normativen Ordnung falls es einer solchen normativen Ordnung in den „komplexen“ Gesellschaften überhaupt noch bedarf (vgl. dazu bereits Abschnitt 5.5 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
5.3.2 Die Organisation der externen Sanktionierung: Soziale Kontrolle Auch die Verhängung externer Sanktionen ist aufwendig. Das Handeln der Akteure muß überwacht, die Abweichungen müssen festgestellt und die Sanktionen vollzogen werden. Nicht immer ist die Empörung bei Abweichungen groß genug, daß sie sich in sanktionierendes Handeln umsetzen würde. Und nicht immer ist die Begeisterung über die Normerfüllung so enthusiastisch, daß die Lobesstürme von ganz alleine losbrechen. Meist muß es einer ganz mit Absicht tun: das Tadeln wie das Loben. Und das ist beides kein leichtes Geschäft. Beispiele dafür erleben wir täglich.
Sanktion und Sanktionierung
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Wer wollte denn – etwa – im IC-Großraumwagen (zweiter Klasse in einem bis auf den letzten Sitz vollbesetzten Zug) zwischen Koblenz und Köln so tollkühn sein, um eine fröhliche Bande betrunkener Bundeswehrsoldaten am Freitagabend zu bitten, sie möchten doch etwas zurückhaltender sein? Wer es versucht, geht ein großes Risiko ein: Die Truppe lacht ihn aus – oder versucht sich in noch schlimmeren Sanktionen, gerade wenn es eine – nicht gerade wie Pamela Anderson aussehende – Frau wäre, die das Unmögliche versuchte. Oder aber es kann auch geschehen: Der ganze Rest des Großraumwagens ist empört-belustigt über diesen Mangel an Intoleranz gegenüber der heranwachsenden Generation, die doch unser Land verteidigt, unsere Renten zahlt und ohnehin nicht viel mehr vom Leben zu erwarten hat als 50% Sozialversicherungsbeitrag. Wenn die Ermahnung aber gut geht, und die Horde sich still in die Sitze drückt und sich am Sixpack festhält, ist jeder der Mitreisenden zufrieden. Jeder erfreut sich im Stillen der plötzlichen Ruhe. Aber viel Dank hat der sanktionierende Held nicht zu ernten. Mancher regt sich innerlich wohl gegen so viel Spießertum und Intoleranz auf. Das gleiche gilt natürlich auch für handytelefonierende Manager und selbstvergessene Mütter mit brüllenden Kindern.
Kurz: Fast noch mehr als die Sozialisation ist die externe Sanktionierung bzw. die soziale Kontrolle ein Öffentliches Gut. Sanktionsfordernde Situationen haben fast immer die strategische Struktur einer Dilemmasituation: Die Sanktionierung kostet den kontrollierenden Akteur mit Sicherheit etwas, käme aber als Garantie einer kollektiv funktionierenden Ordnung dann allen zugute.
Das Problem: Soziale Kontrolle als Freiwilligendilemma Die Struktur der Situation im IC-Großraumwagen ist kein Gefangenendilemma. Es ist vielmehr eine strategische Situation, die auch als Freiwilligendilemma bezeichnet wird.5 Die Struktur eines Freiwilligendilemmas läßt sich an einem einfachen Beispiel klarmachen. Es sei eine Gruppe von N Gefangenen vor die folgende Wahl gestellt: Wenn einer von ihnen eine bestimmte Tat gesteht, dann erhält er eine Strafe von 5 Jahren, aber alle anderen werden frei gelassen. Meldet sich jedoch niemand freiwillig, dann werden alle mit 10 Jahren Haft bestraft. Das Problem wird gleich erkennbar: Wer den Helden spielt, geht in den Knast – und alle anderen freuen sich. Wenn es aber keinen Helden gibt, dann ist es auch für jeden potentiellen Helden schlimmer als hätte er sich doch gemeldet. Genauso ist es im IC mit der halben Kompanie betrunkener Helden der Bundeswehr.
Für den „Zwei“-Personen-Fall, in dem ein potentieller Held A gegen irgendjemanden B aus der restlichen Gruppe spielt, sieht die strategische Struktur 5
Der Ausdruck Freiwilligendilemma und die Analyse dieser Art einer strategischen Situation stammt von Andreas Diekmann. Die folgenden Erläuterungen stützen sich auf den Beitrag: Andreas Diekmann, Soziale Dilemmata. Modelle, Typisierungen und empirische Resultate, in: Hartmut Esser und Klaus G. Troitzsch (Hrsg.), Modellierung sozialer Prozesse, Bonn 1991, S. 437ff.
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Institutionen
der Situation dann wie in Abbildung 5.2 aus. Die Alternativen seien die des Helden H oder des Zögernden Z. Die Auszahlungen entsprechen den drohenden Strafen für die geschilderte Konstellation.
B
A
H
Z
H
-5, -5
-5, 0
Z
0, -5
-10, -10
Abb. 5.2: Die Auszahlungsstruktur des Freiwilligendilemmas im Zwei-Personen-Fall
Leicht erkennt man, daß es, anders als beim Gefangenendilemma, keine dominante Strategie gibt: Wüßte man, daß jemand anders sich meldet und den Helden spielt, dann würde man sich klugerweise zurückhalten; das Opfer wäre dann ja ohnehin umsonst. Wüßte man aber, daß sich niemand bereitfindet, dann wäre es sogar sehr im eigenen Interesse, den Helden zu spielen, weil man dann ja selbst 5 Jahre weniger abzusitzen hätte als für den GAU, daß niemand vorangeht und alle 10 Jahre bekommen auch ich selbst. Aber: Man weiß eben nicht, was die anderen tun werden. Und dann geschieht oft genug, was es gerade zu vermeiden gilt: nichts. Das Spiel ähnelt dem Chicken Game: Der worst case ZZ sollte auf jeden Fall vermieden werden. Aber wer verliert als erster die Nerven? Solche Freiwilligendilemmata gibt es nicht nur im Falle der externen Sanktionierung von Normabweichungen, sondern in einer Vielzahl alltäglicher und weniger alltäglicher Situationen, etwa solche der unterlassenen Hilfeleistung. Bekannt geworden ist in diesem Zusammenhang ein tragischer Mordfall an einer jungen Frau – Kitty Genovese – in New York, bei dem, wie sich später herausstellte, 38(!) Zeugen den Mord von ihrer Wohnung aus beobachtet haben – ohne etwas zu tun. Eine solche „Diffusion“ der Verantwortung muß nicht (nur) an der Kaltherzigkeit oder der Sensationsgier der Leute oder der Anonymität der Großstadt gelegen haben: Offensichtlich hatte sich jeder darauf verlassen, daß schon jemand anders die Polizei verständigen würde.6
6
John M. Darley und Bibb Latané, Bystander Intervention in Emergencies: Diffusion of Responsibility, in: Journal of Personality and Social Psychology, 8, 1968, S. 377-383; Bibb Latané und John M. Darley, The Unresponsive Bystander: Why Doesn’t He Help?,
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Sanktion und Sanktionierung
Die Diffusion der Verantwortung könnte natürlich mit der Gruppengröße zu tun haben. Das wissen wir ja schon seit Mancur Olson (vgl. Kapitel 7 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen kollektiven Handelns sinkt mit der Größe der Gruppe. Für den N-Personen-Fall läßt sich das Freiwilligendilemma wie in Abbildung 5.3 darstellen.
Anzahl anderer Helden 0
1
2
3
...N-1
H
-5
-5
-5
-5
-5
Z
-10
0
0
0
0
Abb. 5.3: Auszahlungen in einem N-Personen-Freiwilligendilemma
Wieder wird sichtbar, was schon der Zwei-Personen-Fall zeigte: Es gibt keine dominante Strategie. Jeder wartet auf den anderen und das wohl um so mehr, je mehr warten. Mit der Größe der Gruppe müßte aber nicht unbedingt die Wahrscheinlichkeit abnehmen, daß sich jemand findet: Zwar kann sich jetzt jeder noch leichter hinter der Erwartung verstecken, daß sich schon jemand finden wird, aber es wächst auch die Wahrscheinlichkeit, daß es doch einen vielleicht etwas verrückten Helden unter der größer gewordenen Menge gibt. In empirischen Experimenten zeigt sich jedoch eher der OlsonEffekt: Je größer die Gruppe, um so geringer ist die Wahrscheinlichkeit der Bereitstellung des Öffentlichen Gutes im Freiwilligendilemma (Diekmann 1991, S. 442f.).
Auswege: Interesse oder Erzwingungsstab Aus der Falle des Freiwilligendilemmas könnten zwei Wege heraushelfen: erstens ein besonders großes Interesse, eine starke Motivation oder eine sehr intensive Emotion, bei wenigstens einem mutigen Akteur (vgl. dazu Frank New York 1970; vgl. auch: Robert H. Frank, Passions within Reason. The Strategic Role of the Emotions, New York und London 1988, S. 43ff, 218ff.
Institutionen
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1988, S. 45f.). Jemand muß die Nerven verlieren, aufstehen und für Ordnung sorgen. Das wäre ganz analog zu dem einen großen big spender aus dem Problem des kollektiven Handelns bei Mancur Olson, der alleine schon genug Interesse (und die Mittel) hat, um das Kollektivgut für alle zu erzeugen, auch wenn er dann alleine sämtliche Kosten zu tragen hätte. Gibt es einen solchen nervös gewordenen aber gar nicht einmal so selbstlosen! Helden jedoch nicht, dann hilft zweitens nur noch eine zur Sanktionierung eigens eingerichtete und dazu verpflichtete externe Instanz, ein Erzwingungsstab also. Nun müßte jemand dem Schaffner als der amtlichen Sanktionsinstanz bedeuten, das das so aber doch nicht weitergehe und er etwas unternehmen müsse. Der Schaffner aber getraut sich mittlerweile auch kaum mehr, der grölenden Bande Einhalt zu gebieten. Dann müßte man mit der Dienstaufsicht drohen. Aber wer will denn schon so grob und so unsensibel sein!
Loyalität und Inertia Albert O. Hirschman hat in diesem Zusammenhang auf einen wichtigen Punkt aufmerksam gemacht: Je mehr jemand mit einer großen „Loyalität“ an einer bestimmten Ordnung hängt, um so eher wird er bereit sein, auch unter persönlichen Opfern darauf hinzuwirken, daß Verfallserscheinungen bald wieder korrigiert werden. Das Beispiel von Albert O. Hirschman scheint zunächst nicht viel mit sozialen Normen und Institutionen zu tun zu haben. Es geht um einen Kunden, der an einem bestimmten Produkt, einem „Lieblingsstück“, sehr hängt, und nun feststellen muß, daß die Qualität des Produktes in letzter Zeit sehr leidet. Er könnte leicht auf ein Substitut für das Produkt ausweichen, tut es aber nicht. Dabei gilt: Je stärker die Loyalität eines Kunden mit dem Produkt, um so eher reagiert er bei Qualitätsabfall des Produktes nicht mit der Abwanderung zu einem anderen Produkt, sondern mit Protest.7 Die Loyalität hat also die Wirkung einer Art von sozialer Kontrolle, die der enttäuschte Kunde auf den Produzenten ausübt. Die Loyalität ist offenkundig nichts anderes als der unbedingte „Anspruch“, den der Kunde mit dem Produkt verbindet. Leicht läßt sich der Gedanke auf die soziale Kontrolle einer sozialen Regel übertragen: Wenn einem Akteur viel an der betreffenden Ordnung liegt, dann ist es schon in seinem Interesse, auch über die Einhaltung der Ordnung zu wa7
Albert O. Hirschman, Abwanderung und Widerspruch. Reaktionen auf Leistungsabfall bei Unternehmungen, Organisationen und Staaten, Tübingen 1974 (zuerst: 1970) Kapitel 7 insbesondere; vgl. dazu auch schon die Kapitel 1 und 8 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
Sanktion und Sanktionierung
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chen. Auf diese Weise kann ein internalisiertes Interesse an der Ordnung auch zu einer verbesserten externen Sanktionierung zum Wohle aller führen: Liebe und Streit gehören zusammen. Bei toten Hosen fliegen keine Untertassen mehr (siehe dazu auch das Beispiel 7 in Kapitel 9 von Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Der Ökonom Harvey Leibenstein hat ein ähnliches Argument in einem anderen Zusammenhang entwickelt: Wenn das Management eines Betriebes nicht selbst genug motiviert ist, die Angestellten zur Leistungserhöhung zu motivieren, dann verfallen diese rasch in eine ihnen zwar ganz zuträgliche, dem Betrieb aber schadende inertia.8 Harvey Leibenstein macht aber gleichzeitig auf den bereits erwähnten wichtigen weiteren Punkt aufmerksam: Jede soziale Kontrolle ist auch aufwendig. Empörung ist teuer, ebenso wie ein Erzwingungsstab. Und es gibt bald einen Punkt, an dem nichts mehr an Effizienz gewonnen werden kann im Vergleich zum Aufwand an Kontrolle dafür. Ähnliches gilt für die Wirkung der Loyalität: Wenn aller Protest nichts bewirkt, dann ist es schließlich aus der Sicht des einzelnen, beileibe nicht für das Kollektiv insgesamt besser, sich um nichts mehr zu kümmern.
Sozialisation, soziale Kontrolle und soziales Kapital Aus alledem wird deutlich, daß eine funktionierende soziale Kontrolle, ebenso wie eine funktionierende Sozialisation, ein sehr wertvolles soziales Kapital, genauer: Systemkapital für eine Gruppe, darstellt, bei dem die Akteure meist gar nicht wissen, daß sie selbst es produzieren. Und wie auch bei den anderen Formen des Systemkapitals kann das Ausscheren auch nur eines Mitgliedes aus dem System der wechselseitigen Kontrolle und Regelbeachtung das Ende der institutionellen Ordnung bedeuten. Eine wirksame Kontrolle gibt es wegen dieser Risiken und Unwahrscheinlichkeiten daher tatsächlich auch meist nur unter zwei Bedingungen: erstens, bei relativ geringem Sanktionsaufwand und in funktionierenden Netzwerken von einander gut bekannten Personen. Notfalls helfen hier keifende NachbarInnen wie Else Kling etwas, die ihrem Ärger über den Sittenverfall Luft machen und darin ihre Lust finden. Aber auch denen geht die Luft manchmal aus, und sie können vor allem nicht überall sein. Daher werden, zweitens,
8
Harvey Leibenstein, Beyond Economic Man. A New Foundation for Microeconomics, Cambridge, Mass., und London 1976, Kapitel 5 insbesondere; vgl. dazu auch schon Abschnitt 8.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über das Konzept der X-Efficiency.
Institutionen
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die eigens eingerichteten, selbst institutionell geregelten und organisierten Sanktionsapparate des Staates und der Verwaltung so wichtig: Polizei, Gerichte oder Wohnaufsichtsbehörden, zum Beispiel. Deren Mitglieder haben die spezifische Aufgabe der sozialen Kontrolle. Dies ist ihre soziale Produktionsfunktion. Ihr primäres Zwischengut ist das Finden und die Bestrafung der Übeltäter. Und weil sie daran ein „institutionalisiertes“ Interesse haben, ist die Wirksamkeit der so formell geregelten sozialen Kontrolle auch von den Emotionen und den Nachlässigkeiten der darin tätigen Menschen weitgehend unabhängig. Die präzise Unerbittlichkeit dieser Art der formellen sozialen Kontrolle „ersetzt“ in den anonymer werdenden Sphären der modernen Gesellschaft die informellere Sanktionierung in der „Lebenswelt“ der Verwandtschaft und der Nachbarschaft. Aber vergessen wir nicht: Auch die kann ganz gnadenlos und unerbittlich sein.
Am Fall der sozialen Kontrolle wird noch einmal einer der wichtigsten Aspekte der sozialen Institutionen deutlich: Sie sorgen einerseits für die Bereitstellung von Kollektivgütern. Sie sind aber andererseits selbst immer auch ein Kollektivgut wenngleich nicht für alle Akteure gleichermaßen und nicht unter allen Umständen. Ihre Funktionen und fragilen Voraussetzungen geraten den Menschen daher oft leicht aus dem Blick. Und rasch ist etwas abgeschafft oder zerstört, was tatsächlich die Grundlage des bisherigen, ganz kommoden Lebens gewesen ist. Und das war so kommod, weil es auf einer Ordnung beruhte, deren Geltung fast nebenbei durch Aktivitäten erzeugt wurde, an denen die Akteure unmittelbares Interesse hatten und bei denen sie an Sanktionen nicht im Traume dachten.
Eine kurze Zusammenfassung: Normstrukturen und die Mechanismen der Normgeltung An dieser Stelle erscheint eine kurze Zusammenfassung nützlich, die sich an einer klärenden Übersicht bei Heinrich Popitz9 und an der Typologie normgenerierender sozialer Situationen aus Kapitel 4 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ orientiert (vgl. Abbildung 5.4). Soziale Normen sind wie die Institutionen allgemein soziale Regeln mit Geltungsanspruch. Sie sind von bloßen Regelmäßigkeiten zu unterscheiden. Regelmäßigkeiten des Handelns können rein individuell oder sozial geteilt sein. Soziale Regelmäßigkeiten, die nicht auch eine Regel bilden, sind bloße Gewohnhei-
9
Heinrich Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 34.
130
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verläßliche Überwindung der Dilemmasituationen. Interne und informelle Sanktionen und die Internalisierung von Normen durch die Sozialisation genügen, weil es letztlich wiederum im Interesse der Akteure ist, die Fallen der sozialen Dilemmata zu vermeiden. Konflikte können dagegen nur durch externe und formelle Sanktionen und nur durch eine wirksame soziale Kontrolle geordnet werden. Das Recht und der Staat sind die nötigen gesellschaftlichen Mechanismen zur Durchsetzung der repressiven Regeln durch Herrschaft. Letztlich stellt sich das Problem der Legitimität auch nur hier. In allen anderen Fällen legitimiert sich die jeweilige normative Ordnung schon über die Interessen, die die Akteure an ihrer Geltung haben. In Abbildung 5.5 sind diese Zuordnungen und Beziehungen noch einmal zusammengefaßt.
Typ der sozialen Norm konventionell
essentiell
repressiv
Struktur des Problems
Koordination
Dilemma
Konflikt
Verhältnis von Adressat und Nutznießer
konjunkt
konjunkt/ disjunkt
disjunkt
Mechanismus
Symbole
Moral
Herrschaft
Grundlage
Interesse/ Habit/ Praxis
Schatten der Zukunft/ Dependenz
Staat/Recht/ Legitimität der Herrschaft
Garantie
Interessenkonvergenz
Sanktion: intern/informell
Sanktion: extern/formell
Verständigung
Sozialisation
soziale Kontrolle
sozialer Prozeß
Abb. 5.5: Typen von Normen und Geltungsmechanismen
Sanktion und Sanktionierung
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Mit dieser Typologie bekommt man schon eine gewisse Ordnung in das Problem der sozialen Ordnung: Wann entsteht warum welcher Bedarf an Ordnung? Und was müßte geschehen, damit dieser Bedarf auch erfüllt wird? Leider wissen wir mit der Typologie und mit der Kenntnis der sozialen Mechanismen der Durchsetzung von Normen noch keineswegs, wie und warum Normen auch wirklich entstehen. Dem Grund dafür sind wir oben bereits des öfteren begegnet: Wenn es nicht gerade das leicht lösbare Problem der Koordination ist, dann ist die Einrichtung und Durchsetzung der Ordnung selbst wiederum ein essentielles oder sogar repressives! Ordnungsproblem. Und wie soll das gelöst werden? Die damit zusammenhängenden Fragen werden wir in Kapitel 10 unten in diesem Band wieder aufgreifen.
Kapitel 6
Abweichendes Verhalten
Wenn die Normen und die institutionellen Regeln das einzige wären, woran sich die Menschen bei ihrem Tun halten, dann wäre das Geschäft der Soziologie recht einfach. Es müßten „nur“ die normativen und die institutionellen Strukturen der Gesellschaft beschrieben werden. Dann wüßte man, was geschieht, und die Soziologie könnte bruchlos als eine Art von Normengeographie betrieben werden. Diese Auffassung ist in der Tat – im sog. normativen Paradigma des Strukturfunktionalismus1 – lange Zeit auch vertreten worden: Die normative Orientierung bestimme letztlich das gesamte Handeln. Die Akteure identifizieren danach nur noch die Situationen in ihrer Typik – und reagieren dann unmittelbar und bruchlos nach den Mustern der internalisierten Normen und der sicher zu erwartenden Sanktionen. „Abweichendes“ Verhalten ist aus dieser Sicht nur eine „anomische“ Pathologie, die zwar regelmäßig vorkomme, für die Gesellschaft sogar bestimmte positive Funktionen hätte, aber letztlich nur auf Mängel in der Institutionalisierung, in der Sozialisation und der sozialen Kontrolle, zurückzuführen wäre, prinzipiell jedoch zu beheben sei. Letztlich seien es nur die Normen und Institutionen, die den Kern der Gesellschaft und den alleinigen Rahmen des Handelns der Menschen ausmachten. Von den Normen abweichendes Verhalten hat aus dieser Sicht keinen systematischen und „legitimen“ Platz. Die Normenkonformität ist der zu erwartende Normalfall, die Abweichung davon die erklärungsbedürftige Anomalie.
Diese Sicht ist schon innerhalb des normativen Paradigmas kaum zu halten. Im nächsten Kapitel über die sozialen Rollen werden wir sehen, daß vielen Normen nur gefolgt werden kann, wenn gleichzeitig andere Normen verletzt werden (vgl. insbesondere Abschnitt 7.3 unten in diesem Band über die sog. Rollenkonflikte). Das ist besonders in komplexen Gesellschaften der Fall, die sich ja u.a. dadurch auszeichnen, daß sie ganz widersprüchliche Anforderungen an die Menschen stellen. Dort gilt geradezu das Umgekehrte: Die Abwei1
Vgl. dazu die Darstellung des sog. normativen Paradigmas bei: Thomas P. Wilson, Theorien der Interaktion und Modelle soziologischer Erklärung, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Band 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, Reinbek 1973, S. 56ff.; vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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Institutionen
chung von Normen ist der unvermeidliche Normalfall, die strikte Normenkonformität eine pathologische Absonderlichkeit. Stets gibt es außerdem neben den Normen und den damit verbundenen institutionellen Sanktionen immer auch noch die instrumentellen Reize. Kurz: Die Abweichung von einer Norm ist immer auch eine Frage des Preises für das entgangene Vergnügen an den Sachen, die wir in unserer moralischen Hochanständigkeit gerade nicht kriegen. Es kommt nur auf die Gewichtung an, wohin die Menschen dann tendieren.
Die Faktizität der Geltung Normen variieren daher alleine schon nach dem Grade ihrer faktischen Geltung. Drei Fälle sind zu unterscheiden: Die Norm wird entweder befolgt, sie wird gebrochen und sanktioniert oder aber sie wird gebrochen ohne Sanktionierung. In Anlehnung an Heinrich Popitz2 kann dann das Ausmaß des abweichenden Verhaltens in einem Kollektiv als die Summe des sanktionierten und des nicht sanktionierten Normbruchs verstanden werden (Abbildung 6.1). Die Verhaltensgeltung einer Norm ist der Anteil der Konformität an der Gesamtzahl der auf die Norm bezogenen Handlungen. Sanktionsgeltung hat eine Norm insoweit, als Normbrüche auch wirklich geahndet werden. Die nicht-sanktionierten Normbrüche umfassen alle Fälle, bei denen trotz Entdeckung auf Sanktionen verzichtet wird, alle nicht-aufgeklärten Normbrüche und die sog. Dunkelziffer, die Fälle also, bei denen die Abweichung und/oder der Täter unbekannt bleiben. Die Gesamtgeltung einer Norm umfaßt dann den Bereich des konformen Verhaltens und den der sanktionierten Normbrüche. Leicht wird erkennbar, daß die Gesamtgeltung einer nicht mehr durch das Verhalten gestützten Norm nur noch durch eine Erweiterung der Sanktionsgeltung erhalten werden kann. Und umgekehrt: Je mehr eine Norm schon durch das Verhalten gestützt wird, um so geringer muß das Ausmaß der Sanktionen sein, die nötig sind, um der Norm zur faktischen Geltung zu verhelfen.
2
Heinrich Popitz, Die normative Konstruktion von Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 34ff., 64ff.
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Abweichendes Verhalten
Verhaltensgeltung/ konformes Verhalten
Nicht-Verhaltensgeltung/ abweichendes Verhalten
sanktionierter Normbruch
Gesamtgeltung
nicht sanktionierter Normbruch (aus Sanktionsverzicht, Nicht-Aufklärung, Dunkelziffer Nichtgeltung
Abb. 6.1: Die faktische Geltung von Normen (nach Popitz 1980, S. 34ff., 64ff.)
Gründe der Abweichung Wenn Normen also keineswegs schon automatisch und lückenlos auch faktisch gelten, selbst wenn ihre „normative“ Geltung ungebrochen ist: Wovon hängt es ab, daß von ihnen abgewichen wird? Auf diese Frage waren wir schon früher gestoßen, beispielsweise bei der Besprechung der Wirkung von Sanktionen im Zusammenhang mit den Anreizen zu einer Normübertretung in Abschnitt 5.2 oben in diesem Band. Die Antwort läßt sich mit der WertErwartungstheorie als allgemeiner, auch die Normen und Sanktionen als Randbedingungen des Handelns umfassender, Theorie des Handelns relativ einfach geben: Wenn die Anreize zur Abweichung im Vergleich zu den Sanktionen hoch genug sind, dann werden Menschen von den normativen Vorgaben abweichen und das auch dann, wenn diese Vorgaben von seiten der Umgebung und von den Akteuren selbst auch mit starken Ansprüchen belegt sind. Alles ist eine Frage der Stärke der Versuchung. Dabei ist stets nach den beiden Komponenten der EU-Gewichte zu unterscheiden: die Erwartungen und die Bewertungen. Bei den Anreizen zur Abweichung müssen daher die Erfolgsaussichten und der mit der Abweichung verbundene Gewinn hoch genug sein. Die Erfolgsaussichten steigen mit der Vetrautheit mit gewissen Techniken – etwa des Aufschweißens von Tresoren oder der Steuerhinterziehung; die Gewinnaussichten mit der Höhe der
136
Institutionen
Beute, aber auch mit der Anerkennung im jeweiligen Milieu. Die internen Sanktionen betreffen die empfundene Legitimität der Norm und darüber dann die Identifikation mit der jeweiligen sozialen und kulturellen Welt, aus der heraus die Norm stammt. Diese Identifikation ist nicht überall hoch. Manchmal fehlt sie ganz. Und oft genug wird die betreffende Norm weder gekannt noch geteilt. Nicht jeder weiß, daß das Rechtsüberholen unter allen Umständen verboten ist. Und nicht überall werden Diebstahl oder Steuerbetrug oder eine nächtliche Spritztour mit einem geklauten Auto als schändlich bewertet. Manche Form der Gewalt gilt in manchen Sub- oder gar Gegenkulturen sogar als eigene Norm (vgl. dazu auch schon Abschnitt 3.2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Daher kann manche „Abweichung“ von einer über das Strafgesetzbuch formulierten Norm aus der Sicht des Akteurs gar nicht als Abweichung gewertet werden. Es ist vielmehr ein Verhalten in Konformität zu den Normen einer anderen Kultur. Für die externen Sanktionen gilt wiederum das, was schon für die Anreize zu sagen war: Die Akteure müssen wissen, daß sie drohen, und ihre Höhe muß ein gewisses Maß erreichen. Insbesondere das Risiko, entdeckt zu werden, ist ein wichtiger Faktor bei jeder „Überlegung“, ob sich ein Verbrechen lohnt oder nicht.
Letztlich ist also auch das von Normen abweichende Verhalten ein Verhalten wie jedes andere auch. Oder anders gesagt: Wenn man nicht nur wissen will, wie die normativen Strukturen einer Gesellschaft aussehen, sondern auch das Handeln der Menschen im Rahmen dieser Strukturen erklären will, dann müssen alle Bedingungen der Situation berücksichtigt werden. Dazu gehören ohne Zweifel die institutionellen Regeln, aber auch die sonstigen Opportunitäten des Handelns.
Kriminalität
Diese allgemeinen Überlegungen lassen sich wie die Beispiele schon zeigen unmittelbar auf die Erklärung des kriminellen Handelns übertragen. „Kriminell“ ist ein Handeln dann, wenn es gemäß den Regeln des Strafgesetzes als kriminell „definiert“ ist. Dazu muß der Akteur die Regeln nicht unbedingt auch kennen. Und es kommt auch vor, daß jemand als Krimineller „etikettiert“ wird, der unschuldig ist oder sich so verhalten hat wie viele andere auch, die aber nicht herausgegriffen wurden. Das alles ändert nichts an der Vorstellung, daß es Kriminalität wirklich gibt. Und daß es Täter gibt, die sich dabei auch durchaus etwas gedacht haben oder hätten denken können. Es ist die Vorstellung, wonach jemand deshalb kriminell wird, weil er aus gewissen Motiven, manchmal sogar aus „niedrigen Beweggründen“ heraus das Strafgesetz übertreten hat. Jeder Krimileser fragt wie Kommissar Derrick oder der Alte ganz spontan immer zuerst nach dem „Motiv“, wenn er an die Lösung eines Falles geht. Beispielsweise, daß der mutmaßliche Mörder hohe Schulden hatte und den Mord deshalb beging, um an Geld zu kommen, weil er bei seinen guten Bekannten gesehen hatte, daß dies ganz leicht funktioniert, und weil es keine andere Möglichkeit für ihn zu geben schien.
Abweichendes Verhalten
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Dieser Ansatz, der mit einer täterorientierten Kausalerklärung des kriminellen Handelns argumentiert, wird auch als ätiologischer Ansatz bezeichnet. Er umfaßte früher auch biologische, neurophysiologische, psychologische und psychoanalytische Erklärungen. Letztere werden heute nicht mehr ernstgenommen. Durchgesetzt haben sich verschiedene soziologische Erklärungsangebote des ätiologischen Ansatzes, die alle eng mit der Idee der Situationsgebundenheit des Handelns zusammenhängen: Kriminell werden Menschen beispielsweise, weil ihnen die legitimen Möglichkeiten verschlossen sind, sie aber gleichwohl wie alle anderen dem kulturellen Ziel nach materiellem Wohlstand anhängen; weil sie mit anderen Menschen Kontakt haben, die ihnen zeigen, wie beispielsweise ein Bankeinbruch geht oder eine Steuererklärung frisiert wird; oder weil sie in einer Umgebung leben, in der das, was anderswo als kriminell gilt, ganz normal und sogar normativ vorgeschrieben ist. Die Ansätze haben jeweils eine eigene Bezeichnung und einige zentrale Autoren: Die Anomietheorie von Robert K. Merton, die das abweichende Verhalten als eine Form der „Anpassung“ der Akteure an die vorgefundenen strukturellen Bedingungen erklären will, wonach ihnen zur Erreichung der allgemein geltenden kulturellen Ziele nur weniger übliche Mittel als die institutionalisierten offen stehen.3 Merton erklärt so die Unterschichtendevianz, besonders die der neu eingewanderten Migranten, die eigentlich nichts anderes wollen als die Einheimischen, aber die „legitimen Mittel“ dazu versperrt sehen (vgl. dazu auch schon Abschnitt 12.2 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Diese Theorie ist später durch Richard A. Cloward erweitert worden, der darauf hingewiesen hat, daß Kriminalität dann entsteht, wenn letztlich nur noch – wie sie sagen – illegitime Wege offen stehen, um das zu erreichen, was alle – legitimerweise – anstreben.4 Dann die Theorie der differentiellen Gelegenheiten nach Richard A. Cloward und Lloyd E. Ohlin, in der eigentlich nur das Sprichwort von der Gelegenheit, die erst die Diebe macht, einen soziologischen Ausdruck findet:5 Manche Menschen haben einfach keine Möglichkeit, Steuern zu hinterziehen, weil sie keine Steuern zahlen. Ganz ähnlich argumentiert die Theorie der differentiellen Kontakte bzw. des differentiellen Lernens nach Edwin H. Sutherland und nach Robert L. Burgess und Ronald. L. Akers.6 Menschen lernen danach von anderen – durch Zusehen und Mitmachen vor allem – gewisse Techniken, die man einfach braucht, um kriminell zu werden. Gerade dadurch eröffnen sich ihnen ganz andere Möglichkeiten der Problemlösung. Leider sind es keine rechtlich erlaubten. Gefängnisse sind die Hochschulen für die erforderliche Ausbildung. Es kommt ein wichtiger Gesichtspunkt hinzu: Die mutige Teilnahme und die professio-
3
4
5
6
Robert K. Merton, Social Structure and Anomie, in: Robert K. Merton, Social Theory and Social Structure, 11. Aufl., New York und London 1967, S. 131-160. Richard A. Cloward, Illegitimate Means, Anomie, and Deviant Behavior in: American Sociological Review, 24, 1959, S. 164-176. Richard A. Cloward und Lloyd E. Ohlin, Delinquency and Opportunity. A Theory of Delinquent Gangs, Glencoe, Ill., 1960. Robert L. Burgess und Ronald L. Akers, A Differential Association-Reinforcement Theory of Criminal Behavior, in: Social Problems, 14, 1966, S. 128-147; Edwin H. Sutherland, A Sociological Theory of Criminal Behavior, in: Albert K. Cohen, Alfred Lindesmith und Karl Schuessler (Hrsg.), The Sutherland Papers, Bloomington, Ind., 1956, S. 30-41.
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Institutionen
nelle Ausführung einer kriminellen Aktion gelten in bestimmten sozialen Gruppen oder Milieus als ein begehrtes primäres Zwischengut, über das vor allem – und oft: ausschließlich – soziale Wertschätzung bezogen werden kann. Straßengangs sind kleine Gesellschaften, in denen um die Positionsgüter Mut, Männlichkeit und kriminelle Professionalität ein unerbittlicher Wettlauf stattfindet. Dies führt unmittelbar zur Subkulturtheorie nach J. Milton Yinger, nach Walter B. Miller oder nach Marvin E. Wolfgang und F. Ferracutti:7 Gruppen entwickeln – vor dem Hintergrund der Alltagsprobleme und Relevanzstrukturen – ganz typische Normen- und Wertsysteme. Und die weichen oft von den „offiziellen“ Werten und Normen der Gesellschaft des „Bürgerlichen“ Gesetzbuches und der Strafgesetze ab. „Abweichend“ ist das Verhalten nur in bezug auf jene Bestimmungen der offiziellen Normen. Tatsächlich ist es ein höchst konformes Handeln im Einklang mit den jeweils geltenden Gruppennormen. Und wenn die Gruppe für einen Akteur der einzige Ort des Lebens und der sozialen Wertschätzung ist, dann rücken die Normen der Normalgesellschaft in weite Ferne. Viele scheinbar ganz irrationale Vorgänge können durch den Wettlauf um die Normenkonformität in einer solchen Subkultur erklärt werden: Drogenkonsum, heilige Kriege, linker Terrorismus und rechte Schlägerorgien, zum Beispiel (vgl. dazu schon Abschnitt 3.2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Alles dies sind Varianten des ätiologisch orientierten Ansatzes. Leicht wird erkennbar, daß es handlungstheoretische Erklärungen des abweichenden Verhaltens sind. Sie stellen sich den Täter als jemanden vor, der sich in einer bestimmten problematischen Situation befindet, mit einer ins Auge gefaßten als „kriminell“ irgendwo deklarierten Handlung bestimmte Ziele verfolgt und dabei seine verschiedenen Möglichkeiten des Handelns und die Erwartungen seiner Bezugsumgebung berücksichtigt.
Der Labelling Approach
Die Kriminalität wird in der Soziologie indessen keineswegs nur über den täterorientierten Ansatz erklärt. Die Alternative ist etwas einfach gesagt die Hypothese, daß im Grunde alle einmal „kriminelle“ Dinge tun, daß aber nur ganz bestimmte Gruppen herausgegriffen und von Polizei, Justiz und Strafvollzug als kriminell „etikettiert“ und zu einer kriminellen „Karriere“ geradezu buchstäblich verurteilt werden. Diese Erklärung ist jedoch keine wirkliche Alternative zum ätiologischen Ansatz, sondern eine ganz andere Geschichte. Wir gehen auf diesen sog. Labelling Approach in Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ noch in einem kurzen Exkurs gesondert ein, weil die Etikettierung vor allem etwas mit der „Rahmung“ einer Situation zu tun hat.
7
Walter B. Miller, Lower Class Culture as a Generating Milieu of Gang Delinquency, in: The Journal of Social Issues, 14, 1958, S. 5-19; J. Milton Yinger, Contraculture and Subculture, in: American Sociological Review, 25, 1960, S. 625-635.
Abweichendes Verhalten
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Der Reasoning Criminal
Die „täter“-orientierten Ansätze zur Erklärung von kriminellem Verhalten gehen davon aus, daß die Menschen ihre guten Gründe auch für das abweichende Verhalten haben. Das heißt: daß sie für ihr Handeln subjektiv verständliche, nachgerade: rationale, Motive haben können und eine Biographie besitzen, die diese kriminellen Motive erklärt, und daß sie oft genug auch in Rechnung stellen, was ihnen blüht, wenn sie erwischt werden und wie groß das Risiko dafür ist. Das gilt selbst für so affektuell geprägte Taten wie den Mord aus Eifersucht: Wer sehr viel zu verlieren hat, wird nicht so rasch die Nerven verlieren als derjenige, bei dem es auf ein paar Jahre nicht so sehr ankommt. Auch die Kontrolle von Affekten hat etwas mit den Kosten der evtl. Folgen zu tun. Kurz: Auch das abweichende bzw. das kriminelle Verhalten sind Formen des „rationalen“ Handelns:8 Immer hängt es vom Wert der Alternativen und von der Kontrolle der Möglichkeiten ab, was die Täter tun ob sie normenkonform handeln oder den Versuchungen der Gesetzesübertretung nachgeben, ist eine Frage der Nutzenerwartung der jeweiligen Alternativen. Menschen sind eben keine Deppen. Schon gar nicht dann, wenn sie von Normen abweichen, die sie nicht kennen, nicht für legitim halten, nicht erfüllen können oder zu denen sie attraktive Alternativen sehen.
8
Dies ist die Grundhypothese vom reasoning criminal. Vgl. Gary S. Becker, Crime and Punishment: An Economic Approach, in: The Journal of Political Economy, 76, 1968, S. 169-217; Derek B. Cornish und Ronald V. Clarke, The Reasoning Criminal. Rational Choice Perspectives on Offending, New York u.a. 1986; Karl-Dieter Opp, The Economics of Crime and the Sociology of Deviant Behaviour. A Theoretical Confrontation of Basic Propositions, in: Kyklos, 42, 1989, S. 405-430; George Tsebelis, Penalty Has No Impact on Crime: A Game-Theoretic Analysis, in: Rationality and Society, 2, 1990, S. 255-286.
Kapitel 7
Soziale Rollen
Soziale Rollen sind an soziale Positionen geknüpfte sanktionierbare Erwartungen. Sie sind damit ein Spezialfall der Institutionen und der sozialen Normen. Die hervorstechende Besonderheit der sozialen Rollen ist es, daß sie die Beziehungen zwischen Akteuren als eine ganz spezielle soziale Beziehung strukturieren, so wie das Konzept der „sozialen Beziehung“ bei Max Weber definiert ist (vgl. dazu insbesondere schon Kapitel 9 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): als Muster von gegenseitig aufeinander eingestellten Erwartungen und Orientierungen. Bei den sozialen Rollen kommt die eingangs benannte Besonderheit als typisches Merkmal hinzu: Die Erwartungen und Orientierungen ergeben sich aus der Organisation eines Kollektivs in unterscheidbare und typische Positionen (siehe dazu auch noch Kapitel 9, „Organisation“, unten in diesem Band). Und daran knüpfen sich dann typische Muster des Handelns, des Fühlens und der Identifikation zwischen den Akteuren ganz egal, welche sonstigen Eigenschaften die Akteure haben. Kaum ein Konzept spiegelt die Grundidee der Soziologie als Wissenschaft von den Strukturen der Gesellschaft und den soziologischen Tatbeständen besser wieder als das der sozialen Rolle. Zeitweise sah es sogar so aus, als würde die Soziologie aus nichts anderem bestehen als aus Rollentheorie und Rollenanalyse.1 Und dies war auch nicht unverständlich: Das Rollenkonzept 1
Vgl. zum klassischen Verständnis des Konzepts der Rolle, aber auch für die vielen – zum Teil auch: ideologiekritischen – Differenzierungen, die in der praktischen Ausarbeitung und Anwendung vorgenommen wurden, u.a. verschiedene Aufsätze in Bruce J. Biddle und Edwin J. Thomas (Hrsg.), Role Theory: Concepts and Research, London, New York und Sydney 1966. Weiterhin: Dieter Claessens, Rolle und Macht, 3. Aufl., München 1974; Hans Peter Dreitzel, Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens, Stuttgart 1972; Uta Gerhardt, Rollenanalyse als kritische Soziologie. Ein konzeptueller Rahmen zur empirischen und methodologischen Begründung einer Theorie der Vergesellschaftung, Neuwied und Berlin 1971; Heinrich Popitz, Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, Tübingen 1967; Günter Wiswede, Rollentheorie, Stuttgart u.a. 1977.
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ist die Umsetzung der Idee des soziologischen Tatbestandes in die konkreten Regeln der Organisation des alltäglichen Lebens, ihrer ordnenden Wirkungen wie ihres Konfliktpotentials. Nirgendwo ist wohl deutlicher ausgesprochen worden, was mit dem Konzept der sozialen Rolle letztlich gemeint ist, als bei Emile Durkheim gleich am Anfang des ersten Kapitels seiner „Regeln“: „Wenn ich meine Pflichten als Bruder, Gatte oder Bürger erfülle ... , so gehorche ich damit Pflichten, die außerhalb meiner Person und der Sphäre meines Willens im Recht und in der Sitte begründet sind. Selbst wenn sie mit meinen persönlichen Gefühlen im Einklange stehen und ich ihre Wirklichkeit im Innersten empfinde, so ist diese doch etwas Objektives. Denn nicht ich habe diese Pflichten geschaffen, ich habe sie vielmehr im Wege der Erziehung übernommen. Wie oft kommt es vor, daß über die Einzelheiten der auferlegten Verpflichtungen Unklarheit herrscht, und sich, um sie voll zu erfassen, die Notwendigkeit ergibt, das Gesetz und seine berufenen Interpreten zu Rate zu ziehen.“2
Also: Die Positionen des Bruders, des Gatten oder des Bürgers sind mit bestimmten „Pflichten“ verbunden mit Sanktionen bewehrten, verbindlichen Erwartungen somit. Diese Pflichten unterliegen nicht der Kontrolle des einzelnen Akteurs. Er hat sie übernommen im Prozeß der Sozialisation. Und er wird gegebenenfalls und zur Not an ihre objektive Geltung erinnert: über den Mechanismus der sozialen Kontrolle, der für die Beachtung von Sitte, Gesetz und Recht sorgt. Warum das Konzept der sozialen Rolle für die Soziologie so wichtig wurde, läßt sich auch leicht vorstellen: Es sorgt für eine feste und strukturierte Verbindung zwischen der sozialen Situation in Gestalt der Positionen , den Erwartungen der Akteure über bestimmte Konsequenzen und darüber dann mit dem konkreten Handeln. Hiermit kann sich dann die soziologische Analyse von der Beachtung der stets schwankenden Motive der Individuen auf die normativen und durch Sanktionen abgesicherten Strukturen der Gesellschaft verlagern. Die sozialen Rollen sind so die zentrale Instanz der Vermittlung zwischen der Gesamtheit einer „Gesellschaft“ und dem konkreten Handeln der „Individuen“. Sie sind damit ein Grundbaustein jeder soziologischen Analyse, gerade auch der Logik der Situation und deren systematischer Folgen (vgl. dazu auch Abschnitt 10.3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die Soziologie konnte sich mit Hilfe dieses Konzeptes als eine eigenständige Wissenschaft etablieren: die Wissenschaft von der Beschreibung und Erklärung der grundlegenden Positionen und normativen Erwartungen einer Gesellschaft, von deren Entstehen und ihrem Wandel in deutlicher Unterscheidung vom Psychologismus der Psychologie und der nur mit utilitaristischen Konzepten arbeitenden Ökonomie. 2
Emile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode. Herausgegeben und eingeleitet von René König, 5. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1976 (zuerst: 1895), S. 105; Hervorhebungen nicht im Original.
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Position und Rolle
Das Konzept der sozialen Rolle beruht auf einer sehr einfachen Überlegung: Die Gesellschaft ist eine Art von gigantischer, arbeitsteiliger Organisation, in der eine bestimmte Anzahl typischer Funktionen auszuüben sind. Für jede dieser Funktionen wurde vom Begründer der Organisation oder evolutionär durch die Alltagspraxis ein „Platz“ geschaffen, für den die jeweils funktional zugewiesenen Aufgaben als Erwartungen an denjenigen, der den Platz übernähme, mehr oder weniger genau und verbindlich festgelegt wurden. Und wenn alle Akteure auf den verschiedenen Positionen die Erwartungen der Gesellschaft auch hübsch erfüllen, dann blüht die Organisation der Gesellschaft, und alle sind zufrieden.
Ein Beispiel: Drahtzieher und Anspitzer Ein kleines Beispiel mag erläutern, was gemeint ist. Es handelt von einer Nadelfabrik. Nicht ganz zufällig orientiert es sich an der Erläuterung des Prinzips der Arbeitsteilung durch Adam Smith.3 Die Aufteilung der verschiedenen Schritte der Nadelproduktion in – nach Adam Smith: achtzehn – verschiedene Aufgaben orientiert sich an den damit verbundenen Effizienzgewinnen, letztlich also an dem Oberziel der Fabrik bzw. ihres Eigentümers: Möglichst viel Geld zu verdienen. Vor diesem Hintergrund sind dann auch die Aufgaben, die „Funktionen“ der einzelnen Positionen, festgelegt. So „muß“ in einer Nadelfabrik – soll sie gewinnbringend arbeiten – u.a. Draht gezogen, geschnitten, angespitzt, mit einem Kopf versehen und poliert werden. Die Rohstoffe müssen eingekauft, das Personal betreut und entlohnt, der Absatz organisiert und gefördert, sowie das ganze Unternehmen auch geleitet werden. Es gäbe folglich je eine Stelle des Drahtziehers, des Drahtschneiders, des Anspitzers, des Personalchefs, des Verkaufsleiters usw. Jede dieser Stellen und ihrer Aufgaben kann man genauer und mehr oder weniger formell beschreiben. In der Aufgabenbeschreibung stünden die an der Aufgabe jeweils ausgerichteten Erwartungen, die an denjenigen gerichtet werden, der die Position einnimmt, für das Unternehmen tätig werden und dafür – natürlich – entlohnt werden will. Dann könnten die verschiedenen Stellen ausgeschrieben werden, auf die sich konkrete Menschen bewerben könnten. Von den schließlich eingestellten Bewerbern würde von der Organisationsleitung bzw. von den bereits tätigen Mitarbeitern ganz selbstverständlich erwartet, daß sie sich an die Aufgabenbeschreibung auch halten. Anfangs müßten die Bewerber sicher auch angelernt werden. Mit der Zeit würden sie aber ihre Aufgaben immer besser beherrschen und – vielleicht – zunehmend auch selbst Spaß und – so wäre aus der Sicht der Geschäftsleitung zu hoffen – eine Art von innerer Verpflichtung an der Aufgabenerfüllung selbst finden. Manche Bewerber, zum Beispiel solche, die immer schon gerne einmal im Leben Drahtzieher werden wollten, haben sich schon vorher mit ihren Aufgaben vertraut gemacht und vorausgreifend verinnerlicht, was sie jetzt auch formell tun sollen. Sie haben sich einer, wie es heißt, 3
Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Oxford 1976, S. 14ff. Vgl. dazu auch noch Abschnitt 9.2 unten in diesem Band.
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antizipatorischen Sozialisation unterzogen. Abweichungen des Handelns von der Aufgabenbeschreibung der Stelle würden wahrscheinlich rasch auf Widerstand stoßen – bei den davon betroffenen Kollegen zuerst, später auch bei der Firmenleitung. Allein das Wissen darum sorgt aber schon dafür, daß es zu solchen Abweichungen nur recht selten kommt. Bei einem hohen Pflichtgefühl für die Aufgabe – oder den KollegInnen gegenüber – hätte der potentielle Abweichler ohnehin ein schlechtes Gewissen – und verhält sich allein deshalb aufgabenkonform. Manchmal wären aber solche Abweichungen unvermeidlich – zum Beispiel, wenn der Drahtzieher ein neues Verfahren gefunden hätte, das mit der bisherigen Aufgabenbeschreibung nicht zu vereinbaren ist, obwohl es für die Erfüllung der „Funktion“ der Position besser geeignet ist. Abweichungen von der Stellenbeschreibung muß es auch dann geben, wenn sich herausstellt, daß der Stellenplan Lücken und Überschneidungen enthält, die die Mitarbeiter durch eigene Initiative und Kreativität ausfüllen müssen, und eben nicht: bloß Dienst nach Vorschrift machen. Viele Tätigkeiten sind außerdem schon innerhalb des Rahmens der offiziellen Stellenbeschreibung gar nicht vollständig festgelegt. Dann muß der Stelleninhaber seine Aufgabe selbst interpretieren und kreativ im Sinne der Funktion handeln. In gut funktionierenden Organisationen entwickeln die Mitarbeiter auf den verschiedenen Stellen oft einen eigenen Stolz auf ihre Aufgabe und gelegentlich auch eine besondere Identifikation mit dem Betrieb. Zwang muß dann nur selten ausgeübt werden. In Zweifelsfällen, besonders aber bei Kompetenzstreitigkeiten und bei Auseinandersetzungen über den Grad der Pflichterfüllung, muß man in die – meist vor langer Zeit einmal verfaßte und fast vergessene – Liste der Stellenbeschreibungen, in die „Verfassung“ des Betriebes, sehen, um zu wissen, was genau auf der Position erwartet wird. In Großbetrieben gibt es dafür oft eine eigene Rechtsabteilung.
Auf eine ganze Gesellschaft übertragen hieße dies: Es gibt auch dort wohldefinierte Funktionen und dafür vorgesehene typische Plätze, die Positionen zur Erfüllung dieser Funktionen. An diese Plätze der Gesellschaft sind formelle und informelle Erwartungen über das der Position entsprechende Handeln geknüpft. Beispielsweise die Funktionen der Bestimmung der Richtlinien der Politik, der Koordination des Flugverkehrs oder der Entsorgung von Abfall mit den entsprechenden gesellschaftlichen Positionen: Bundeskanzler, Fluglotsen oder Müllwerker. Von einem Bundeskanzler, einem Fluglotsen und einem Müllwerker werden auch ganz bestimmte Dinge in ihrer jeweiligen Position und Funktion erwartet (vgl. dazu auch den Abschnitt 3.1 über die „Funktionale Differenzierung“ und das Kapitel 5 über „Inklusion und Exklusion“ in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Diese an funktional definierte Positionen gerichteten Erwartungen machen die soziale Rolle der jeweiligen Position aus. Es sind die Rechte und Pflichten von Bundeskanzler, Fluglotsen und Müllwerker aus dem Beispiel gerade eben. Die Rollenerwartungen sind spezielle Formen sozialer Normen bzw. Institutionen und daher mit Ansprüchen versehen, von Sanktionen umgeben und mit Geltung ausgestattet. Und wenn sich die konkrete Person, die die jeweilige Position besetzt hält, sich nicht an die normativen Erwartungen der jeweiligen sozialen Rolle hält, dann setzt es etwas sinkende Popularität und Abwahl, Einkommensminderung, Versetzung oder gar Entlassung und „Exklusion“, zum Beispiel.
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7.1.1 Positionen Der Ausgangspunkt des Rollenkonzeptes ist eine strukturelle Vorgabe: die in einer Gesellschaft oder einer ihrer Untereinheiten zu erfüllenden Funktionen. Für die Bedienung der „gesellschaftlich relevanten“ Funktionen werden dann auch eigene „Plätze“ geschaffen oder entstehen auf andere Weise, etwa durch Vereinbarung oder evolutionär durch Versuch, Irrtum, Erfolg und Gewöhnung daran, daß dieser Platz schon wichtig ist: zum Beispiel die des Schiedsrichters, um die Streitigkeiten zwischen Fußballmannschaften zu beenden. Die verschiedenen, funktional festgelegten Plätze in den diversen funktionalen Sphären einer Gesellschaft oder einer ihrer Untereinheiten werden als Positionen bezeichnet.
Platzhalter Die Positionen sind also funktional definierte Leerstellen, die immer erst noch mit konkreten, lebendigen Menschen ausgefüllt werden müssen. Die lebendigen Akteure sind damit nichts als auswechselbare Platz-Halter in einem System von Positionen: lieu-tenants. Und daher: Die Personen können kommen und gehen, die Positionen aber bleiben bestehen. Es ist der Unterschied zwischen den Akteuren einerseits und den sozialen (Funktions-)Systemen andererseits, der hier zum Ausdruck kommt.
Ascription and Achievement In die Positionen werden die konkreten Akteure in einem eigenen Vorgang der „Inklusion“ eingewiesen: durch formelle Anstellung, durch Usurpation oder durch Geburt, zum Beispiel. Zwei Arten der Plazierung von Menschen auf gesellschaftliche Positionen werden üblicherweise unterschieden: erstens eine Positionsübernahme, gegen die die Akteure praktisch nichts unternehmen können oder wollen. Es handelt sich dabei um Positionen, die mit Eigenschaften verbunden sind, die der Akteur nicht aufgeben kann und bereits „von Geburt“ an besitzt. Das wäre etwa der Fall bei der Zuweisung von Geschlechtsoder Alterspositionen, nach Stand und nach Familie, nach rassischer oder ethnischer Zugehörigkeit. Diese Art wird auch als askriptive („ascribed“) Positionsübernahme bezeichnet. Sie ist zu unterscheiden von der Positionsübernahme nach Leistung („achieved“). Hierzu zählen alle Vorgänge der Positionszuweisung, bei denen
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sich der Akteur die Positionseinnahme durch eigenes Dazutun „verdient“ hat: Familienvater, Prorektor für Lehre oder Bundeskanzler, zum Beispiel. Gesellschaften, in denen die Plazierung in Positionen eher nach Leistung als nach Geburt geschieht, werden auch als meritokratische Gesellschaften bezeichnet (vgl. dazu auch schon Abschnitt 4.5 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Manchmal ist nicht leicht zu entscheiden, ob die eine oder die andere Form der Positionszuweisung vorliegt: bei der Religion oder der ethnischen Zugehörigkeit, zum Beispiel, in die man meist hineingeboren wird, die man aber durchaus wechseln kann, jedoch nur in relativ seltenen Fällen und stets wohl unter starken Gewissensbissen und Widerständen von außen. Solche Positionen könnten als quasi-askriptiv bezeichnet werden. Die Beherrschung einer „Mutter“-Sprache gehört wie ganz generell die Verfügung über kulturelles Kapital wohl auch dazu.
Positionssatz, Personensatz und Status-Komplemente Manche Personen besetzen nur ganz wenige Positionen, andere sind rollentheoretische Multifunktionäre. Die Gesamtheit der Positionen, die ein einzelner konkreter Akteur besetzt, wird auch als sein Positionssatz bezeichnet. Robert K. Merton spricht in einem inzwischen schon klassisch gewordenen Artikel von „ ... den verschiedenen sozialen Positionen ... , die ein und dieselbe Person – oft in verschiedenen institutionellen Sphären – einnehmen kann; man denke etwa an die Positionen Arzt, Ehemann, Vater, Professor, Presbyter, Mitglied der konservativen Partei und Hauptmann beim Heer.“4
Der Positionssatz kann entsprechend der Reichweite, mit der der Akteur in eine Gesellschaft integriert ist, mehr oder weniger umfangreich, komplex und daher auch widersprüchlich sein. Die Strukturen des Positionssatzes bestimmen sehr, was der Akteur tun, mit wem er Umgang haben und wie er sich fühlen kann. Der Positionssatz ist eine Art von Grundausstattung für die Gestaltung seines Lebens. Durch ihn sind die Möglichkeiten und die Begrenzungen für die individuelle Nutzenproduktion strukturell definiert.
4
Robert K. Merton, Der Rollen-Set: Probleme der soziologischen Theorie, in: Heinz Hartmann (Hrsg.), Moderne amerikanische Soziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1973 (zuerst: 1957), S. 322; Hervorhebungen nicht im Original (zuerst: The Role-Set: Problems in Sociological Theory, in: The British Journal of Sociology, 8, 1957, S. 106-120).
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Die Menge der Akteure, mit denen jemand aufgrund seines Positionssatzes dann strukturell verbunden ist, wird auch Personensatz genannt. Es handelt sich wenn man so will um den feasible set der überhaupt möglichen und wahrscheinlichen Beziehungen zu typischen anderen Akteuren in seiner Umgebung. Peter M. Blau hat für das Konzept des Personensatzes eine andere Bezeichnung eingeführt. Er nennt den Satz der mit einer Position bzw. mit einem Positionssatz verbundenen Typen von anderen Akteuren Status-Komplemente.5 Väter mit Kindern haben – beispielsweise – aus strukturellen Gründen eher Beziehungen zu Kindern, die seine eigenen als Freunde mit nach Hause bringen, als ein Single oder ein kinderloser verheirateter Mann. Oder Professoren, die sich die Position des Cosmopolitan ausgesucht haben, begegnen aus strukturellen Gründen viel eher Stewardessen als die daheim bleibenden Locals, die ihren örtlichen Platz nur verlassen, um sich nach Südfrankreich in die Ferien zum vin de pays und zu l’amour toujours zu begeben.
Positionssätze und Personensätze bzw. Status-Komplemente können als objektiv vorgegebene Gelegenheitsstrukturen aufgefaßt werden, aus denen sich die Wahrscheinlichkeit systematisch steuert, daß die Menschen bestimmte andere Menschen überhaupt kennenlernen und mit ihnen Beziehungen aufnehmen können. Dies ist unter anderem der Grund dafür, warum sich manche Berufe eher als Heiratsmärkte oder als Informationsbörsen eignen als andere.
7.1.2 Rollenerwartungen Soziale Rollen sind normierte Erwartungen an bestimmte Positionen. Viel Mühe hat die Soziologie darauf verwendet, den Unterschied zwischen Rolle und Position deutlich zu machen. Und immer noch macht diese Unterscheidung manchmal etwas Kopfzerbrechen.
Ralph Linton: Status und Rolle Schuld an der Verwirrung war der Erfinder des Rollenbegriffs, der Kulturanthropologe Ralph Linton. Er unterschied zwischen Status und Rolle. Sehen wir uns die irritierende Stelle einmal selbst an: Ralph Linton schreibt zu Beginn des Kapitels VIII über „Status and Role“ in seinem Buch „The Study of Man“:
5
Peter M. Blau, Structural Constraints of Status Complements, in: Lewis A. Coser (Hrsg.), The Idea of Social Structure. Papers in Honor of Robert K. Merton, New York u.a. 1975, S. 120ff.
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„A status, in the abstract, is a position in a particular pattern. It is thus quite correct to speak of each individual as having many statuses, since each individual participates in the expression of a number of patterns. However, unless the term is qualified in some way, the status of any individual means the sum total of all the statuses which he occupies. It represents his position with relation to the total society. Thus the status of Mr. Jones as a member of his community derives from a combination of all the statuses which he holds as a citizen, as an attorney, as a Mason, as a Methodist, as Mrs. Jones’s husband, and so on.“6
Bis hierher sieht es so aus, als meinte Ralph Linton das, was man normalerweise mit dem Prestige meint, das eine Person aufgrund der verschiedenen Positionen besitzt, die sie einnimmt: ihren „gesellschaftlichen Status“ eben. Davon war aber bisher nicht die Rede. Und es war auch nicht nötig, darauf einzugehen, weil die „Position“ in einem arbeitsteiligen Betrieb zunächst einmal nur funktional von ihrer Aufgabe her gemeint ist. Dann fährt Linton so fort: „A status, as distinct from the individual who may occupy it, is simply a collection of rights and duties.“ (Ebd.)
Der „Status“ ist also deutlich zu unterscheiden von dem konkreten Akteur, der ihn bekleidet. Nun aber nennt Linton „Rechte und Pflichten“ als Definition des Status. Das aber sind wiederum nichts anderes als die sanktionierbaren Erwartungen, die an eine funktional definierte Position gebunden sind. Und die genau wird als „Rolle“ bezeichnet. Für Ralph Linton ist die „Rolle“ dagegen wieder etwas anderes: „A role represents the dynamic aspect of a status. ... . When he puts the rights and duties which constitute the status into effect, he is performing a role.“ (Ebd., S. 114; Hervorhebungen so nicht im Original)
Die „Rolle“ ist also für Linton die Ausübung der Rechte und Pflichten, die mit dem „Status“ verbunden sind. Es ist das Rollenhandeln, das natürlich den Erwartungen an eine Position mehr oder weniger entsprechen kann oder nicht (vgl. dazu noch Abschnitt 7.6 unten in diesem Band). Der Unterschied zur hier vorgeschlagenen und üblichen Begrifflichkeit ist also leicht aufgeklärt: Linton vermischt in dem Begriff des „Status“ den funktionalen Aspekt einer Position mit den daran geknüpften sanktionierbaren Erwartungen der Rolle. Und er nennt das dann „Rolle“, was davon noch einmal zu unterscheiden ist: das, was die Menschen dann tatsächlich auf der Position in Erfüllung ihrer Rolle tun.
6
Ralph Linton, The Study of Man. An Introduction, New York u.a. 1936, S. 113; Hervorhebungen im Original.
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Abgesehen von diesen Verwirrnissen hat Linton aber ein hübsches und vielzitiertes Bild benutzt, um das prekäre Verhältnis zwischen den fest definierten Strukturen einer Position (bzw. dem „status“ in Lintons Sprache) und dem Rollen-Handeln, der Ausübung der Rolle durch die konkrete Person also (der „role“ bei Linton), zu illustrieren: „The relation between any individual and any status he holds is somewhat like that between the driver of an automobile and the driver’s place in the machine. The driver’s seat with its steering wheel, accelerator, and other controls is a constant with ever-present potentialities for action and control, while the driver may be any member of the family and may exercise these potentialities very well or very badly.“ (Ebd., S. 113)
Genau so ist es: Die Positionen bieten ein festes Potential von Möglichkeiten und Begrenzungen. Aber es liegt immer an den konkreten Akteuren, was sie damit anfangen.
Rollensatz Ralph Linton war noch davon ausgegangen, daß zu jeder sozialen Position in seiner Sprache: zu jedem Status stets nur eine Rolle, ein Satz an typischen Erwartungen gehöre. Wenn man aber genauer hinsieht, sind auch unter den einfachsten Bedingungen die verschiedenen Positionen nicht immer nur mit einer einzigen Aufgabe verbunden. Bundeskanzler, Fluglotsen, Müllwerker und Professoren haben im Rahmen ihrer „Stellenbeschreibung“ sehr verschiedene Dinge zu tun. Robert K. Merton hat zur Kennzeichnung der Vielfalt der Anforderungen an einen Rollen-Träger den Begriff des Rollensatzes role set eingeführt (Merton 1973, S. 322). Unter einem Rollensatz wird dann der Satz an Einzelrollen verstanden, die mit einer bestimmten Position systematisch verbunden sind und deren Erfüllung insgesamt von demjenigen erwartet wird, der die betreffende Position bekleidet. Rollensätze können, wie die Positionssätze, sehr unterschiedlich in Umfang und Komplexität sein. Und bei sehr umfangreichen und komplexen Rollensätzen droht schon für die richtige Erfüllung auch nur einer Position, daß dies vielleicht nicht geht.
Rollenelemente Die einzelnen Rollen bestehen ihrerseits wieder aus unterschiedlich zahlreichen und komplexen Einzelelementen. Diese werden auch als Rollenelemente (oder Rollensegmente) bezeichnet.
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Beispielsweise: Die Position des Hochschullehrers definiert über ihre Funktion im System einer Universität in ihrem Kern die Rolle, die er an der Hochschule als Professor unmittelbar spielen muß. Dazu kommen – wennzwar nicht unbedingt zwingend – fallweise weitere Rollen, die damit in Verbindung stehen: Herausgeber einer Fachzeitschrift, Mitglied in diversen Beiräten und Kuratorien, manchmal wird er den Dekan spielen, eventuell gar Rektor seiner Universität sein sollen. Dies wäre der durchaus variable, aber mögliche Rollensatz der Position eines Professors. In der einen zentralen Rolle des Hochschullehrers wird dann im einzelnen noch erwartet, daß er Forschung, Lehre und die Verwaltung seines Lehrstuhls gleichermaßen ernstnimmt. Dies sind die Rollenelemente der Rolle des Hochschullehrers im engeren Sinne. Und zu den anderen Rollen seines Rollensatzes in der Position des Professors gibt es auch immer jeweils eine Reihe von Rollenelementen bzw. Rollensegmenten: die Beziehung zum Herausgeber, zum Beirat und Kurator, zum Dekan, zum Rektor – und so weiter.
Was man bei einer Position zum Rollensatz und was zu den Rollenelementen zählt, ist letztlich eine Frage des Geschmacks. Einfacher wäre es ohne Zweifel, zu jeder Position nur genau eine Rolle zuzuordnen und die interne Differenzierung der Erwartungen dann ausschließlich als Rollenelemente zu interpretieren. Dann gäbe es keinen Rollensatz, sondern einen „Rollenelementesatz“. Weil das aber ein so umständliches Wort ist, hat sich für die gemeinte Angelegenheit die verschiedenen Anforderungen, die bereits an eine Position geknüpft sind der einfache Ausdruck vom Rollensatz durchgesetzt.
Zentrale und periphere Rollenelemente Die verschiedenen Rollenelemente einer Rolle können danach unterteilt werden, ob sie für die mit der Position verbundenen Funktionen unmittelbar bedeutsam sind oder nicht. Etwa: die Erwartung, daß Professoren gute Lehre oder exzellente Forschung abliefern, gegenüber der, daß sie zerstreut sind, in Heidelberg wohnen oder eine etwas frustrierte, aber ergebene Gattin haben. Sind die Rollenelemente für die Erfüllung der „eigentlichen“ Aufgabe unmittelbar bedeutsam, dann werden sie als zentrale, sind sie es nicht, als periphere Rollenelemente bezeichnet. Die Unterscheidung suggeriert, daß die peripheren Rollenelemente auch wirklich nur peripher seien. Manchmal sind sie das auch. Dann nämlich, wenn sie die Korrelate eines irgendwie mit der Position entstandenen Lebensstils sind: Professoren sind oft zerstreut, weil ihre zentrale Aufgabe das weltabgewandte Nachdenken ist. Aber sie können das auch stilisieren, weil sie wissen, daß das zu ihrer Rolle gehört und sie davor schützt, sich die Hände einmal schmutzig machen zu müssen. Peripher sind die peripheren Rollenelmente aber beileibe nicht immer. Für die Bezugsumgebung gerade der Personen, die wichtige Positionen bekleiden, sind es oft gerade die peripheren Rollenelemente, die ihnen das Gefühl geben,
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daß auf den Akteur wirklich Verlaß ist, und daß er seine Aufgaben mit jeder Faser seines Herzens und der vollen Identifikation erfüllt. Kurz: Periphere Rollenelemente sind oft nichts anderes als eingelebte Zeichen der Gruppenzugehörigkeit und der Vertrauenswürdigkeit und der Einbettung in ein ganzes System anderer „funktionaler“ Beziehungen. Die Unterscheidung von zentralen und peripheren Rollensegmenten stammt von Alexander Weinstock.7 Er erklärt damit, warum es Neuankömmlinge aller Art Aufsteiger, Migranten, Angeheiratete, zum Beispiel in einer neuen Gruppe so schwer haben, wirklich aufgenommen zu werden: Sie besitzen die wichtigen peripheren Rollenelemente nicht, können sie auch nicht mehr erwerben und werden so immer als Neuankömmlinge erkennbar und in gewissem Sinne ausgegrenzt bleiben, auch wenn dies auf beiden Seiten niemand will. Hinzu kommt: Soziale Gruppen, die aufgrund ihrer privilegierten Stellung eine Tendenz zur Schließung, zum Schutz vor ungebetener Konkurrenz, zur Exklusivität und zur Absicherung ihres Status haben, erleichtern sich durch die Betonung peripherer Rollenelemente diese Abschließung sehr: Periphere Rollenelemente sind das, was das kulturelle Kapital neben allem „angelernten“ Humankapital ausmacht. Sie werden wie das kulturelle Kapital allgemein praktisch nur in der Familie, kaum in der Schule vermittelt. Und deshalb sind sie so wichtig bei der Positionsbesetzung. Genau dies war die Beobachtung von Pierre Bourdieu über die Schließung des sozialen Raumes gewesen (vgl. schon die Abschnitte 3.2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, und 8.3 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ dazu). Nur wer zum Beispiel auch etwas von moderner Kunst versteht und bei den neuesten Vernissagen mitreden kann, erfüllt seine Rolle zum Beispiel als Chefarzt einer Klinik. Nur wer eine diamantenbehangene Gattin und eine Besitzung mit beheiztem Schwimmbad vorweisen kann, gehört zum Kreise der inneren Fakultät wirklich dazu. Und nur, wer Adornos mehrfach postponiertes „sich“ richtig beherrscht, darf zur echten 68-er Generation so richtig zählen sich. Alle anderen sind Neigschmeckte und haben hier nichts weiter verloren. Kurz: Die peripheren Rollenelemente gehören oft zum kulturellen Kapital, das es erst erlaubt, die betreffende Position auch richtig funktional zu übernehmen. Und dann verwundert es nicht, daß die funktionalen und die peripheren Erwartungen ohne besondere Anstrengungen in einer Position vereinigt werden, und daß diejenigen, die sich um eine bestimmte Position bemühen, 7
S. Alexander Weinstock, Role Elements: A Link Between Acculturation and Occupational Status, in: The British Journal of Sociology, 14, 1963, S. 144-149.
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oft mehr um die Erfüllung der peripheren als der eigentlich zentralen Rollenelemente besorgt sind. Dies erklärt einen Teil des Strebens nach Titeln und anderen Ehrenzeichen. Dumm ist das vor diesem Hintergrund sicher nicht und auch nicht bloß ein Zeichen der Eitelkeit.
7.1.3 Rollenbeziehungen Nur über die eingenommene Position steht der Akteur in strukturierten Beziehungen zu anderen Akteuren, die ebenfalls jeweils Positionen innehaben. Die Beziehungen zwischen den Positionen ergeben sich aus dem funktionalen Gesamtzusammenhang: Drahtzieher übernehmen den Draht vom Drahtlieferanten und geben ihn weiter an den Drahtschneider. Und alle stehen sie in einer ganz besonderen Beziehung zur Geschäftsleitung oder zur Marketingabteilung. Die jeweiligen Beziehungen sind innerhalb der entsprechenden Rollen formal und inhaltlich geregelt. Die Positionen sind also – gewissermaßen – die Schnittstellen und Kristallisationspunkte der institutionell festgelegten sozialen Beziehungen der Akteure: Wie die Menschen typischerweise miteinander umgehen, was sie typischerweise voneinander erwarten und wie sie sich typischerweise gegenseitig sehen, ist durch die jeweilige Konstellation der Positionen definiert, über die sie als „Platzhalter“ miteinander in Kontakt treten. Die soziale Rolle fungiert als eine derartige soziale Beziehung dann auch als typische Orientierung, mit der die gesamte Situation belegt und definiert ist. In der Regel enthält diese Orientierung auch eine Reihe von Hinweisen über typische Abläufe des Handelns. Insofern beinhalten soziale Rollen üblicherweise funktional festgelegte soziale Drehbücher. Und das wiederum ist nichts als ein Ausschnitt aus dem gesamten, strukturell und funktional vorgegebenen Organisationsplan der Positionen des Kollektivs, um das es geht. Für die Gestaltung ihrer jeweiligen bilateralen Beziehungen müssen die Akteure keineswegs alle Einzelheiten des Gesamtzusammenhangs kennen, wohl aber den für sie jeweils „relevanten“ Ausschnitt. Nur der Gründervater der Organisation oder – später – der herbeigerufene Unternehmensberater kennt, vielleicht, diesen Gesamtplan. Bei Gesellschaften wäre dies der Soziologe, der die funktionalen Zusammenhänge der Gesellschaft untersucht und begriffen hat.
Und nun wird auch deutlich, warum in jedem multifunktionalen Arbeits- und Organisationszusammenhang jede Position mit verschiedenen Rollenelementen versehen sein muß: Die Position ist immer mit anderen Positionen in einem Netzwerk von strukturell festgelegten Beziehungen verbunden (vgl. dazu auch Abschnitt 7.1 über „Soziale Einheiten und Beziehungen“ in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und dies muß sich in den Erwartungen an die Position niederschlagen. Die verschiedenen, durch die multifunktionale Vernetzung der Positionen erzeugten Erwartungen sind dann nichts anderes als die Rollenelemente.
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Bezugsumgebung, Rollenbeziehung und Identität Der einzelne Akteur, der eine bestimmte Position einnimmt, sieht sich daher von einer Reihe verschiedener anderer Positionen umgeben. Die Akteure, die diese anderen Positionen besetzen, sind die Bezugsumgebung des Akteurs. Und die Akteure aus dieser Bezugsumgebung haben definiert über ihre eigene Position in dem Ausschnitt eines Rollenelementes, das sie mit dem betreffenden Akteur in Verbindung bringt wiederum typische Erwartungen über die Gestaltung dieser Beziehung. Auf diese Weise ist der Akteur mit verschiedenen Bezugsumgebungen als Folge der Verbindung seiner Position mit anderen Positionen verbunden. Der Inhalt dieser Verbindungen ist nichts anderes als der Inhalt der entsprechenden Rollenelemente der Rolle, die mit der betreffenden Position verknüpft ist. Die dazugehörigen Rollen und Rollenelemente beinhalten dann typische reziproke Erwartungen über das jeweilige Verhalten in der durch die Rollenelemente definierten Beziehung. Wir bezeichnen eine durch Rollenerwartungen reziprok definierte Beziehung zwischen Akteuren auch als Rollenbeziehung. Sie ist in dem Moment des Handelns eventuell aber auch darüberhinaus ein Teil der Identität des Akteurs: seine „organisierte“ Einstellung auf die Situation und auf die Beziehung zu den anderen Akteuren: „The role is that organized sector of an actor’s orientation, which constitutes and defines his participation in an interactive process. It involves a set of complementary expectations concerning his own actions and those of others with whom he interacts.“8
Soziale Rollen sichern auf diese Weise die an sich außerordentlich schwierige Koordination des Handelns in einem multifunktionalen Geflecht von Aufgaben und Abläufen und ermöglichen ein fraglos abgestimmtes komplexes arbeitsteiliges Tun, selbst wenn die verrichteten Aufgaben den Akteuren selbst weder angenehm noch sinnvoll oder einleuchtend vorkommen mögen. Wie aber auch immer die einzelnen Charaktere und Stimmungen der konkreten Menschen dann sind: Es gibt mit den Rollen ein objektives Netz, das die sozialen Beziehungen trägt. Es ist das Netz der funktionalen Organisation der verschiedenen Positionen und der damit verbundenen Erwartungen. Dies ist eine festere Vorgabe für die Gestaltung der sozialen Beziehungen als wenn dies immer wieder von den Menschen neu „ausgehandelt“ werden müßte. Man kann ganz einfach damit rechnen beispielsweise , daß der Kellner nicht beim Gast ein Bestellung aufgibt. Anders gesagt: Mit der Definition von 8
Talcott Parsons, Edward A. Shils, Gordon W. Allport, u.a., Some Fundamental Categories of the Theory of Action: A General Statement, in: Talcott Parsons und Edward A. Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, Cambridge, Mass., 1954, S. 23.
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sozialen Rollen werden aus komplexen und kontingenten strategischen Situationen relativ einfache parametrische Situationen, in denen gleichwohl immer noch viel Raum für die eigene Gestaltung der Rolle und für strategisches Handeln bleibt (vgl. dazu noch die Abschnitte 7.4 bis 7.6 sowie Kapitel 9 unten in diesem Band). Kurz: Die Beziehungen und Orientierungen zwischen den Akteuren sind über die Rollen und damit über die strukturell definierten reziproken Erwartungen an die Positionen definiert, die sie jeweils innehaben und mit denen sie institutionell verbunden sind.
Ein Beispiel Jedes Lehrbuch der Soziologie denkt sich hierfür ein eigenes Beispiel aus. Wir nicht. Wir übernehmen, leicht verändert, das Beispiel aus dem Lehrbuch zur soziologischen Handlungstheorie von Bernhard Miebach (vgl. Abbildung 7.1).9 Es geht um den Rollensatz der Position eines Studenten. Er selbst steht, wie es scheint, als „Ego“ im Mittelpunkt des Geschehens. Über seinen Rollensatz ist er mit den verschiedenen Professoren in der Rolle des Lernenden, mit seinen Mitstudenten in der Rolle des Kommilitonen, den Studentenvertretern als Teil der Studentenschaft, sogar mit dem Dekan und selbst mit dem Rektor als Mitglied von Fakultät und Universität verbunden. Daneben hat er auch private Beziehungen, die, man sollte es nicht glauben, aber es ist so, auch durch Rollenerwartungen geprägt sind: zu seinen Eltern und zu seinem Partner (soweit vorhanden). Der Student ist also aufgrund seiner „Position“ nicht allein und freischwebend, sondern in eine strukturierte Bezugsumgebung und darüber in ein strukturiertes Netz von Rollenbeziehungen eingebunden. Diese Bezugsumgebung ist letztlich wieder nichts anderes als eine Menge von Akteuren, die ihrerseits Positionen besetzen und über einen Sektor der dazugehörenden Rolle mit dem Studenten wiederum strukturiert verbunden sind (vgl. aber zur Kritik an diesem „egozentrischen“ Modell noch den Exkurs über den Begriff der Figuration unten in diesem Band 5).
9
Bernhard Miebach, Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung, Opladen 1991, S. 37. Die Grundidee zu dem Beispiel stammt aus einer empirischen Analyse der Rollenbeziehungen in einer Schule und zur Position des Schulrates: Neal Gross, Ward S. Mason und Alexander W. McEachern, Explorations in Role Analysis; Studies of the School Superintendency Role, New York, London und Sydney 1958, S. 60ff.
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Am deutlichsten ausgeprägt sind Positionssysteme und die dazugehörenden Rollen- und Beziehungssysteme in Organisationen (siehe dazu auch noch Kapitel 9 unten in diesem Band). Dort oder in anderen mit festen Positionen und „Rollen“ versehenen sozialen Gebilden, wie etwa in einer traditionalen Familie ist das institutionelle Netzwerk der Beziehungen durch die formelle Organisationsstruktur bzw. durch die arbeitsteiligen Aufgaben extern vorgegeben. In anderen sozialen Gebilden wie bei einer Straßengang oder einer Wohngemeinschaft sind sie durch die speziellen Aufgaben und Regeln vorgegeben, die sich die Akteure selbst intern gesetzt, ausgesucht oder aus Gewohnheit beibehalten haben. Und manchmal entstehen die Positionen, die Rollen und die sozialen Beziehungen von ganz alleine und spontan, wenngleich nicht ohne jede Vorgabe eines sozialen Drehbuchs im Hintergrund wie in einem Zugabteil, in dem letztlich doch die Männer immer die Koffer heben und die Frauen die hilflose und leidende Schönheit spielen, und eben nicht umgekehrt.
Leistungs- und Publikumsrollen Das Konzept der sozialen Rolle ist eng an die Idee der formellen „Organisation“ von Beziehungen geknüpft. Diesen Gedanken kann man von den Organisationen als konkreten sozialen Gebilden Betriebe, Schulen, Verwaltungen auf die Regelung der Verhältnisse in den Funktionssystemen einer Gesellschaft insgesamt erweitern (vgl. dazu schon Abschnitt 3.1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Gerade hier konstituieren sich die Beziehungen zwischen den Akteuren über institutionalisierte Erwartungen: Müllarbeiter und deren Kunden, der Bundeskanzler und seine Kabinettsmitglieder, die Opposition und die Wähler, Ärzte, Patienten und die Vertreter der Krankenkassen: Sie alle sind auch über Rollenbeziehungen miteinander verbunden und beziehen ihre „Identität“ aus ihren jeweiligen „Funktionen“. Und für die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft gibt es kaum einen Bereich, der nicht durch solche Rollenvorschriften geregelt wäre. Das war nicht immer so. Das allgemeine Wahlrecht, beispielsweise, ist eine recht junge Einrichtung, wenngleich „Politik“ schon früher gemacht wurde. Und Ähnliches gilt für die Müllabfuhr und das Gesundheitswesen. In diesem Zusammenhang ist die Unterscheidung von Leistungs- und Publikumsrollen eingeführt worden.10 Leistungsrollen sind die „Rollen“ derjenigen Positio10
Das Konzept geht auf eine Unterscheidung von Talcott Parsons zurück; vgl. dazu Rudolf Stichweh, Inklusion in Funktionssysteme der modernen Gesellschaft, in: Renate Mayntz,
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nen, die gewisse „Leistungen“ in den Funktionssystemen einer Gesellschaft erbringen: eine Regierung für die Sphäre der Politik oder der Arzt für die Sphäre der Gesundheitsversorgung, zum Beispiel. Diese „Leistungen“ richten sich natürlich immer an gewisse andere Akteure, sei es als Abnehmer der Leistungen, sei es als Betroffene oder Beteiligte. Eine Publikumsrolle ist dann der Satz der zu der Leistungsrolle komplementären, institutionell geregelten Erwartungen, die sich an die Abnehmer, Betroffenen oder Beteiligten eines Funktionssystems richten: Wähler im Bereich der Politik oder Patienten in der Sphäre des Gesundheitssystems. In den Leistungsrollen agieren, sozusagen, die Anbieter, die Profis und die Experten, in den Publikumsrollen die Nachfrager und die Laien. Aber wir wissen schon: Beide sind aufeinander angewiesen, und die eine Rolle ist ohne die andere kaum zu denken. Und so wundert es nicht, daß sich die Leistungsrollen etwa die der Ärzte oder der (Berufs-)Politiker nicht ohne die gleichzeitige Evolution der Publikumsrollen haben herausbilden können. Die modernen Funktionssysteme können geradezu als „Märkte“ von spezifischen Angeboten und Nachfragen und als aufeinander bezogene Systeme solcher Leistungs- und Publikumsrollen verstanden werden wobei die individuellen Akteure nahezu jede Mischung dieser beiden Rollentypen aufweisen können. Und ihre Entstehung war nichts anderes als eine Art von Ko-Evolution, die Ko-Evolution der zueinander komplementären Leistungs- und Publikumsrollen. Mit der Unterscheidung von Leistungs- und Publikumsrollen wurde ein zentraler Grundzug der Entwicklungen zur funktionalen Differenzierung von Gesellschaften zu beschreiben versucht: die zunehmende „Inklusion“ von Akteuren in die diversen Funktionssysteme als Ausweitung der Reichweite von Rechten auf die Übernahme gewisser Publikumsrollen im Verlaufe der Demokratisierung und der Entwicklung des Sozialstaates wie etwa bei der schrittweisen Ausweitung des Wahlrechts oder bei der Einrichtung einer verpflichtenden Krankenversicherung für jedermann (vgl. dazu schon Kapitel 5 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Heute zeigen sich indessen zunehmend Tendenzen, daß trotz aller formaler „Ansprüche“ und „Rechte“ manche Akteure aus den Publikumsrollen ganz herausfallen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Leistungsrollen mit immer weniger „Menschenmaterial“ erledigt werden können. Arbeitslose Ärzte und obdachlos gewordene ehemalige Landtagsabgeordnete wären Beispiele für diese spezielle Art der „Exklusion“. Bernd Rosewitz, Uwe Schimank und Rudolf Stichweh, Differenzierung und Verselbständigung. Zur Entwicklung gesellschaftlicher Teilsysteme, Frankfurt/M. und New York 1988, S. 261ff.
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In einer etwas abgewandelten Form findet sich diese Unterscheidung auch in manchen konkreten Organisationen und Mikrofeldern des gesellschaftlichen Lebens wieder: Manche „Veranstaltungen“ des sozialen Handelns und der Organisation des Alltags teilen die beteiligten Akteure in „leistende“ Darsteller und ein beobachtendes „Publikum“ ein. Und ein Teil der Rollenerwartungen richtet sich darauf, wie die „Interaktion“ zwischen Darsteller und Publikum auszusehen hat (vgl. dazu noch Abschnitt 8.4 und Kapitel 9 unten in diesem Band).
Rollen und Sinngrenzen Positions-, Rollen- und Beziehungssysteme finden ihre Grenze nach außen durch die oberste Definition des spezifischen Zwecks der jeweiligen „Organisation“: durch die Festlegung der primären Zwischengüter bzw. der kulturellen Ziele, um die es jeweils geht. Dieser Zweck definiert damit auch den spezifischen Sinn, den die Akteure in die Beziehungen hineinlegen. Dazu benötigen die Akteure ein gedankliches Modell, was denn dies jetzt für eine Art des Umgangs sein soll. Beispielsweise: Dies ist eine Familie und eben keine Wohngemeinschaft; dies ist eine Karnevalssitzung und eben kein katholisches Hochamt; dies ist die Beerdigung und eben noch nicht der Leichenkaffee. Mit der Identifikation einer Situation als ein bestimmtes Rollensystem ist den Akteuren meist klar, wie ihre Beziehungen strukturiert sind und was sie auf ihrer „Position“ jeweils zu tun haben. Manchmal ist dieses Modell schon vorhanden und allen gut bekannt. Manchmal müssen die Akteure aber in einem mehr oder weniger langen und komplizierten Prozeß selbst herausfinden, worum es geht. Und gelegentlich kommt es auch vor, daß sie den Sinn ihres Beziehungssystems ganz neu und selbst „definieren“ müssen. Zum Glück ist dieser Fall recht selten. Aber auch dann wissen sie sich zu helfen (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich).
7.2
Homo Sociologicus
Akteure, die in positional definierte soziale Beziehungen eingebettet sind, werden auch als „Person“ jeweils immer zuerst nach der Definition der zur Position gehörenden Rolle und deren zentraler Rollenelemente beurteilt und mit einem „Status“ versehen. Das tun sie selbst in aller Regel auch mit den anderen, mit denen sie es zu tun haben, wie mit sich selbst. Sie sind in ihren
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jeweiligen Beziehungen dann Drahtzieher, Anspitzer, Personalchef oder Verkaufsfahrer jeweils aber immer nur im Rahmen der positionsbezogenen Erwartungen der betreffenden Rollenbeziehung. Und das ist ja auch zunächst ganz hilfreich: Man weiß ohne langes Fragen und Rätseln, woran man ist mit sich und mit den anderen.
Soziale Kategorien Ralf Dahrendorf hat in einem überaus populär gewordenen Büchlein über den „Homo Sociologicus“ an einem imaginären Herrn Dr. Hans Schmidt beschrieben, was gemeint ist: „Nehmen wir an, wir seien auf einer Gesellschaft, auf der uns ein bisher unbekannter Herr Dr. Hans Schmidt vorgestellt wird. Wir sind neugierig, mehr über diesen neuen Bekannten zu erfahren. Wer ist Hans Schmidt? Einige Antworten auf diese Fragen können wir unmittelbar sehen: Hans Schmidt ist (1) ein Mann, und zwar (2) ein erwachsener Mann von etwa 35 Jahren. Er trägt einen Ehering, ist daher (3) verheiratet. Anderes wissen wir aus der Situation der Vorstellung: Hans Schmidt ist (4) Staatsbürger; er ist (5) Deutscher, (6) Bewohner der Mittelstadt X, und er trägt den Doktortitel, ist also (7) Akademiker. Alles weitere aber müssen wir von gemeinsamen Bekannten erfragen, die uns erzählen mögen, daß Herr Schmidt (8) von Beruf Studienrat ist, (9) zwei Kinder hat, also Vater ist, (10) als Protestant in der vorwiegend katholischen Bevölkerung von X einige Schwierigkeiten hat, (11) als Flüchtling nach dem Kriege in die Stadt gekommen ist, wo er sich indes (12) als 3. Vorsitzender der lokalen Organisation der Y-Partei und (13) als Schatzmeister des Fußballklubs der Stadt bald einen guten Namen zu verschaffen wußte. Herr Schmidt, so erfahren wir von seinen Bekannten, ist (14) ein leidenschaftlicher und guter Skatspieler sowie (15) ein ebenso leidenschaftlicher, wennschon weniger guter Autofahrer.“11
Ralf Dahrendorf fügt noch hinzu, „daß Herr Schmidt uns nunmehr kein Unbekannter mehr ist“. Und so ist es ja auch. Wenn Herr Dr. Schmidt sich jetzt noch seinem Positionssteckbrief und den daran gebundenen Erwartungen entsprechend verhält, dann rufen wir, wie der Mongoloide von Hans Conrad Zander in der Kirche aus der Geschichte im Anschluß an Kapitel 7 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ innerlich immer wieder „heureka!“ und sind beruhigt, daß alles so ist, wie erwartet. Und genau diese Vorhersagbarkeit des Tuns und der Identität von Dr. Schmidt mit seiner Rolle ist die Routinegrundlage, die es erst möglich macht, mit dem Herrn Dr. Schmidt auch als Mensch im Alltag einigermaßen zurechtkommen zu können. Und er mit uns.
11
Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 14. Aufl., Opladen 1974 (zuerst: 1958), S. 29.
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Soziale Identität Erving Goffman hat für diese groben Kategorien der Einschätzung eines Akteurs aufgrund von Positionsmerkmalen den Begriff der sozialen Identität eingeführt: „Die Gesellschaft schafft die Mittel zur Kategorisierung von Personen und den kompletten Satz von Attributen, die man für die Mitglieder jeder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet. Die sozialen Einrichtungen etablieren die Personenkategorien, die man dort vermutlich antreffen wird. Die Routine sozialen Verkehrs in bestehenden Einrichtungen erlaubt es uns, mit antizipierten Anderen ohne besondere Aufmerksamkeit oder Gedanken umzugehen. Wenn ein Fremder uns vor Augen tritt, dürfte uns der erste Anblick befähigen, seine Kategorie und seine Eigenschaften, seine ‚soziale Identität‘ zu antizipieren ... .“12
Die soziale Identität bezieht der Akteur in einer über Position und Rolle definierten, typischen Situation nicht nur auf die anderen, sondern auch auf sich selbst. Er ist auch für sich selbst dann jeweils je nachdem Drahtzieher, Anspitzer, Personalchef oder Verkaufsfahrer in Beziehung zu der mit dem jeweiligen Rollenelement betroffenen Bezugsumgebung. Die verschiedenen Sektoren der sozialen Identität sind nichts anderes als die Me-Sektoren, von denen George Herbert Mead als Teil der Identität des Akteurs gesprochen hatte (vgl. dazu schon Kapitel 1 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich): So werde ich aus der Sicht der generalisierten anderen in dieser Beziehung gesehen. Und so sehe ich mich in dieser Beziehung dann auch selbst. Me’s und damit: unterschiedliche Sichtweisen des Selbst aus der Perspektive der anderen hat ein Akteur dann stets soviele, wie er in derartigen, über Rollenerwartungen definierten, sozialen Beziehungen steht. Die soziale Identität des Repertoires der Me’s kann dann auch ganz bunt und widersprüchlich aussehen gerade so voller interner Widersprüche wie der Positions- und der Rollensatz des Akteurs und die entsprechenden Bezugsumgebungen jeweils strukturiert sind. Erving Goffman unterscheidet noch zwischen virtueller und aktueller sozialer Identität. Die virtuelle soziale Identität umfaßt jene Eigenschaften, die wir einer anderen Person – und auch uns selbst – allein aufgrund der Kategorien und der Schlüsse, die wir daraus ziehen, zuschreiben. Die aktuelle soziale Identität sind die Eigenschaften, deren Besitz einem Akteur „tatsächlich bewiesen werden konnte“ (ebd., S. 10). Wenn ich einen Professor mit einem etwas wirren Blick sehe, dann halte ich ihn „virtuell“ auch für zerstreut. Und wenn er mich fast über den Haufen läuft, dann ist er das offenkundig auch aktuell.
12
Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, Frankfurt 1967a (zuerst: 1963), S. 9f.; Hervorhebungen nicht im Original.
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Rollen können so gesehen auch als Personen-Schemata und als Teile von sozialen Drehbüchern fungieren (vgl. dazu noch das folgende Kapitel 8 in diesem Band). Die sozialen Identitäten und die Me’s sind die wohl wichtigste Grundlage für die unaufwendige Koordination der Interaktionen des Alltags.
Personale Identität Die Kategorisierung nach sozialen Merkmalen zieht sich bis hinein in die Beziehungen auch zu Personen, die wir durchaus als the One and the Only ansehen mögen: „Von einer Frau als seiner Ehefrau zu sprechen heißt in unserer Gesellschaft, diese Person in eine Kategorie zu plazieren, von der es gegenwärtig nur ein Mitglied geben kann, und doch geht es nichtsdestoweniger um eine Kategorie, und sie ist nur ein Mitglied davon. Einzigartige, historisch verwickelte Merkmale färben wohl unser Verhältnis zu dieser Person am Rande; doch ist im Mittelpunkt ein ganzes Aufgebot sozial standardisierter Antizipationen, die wir hinsichtlich ihres Verhaltens und ihrer Natur als ein Moment der Kategorie ‚Ehefrau‘ haben, daß sie zum Beispiel das Haus versorgt, unsere Freunde unterhält und Kinder gebären kann. Sie wird eine gute oder eine schlechte Ehefrau sein und dies relativ zu Standarderwartungen, die andere Ehemänner in unserer Gruppe ebenso ihren Frauen entgegenbringen.“ (Ebd., S. 70; Hervorhebungen nicht im Original)
Gleichwohl ist es nicht folgenlos, ob sich die Beziehungen der Menschen in den eher anonymen funktionalen Sphären der Gesellschaft mit einem im Prinzip stets wechselnden Personal abspielen, oder ob es Beziehungen sind, bei denen sich die Akteure auch als Rollenträger als identische Personen eine längere Zeit begegnen, sich als „Individuen“ wiedererkennen, mehr und mehr auch die „aktuellen“ Besonderheiten und Absonderlichkeiten des jeweils anderen „identifizieren“ und so den anderen mehr auch als wirklich ganz einzigartige Person ansehen und mit ihm umgehen. Das Bild des Akteurs wird also im Vergleich zu den groben und stereotypen Kategorien der sozialen Identität zu einer ganz und gar einmaligen Merkmalskombination differenziert. Erving Goffman nennt diese, im Netz der persönlichen Bekanntschaften des Akteurs in einem längeren biographischen Prozeß entstandene Kombination von Eigenschaften dann auch persönliche Identität: „Persönliche Identität hat ... mit der Annahme zu tun, daß das Individuum von allen anderen differenziert werden kann ... .“ (Ebd., S. 74; Hervorhebung nicht im Original)
Die Einzigartigkeit muß freilich auch „Aufhänger“ haben: unverwechselbare Zeichen über die „Identität“ jener einzigartigen Person: ein „Identitätsaufhänger“. Das ist unter menschlichen Akteuren in erster Linie das Gesicht
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und die jeweils besondere Biographie, mit dem die Mitglieder wechselseitig einmalige Erfahrungen und dann auch ganz personale Zuschreibungen assoziieren. Es geht aber auch anders: „Eine der Vorstellungen, die in den Begriff der ‚Einzigartigkeit‘ eines Individuums einbezogen sind, ist die eines ‚positiven Kennzeichens‘ bzw. eines ‚Identitätsaufhängers‘, wofür das photographische Bild des Individuums in den Köpfen anderer oder das Wissen um seinen speziellen Platz in einem bestimmten Verwandtschaftsnetz als Beispiele stehen können. Ein interessanter Vergleichsfall ist der der Tuaregs in Westafrika, deren Männer ihre Gesichter bedecken, so daß nur ein kleiner Schlitz zum Heraussehen bleibt; hier wird offenbar das Gesicht als ein sicherer Halt für persönliche Identifizierung durch Körpererscheinung und physischen Stil ersetzt.“ (Ebd., S. 73)
Daneben gibt es weitere personale „identifiers“ der Person: Fingerabdrücke, Personalausweis, einen „Namen“, ein persönliches Polizeidossier. Sie alle führen eine einzigartige Kombination von Daten der Lebensgeschichte zusammen, die mit Hilfe der Identitätsaufhänger am „Individuum“ festgemacht sind. Zu beachten ist aber gleichwohl, daß auch diese Liste persönlicher Einzigartigkeiten letztlich immer aus einer wennzwar einzigartigen Kombination sozial definierter Merkmale zusammengestellt ist. Menschen können grundsätzlich nur über sozial vorgeformte „Modelle“ sich wechselseitig auch als „Individuen“ wahrnehmen. Und auch sie selbst sehen sich meist nur durch solche sozial vorgeformten Kategorien. Den Menschen „vor“ der sozialen Kategorisierung gibt es grundsätzlich nicht. Erving Goffman spricht daher auch davon, daß um die Kombination der Merkmale der persönlichen Identität „ ... eine einzige kontinuierliche Liste sozialer Fakten festgemacht werden kann, herumgewickelt wie Zuckerwatte, was dann die klebrige Substanz ergibt, an der noch andere biographische Fakten festgemacht werden können.“ (Ebd., S. 74; Hervorhebung nicht im Original)
Letztlich handelt es sich also auch bei den Zuschreibungen der persönlichen Identität um soziale Kategorien. Nur: Diese sind jetzt an den aktuellen Erfahrungen orientiert und bleiben nicht im groben und oft ganz ungerechten Raum der Virtualität. Auch der Akteur sieht sich in dieser Sphäre der personalisierten Lebenswelt also letztlich wieder in Me-Sektoren. Diesmal aber nicht in seinen Beziehungen zu anonymen „generalisierten“ anderen, sondern zu persönlich identischen signifikanten anderen.
Der „Mensch an sich“ Mit der Einbeziehung des Me-Konzeptes auch in den Bereich der persönlichen Identität und der Beziehung zu den signifikanten anderen der personalen
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biographischen Umgebung wird ein Fehlschluß verhindert, der die Rollentheorie besonders hierzulande immer als Gefahr begleitet hat: die Illusion, es gäbe jenseits der sozialen Kategorien auch im ganz persönlichen Bereich irgendetwas, was den „Menschen an sich“ ausmache. Die Unterscheidung zwischen individuellem und freiem „Mensch“ und sozialem und sich selbst fremdem Rollenträger stand ganz am Anfang der deutschen Rezeption der amerikanischen Rollentheorie durch Ralf Dahrendorf im Homo Sociologicus. Dort hatte er sehr zum Behagen der kulturkritischen Oberlehrer, deren Kinder dann später die 68er-Revolte besorgten ganz düster von der Entfremdung des Menschen durch die Gesellschaft, durch die sozialen Rollen, die Sozialisation und die Sanktionen der sozialen Kontrolle, gesprochen. Er stellt zunächst ganz richtig fest, daß die Rolle nur eine theoretische Kategorie der Soziologie ist und weiter nichts: „Alle Annahmen13 und Theorien der Soziologie sind stets ausschließlich Annahmen und Theorien über homo sociologicus, also über den Menschen in der entfremdeten Gestalt eines Trägers von Positionen und Spielers von Rollen. Nicht der Mensch, sondern der Studienrat Schmidt hat bei hohem sozialem Prestige nur ein relativ niedriges Einkommen; nicht der Mensch, sondern der Parteivorsitzende Schmidt erscheint als Zwischenrufer in den Versammlungen seiner Gegner; nicht der Mensch, sondern der Autofahrer Schmidt verteidigt sich vor dem Verkehrsrichter gegen den Vorwurf zu schnellen Fahrens; nicht der Mensch, sondern der Ehemann und Vater Schmidt schließt eine hohe Lebensversicherung zugunsten seiner Familie ab.“ (Dahrendorf 1974, S. 79; Hervorhebungen so nicht im Original)
Dahrendorf fügt aber gleich den Ausdruck der „entfremdeten Gestalt“ hinzu so als gäbe es hinter den Kategorien der sozialen bzw. den der darauf aufbauenden personalen Identität etwas, was den Menschen „an sich“ ausmacht. Und er fragt dann ganz besorgt und scheinheilig: „Und der Mensch Schmidt? Was tut er? Was kann er tun, ohne als Träger einer Position und Spieler einer Rolle seiner Individualität beraubt und zum Exemplar entfremdet zu werden? Beginnt der Mensch Schmidt, wo seine Rollen enden? Lebt er in seinen Rollen? Oder gehört ihm eine Welt, in der Rollen und Positionen so wenig existieren wie Neutronen und Protonen in der Welt der Hausfrau, die den Tisch für das Abendessen deckt?“ (Ebd., S. 79f.)
An anderer Stelle spricht Ralf Dahrendorf dann von dem „Ärgernis der Gesellschaft“, von „Entpersönlichung“, vom „doppelten Menschen“ und vielem Gräßlichem mehr. Friedrich H. Tenbruck hat in seiner fulminanten Entgegnung auf diese seiner Meinung nach: völlig verzerrte „deutsche Rezeption der Rollentheorie“ dann auch kritisch festgestellt:
13
Im Originaltext steht hier das Wort „Ausnahmen“. Es macht aber an dieser Stelle keinerlei Sinn. Gemeint ist ohne Zweifel der Ausdruck „Annahmen“. Wir haben die Korrektur des Korrekturlesefehlers in flexibler Rollenübernahme gerne vorgenommen; Dahrendorf 1974, S. 79.
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„Der Gesamteindruck ist eindeutig: die Rolle wird als etwas dem Individuum Fremdes von außen an den Menschen herangeschoben.“14
Recht hat er, der Herr Professor Tenbruck.
Das Ich des Menschen Gleichwohl steckt hinter der Rede von der „entfremdeten Gestalt“ des homo sociologicus ein beachtenswerter Kern. Der hat aber nicht damit zu tun, daß es gewissermaßen die „soziale tabula rasa des rollenlosen Menschen“ (Dahrendorf 1974, S. 58) geben könne. Er hat damit zu tun, daß die menschlichen Akteure die Rollen ebenso wie alle anderen gesellschaftlichen Konstruktionen letztlich zu nichts anderem benötigen und für wichtig halten (müssen) als zur Nutzenproduktion, zur Erzeugung von physischem Wohlbefinden und sozialer Wertschätzung bzw. eines positiven Selbstbildes. Diese Grundbedürfnisse könnte man dann durchaus als den Teil des „Selbst“ des Akteurs ansehen, der ihm ganz persönlich – und nur ihm – „gehört“: seine Bedürfnisse, deren Nichterfüllung er ganz leiblich selbst – und nur er – verspürt. Und die Ideosynkrasien, die der jeweils individuelle Organismus für die Nutzenproduktion aufweist – seien sie biologisch-genetisch begründet oder seien es kulturell geformte Ideosynkrasien, die im Verlauf der biographischen Entwicklung erworben, aber dann in keiner der jeweils angewandten Kategorien der sozialen und/oder der persönlichen Identität zum Zuge kommen. Auf diese Weise läßt sich leicht – und ganz ohne jede Metaphysik von Freiheit und Notwendigkeit – ein dem individuellen Organismus zugehöriger Kern von Bedürfnissen und Ideosynkrasien abgrenzen, der – neben allen Me’s – für das Selbst des Akteurs ebenfalls eine zentrale Bedeutung hat. Diesen Kern wollen wir – im Anschluß an das Konzept des I bei George Herbert Mead – als Ich bezeichnen. Das Ich bzw. das I ist jener, auf die Bedürfnisse und Ideosynkrasien bezogene, spontane und dynamische Teil des Selbst (vgl. auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Dieser autonome Teil des Selbst ist letztlich der Bezugspunkt dafür, ob sich der Organismus wohlfühlt oder nicht. Er ist nur theoretisch von den Interessen der Menschen zu trennen: den Interessen an den primären Zwischengütern, die in einer Gesellschaft als die unumgänglich wichtigen kulturellen Ziele definiert sind (vgl. dazu auch den Exkurs über Entfremdung in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Gleichwohl bleibt immer eine Differenz zwischen den „inneren“ Bedürfnissen und den „äußerlichen“ Interessen. Diese Differenz zwischen den sozial definierten Interessen und den individuellen Ideosynkrasien und allgemeinen Bedürfnissen macht den dynamischen Kern des Selbst, das Ich des Menschen 14
Friedrich H. Tenbruck, Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 13, 1961, S. 3.
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aus. Das Ich gibt es so sieht man nun sehr deutlich nicht jenseits der Definition der primären Zwischengüter, etwa über die sozialen Rollen, sondern immer nur in Relation dazu. Ohne die sozialen Rollen, ohne die dazugehörige soziale und persönliche Identität hätte das Ich keinerlei Bezugspunkt. Das hat Ralf Dahrendorf zugunsten einer ganz „asozialen“ Freiheitsvorstellung übersehen. Und Friedrich H. Tenbruck tadelt ihn zu Recht dafür.
7.3
Rollenkonflikte
Das Rollenhandeln ist in der Konzeption des normativen Paradigmas die praktisch bruchlose Umsetzung der positional definierten und mit Sanktionen abgesicherten Erwartungen in einer Situation in ein konkretes Tun. Die Sanktionen stehen zwar im Hintergrund, aber wenn die Erwartungen deutlich, die Kosten nicht zu hoch und die Interessen parallel zu den Rollenanforderungen sind, dann ist das alles keine besondere Affaire. Viel nachgedacht und reflektiert wird dann nicht. Und wenn wirklich alles stimmt, dann kommt sogar oft genug auch Begeisterung und eine starke Identifikation mit der Rolle auf. Das gilt in besonderem Maße für überschaubare Systeme von Positionen und Bezugsumgebungen von Akteuren, die in engem Kontakt miteinander als drängend empfundene Probleme lösen, die wissen, was auf ihrer jeweiligen Position zu tun ist, die sehen, daß die Lösung des Problems mit der möglichst perfekten Rollenausübung zusammenhängt, die sich schon deshalb gegenseitig belohnen, indem sie zuverlässig im Rahmen ihrer Aufgabe füreinander da sind – und die keine Alternative sehen. In solchen Fällen können auch ganz enorme Kosten der Aufgabenerfüllung mühelos überspielt werden – bis hin zur kompletten Hingabe an die anderen und die Aufopferung für das Ganze.
Aber in vielen Rollensystemen des Alltags stimmt eben nicht alles. Und dies hat einen sehr einfachen Grund, den wir bisher bewußt etwas ausgeblendet haben: Die allermeisten Rollen- und Beziehungssysteme sind dann doch nicht immer so einfach, daß es praktisch ohne jede „Entscheidung“ durch die Akteure ginge. Im nächsten Abschnitt werden wir die wichtigsten Umstände dieser Komplexitäten behandeln.
7.3.1 Komplexität und Widersprüche Die erste Komplikation haben wir mit dem Konzept des Rollensatzes bereits kennengelernt:
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„Die Vorstellung des Rollen-Set ruft uns ins Gedächtnis zurück (falls mann überhaupt an diese aufdringliche Tatsache erinnert werden muß), daß sogar die uns einfach erscheinende Sozialstruktur ziemlich komplex ist.“ (Merton 1973, S. 322; Hervorhebung nicht im Original)
Die Komplexität eines Rollensatzes kann weit über die bloße Unübersichtlichkeit hinausgehen. Die Erfüllung sämtlicher, „eigentlich“ erwarteter Rollen-Anforderungen ist oft schon von den Ressourcen der Akteure her nicht möglich. Und schlimmer noch manche Rollen und sogar manche Rollenelemente ein und derselben Position bergen in ihren Anforderungen Widersprüche in sich oder stehen in Konflikt mit den Erwartungen an Positionen, die der Akteur sonst noch innehat. Kurz: Mit der Komplexität und der Widersprüchlichkeit der Rollen einer Person entstehen unter Umständen massive Konflikte, die der Akteur letztlich selbst durch innere Entscheidungen lösen muß Rollenkonflikte. Den Begriff des Rollenkonfliktes hat Robert K. Merton ebenfalls in dem bereits zitierten Artikel eingeführt (vgl. Merton 1973) und zwar nicht ganz zufällig im Zusammenhang mit dem Konzept des Rollensatzes.
Inter- und Intra-Rollenkonflikte Zwei Arten von Rollenkonflikten können unterschieden werden. Erstens, der Inter-Rollenkonflikt. Er bezieht sich auf Unvereinbarkeiten der Erwartungen, die auf die verschiedenen Positionen seines Positionssatzes und der dazugehörigen Rollen bezogen sind, die ein Akteur gleichzeitig innehat: Die Anforderungen an einen Professor, der seine Arbeit wirklich ernst nimmt, lassen sich praktisch nicht mit den Erwartungen vereinbaren, die an einen guten Ehemann und fürsorglichen Familienvater gestellt werden. Deshalb sehen viele Professorengattinnen ja auch so leidend aus oder sind längst über alle Berge. Zweitens gibt es den Intra-Rollenkonflikt. Der hat damit zu tun, daß schon die verschiedenen Rollenelemente von der einen Rolle auf einer Position nicht gleichzeitig zu erfüllen sind oder Widersprüchliches verlangen. Die Rolle des Professors verlangt Forschung und Lehre. Und ein guter Forscher muß zum Beispiel alle wichtigen Kongresse besuchen, viel lesen, selbst ins Feld gehen, Anträge schreiben, selbst am Rechner sitzen und die allerneuesten Analysetechniken lernen und so weiter. Und das geht meistens nur unter Abstrichen und fast immer nur mit einem sehr üblen Gefühl in der Magengegend. Und noch einmal und ganz einfach: Inter-Rollenkonflikte entstehen aus den Widersprüchen zwischen kompletten Rollen insgesamt, IntraRollenkonflikte aus den Widersprüchen zwischen den Elementen einer Rolle.
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Rollenstreß William J. Goode hat in einem nicht minder berühmt gewordenen Artikel wie dem von Robert K. Merton das flaue Gefühl in der Magengegend, das bei Rollenkonflikten aufzutreten pflegt, als Rollenstreß bezeichnet. Er beginnt mit einer wohl richtigen Feststellung: „Der einzelne hat also in den meisten Fällen eine lange, Ärgernis erregende und gelegentlich widersprüchliche Liste von Rollen-Pflichten vor sich. Wenn er sich einer bestimmten Norm gegenüber völlig konform oder befriedigend verhält, wird ihm die Erfüllung anderer Erwartungen schwierig. Selbst wenn er sich einsam glaubt und in weitere Rollen-Beziehungen eintreten möchte, kann er meist wahrscheinlich selbst diejenigen Pflichten nicht völlig erfüllen, die er ohnehin schon zu erfüllen hat. Er kann die Leute, die insgesamt zu seinem gesamten Rollen-Netz gehören, nicht in allen ihren Forderungen zufriedenstellen. Rollen-Stress, d.h. das Gefühl, einer gegebenen Rolle nur unter Schwierigkeiten nachkommen zu können, bildet daher den Normalzustand.“15
Und die Frage ist dann sofort: Was tun? Zwei Arten von Antworten auf diese Frage sind entwickelt worden: eine strukturell orientierte und eine akteursorientierte. Die strukturelle Antwort geht von der Frage aus: Wie müssen eigentlich die Rollen-Systeme aufgebaut sein, damit der Rollenstreß abgemildert, die Individuen ein wenig geschützt, aber vor allem das Funktionieren des Gesamtsystems nicht gefährdet ist? Die akteursorientierte Antwort versetzt sich in die Lage des konkreten Menschen, der sich dem Rollenkonflikt ausgesetzt sieht: Was kann ich angesichts der vorgefundenen Umstände tun, um den Rollenstreß zu mindern, gleichzeitig aber möglichst gut aus der Sache herauszukommen, meinen Pflichten weiterhin zu genügen und vor allem mein Gesicht nicht zu verlieren? Die beiden verschiedenen Sichtweisen hat William J. Goode so zusammengefaßt: „Für den einzelnen liegt das Problem darin, sein Rollen-System im ganzen in den Griff zu bekommen, d h. seine Energien und Fertigkeiten so aufzuteilen, daß der Rollen-Stress auf ein erträgliches Maß gemindert wird. Für die größeren sozialen Strukturen besteht das Problem darin, solche Rollen-Systeme miteinander zu integrieren, indem der Ablauf der RollenLeistungen so gelenkt wird, daß die verschiedenen institutionellen Tätigkeiten auch ausgeführt werden.“ (Ebd., S. 339f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Robert K. Merton behandelt das Problem aus der Perspektive der sozialen Strukturen. Er spricht von „sozialen Mechanismen“ der „Verschränkung“ des Rollensatzes. William J. Goode und Erving Goffman gehen die Frage aus der 15
William J. Goode, Eine Theorie des Rollen-Stress, in: Heinz Hartmann (Hrsg.), Moderne amerikanische Soziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1973, S. 339 (zuerst: A Theory of Role Strain, in: American Sociological Review, 25, 1960, S. 483-496).
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Sicht des einzelnen Akteurs an. Der eine führte das Konzept des Rollenhandels, der andere die Beobachtung der Rollendistanz ein. Beides sind Strategien von Akteuren, mit dem Rollenstreß bei Rollenkonflikten fertigzuwerden.16
7.3.2 Soziale Mechanismen Die Grundidee von Robert K. Merton zielt auf die Organisation von Rollensystemen insgesamt. Das damit zusammenhängende soziologische Problem ist, wie die Erwartungen der verschiedenen Bezugsumgebungen „ ... so zureichend miteinander verschränkt werden können, daß Statusstruktur (gemeint ist natürlich die Positionsstruktur; HE) und Rollenstruktur zumindest einigermaßen wirksam arbeiten können.“ (Merton 1973, S. 331)
Sechs unterschiedliche soziale Mechanismen der Entschärfung von Rollenkonflikten nennt Robert K. Merton. 1. Relative Bedeutsamkeit Nicht alle Positionen sind dem Akteur bzw. den Bezugsumgebungen gleich wichtig. Manchmal steht eben der Beruf im Vordergrund. Und alle wissen das. Und folglich läßt sich der „ ... Aufprall verschiedenartiger Erwartungen seitens derer in einem Rollen-Set ... durch die grundlegende strukturelle Tatsache (mildern), daß diese Personen unterschiedlich stark in die Beziehung verwickelt sind.“ (Ebd., S. 325; Hervorhebung nicht im Original) 2. Machtunterschiede Die Verteilung von Macht und Autorität in den Bezugsumgebungen des Rollensystems kann ebenfalls die Rollenkonflikte abmildern. Dabei denkt Merton erstens durchaus daran, daß mächtigere Akteure „ihr“ Problem leichter gegen die legitimen Erwartungen der anderen Akteure durchzusetzen vermögen. Zweitens können sich Akteure mit den gleichen – oder komplementären – Rollenkonflikten zusammentun und Koalitionen bilden, die es ihnen erlauben, sich einen eigenen Ausweg zu suchen. Und schließlich können sich in einem Rollensystem die Kräfte der Bezugsumgebungen wechselseitig so neutralisieren, daß der Akteur den Konflikt gar nicht austragen muß, sondern die konfligierenden Parteien ausspielt und – als lachender Dritter – seinen eigenen Vorstellungen unbehelligt folgen kann. Kinder wissen – zum Beispiel – sehr gut, wie man die Eltern so ausspielen kann.
16
Auf die Rollendistanz gehen wir im nächsten Abschnitt gesondert ein, weil hier noch ein weiterer Aspekt des Umgangs mit den Rollenanforderungen thematisiert wird: der Erhalt eines möglichst positiven Selbstbildes auch angesichts der manchmal sehr erniedrigenden Pflichten, die eine Rolle mit sich bringen kann.
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3. Abschirmung Ensembles agieren nicht nur auf der Vorderbühne, sondern sie haben immer einen Raum, in den sie sich zurückziehen können, wenn alles zuviel wird (vgl. dazu auch noch Abschnitt 8.4 unten in diesem Band). Und nicht immer stehen die Akteure mit allen Bezugsumgebungen ihres Positions- oder Rollensatzes gleichzeitig in Verbindung. Die strukturellen Mechanismen einer solchen Abschirmung der verschiedenen Bezugsumgebungen schützen den Akteur vor der Überlastung mit Rollenstreß. Abschirmung meint dabei allgemein den Sachverhalt, daß „ ... das Verhalten der Positionsinhaber regelmäßig der Beobachtung durch Mitglieder des Rollen-Set entzogen wird.“ (Ebd., S. 327) Vieles regelt sich schon dadurch, daß die unterschiedlichen Bezugsumgebungen nicht viel voneinander wissen, weil sie schon räumlich und zeitlich getrennt sind. Diese Grenze ist meist auch allen gut bekannt und wird sorgsam gepflegt. Ehefrauen, die ihren Gatten im Büro anrufen, wissen, was gemeint ist. Wichtiger sind die institutionellen Regeln der Abschirmung. Etwa: Schweigepflichten, Immunitätsregeln, die Definition einer Norm, daß ein „Professor“ auch etwas ganz Unvorsichtiges „bekennen“ kann, ohne daß man ihm das übelnimmt, sind sämtlich derartige strukturelle Mechanismen der Abschirmung. Nichts erzeugt mehr Streß als das drohende outing von Dingen, über die die verschiedenen Bezugsumgebungen bisher noch nichts wußten. Und kaum eine institutionelle Regel wird – aus guten Gründen – ernster genommen als die Schweigepflicht etwa von Ärzten, Rechtsanwälten und Priestern, wie die Diskussionen um den sog. großen Lauschangriff wieder gezeigt haben. 4. Übersehbarkeit Solange die Bezugsumgebungen getrennt sind und nichts von den widersprüchlichen Erwartungen an einen Akteur wissen, können sie ganz unbeschwert immer ihre Maximalforderungen anmelden. Sobald die Bezugsumgebungen aber miteinander in Kontakt kommen und erkennen müssen, daß sie selbst im Konflikt miteinander stehen, weil der – arme – Akteur ja stets nur eine Forderung auf Kosten einer anderen erfüllen kann, treten sie in Konkurrenz um die Leistungen und Entscheidungen des Akteurs. Der kann offenkundig nicht anders. Das „übersehen“ die Bezugsumgebungen jetzt. Und der Akteur ist – wieder als lachender Dritter – fein heraus: Die Bezugsumgebungen tragen untereinander den Konflikt aus, den er sonst selbst hätte mit sich führen müssen: „Zuvor im Brennpunkt des Konfliktes stehend, kann er jetzt praktisch zum Zuschauer werden ... .“ (Ebd., S. 329) 5. Soziale Unterstützung „Wenn er auch das Gegenteil glauben mag – der Statusinhaber steht nicht allein.“ (Ebd.) Die Gemeinsamkeit in einem Schicksal erzeugt eine Gemeinsamkeit in einem Interesse: Die Verminderung oder Kontrolle des Rollenstresses. Wie wäre es also, wenn die betroffenen Rollenträger eine spezifische Organisation bildeten, die ihnen hilft, mit dem Problem fertig zu werden? Merton berichtet beispielsweise von dem Problem vieler Bibliothekare in den USA (zu seiner Zeit) mit der Zensur und der Hilfe, die sie dabei durch die American Library Association erhielten, indem diese deutliche Regeln für das Verhalten der Bibliothekare angab, die es den Bibliothekaren erlaubte, auf eine einheitliche und jedermann erkennbar geregelte Weise auf die widersprüchlichen Erwartungen von Zensur und neugierigen Lesern zu reagieren. Denn genau das ist ja das Problem: Man weiß nicht, wie man sich verhalten soll, muß immer wieder improvisieren und zerreibt sich mit seinen Bezugsumgebungen auch wegen der immer etwas unterschiedlichen Handhabung des Problems. Die Organisationen der sozialen Unterstützung bei Rollenkonflikten „ ... geben dem einzelnen in seiner bedrängten Position soziale
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Unterstützung. Sie verringern den Bedarf an improvisierender persönlicher Anpassung an immer wieder vorkommende Typen widersprüchlicher Erwartungen.“ (Ebd., S. 330) 6. Beschränkungen im Rollensatz Schließlich kann einem bedrängten Rolleninhaber der ganze Streß zuviel werden – und er steigt einfach aus, zieht in die Toscana oder tritt in eine Sekte ein. Dann hat er keinen Rollenstreß mehr – er verliert aber auch die Position und die Bezugsumgebungen. Davor schrecken die allermeisten Menschen dann aber doch letztlich zurück. Eher versuchen sie eine Art von „Amputation“ ihres Rollen- oder Positionssatzes: Sie geben die Herausgeberschaft der Zeitschrift auf, treten von einigen Beiräten zurück und beantragen keine Forschungsprojekte mehr. Jetzt ist der Rollensatz sehr viel einfacher und homogener geworden. Aber auch die Leistungen, die sich sonst aus der Interaktion mit den verschiedenen Bezugsumgebungen verbanden, bleiben aus. Das können viele schon in ihren Gedanken nicht ertragen. Und deshalb bleiben sie ihr Leben lang in allen Beiräten, Kuratorien und Funktionen, die sie nur übernehmen können, stöhnen fortwährend über die unmenschlichen Belastungen aus den vielen widersprüchlichen Anforderungen – und tun trotzdem nichts dagegen. Sie werden schon wissen warum. Und außerdem: Die einzelnen Aussteiger ändern das System ja nicht, das aus strukturellen Gründen sofort bei dem neu eingestellten Akteur wieder einen starken Rollenstreß erzeugt. Deshalb ist Robert K. Merton auch recht skeptisch, daß diese Variante eine wirkliche Lösung wäre: „Im großen und ganzen ist diese Chance jedoch selten und begrenzt, da die Zusammensetzung des Rollen-Set gewöhnlich keine Frage der persönlichen Wahl, sondern Sache der sozialen Organisation ist, in die sich der Status eingebettet findet. Allgemeiner ausgedrückt: der einzelne geht, die soziale Struktur bleibt.“ (Ebd., S. 331)
Wichtig ist, daß alle diese sechs Mechanismen strukturelle Vorkehrungen für die Minderung des Rollenstresses bei Rollenkonflikten sind. Es geht Robert K. Merton nicht primär um das Wohlbefinden oder Handeln der Akteure, sondern darum, daß die Funktion des Gesamtsystems durch diese strukturellen Mechanismen erhalten bleibt. Robert K. Merton vergleicht die mit den Rollenkonflikten entstehenden Spannungen mit den Reibungsverlusten bei Maschinen, „ ... die ihre Wärmeenergien nicht voll ausnutzen können“ (ebd., S. 332). Die geschilderten sozialen Mechanismen der Minderung von Rollenkonflikten sind das Schmiermittel, um die Reibungsverluste möglichst gering zu halten. Sie bestehen und das ist die Grundaussage bei Merton selbst wieder aus institutionalisierten Regeln und Vorkehrungen, etwa solchen der Höflichkeit und der Erwartung, daß Rollenbereiche auch getrennt werden müssen, wie wir bei Erving Goffman beispielsweise lesen können: „Die Verbindung eines Mannes mit seinem Chef und seine Verbindung mit seinem Kind können unendlich verschieden sein, so daß er nicht leicht die Angestelltenrolle spielen kann, während er die Vaterrolle spielt; aber sollte der Mann auf einem Spaziergang mit seinem Kind seinen Chef treffen, wird eine Begrüßung und Vorstellung möglich sein, ohne daß entweder das Kind oder der Chef ihre persönliche Identifizierung des Mannes radikal reorganisieren – da beide von der Existenz und Rolle des andern gewußt haben.“ (Goffman 1967a, S. 93)
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Nicht der Akteur muß also die Rollenkonflikte selbst und alleine austragen, sondern die „Gesellschaft“ hilft ihm dabei, indem Regeln und Erwartungen für den Fall geschaffen werden, daß die Rollenkonflikte systematisch auftauchen. Moderne Gesellschaften haben insbesondere eine Regel dafür entwickelt: die gedankliche und verhaltensmäßige Trennung der Bezugsbereiche, auch dann, wenn die Akteure in mehreren, an sich widersprüchlichen Beziehungen verbunden sind: die Trennung von Amt und Person, beispielsweise. Dies wird als institutionalisierte Regel von den Akteuren erwartet. Und wenn sie diese Regel verletzen, dann drohen deutliche Sanktionen dafür, daß die Rollen nicht peinlich auseinandergehalten worden sind.
7.3.3 Rollenmanipulation und Rollenhandel Robert K. Merton setzt also auf die Kraft der Institutionen. William J. Goode bringt dagegen den Menschen und seine Findigkeit stärker ins Spiel. Das tut er vor dem Hintergrund der Beobachtung, daß kein Rollensystem so integriert sein kann, als daß es gewissermaßen von alleine arbeitet. Dies sei insbesondere in komplexeren Gesellschaften nicht zu erwarten. Und daraus folgert er: „Wenn wir den Fortbestand der Gesellschaft erklären wollen, dann sollten wir entsprechend der hier gebotenen Auffassung von Rollen als Einheiten der Sozialstruktur doch wohl die Rollen-Entscheidungen des einzelnen zum Forschungsgegenstand machen.“ (Goode 1973, S. 337; Hervorhebungen nicht im Original)
Wie also so fragt William J. Goode schafft es der einzelne Akteur, mit den Rollenkonflikten umzugehen und den Rollenstreß zu mindern? Zwei Strategien nennt Goode: die Manipulation der eigenen Rollenstruktur und den sog. Rollenhandel.
Rollenmanipulation Sechs Tricks und Kniffe zur Rollenmanipulation führt William J. Goode auf. Sie ähneln teilweise sehr den strukturellen Vorkehrungen von Merton. Aber das sollte nicht den fundamentalen Unterschied verwischen: William J. Goode spricht immer über Strategien, die der Akteur ergreift, während Robert K. Merton bereits bestehende Vorkehrungen in der Organisation des Rollensystems meint. Hier sind die sechs Möglichkeiten:
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1. Abschottung Die Abschottung der konfligierenden Rollenelemente kann auf zweierlei Weise erfolgen: psychisch durch die Abwertung der Forderung nach Konsistenz des Selbst, sozial durch die Trennung der Bezugsumgebungen – sei es räumlich oder sei es zeitlich. 2. Delegierung Damit ist die Möglichkeit gemeint, eine unangenehme Tätigkeit auf andere Akteure zu delegieren, die „zuarbeiten“, so daß die Rollenausübung dem Akteur nicht unmittelbar zugeschrieben werden muß. Goode nennt die Delegation von weltlichen Tätigkeiten bei Geistlichen an Laien. Er benennt aber auch einige Grenzen der Delegierung: Professoren dürfen ihre Bücher nicht von anderen schreiben, und Studenten dürfen sich in den Klausuren nicht vertreten lassen. 3. Verzicht Dies ist die immer offen stehende Exit-Option des „Aussteigens“ aus allen Positionen und aus allen damit verbundenen Verpflichtungen, wenn es zuviel wird. Alles hängt dann aber von den Alternativen ab. Das einfache Leben bringt zwar weniger an (Rollen-)Streß, ist aber letztlich doch nicht jedermanns Sache. 4. Ausweitung Man kann auch die Flucht nach vorne antreten: Ich übernehme eine Verpflichtung nach der anderen, weil es dann gute Ausreden gibt. Diese Option stößt aber rasch an ihre Grenzen. 5. Grenzen der Ausweitung Nach einer anfangs durchaus möglichen Minderung des Rollenstresses wächst dieser mit der weiteren Übernahme von Verpflichtungen oft schneller als die Entlastungen durch die zusätzlichen Belohnungen und möglichen Ausreden zunehmen. Es ist wie eine Art von revolvierendem Kredit. Irgendwann einmal ist die Geduld der Gläubiger zu Ende, die dem Schuldner durch immer neue Kredite erlaubten, ihnen ihre Zinsen zu zahlen. 6. Beschränkungen Schließlich kann der Akteur versuchen, andere davon abzuhalten, ihm ständig neue Aufgaben aufzubürden. Es gibt Auszeiten, Akademiejahre, notfalls die eingebildete Migräne oder eine richtige – psycho-somatische – Krankheit.
Mit diesen Strategien bestimmt der einzelne Akteur, ob er in eine bestimmte Rollenbeziehung eintritt oder nicht. Damit ist aber noch nicht entschieden, in welchem Ausmaß er sich in der Rollenausübung einsetzen wird.
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Rollenhandel Dies ist die zweite Strategie der Rollenhandel. Die Grundüberlegung ist wieder einfach: Es wird in diejenige Rollenbeziehung am meisten investiert, bei der anschließend die Leistungsbilanz am günstigsten ist. Drei Faktoren nennt William J. Goode, die die – wie er es auch nennt – Allokation der Rollen-Leistungen bestimmen. Dies ist erstens der mit der Rollenausübung unmittelbar verbundene, wenn man so will: intrinsische, Ertrag. Zweitens sind es die Folgen, die das Rollenhandeln in der unmittelbaren Interaktion mit sich bringen: „So wird meine eigene RollenLeistung durch die Vermutung darüber stark beeinflußt, was denn meinen Schatz lächeln oder die Stirn runzeln läßt.“ (Goode 1973, S. 345) Und drittens sind es die – man könnte es so ausdrücken – Sanktionen von Außenstehenden, einer „dritten Partei“. Die Manipulation des Einflusses solcher dritter Parteien gehört dann auch zu den Möglichkeiten, die der Akteur hat, um seine Bilanz im „Rollenhandel“ zu verbessern.
Mit der Perspektive auf die Strategien der Akteure zieht William J. Goode seine Konsequenzen aus vielen Beobachtungen, daß sich die Menschen im Alltag meist gar nicht sehr an die Rollenerwartungen halten weil sie es von ihren schieren Möglichkeiten her schon nicht können. Dies verändert auch die Sichtweise der Institutionen als über funktionale Positionen definierte normative Erwartungen. Die Institutionen begründen keine „objektiven“, „vor“ jedem Akteur geltenden Erwartungs- und Beziehungssysteme. Sondern: „Unter Rollen-Beziehungen verstehen wir die Folge von ‚Verhandlungen‘ zwischen RollenPartnern, in denen im einzelnen festgelegt wird, was jeder in seiner Rolle zu leisten hat und seinerseits vom anderen erwarten darf; dazu gehören der unausgesetzte Vergleich möglicher Verhaltensweisen in einer Rolle und die Wahl desjenigen Verhaltens, das nach Meinung des Rollen-Spielers seinen Rollen-Stress mindern kann.“ (Ebd., S. 336; Hervorhebungen nicht im Original)
Das klingt ohne Zweifel ganz anders als noch bei Emile Durkheim, von dem zu Beginn dieses Kapitels die Rede war. Durkheim hatte von Pflichten gesprochen, die außerhalb der Person und der Sphäre ihres Willens „im Recht und in der Sitte begründet sind“. William J. Goode konnte dem nicht mehr folgen: Die Integration der Gesellschaft beruht nicht auf den abstrakten Pflichten, sondern auf dem, was die Menschen im Angesicht dieser Pflichten dann daraus machen, wie sie sie handhaben und, wenn es zuviel wird, sie auch manipulieren und unterlaufen. Dies aber nicht, weil sie die Pflichten nicht kennen oder anerkennen würden, sondern weil die Konflikte und der Streß zu groß würden, wenn sie allen Anforderungen der „Gesellschaft“ genügen wollten.
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Die Rollenkonflikte stürzen die Menschen oft in eine unangenehme Situation: Sie müssen, wenn sie einmal bestimmte Positionen übernommen haben, trotz aller Milderungsmechanismen letztlich selbst entscheiden, welcher Rolle oder welchem Rollenelement, und damit: welchem Ausschnitt aus ihren Rollenbeziehungen, sie den Vorzug geben wollen. Die Rollenbeziehungen definieren aber über das betreffende Me gleichzeitig ihre soziale Identität. Und damit ist die Lösung eines Rollenkonfliktes immer auch eine Entscheidung über die Struktur des Selbst. Und da kann man wie bei jeder anderen Entscheidung auch viel falsch machen. Der Ausgangspunkt des Konzeptes der Rollendistanz ist vor diesem Hintergrund eine eigentlich selbstverständliche Feststellung: Die verschiedenen Positionen, Rollenelemente und Rollenbeziehungen sind keineswegs gleich in ihrer Bewertung. Sie haben jeweils einen durchaus unterschiedlichen Status in dem Sinne, was das Wort normalerweise bedeutet: Prestige und Ehre. Entsprechend unterscheiden sich auch die verschiedenen, an die Rollenbeziehungen gebundenen Me’s bzw. sozialen Identitäten, die dem Akteur in seinem Rollenhandeln zugeschrieben werden und die er sich auch selbst zuschreibt in ihrer Bewertung. Und es ist diese Bewertung der verschiedenen Me’s, die ganz wesentlich die Nutzenproduktion durch das Rollenhandeln bestimmt: Vom Status einer Position hängt oft sehr viel für die Erlangung sozialer Wertschätzung bzw. eines positiven Selbstbildes ab. Und deshalb ist es den Menschen eben nicht gleichgültig, welche Positionen sie bekleiden, welche Rollenbeziehungen sie unterhalten, wie sie die verschiedenen Rollen und Rollenelemente gewichten und insbesondere welche soziale Identität ihnen aufgrund ihres Rollenhandelns zugeschrieben wird. Mit der Möglichkeit und im Falle des Rollenkonfliktes: mit der Unausweichlichkeit der „Wahl“ der genauen Verteilung der Pflichterfüllung wird das Handeln damit gleichzeitig immer auch zu einer Statuswahl und zu einer Entscheidung über ein bestimmtes Me, über eine soziale Identität. Dies bedeutet aber nicht nur eine Last der Entscheidung, sondern eröffnet auch Möglichkeiten: die Möglichkeit zur Abwehr der Zuschreibung unerwünschter Identitäten und die Chance, sich eine attraktivere Identität zu schaffen. Und eine der Möglichkeiten, das zu tun, ist die nach außen oft sehr dramaturgisch gezeigte Distanz zur jeweiligen Rolle, die Rollendistanz eben. Sie wurde als Konzept der Rollentheorie von Erving Goffman in die Soziologie eingebracht.
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Zeichen und Ausdruck Die Zuschreibung einer Identität auf einen Akteur ist die Folge von im Prinzip zwei Vorgängen: erstens die Aktivierung eines sog. Personen-Schemas bei einem zuschreibenden anderen Akteur (vgl. dazu noch das folgende Kapitel 8 über die sozialen Drehbücher). Dazu muß es ein solches Schema und gewisse, damit deutlich assoziierte, Zeichen geben. Solche Zeichen hatten wir (in Kapitel 1 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon) als signifikante Symbole bezeichnet. Aber die Zuschreibung muß vom „betroffenen“ Akteur nicht einfach nur hingenommen werden: Er muß sie zweitens selbst akzeptieren, und sei es auch nur für den Moment und für den betreffenden Ausschnitt seines Rollenhandelns. Die Zuschreibung einer bestimmten sozialen Identität ist stets auch ein Teil der sozialen Definition der Situation allgemein, so wie wir dies in Kapitel 5 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ zusammengefaßt haben. In sozialen Situationen geschieht dies in einem wechselseitigen Prozeß von Schema-Aktivierung und Zuschreibungsannahme. Dieser Prozeß kann dann gelegentlich auch zu stabilen Gleichgewichten von Zuschreibungen und Rollenhandeln führen. Bei Wiederholung der Situation werden diese Gleichgewichte dann – in einem interaction ritual – sofort und automatisch wieder erzeugt. Das einfache normative Rollenhandeln ist der prototypische Fall dafür. Bleiben solche Wiederholungen aus, dann müssen die Situationen und die Identitäten immer erst wieder – oft mühsam – neu „definiert“ werden (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und das Konzept der sozialen Konstitution von Situationen).
Der entscheidende Punkt bei der „Definition“ der sozialen Identität in einer Rollenbeziehung sind diese Zeichen. Sie kann der Akteur in gewisser Weise manipulieren und dadurch die Zuschreibung steuern. Die Existenz der Schemata hat er viel weniger unter Kontrolle, ebenso wie seine eigenen Präferenzen für eine erwünschte oder eine unerbetene soziale Identität. Über eine strategisch und dramaturgisch geschickt eingesetzte Zeichengebung kann aber ein Akteur in gewissen Grenzen den Eindruck durchaus kontrollieren, den er auf andere Akteure macht. Und er kann damit das Ausmaß der sozialen Wertschätzung an den groben Kategorien der Rollenbeziehungen gewissermaßen vorbei steuern und zu seinen Gunsten zu beeinflussen versuchen. Wir wollen mit Erving Goffman die Zeichengebung einer Person in einer Situation auch ihren Ausdruck nennen.
Selbstausdruck und Ausstrahlung Zwei Arten von Ausdruck lassen sich beim Rollenhandeln unterscheiden. Erstens der Ausdruck, den sich der Akteur selbst gibt. Hierbei handelt es sich um
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Wortsymbole oder andere Zeichen, die der Akteur ausschließlich dazu verwendet, anderen Akteuren bestimmte Informationen zu geben, die er und die anderen mit diesen Symbolen unmittelbar verknüpfen. Das wichtigste Zeichensystem hierfür ist die Sprache. Es handelt sich bei dem Vorgang um nichts anderes als um Kommunikation im üblichen Sinne: Übertragung von Informationen von einem Sender auf einen Empfänger mit der Absicht, diese Information und keine andere weiterzugeben (vgl. dazu bereits Abschnitt 8.3 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Zweitens geht es um den Eindruck, den der Akteur ausstrahlt. Hierbei handelt es sich um die Aktivierung von Vorstellungen bei den anderen Akteuren durch Handlungen des Akteurs, die dieser aber mit anderen Absichten ausführte. Es sind also die Handlungen, die gleichzeitig zum Zeichen über den Akteur werden und über ihn gewisse Aufschlüsse vermitteln. Ein ungebrochen konformes Rollenhandeln vermittelt somit unter Umständen vom Akteur nicht weiter intendiert den Aufschluß an die anderen Akteure, daß er mit der Rollenbeziehung und der damit verbundenen sozialen Identität ganz zufrieden ist und sie akzeptiert wie der zerstreute Professor, der sich innerlich darüber freut, wenigstens in dieser Hinsicht Einstein oder Adorno zu gleichen. In diesem Zusammenhang wird das sog. Organonmodell der Sprachfunktionen von Karl Bühler wichtig, das wir in Abschnitt 8.3 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon vorgestellt haben. Bühler unterscheidet, so sei erinnert, drei verschiedene Funktionen der Verwendung von Zeichen (aller Art, einschließlich der des Sprechens): die kognitive Funktion der bloßen Darstellung eines Sachverhaltes, die expressive Funktion der – auch: unintendierten – Kundgabe von Erlebnissen und inneren Zuständen des Organismus und eine appellative Funktion von Aufforderungen, die an einen Adressaten mit der expliziten Absicht einer Wirkung gerichtet werden. Karl Bühler umschreibt die drei Funktionen über die Begriffe Symbol (Darstellung), Symptom (Kundgabe) und Signal (Aufforderung).
Ausdrücke, die der Akteur selbst vermittelt, wären in der Sprache des Organonmodells dann Signale, Ausdrücke, die er ausstrahlt, dagegen Symptome, die die anderen Akteure nutzen, ihre Schlüsse auf die „Identität“ des Akteurs mit dem betreffenden Symptom ziehen, danach handeln und so dem Akteur vielleicht gar keine andere Wahl mehr lassen, die zugeschriebene soziale Identität zu akzeptieren, auch wenn er sie gar nicht besonders anziehend findet. Um so verständlicher wird es dann, daß die Menschen alles tun, um dem zu entgehen und im Gegenteil über den geschickten Einsatz von „Symptomen“ und anderen Ausdrücken möglichst versuchen, sich ins beste Licht zu stellen. Die Mode, die gesamte Kosmetikindustrie, das Bundesverdienstkreuz und die vielen Titel, der Wettlauf um die stets neueste Rolex wären nicht verständlich, wenn man nicht immer beachtete, was bei diesem Ausdruckskampf auf dem Spiel steht: die Erzeugung eines möglichst positiven Selbstbildes.
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Davon kann niemand genug bekommen: „Bei der Verteilung von Lob bin ich unbegrenzt belastbar“, sagte der baden-württembergische Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder seinem Ministerpräsidenten Teufel einmal. Und kaum jemand würde dies für sich anders sehen.
Prestigesymbole und Stigmazeichen Titel, Ehrenzeichen und die Ausübung einer angesehenen Rolle sind sämtlich Zeichen, die dem positiven Selbst sehr förderlich sind. Sie werden auch als Statussymbole bzw. als Prestigesymbole bezeichnet. Aber es gibt natürlich nicht nur Prestigesymbole, sondern auch Zeichen, die das Selbstbild des Akteurs wirksam schmälern. Ein in dieser Hinsicht besonders „interessanter“ Fall sind entstellende oder behindernde Körpermerkmale, die der Akteur nur schwer verbergen kann. Eine Entstellung oder eine Behinderung schalten im öffentlichen Umgang wennzwar nicht bei allen Akteuren und auch nicht immer ebenfalls bestimmte Kategorisierungen und Personen-Schemata ein, die der Akteur selbst nicht akzeptieren möchte und deren Zuschreibung er auch nach Kräften zu verhindern versucht. Erving Goffman hat für solche Zeichen den Begriff des Stigmasymbols bzw. des Stigmas eingeführt. (Goffman 1967a, S. 58f.) Stigma ist ein Wort aus dem Griechischen (vgl. Goffman 1967a, S. 9). Damit wurden körperliche Zeichen gemeint, die etwas Ungewöhnliches, Schlechtes oder Unmoralisches über den Träger des Zeichens offenbaren sollten. Die Zeichen wurden in den Körper geschnitten oder gebrannt und zeigten an, daß der Träger ein Sklave, ein Verbrecher oder Verräter sei – eine „gebrandmarkte“, für unrein erklärte Unperson, die es zu meiden galt. Im Christentum wurden dem Begriff zwei Inhalte beigefügt: Erstens gab es nun auch Zeichen der göttlichen Gnade, die zum Beispiel in der Form von Blumen oder den Wundmalen des Herrn auf der Haut bzw. in den Handflächen und auf der Brust aufbrachen. Und zweitens wurden bestimmte körperliche Zeichen als eine Art von medizinischem Hinweis auf physische Unstimmigkeiten genommen.
Stigmatisierte haben in besonders ausgeprägter Weise den Wunsch, die Zuschreibung einer bestimmten sozialen Identität zu vermeiden. Und sie tun auch vieles, um der unerwünschten Zuschreibung zu entgehen. Eine der wichtigsten und oft zu großer Virtuosität ausgebauten Techniken dazu ist die des Täuschens und des Kuvrierens: Blinde lernen, sich wie Sehende zu bewegen, Schwerhörige haben ihre Tricks, Antworten auf unverstandene Fragen zu geben, Landstreicher, Prostituierte, Homosexuelle, Bettler und Drogenabhängige wissen auch bald, was sie in welcher Situation tun müssen, um auf der Vorderbühne des Lebens wenigstens und im Kampf um eine halbwegs ange-
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sehene soziale Identität nicht allzu übel aufzufallen. Bei alledem leitet die Stigmatisierten ein Gedanke: „Wegen der großen Belohnungen, die die Tatsache, als normal betrachtet zu werden, mit sich bringt, werden fast alle Personen, die die Möglichkeit haben, zu täuschen, dies auch bei irgendeiner Gelegenheit absichtlich tun.“ (Goffman 1967a, S. 96)
Das ist natürlich keine einfache Angelegenheit, und sie wird um so schwieriger, je stärker das stigmatisierende Zeichen ist. Die Folge ist ein stetiger Eiertanz um die Optimierung der Eindruckskontrolle: „Das Individuum mit einem geheimen Fehler muß sich demnach der sozialen Situation in der Art eines ständigen Abtastens von Möglichkeiten bewußt sein und neigt daher dazu, der unkomplizierteren Welt entfremdet zu werden, in der die Menschen seiner Umwelt offensichtlich leben. Was für sie trivial ist, wird ihm zum Problem.“ (Ebd., S. 113)
Erving Goffman berichtet von einer gewissen schwerhörigen Frances das Folgende: „Um ihr Geheimnis zu hüten, tüftelte Frances aufwendige Techniken aus, um ‚DinnerFlauten‘, Konzertpausen, Fußballspielen, Tanzen, und so weiter gewachsen zu sein. Aber sie hatten nur den Effekt, sie unsicherer zu machen, und folglich vorsichtiger, und folglich noch unsicherer. So prägte sich Frances ein, was sie bei einer Dinner-Party tun sollte: (1) neben jemandem mit einer kräftigen Stimme sitzen; (2) sich verschlucken, husten oder Schluckauf kriegen, wenn jemand direkt eine Frage an sie richtete; (3) sich der Unterhaltung bemächtigen, jemanden bitten, eine Geschichte zu erzählen, die sie schon gehört hatte, Fragen stellen, deren Beantwortung sie schon kannte.“ (Ebd., S. 131)
Das alles gilt im Prinzip selbstverständlich auch für alle „normalen“ Akteure. Sie haben aber eher ein umgekehrtes Problem: Ihnen wird gewissermaßen als default option eine ganz akzeptable virtuelle soziale Identität zugeschrieben. Aber jederzeit kann die Dekuvrierung drohen: „Selbst der am meisten vom Glück begünstigte Normale hat wahrscheinlich seinen halbversteckten Fehler, und für jeden kleinen Fehler gibt es eine soziale Gelegenheit, bei der er ein drohendes Aussehen annehmen kann und so eine schmachvolle Kluft zwischen virtualer und aktualer sozialer Identität schafft.“ (Ebd., S. 157)
Jeder, der zu Ehren gekommen ist, weiß, was gemeint ist: der ständig auf ihm lastende Alptraum, daß seine Hochstapeleien auffliegen. Denn: Irgendwie sind wir alle Hochstapler jedenfalls vor dem Hintergrund dessen, was wir gerne wären und was uns andere sein lassen. Die einen mehr, die anderen weniger.
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Identitätspolitik Der Akteur steht in jeder rollenmäßig definierten Situation in einer Art von Doppelbeziehung zu den Zuschreibungen, die ihm über die Position und die damit verbundene Rolle aufgenötigt werden oder aufgenötigt werden könnten: Einige Zuschreibungen wird er als richtig und gerecht empfinden, bei anderen sieht er sich in illegitimer Weise behandelt. Über bestimmte Fremddefinitionen wird er sich freuen und sie bereitwillig akzeptieren nach einiger Zeit auch solche, die er selbst nicht als gerechtfertigt ansieht. Und andere werden ihn weniger entzücken, und er wird sie daher abzuwehren versuchen. Die Gesamtheit der Möglichkeiten, Techniken und Strategien, in sozialen Situationen möglichst günstige Zuschreibungen sozialer und im Bereich des persönlichen Umgangs auch: persönlicher Identitäten zu gewinnen, sei als Identitätspolitik bezeichnet.17 Die Identitätspolitik bezieht sich auf zwei Strategien. Erstens auf die möglichst geschickte Auswahl des Positions- und Rollensatzes und damit der Bezugsumgebungen, des Umgangs mit den verschiedenen Rollenkonflikten und der Gestaltung des Verhältnisses von Vorder- und Hinterbühne des alltäglichen Lebens. Und zweitens dann, innerhalb der betreffenden sozialen Beziehungen und Öffentlichkeiten, auf die Manipulation des Ausdrucks, sei es explizit durch Symbole oder implizit durch Symptome. Man könnte das auch als Informations-Management bezeichnen. Es besteht aus dem Versuch, durch eine mehr oder weniger gezielte Kontrolle des Ausdrucks und der Information eine möglichst günstige Identitätszuschreibung zu erhalten. Es ist das geschickte und als Optimierung wenigstens versuchte „Handhaben kritischer Informationen“ (Goffman 1967a, S. 117).
Rollendistanz und Eindruckskontrolle Das Problem, das bei der Rollendistanz im Hintergrund steht, ist ein allgemeiner Zug des Handelns der Menschen: Jeder macht seine Fehler, hat seine Biographie der Peinlichkeiten und möchte dieser Liste möglichst wenig hinzufügen: „Menschen stolpern, vergessen Namen, tragen nicht ganz passende Kleidung, versuchen, eine zu kleine Warenmenge zu kaufen, schneiden bei einem Spiel nicht gut ab, kommen zu einer
17
Vgl. dazu Ronald Hitzler, Kleine Strategien. Zur alltäglichen „Protopolitik des Selbst“, in: Ästhetik und Kommunikation, 23, 1994, S. 83-86.
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Verabredung einige Minuten zu spät, werden in einer Auseinandersetzung etwas zu hitzig oder versagen dabei, eine Aufgabe rechtzeitig zu beenden.“18
Immer steht etwas den Menschen sehr Wichtiges auf dem Spiel: der schöne Schein der virtuellen Identität. Aber die Akteure nehmen dies meist nicht einfach so hin, sondern sie tun etwas. Sie versuchen, die Situation zu retten mit vielerlei Gesten, mit Ironie, Entschuldigungen und mehr oder weniger fadenscheinigen Erklärungen. Und das geht, wenn die Peinlichkeit nicht zu oft, nicht immer in der gleichen Weise und nicht immer vor demselben Publikum geschieht, auch ganz leidlich. Die Rollendistanz ist vor diesem Hintergrund nur eine spezielle Form der Ausdruckskontrolle unter den oft sehr eingeschränkten Bedingungen des Rollenhandelns, dem Ziel, bei der Rollenausübung eine möglichst günstige Identitätszuschreibung zu erhalten. Damit sind nicht die gerade erwähnten Techniken gemeint, wie kleinere Verletzungen der Rollenerwartungen wieder repariert werden können. Dies ist ein Problem der Erhaltung einer virtuellen Identität angesichts aktueller Verletzungen der Erwartungen. Bei der Rollendistanz geht es vielmehr um ein Problem der Optimierung: Der Rollenspieler sieht sich in der betreffenden Situation zwar verpflichtet, die Rolle auszuüben, er empfindet jedoch einen inneren Widerstand dagegen, insbesondere, weil die bruchlose Ausübung der Rolle ein symptomatisches Ausdruckszeichen für eine eigentlich nicht gewollte Identitätszuschreibung darstellt. Erving Goffman demonstriert das Konzept am Beispiel von Kindern verschiedenen Alters, die auf einem Karussell ein Holzpferd reiten sollen (vgl. Goffman 1973b, S. 118ff.). Zweijährige Kinder sind von der Aussicht auf eine Karussellfahrt oft nicht begeistert. Sie wehren sich bis zum letzten Augenblick, um die Fahrt zu verhindern. Und manchmal muß man das Karussell wieder anhalten, weil sie in ihrer Panik ganz durchzudrehen scheinen. Im Alter von drei oder vier Jahren stellt die Aufgabe, auf einem Holzpferd zu reiten, durchaus noch eine Herausforderung dar. Aber sie kann bewältigt werden. Die Eltern müssen nicht mehr sonderlich aufpassen. Und der Reiter wirft sich mit vollem Ernst, unter Einsatz aller seiner Kräfte und nicht ohne Stolz in die Aufgabe. Im Alter von fünf Jahren hat sich das aber schon gewandelt. Ein Reiter auf einem Holzpferd zu sein, ist jetzt nicht mehr genug. Und diese Tatsache muß – wie Goffman feststellt – „aus geziemender Rücksicht auf den eigenen Charakter“ (ebd., S. 121) – auch demonstriert werden. Die Eltern dürfen nun nicht mehr mitfahren, die Sicherungskette wird verschmäht, es wird mit der Hand oder dem Fuß der Takt zur Musik geschlagen, manche Kinder versuchen vorsichtig, sich auf den Sattel zu stellen oder von einem Pferd auf das andere zu wechseln – und anderes mehr. Und dies sind lauter Zeichen, mit dem das Kind sagen will: „Was ich auch bin, ich bin nicht bloß jemand, der mit knapper Not auf einem hölzernen Pferd bleiben kann.“ (Ebd.)
18
Erving Goffman, Interaktion: Spaß am Spiel. Rollendistanz, München 1973a, S.117.
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Eine jede „Rolle“ ist für alle Neulinge zunächst eine Herausforderung. Zuerst hat jeder Mühe, sie technisch überhaupt in den Griff zu bekommen, aber es ist durchaus eine Ehre, sie schließlich zu beherrschen auch wenn manche dabei die Panik befällt. Dann kommt das Stadium, in dem es keine Trennung zwischen dem Akteur und seiner Aufgabe gibt: Die Personen werden von der Rolle ganz und gar erfaßt. Das Alltagsleben ist voll davon: Politessen, Parkwächter oder Mensafrauen sind gute Beispiele für das Gegenteil der Rollendistanz: die Rollenerfassung. Schließlich aber wird unter Umständen die mit der Rolle verbundene soziale Identität nicht mehr bruchlos akzeptiert, sondern aktiv versucht, diese Differenz zwischen dem erwünschten Selbst und der Rolle auch nach außen zu manifestieren: „Ob dieses ausgelassene Verhalten beabsichtigt oder unbeabsichtigt, echt oder ‚gespielt‘ ist, richtig eingeschätzt von anderen Anwesenden oder nicht – es stellt einen Keil zwischen dem Individuum und seiner Rolle, zwischen Tun und Sein dar.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Diese demonstrierte und inszenierte Differenz zwischen Individuum und Rollenerwartung ist die Rollendistanz. Sie ist ein durchaus bewußt eingesetztes Ausdruckszeichen zur Demonstration dessen, daß man sich mit der Identität, die die Rolle in ihrem Kern repräsentiert, nicht identifiziert, und daß man eine andere, wünschenswertere Zuschreibung anstrebt, auch wenn die Verhältnisse hier: auf dem Holzpferd leider nichts anderes erlauben, als mitzumachen: „Diese ‚effektiv‘ ausgedrückte, zugespitzte Trennung zwischen dem Individuum und seiner mutmaßlichen Rolle werde ich ‚Rollendistanz‘ nennen. Hier geht es um eine Abkürzung: Das Individuum leugnet tatsächlich nicht die Rolle, sondern das faktische Selbst, das in der Rolle für alle Darsteller enthalten ist, die die Rolle akzeptieren.“ (Ebd., S. 121; Hervorhebung im Original)
Mit zunehmendem Alter wird die Trennung von der Rolle immer deutlicher: Mit sieben oder acht wird vollends demonstriert, daß das Reiten auf einem Holzpferd unter jeder Würde ist: Das Kind reitet ohne Zügel, wählt statt eines Pferdes bewußt ein Schwein oder einen Frosch oder hält ganz nonchalant ein Magnum in der rechten Hand. Mit elf oder zwölf ist der gewünschte Teil der Identität zu einem ernsten Problem geworden: die Demonstration von Männlichkeit. Auf einem Karussell wird dies zu einer ernsten Aufgabe. Dann muß man das Reiten entweder ganz zu vermeiden suchen oder es zu einem demonstrativ schöpferischen oder ironischen Akt machen. Erwachsene, die sich aus der Karussellfahrt eine Gaudi machen, entfalten noch andere Techniken der Rollendistanz. Etwa: „Eine junge Dame, die im Damensitz reitet, kichert ‚Es ist kalt‘ und ruft dem Freund ihres Freunds, der zusieht, zu: ‚Komm, sei kein Feigling!‘“ (Ebd., S. 123) Und wer hätte nicht die virtuose Rollendistanz der Karussellbediensteten schon bewundert, die mit großer Behendigkeit über das sich drehende Karussell turnen – und mit dieser durchaus nicht ungefährlichen Form der Distanzierung demonstrieren, daß sie ihren Job vollkommen beherrschen und eigentlich auch zu Höherem berufen sind.
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Für diese Demonstrationen ist die Anwesenheit eines Identitäten zuschreibenden Publikums ganz entscheidend. In stiller Pflichterfüllung nutzt die Rollendistanz nicht viel. Dann ist es immer besser, seine Sache so gut wie möglich zu machen, um wenigstens alle die Belohnungen zu bekommen, die mit der strikten Rollenerfüllung winken (vgl. dazu auch noch Abschnitt 8.4 unten in diesem Band).
Rollendistanz und Ich Solange die Rolle und das Rollenhandeln attraktive Zuschreibungen versprechen, ist das Hauptproblem nur die korrekte Ausfüllung der Rolle. Dann gehen die Akteure ganz in ihr auf. Sie werden von der Rolle „erfaßt“. Und sie „identifizieren“ sich mit ihr. Am Beispiel der Rollendistanz wird aber wie bei der Lösung von Rollenkonflikten besonders deutlich, worin die Dynamik des Rollenhandelns letztlich verankert ist, auch wenn dies häufig genug durch die Rollenerfassung der Menschen verdeckt wird. Einerseits ist die Rolle eine objektive Vorgabe für die Nutzenproduktion. Und insofern ist die Akzeptanz der damit verbundenen sozialen Identität keine beliebige Angelegenheit. Andererseits bleibt aber stets die Differenz zwischen den mit der Rolle verbundenen Zuschreibungen und der vom Akteur selbst gewünschten Identität. Nicht alle Rollen bringen nur attraktive Zuschreibungen mit sich. Und der Akteur hat durchaus eigene Vorstellungen davon, wie er gerne von anderen gesehen werden möchte und wie er sich selbst gerne in der Situation zu sehen wünscht. Diese Trennung zwischen dem gewünschten und dem durch eine ungebrochene Rollenausübung zugeschriebenen Selbstbild ist es, was die Menschen dazu bringt, durch eine Reihe sehr findiger Tricks zu demonstrieren, daß sie beides können: die Rolle spielen, aber auch den Anspruch beizubehalten, „eigentlich“ noch etwas anderes sein zu können. Das geht unter anderem auch damit, daß man sich, wenn es sehr unangenehm ist und kaum etwas anderes übrig bleibt, hinter dem verschanzt, was eine „Rolle“ ja ohne Zweifel auch wenngleich nicht nur! ausmacht: die nahezu moralische Pflicht, den Rollenvorgaben ohne längeres Fragen zu folgen. Aus dem Eichmann-Prozeß von 1961 ist der folgende Dialog zwischen Eichmann und seinem Richter Halevi überliefert: Halevi: Eichmann:
Haben Sie nie einen – was man einen Gewissenskonflikt nennt zwischen Ihrer Pflicht und zwischen Ihrem Gewissen? Man könnte es eher Gespaltenheit nennen, und zwar eine, eine bewußte Gespaltenheit, wo man sich von der einen Seite in die andere flüchtete und umgekehrt.
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Institutionen
Halevi: Eichmann:
Man hatte auf sein persönliches Gewissen zu verzichten? Man kann es so audrücken, jawohl, und zwar, weil man es selber nicht regulieren konnte, einrichten konnte.
Die Rollendistanz ist wie die verschiedenen anderen Lösungen des Rollenkonfliktes eine Art von Kompromiß, die das Selbst des Akteurs mit seinen verschiedenen Me’s aushandelt, um damit insgesamt zu einer optimalen Bilanz der Zuschreibungen durch die anderen Akteure zu kommen und so die Nutzenproduktion auch unter den Bedingungen der normativen Festlegungen sozialer Positionen möglichst effizient zu gestalten.
7.5
Rollenambiguität
Rollenkonflikte bringen den Akteur in Schwierigkeiten, weil er nicht die Mittel hat, allen Anforderungen gleichzeitig zu genügen. Die Rollendistanz ist eine Strategie, um einer unerwünschten Identitätszuschreibung durch ein bestimmtes strategisches und alle Möglichkeiten findig nutzendes Rollenhandeln zu entgehen. In beiden Fällen wissen die Akteure aber ganz genau, was im Prinzip zu tun wäre: Die Rollen sind als Modelle und verbindliche Vorbilder für die betreffende Situation wohldefiniert und gut bekannt; die Situation selbst ist mit signifikanten Symbolen deutlich ausgeflaggt; und der Akteur hat die Assoziation zwischen signifikantem Symbol und dem gedanklichen Modell der Rolle gut gespeichert. Nur: Es geht oder soll nicht ganz so gehen wie die Rollenerwartungen es vorschreiben. Deshalb der Rollenstreß, deshalb der Rollenhandel und deshalb auch die Rollendistanz. Aber keineswegs immer ist für den Akteur erkennbar, was gerade von ihm verlangt wird. Alle drei Möglichkeiten sind – in beliebigen Kombinationen – denkbar: Die Rollen sind – erstens – als Modelle nur undeutlich formuliert, die Erwartungen sind unklar und vieles kann bzw. muß der Akteur selbst zur „Gestaltung“ der Rolle tun. Oft ist dies sogar als Erwartung in der Rolle enthalten: Nicht die blinde Ausübung, sondern die kreative Ausfüllung der Rolle wird erwartet. Zweitens kann es an „signifikanten“ Hinweisen fehlen, wie die Situation gerade definiert und welche Rolle gerade verlangt wird. Und drittens kann es zwar deutliche Symbole und klare Erwartungen geben, aber die Verbindung zwischen beidem ist dem Akteur nicht bekannt oder hat sich gerade durch eine Störung deutlich abgeschwächt.
Solche schwach oder gar nicht definierten Rollen-Situationen seien als Rollenambiguität bezeichnet. Es ist ein Spezialfall der nicht-definierten Situation ganz allgemein: Die Akteure wissen nicht, woran sie sind, was sie voneinander halten sollen und was gerade als wichtig gilt. Und deshalb reden sie im Zugabteil, beim Betriebsausflug oder beim netten Abend mit dem Chef erst
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einmal über das Wetter. Erving Goffman beginnt sein Buch über die Selbstdarstellung im Alltag genau mit dieser Situation: „Es kann aber vorkommen, daß, während der Einzelne sich in Gegenwart der anderen befindet, nur wenige Ereignisse eintreten, die ihnen schlüssige Informationen vermitteln, die sie benötigen, um ihr eigenes Verhalten richtig zu planen.“19
Ein interessanter Fall einer solchen nicht-definierten Situation ist die des Befragten im wissenschaftlichen Interview. Zwar gibt es durchaus so etwas wie eine Rolle des Befragten. Sie verlangt, daß der Befragte wahrheitsgemäß antwortet, höflich ist und sich nicht darum kümmert, auch unangenehme Dinge freimütig, distanziert und neutral preiszugeben. Die Rolle des Befragten ist aber nicht sehr verbreitet. Und dann geht – im Angesicht des Interviewers und mit Kenntnisnahme der Fragen und der ganzen Art der Befragung – das Rätselraten los, was eigentlich verlangt wird. Meist bleibt die Angelegenheit letztlich für den Befragten recht dunkel. Er hält sich dann an die für ähnliche Situationen der Begegnung mit Fremden üblichen Höflichkeitsregeln – und wundert sich nicht sehr, wenn die unmöglichsten Dinge von ihm verlangt werden. Kurz: Er antwortet auf alles, und das so, wie er die Frage versteht. Und wenn er etwas – was oft genug vorkommt – einmal nicht versteht, dann sagt er irgend etwas, um dem Interviewer bei seinem Job zu helfen, im Zweifel einfach „ja“ – eine defensive Strategie der Rücksichtnahme, der Unterwerfung, zur Risikominimierung unter Unsicherheit: Wer „ja“ sagt, dem wird schon nicht widersprochen.20
Bei der Befragung wird diese Offenheit gewissermaßen erwartet. Und wenigstens das wird meist gewußt. In undefinierten Situationen des Alltags halten die Akteure solche Unsicherheiten aber nicht lange aus. Und sie suchen dann mehr oder weniger rasch und verzweifelt nach allen möglichen Hinweisen darauf, was eigentlich der Fall ist. In einem Interaktionssystem mehrerer Personen löst dies einen Prozeß der gemeinsamen Definition der Situation aus. Er beginnt mit den augenfälligsten kategorialen Merkmalen, aus denen die Akteure ihre mehr oder weniger: vagen Schlüsse ziehen und daraufhin in bestimmter Weise handeln. Die ersten, wechselseitig erkennbaren Handlungen werden im hier angenommenen Regelfall einer konsensuell-freundlichen Grundstimmung als Zeichen für bestimmte Ansprüche der Akteure auf eine bestimmte „Definition“ sowohl der Situation insgesamt als auch ihrer Identität gewertet. Und darauf wird dann wieder reagiert bis es zu einem situational erzeugten Konsens über die 19
Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 2. Aufl., München 1973b, S. 6.
20
Vgl. dazu Hartmut Esser, Können Befragte lügen? Zum Konzept des „wahren Wertes“ im Rahmen der handlungstheoretischen Erklärung von Situationseinflüssen bei der Befragung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 38, 1986, S. 317.
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„Definition“ der Situation kommt (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Es sind also tatsächlich gerade die allerersten drei Sekunden in Situationen mit Rollenambiguität, in denen sich der Pfad der dann kommenden kollektiven Definition der Situation entscheidet: „Berücksichtigen wir, daß die Partner einer Interaktion die Definitionsansprüche der anderen zu akzeptieren geneigt sind, so können wir die entscheidende Bedeutung verstehen, die gerade jenen Informationen zukommt, die der Einzelne anfangs über seine Partner erwirbt oder besitzt; denn auf der Grundlage dieser Anfangsinformationen beginnt er die Situation zu definieren und die Richtung seiner Reaktionshandlungen auszubauen. Seine anfängliche Projektion verpflichtet den Einzelnen auf das, was er zu sein behauptet, und zwingt ihn, jeden Anspruch fallenzulassen, etwas anderes zu sein.“ (Goffman 1973a, S. 13f.; Hervorhebung im Original)
Weil alle anderen füreinander jeweils nur diese allererste Information nutzen, hat auch niemand mehr die Kontrolle darüber, die anfängliche Definition zu ändern, will er nicht riskieren, daß das soeben begonnene System wieder zusammenfällt: „Im Verlauf der Interaktion wird der ursprüngliche Informationsbestand natürlich ergänzt und modifiziert, aber es ist dann wesentlich, daß die späteren Entwicklungen widerspruchslos mit den ursprünglichen Positionen der einzelnen Partner verknüpft und sogar auf sie aufgebaut werden.“ (Ebd., S. 14)
Und nun versteht man auch besser, warum es etwa bei Gutachtersitzungen oder bei Podiumsdiskussionen oft zu einem ganz gnadenlosen Wettbewerb um das erste Wort kommt: Jetzt werden die Positionen besetzt, und jeder möchte das natürlich so tun, daß er möglichst mit seinen Talenten und mit seinem Kapital gut dabei herauskommt. Denn das wissen die erfahrenen Teilnehmer an undefinierten Situationen ganz genau: „Es scheint, als sei es für den Einzelnen leichter, zu Beginn einer Begegnung auszuwählen, wie er von den anderen behandelt werden will, als später die Art der Behandlung zu verändern, wenn die Interaktion einmal begonnen hat.“ (Ebd.)
Deutlich markierte und gut strukturierte Rollen und soziale Drehbücher definieren Situationen vorab. Mit den Rollenkonflikten und mit den Möglichkeiten zur Rollendistanz verlieren Rollen aber einen Teil ihrer Definitionskraft. Und das Ergebnis ist ein Zustand, der die Soziologie stets fasziniert und beschäftigt hat: eine „proto“-soziale, eine „anomische“ Situation, aus der sich erstaunlicherweise oft schon nach kurzer Zeit eine stabile und wechselseitig geteilte Ordnung und Definition der Situation ergibt. Wenn sich aber dieser Typ einer offenen Situation mit den gleichen Akteuren einige Male wieder-
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187
holt, dann ist es auch mit der Rollenambiguität wieder vorbei wie mit der „Proto“-Soziologie, die nur undefinierte Situationen kennen will.
7.6
Rollenhandeln
Rollen sind das wissen wir inzwischen an funktional definierte Positionen gebundene Muster sanktionierbarer Erwartungen. Positionen handeln aber nicht. Das müssen immer noch die lebendigen Menschen tun, die die Positionen besetzen. Das Handeln im Rahmen von Rollenerwartungen sei als Rollenhandeln bezeichnet. Das Rollenhandeln ist nichts Besonderes. Es ist ein Spezialfall des Handelns angesichts der Geltung sozialer Normen. Das heißt: Das Rollenhandeln findet, wie jedes Handeln, stets vor dem Hintergrund von Alternativen statt. Ein von der Rolle „abweichendes“ Verhalten wäre stets möglich. Die inneren wie die äußeren Sanktionen sind Gründe für das mit den Erwartungen konforme Rollenhandeln. Das Rollenhandeln ist aber ebensowenig kostenfrei zu haben wie jedes andere Handeln auch – besonders wenn es Rollenkonflikte und damit unvermeidliche Opportunitätskosten gibt. Oft umlauern den Akteur alle möglichen Versuchungen für ein von der Rolle abweichendes Verhalten (vgl. dazu schon die Kapitel 5 und 6 oben in diesem Band). Zu diesen alternativen Anreizen gehört – wie wir im Zusammenhang des Konzeptes der Rollendistanz gesehen haben – nicht zuletzt eine manchmal attraktivere Identität als die, die mit dem rollenkonformen Handeln von der sozialen Umgebung zugeschrieben würde. Und oft genug kann ein Akteur gar nicht anders, als von der Rolle abzuweichen, einfach weil er die Mittel nicht hat, der Rolle zu genügen.
Letztlich bleibt daher auch das Rollenhandeln immer eine Selektion durch die Akteure und eine Frage der Möglichkeiten, der Bewertungen und der Erwartungen, auch wenn der Augenschein etwas anderes nahelegt wie etwa das dumpf-traditionale Ausüben rollenbezogener Interaktionsrituale oder jene vollständige „Erfassung“ des Akteurs durch seine Rolle, bei der angesichts der augenscheinlichen Begeisterung und Identifikation von einer „Wahl“, wie es scheint, die Rede nicht sein kann.
Role-Playing Das gilt besonders für den von der Entscheidungsstruktur her einfachsten Fall des Rollenhandelns, das sog. Role-Playing. Dabei sind die Rollen als kognitive Muster wohldefiniert und mit signifikanten Symbolen deutlich markiert. Die Sanktionen sind ausgeprägt und sicher. Und andere Anreize gibt es nicht. Dann ist die Befolgung der Rolle bis auf die Kleinigkeit der technischen und motorischen Ausführung keine Frage mehr, auch dann nicht, wenn der Auf-
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Aufwand sehr groß und die Kosten beträchtlich sind. Das Rollenhandeln ist in diesem Fall wegen der Deutlichkeit, mit der jede andere Alternative jetzt ausgeschlossen scheint eine ganz automatisch erscheinende Reaktion, sobald über die betreffenden signifikanten Symbole der Moment angezeigt wird, daß die fragliche Situation jetzt gegeben ist. In diesem einfach strukturierten Fall wird die Rolle also von einem eher passiven Akteur so gut es technisch eben geht ausgeübt, ohne daß dabei besondere Reflexionen, Interpretationen, strategische, opportunistische oder „rationale“ Überlegungen beteiligt wären. Die meisten Rollenbeziehungen des Alltagslebens vollziehen sich gottlob auf diese wenig aufwendige und nur mäßig aufregende Weise.
Das normative Paradigma Das sog. normative Paradigma ist das Modell des Rollenhandelns, an dem sich das Konzept des Role-Playing als Normalfall orientiert. Seine Grundannahmen lassen sich nach Thomas P. Wilson in einer einfachen Hypothese zusammenfassen:21 Es gibt eine fixe Verbindung zwischen den situativen Symbolen, den im Gedächtnis gespeicherten Erwartungen und der Auslösung des Handelns. Diese Annahme gilt zunächst für jedes beliebige Handeln. Bezogen auf das Rollenhandeln bedeutet das, daß der Akteur die über die Rollenerwartungen definierte Situation verläßlich wiedererkennt und das mit den Erwartungen verbundene Handeln sozusagen „automatisch“ abspult (vgl. dazu schon Abschnitt 3.4 oben in diesem Band, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Beim Role-Playing tut der Akteur also eigentlich nicht viel. Er führt die Rollenerwartungen ohne weitere Gedanken nur „technisch“ aus, wenngleich nicht ohne Identifikation und andere innere Gefühle, je nachdem, aber stets „so wie immer“, als alltägliches Interaktionsritual etwa, nachdem er die betreffende Situation an ihren typischen Markierungen als „gültig“ identifiziert hat. Dazu muß der Akteur freilich, wie es heißt, wohlsozialisiert sein: Er muß die Markierungen der Situation und die daran hängenden Erwartungen gelernt und nach Möglichkeit auch gut internalisiert haben, was von ihm verlangt wird. Mehr ist aber nicht nötig, schon gar nicht: Überlegen und Entscheiden.
21
Thomas P. Wilson, Theorien der Interaktion und Modelle soziologischer Erklärung, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.), Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Band 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, Reinbek 1973, S. 54-79.
Soziale Rollen
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Komplikationen Die Abschnitte 7.3 bis 7.5 dieses Kapitels über die sozialen Rollen waren nun nichts anderes als eine Zusammenfassung aller möglichen Komplikationen dieses einfachen Modells des normativen Paradigmas bzw. des Role-Playing. Nämlich: Rollenkonflikte bringen den Akteur ins Grübeln, welcher Rolle bzw. welchem Rollenelement er mehr Gewicht einräumen solle bzw. welche Schutzmaßnahmen vor dem Rollenstreß zu treffen seien. Das Phänomen der Rollendistanz erinnerte daran, daß der Akteur nicht immer mit dem Me zufrieden ist, das er jetzt in seinem Rollenhandeln repräsentieren soll, und daß er sich für sein Selbst noch eine andere – günstigere – Zuschreibung vorstellen und anstreben kann. Und eine eventuell bestehende Rollenambiguität zwingt den Akteur dazu, sich in einer wenig definierten Situation nur erst allmählich vorzutasten und – in interaktiver Abstimmung mit den anderen, ebenfalls tastenden Akteuren – zu einer immer fragil und vorläufig bleibenden, stets revidierten „Definition“ der zunächst ganz diffusen Situation zu kommen. In Kapitel 9 unten in diesem Band werden wir noch einen weiteren Aspekt kennenlernen, der gegen die einfache Annahme des Role-Playing spricht: die Existenz von materiellen Interessen und darauf gründenden Interdependenzen unter den Akteuren, die die Akteure oft geradezu auch gegen die formelle Definition der Rolle zwingen, etwas anderes zu tun als normativ erwartet wird.
Der soziologischen Rollentheorie sind diese Komplikationen nicht verborgen geblieben. Im Gegenteil: Fast drei Jahrzehnte lang hat sich die soziologische Theorie des sozialen Handelns praktisch alleine um die Frage gedreht, wie denn das Verhältnis zwischen Situation, Akteur und Rollenhandeln im Angesicht dieser Komplikationen aussehe. Kristallisiert hat sich die Diskussion an einer fundamentalen Kritik am normativen Paradigma durch Thomas P. Wilson und an dem Vorschlag für eine alternative Sichtweise: das sog. interpretative Paradigma (vgl. auch dazu noch ausführlicher Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Das interpretative Paradigma Das interpretative Paradigma war die theoretische Antwort der Soziologie auf den offenkundig immer weniger anwendbaren Spezialfall des allein normativ gesteuerten Handelns. Die Grundidee ist auch hier ganz einfach: Das Handeln ist, anders als es das normative Paradigma annimmt, eben keine bloße Frage der Wiedererkennung von typischen Situationen, der „logischen“ Ableitung und der motorischen Ausführung des damit fest verbundenen Handelns, sondern die Folge von einem „interpretativen Prozess“ (Wilson 1973, S. 58). Damit ist gemeint, daß die Markierungen der Situation nur als Anhaltspunkte für die Selektion des Handelns dienen, und daß dabei die normativen Erwartungen zwar in die Reflexion eingeschlossen werden, aber nicht
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der einzige Bestandteil sind. Der grundlegende Unterschied des interpretativen zum normativen Paradigma liegt damit in der Annahme, daß jedes Handeln, auch das an Normen orientierte, eben doch Nachdenken und Entscheiden beinhalte. Der gelehrte Ausdruck dafür ist der der „Reflexion“. Wir kennen den Vorgang als „rationale“ Wahl schon seit dem Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
Die „Reflexion“ der Rollen Das Konzept des Role-Playing ist ein sehr einfaches und oft genug auch vollkommen ausreichendes Modell des Rollenhandelns. Es funktioniert ganz gut bei starker kultureller Homogenität, bei ähnlichen und scharf abgegrenzten Interessenlinien und in stark konturierten Situationen, in denen für die Akteure bei einer „Abweichung“ vom vorgeschriebenen (Rollen-)Pfad viel auf dem Spiele steht. Spätestens mit den Rollenkonflikten und mit dem Rollenstreß, mit der Offenheit vieler Erwartungen, mit der Gestaltbarkeit und mit der Gestaltungsnotwendigkeit vieler Rollen wird aber auch deutlich, daß das Rollenhandeln immer ein aktiver und kreativer Prozeß ist. Es kann nur deshalb manchmal so aussehen wie die dumpfe Konformität des traditionalen Handelns, weil die Verhältnisse einfach und eindeutig und weil das erwartete Handeln den Akteuren mit den gegebenen Ressourcen auch vergleichsweise problemlos möglich ist. Das Modell des Rollenhandelns nach dem normativen Paradigma wie es am deutlichsten Ralph Linton formuliert hat wird so als ein Grenzfall sichtbar: für den Fall der rigiden, formal stark regulierten und sanktionierten Interaktionen etwa in Bürokratien oder auf dem Kasernenhof. Immer aber dann, wenn die Regelungen offener, die Folgen undurchsichtiger oder die Opportunitätskosten eines einfach-unreflektierten Rollenhandelns „streng nach Vorschrift“ höher werden, muß es zu einer Vervollständigung der „offenen“ Stellen im Rollen-Drehbuch durch die Akteure selbst kommen. Sie werden strukturell! zu einer mehr oder weniger intensiven „Reflexion“ der Folgen ihres Tuns gezwungen. Manchmal müssen sie erst noch mühsam „konstruieren“, was sie sonst an eindeutigen sozialen Erwartungen immer schon vorgefunden haben. Und gelegentlich müssen sie damit rechnen, bei unvorsichtigem rollenkonformem Handeln von den anderen Akteuren über den Tisch gezogen zu werden. Das Rollenhandeln wird in allen diesen Fällen zu einem mehr oder weniger: empathisch-strategisch oder mitfühlendsympathisch gemeinten wechselseitigen „taking the role of the other“, wie dies George Herbert Mead ausgedrückt hat.
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Rollenübernahme Die verschiedenen Formen eines derart reflektierten Rollenhandelns werden zusammenfassend als Rollenübernahme bezeichnet. Zwei Fragen führen insbesondere zur Reflexion der Rolle und zur Rollenübernahme. Erstens: Wie ist die Situation eigentlich „definiert“? Zweitens: Wie kann ich meine IchInteressen vor dem Hintergrund der bereits erkennbaren Definition der Situation dann noch einbringen? Diese beiden Fragen ändern den Modus, in dem der Akteur jetzt auf die Situation sieht: „The idea of role-taking shifts emphasis away from the simple process of enacting a prescribed role to devising a performance on the basis of an imputed other-role. The actor is not the occupant of a position for which there is a neat set of rules – a culture or set of norms – but a person who must act in the perspective supplied in part by his relationship to others whose actions reflect roles he must identify.“22
Die Reflexion, das die Situation beurteilende und die Folgen überlegende und das Tun planende Denken der Menschen, ist bei einer Rollenübernahme damit die „individuelle“ Drehscheibe des Rollenhandelns auch dann, wenn es einen festen positionalen und normativen Rahmen dafür geben sollte. Die Rollenübernahme ist daher stets von einem mehr oder weniger großen Rest an Unsicherheit begleitet, ganz anders als das „automatische“ Ausführen der Rolle. Und diese Unsicherheit führt zu einem beständigen Suchprozeß mit der nie ganz beantworteten Frage, was eigentlich der Situation angemessen und dem Akteur dienlich sei. Noch einmal Ralph H. Turner dazu, der zu Recht betont, daß „Since the role of alter can only be inferred rather than directly known by ego, testing inferences about the role of alter is a continuing element in interaction. Hence the tentative character of the individual’s own role definition and performance is never holly suspended.“ (Ebd.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Jeder gefundene Arbeitskonsens von Rollenträgern in einer Rollenbeziehung über die jeweiligen Rollenerwartungen und besonders über die Absichten und Bedeutungen des Handelns des jeweils anderen Akteurs ist daher immer nur vorläufig und unterliegt im Prinzip einem Prozeß der ständigen Reinterpretation. Es sei denn: Das Ganze wiederholt sich immer wieder.
22
Ralph H. Turner, Role-Taking: Process versus Conformity, in: Arnold M. Rose (Hrsg.), Human Behavior and Social Processes. An Interactionist Approach, Boston 1962, S. 23; Hervorhebungen so nicht im Original.
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Role-Taking und Role-Making Zwei Arten der Rollenübernahme, des aktiven und reflektierten Rollenhandelns also, sind zu unterscheiden. Die erste bezieht sich auf Situationen, die nicht eindeutig definiert sind und in denen die Akteure selbst immer noch herausfinden müssen, was sie gegenseitig voneinander zu erwarten haben. Diese Art der „Definition“ einer zunächst offenen Situation durch eine „gesellschaftliche Konstruktion“ wollen wir im Anschluß an Ralph H. Turner (1962, S. 21ff.) als Role-Taking bezeichnen: die immer wieder neu reflektierte Übernahme der Rolle in einem stets vorläufigen, die Absichten und Vorstellungen der anderen Akteure empathisch interpretierenden, schrittweise sich anpassenden und die jeweilige Rollenbeziehung gemeinsam und simultan „definierenden“ Prozeß. Es ist jener Vorgang, über den aus einer Rollenambiguität allmählich eine Art von Institutionalisierung gegenseitiger Erwartungen stattfindet. Die zweite Art der aktiven und reflektierten Ausgestaltung von Situationen knüpft an die Analysen der Rollenkonflikte, der Rollendistanz und der Situation als komplexes strategisches Feld an: die aktive Ausgestaltung einer eigentlich in ihren Anforderungen fest definierten und auch den Akteuren wechselseitig gut bekannten Rolle teilweise auch in bewußter Abweichung von den institutionell vorgeschriebenen Erwartungen. Wir wollen diese Form der kreativen, an der Gesamtsituation orientierten und reflektierten, Rollengestaltung, ebenfalls im Anschluß an Ralph H. Turner, Role-Making nennen. Die gezielte Segregation von Rollenelementen, die Demonstration eines anderen Me durch das mit der ausgeübten Rolle etwas unzufriedene I, die Modulation des Rollenhandelns im Interesse einer heiklen Zusammenarbeit, der resignative Rückzug aus einer Rolle und die aggressive Verletzung normativer Grenzen sind sämtlich Formen eines solchen Role-Making. Rollen und typische Situationen Das Rollenhandeln ist nach den Überlegungen des interpretativen Paradigmas eine spezielle Form des sozialen Handelns: eine über Zeichen und deren Bedeutung gesteuerte, Sinn verwendende und Sinn herstellende „symbolische“ Interaktion (vgl. dazu bereits Abschnitt 8.2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Grundsätzlich wird danach jede Rolle in den Interaktionen selbst immer erst wieder „neu“ geschaffen. Die Regeln, Normen, Rollen und sozialen Strukturen bestehen so gesehen nicht irgendwie „unabhängig“ von den menschlichen Akteuren, sondern immer nur im Vollzug, Anzeigen, Interpretieren und erneutem Vollzug des Handelns. Gleichwohl kennt aber auch die interpretative Rollentheorie typische und wiederkehrende Situationen, wie eine Konferenz, eine Straßenkreuzung oder ein Rendezvouz. In den typischen Situationen des „gemeinsamen Handelns“ und in den „Gesamtheiten“, die daraus entstehen können, gibt es durchaus auch so etwas wie „vorab“ definierte Positionen und Rollen. Rollen sind dabei „Sets von Bedeutungen“ oder
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„ ... cluster of related meanings and values that guide and direct an individual’s behavior in a given social setting ... .“23
Zur Erklärung der Übernahme einer so definierten Rolle wird dabei freilich immer alles das vorausgesetzt, was das interpretative Paradigma annimmt: die Interpretation der Bedeutungen und die schließliche „Definition“ der Situation. Der grundlegende Vorgang, auch bei solchen „typischen Situationen“ und „cluster of related meanings and values“ bleibt daher immer das aktive, letztlich konsequenzenorientierte Tun der Menschen und ihre wechselseitige Beobachtung und Vergewisserung, ob sie sich wirklich in der typischen Situation wiedergefunden haben, von der sie eingangs ausgegangen sind. Das Konzept der „interpretativen“ Rollenübernahme ist eine Folge der Einsicht, daß keine „Struktur“ auf einem anderen Grund steht als dem der „Konstruktionen“ der handelnden Menschen, und daß deren Handeln auch in der eingelebtesten Routine etwas mit „Entscheidungen“ zu tun hat, die im Prinzip auch anders ausfallen könnten.
Exkurs über die Frage, ob es eine Beziehung zwischen dem Typ des Rollenhandelns und den Strukturen der gesellschaftlichen Verhältnisse gibt Role-Playing ist das Modell der Ausübung von Rollen, das die Akteure als bloß passive „Agenten“ der normativen Strukturen sieht. Role-Taking und Role-Making sind dagegen Konzeptionen der Rollenübernahme, in denen der subjektive, interpretative und aktive Anteil der Akteure sehr viel höher veranschlagt wird. Beim Role-Playing bleibt der Akteur als aktives Subjekt weitgehend auf der Strecke: Es geht in der Rolle buchstäblich auf. Es meldet sich erst wieder dann aber nachhaltig im Role-Taking und im Role-Making: Wenn Rollenkonflikte von ihm eine Entscheidung verlangen, wenn das Selbstbild stark gefährdet ist, wenn die Erwartungen unklar sind oder wenn die Rolle mit gewissen Modulationen und mit Rollendistanz ausgefüllt werden muß. Das normative Paradigma vertritt das Modell des Role-Playing, das interpretative Paradigma das des Role-Taking bzw. des Role-Making. Die beiden Modelle der Rollenübernahme und die beiden entsprechenden Paradigmen werden üblicherweise als einander ausschließende, sich teilweise sogar sehr 23
Arnold M. Rose, A Systematic Summary of Symbolic Interaction Theory, in: Arnold M. Rose (Hrsg.), Human Behavior and Social Processes. An Interactionist Approach, Boston 1962, S. 10; Hervorhebungen nicht im Original.
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bekämpfende Ansätze in der Soziologie angesehen. Könnte es aber nicht sein, daß beide Recht haben? Natürlich nicht in dem Sinne, daß zwei unterschiedliche Aussagen gleichermaßen wahr sein könnten. Die Wahrheit ist unteilbar. Aber vielleicht gibt es ja Situationen, in denen das Role-Playing die naheliegende Art der Rollenübernahme ist, während in anderen Situationen das RoleTaking bzw. das Role-Making eher angesagt wäre und deshalb stattfindet? Und könnte es ferner nicht auch sein, daß die Menschen sehr gute Gründe haben, den Modus des Reagierens auf Rollenerwartungen je nach Situation zu ändern: einmal eher automatisch-unreflektiert, an den Folgen nicht weiter orientiert; und einmal eher auswählend und „rational“ durchaus auch gewisse Konsequenzen bedenkend? Manches bei der Gegenüberstellung von normativem und interpretativem Paradigma erinnert sehr an die Unterscheidung von segmentär und funktional differenzierten Gesellschaften bei Emile Durkheim, an die unterschiedlichen Verhältnisse in einfachen vor-modernen Stammesgesellschaften und in den komplexen Gesellschaften der Moderne (vgl. dazu ausführlicher Abschnitt 9.2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Hier sind die Verhältnisse noch relativ einfach strukturiert, dort sind sie komplex und widersprüchlich. Hier gibt es relativ wenige und wenig widersprüchliche Positionen, dort eine Unzahl mit teilweise diametral entgegengesetzten Anforderungen. Hier würde eine individuelle Ausfüllung einer Rolle wenig erbringen, dort wäre sie geradezu notwendig, nein: unvermeidlich. Vieles spricht dafür, daß das Modell des Role-Playing auf einfache Situationen und auf einfach strukturierte Gesellschaften zugeschnitten ist und dort auch gut anwendbar ist. Ralph Linton, der das Konzept der sozialen Rolle eingeführt hat, war Kulturanthropologe (vgl. dazu schon Abschnitt 7.1 oben in diesem Band). Linton war noch davon ausgegangen, daß zu jeder sozialen Position nur eine Rolle, genauer ausgedrückt: nur ein Rollenelement, gehöre. Aus der Sicht der Kulturanthropologie und der Konzentration auf einfache Stammesgesellschaften war das nicht unplausibel. Sie geht ja von dem Modell einer Gesellschaft als „Organisation“ in einer Art von Familien-Betrieb aus, mit eindeutig zugewiesenen und nicht in sich bereits widersprüchlichen Funktionen aus. Und so schreibt auch der britische Sozialanthropologe S.F. Nadel nicht zu Unrecht: „It should be stated, first of all, that the role concept is not an invention of anthroplogists or sociologists but is employed by the very people they study. No society exists which does not in this sense classify its population into fathers, priests, servants, doctors, rich man, wise men, great men and so forth, that is in accordance with the jobs, offices or functions which individuals assume and the entitlements or responsibilities which fall to them.“24 24
Sigfried F. Nadel, The Foundations of Social Anthropology, Glencoe, Ill., 1953, S. 71.
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In einfachen Gesellschaften so kann man etwas vereinfachend sicher sagen sind die Platzhalter der Positionen tatsächlich immer nur Väter oder Priester oder Diener und nichts weiter. Das sind sie jeweils unzweideutig und für jedermann sichtbar und unumstritten. Es macht ihre ganze Identität aus. Ihr Selbstbewußtsein ist ein Kollektivbewußtsein. Ihre Solidarität zueinander ist eine „mechanische“ Solidarität weil es keine Alternative gibt. Sie ist aus der Fraglosigkeit und der Ähnlichkeit und Austauschbarkeit der Akteure und aus der Abhängigkeit von der Gruppe geboren. Selbstzweifel, Selbstverwirklichung und eine Frage nach einer besonderen „Wahl“ des Rollenhandelns treten praktisch nicht auf. Die Trennung von sozialer und personaler Identität ist noch nicht erforderlich. Sie würde erst gar nicht verstanden. Rollenkonflikte, Rollendistanz, Rollenambiguität und komplexe strategische Situationen gibt es kaum. Und der Hauptausdruck des gesellschaftlichen wie des individuellen Lebens und seiner unentwirrbaren Verflechtung sind die zahlreichen Rituale, die stets neu bestärken, was ohnehin kaum anders denkbar ist: die tief empfundene Einheit von „Individuum“ und „Gesellschaft“. Sicher gibt es auch in einfachen Gesellschaften eine recht mühsame und aufwendige Einübung in die jeweiligen Rollen. Die Sozialisation ist dort sogar besonders nachhaltig und alles andere als antiautoritär. Es gibt dort ohne Zweifel auch schwankende Naturen, denen aber die dort besonders nachhaltige, ja repressive, soziale Kontrolle sehr hilft, eine stabile Identität zu wahren. Auch wechseln die Menschen ihre – kollektiven – Identitäten, etwa im Laufe ihres Lebens. Sie werden erwachsen, heiraten, übernehmen eine typische Tätigkeit und geben sie wieder auf – und so weiter. Das erzeugt sicher auch Unsicherheiten und Ängste, auch so etwas wie Identitätskrisen. Aber diesen Unklarheiten – wann genau beginnt meine neue Identität und wie weit reichen die Rechte und Pflichten als Vater, Priester oder Diener? – werden durch besondere und allen sichtbare, nachhaltig erlebte kollektive Rituale beseitigt – durch die sog. Übergangs-Riten.25 Konfirmationsfeiern, Hochzeiten, Beerdigungen, Parteitage und Antrittsvorlesungen sind ferne Relikte dieser Übergangsriten, die den Wechsel von der einen Position in eine andere und von einer Identität in eine andere anzeigen, symbolisch bekräftigen und – vor allem – die Verpflichtung auf die neue Rolle nachhaltig – wenngleich oft mit nur mäßigem Erfolg – bestärken sollen.
Dabei wird aber immer angenommen, daß die Akteure das, was sie sollen, selbst über die Internalisierung der Erwartungen auch wollen. Und wenigstens implizit wird vorausgesetzt, daß die Akteure den Erwartungen auch genügen und die gestellten Aufgaben mit den ihnen verfügbaren Mitteln bewältigen können. Kurz: Es wird davon ausgegangen, daß die „Gesellschaft“ von den „Individuen“ nichts im mehrfachen Sinn des Wortes Unmögliches verlangt. Und das ist ja auch der Fall, wenn Menschen in einer bestimmten
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Der Begriff geht auf Arnold van Gennep zurück: Arnold van Gennep, Les Rites de Passage, Paris 1909.
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natürlichen Umwelt einmal ein Gleichgewicht von Produktion und Reproduktion gefunden haben. Damit aber alles hübsch ungestört bleiben kann, muß es eine gewisse Stabilität dieses Gleichgewichts über die Zeit hinweg geben. Alles das ist in den von den Anthropologen untersuchten einfachen Stammesgesellschaften der Fall. Sie bestehen nach dem Modell einer Organisation mit festen, arbeitsteilig definierten Positionen und einem deutlich vorgegebenen und in seiner Sinnhaftigkeit von jedermann letztlich einsehbaren Rahmen: das physische Überleben und die Besänftigung der Götter. Das Role-Playing ist daher durchaus und verständlicherweise der naheliegende Modus des sozialen Handelns für strukturelle Bedingungen, wie sie dort herrschen. In stabilen Verwandtschaften, Nachbarschaften, Dorfgemeinschaften, ethnischen oder religiösen Gruppen, partiell auch in der Lindenstraße, in gut eingespielten Organisationen, Teams und Gremien findet man solche Verhältnisse ebenfalls. Und die Menschen freuen sich trotz aller Einengung auf ihre jeweilige „Rolle“ darüber durchaus. Man muß nicht viel nachdenken, kooperiert für die Verhältnisse sehr wirkungsvoll und ist gemeinsam ganz stolz auf das Erreichte. In den sog. modernen Gesellschaften ist das ganz anders. Durch die strukturell angelegte und erzwungene „Kreuzung socialer Kreise“, durch die Vervielfältigung der funktionalen Sphären, durch die zunehmenden und zunehmend: verlangten Spielräume bei der Ausgestaltung der Rollen und insbesondere durch die stets hohen Opportunitätskosten und drohenden Prestigeverlusten bei einer allzu unreflektierten Identifikation mit den Rollenerwartungen wäre das einfache Role-Playing eine sehr unvernünftige Reaktion. Nun muß mehr und mehr auch auf die instrumentellen Folgen des institutionellen Handelns gesehen, strategisch gedacht und nach neuen (Aus-)Wegen gesucht werden. Kurz: Nun werden das Role-Taking und das Role-Making die naheliegende Arten, mit Rollenanforderungen umzugehen. Wenn die Situation einfach, stabil und „wie erwartet“ erscheint, und wenn ein neuer Weg nur Verwunderung oder sogar Schlimmeres bedeuten würde, dann tut ein Akteur gut daran, den Rollen im Sinne des unreflektiert-automatischen Role-Playing zu folgen. Wenn sie dagegen komplex, instabil und ungewohnt ist, und wenn sich die Abweichung von den starren Vorschriften zu lohnen beginnt, dann wäre es sehr angeraten zur Technik des reflektierenden und kalkulierenden RoleTaking bzw. des Role-Making zu greifen. Das normative Paradigma ist die Theorie für die einfachen, das interpretative Paradigma die Theorie für die komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Soziologie muß aber als allgemeine Theorie von den gesellschaftlichen Prozessen auf beide Umstände gefaßt sein. Einfache Situationen und Verhältnisse wie in Steinzeitgesellschaften gibt es auch in der Moderne zuhauf.
Soziale Rollen
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Und Komplexitäten und Widersprüchlichkeiten kannten und kennen auch die einfacher strukturierten Gesellschaften, Gruppen und Organisationen. Allein deshalb wird ein Konzept des Rollenhandelns bzw. des Handelns allgemein benötigt, das auf beide Typen von Situationen angewandt werden kann. Wir werden es in Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ vorstellen. Sein Kern liegt in der Annahme, daß die Menschen gewissermaßen innerlich darüber entscheiden, welchem Modus der Rollenübernahme sie folgen wollen und daß sie dabei jeweils gute Gründe haben. Für das RolePlaying, das Role-Taking und das Role-Making je nachdem.
Kapitel 8
Soziale Drehbücher
Was fällt Ihnen zu den folgenden beiden Sätzen ein? Der Kellner servierte Paul sein Dessert. Anschließend sah Paul sich im Kino einen Film an.
Warum verstehen wir diese beiden Sätze und die darin sehr knapp beschriebene Szene so ohne weiteres? Und warum wüßten wir ferner gleich auch, wie Paul wahrscheinlich den weiteren Abend verbringt, was er mit einiger Sicherheit dabei nicht getan hat und in welchem Kulturkreis sich das Ganze abspielt? Die Antwort liegt auf der Hand: Ganz offenbar, weil auch ohne zusätzliche Beschreibungen erkennbar wird, daß sich ein Mensch namens Paul in einem Restaurant befand, daß es in Restaurants Kellner gibt, die Dienstleistungen versehen, und daß es Lichtspielhäuser gibt, die man unabhängig von den Bestellungen im Restaurant besuchen kann. Wir erschließen auch, daß Paul seine Rechnung beglich und nicht die Zeche prellte, denn sonst hätte er sich wahrscheinlich nicht mehr „anschließend“ einen Film ansehen können. Als selbstverständlich sehen wir die Rollen des Gastes und des Kellners, sowie die Institution des Geldes und die Erfindung von Lichtspieltheatern an. Dies alles gehört ist die Situation erst einmal an Hand sprachlicher oder schriftlicher Beschreibungen identifiziert zum normalen und unbezweifelten Hintergrundwissen der Alltagsgestaltung. Jeder, der uns jetzt die Situation noch genauer zu erklären versuchte, würde schon riskieren, für nicht ganz normal gehalten zu werden.
8.1
Skript und Schema
Warum das so ist, ist auch leicht zu verstehen: Für einen Restaurant- und für einen Kinobesuch haben wir in unserem Kulturkreis eine bestimmte und selbst-„verständliche“, wenngleich innerhalb eines gewissen definierten Rahmens auch offene, Vorstellung: eine Art von Skript für verschiedene, ineinan-
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dergreifende, aber auch abtrennbare Szenen, nach dem gewisse Sequenzen von Handlungen der verschiedenen Personen mit einiger Sicherheit ablaufen werden. Wir und alle Beteiligten wissen, daß sich die Akteure in den betreffenden Teil-Sequenzen an den ihnen zugewiesenen Part halten werden. Und deshalb läuft alles auch so reibungslos und verständlich und unhinterfragt ab. Solche als Wissen gespeicherten Modelle des Ablaufs sozialen Handelns seien als soziale Drehbücher bezeichnet.1 Soziale Drehbücher sind für typische soziale Situationen fertig vorliegende und von den Akteuren in ihrem Wissen geteilte Bündel von vorgestellten typischen Aktionsabläufen. Sie sind meist mit allerlei Symbolen deutlich markiert, wobei das drehbuchgerechte Handeln der beteiligten Akteure immer auch zu dieser Symbolik dazugehört. Schon allein aus dem Tun der anderen ist meist sehr genau und leicht zu erkennen, welcher „Film“ gerade läuft oder inszeniert wird: eine Vorlesung an dem dozierenden Ton des Professors und der ergebenen Langeweile der Studenten, eine Beerdigung an den schwarzen Anzügen und den traurigen Mienen, der Deutsche Katholikentag an den scheinheiligen und etwas angestrengten Gesichtern zum Beispiel. Die Handlungen sind im Rahmen von sozialen Drehbüchern stets auch Symbole für das betreffende Skript. Sie sind Symbolhandlungen der Drehbücher. Meist sind die sozialen Drehbücher und ihre Teilsequenzen obendrein aber noch mit griffigen sprachlichen Etikettierungen mit labels versehen, über die die Identifikation der Szenen und die Aktivierung des „richtigen“ Handelns noch einmal sehr erleichtert wird: Allein die Worte „Servieren“, „Dessert“, „Film“ und auch „Paul“, wenn damit eine ganz bestimmte Person verbunden wird lösen bestimmte Vorstellungen, Handlungsbereitschaften und Handeln aus. Die Sprache ist neben dem beobachtbaren Tun deshalb der wichtigste Mechanismus, mit dem die beteiligten Akteure sich gegenseitig ihre Stich-„Worte“ geben und sich gleichzeitig gegenseitig darin versichern können, daß alles wie üblich abläuft. Über die Kenntnis der Drehbücher, die sprachliche Etikettierung und das jedermann verständliche Tun erlangen die Szenen für die Akteure meist eine hohe Transparenz und Einsichtigkeit. Das erlaubt die leichte Koordination 1
Vgl. zum Konzept des Skriptes bzw. des sozialen Drehbuchs den Übersichtsartikel von Norbert Schwarz, Theorien konzeptgesteuerter Informationsverarbeitung in der Sozialpsychologie, in: Dieter Frey und Martin Irle (Hrsg.), Theorien der Sozialpsychologie, Band 3: Motivations- und Informationsverarbeitungstheorien, Bern, Stuttgart und Toronto 1985, S. 269-291. Die beiden Sätze zu Beginn des Kapitels ist diesem Beitrag entnommen. Der locus classicus für das Konzept des sozialen Drehbuches ist: Robert P. Abelson, Psychological Status of the Script Concept, in: American Psychologist, 36, 1981, S. 715729.
Soziale Drehbücher
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auch zunächst extrem komplexer und an sich ganz unwahrscheinlicher sozialer Abläufe unter einer Vielzahl verschiedener Akteure: die zeitliche Sequenzierung, die arbeitsteilige Funktionentrennung und die an sozialen Merkmalen orientierte Differenzierung des Verhaltens vor allem etwa: zwischen Gästen, Kellnern und Köchen in einem Restaurant. Soziale Drehbücher über die vielen interaction rituals des Lebens sind der symbolisch und sprachlich vermittelte und aktivierte Kern dessen, was das soziale Wissen einer Gruppe oder einer Gesellschaft ausmacht: die von den Akteuren geteilten und wechselseitig in Rechnung gestellten Modelle ihres Tuns. Die sozialen Drehbücher teilen die unendlich vielen Alternativen der Welt in mehr oder weniger grobe und relativ einfach zu unterscheidende kognitive Muster ein. Dadurch wird die Komplexität der Situation drastisch vermindert. Und die Folge ist: Die Akteure können trotz ihrer ohne Zweifel vorhandenen bounded rationality vernünftig, sinnhaft, koordiniert und effizient handeln. Soziale Drehbücher sind Spezialfälle von sozialen Regeln mit allen ihren Besonderheiten der Verbindlichkeit und der Vorbildlichkeit. Die sozialen Drehbücher haben deshalb alle Eigenschaften einer Institution: Es sind mit Ansprüchen versehene soziale Regeln, deren Verletzung mit mehr als nur dem Verziehen der Mundwinkel quittiert wird. Sie sind auch in ihren Einzelteilen wie in ihrem übergreifenden Ablauf gespickt mit sozialen Normen aller Art, vor allem jedoch mit Konventionen und sozialen Rollen. Sie definieren über die eingebauten Rollen die sozialen Beziehungen zwischen den Teilnehmern an dem Schauspiel auf eine institutionelle Weise. Meist handelt es sich freilich um eine recht milde Form der Institutionalisierung. Die sozialen Drehbücher dienen vor allem der Koordination des Alltagshandelns, auch wenn ihre Einzelteile durchaus essentiellen oder gar repressiven Charakter haben mögen.
Schemata Soziale Drehbücher sind institutionell verankerte gedankliche Muster für typische Abläufe des sozialen Handelns in typischen Situationen. Der allgemeine Begriff für ein im Gedächtnis gespeichertes kognitives Muster über die Umwelt ist der des Schemas. Darunter wird ein hierarchisch aufgebautes und dadurch vereinfachtes und organisiertes Muster des Wissens verstanden.2 Schemata sind 2
Vgl. dazu die Übersichten bei Susan T. Fiske und Shelley E. Taylor, Social Cognition, 2. Aufl., New York u.a. 1991, Kapitel 4 und 5 insbesondere; William F. Brewer und Glenn
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„ ... higher order knowledge structures ... that embody expectations guiding lower order processing of the stimulus complex.“ (Abelson 1981, S. 715)
Schemata werden bei David E. Rumelhart als die „Building Blocks of Cognition“, als die Marksteine der Wahrnehmung, aufgefaßt, ohne die es nur Verwirrung und Orientierungslosigkeit gäbe. Andere Ausdrücke dafür sind frame, prototype, image, mental model oder category. Es sind die im Gehirn gespeicherten, vereinfachenden, in der Vergangenheit gelernten Modelle des Wissens, Wahrnehmens, Fühlens und Tuns, die es erlauben, den Gang der Dinge und andere, nicht direkt erkennbare Zusammenhänge gedanklich vorwegzunehmen und zu erschließen. Schemata „ ... are anticipations, they are the medium by which the past affects the future ... .“3
Und so sei hinzugefügt das aktuelle Handeln. Natürlich. Schemata können als grobe Typologien von Ereignissen oder Eigenschaften in Kategorien, Vor-Urteilen oder Stereotypen verstanden werden. Sie können sich auf Dinge, Situationen, Personen, Gruppen von Personen und auch auf Abläufe von Ereignissen und Handlungen beziehen. Schemata sind die gedanklichen Hypothesen, mit denen die Menschen in ihrer Wahrnehmung an die Welt herangehen. Sie machen buchstäblich ihren Geist aus. Ohne sie wären sie in der Welt voller Komplexitäten verloren. Und an eine sinnhafte Kooperation wäre erst recht nicht zu denken (vgl. dazu auch noch ausführlich Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Ein soziales Drehbuch ist ein Sonderfall eines Schemas. Es ist ein Schema, das sich auf die zeitliche, räumliche, sachliche und soziale Organisation einer Sequenz des Handelns bezieht: „In sum, a script is a hypothesized cognitive structure that when activated organizes comprehension of event-based situations.“ (Abelson 1981, S. 717; Hervorhebung nicht im Original)
Ein soziales Drehbuch stellt als Handlungsschema eine Standard-Sequenz von Ereignissen und Abläufen aus der Sicht eines Akteurs dar, an der sich jedes sinnhafte Handeln innerhalb der betreffenden Szene orientieren muß, weil es andernfalls von niemandem verstanden würde.
3
V. Nakamura, The Nature and Functions of Schemas, in: Robert S. Wyer, Jr., und Thomas K. Srull (Hrsg.), Handbook of Social Cognition, Band 1, Hillsdale, N.J., und London 1984, S. 119-160; David E. Rumelhart, Schemata: The Building Blocks of Cognition, in: Rand J. Spiro, Bertram C. Bruce und William F. Brewer (Hrsg.), Theoretical Issues in Reading Comprehension, Hillsdale, N.J., 1980, S. 33-58. Ulric Neisser, Cognition and Reality. Principles and Implications of Cognitive Psychology, San Francisco 1976, S. 22.
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Kognition und Schema-Aktivierung Schemata und soziale Drehbücher müssen immer erst „aktiviert“ werden, bevor sie wirksam werden können: Die Akteure müssen in den Objekten der Situation etwas wiedererkennen, das zu einem vorher entstandenen und im Gedächtnis gespeicherten Schema „paßt“. Im Zentrum der Aktivierung eines Schemas steht der Prozeß der Kognition die Wahrnehmung und Interpretation der Bestandteile der Situation. Für die Erklärung von Wahrnehmungen lassen sich zwei grundsätzlich verschiedene Ansätze unterscheiden: Wahrnehmung als ein Vorgang, bei dem der Organismus die externe Welt gewissermaßen naturgetreu und ohne eigenes Dazutun passiv in sich aufnimmt. Und die Wahrnehmung als ein aktiver Prozeß, bei dem der Wahrnehmende alle Eindrücke selbst konstruiert und bei dem die Frage nach den „wirklichen“ Strukturen der externen Welt fast bedeutungslos wird (vgl. auch dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die Wahrnehmung bzw. die Kognition ist wohl eine Mixtur aus objektivem Eindruck und subjektiver Konstruktion: Nur selten „paßt“ eine Situation ganz perfekt zu dem Standardmodell eines bestimmten Schemas oder eines sozialen Drehbuches. Diese Lücken füllt der Akteur „interpretativ“ mit eigenen inneren Erklärungen, warum das Schema trotzdem paßt. Aber irgendwann sind die „objektiv“ erkennbaren Anomalien dann doch zu groß. Dann genügt die konstruktive Interpretation nicht mehr. Nun wird nach einem alternativen Schema gesucht. Und wenn keines so rasch zu finden ist dann: Anomie, Ratlosigkeit, Grausen.
Die Bindung an das Schema Die kognitive Aktivierung eines Schemas bzw. eines sozialen Drehbuches hat eine bemerkenswerte Folge: Wenn sie einmal aktiviert sind, nehmen sie den Akteur für eine gewisse Zeit wenigstens ganz gefangen. Er ist dann an die prototypischen Vorgaben deutlich gebunden und nimmt andere Dinge buchstäblich nicht mehr zur Kenntnis. Und die Folge: Einmal in ein Restaurant eingetreten, geht man so schnell nicht wieder heraus. Einmal im Kinosessel versunken, wird zumeist auch der schlechteste Film zu Ende gesehen. Einmal in der Vorlesung, traut man sich kaum wieder heraus, auch wenn der Morgen noch so grau und der Dozent wieder einmal besonders ätzend ist. Diese Bindewirkung der kognitiven Aktivierung unterstützt rein psychologisch schon eine der wichtigsten sozialen Funktionen der sozialen Drehbücher: Man kann
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darauf vertrauen, daß von den beteiligten Akteuren
nicht jede externe Versuchung gleich „maximierend“ genutzt wird. Sie bleiben vorerst in der Sinnwelt, in die sie mit der Aktivierung des Schemas eingetaucht sind.
Eigenschaften sozialer Drehbücher Soziale Drehbücher besitzen eine Reihe von Eigenschaften, aus denen sich ihr Inhalt und ihre Struktur beschreiben lassen (vgl. dazu die Zusammenfassung bei Schwartz 1985, S. 272ff.). Soziale Drehbücher repräsentieren wie Schemata allgemein ein Wissen auf einem höheren Abstraktionsniveau als jeder konkrete Ablauf des Handelns möglich sein könnte. Schemata und Skripte stellen damit eine Art von groben Rezepten und Routinen für typisierte Situationen dar und werden im Rahmen dieser Voreinstellungen dann immer jeweils mit konkreten Inhalten gefüllt. Man weiß zum Beispiel, daß es in Restaurants Kellner und Köche gibt, die Speisen und Getränke servieren. Und man weiß, daß zum Schluß gezahlt wird, und ungefähr wieviel an Trinkgeld erwartet wird und höflich wäre. Schemata und Skripte enthalten ferner Variablen bzw. Leerstellen („slots“), die durch unterschiedliche Konkretisierungen ausgefüllt werden können: ein blaubeschürzter Köbes oder ein befrackter Ober für die Variable „Kellner“, zum Beispiel. Oder Kölsch, Alt oder Pils für die Variable „Bier“. Man spricht auch davon, daß die konkreten Personen und Dinge die Variablen instantiieren. Das soziale Drehbuch legt aber auch gewisse Begrenzungen der Variablen („constraints“) fest: Als Kellner könnte zum Beispiel kein Kind, wohl aber eine Frau fungieren, die dann im Rheinland „Frollein“ gerufen wird, selbst wenn sie schon längst das Verfallsdatum dafür überschritten hat. Gibt es keine konkreten Instantiierungen, dann haben die Variablen Standardwerte („default options“) wie beispielsweise die, daß Tiere nicht als Kellner, und verdorbene Lebensmittel nicht als Speisen fungieren können. Schemata und soziale Drehbücher geben aber insbesondere die Beziehungen zwischen den Variablen, die räumliche, zeitliche, soziale und sachliche Organisation der Ereignisse und Handlungen an. Die räumliche Organisation eines sozialen Drehbuches regelt die kognitiven Landkarten darüber, wo ein bestimmtes Handeln jeweils stattfindet: das Abendessen nicht im Badezimmer, das Kino nicht in der Kirche. Beim sozialen Drehbuch steht insbesondere die zeitliche Organisation des Geschehens im Mittelpunkt: Der Aperitif kommt zuerst, der Nachtisch zuletzt. Und nur die versteckte Kamera traut sich, die Reihenfolge umzukehren. Bestimmt wird – in sozialer Hinsicht – auch die Art der Personen, mit denen man umzugehen hat: Kinder werden
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in Vorlesungen ignoriert, in der Krabbelstube sind sie der Mittelpunkt. Und es wird schließlich auch der sachliche Aspekt geregelt. Dazu gehört beispielsweise – und insbesondere – der Typ des Handelns: In der Familie sollen die Gefühle, im Büro die Rechenhaftigkeit und die Gleichheit vor dem Kassenschalter, in der Parteiversammlung die Orientierung an den Grundwerten der jeweiligen Partei, im Urlaub die lockere Gangart der Baumelseele das Geschehen bestimmen. Und wer dem nicht folgt, der bekommt etwas zu hören. Beispielsweise: Nun sei doch endlich einmal ungezwungen, lies, was dir Spaß macht, und entspanne Dich gefälligst!
Soziale Drehbücher bilden also nicht nur ein inhaltliches Modell des Handelns in bestimmten Situationen, sondern schreiben auch den formalen Modus vor, in dem gehandelt, gedacht und gefühlt werden und mit den verfügbaren Informationen umgegangen werden soll. Manchmal ist es beispielsweise ganz verpönt, viel nachzudenken oder auf irgendwelche Folgen zu schielen. Unter Verliebten zum Beispiel. Bei einigen Skripten steht aber an bestimmten Stellen die Aufforderung: „Think!“. Das hieße: Unterbreche Dein Tun zu einer genaueren Reflexion der Folgen. Das ist gemeint, wenn in der Soziologie, etwa von Talcott Parsons, davon gesprochen wird, daß auch die Zweckrationalität nur eine Norm sein könne: In dem sozialen Drehbuch steht, daß nun kühl überlegt und rational gehandelt werden muß. Wahrscheinlich ist so das übergreifende Drehbuch für die Angestellten der Deutschen Bank geschrieben – ganz anders als das des mildtätigen Pfarrers, in dessen Skript ebenfalls ziemlich genau steht, daß er das eben nicht darf: kühl und zweckrational mit den ihm Anbefohlenen umgehen. Und wenn er – oder der typische Angestellte der Deutschen Bank – sich jeweils nicht an sein Drehbuch hält, dann handelt er ganz offenkundig gegen die Regeln der sozialen Vernunft.
Schließlich sind Schemata und Skripte hierarchisch organisiert und zwar: sowohl von oben nach unten, wie von unten nach oben, top down, wie bottom up. Top down gibt es für jeden Einzelablauf immer noch ein Unter-Skript bzw. -Schema – wie etwa für den Umgang mit einem Hummer in einem bestimmten Restaurant. Und bottom up existieren für jedes Ereignis, Schema oder Skript immer noch übergeordnete Schemata und Skripte, für die – gewissermaßen – das jeweilige Schema ein Unterschema ist und die diese Abläufe in einem noch weiteren Zusammenhang einordnen. Beispielsweise ordnet sich der Restaurantbesuch in ein Modell jeweils für den Verlauf von Tag, Woche, Monat, Jahr, oft sogar für das ganze Leben, manchmal auch für die Ewigkeit und für die übergreifende Dialektik der Geschichte. Auch der Sinn des Lebens und die „Identität“ einer Person bestehen also aus nichts anderem als aus einem vorgestellten und für unverrückbar gehaltenen Skript – nämlich dem für die eigene Biographie und deren Aufgehobensein in einem übergreifenden, eventuell sogar bis in den Himmel reichenden Drehbuch des Seins.
Soziale Drehbücher variieren nicht nur nach ihrem Inhalt und den Variablen, sondern auch nach der Stärke und der Verbindlichkeit, mit der die Ereignisse aneinander gebunden und über die so das Verhalten festgelegt ist.
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In ihrer schwächsten Version handelt es sich nur um ein Bündel von „Schlüssen“, was wohl überhaupt geschehen könnte. Schwache Drehbücher gibt es insbesondere für die Begegnung zwischen entfernten Bekannten oder Fremden. Für die Organisation solcher Zusammenkünfte gibt es aber immer noch eine Reihe von Höflichkeitsregeln und Koordinationspunkten in Form von unverfänglichen, weil eigentlich irrelevanten, Themen – das Wetter, zum Beispiel, oder der Weltkongreß für Soziologie in Bielefeld zum Ende des Sommersemesters 1994. In einer stärkeren Version umfaßt ein Skript dagegen für schon zwingend gehaltene Hinweise auf mögliche, wenngleich auch nicht komplett in allen Einzelheiten festgelegte Reihenfolgen und das Auftreten einiger „essentieller“ Sachverhalte. Rituale können als ein Extremfall eines starken sozialen Drehbuches angesehen werden, bei denen alle Ereignisse und deren Reihenfolge unabänderlich festliegen und daher gut prognostiziert werden können. In grober Weise entsprechen die drei Typen der Stärke der sozialen Drehbücher auch in ihren Funktionen den konventionellen, den essentiellen und den repressiven Normen und Institutionen (vgl. dazu bereits Kapitel 4 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie die kurze Zusammenfassung über die Normstrukturen und die Mechanismen der Normgeltung im Anschluß an Kapitel 5 oben in diesem Band).
Mit der Stärke der Skripte steigt die Vorhersagbarkeit sozialer Prozesse rapide an. Der Mongoloide in der Geschichte von Hans Conrad Zander im Anschluß an das Kapitel 7 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ freute sich ja gerade daran. Das konnte er aber nur, weil der katholische Ritus einer Heiligen Messe ein besonders starkes soziales Drehbuch ist. Die präzise Vorhersagbarkeit eines an sich sehr komplizierten Geschehens erklärt die beruhigende, nomisierende und ordnende Kraft von Ritualen wie aber auch ihren einengenden Charakter. Der gesamte Alltag ist durchzogen von solchen – mehr oder weinger: starken – Ritualen, auch ohne daß dies immer als Ritual bekannt sein müßte: Rituale der Höflichkeit und des Abstandes, der Prestigesicherung wie der Darstellung und Präsentation des Selbst. Erving Goffman hat sich – vor allem in seinem Buch „Interaction Ritual“4 – das Verdienst erworben, die vielen kleinen – wie er sie nennt – Interaktionsrituale des Alltags in Face-to-Face-Situationen zu beschreiben, zu systematisieren und zu zeigen, welche wichtigen Funktionen sie haben: Eingebettet in die stets mitratternde Maschine der Alltagskonversation sorgen sie für den Erhalt der Wirklichkeitsvorstellungen bei den Akteuren, motivieren, korrigieren und stabilisieren ihr Handeln und ölen so die prozessuale Reproduktion auch der großen Strukturen als deren – unintendierte – Folge (vgl. dazu auch schon das Kapitel 8 über die „Interaktion“ in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Soziale Drehbücher sind die wohl wichtigste Grundlage der von Alfred Schütz so genannten Strukturen der Lebenswelt: die letztlich sehr überschaubaren Rezepte und einfachen Standardsequenzen für den Ablauf eines geregelten und nicht mehr sonderlich reflektierten Alltagshandelns (vgl. auch dazu 4
Erving Goffman, Interaction Ritual. Essays in Face-to-Face Behavior, Garden City, N.Y., 1967b; siehe auch: Erving Goffman, Encounters. Two Studies in the Sociology of Interaction, Indianapolis 1961; Erving Goffman, Behavior in Public Places. Notes on the Social Organization of Gatherings, New York und London 1963.
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noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). „Einer Regel folgen“ heißt für den normalen Alltag in der Regel: einem eingespielten und nicht mehr weiter bedachten sozialen Drehbuch folgen. Es ist als ob Heidi Kabel zum 3004. Male den verkauften Großvater oder Willy Millowitsch zum 8546. Male den Etappenhasen spielen.
Soziale Drehbücher und Verhalten Schemata und Skripte besitzen eine Reihe von Eigenschaften, die sie für ihre Funktion als soziale Regeln geradezu prädestinieren. Diese Eigenschaften haben alle mit der besonderen Bindekraft zu tun, die die sozialen Drehbücher auf das Verhalten der Menschen ausübt: Wenn die Akteure das entsprechende inhaltliche Modell und den Modus des Verhaltens kennen und teilen, und wenn die Situation dann „da“ ist, dann spult sich das Geschehen ab, als wäre es ein Stück im Theater. Drei Aspekte sind zu nennen: kognitive Repräsentation und Markierung, emotionale Bindung und instrumentelle Interessen.
Kognitive Repräsentation, Markierung und Match Der erste Aspekt bezieht sich auf die kognitive Aktivierung. Die Aktivierung und Auslösung von Schemata und Skripten erfolgt auf der Grundlage von drei Besonderheiten: Es muß eine stabile kognitive Repräsentation des Schemas bzw. des Skriptes geben. Außerdem muß es eine deutliche Markierung geben, die dem Akteur „anzeigt“, daß die Situation in der Tat zu dem betreffenden Muster gehört. Und die Objekte der Situation müssen insgesamt mit dem gespeicherten „Modell“ des Schemas bzw. des Skriptes gut zusammenpassen: Es muß einen deutlichen Match geben. Sind alle drei Bedingungen erfüllt kognitive Repräsentation, Markierung und Match , dann erfolgt die Aktivierung unmittelbar und ohne den Hauch eines Zweifels. Fehlt aber auch nur eines der drei Merkmale, dann verliert sich die fraglose Aufdrängung des Modells bzw. die Wirkung der Situation. Nun muß und kann nachgedacht und abgewogen werden. Und nun werden auch kleinere Hinweise die Psychologen nennen sie cues genutzt, um die Situation doch noch einigermaßen mit Sinn zu füllen. Die besondere Auslösekraft bestimmter Symbole und bestimmter Modelle hat vor allem damit zu tun, daß die gespeicherten Modelle, die markierenden Symbole und das damit verbundene Handeln ein abgestimmtes und früher als nützlich erlebtes System bilden. Und zwar in dreierlei Weise
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Das System besteht erstens aus einer „logischen“ Verbindung zwischen Symbol und Modell. Die aktuelle „Geltung“ des Modells wird aus dem Symbol als einer Randbedingung und der Erwartung der Geltung des Modells bei Vorliegen des Symbols „abgeleitet“. Es ist die Anwendung einer inneren Theorie. Die Aktivierung erfolgt als ein deduktiver und damit: automatischer, innerer Schluß vom Vorliegen des Symbols auf die Geltung des Modells. Wenn zweitens mit dem Modell der Situation insgesamt ein „Programm“ für ein bestimmtes Handeln ebenso „logisch“ verbunden ist, dann folgt die Intention für dieses Tun gleichzeitig mit der Ableitung des Modells. Der dritte Aspekt hat damit zu tun, was schon die bloßen Erwartungen zu Ansprüchen machte (vgl. Abschnitt 3.3 oben in diesem Band): die Einbettung in ein gesamtes belief- und Aktivitätssystem, von dessen kompletter Existenz viel abhängt, so daß auch kleinere Störungen in der Aktivierung überspielt, verdrängt und als „Anomalien“ abgewertet werden.
Bei der Markierung und damit: der Stärke der Aktivierung der Drehbücher spielen die auch: rein physikalische! Sichtbarkeit der Zeichen, wie etwa Unterschiede in der Pigmentdichte der Haut, vor allem aber die sozial definierte Symbolik der Situation und insbesondere die sprachliche Kennzeichnung eine überragende Rolle: Schemata und Skripte haben (fast) immer Namen und damit: ein sehr signifikantes Symbol. Und fällt dieser Name, dann drängt sich die betreffende Aktivierung mit aller Macht nach vorne, wenn nicht etwas anderes dagegen spricht wie die zweifellos nicht-sprachliche Nudel an der Nase von Loriot bei seiner Liebeserklärung an Hildegard.
Emotionale Bindung Mit der Aktivierung eines Skriptes ist zweitens eine deutliche, rein psychologische, noch nicht einmal unbedingt auch durch Sanktionen unterstützte, Bindung des Akteurs an den vorgeschriebenen Ablauf eingeleitet. Diese Bindung wird durch die Auslösung von tiefen Emotionen unterstützt: Menschen fühlen sich einfach unwohl, wenn sie ein einmal begonnenes Programm unterbrechen sollen auch dann, wenn ihnen die Einzelheiten dieses Programms keine große Freude bereiten. Trauer, ein schlechtes Gewissen und Empörung sind emotionale und nicht zu unterdrückende physiologische Konsequenzen von solchen Unterbrechungen einmal eingespielter Sequenzen. Die bindende Kraft von Skripten, ihr commitment, wirkt sich vor allem so aus, daß eine einmal begonnene Sequenz nicht mehr leicht verlassen wird. Mit der Auslösung des Skriptes taucht der Akteur buchstäblich in eine spezielle, kognitive wie emotionale Sub-Welt ein, in der die Vollendung der jeweiligen Sequenz ein dominantes, ja das einzige Ziel geworden ist. Das war die grundlegende Entdeckung des Psychologen William James gewesen. Er sprach von einem
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„geschlossenen Sinnbereich“ und davon, daß es sich dabei um eine „Wirklichkeit eigener Art“ handele.5 Die bindende Dominanz des Skriptes nach seiner Aktivierung hat wichtige Konsequenzen für die Beziehung zwischen seiner Auslösung und dem Handeln der Menschen: Das Handeln wird durch die Aktivierung von den Strukturen des Skriptes zwar nicht determiniert, aber doch stark gesteuert auch dann, wenn es sehr unangenehme Folgen mit sich bringt zum Beispiel beim Zahnarzt, dem man normalerweise eben nicht mehr entflieht. Damit ist ein sehr interessanter und wichtiger Sachverhalt angesprochen: Menschen leben in gedanklichen Welten von Schemata und Skripten, die durch Symbole – aller Art, vor allem aber durch die Sprache – aktiviert werden und dann eine ganz eigene bindende, steuernde und die Situation fest „definierende“ Kraft entfalten. Die Kosten einer Handlung – wie die nun sicher zu erwartenden Schmerzen beim Zahnarzt – spielen nun buchstäblich keine Rolle mehr. Alles dreht sich nur noch um das Eine: die Beendigung der im Drehbuch vorgesehenen Sequenz – koste es, was es wolle.
Es fällt mit alledem nicht schwer, im Konzept der kognitiven „Gestalten“ der Schemata und der Skripte den nicht-erfolgsorientierten „Cement of Society“ zu erkennen, den das „rein“ zweckrationale Handeln so vermissen läßt: Sind ein Schema, ein Code, ein Skript erst einmal aktiviert, dann gibt es fast kein Halten und keinen „Anreiz“ mehr, aus dem Drehbuch auszusteigen. Für die Eingrenzung der Wünsche der Menschen, um die sich Emile Durkheim und Talcott Parsons ja so sorgten, und für die soziale Koordination des Handelns kann dies nicht hoch genug eingeschätzt werden: Ist eine Situation erst einmal als in bestimmter Weise durch ein aktiviertes, verständliches Schema „definiert“, dann wird sie auch so wie im Drehbuch vorgeschrieben abgewickelt in allen ihren Konsequenzen.
Instrumentelle Anreize Schemata und Skripte stellen und das ist der dritte Aspekt schließlich deutliche Erleichterungen des Problems der sinnhaften Selektion des Handelns und der Koordination einer ertragreichen Kooperation dar. Einerseits sind sie sehr ökonomische Formen der Organisation der Überfülle des Wissens und stellen damit eine beträchtliche, aber sinnvolle Reduktion von Komplexität dar. Andererseits ersparen sie gerade die aufwendige Suche nach dem 5
Vgl. William James, The Principles of Psychology, New York 1950 (zuerst: 1890), Band II, S. 290; vgl. auch Alfred Schütz, Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971a, S. 263ff.
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focal point, an dem sich die Empathie der Akteure beim sozialen Handeln ohne solche sozialen Regeln nie treffen würde. Wenn man sich in Köln verloren hat, dann trifft man sich auch ohne jede Absprache wo? Am Dom natürlich! Soziale Regeln, Schemata und Skripte und die dazugehörigen signifikanten Symbole fungieren damit auch als unaufwendige Hilfsmittel bei der Lösung des Problems der Koordination (vgl. dazu Abschnitt 3.1 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Sie „richtig“ zu identifizieren, ist daher selbst eine Voraussetzung dafür, daß nicht nur sinnvoll, sondern auch effizient und kostensparend gehandelt werden kann. Kurz: Soziale Drehbücher senken die Transaktionskosten einer Vielzahl von Beziehungen derart, daß es schon von daher sehr vernünftig ist, sich an sie zu halten selbst wenn man weiß, das es „bessere“ Lösungen gibt.
Die „Wahl“ des Drehbuches Offenkundig haben soziale Drehbücher also nicht nur etwas mit Kultur, Symbolen, normativen Vorgaben und dem erkennbaren Sinn, sondern auch mit den Interessen der Menschen zu tun. Damit kommen wir zu einem interessanten und wichtigen Punkt: Wie kommen die Menschen dazu, sich von den sozialen Drehbüchern derart befangen zu lassen, wie das immer wieder beobachtet wird? Denn: Gänzlich ausgeliefert sind sie ihnen ja nicht. Und ganz ohne Blick auf ihre Interessen folgen sie auch den sozialen Drehbüchern nicht, zumal dann, wenn es Konflikte gibt und die eigene Identität auf dem Spiel steht. Und die Folge: Im Alltag spielen die Menschen zwar sicher nicht bloß Theater, sondern „sind“ meist auch das, was sie in den sozialen Drehbüchern an Rollen spielen. Gleichwohl müssen, worauf das Rollenmodell des interpretativen Paradigmas hingewiesen hat (vgl. Abschnitt 7.6 oben in diesem Band), auch die sozialen Drehbücher mit ihren Rollen immer „übernommen“ werden. Und das ist stets eine innere Entscheidung, die die Akteure treffen mehr oder weniger überlegt natürlich. Nach welchen Regeln aber geht das? Zwei Schritte sind zu unterscheiden. Der erste ist die oben bereits behandelte kognitive Aktivierung des sozialen Drehbuches. Aktiviert werden die Skripte, die auf der Grundlage der in einer Situation erkennbaren Objekte und Symbole für den Akteur „verständlich“ und nicht (allzu sehr) gestört oder unvollständig sind. Dieser Vorgang der kognitiven Aktivierung kann als ein mehr oder weniger unwillkürlicher (wenngleich nicht: passiver!) Vorgang angesehen werden. Aber auch hier spielen bereits die Absichten und Pläne der Menschen eine wichtige Rolle. William F. Brewer und Glenn V. Nakamura (1984, S. 130) sprechen daher schon für diesen Schritt der Aktivierung davon,
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daß es sich um eine „goal-directed problem-solving machinery“ mit einer deutlichen „purposive component“ handele. Mit der Aktivierung „handelt“ der Akteur aber noch nicht. Er muß für den Übergang in das konkrete Handeln noch in das Skript über einen eigenen Schritt eintreten („entering“). Dieser Schritt stellt einen besonderen Akt der Entscheidung dar, bei dem es ganz ohne Zweifel um „Problemlösung“ geht: „It is assumed that script entry is contingent upon satisfaction of an action rule attached to the script representation.“ (Abelson 1981, S. 719; Hervorhebung so nicht im Original)
Robert P. Abelson beschreibt dies am Beispiel des Besuchs beim Zahnarzt: „Consider, for example, how a person comes on a given occasion to be a patient in the dentist visit script. First, the person must know how to be a dental patient; second, there must be some stimulus making a dentist visit potentially relevant (a swollen gump, perhaps). Third, a decision must be made to undertake the visit rather than to reject or ignore the stimulus. Such a decision, since it arises fairly often, is likely to be made according to some policy that the individual has developed by experience, for example, ‚If it keeps hurting for several hours, call the dentist‘.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Ganz offenkundig ist damit auch die Selektion der sozialen Drehbücher eine selektive Entscheidung, die der Akteur auf der Grundlage von zwei Gruppen von Variablen vornimmt: erstens das Wissen darüber, wie man handeln kann und welche Art von „policy“ für das Problem möglich ist. Hiervon hängt die Aktivierung eines bestimmten Drehbuches (oder auch verschiedener Alternativen von Drehbüchern: Zahnarztbesuch versus heroisches Leiden, zum Beispiel) ab. Und zweitens die Relevanz des Handelns nach einem solchen Drehbuch auch: im Vergleich verschiedener Drehbücher und „Rahmungen“. Hiervon hängt der Eintritt in das Skript bzw. in die entsprechende subjektive Sinnwelt ab. Und zwar: vor dem Hintergrund der Erwartung, daß damit bestimmte drängende Probleme die Linderung der Zahnschmerzen, zum Beispiel gelöst werden können. Welcher Logik folgt dann aber die Selektion des Sinns? Es fällt nicht schwer, hierfür erneut alle die Bestandteile und allerdings noch sehr implizit auch die Regel zu erkennen, die wir als die allgemeine Regel für die Selektion des Handelns angenommen hatten: Es werden solche sozialen Regeln, Drehbücher, Sinnwelten und Situations-Definitionen gewählt, die die höchste „Bedeutung“ für den Akteur haben. Und das ist nichts anderes als das höchste EU-Gewicht diesmal für ein soziales Drehbuch in einer bestimmten Situation. In Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ werden wir dafür ein explizites theoretisches Modell vorschlagen: das Modell des Framings einer Situation.
212
Institutionen
Die Entstehung von sozialen Drehbüchern Gibt es die sozialen Drehbücher einmal, dann sind sie ein Teil des Lebens. Sie sind ein Teil der sozialen Produktionsfunktionen für die Akteure. Ihnen muß sich der Akteur schon fügen, wenn er mit seiner Nutzenproduktion einigermaßen zurechtkommen will. Soziale Drehbücher sind ein soziologischer Tatbestand. Und das mit ihnen verbundene Handeln ist stets eng mit der Produktion der primären Zwischengüter verbunden. Aber woher kommen sie? Geschrieben hat der Akteur das soziale Drehbuch ohne Zweifel meist nicht selbst. Aber wer dann? Die Antwort ist nicht leicht. In Abschnitt 1.3 oben in diesem Band hatten wir drei Arten der Entstehung von Institutionen unterschieden: Dekret, Vertrag und Evolution. Über Dekret und Vertrag können natürlich auch soziale Drehbücher entstehen. Mehr noch aber als für die meisten Institutionen ohnehin gibt es für die vielen sozialen Drehbücher des Lebens fast nie einen identifizierbaren Urheber. Nahezu alle sozialen Drehbücher sind ungeplant und evolutionär entstanden. Benimmbücher sind etwas hilflose Versuche, sie über ein Dekret einzuführen. Meist kodifizieren sie nur, was ohnehin schon geschieht.
Die Antwort auf die Frage nach der Entstehung der sozialen Drehbücher wäre also die Antwort auf die Frage nach der Entstehung der Institutionen insgesamt. Wir werden sie in Kapitel 10 unten in diesem Band aufgreifen.
8.2
Wenn die sozialen Drehbücher versagen ...
Die sozialen Drehbücher gehören zu dem Repertoire, das der Akteur als soziales Wissen gespeichert hat und bei Bedarf als Modell für sein Handeln einsetzen kann. Sie sind so können wir jetzt sagen ein Teil seiner sozialen Identität. Sie bilden den Inhalt des Repertoires der Me-Sektoren, von denen in den Kapiteln 1 und 5 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ im Zusammenhang mit George Herbert Meads Theorie der Identität schon die Rede war. Die sozialen Drehbücher sind in einem Kollektiv von Akteuren als soziales Wissen verbreitet. Und das wissen und unterstellen die Akteure jeweils in ihrem Tun. Die sozialen Drehbücher sind damit die wichtigste Grundlage der Koordination des sozialen Handelns und der Konstitution der sozialen Beziehungen. Das Handeln und die Ausfüllung der sozialen Beziehungen wiederum unterstützen in ihrem interaktiven Vollzug die kognitiven Repräsentationen bzw. die Identität der Akteure, das soziale Wissen und die „Geltung“ der sozialen Drehbücher in einem Kollektiv. Normalerweise. Aber nicht immer. Es gibt
Soziale Drehbücher
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zwei wichtige soziologische Autoren, die sich speziell mit der Frage befaßt haben, was geschieht, wenn die sozialen Drehbücher einmal versagen oder Lücken haben: Harold Garfinkel und Erving Goffman.
Die Fragilität der Selbstverständlichkeiten Nie können die Menschen ganz sicher sein, daß die Regeln und sozialen Drehbücher wirklich gelten. Sie wissen im Grunde genau, daß alle Institutionen letztlich nur „Konstruktionen“ sind, die zusammenbrechen können. Wenn man nun aber weiß, wann sie zusammenkrachen, dann kennt man auch viele der Umstände, die sie erhalten. Meist kennen diese Umstände weder die Akteure, noch die Soziologen gerade weil die Regeln so gut funktionieren.
Die Störung der Normalität Der amerikanische Soziologe Harold Garfinkel hat es sich zum Sport gemacht, Situationen gezielt herbeizuführen, in denen die normalen sozialen Drehbücher plötzlich und ganz unerwartet nicht mehr funktionieren um zu sehen, wie die Menschen damit umgehen und versuchen, an einer bestimmten „Definition“ der Situation gleichwohl mit allen Mitteln festzuhalten oder sich eine neue zu schaffen. Derartige gezielte Störungen von eigentlich gut geregelten Situationen werden auch Krisenexperimente genannt (vgl. dazu insgesamt noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Für Harold Garfinkel sind die Reaktionen der Menschen in solchen Krisenexperimenten der Schlüssel zur Aufdeckung jener verborgenen Grundlagen der „Geltung“ der Regeln und Drehbücher, an die normalerweise weder die Akteure, noch die Soziologen herankommen. Weil das Beispiel so schön paßt, sei eines dieser Experimente geschildert, das mit dem Restaurantskript zu tun hat.6 Eine Studentin S übernimmt als Versuchsleiterin die Aufgabe, einen Professor P beim Eintritt in das Institutsrestaurant so zu behandeln, als sei er ein Kellner. Der Professor ist mit einem Kollegen verabredet, kann also nicht einfach fliehen, wenn ihm etwas unheimlich würde. Die 6
Vgl. Harold Garfinkel, A Conception of, and Experiments with, „Trust“ as a Condition of Stable Concerted Actions, in: O. J. Harvey (Hrsg.), Motivation and Social Interaction. Cognitive Determinants, New York 1963, S. 224ff. Das Beispiel wurde in der Übersetzung eines in deutsch abgedruckten Artikels von Hugh Mehan und Houston Wood leicht abgewandelt übernommen; Hugh Mehan und Houston Wood, Fünf Merkmale der Realität, in: Elmar Weingarten, Fritz Sack und Jim Schenkein (Hrsg.), Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankfurt/M. 1976, S. 51ff.
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Institutionen
Studentin ist angewiesen, alles zu tun, dem Professor keine Chance zu geben, aus der aufgedrängten Rolle als Kellner herauszukommen.
Die Szene ist dann so verlaufen: S: Ich hätte gerne einen Tisch an der Westseite, einen ruhigen Platz, wenn es möglich ist. Wie sieht die Speisekarte aus? P: (wendet sich S zu und schaut an ihr vorbei in Richtung Eingangshalle): Äh, äh, gnädige Frau, sicherlich. S: Sicherlich gibt es noch etwas zu essen. Was empfehlen Sie mir denn heute? P: Ich weiß nicht, Sie sehen, ich warte ... . S: (unterbricht ihn): Bitte lassen Sie mich nicht hier stehen, während Sie warten. Sind Sie doch so nett und führen mich an einen Tisch. P: Aber gnädige Frau ... (beginnt sich von der Tür wegzudrücken und in einem leicht gekrümmten Bogen um S herumzukurven) S: Mein lieber Mann ... (P errötet, seine Augen rollen und weiten sich) P: Aber ... Sie ... ich ... o je! (scheint die Fassung zu verlieren) S: (nimmt P an den Arm und geht mit ihm, ihn leicht vor sich herschiebend, in Richtung zur Tür des Speiseraums) P: (geht langsam, bleibt plötzlich mitten im Raum stehen, dreht sich um und schaut zum erstenmal S direkt und sehr taxierend an, nimmt seine Taschenuhr heraus, wirft einen Blick darauf, hält sie an sein Ohr, steckt sie zurück und murmelt): O je! S: Es kostet Sie nur einen Augenblick, mich an einen Tisch zu führen und meine Bestellung aufzunehmen. Dann können Sie zurückgehen und auf Ihre Kunden warten. Schließlich bin ich auch ein Gast und Kunde. P: (stutzt, geht steif zum nächsten Tisch, hält einen Stuhl bereit, damit sich S setzen kann, verbeugt sich leicht und murmelt): Ganz zu Ihren Diensten! (eilt zur Tür, dreht sich um und blickt mit verwirrtem Gesichtsausdruck auf S zurück).
Die Geschichte ging mit der Aufdeckung der Täuschung weiter. Die Studentin gibt sich schließlich zu erkennen: S: Sie sind gerade, ohne es zu wissen, als Versuchsperson in einem Experiment gebraucht worden. P: Diabolisch, aber ganz clever. Ich muß sagen ... , mich hat seit langem nichts mehr derart mitgenommen, seit ... im Jahre 19.. ... meine Theorie der ... öffentlich denunziert hat. Und die wilden Gedanken, die mir durch den Kopf schossen: Die Empfangsdame aus dem Vorraum holen, auf die Toilette gehen, diese Frau an die erstbeste Person, die hier vorbeikommt, weiter zu verweisen. ... .
Und der Professor fährt noch eine Weile ganz aufgeregt fort, zu klären, was in ihm vorgegangen ist. Sein letzter Gedanke war dann noch, so berichtet er:
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P: Ich möchte gerne wissen, ob sie ganz „klar im Kopf“ ist. Sie sieht eigentlich ganz normal aus. Ich möchte wissen, ob man das feststellen kann.
Mit der Aufdeckung des wirklichen Geschehens kann sich der Professor schließlich wieder beruhigen. Aber es hat ihm doch einen ganz gehörigen Schock versetzt. Das Beispiel erinnert nicht ganz zufällig an die versteckte Kamera und an „Verstehen Sie Spaß?“, sowie an manchen Sketch bei Loriot.
Die „Methoden“ des Volkes, sich eine Ordnung zu geben Die von Harold Garfinkel begründete Art der Soziologie wird aber nicht im Fernsehen gezeigt. Sie hat sich statt dessen den beeindruckenden Namen Ethnomethodologie zugelegt (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ genauer). Es geht bei dieser Forschungsrichtung der Soziologie im Kern darum, die „Methoden“ herauszufinden, mit denen das gemeine Volk der „ethnos“ den sinnhaften Aufbau der sozialen Situationen im Alltag immer wieder hinbekommt, obwohl es keinerlei festen Grund dafür gibt. Die Ethnomethodologie geht davon aus, daß es die verschiedenen „Bedeutungen“ bestimmter Handlungen, etwa die, daß jetzt eine bestimmte Rolle gespielt oder einem bestimmten sozialen Drehbuch gefolgt werde, niemals schon in irgendeiner fixierten Weise „vor“ dem Handeln gibt, sondern daß sich die Regeln und ihre Bedeutungen immer nur innerhalb einer unaufhörlichen Sequenz praktischer Handlungen durch das Handeln selbst herausbilden und diesem Handeln dann gleichzeitig, sozusagen: im Vollzug, seinen Sinn geben. Genau das hat ja auch der Professor in der Institutskantine getan: Er hat, wenngleich nicht ohne Irritation, versucht, den Sinn des seltsamen Tuns herauszufinden. Und den „fand“ er, indem er begann mitzuspielen und schließlich sogar nach den Vorgaben handelte, die die Versuchsperson in die Situation hineinschleuste.
Die Reparatur der Fehltritte Meist aber brechen die Regeln und sozialen Drehbücher nicht zusammen auch wenn es ständig Störungen und Fehltritte gibt. Erving Goffman hat einen großen Teil seiner Arbeiten den vielen hintergründigen Kleinregeln der alltäglichen Interaktionsrituale gewidmet, sowie den zahllosen Techniken, die die Menschen einsetzen, um das Versagen eines Drehbuches wieder zu korrigieren.
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Institutionen
Territorien des Selbst Zu den Kleinregeln gehört insbesondere die Einhaltung gewisser territorialer Abstände.7 Erving Goffman nennt sie die Territorien des Selbst. Das sind einerseits räumliche, vor allem aber symbolische Territorien. Das räumliche Territorium umfaßt den persönlichen Raum des Abstandes, den man normalerweise voreinander einhält. Der WDR-Reporter Korruhn verletzte bei seinen Interviews diese Regeln regelmäßig: Er kroch in die Leute geradezu hinein. Der persönliche Raum ist an den Körper gebunden. Die Box ist dagegen der davon unabhängig beanspruchte Raum: das Hotelzimmer, der Liegestuhl, die erste Reihe in der Vorlesung. Eine Reihenposition definiert die Reihenfolge der Akteure zu einem Ziel etwa in einer Warteschlange. Die Hülle ist die engste territoriale Umhüllung des Körpers, bzw. der Körperregionen, die auf keinen Fall tangiert werden dürfen. Und als Besitzterritorien gelten Gegenstände, auf die der Akteur Eigentumsrechte erhebt. Zwei symbolische Territorien sind wichtig: das Informationsreservat, das sich auf die Kontrolle von privaten Dingen, etwa in Hosentaschen oder Briefen, bezieht; und das Gesprächsreservat, das regelt, wer wann und zu welchem Anlaß mit dem Akteur ein Gespräch beginnen darf. Zwar sind alle diese Regeln dem sozialen Wandel unterworfen, und sie unterscheiden sich auch sehr zwischen den verschiedenen Kulturen. Aber: Wenn sie einmal gelten, dann wird jede Verletzung zu einer irritierenden, manchmal sogar demütigenden Angelegenheit. In den sog. totalen Institutionen (vgl. den Exkurs dazu im Anschluß an Abschnitt 1.1 oben in diesem Band) gehört es ja geradezu zur institutionellen Regel, die Kleinregeln des Abstandes und des Anstandes aus dem Normalalltag zu verletzen. Und die unangenehmsten Menschen sind jene Spielverderber, die durch ihre fortgesetzten kleinen Störungen ständiges Zu-spät-Kommen, Dazwischenreden, Hinauslaufen die geduldigste Runde zur Weißglut bringen können.
Primäre und sekundäre Regeln Was können die Menschen aber tun, um sich vor solchen Störungen zu schützen? Auch dies hat Erving Goffman sehr fein beobachtet und zusammenge-
7
Vgl. Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung, Frankfurt/M. 1974, S. 54-71 insbesondere; vgl. auch die informative Zusammenfassung bei Bernhard Miebach, Soziologische Handlungstheorie. Eine Einführung, Opladen 1991, S. 90ff.
Soziale Drehbücher
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tragen.8 Er unterscheidet dabei zwischen primären und sekundären Regeln. Primäre Regeln sind die Regeln, die den unmittelbaren Inhalt des sozialen Drehbuches ausmachen. Sie steuern das „normale“ Alltagshandeln. Die sekundären Regeln erlauben dem Akteur jedoch, die primären Regeln der Alltagsrituale anders als üblich einzusetzen, zu variieren und auf diese Weise zusätzliche Ziele zu verfolgen etwa: anzudeuten, daß man die Regeln nicht so ernst nimmt oder daß man versucht, eine erkennbare Störung wieder zu korrigieren. Die primären Regeln bestehen aus zwei Arten von Maßnahmen der Korrektur und Reparatur. Das sind erstens Regeln des sog. bestätigenden Austausches. Dazu gehören die sog. Ratifizierungsrituale, die anzeigen sollen, daß eine Veränderung kein besonderes Problem aufwirft, beispielsweise durch beschwichtigende Beruhigungskundgaben. Zum bestätigenden Austausch gehören auch Begrüßungs- und Verabschiedungsrituale. Sie hat Goffman unter der Bezeichnung Zugänglichkeitsrituale zusammengefaßt. Zweitens gehören zu den primären Regeln die Zeichen des korrektiven Austausches. Als da sind: Erklärungen für ein (Fehl-) Verhalten, Entschuldigungen einer Regelverletzung oder das Ersuchen darum, jetzt – ausnahmsweise! – einmal etwas eigentlich Verbotenes tun zu dürfen. Zum korrektiven Austausch zählen auch bestimmte leibgebundenen Kundgaben: Gesten und Ausdrücke, mit denen ein Eindruck wieder korrigiert oder verändert werden soll. Dazu zählen Orientierungskundgaben, Rücksichtsbekundungen und Übertreibungskundgaben.
Mit den Korrekturmöglichkeiten der primären Regeln können die meisten Verletzungen der Interaktionsrituale schon ausgebügelt werden. Wenn man genau hinsieht, dann besteht der Alltag tatsächlich aus zahllosen Verletzungen der Regeln und aus korrektivem Austausch. Da sich aber alles noch im „Rahmen“ hält, treten massivere Probleme üblicherweise nicht auf. Das ist anders, wenn es um die sog. sekundären Regeln geht. Hier findet eine gezielte Verletzung der Verwendung von primären Regeln statt. Die Studentin spielte beispielsweise die Rolle der Versuchsleiterin, indem sie die Rolle einer Restaurantbesucherin annahm, darüber aber ihr Opfer im Unklaren ließ. Hätte sich die Studentin nur geirrt, dann wäre durch den vom Professor ja verzweifelt versuchten korrektiven Austausch bald alles wieder „richtig“ gelaufen. So aber fand eine bewußt herbeigeführte Überdetermination statt: die gezielte Verletzung der Regeln eines Alltagsrituals.
8
Vgl. auch dazu die Zusammenfassung bei Bernhard Miebach 1991, S. 97ff.; zu einer Übersicht über die wichtigsten Einzelheiten der Arbeiten Goffmans vgl. auch Jonathan H. Turner, The Structure of Sociological Theory, 5. Aufl., Belmont 1991, Kapitel 22: Dramaturgical Theory: Erving Goffman, S. 447-471.
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Institutionen
Der „Rahmen“ des Handelns Mit den Fragen der Überdetermination von Interaktionsritualen hat sich Erving Goffman in einer seiner letzten Arbeiten, der „Rahmenanalyse“, beschäftigt.9 Der Hintergrund ist das Konzept des „primären Rahmens“: Das sind die von den Akteuren selbst in eine Situation eingebrachten Deutungen, die sich unterscheiden von dem üblichen sozialen Rahmen wie Goffman auch die sozial geteilten Drehbücher und Schemata von Situationen nennt. Die Funktion eines primären Rahmens ist, „daß er einen sonst sinnlosen Aspekt der Szene zu etwas Sinnvollem macht“ (Goffman 1980, S. 31). Und das war es ja genau, was die Studentin tat: Im „Rahmen“ des Experimentes war ihr Handeln ganz und gar sinnvoll. Nur wußte der arme Professor, der sich an die sozialen Regeln zu halten glaubte, davon nichts. Manchmal und das ist der eigentliche Gegenstand der „Rahmenanalyse“ bei Goffman verwandeln die Akteure gemeinsam eine zunächst ganz normale soziale Regel in einen primären Rahmen. Diesen Vorgang nennt Goffman Modulation. Ausgangspunkt sind bestimmte Module. Damit meint Goffman „ ... das System von Konventionen, wodurch eine bestimmte Tätigkeit, die bereits im Rahmen eines primären Rahmens sinnvoll ist, in etwas transformiert wird, das dieser Tätigkeit nachgebildet ist, von den Beteiligten aber als etwas ganz anderes gesehen wird.“ (Ebd., S. 55)
Ein primärer Rahmen ist wohl zuerst das Experiment von Garfinkel gewesen. Die Gruppe der Ethnomethodologen um Garfinkel hat daraus dann eine Art von „sozialem“ primären Rahmen gemacht: das Modul des Krisenexperimentes. Modulation ist der gesamte Prozeß gewesen, wie es von dem ganz privaten primären Rahmen Garfinkels zur Ethnomethodologie, vielleicht sogar von dort zu „Verstehen Sie Spaß“, gekommen ist. Auf eine ganz ähnliche Weise sind wohl der Sport, die Habilitationsvorträge und das rituelle Weinverkosten entstanden. Erving Goffman nennt als Module insgesamt fünf Sorten: „So-tun-als-ob“, Wettkampf, Zeremonie, Sonderausführung und „In-anderen-ZusammenhangStellen“ (Ebd., S. 60ff). Sie alle haben eine Funktion: Den Erhalt einer festen Ordnung, oder wenigstens des Anscheins davon, in einer Welt, die „in Wirklichkeit“ beständig neu geschaffen wird und nur im Vollzug des Handelns der Menschen selbst besteht. ***
9
Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt/M. 1980 (zuerst: 1974).
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Erving Goffman und Harold Garfinkel haben die Störungen des Alltags besonders fasziniert. Die Soziologie hat daraus mehr gelernt als aus tausend Büchern über die „Interpenetration“ der normativen Strukturen und gesellschaftlichen Sphären. Aber alles in allem ist der Alltag viel weniger störungsanfällig als die Arbeiten von Goffman und Garfinkel inaugurieren mögen. Und sie waren es gerade, die gezeigt haben, woran das liegt: Die Menschen sind nicht alleine mit den Fehlschlägen der Interaktionsrituale. Es gibt dafür wieder eine Unzahl von Reparaturregeln. Und wenn die Akteure nicht gerade auf bewußten Betrug aus sind, dann finden sie auch immer wieder einen Weg, die Ordnung neu herzustellen.
Exkurs über die Liebe – oder: Was geschieht bei Lücken im sozialen Drehbuch? Soziale Drehbücher gibt es nicht nur für Restaurants, sondern auch für Supermärkte und Kaufhäuser, Fakultätssitzungen, Hotelbesuche, Skatrunden, Campingplätze, Badestrände und Saunabesuche, für das erste Rendevouz wie für alles, was danach kommt. Sie koordinieren das Handeln der Menschen vorwiegend. Nicht immer aber kommt es nur auf die richtige Koordination an. Der routinehafte Rückgriff auf ein soziales Drehbuch ist oft auch Zeichen, vor allem dafür, daß alles seine Ordnung hat. Was aber geschieht, wenn in einem Ablauf eine Szene fehlt, weil der unbekannte Drehbuchschreiber die neueste Wendung des Stücks noch nicht mitbekommen hat? Manchmal wird ein Drama daraus. Besonders in der Liebe. Auch für die Liebe und für den intimen Umgang miteinander gibt es nämlich soziale Drehbücher. Erst hinterher sehen die Verliebten in der Abklärung der verflossenen Zeit, daß alle Gefühle des Überschwanges und der Einmaligkeit verhältnismäßig allgemein verbreitete Versatzstücke eingespielter Sequenzen waren, die sie vorher auf alle mögliche Weise aufgelesen haben. Und dazu gehörte sogar der Entschluß, sich jetzt zu verlieben. Niklas Luhmann hat sich die Entwicklung der sozialen Drehbücher der Liebe im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte in der Oberschicht Westeuropas genauer angesehen.10 Er nennt die Liebe, zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, einen Code oder ein Medium. Was er aber als Code oder Medium bezeichnet, ist, wenn wir uns das bei ihm näher ansehen, nichts anderes als ein soziales Drehbuch, in das jede, noch so enthusiastische, „Passion“ der Liebe stets eingelagert ist: 10
Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/M. 1982.
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„In diesem Sinne ist das Medium Liebe selbst kein Gefühl, sondern ein Kommunikationscode, nach dessen Regeln man Gefühle ausdrücken, bilden, simulieren, anderen unterstellen, leugnen und sich mit all dem auf die Konsequenzen einstellen kann, die es hat, wenn entsprechende Kommunikation realisiert wird. Schon im 17. Jahrhundert ist ... bei aller Betonung der Liebe als Passion völlig bewußt, daß es um ein Verhaltensmodell geht, das gespielt werden kann, das einem vor Augen steht, bevor man sich einschifft, um Liebe zu suchen; das also als Orientierung und als Wissen um die Tragweite verfügbar ist, bevor man den Partner findet, und das auch das Fehlen eines Partners spürbar macht, ja zum Schicksal werden läßt.“ (Ebd., S. 23; Hervorhebungen nicht im Original)11
Vor und auf der Bettkante ist die Gesellschaft mit ihren sozialen Drehbüchern also meist schon dabei. Und das hilft allen Beteiligten bei dem, was sie vorhaben, sehr. Ohne solche Vorgaben, kämen sie nur schwer zur Sache. Aber „meist“ ist eben nicht „immer“. Mit dem Auftreten von AIDS gab es plötzlich eine Lücke im sozialen Drehbuch der Intimkommunikation. Einerseits wissen inzwischen: hoffentlich alle, daß es im Zweifel nicht „ohne“ geht. Was heißt es aber andererseits im praktischen Fall, den/die PartnerIn um Verständnis dafür zu bitten, daß es nur „mit“ gehen könne? Folgende Möglichkeiten der Interpretation sind wohl nicht zu abwegig und lusttötend: Du meinst es ja nicht ernst! Du glaubst, ich sei jemand für nur eine Nacht! Du meinst wohl, ich sei drogensüchtig! Oder sogar schwul! In einer Studie zu dem Problem lesen wir dann auch nur stilistisch etwas vornehmer: „Das angestrebte Vertrauen als Beziehungsideal schließt ein, daß zwischen den Partnern kein Argwohn oder Mißtrauen herrschen soll. Das Kondom thematisiert unausgesprochen Schutzinteressen und sichernde Abgrenzungen gegenüber dem neuen Partner: Dem anderen Menschen werden implizit gefährdende Seiten zugesprochen, gegen die es sich vorbeugend zu schützen gilt. Das Kondom erschüttert das dünne Band des Vertrauens, das sich zwischen den Partnern ausgebildet hat: ‚ ... wenn ich mir vorstelle, daß jetzt jemand, der mir sagt, daß er verliebt in mich ist oder sogar mehr für mich empfindet, dann auf mich zukommt und mich konkret auf Aids anspricht, daß ja bei mir die Möglichkeit bestehen könnte, daß ich aidsinfiziert bin. Dann ... ich weiß nich, ob das so direkt mit dem Gefühl zu vereinbaren ist.‘ (w 47/19)“12
So ist es: Das Ansinnen mit dem Kondom ist keine unschuldige Aktion des Verantwortungsbewußtseins, sondern ein deutliches Zeichen, daß etwas nicht stimmt. Das gilt schon am scheuen Anfang einer Beziehung. Aber was soll eigentlich ein(e) EhepartnerIn denken, wenn plötzlich ein Kondom benutzt werden soll? Kurz: Es geht nicht, weil das Kondom in dem Drehbuch der Ver11
12
Zu weiteren sozialen Einbettungen der Rituale auch der freien, passionierten und romantischen Liebe in den westlichen Gesellschaften vgl. Peter L. Berger, Einladung zur Soziologie, München 1971 (zuerst: 1963), S. 45f. Jürgen Gerhards und Bernd Schmidt, Intime Kommunikation. Eine empirische Studie über Wege der Annäherung und Hindernisse für „safer sex“, Baden-Baden 1992, S. 145.
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liebten und treuen GattInnen bislang keinen richtigen Platz hat. Die Aufklärungskampagnen der Bundesanstalt für gesundheitliche Aufklärung versuchten daher folgerichtig auch nur das Eine: den „Einbau“ des Kondoms in die Normalität des sozialen Drehbuches eines jeden intimen Zusammenseins: „Tina, wat kosten die Kondome?“. Aber die Akteure wollten und konnten so lange nicht warten. Sie waren schon dabei, ihr eigenes Drehbuch für die so die Autoren der Studie „als unangenehm empfundene Unterbrechung“ zu schreiben. Der Anfang ist stets ein Tun, das das Problem irgendwie löst. Es waren zwei Arten von Praktiken, die als erste Entwürfe eines neuen Drehbuches der Liebe sichtbar wurden: „Eine Lösungsstrategie besteht darin, diese Pause (der Unterbrechung; HE) so kurz wie möglich zu halten, um ihre störenden Effekte zu minimieren. Ein monologisches Agieren des Mannes – ohne Abstimmung mit der Partnerin – erwies sich als ein gelungener Weg der Einbettung einer Kondomnutzung; durch eine direkte, zielgerichtete und alleinige Handlungssteuerung können die störenden und stimmungszerstörenden Aspekte der Unterbrechung möglichst gering gehalten werden. Eine andere ... Lösungsform besteht darin, die mit einer Kondomverwendung verbundene Pause in das interaktive Geschehen selbst zu integrieren. Ein entspannter und spaßiger Umgang mit Kondomen beispielsweise nimmt der Situation die Ernsthaftigkeit. Die Kondomverwendung kann zudem so eingefädelt werden, daß die Kondomnutzung zu einem Feld wird, in dem sich die Partner gegenseitig zu stimulieren und erotisieren vermögen. Eine Ästhetisierung der Situation des Überziehens des Kondoms kann auf die Partner stimulierend wirken.“ (Ebd., S. 199)
Jetzt fehlt nur noch Eines: die kollektive Verbreitung dieser Praxismodelle, so daß diejenigen, denen es nicht vergönnt war, ihre eigene erfolgreiche Standardsequenz zu finden, leichter wissen können, was zu tun ist. Und dann wird es eines Tages wohl so sein, wie immer, wenn ein soziales Drehbuch etabliert ist: Niemand weiß mehr, warum eine bestimmte Praktik entstanden ist. Aber jetzt halten sich alle daran, weil jede Abweichung wieder eine Abweichung vom jetzt gültigen Drehbuch der Liebe bedeuten würde.
8.3
Die Änderung der sozialen Drehbücher
Lücken in den sozialen Drehbüchern sind ein Problem, die Vorstellung, im „falschen Film“ zu sein, ein anderes. Besonders unangenehm ist die Sache dann, wenn bisher stets alles ganz normal gelaufen ist, mit einem Male aber nicht mehr, und wenn der Akteur feststellen muß, daß sich die soziale Welt anders verhält als gedacht: Die junge Frau hält den Professor wirklich für einen Kellner, der feine, stets um Ausgleich und Überparteilichkeit bemühte Graf entpuppt sich tatsächlich als kalter Opportunist, das Schütteln mit
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Institutionen
dem Kopf scheint in der Tat keineswegs „Ablehnung“ zu bedeuten. Was geschieht nun? Dies ist die Frage nach der Änderung von Schemata und sozialen Drehbüchern. Wir werden sie bei der Behandlung des Bezugsrahmens des Handelns in Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ noch einmal aufgreifen. Sie ist letztlich der Kern des Problems der „Definition“ der Situation. Zunächst wird meist ein ganz erstaunliches Phänomen beobachtet: Menschen halten an einem einmal etablierten Schema bzw. Drehbuch auch gegen eine Unzahl von Evidenz mit unglaublicher Hartnäckigkeit fest. Kleinere Abweichungen werden mühelos eingepaßt. Dies wird auch als Assimilation der inkonsistenten Information bezeichnet. Daß es diese Widerständigkeit gibt, ist auch ganz gut so: Nur wenn die sozialen Drehbücher auch angesichts von leichteren Störungen unbeirrt beibehalten werden, kann es zu dem Mindstestmaß an generalisierter Erwartungsfestigkeit kommen, das erst eine einigermaßen abgesicherte Koordination erlaubt. Andererseits würde die „kontrafaktische“ Anwendung eines ganz offensichtlich falschen Schemas nicht nur dem einzelnen Akteur sehr schaden. Von daher entsteht ein interessantes Optimierungsproblem: Wieviel an „Anomalien“ kann ein soziales Drehbuch vertragen, ehe es – im individuellen wie im kollektiven Interesse – geändert werden muß?
Die Änderung sozialer Drehbücher, die Berücksichtigung der inkonsistenten Daten also, die über die Assimilation hinausgeht, wird auch als Akkommodation bezeichnet. Dafür sind drei Erklärungen oder Mechanismen vorgeschlagen worden (vgl. Schwartz 1985, S. 285f.): das Buchhaltungsmodell, das Substitutionsmodell und das Bekehrungsmodell. Sie unterscheiden sich vor allem in Hinsicht auf die Radikalität und Vollständigkeit, mit der das neue Schema gegen das alte ausgetauscht wird. Das Buchhaltungsmodell „addiert“ die inkonsistente Information – gewissermaßen als zusätzliche „Ausnahme von der Regel“. Allmählich ändert sich das Schema kasuistisch – bis es mehr Ausnahmen als Regeln gibt und das Schema seine ökonomisierende Funktion verliert. Wegen der Fallabhängigkeit und wegen der Additivität bleibt es aber insgesamt bei nur allmählichen, fast unmerklichen Änderungen. Das Substitutionsmodell verbindet die – etwa: konzentriert auftretenden – Ausnahmen zu einem Unter-Schema. Damit werden die Anomalien einerseits aufgehoben, das Schema wird gleichzeitig aber als „Schema“ beibehalten und verliert seine Funktion als „Regel“ nicht. Es wird aber doch komplizierter: Die Akteure müssen nun auf Differenzierungen achten, die vorher ausgeblendet bleiben konnten. Auch hierbei steht die Schemaakkommodation der „eigentlichen“ Funktion des Schemas im Wege: die Vereinfachung in der Organisation des Wissens. Wenn es jetzt – plötzlich und woher auch immer – ein neues Schema gäbe, das die Anomalien des alten Schemas in einer neuen, aber einfacheren Struktur enthält, dann wäre es sehr angeraten, dieses neue Schema komplett gegen das alte auszutauschen. Das ist das Bekehrungsmodell. Es beläßt die „alten“ Daten wie sie sind, bietet aber eine komplett neue „Erklärung“ dafür an. Erleben tun die Menschen dies – nicht zuletzt, weil jetzt das Leben wieder viel leichter und durchsichtiger geworden ist – buchstäblich als „Erleuchtung“.
Soziale Drehbücher
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Wie kommt es aber dazu? Der Schlüssel zur Erklärung einer Änderung der sozialen Drehbücher liegt in der engen Verbindung zwischen den sozialen Drehbüchern als Hypothesen über die Wirklichkeit und dem Prozeß der Wahrnehmung als Prüfung dieser Hypothesen vor dem Hintergrund der Daten, die die Situation bietet: die signifikanten Symbole und das beobachtbare Handeln der anderen Akteure. Wenn das anders ist, als gewohnt, dann stimmt etwas nicht. Und dann beginnt die „rationale“ Prüfung, ob die eingelebte Routine so sinnvoll noch ist oder ob es nicht etwas Besseres gibt. Meist reichen schon kleinere Reparaturen. Manchmal kommt man aber um eine „Revolution“ nicht herum: der komplette Austausch eines sozialen Drehbuches gegen ein gänzlich neues, die Konversion von einem Modell der Orientierung und des Handelns zu einem anderen, der Wechsel von dem einen Paradigma der Alltagserklärung zu einem dazu alternativen. Das Problem bleibt dabei nur: Werden die Ko-Akteure diese Revolution ihres Denkens auch mitmachen? Es ist das Problem, das die Sekte der Seekers (in Abschnitt 3.3 oben in diesem Band) hatte, als die Welt doch nicht unterging. Und auch hier hängt alles davon ab, ob die Akteure ihre inneren Konversionen alleine und isoliert oder in enger Beziehung und Interaktion miteinander vornehmen (müssen).
8.4
Wir alle spielen Theater?
Die sozialen Drehbücher sind die Vorlagen, nach denen die Menschen in den konkreten Situationen des Alltags ihr Tun koordinieren. Sie sind die Grundlage dafür, daß sie „verstanden“ werden und selbst verstehen, was geschieht. Und sie bilden nicht zuletzt den Boden für die Erfüllung der Aufgaben, aus denen sie dann soziale Wertschätzung und die Mittel für das physische Wohlbefinden beziehen können.
Das ernste Spiel des Alltags Die sozialen Drehbücher sind so könnte man sagen die Partituren des Alltagslebens. Spielen müssen die Menschen aber immer selbst. Und das tun sie schließlich jeder auf seine Weise mit oft hoher Virtuosität und starkem Engagement für ihre Aufgabe. Erving Goffman zitiert dazu eine sehr hübsche Stelle bei Jean-Paul Sartre. Wir geben sie hier gerne wieder:
224
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„Betrachten wir diesen Kaffeehauskellner. Er hat rasche und sichere Bewegungen, ein wenig allzu bestimmte und ein wenig allzu schnelle, er kommt ein wenig zu rasch auf die Gäste zu, er verbeugt sich mit ein wenig zuviel Beflissenheit, seine Stimme und seine Blicke drücken eine Interessiertheit aus, die ein wenig zu sehr von Besorgnis um die Bestellung des Kunden in Anspruch genommen ist; dort kommt er zurück und versucht durch seine Art, zu gehen, die unbeugsame Härte irgendeines Automaten nachzumachen, während er gleichzeitig sein Tablett mit einer Art Seiltänzerkühnheit trägt, wobei er es in einem fortwährend labilen und fortwährend gestörten Gleichgewicht hält, das er mit einer leichten Bewegung des Armes oder der Hand fortwährend wiederherstellt. Seine ganze Verhaltensweise sieht wie ein Spiel aus. Er läßt es sich angelegen sein, seine Bewegungen aneinanderzureihen, als wären sie Mechanismen, die sich gegenseitig antreiben, auch sein Gesichtsausdruck und seine Stimme wirken mechanisch; er legt sich die erbarmungslose Behendigkeit und Schnelligkeit einer Sache bei. Er spielt, er unterhält sich dabei. Aber wem spielt er etwas vor? Man braucht ihn nicht lange zu beobachten, um sich darüber klar zu werden: er spielt, Kaffeehauskellner zu sein.“13
Der Ausdruck „soziales Drehbuch“ könnte einen falschen Eindruck erwecken: Als wäre die soziale Welt ein großes Theater, als nähmen die Akteure ihren Part in den vielen Menuetten des Alltagslebens nicht so ernst und als hätten sie nur „The Presentation of Self in Everyday Life“ im Sinn. Unendlich viele soziale Drehbücher gehören zur Organisation der „Gesellschaft“. Das Ritual des Aufstehens, des Rasierens, des Frühstückens, des Abschiedsküssens läßt zum Beispiel – millionenfach – ein Heer von Werktätigen morgens die Wohnung verlassen und zur Steigerung des Bruttosozialprodukts aufbrechen. Sie sind damit Teil der übergreifenden Organisation vieler Betriebe, Behörden und Arbeitsabläufe. Andererseits sind die übergreifenden Institutionen der Gesellschaft – letztlich bis hin zu ihrer Verfassung – der feste Rahmen, innerhalb dessen sich auch die weniger formellen sozialen Drehbücher einspielen können. Deshalb kann man sich auf sie verlassen – auch ohne, daß hinter ihnen unmittelbar ein besonderer Erzwingungsstab stehen müßte. Das Skript des Gangs zum Briefkasten enthält zum Beispiel die sichere Erwartung, daß der Brief auch weitertransportiert wird – unabhängig davon, wie sich der Postbote heute wieder fühlen mag. Es entfaltet seine Bindekraft auch deshalb so zuverlässig, weil es kaum Ausnahmen kennt und von Ansprüchen, Sanktionen und einer übergreifenden Legitimität unterstützt wird. Eine Organisation wie die Post muß aber erst einmal „arbeiten“, bevor ich den Gang zum Briefkasten als einfaches soziales Drehbuch handhaben kann.
Soziale Drehbücher und die vielen kleinen Interaktionsrituale des Alltags, aus denen sich das gesellschaftliche Leben bildet, sind also alles andere als bloßes Theater. Nicht zuletzt Erving Goffman hat jedoch gelegentlich mit seiner Betonung der vielen Tricks zur Dramaturgie des Alltags den Eindruck erweckt, als ginge es bei den Interaktionsritualen in erster Linie um die SelbstDarstellung der Akteure. Davon kann aber gar keine Rede sein. Erving Goffman schreibt selbst in dem betreffenden Buch ganz unmißverständlich:
13
Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Hamburg 1952, S. 106.
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„Es liegt nahe, im Inhalt einer Darstellung nichts weiter als den Ausdruck des Charakters des Darstellers zu sehen, und daher die darstellerische Funktion ausschließlich unter persönlichen Gesichtspunkten zu betrachten. Eine derart eingeschränkte Sicht aber kann wichtige andere Funktionen verdecken, die die Darstellung für die Interaktion als Ganzes hat.“14
Damit ist gemeint, daß praktisch alle sozialen Drehbücher in weitere Funktionszusammenhänge und institutionelle Regeln eingebettet sind, von dort her erst ihren Sinn und ihre Verläßlichkeit beziehen und darüber dann zu einer Grundlage der sozialen Produktionsfunktion der Akteure werden und damit: zu einer Angelegenheit ihrer Interessen, die stets in Gruppenzusammenhänge, funktionale Aufgaben oder Vorgaben des kulturellen Milieus eingebettet sind. Jean-Paul Sartre beschreibt dies für den erwähnten Kaffeehauskellner wie für einige andere „Akteure“ von beruflichen Interaktionsritualen: „Das Kind spielt mit seinem Körper, um ihn zu erforschen, um eine Bestandsaufnahme zu machen; der Kaffeehauskellner spielt mit seiner Stellung, um sie real zu setzen. Das ist für ihn ebenso notwendig wie für jeden Kaufmann: ihre Stellung ist ganz Zeremonie, und das Publikum verlangt von ihnen, daß sie sie wie eine Zeremonie realisieren; es gibt den Tanz des Kolonialwarenhändlers, des Schneiders, des Auktionators, durch den sie ihre Kundschaft davon zu überzeugen sich bemühen, daß sie weiter nichts sind als ein Kolonialwarenhändler, ein Auktionator, ein Schneider. Ein Kolonialwarenhändler, der vor sich hin träumt, wirkt auf den Käufer anstößig, weil er nicht mehr durch und durch Kolonialwarenhändler ist.“ (Sartre 1952, S. 106f.; Hervorhebungen so nicht im Original)
Kurz: Die sozialen Drehbücher definieren die sozialen Produktionsfunktionen für die Akteure in den damit belegten sozialen Situationen. Sie lassen den Akteuren dabei viel an Spielraum zur Ausgestaltung aber nur in den Grenzen der Aufgabe, in die das Drehbuch eingebettet ist.
Ensembles Die Befolgung und die Ausgestaltung des Drehbuches ist immer eine Angelegenheit, die letztlich mit den Interessen des Akteurs zu tun hat. Kann er sich darin nicht wiederfinden, wird er die Vorlage nur mißmutig, schlampig, desinteressiert oder ritualistisch nutzen. Über die Interessen wird das soziale Drehbuch mit den Bedürfnissen der Menschen verbunden. Und dies ist der Motor für das Engagement, das immer nötig ist, um das Leben mit Leben zu erfüllen. Die Interessen sind es also letztlich wieder, die die Menschen dazu bringen, ihren jeweiligen Part in den Aufführungen gut zu spielen. Wie im Theater hat jede Selbstdarstellung dabei ihre eigene Grenze: Sie nutzt dem Schauspieler 14
Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 2. Aufl., München 1973b, S. 73; Hervorhebungen nicht im Original.
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nur begrenzt. Es soll das Stück gelingen. Und ein Schauspieler, der sich zu sehr nach vorne spielt, wird dies in den Kritiken schon zu lesen bekommen. Anders gesagt: Da die Interessen der Menschen in aller Regel nur in sozialen Zusammenhängen bedient werden können, gewinnt die gemeinsame Befolgung des Drehbuches ein ganz eigenes, ein wenn man so sagen will kollektives Interesse. Dabei bleibt der Akteur freilich immer auch ein Akteur mit seinen jeweils individuellen Interessen unter anderem daran, ein möglichst positives Selbstbild zu erhalten. Aber das darf er nicht übertreiben. Und es ist genau diese Spannung der antagonistischen Kooperation zwischen Selbstdarstellung und gemeinsamer Aufgabe, die die Dynamik auch auf der Bühne des Alltags ausmacht (vgl. dazu auch noch Kapitel 9 unten in diesem Band). Erving Goffman drückt diese Spannung in drei Gesichtspunkten aus, von denen die „Szenerie“ der Drehbücher des Alltags geprägt ist. Erstens ist „ ... es häufig so, daß in einer Darstellung hauptsächlich Charakteristika der dargestellten Aufgabe und nicht Charakteristika des Darstellers zum Ausdruck kommen sollen.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Das Drehbuch ist eben meist die Grundlage für eine kooperative Tätigkeit, für ein Produkt, von dem her die Produzenten gemeinsam beurteilt werden: „So erleben wir es oft, daß Menschen, die beruflich mit Publikum umzugehen haben, sei es in der Wissenschaft, in der Verwaltung, im Geschäftsleben oder in handwerklichen Berufen, durch ihre Bewegungen Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit zu suggerieren versuchen; was ein solches Verhalten auch immer über den Darsteller selbst aussagen mag, sein Hauptzweck ist vor allem, seine Dienstleistung oder das angebotene Produkt in ein vorteilhaftes Licht zu rücken.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Zweitens wird so Erving Goffman die persönliche Fassade des Darstellers auch dazu errichtet, weil sie geeignet erscheint, seine Erscheinung und sein Verhalten in eine weitere Szenerie einzufügen. Die „persönliche“ Darstellung etwa eines Professors als „zerstreut“ wäre dann nichts als eine besonders engagierte Konformität mit einem Kollektiv. Der dritte Gesichtspunkt ist der wohl wichtigste. Wieder Erving Goffman im O-Ton: „Am entscheidensten aber ist, daß die Definition einer Situation, wenn sie auch von einem Einzelnen entworfen wird, integraler Bestandteil einer Darstellung ist, die durch enge Zusammenarbeit mehrerer Teilnehmer geschaffen und gestützt wird.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Für diese Konstellation von Akteuren führt Goffman die Bezeichnung Ensemble (im Original: „team“) ein:
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„Ein Ensemble kann ... definiert werden als eine Gruppe von Individuen, die eng zusammenarbeiten muß, wenn eine gegebene Situationsbestimmung aufrechterhalten werden soll.“ (Ebd., S. 96)
Ensembles sind keine bloßen Aggregate, aber auch keine aufeinander eingeschworenen Gruppen: Ihnen fehlt der innere solidarische Zusammenhang in Richtung auf ein gemeinsames Ziel, das über die „Szene“ hinausweist. Es sind auch keine Cliquen, wenn damit eine kleine Zahl von Personen gemeint ist, die zum Zwecke zwangloser Vergnügungen zusammenkommen. Es handelt sich auch nicht um Organisationen, da feste Vorschriften und Regeln, die an bestimmte Posititionen gebunden sind, und die die Akteure dann individuell und vor dem Hintergrund individuell drohender Sanktionen befolgen, ebenfalls nicht vorhanden sind. Entscheidend ist, daß die Akteure in der Situation einen bestimmten gemeinsamen Eindruck herbeiführen wollen, um damit ihre individuellen Ziele zu erreichen egal in welcher Konstellation sie das tun: „Soweit sie in Zusammenarbeit einen gegebenen Eindruck aufrechterhalten, um damit ihre eigenen Ziele zu erreichen, bilden sie ein Ensemble in unserem Sinn.“ (Ebd., S. 79; Hervorhebungen nicht im Original)
Erving Goffman nennt eine Fülle von Beispielen. Etwa: die Verteilung der Rollen bei feierlichen Einladungen, bei dem ein Mitglied des Haushaltes den Dienstboten spielen muß. Die Inszenierung von Eintracht zwischen Ehepaaren, wenn der Chef sich angesagt hat und einen Chantré zu genießen wünscht. Oder das Rektorat, das in der Senatssitzung ganz die harmonische Einmütigkeit demonstriert, obwohl hinter den Kulissen doch nur Ew. Magnifizenz das Sagen haben.
Abhängigkeit und Vertraulichkeit Zwei strukturelle Eigenschaften zeichnen die Konstellation eines Ensembles aus. Erstens sind die Mitglieder aufeinander angewiesen: Jeder könnte den anderen durch sein Fehlverhalten in den Abgrund ziehen. „Jedes Ensemblemitglied muß sich auf das gute Benehmen der anderen verlassen, und diese sind ihrerseits gezwungen, sich auf ihn zu verlassen. Alle Mitglieder eines Ensembles sind also notwendigerweise durch gegenseitige Abhängigkeit miteinander verbunden.“ (Ebd., S. 77; Hervorhebung nicht im Original)
Da die Mitglieder aber alles übereinander wissen, insbesondere wie sie „wirklich“ sind und welche Interessen sie insgeheim haben, können sie einander
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nichts vormachen. Wegen ihrer wechselseitigen Abhängigkeit können sie aber von dem Einblick in die Intimsphäre des anderen keinen Gebrauch machen: „Als Verschworene sind sie gezwungen, einander als ‚Eingeweihte‘ zu sehen, als Personen, vor denen eine bestimmte Fassade nicht aufrechterhalten werden kann.“ (Ebd., S. 78)
Dies ist die zweite typische Eigenschaft der Beziehung zwischen den Mitgliedern eines Ensembles: Verschworene Vertraulichkeit. Sie ist um so stärker, je mehr die Akteure als Ensemblemitglieder miteinander zu tun haben. Aber sie ist meist auch informell, jedoch sehr nachhaltig geregelt: Sie gilt nur für den Eintritt in die Situation, die das Ensemble zusammenfügt.
Darsteller und Publikum Viele Aufführungen des Alltags bestehen aus der Interaktion zwischen verschiedenen Ensembles: zwei Fußballmannschaften, die gegeneinander spielen; eine Fakultätssitzung mit den diversen Fraktionen und Gruppenvertretern; ein Abendessen mit dem gastgebenden Ehepaar und den eingeladenen Gästen zum Beispiel. Manchmal bestehen die „Ensembles“ auch nur aus Einzelpersonen wie bei einer kleineren Gerichtsverhandlung vor einem Amtsgericht in der Kreisstadt. Gelegentlich haben die Ensembles, die miteinander interagieren, einen Regisseur, der die Aufgabe hat, die Angelegenheit möglichst professionell „über die Bühne“ zu bekommen. Etwa: Gerichtsdiener, Dekane, Schiedsrichter, Pfarrer oder Standesbeamte. Wer immer dann der Regisseur ist, er scheint ein ganz besonderes Interesse zu haben:
„Ob es sich um eine Beerdigung, eine Hochzeit, eine Bridge-Party, einen Ausverkauf, eine Hinrichtung oder ein Picknick handelt, der Regisseur neigt dazu, die Vorstellung danach zu beurteilen, ob sie ‚glatt‘, ‚wirkungsvoll‘ und ‚reibungslos‘ abgelaufen ist und ob man auf alle möglichen Störungen im voraus gefaßt war.“ (Ebd., S. 90)
Manchmal teilen sich die verschiedenen Ensembles in einer besonders interessanten Weise auf: Das eine Ensemble sind die Darsteller und das andere die Zuschauer oder das Publikum. Darsteller ist jeweils das Ensemble, das die Kontrolle über das jeweilige „Bühnenbild“ hat die Einrichtung, in der es sich bewegt und das „ ... mehr Handlung zur Interaktion beiträgt oder den dramatisch ausgeprägteren Part spielt bzw. Tempo und Richtung für beide Ensembles bestimmt ... .“ (Ebd., S. 86)
Beispielsweise:
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„Ein Kunde in einem Laden, ein Klient in einem Büro, eine Gruppe von Gästen in der Wohnung des Gastgebers – sie alle geben eine Vorstellung und halten eine Fassade aufrecht, aber das Bühnenbild, vor dem sie dies tun, unterliegt nicht ihrer unmittelbaren Kontrolle; es ist ein integraler Bestandteil der Darbietung derjenigen, vor denen sie sich bewegen.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Das ist ein Spezialfall der Unterscheidung von Leistungs- und von Publikumsrollen, auf die wir in Abschnitt 7.1 oben in diesem Band und in Abschnitt 3.1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ schon hingewiesen haben. Es gibt für alles das einen interessanten Grenzfall: Der Akteur selbst ist gleichzeitig Darsteller und Publikum. Er ist gewissermaßen ein Ein-Mann-Ensemble. Das hat bedeutende Vorteile: Er kann schnell entscheiden, welchen Standpunkt er einnehmen will, welche Handlung die einzig richtige ist und wie die Situation seinen Interessen am besten angepaßt werden kann. Aber ganz so einfach ist die Angelegenheit dann manchmal aber doch nicht: Wenn der Akteur innerlich in zwei Seelen gespalten ist, und sein Selbst etwa einen Teil enthält, der an den sozialen, und einen anderen, der an den ganz individuellen Aspekten der Aufführung orientiert ist, dann haben wir erneut das Problem der antagonistischen Kooperation. Diesmal im Inneren der Identität des Akteurs. Diesen Konflikt muß der Akteur dann zwischen den beiden Teilen seines Selbst austragen.
Bühne und Kulisse Wie im richtigen Theater gibt es auch bei den Darstellungen des Lebens stets einen Raum, in dem die Ensembles agieren: die Bühne. Diese ist das Geschäft, der Hörsaal, die Arztpraxis, das Restaurant je nachdem. Es gibt aber auch ebenfalls wie im Theater einen Raum hinter der Bühne, „hinter den Kulissen“. Goffman nennt dies die „Hinterbühne“. Es ist der Platz, in den sich die Darsteller und ggf. auch das Publikum zurückziehen können. Auf der Bühne sind die Akteure im Spiel des jeweiligen sozialen Drehbuches. Die Hinterbühne ist daher! geradezu ein Ort, an dem die Menschen oft genau das Gegenteil von dem tun, was sie sich auf der Vorderbühne an Eindruck abringen müssen: „Die Hinterbühne kann definiert werden als der zu einer Vorstellung gehörige Ort, an dem der durch die Darstellung hervorgerufene Eindruck bewußt und selbstverständlich widerlegt wird.“ (Ebd., S. 104; Hervorhebung nicht im Original)
Die Hinterbühne hat eine Reihe von wichtigen Funktionen. Ohne sie wären die Aufführungen auf der Vorderbühne gar nicht möglich:
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„Hier kann das, was eine Vorstellung hergibt, nämlich etwas außerhalb ihrer selbst Liegendes auszudrücken, erarbeitet werden; hier werden Illusionen und Eindrücke offen entwickelt. Hier können Bühnenrequisiten und Elemente der persönlichen Fassade in einer Art kompakter Zusammenballung ganzer Handlungsrepertoires und Charaktere aufbewahrt werden. Hier können Requisiten von unterschiedlichem Wert, wie verschiedene Arten von Getränken und Kleidung, so versteckt werden, daß das Publikum nicht sieht, was für eine Behandlung – im Vergleich mit der Behandlung, die man ihm hätte zukommen lassen können – man ihm angedeihen läßt.“ (Ebd.)
Hier kann geprobt, die Kostüme und die Bestandteile der persönlichen Fassade überprüft und korrigiert, es können die Besetzungslisten ausgehandelt und vor allem kann über das Publikum hergezogen werden. Die Hinterbühne ist insbesondere auch der Ort, wo sich die Darsteller entspannen und „ ... die Maske fallen lassen, vom Textbuch abweichen und aus der Rolle fallen (können).“ (Ebd., S. 105)
Hier sind die Akteure noch Mensch, hier können sie’s sein. Erving Goffman zitiert voller Verständnis die Lebensgefährtin von Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, für die Situation von Frauen, in denen das männliche Publikum fehlt. Zunächst die Vorderbühne: „Vor dem Mann stellt die Frau immer etwas vor. Sie lügt, wenn sie so tut, als finde sie sich mit sich selbst als dem unwesentlichen anderen ab. Sie lügt, wenn sie ihm in Gebärden, Toiletten, berechneten Worten eine imaginäre Persönlichkeit hinstellt. Diese Komödie verlangt ein ständiges Gespanntsein. Vor ihrem Gatten, ihrem Liebhaber denkt jede Frau mehr oder weniger: ‚Ich bin nicht ich selbst‘. Die Welt des Mannes ist hart, sie hat schneidende Schärfen, die Stimmen klingen in ihr zu laut, die Lichter sind zu grell, die Berührungen zu rauh.“
Und nun die Hinterbühne
ohne die Männer:
„Bei anderen Frauen ist die Frau hinter der Szene. Sie poliert die Waffen, sie kämpft nicht. Sie stellt ihre Toilette zusammen, überlegt sich ihre Schminke, plant ihre Taktik; sie zieht die Zeit in die Länge, die sie im Morgenmantel und Pantoffeln in den Kulissen verbringt, bevor sie die Bühne betritt. Sie liebt diese laue, wohlige, entspannte Atmosphäre ... . Manchen Frauen ist dieses Sichgehenlassen, diese warme Intimität wertvoller als der pomphafte Ernst ihrer Beziehung zu den Männern.“15
Wie interessant! Wie aufschlußreich! So wichtig diese Trennung zwischen Bühne und Kulisse daher auch ist: Die Trennung zwischen diesen Bereichen muß erhalten bleiben. Daher ist es eines der Hauptprobleme aller Darsteller, ihr Publikum von ihrer Hinterbühne fernzuhalten. Niemand soll den Schauspieler bei der Abschminke sehen können. Ein Teil seiner Leistung auf der Vorderbühne beruht auf der Illusion, daß es die Hinterbühne nicht gibt. 15
Simone de Beauvoire, Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau, Reinbek 1968 (zuerst: 1949), S. 543f.; diese beiden Zitate sind entnommen Goffman 1973b, S. 105.
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Viele Arbeiten werden ohnehin auf Hinterbühnen gemacht. Und auch dabei soll möglichst niemand zusehen. Erving Goffman nennt den Fabrikarbeiter, der sein Werkzeug verstecken will, Leichenbestatter, die die Angehörigen an den Toten nicht mehr heranlassen wollen, Pfleger in Nervenheilanstalten, die die Angehörigen nur in die hübsch hergerichteten Besuchsräume lassen. „Desgleichen fordert man in vielen Reparaturgeschäften den Kunden auf, den reparaturbedürftigen Gegenstand dazulassen und wieder zu gehen, damit der Geschäftsmann in Ruhe arbeiten kann. Kommt dann der Kunde, um sein Automobil – seine Uhr, seine Hose, seinen Radioapparat – abzuholen, so überreicht man es ihm in bestem Zustand, in einem Zustand – nebenbei bemerkt –, der Aufwand und Art der geleisteten Arbeit, die Zahl der Fehler, die gemacht wurden, bevor es in Ordnung war, und andere Einzelheiten verbirgt – Dinge, über die der Kunde Bescheid wissen müßte, um beurteilen zu können, ob der verlangte Preis angemessen ist.“ (Goffman 1973b, S. 106)
Kurz: Die räumliche, soziale, sachliche und zeitliche Trennung der Szenerien in den sozialen Drehbüchern ist kein bloßes technisches Beiwerk, sondern ein integraler Bestandteil der Leistungen der Akteure. Deshalb ist die Einrichtung von Grenzen wie auch Schweigepflichten, Peinlichkeiten, Diskretion oft weniger eine Restriktion, sondern ganz im Gegenteil die Bedingung dafür, daß es gewisse Möglichkeiten des entspannten und deshalb produktiven Handelns überhaupt gibt.
Konflikte Orchester spielen ihre Partituren stets gemeinsam und miteinander. Große Konflikte können sie sich beim Spielen der Noten nicht leisten, auch dann nicht, wenn die etwas unscheinbare Zweite Geige neidisch auf die hübsche und virtuose Erste Geige ist. Zum offenen Konflikt während des Spiels haben sie keinen Grund. Im Gegenteil: Alle sind am Wohlklang gemeinsam interessiert. Und den kann schon ein Mißton eines einzelnen Hornes komplett zerstören. Die sozialen Drehbücher sind die Partituren der Lebenswelt. Aber es gibt nur wenige, die in ähnlicher Weise ganz ohne innere Konflikte zwischen den Mitspielern auskommen. Das hat allein schon damit zu tun, daß die verschiedenen Rollen im Drehbuch nicht alle gleich attraktiv und unterschiedlich mühevoll zu spielen sind. Im Interesse der Aufführung werden die Konflikte zwar auch dort wie im Orchester meist nicht manifest. Aber hinter den Kulissen tobt der Kampf um die Besetzung der Rollen dann um so heftiger. Soziologisch besonders interessant ist ein anderer Fall: Die besondere Aktivität des einen Spielers bringt ihm einen Vorteil, beeinträchtigt aber die Aktivität des anderen und umgekehrt. Aber sie müssen jeweils ihren Part möglichst gut ausfüllen. Wer soll dann zurückstehen zumal es jetzt ja nicht bloß
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um die bessere Position im Spiel, sondern immer auch um das Gelingen des Stücks insgesamt geht? Eine solche Konstellation ist u.a. dann gegeben, wenn ein Ensemble auf der Vorderbühne und ein anderes auf einer Hinterbühne agieren muß, um die jeweilige Aufgabe zu erledigen. Das ist etwa in Speiserestaurants der Fall. Die ServiererInnen agieren vor dem Publikum der Gäste. Die KöchInnen in der aus guten Gründen als Hinterbühne eingerichteten Küche. Die Gäste sollten gar nicht erst versuchen, in Kenntnis zu bringen, was dort manchmal geschieht. Erving Goffman hat einen Teil seiner Beobachtungen in einem kleinen Hotel in Schottland, dem Shetland-Hotel, gemacht. Er berichtet unter anderem: „ ... einige der Normen der Hoteldienstleistungen, die man in der Gästeregion zeigte oder andeutete, wurden in der Küche nicht ganz befolgt. In der Speisekammer bildete sich manchmal Schimmel auf einer Suppe, die man noch anbieten wollte. Auf dem Küchenherd trocknete man nasse Socken über dem Teekessel – wie es auf der Insel üblich ist. Wenn die Gäste um frischen Tee baten, wurde er in einer Kanne aufgebrüht, auf deren Boden sich wochenalte Teereste verkrustet hatten.“ (Ebd., S. 109)
Die Schilderung mit einigen weiteren unappetitlichen Details geht noch weiter. Wir wollen sie im Interesse des Lesers nicht fortführen. Solange die Trennung der Regionen leicht möglich ist und nicht mit den funktionalen Interessen eines anderen Ensembles kollidiert, gibt es kein weiteres Problem es sei denn, jemandem der Gäste würde schlecht oder es stünden die Beamten vom Ordnungsamt vor der Tür. Aber gerade zwischen ServiererInnen und KöchInnen bzw. den HotelbesitzerInnen gibt es eine solche Interessenkollision. Sie kristallisiert sich an der Türenfrage. Zunächst der Standpunkt der ServiererInnen: „Die Serviererinnen wollten die Türen offenhalten, damit sie die Tabletts leichter hin- und hertragen und feststellen konnten, wie weit die Gäste mit dem Essen waren. Sie versuchten soviel Kontakt wie möglich mit den Leuten zu halten, über die sie bei ihrer Arbeit etwas erfahren wollten. Da die Serviererinnen vor den Gästen eine Bedienstetenrolle spielten, machte es ihnen nichts aus, wenn die Gäste sie durch die offene Tür in ihrem Milieu beobachteten.“ (Ebd.)
Und nun die KöchInnen bzw. die HotelbesitzerInnen: „Im Gegensatz dazu wollten die Hotelbesitzer die Tür geschlossen halten, damit die mittelständische Rolle, die ihnen die Gäste unterschoben, nicht durch Entdeckung ihrer Küchengewohnheiten diskreditiert wurde. Es verging kaum ein Tag, an dem diese Türen nicht rgerlich zugeworfen und ebenso ärgerlich aufgestoßen wurden.“ (Ebd.)
Leicht ist auszumalen, daß dieser Konflikt im Rahmen der Regeln der sozialen Drehbücher alleine nicht beizulegen ist: Es ist ein Nullsummenkonflikt, der wenn nichts anderes geschieht nur über eine repressive Maßnahme zu
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lösen wäre, an der aber auch wiederum niemand so recht interessiert ist. Aber die Menschen sind nicht nur egoistisch und opportunistisch, sondern auch findig und klug, wenn sie auf das Gelingen der Aufführung angewiesen sind und der nachgebende Altruismus oder ein despotisches Dekret die rechte Lösung nicht sind. Sie haben für die beschriebene Konfliktkonstellation in Restaurants eine einfache Lösung gefunden, die allen letztlich zugute kommt: Schwingtüren, Türen mit einem kleinen Fenster oder eine Durchreiche zwischen dem Gästeraum und der Küche. Sehen Sie beim nächsten Kneipenbesuch einmal hin, welche Lösung es dort gegeben hat. * * * Soziale Drehbücher sind besonders interessante Formen der institutionellen Regulierung des Lebens: Wir alle spielen in unserem Alltag ohne Zweifel (auch) Theater und wissen, wie auch auf der „wirklichen“ Bühne nicht recht weiter im Text. Weil sie nicht alles festlegen, kann man an ihnen besonders gut studieren, was die Soziologie lange Zeit übersehen hat und was die Ökonomie bis heute nicht so recht wahrhaben will: Das Handeln der Menschen ist einerseits immer an institutionellen Regeln orientiert. Erst sie „definieren“ den Sinn des Handelns in einer Situation, von dem alles andere abhängt. Andererseits haben die Menschen immer auch ihre Bedürfnisse und ihre über die Institutionen damit verbundenen Interessen. Und es gibt immer auch Anreize, von den Regeln abzuweichen. Die Beispiele zeigen, wie gefährlich es wäre, die Beziehungen der Menschen und ihr individuelles Tun und Fühlen immer nur von einer Seite aus zu sehen. Es müssen beide Aspekte immer gleichzeitig betrachtet werden: die normativen Regeln und die Interessen bzw. die Interdependenzen der Akteure. Dazu aber bedarf es einer Theorie des Handelns, die die Orientierung an den normativen Regeln und die Interessen in eine Erklärung systematisch zusammenführen kann. Wir werden sie in Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ vorstellen.
Formel 1 am Herd Der Kolumnist Wolfram Siebeck ist als Feinschmecker und Restaurantkritiker zu Recht gut bekannt. Von ihm stammt die folgende, im ZEITmagazin erschienene Beschreibung der „Organisation“ einer Restaurantküche. „Das Schicksal hat es so gefügt, daß ich von Zeit zu Zeit in einer Restaurantküche herumstehe und Köchen bei der Arbeit zusehe. Eine schreckliche Situation. Sie können alles besser als ich und arbeiten schneller. Sie haben auch keine Ähnlichkeit mit den geschniegelten Fern-
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sehköchen (‚Und jetzt geben wir die gehackte Petersilie ans Püree ...‘). Vor allem benutzen sie andere Töpfe und Pfannen. Schwere, zerbeulte oder schwarze Ungeheuer, die zum Herd passen, der ebenfalls einen schwerzerbeulten Eindruck macht, aber sehr heiß ist. Kein Wunder, daß die Köche nach einem zweistündigen Service schwitzen wie Karasek im Quartett. Doch die Küche ist danach so sauber wie vorher. Eng ist es immer. In einem kleinen Gourmet-Restaurant muß sich eine achtköpfige Brigade choreographisch bewegen, um kein Chaos aufkommen zu lassen. Ein zusätzlicher Gaffer wie ich steht unweigerlich im Wege. Natürlich ist der Herd der Mittelpunkt, obwohl dort nur vier Köche arbeiten. Zwei auf der Seite, wo das Fleisch brät, zwei sind gegenüber für den Fisch zuständig. Einer ist der Stellvertreter des prominenten Patrons. Der Meister selber steht fast nie am Herd. Er pendelt zwischen den Gästen im Speisesaal und dem Paß hin und her. Der Paß ist die Stelle in der Küche, wo die fertigen Tellergerichte für die Kellner abgestellt werden. Manchmal wischt der Chef an den Tellern herum. Daß er einen Teller zurückschickt, habe ich nie gesehen. Die wirklichen Macher sind der Souschef und dessen Kollegen am Herd. Der eine brät die Enten und die Kalbskoteletts und schiebt die angebratenen Fleischstücke in den Ofen; der andere kümmert sich um Fische und Meeresgetier. Jeder hat neben sich noch einen Helfer. Die Zusammenarbeit geht rasend schnell und wortlos. Sie haben es tausendmal geübt, das klappt wie ein Reifenwechsel beim Formel-1-Rennen. Außer Pfannen und Töpfen ist nichts zu sehen. Nichts liegt herum. Jacobsmuscheln und Hummerschwänze lagern unter Klarsichtfolie in gekühlten Schubladen. Steinbuttfilets neben Scheiben vom Teufelsfisch. Werden für eine Sauce Austern gebraucht, sind auch die ausgelöst und warten in kleinen Schüsseln. Alles ist sauber präpariert und gebrauchsfertig. Auf der anderen Herdseite sind es Keulen vom Milchlamm, Taubenbrüste, Gänselebern, Kalbsbries und dergleichen, vor Stunden schon makellos zugerüstet – mise en place nennt man das. Die Fonds vergrößern meinen Frust. Sechs verschiedene, fertig gewürzt, stehen auf dem Herd und köcheln vor sich hin. Nicht zwei, nicht drei – sechs! Die Butter liegt in handlichen Klumpen bereit, Gemüsepüree wird im großen Topf unter luftdichter Folie warmgehalten, Öl, Essig, Cognac, Sherry, alles ist griffbereit. Dann kommen die ersten Bestellungen. Die Vorspeisen sind zum großen Teil vorbereitet, sie werden nur noch auf dem Teller zusammenmontiert, sekundenschnell unter den glühenden Salamander geschoben, dann etwas Fond. Vielleicht eine Trüffelscheibe. Wo kommen die Trüffeln plötzlich her? Jacobsmuscheln garen im Dampf, zwei Minuten, nicht länger, große Ravioli landen ebenfalls im Dampf. Geschwindigkeit und Lautstärke nehmen zu. Pfannen und Kasserollen werden jetzt krachend auf dem Herd herumgeschoben, die Lüftung lärmt, Schneebesen klappern, Metallschüsseln scheppern. Die Köche, oft mit Uhrmachern verglichen, erinnern eher an wüste Schmiedegesellen. Peng, Ofen auf – peng, Ofen zu. Fleisch wird gewendet, zum Ausruhen am Herdrand abgestellt, Bratfett zischt in den Abfallkübel, Pfeffermühlen ratschen hastig, und zwischendurch wird immer wieder mal probiert. Der Chef erscheint, öffnet eine Kaviardose, Tatar von Langostinos wird in Blechringen rund geformt – die Hände fliegen, die Körper tanzen, jemand schmiert sich Brandsalbe auf den Finger, die Temperatur steigt auf 30 Grad, im Sommer werden es über 40 sein, die Kellner rufen die Bestellungen aus, Schublade auf, Schublade zu, der Souschef klatscht Butter ins Püree, ein Japaner schlägt eine Sabayon, Teller werden unter den Salamander geschoben und 30 Sekunden später mit dem Handtuch wieder hervorgezogen, Vorsicht, heiß, heiß, heiß ... Ein Tollhaus. Ein Wunder, daß kein Topf auf den Boden knallt, daß keine Pfanne vom Herd gerissen wird. Ich stelle mir vor, wie es jetzt im Saal aussieht: Kerzen brennen auf den Tischen, die Gäste sitzen erwartungsvoll, Kellner bringen die Teller und die silbernen Schüsseln, der Lammrücken wird andächtig bewundert und geschickt zerlegt, Wein wird nachge-
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schenkt. Es herrscht eine gelöste, festliche Stimmung. Eßkultur in ihrer feinsten Form. Der Chef heimst Komplimente ein.“16
Ein Tollhaus? Ein Wunder? Wirklich? Die Soziologie (der Institutionen und der sozialen Ordnung) weiß es, wie immer, besser: kein Tollhaus, kein Wunder, nur eine Frage der „Organisation“.
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Wolfram Siebeck, Formel 1 am Herd, in: ZEITmagazin, Nr. 7, 1999, S. 30; Hervorhebungen im Original.
Kapitel 9
Organisation
Institutionen bilden den normativen Rahmen des Handelns. Ihre wichtigste Funktion ist die verläßliche Ordnung sozialer Prozesse und damit die Sicherung gewisser reproduktiver Leistungen, die anders nicht denkbar wären, etwa wegen zu hoher Transaktionskosten oder wegen eines Problems der antagonistischen Kooperation. Die konkreten Aktivitäten zur Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens vollziehen sich jedoch nicht in den letztlich stets ja nur immer „vorgestellten“ institutionellen „Ordnungen“, sondern in realen sozialen Gebilden und Abläufen, wie etwa in Zusammenkünften, in Gruppen oder auf Märkten, insbesondere aber in jenem Typus eines sozialen Gebildes, das als Organisation bezeichnet wird: die „kollektive“ Kooperation von Akteuren unter dem Dach von auch formell festgelegten und bindenden Regeln. Eine Organisation ist somit natürlich etwas anderes als eine Institution (vgl. dazu auch schon die Abschnitte 1.1 und 1.2 oben in diesem Band): Sie beruht auf institutionellen Regeln, geht darin aber nicht auf, ebenso wie auch eine Zusammenkunft, eine Gruppe und in einer gewissen Weise mindestens sogar ein Markt von institutionellen Regeln zwar geleitet und durchdrungen sein können, aber gleichwohl etwas ganz anderes als die „Institutionen“ sind. Institutionen sind Regeln des Handelns, Organisationen sind dagegen ganze soziale Gebilde bzw. soziale Systeme, die auch! solche Regeln enthalten. An den Organisationen lassen sich einige besonders signifikante und interessante Probleme der Umsetzung institutioneller Ordnungen in konkrete soziale Abläufe studieren. Nicht zuletzt deshalb werden sie in diesem Band 5, „Institutionen“, der „Speziellen Grundlagen“ in einem eigenen Kapitel behandelt obwohl viele der für die Organisationen typischen Probleme auch anderswo auftauchen und behandelt werden, wie das der antagonistischen Kooperation, das der Einrichtung einer wirksamen sozialen Kontrolle, Macht und Herrschaft, Ungleichheit und Mobilität oder das Phänomen des generalisierten Tauschs. Es gibt aber noch einen zweiten Grund: Organisationen prägen wie kaum ein anderer Typ eines sozialen Systems die Vorgänge besonders in den
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modernen Gesellschaften (siehe dazu unten mehr). Und allein deshalb verdienen sie das ganz besondere Interesse auch der theoretischen Grundlagen der Soziologie.
9.1
Was ist eine Organisation?
Organisationen sind, so lautet die wohl knappste Definition dieses in der Soziologie ebenfalls nicht immer klar gefaßten Konzeptes, soziale Gebilde, in denen eine Mehrzahl von Menschen zu einem spezifischen Zweck bewußt zusammenwirkt.1 Man müßte hinzufügen: unter dem Dach einer expliziten institutionellen Regel und „Verfassung“.
Organisation und Akteure In der Verfassung der Organisation werden insbesondere die Umstände der Mitgliedschaft, also die Bedingungen von Eintritt und Austritt, die typischerweise zu erbringenden Leistungen und die dafür vorgesehenen Gegenleistun1
So Renate Mayntz, Stichwort: Organisation, in: Wilhelm Bernsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1969, S. 762. Vgl. zum Konzept der Organisation näher und zu den verschiedenen Problemen und Aussagen der sog. Organisationssoziologie u.a. Viktor Vanberg, Markt und Organisation. Individualistische Sozialtheorie und das Problem korporativen Handelns, Tübingen 1982; Günter Büschges und Martin Abraham, Einführung in die Organisationssoziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1997; W. Richard Scott, Organizations. Rational, Natural and Open Systems, 4. Aufl., Upper Saddle River, N.J., 1998 (zuerst: 1981). Vgl. zu einigen klassischen und älteren Beiträgen auch James G. March und Herbert A. Simon, Organizations, 3. Aufl., New York u.a. 1961, sowie die Sammelbände von Renate Mayntz (Hrsg.), Bürokratische Organisation, 2. Aufl., Köln und Berlin 1971, und von Günter Büschges (Hrsg.), Organisation und Herrschaft. Klassische und moderne Studientexte zur sozialwissenschaftlichen Organisationstheorie, Reinbek 1976. Ferner die Übersicht bei Renate Mayntz und Rolf Ziegler, Soziologie der Organisation, in: René König (Hrsg.), Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 9: Organisation. Militär, 2. Aufl., Stuttgart 1977, S. 1-141, sowie die immer noch lesenswerte Einführung von Renate Mayntz, Soziologie der Organisation, Reinbek 1963. Siehe zum Stand der aktuellen Diskussionen verschiedene Beiträge bei Alfred Kieser (Hrsg.), Organisationstheorien, 3. Aufl., Stuttgart, Berlin und Köln 1999, sowie bei Günther Ortmann, Jörg Sydow und Klaus Türk (Hrsg.), Theorien der Organisation. Die Rückkehr der Gesellschaft, 2. Aufl., Opladen 2000. Und zur aktuellen spezifisch ökonomischen Sichtweise des Problems vgl. Karl Homann und Andreas Suchanek, Ökonomik. Einführung, Tübingen 2000, Kapitel 5: Organisationen, S. 329-390. Vgl. als knappen Überblick über die Entwicklungen der Organisationstheorie (aus seiner besonderen Perspektive): Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen und Wiesbaden 2000, Kapitel 1: Organisationstheorie: Die klassischen Konstruktionen, S. 11-38.
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gen institutionell bzw. rechtlich geregelt. Durch die Verfassung ist in Organisationen die Situation also immer schon einmal „definiert“. Und nur unter diesen Vorgaben können dann weitere Definitionen der Situation oder Variationen vorgenommen werden, soll nicht der „Sinn“ des Handelns grob verletzt werden. Sofern sich Akteure motivieren lassen, sich diesen Regeln zu unterwerfen und Mitglied einer Organisation zu werden, können auch sehr künstliche Verhaltensabläufe fest institutionalisiert und gegen die privaten Motive der Mitglieder dauerhaft abgesichert werden. Dazu muß nur sichergestellt werden, daß die meist hohe Schwelle eines Austritts aus der Organisation oder eines abweichenden Verhaltens innerhalb des Rahmens der Verfassung etwa aufgrund von Unzufriedenheiten, Verletzung moralischer Gefühle oder attraktiverer Alternativen nicht überschritten wird. Aber unterhalb dieser Schwelle tun die Mitglieder buchstäblich alles, was die Organisation von ihnen verlangt: „Die Soldaten marschieren, die Schreiber protokollieren, die Minister regieren – ob es ihnen in der Situation nun gefällt oder nicht.“2
Und genau das ist es, warum es vor allem anderen zur „Organisation“ sozialer Abläufe kommt: Man kann sich nun fest darauf verlassen, daß bestimmte Dinge geschehen und muß sich um die Motive, Stimmungen und strategischen Erwägungen der Akteure nicht mehr viel kümmern. Im Prinzip, nicht in aller „Wirklichkeit“ freilich. Für die in den Organisationen zusammengeschlossenen Akteuren hat das ebenfalls gewisse vereinfachende Auswirkungen: Auch sie können sich darauf verlassen, daß gewisse Dinge passieren, die pünktliche Gehaltszahlung zum Beispiel. Und sie müssen sich auch nicht „voll“ einbringen, sondern immer nur in dem Teil ihrer Identität, der für ihr „Funktionieren“ im Rahmen der Organisation gerade wichtig ist. Alles andere interessiert niemanden. Und genau das wiederum macht die Organisationen selbst sehr „unabhängig“ von den Menschen und gerade dadurch besonders leistungsfähig.
Einige Besonderheiten von Organisationen Der Zweck bzw. das Ziel einer Organisation besteht in der kollektiven Erstellung spezieller Ressourcen und Leistungen. Dieses Ziel legt die für eine be2
Niklas Luhmann, Interaktion, Organisation, Gesellschaft. Anwendungen der Systemtheorie, in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, 3. Aufl., Opladen 1986, S. 12.
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stimmte Organisation typische, ausschlaggebende und das gesamte Geschehen „definierende“ soziale Produktionsfunktion fest und bestimmt die darin dann geltenden primären Zwischengüter bzw. die Codes der Orientierung der Akteure, die in ihrem Rahmen agieren: Schweinespeck beim Schweinezüchter, Tore in der Bayern-München-AG und die Entschlüsselung des Genoms in einem Institut für Molekularbiologie, etwa. Organisationen sind, um dieses spezifische Ziel möglichst zweckmäßig zu erreichen, so gut wie immer arbeitsteilig strukturiert. Typisch für Organisationen ist daher die Strukturierung der Beziehungen durch formell definierte Positionen mit daran geknüpften typischen normativen Erwartungen an das Handeln der Akteure, den sozialen Rollen (siehe dazu auch schon Kapitel 7 oben in diesem Band). Zu dieser Ordnung nach Positionen und Rollen, die zunächst bloß horizontal nach verschiedenen „Aufgaben“ strukturiert ist, kommt meist auch eine vertikale Ordnung, die Hierarchie einer Organisation. Solche Hierarchien können mehr oder weniger ausgeprägt bzw. „flach“ sein. Formell geregelt sind insbesondere der Eintritt und der Austritt von Personen in die Organisation, die Besetzung der Positionen vor allem und die Bestimmung der speziellen Rechte und Pflichten der Akteure auf diesen Positionen. Die Positionen und Rollen definieren in den jeweiligen Organisationen gewisse, man könnte sagen, „primäre“ Unterziele und damit die primären Zwischengüter in den jeweiligen Teilbereichen der Organisation. Dabei kann es leicht vorkommen, daß die Akteure in den diversen Teilbereichen gar nicht wissen, worum es „insgesamt“ eigentlich geht. Das müssen sie aber auch nicht solange das Räderwerk der Arbeitsteilung insgesamt gut läuft, der Organisationszweck gut erfüllt wird oder die Organisation sonst bestehen bleibt, und alle ihr Auskommen haben. Die Positionen und die sozialen Rollen bilden damit so etwas wie den institutionellen Kern der Organisation und sind in ihrer Verfassung, etwa in Form von Arbeitsbeschreibungen oder einem Organigramm, niedergelegt (siehe dazu auch noch Abschnitt 9.2 unten in diesem Band näher).
Eigentümer, Angestellte und Leitung Organisationen haben Eigentümer. Das können Einzelmenschen oder Kollektive, Privatpersonen oder der Staat sein. Der Eigentümer wird auch als der Prinzipal bezeichnet. Die Eigentümer haben, obwohl ihnen die Organisation „gehört“, keinen direkten Zugriff auf die Mittel, die die Organisation kontrolliert. Es gibt, wie es heißt, eine Trennung von den Betriebsmitteln. Organisationen haben natürlich auch ein Personal, das für die „eigentliche“ Erstellung
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der jeweiligen Ressourcen und Leistungen „angestellt“ ist die Angestellten. Und sie weisen im Rahmen ihrer arbeitsteiligen Struktur stets eine Leitungsinstanz auf, eine „Herrschaft“ also, die die Organisation nach innen steuern und nach außen vertreten soll. Die Funktion der Leitung einer Organisation kann dabei vom Eigentümer dem Prinzipal also gleich mitübernommen werden, wie etwa bei einem Metzgermeister mit seinen drei Gesellen und zwei Verkäuferinnen als den ihm untergebenen Angestellten. Sie kann aber auch an einen aus den Reihen des Personals angestellten Agenten, einen Geschäftsführer oder einen Prokuristen etwa, übertragen werden, der die Leitung stellvertretend für den oder die Eigentümer wahrnimmt, etwa der Vorstandsvorsitzende Rolf Breuer als „Agent“ der Aktiengesellschaft „Deutsche Bank“ für deren Shareholder, dem kollektiven Eigentümer der „Deutschen Bank“ und damit dem Prinzipal des Herrn Direktors Breuer.
Korporative Akteure Organisationen bestehen, darin gänzlich anders als die Märkte, aus einem gleichzeitig eine ganze Anzahl von Beziehungen übergreifenden System von multilateralen Verträgen und sie bilden darüber ein mehr oder weniger zentral gesteuertes und kohärentes Gebilde, das nach außen als eine „Einheit“ agieren kann und auch so wahrgenommen wird. Am deutlichsten wird das bei jenem Spezialfall von Organisationen, der als korporativer Akteur bezeichnet wird.3 Korporative Akteure sind Organisationen, die als „juristische“ Personen „wie“ natürliche Personen entscheiden und handeln können, wobei die Entstehung der Entscheidungen und die Ausführung der Handlungen natürlich oft ungleich komplizierter sind als bei den natürlichen Personen, nämlich eine Folge von „kollektiven“ Entscheidungen. Die Entscheidungen trifft im Prinzip der Prinzipal. Handeln tut dann der Agent. Und es gehört nicht viel Phantasie dazu, zu sehen, daß es hier zu Problemen kommen kann (siehe dazu unten noch mehr zum sog. Principal-Agent-Problem). Durch ihre Konstruktion als „juristische Person“ wird es einer Organisation als korporativem Akteur möglich, sich genauso wie eine „natürliche“ zurechnungs- und hand3
Vgl. zum Konzept des korporativen Akteurs insbesondere James S. Coleman, Macht und Gesellschaftsstruktur, Tübingen 1979; James S. Coleman, Die asymmetrische Gesellschaft. Vom Aufwachsen mit unpersönlichen Systemen, Weinheim und Basel 1986; James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990a, Teil 3: Corporate Action. Vgl. dazu auch schon Abschnitt 2.2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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lungsfähige Person, wie ein Subjekt also, zu verhalten, obwohl sie das natürlich nicht ist und dennoch auf nichts anderem beruht als auf den Entscheidungen und Handlungen von menschlichen Akteuren. Worauf denn auch sonst?
Die äußere und die innere Umwelt der Organisation Organisationen sind in diesem Sinne also durchaus so etwas wie ein sozialer „Organismus“ oder „Körper“, obwohl man diese Analogie nicht zu weit treiben sollte. Der Ausdruck „Korporation“ für manche von ihnen ist jedenfalls nicht zufällig und auch nicht abwegig. Sie „leben“, wie andere Organismen auch, stets in einer gewissen Umgebung. Diese Umgebung sei als die Umwelt der Organisation bezeichnet. Das sind alle die Gegebenheiten, mit denen sich die Organisation als ein sich reproduzierendes soziales Gebilde auseinandersetzen muß, aus denen es die Mittel bezieht, die es zu seiner Reproduktion braucht und die die Bedingungen für ihre Reproduktion setzt. Es ist dabei sinnvoll, eine äußere und eine innere Umwelt zu unterscheiden. Die äußere Umwelt betrifft alle „externen“, vor allem die ökonomischen und sozialen Gegebenheiten, die als „Randbedingungen“ des Agierens der Akteure in und mit der Organisation vorhanden sind, etwa die Preise für das Leder und die Löhne von Arbeitern bei einer Schuhfabrik oder die Gewerbeordnung und das Ausländergesetz für ein China-Restaurant mit originalchinesischem Menü und Personal. Zur äußeren Umwelt gehören ferner natürlich alle anderen Organisationen und die umgebende Gesellschaft mit ihrer jeweiligen „Verfassung“ und institutionellen Ordnung. Organisationen benutzen die Mittel, die sie sich aus der äußeren Umwelt besorgen, zu ihren eigenen Zwecken und nach ihren eigenen Regeln. Das macht sie ja gerade als Organisation mit einem spezifischen Ziel aus. Diese Regeln bilden dann so etwas wie einen idealen „Gesamtplan“ der Abläufe nach innen. Einhalten tun die Regeln aber immer nur konkrete Menschen, die von diesen Regeln oft abweichen etwa weil sie den „Gesamtplan“ der Organisation gar nicht kennen oder auch andere Interessen haben als die Erfüllung ihrer Rollenverpflichtungen oder die Verwirklichung der Ziele der Organisation. Die konkreten Akteure sind somit ebenfalls so etwas wie „Gegebenheiten“, mit denen sich die Organisation auseinandersetzen und mit denen sie zurandekommen muß. Sie bilden daher den wohl wichtigsten Teil der inneren Umwelt einer Organisation.
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Die Organisationssoziologie hat solche inneren Umwelten insbesondere in der Gestalt der sog. informellen Gruppen festgestellt: persönliche Beziehungen quer zu den „eigentlich“ nur vorgesehenen formellen Rollenbeziehungen. Aber auch die schwankenden Motive und die vom Organisationsstatut oft abweichenden Interessen der Akteure und quer dazu liegende Machtverhältnisse können zur inneren, das „institutionelle“ Geschehen „gefährdenden“, Umwelt gezählt werden (siehe dazu auch noch unten mehr). Und es kommt, wie bei den Gegebenheiten der äußeren Umwelt, stets darauf an, daß sich der „Gesamtplan“ der Organisation auch gegen die Abweichungstendenzen aus der inneren Umwelt durchhalten läßt. Wir werden weiter unten in diesem Kapitel eine Reihe von Phänomenen wie die Rollendistanz oder die informelle Macht in Betrieben besprechen, die sich mit diesen Gefährdungen aus der inneren Umwelt einer Organisation befassen und was man dagegen unternehmen kann bzw. wie darauf die „Organisation“ in der Gestaltung ihrer inneren und äußeren Strukturen reagieren kann.
Arten von Organisationen: Private Unternehmen und staatliche Anstalten Die wohl wichtigsten Arten von Organisationen sind einerseits die zahllosen privaten Unternehmen aus der Sphäre der Wirtschaft, die Beziehungen auf den diversen Märkten unterhalten wie Einzelhandelsgeschäfte, Autofirmen oder Flugreiseunternehmen. Und andererseits die staatlichen Anstalten, die Organisationen und Verwaltungen in der Sphäre der Politik und der staatlichen Herrschaft, einschließlich ihrer Unterabteilungen von Legislative, Exekutive und Jurisdiktion, wie etwa ein Ministerium, das Militär, das Bundesverfassungsgericht oder die Gefängnisse. Dazu kommen die als Organisation eingerichteten „Angebote“ aller möglichen privaten oder öffentlichen Dienstleistungen, wie Schulen und Universitäten, Krankenhäuser, Kindergärten und Altersheime oder die öffentlichen Rundfunkanstalten und die privaten Sender.
Intermediäre Instanzen: Interessengruppen, Verbände und Vereinigungen Daneben gibt es eine Unzahl von Organisationen aus allen möglichen anderen funktionalen Sphären einer Gesellschaft, wie die Verbände der verschiedenen Interessengruppen, zum Beispiel Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, der Bund der Steuerzahler oder die Kassenärztliche Vereinigung, die Kirchen,
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die Parteien, die zahllosen freiwilligen Vereinigungen und Vereine oder auch die diversen Stiftungen der Wohltätigkeit. Diese Organisationen „zwischen“ privater und öffentlicher Sphäre schieben sich als intermediäre Instanzen einer „Meso“-Ebene zwischen die Makroebene der staatlich verwalteten „Gesellschaft“ und die Mikroebene der privaten Unternehmungen und den von ihnen gebildeten Märkten, sowie auch die individuellen Akteure und die von ihnen gebildeten netzwerk- und gruppenartigen „Assoziationen“ unmittelbarer persönlicher Beziehungen. Sie vermitteln und „brechen“ diese Mikro- bzw. Makro-Beziehungen nicht nur gelegentlich.4 Das wird am deutlichsten bei den oben schon angesprochenen korporativen Akteuren: die Organisation in Form einer „juristischen“ Person, die den „natürlichen“ Personen, einschließlich ihren Schöpfern, als ein Gebilde mit einer ganz besonderen Macht und Handlungsfähigkeit entgegentritt (siehe dazu noch unten mehr). Regeln, Interessen und Macht Organisationen können somit als zu gewissen Zielsetzungen eingerichtete Konkretionen institutioneller Regeln verstanden werden: eine Behörde etwa, ein straff geführter mittelständischer KFZ-Reparaturbetrieb oder eine Militäreinheit wären anschauliche Beispiele dafür. Und man könnte die Vorstellung haben, daß die Kenntnis der „Verfassung“ (und ihrer „Geltung“ bei den Mitgliedern der Organisation) und des Organisationszieles schon alles ist, um zu wissen, was dort geschieht. Die formal-institutionelle Verfassung und das kollektive Ziel sind aber keineswegs alles, was das „wirkliche“ Geschehen in einer Organisation ausmacht, so wie ganz allgemein die Normen dem Handeln und den sozialen Prozessen allgemein zwar einen Rahmen geben, es aber ja bekanntlich nicht determinieren. Hinzu kommen immer gewisse „materiell“ untermauerte Bestrebungen und Möglichkeiten der Akteure: Interessen und Macht und die dadurch erzeugten „materiellen“ Interdependenzen. Darauf hatten wir oben schon im Zusammenhang mit der inneren Umwelt der Organisationen hingewiesen. Ohne Zweifel werden durch die institutionelle Ordnung einer Organisation die Interessen der Akteure deutlich strukturiert und auf das Organisationsziel hin ausgerichtet. Das Organisationsziel definiert ja geradezu die sozialen Produktionsfunktionen und legt über die Positionen 4
Vgl. dazu auch die Übersicht bei Berndt Keller, Einführung in die Arbeitspolitik. Arbeitsbeziehungen und Arbeitsmarkt in sozialwissenschaftlicher Perspektive, 5. Aufl., München und Wien 1997, Kapitel 2 bis 4 insbesondere. Vgl. auch schon Abschnitt 2.3 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ dazu.
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und die Rollen die jeweiligen speziellen primären Zwischengüter fest, um die sich das Geschehen dreht. Und wer über die Zugehörigkeit zu einer Organisation sein Geld verdient, wie wir fast alle, der tut gut daran, sich an diese Vorgaben auch zu halten (vgl. dazu schon Kapitel 3 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Aber die Akteure haben, wenn sie nicht gerade einer Steinzeitgesellschaft oder einer „totalen Institution“ angehören, stets auch noch andere und vor allem ganz persönliche Interessen, etwa die aus ihrer Zugehörigkeit zu anderen Organisationen und gesellschaftlichen Sphären oder das nach dem Erhalt eines möglichst positiven Selbstbildes, das nicht mit allen Positionen und Tätigkeiten in einer Organisation vereinbar ist. Nicht immer also sind die Akteure auf den diversen Positionen damit einverstanden, was von ihnen verlangt wird; das war oben in den Abschnitten 7.3 bis 7.5 über die Rollenkonflikte, die Rollendistanz und die Rollenambiguität sowie auch in Kapitel 8 über die sozialen Drehbücher schon deutlich geworden. Und oft genug haben die Akteure auch unabhängig von den institutionell definierten Positionen eine dazu nicht immer gleichlaufende Macht. Die beziehen sie aus der Kontrolle gewisser Ressourcen, die ihren Wert oft gerade vor dem Hintergrund des Organisationszieles gewinnen: Der HiWi mit den Rechnerkenntnissen hat seinen Chef, der nur wenig von Computern versteht und auch nur wenig davon verstehen muß, nicht nur in gewisser Weise, sondern ganz handfest im Griff, weil das Funktionieren der Rechner eine Voraussetzung zur Erfüllung des Organisationszieles und zur Bedienung seiner Interessen ist.
Interessen und Macht und die damit von der institutionellen Struktur unabhängigen Interdependenzen überlagern also nicht nur gelegentlich die „eigentlich“ bestimmende institutionelle Ordnung einer Organisation. Das führt oft zu Reibungen, Konflikten, „informellen“ Beziehungen und Gruppierungen, eigenartig anmutenden Paradoxien und scheinbar kaum zu beherrschenden Komplexitäten, die das einfache Modell einer „rationalen“ Organisation etwa als eine wie geölt funktionierende Bürokratie oder als eine strikt gehorchende Militäreinheit sehr in Frage stellen können (vgl. dazu auch noch unten in den Abschnitten 9.6 und 9.7 mehr). Es ist ein Problem, das letztlich alle irgendwie auch institutionell geregelten kollektiven Aktivitäten betrifft und keineswegs nur das soziale Gebilde einer Organisation.5 Dort werden sie freilich am deutlichsten.
Die Organisation als „Gesellschaft“ Im Rahmen von Organisationen spielt sich, wie man sieht, vieles ab, das wir schon in allgemeineren Zusammenhängen kennengelernt haben: die Arbeitsteilung und die innere funktionale Differenzierung; die Inklusion von Akteuren durch die Einweisung auf bestimmte Positionen und auch ihre Exklusion daraus, etwa durch eine Entlassung; soziale Ungleichheiten und Mobilität, wie 5
Vgl. dazu allgemein Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980, Kapitel III: Soziologie und funktionale Systeme, S. 57-79.
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der betriebsinterne Aufstieg oder Abstieg in der Hierarchie der Positionen einer Organisation; die Sozialisation der Neumitglieder und die soziale Kontrolle der Einhaltung der institutionellen Regeln und vieles andere mehr. Dazu kommt, daß es, wie wir eben gesehen haben, innerhalb von Organisationen auch weite Spielräume für strategisches Handeln und für nicht-normative Interdependenzen gibt, die die normativen Strukturen der Beziehungen deutlich überlagern können. Und so weiter. Organisationen sind so gesehen so etwas wie mehr oder weniger kleine Spezialgesellschaften mit einer eigenen „Verfassung“, und vieles, was sich in der großen Gesellschaft draußen abspielt, findet seine Entsprechung dort. Soziale Ordnung, soziale Differenzierung, soziale Ungleichheit und sozialer Wandel sind die grundlegenden gesellschaftlichen Prozesse in der „Gesellschaft“ allgemein und in jeder Organisation. Organisationen sind „Gesellschaft“ aber auch in dem Sinne wie sie Ferdinand Tönnies verstanden hatte:6 ein arbeitsteiliger, „rationaler“, und auf formalen und abstrakten Regeln beruhender Zusammenhalt. Und eben nicht: eine auf Emotionen, Solidarität und persönlichen Beziehungen gründende „Gemeinschaft“. Jürgen Habermas und James S. Coleman haben die formalen Organisationen bzw. die korporativen Akteure daher auch stets und nicht ohne Grund mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet: Sie sind die anonymen und übermächtigen „Systeme“, die scheinbar unaufhaltsam in die gemeinschaftlichen „Lebenswelten“ der Menschen eindringen und damit auch die vermeintlich stets benötigte moralische Grundlage noch der abstraktesten „Gesellschaft“ zu unterminieren drohen.
Organisation und Lebenswelt Das ist die „Theorie“. In der „Praxis“ sieht das alles etwas anders und letztlich viel freundlicher aus: In jeder Organisation bilden und erhalten sich alsbald kleinere Gruppen solidarischer Beziehungen und zwar auch quer zu den institutionell definierten Regeln und Positionen. Es sind die informellen Gruppen in den an sich bloß formal geregelten Organisationen, von denen oben schon die Rede war. Sie sind so etwas wie die Einnistung von personalen Lebenswelten in die anonymen Systeme. Es ist a priori nicht zu sagen, ob sie eine für das Funktionieren der Organisation förderliche oder hindernde Wirkung haben. Beides ist gut möglich: In informellen Gruppen kann viel ge6
Vgl. dazu auch schon Abschnitt 9.3 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie Kapitel 20, „Der ‚Begriff‘ der Gesellschaft“, der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“).
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schehen, was den Ablauf der zu erledigenden Dinge stört, wie zu viele Plaudereien über das Thema Nummer eins am Montag, die Vorbereitung auf das Wochenende so ab Donnerstagmittag oder der unkollegiale Klatsch, der das Mobbing unbeliebter KollegInnen trägt. Sie können aber auch die sozialen Kerne einer gewissen Unternehmensmoral sein und die interaktive Grundlage dafür, daß sich die individuellen Mitglieder mit der Organisation als „Kollektiv“ identifizieren und für sie durch dick und dünn gehen würden. Für manchen ist in diesem Sinne das System der Organisation (s)eine Lebenswelt. Und dann kann es manchmal sogar vorkommen, daß es aus den informellen Gruppen eines Betriebes aus lauter Loyalität zur Organisation zu wohlmeinenden und solidarischen Protesten an die Firmenleitung kommt und die dann frühzeitig merkt, daß etwas im ganzen Betrieb nicht stimmt. Anderswo hätte sich keiner gerührt, und die Firma wäre lautlos vergangen.
Die „Organisationsgesellschaft“ Private Unternehmen, staatliche Anstalten und Einrichtungen und vor allem die korporativen Akteure der intermediären Instanzen sind historisch relativ neuartige Erscheinungen.7 Sie sind neben den „freien“ Märkten Formen einer „anonymen“ oder „unpersönlichen“ Ordnung, der Systemintegration insbesondere der funktional differenzierten Gesellschaften eben. Sie sind damit eines der typischen Merkmale der modernen, funktional differenzierten, kapitalistischen Gesellschaft, die man deshalb nicht ohne Grund gelegentlich auch als „Organisationsgesellschaft“ bezeichnet hat. Die funktionale Differenzierung von Gesellschaften ist, so kann man durchaus sagen, das Werk vor allem der Organisationen und der korporativen Akteure. Die funktionalen Sphären bestehen praktisch aus nichts anderem. Ohne die Erfindung der Organisation als „anonymes“ System institutionell geregelter Positionen und damit ganz nachhaltig definierter und außerordentlich unterschiedlicher sozialer Produktionsfunktionen ist die funktional differenzierte Gesellschaft nicht denkbar. Und die „Asymmetrie“ in der Macht zwischen den korporativen Akteuren als unsterblichen juristischen Personen und den vielen kleinen ohnmächtigen natürlichen Personen ist ohne Zweifel auch ein Teil der Ursachen des Gefühls der Auslieferung und Entfremdung, das viele Menschen in den modernen Gesellschaften haben.8 7
Vgl. dazu auch Luhmann 2000, Kapitel 13: Organisation und Gesellschaft, S. 380-416.
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Vgl. dazu auch schon den Beginn dieses Kapitels, die Kapitel 2 und 6, den Abschnitt 9.3, sowie den Exkurs über Entfremdung in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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Die Organisation der Gesellschaft Die Organisationen unterliegen in ihrer Gesamtheit, ebenso wie die Märkte, dabei freilich noch einer übergreifenden, meist nationalstaatlich, mittlerweile aber teilweise auch supranational verfaßten Ordnung. Insoweit ist es nicht unberechtigt zu sagen, daß die diversen Organisationen meist noch einmal übergreifend in einer Art von Makro-Organisation organisiert sind in der Gesellschaft als einer alle sozialen Prozesse übergreifenden „Organisation“ im Rahmen der jeweiligen gesellschaftlichen „Verfassung“. Diese Groß-Organisation „Gesellschaft“ hat, wenn man so will, auch ihre Abteilungen, Positionen und Rollen: die verschiedenen funktionalen Sphären mit ihren jeweils speziellen Aufgaben. Und es gibt auch eine Leitung des Ganzen: Die politische Herrschaft. Das war das Bild, das Durkheim und Parsons vor Augen hatten: die Gesellschaft als institutionell bzw. normativ und kulturell geregelte Organisation und eben nicht als Markt. Mit dem weiteren Voranschreiten der funktionalen Differenzierung wandeln sich jedoch ganz offenkundig die Beziehungen der Organisationen untereinander und zur „Gesellschaft“ nachhaltig und das in eine Richtung. Sie stehen und mit ihnen die verschiedenen funktionalen Sphären immer mehr in einem nicht mehr hierarchisch und zentral geordneten Verhältnis zueinander, und es gibt auch immer weniger eine eindeutige Leitfunktion irgendeiner ihrer „Abteilungen“, sprich funktionaler Sphären, etwa die der Politik. Es ist der Übergang von „Alteuropa“ mit seiner feudalstratifikatorischen „Organisation“ der Gesellschaft zur „wirklichen“ Moderne: die Entlassung der funktionalen Sphären und der ihnen zugeordneten Organisationen in den freien Wettbewerb und die „Deregulierung“ dessen, was einmal die Organisation der Gesellschaft war. Und mit der weiteren Globalisierung und der Heraufkunft einer „Weltgesellschaft“ gibt es, wie es scheint, bald gar keinen zentralen institutionellen Rahmen mehr, innerhalb dessen die Organisationen der Gesellschaften agieren müssen. Die Expansion der sog. multinationalen Unternehmen über alle Grenzen hinweg ist nur ein Zeichen für diese Emanzipation der Organisationen von dem institutionellen Rahmen irgendeiner (nationalstaatlich verfaßten) Gesellschaft. Und für diese Expansionen gibt es, wie es scheint, nur eine Art von Grenzen: jene, die sich die frei agierenden Körperschaften gegenseitig selbst schaffen. Es ist so wie auf einem an sich anarchischen Markt, auf dem sich Anbieter und Nachfrager und Preise und Mengen gegenseitig in Schach halten im Prinzip ganz ohne irgendwelche institutionellen Regeln (vgl. dazu schon Kapitel 6 von Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Das Verhältnis der Organisationen zueinander, zur „Gesellschaft“ und zu den „natürlichen“ Personen wandelt sich also mehr und mehr zu einem, das nicht nur entfernt an den Marktmechanismus erinnert, und die „Weltgesellschaft“ wird wohl einmal ein gigantischer Markt von Organisationen und korporativen Akteuren sein. Das führt dann aber auch dazu, daß auf diesen „neuen“ Märkten immer weniger die „natürlichen“ Personen agieren, sondern immer mehr die „juristischen“ Körperschaften. Sie sind inzwischen die „Subjekte“ des Geschehens in der Welt.
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Warum gibt es Organisationen und wie entstehen sie?
Organisationen sind wie die Institutionen keine Selbstverständlichkeit und sie fallen wie diese auch keineswegs vom Himmel. Sie werden nicht ohne Grund eingerichtet und betrieben, auch wenn sich der ursprüngliche Zweck später ändern mag und nicht jedes Mitglied der Organisation ihn auch sein eigen nennt. Den wichtigsten Grund für die Einrichtung einer Organisation kennen wir schon: Es sind die spezifischen Gewinne und Leistungen, wie sie nur aus der „geplanten“ Organisation eines bestimmten kollektiven Handelns entstehen können und anders nicht zu realisieren sind. Drei Arten solcher organisationsspezifischen Gewinne und Leistungen lassen sich unterscheiden: die „Organisation“ von einträglichen Kooperationszusammenhängen, deren Einrichtung eigentlich unwahrscheinlich ist, weil sie die Lösung gewisser sozialer Dilemmata voraussetzen, vor allem bei der Einrichtung einer arbeitsteiligen Produktion; die Absicherung spezifischer Beziehungen durch die sog. vertikale Integration; und die Fixierung von Kooperationsbeziehungen zur dauerhaften Sicherung von Investitionen und Leistungen in einem einmal irgendwie anders etablierten gewinnbringenden Produktionsund Leistungszusammenhang.
Die „Organisation“ der Kooperation Der Aspekt der Sicherung eines sonst nicht möglichen Kooperationsgewinns wird am deutlichsten bei der „Organisation“ einer arbeitsteiligen Produktion. Die wichtigste Folge der Arbeitsteilung ist, wie wir wissen, eine oft enorme Steigerung der Produktivität. Adam Smith hat das in seinem berühmten Stecknadelbeispiel schön beschrieben.9 Weil es wieder so eine klassische und 9
Adam Smith, An Inquiry into the Nature and the Causes of the Wealth of Nations, Oxford 1976, S. 14f.
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eindrucksvolle Stelle ist, auf die wir auch schon vorher gelegentlich verwiesen haben, etwa in Abschnitt 7.1 oben in diesem Band, zitieren wir sie hier ausführlich: „To take an example, therefore, from a very trifling manufacture; but one in which the division of labour has been very often taken notice of, the trade of the pin-maker; a workman not educated to this business (which the division of labour has rendered a distinct trade), nor acquainted with the use of the machinery employed in it (to the invention of which the same division of labour has probably given occasion), could scarce, perhaps, with his utmost industry, make one pin in a day, and certainly could not make twenty. But in the way in which this business is now carried on, not only the whole work is a peculiar trade, but it is divided into a number of branches, of which the greater part are likewise peculiar trades. One man draws out the wire, another straights it , a third cuts it, a fourth points it, a fifth grinds it at the top for receiving the head; to make the head requires two or three distinct operations; to put in on, is a peculiar business, to whiten pins is another; it is even a trade by itself to put them into the paper; and the important business of making a pin is, in this manner, divided into about eighteen distinct operations, which, in some manufactories, are all performed by distinct hands, though in others the same man will sometimes perform two or three of them.“ (Ebd.)
Diese technischen Vorgaben von, wenn wir Adam Smith glauben dürfen, genau 18 distinkten Funktionen bei der Stecknadelherstellung erzwingt eigentlich auch genau 18 unterschiedliche Positionen für die Organisation einer Stecknadelfabrik, und eine „rationale“ Organisation würde das entsprechend auch umsetzen. Aber nicht immer ist das möglich, und dennoch lohnt sich auch eine technisch weniger funktionale Organisation schon: „I have seen a small manufactory of this kind where ten men only were employed, and where some of them consequently performed two or three distinct operations. But though they were very poor, and therefore but indifferently accommodated with the necessary machinery, they could, when they exerted themselves, make among them about twelve pounds of pins in a day. There are in a pound upwards of four thousand pins of a middling size. Those ten persons, therefore, could make among them upwards of forty-eight thousand pins in a day. Each person, therefore, making a tenth part of fourty-eight thousand pins, might be considered as making four thousand eight hundred pins in a day.“ (Ebd., S. 15)
4800 Stecknadeln! Hergestellt von einer Person! Am Tag! Das ist schon etwas! Besonders wenn man bedenkt, was ohne eine solche arbeitsteilige Organisation der Stecknadelherstellung der Fall wäre: „But if they had all wrought separately and independently, and without any of them having be educated to this peculiar business, they certainly could not each of them have made twenty, perhaps not one pin in a day; that is, certainly, not the two hundred and forthieth, perhaps not the four thousand eight hundredth part of what they are at present capable of performing, in consequence of a proper division and combination of their different operations.“ (Ebd.; Hervorhebung nicht im Original)
Daß sich die arbeitsteilige Kooperation und deren „kombinierende“ Organisation also ausgesprochen lohnt, daran wird es wohl keinen Zweifel geben.
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Dennoch „muß“ anders als Adam Smith das noch glaubte noch lange nichts geschehen: Die Einsicht in die Vorteile der arbeitsteiligen Produktion erzeugt die dazu nötige „Organisation“ noch nicht, und das schon gar nicht „spontan“. Das Problem kennen wir schon: Ein „Bedarf“ alleine führt noch nicht zur „effektiven“ Einrichtung einer Institution bzw. hier: einer Organisation. Hier ist das Problem das sog. Spezialisierungsdilemma (vgl. dazu schon Abschnitt 5.1 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Die vollen Produktivitätsvorteile der Arbeitsteilung werden erst durch eine vollständige Spezialisierung der Akteure möglich. Dazu kommt es aber nicht so ohne weiteres, weil niemand sich dem Risiko der damit leicht möglichen, jedenfalls nie auszuschließenden einseitigen Abhängigkeit aussetzen möchte. Und die Lösung des Problems? Genau: die „bewußte“ und „geplante“ Einrichtung einer „Organisation“, etwa durch einen multilateralen Vertrag mehrerer Akteure oder durch den souveränen Akt eines Firmengründers, der sich die Organisation der Stecknadelfabrik und eine geeignete Positionsstruktur dazu ausdenkt. Für eine Stecknadelfabrik also etwa: Drahtzieher, Drahtschneider, Anspitzer und so weiter (vgl. dazu auch schon Abschnitt 7.1 oben in diesem Band). Darüber hinaus müssen dann auch die institutionelle Regelung der Art der Beiträge der Akteure auf den verschiedenen Positionen und eine verläßliche Regelung der Verteilung der Erträge aus dem Unternehmen festgelegt werden (siehe zum Problem der Verteilung des Organisationsertrags unten in Abschnitt 9.3 mehr). Dann müssen nur noch ein Kredit für die Einrichtung besorgt und die „natürlichen“ Personen gesucht werden, die gegen eine gewisse Bezahlung die Positionen in der Organisation übernehmen. Nun „lebt“ die Organisation und die Produktion kann beginnen. Und weil sich alle nicht mehr bloß auf die stets unzuverlässigen individuellen Akteure verlassen müssen, sondern „nur“ noch auf die „Geltung“ der jeweiligen institutionellen Regeln, wird plötzlich etwas möglich, woran zuvor kaum zu denken war.
Vertikale Integration Bei der Besprechung der „Funktion“ von Institutionen ganz allgemein waren wir auch schon auf den zweiten Grund zur „Organisation“ von zuvor nicht organisierten Leistungen gestoßen (vgl. Abschnitt 1.2 oben in diesem Band): die Absicherung von spezifischen Beziehungen über die vertikale Integration von Leistungen, die ein (korporativer) Akteur oder ein Unternehmen bis dahin auf dem freien Markt eingekauft hatte (vgl. auch dazu schon Kapitel 6 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Ro-
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nald H. Coase und Oliver E. Williamson insbesondere waren es, die diesen Punkt verdeutlicht und gezeigt haben, daß es sich manchmal sehr „lohnt“, eine zunächst ganz „freie“ und „spontane“ Marktbeziehung in eine „geplante“ und „bindende“ Organisation zu überführen. Daher noch einmal zur Erinnerung: Im Prinzip wäre es sicher möglich, daß ich mir die verschiedenen Ressourcen und Leistungen, die ich für die Produktion eines bestimmten Gutes benötige, auf dem freien Markt und unter Abschluß von bilateralen Verträgen kaufe. Wenn es jedoch um ein sehr spezifisches Produkt geht, das im Grunde nur ein Partner auf dem Markt anbieten kann, dann hat der mich natürlich in der Hand und könnte den Preis diktieren. Und der Ausweg: Ich binde diesen speziellen Partner mit seinem spezifischen Produkt unter ein gemeinsames vertragliches Dach an mich und schaffe eine – im Vergleich zum „horizontalen“ Markt – hierarchische Organisation der Produktion. Damit gibt es die durchaus gefährliche Abhängigkeit von einem speziellen und „einmaligen“ Anbieter nicht länger. Genau deshalb kaufen sich etwa die Autofirmen manchmal ihre Zulieferer ein. Weitere motivierende Umstände für die Bildung einer Organisation sind in diesem Zusammenhang ein hoher Grad an Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung und eine gewisse Häufigkeit der Transaktionen zwischen den Akteuren.
Die vertikale Integration von zuvor nur „horizontalen“ bilateralen Beziehungen als eine multilaterale Organisation wird besonders dann interessant, wenn Spezifizität, Unsicherheit und Häufigkeit der Leistungen auf beiden Seiten bestehen. Ehen können als Spezialfälle der „Organisation“ solcher „bilateraler Monopole“ für spezifische, unsichere und gleichzeitig häufige Leistungen gelten. Und die Hochzeitsfeier ist das äußere Symbol dafür: Die zuvor nur horizontale Integration der „freien“ nicht-ehelichen Partnerschaft in einer bloßen „Tausch“-Beziehung ist nunmehr in die vertikale Integration einer „Organisation“ übergegangen, die keine Sache der einzelnen Akteure alleine mehr ist (vgl. dazu auch schon Kapitel 11 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die „Organisation des Tausches“). Entsprechendes gilt natürlich auch umgekehrt: Wenn es plötzlich mehrere alternative Anbieter für das gleiche spezifische Produkt gibt, wenn das Marktangebot sicherer und die eigene Nachfrage nach den spezifischen Leistungen geringer geworden ist, dann lohnt sich mit einem Male das „outsourcing“ dieser Leistungen und das Einkaufen auf dem freien Markte wieder, und es kommt zu einer Kündigung des (multilateralen) Vertrages. Untreue und die schließliche Scheidung sind – so gesehen – eine Art des outsourcing von Leistungen, die zuvor, aus guten Gründen, in die Organisation hinein „internalisiert“ gewesen sind.
Die Grundidee bei der vertikalen Integration ist, daß anstelle einer Vielzahl von Einzelverträgen unter dem Dach einer Organisation nur noch ein übergreifender Vertrag nötig ist und daß dadurch nicht nur enorme Kosten gespart werden, sondern auch allfällige Risiken, die die Märkte nun einmal mit sich bringen, kontrollierbar werden: eine, wie man sieht, kluge Idee, wenn die Leistungen spezifisch, unsicher und regelmäßig erforderlich sind.
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Fixierung Die Sicherung von Leistungen wird natürlich besonders interessant und wichtig, wenn die Erträge erst nach größeren und längerfristigen Investitionen anfallen und wenn es immer mehr sind, deren Leben an der Fortdauer der betreffenden Kooperation oder Einrichtung hängt. Das ist der dritte Grund für die Einrichtung einer Organisation: die dauerhafte Absicherung spezifischer Investitionen, die Fixierung eines einmal erreichten Kooperations- und Produktionszusammenhangs gegen Zufälle, Launen und nicht kontrollierbare Risiken der Märkte oder anderer Mächte. Das ist ein bekanntes Problem: Der Firmengründer, der das Unternehmen höchst erfolgreich, aber noch nach seinen ganz „persönlichen“ Vorstellungen und Usancen geführt hatte, wird älter, und der sensible Sohn hat keine Lust, den Laden zu übernehmen, sondern will lieber Soziologie studieren. Was tun? Zumachen? Da wehren sich aber die Mitarbeiter! Und erst der Bürgermeister! Und der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit! Und evtl. auch die anderen potentiellen Erben, die sich noch hohe Gewinne in der Zukunft erwarten! Also: Weitermachen. Aber wie? Und die Lösung: Die im Grunde noch ganz auf eine natürliche Person und deren Launen und Schicksal zugeschnittene „Organisation“ wird in eine „juristische“ Person überführt, etwa in eine Aktiengesellschaft. Also: Man geht an die Börse, es wird ein Geschäftsführer bestellt und ein Aufsichtsrat installiert. Und schon kann das Unternehmen als unsterblicher korporativer Akteur und als nunmehr wirklich „formale“ und „anonyme“ Organisation weiterleben, und alle sind zufrieden. Außerdem kann der feingeistige und etwas arbeitsscheue Sohn nun endlich ausbezahlt werden. Und der beruhigt sein schlechtes Gewissen durch die Gründung eines ebenso feingeistigen Instituts zur Förderung der Sozialwissenschaften – so wie er sie versteht, versteht sich.
Aus ganz ähnlichen Gründen sind die ersten Formen korporativer Akteure im Mittelalter entstanden, etwa die Kirchen, die Städte und das Königtum. Dabei gab es nur ein großes Problem: Das Rechtssystem, mit dessen Hilfe es heute vergleichsweise einfach ist, eine Organisation als juristische Person zu begründen und dauerhaft zu fixieren, war damals noch sehr unentwickelt. Und was nun? Die Menschen sind, wenn sie ein Problem umtreibt, äußerst findig. Am Beispiel der Etablierung der Kirchen als juristische Personen beschreibt das James S. Coleman sehr anschaulich: „Was zunächst die Kirchen anbelangt, so war es im Mittelalter in Deutschland üblich, daß ein Grundherr – gewissermaßen in Ausweitung seines Haushalts – für die zu ihm gehörigen Personen eine Kirche auf seinem Land bauen ließ und einen Priester in diese Kirche holte. Dies stand im Einklang mit der hierarchischen Sozialstruktur jener Zeit, und wahrscheinlich handelte es sich dabei um eine Übernahme vorchristlicher religiöser Praktiken in Europa. Aber es tauchten Probleme auf. So machte sich etwa irgendwann der Priester der Kirche mit Erfolg das Argument zunutze, daß der Grundherr nicht mehr uneingeschränkte Rechte über die Kirche und das sie umgebende Land besitze. Eines der ersten Rechte, die ihm streitig gemacht wurden, war das Recht, Leibeigene, die in der Kirche gefirmt worden waren, als Leibeigene das der Kirche zugehörige Land bestellen, oder sonstige Arbeiten für die Kirche ausführen zu lassen. Nach und nach wurden die Rechte des Grundherrn eingeschränkt und er wurde zum
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,Schutzherrn‘ der Kirche, womit ihm ein Teil der Kontrolle über diese entzogen war; und auch seine Rechte als Schutzherr wurden weiter geschmälert. So wie der Schutzherr aber diese Rechte verlor und wie die Kirche sich von seiner Kontrolle unabhängig zu machen begann, stellte sich eine neue Frage: Wem gehörten diese Rechte eigentlich? Dem Priester nicht, denn der Priester konnte sterben oder an eine andere Kirche gehen. Das Problem gewann zunehmend an Bedeutung, denn in dem Maße, in dem diese Kirchen Unabhängigkeit von ihrem Schutzherrn gewannen und unabhängige Einkommensquellen erwarben, ging es nicht mehr nur um negativ bestimmte Rechte. Es ging auch um Güter und Ressourcen, insbesondere um Land, Dinge also, die gekauft und verkauft werden konnten. Aber wer war ihr Besitzer? Wer hatte jetzt die Rechte inne, nachdem der Schutzherr sie verloren hatte? Die rechtliche Lösung dieses Problems warf große Schwierigkeiten auf, denn es gab dafür keine unmittelbar greifbare Antwort. Man verfiel auf eine ganze Reihe von Kunstgriffen. So erklärte man zum Beispiel die ,vier Mauern der Kirche‘ zum Eigentümer, was sich allerdings nicht als sonderlich erfolgreich erwies. Ein anderes, heute recht merkwürdig erscheinendes, aber eine zeitlang ernsthaft benutztes Verfahren bestand darin, den Heiligen, dem die Kirche gewidmet war, zum Eigentümer zu erklären. So wurden der Hl. Petrus, der Hl. Paulus und der Hl. Jakobus viele Jahrhunderte nach ihrem Tod Inhaber umfangreicher Besitztümer. Das Recht hatte eine Lösung gefunden. Wenn Eigentum, das der Kirche des Hl. Paulus zugerechnet wurde, übertragen werden sollte, so galt der Hl. Paulus als Verkäufer, während der gerade in der Kirche des Hl. Paulus eingesetzte Priester als derjenige auftrat, der das Eigentum des Hl. Paulus zu hüten und dessen Interessen wahrzunehmen hatte. Es zeigte sich, daß dies eine praktikable Lösung war, und es zeigte sich darüber hinaus, daß der Heilige keine entscheidende Funktion erfüllte, außer der, daß sein Name benutzt wurde, um eine Person zu haben, die Eigentum besaß, kaufte und verkaufte. So bildete sich im Recht allmählich die Gewohnheit heraus, die Kirche selbst als Eigentümer zu bezeichnen. Um das 13. Jahrhundert hatte sich in England nicht nur diese Praxis eingebürgert, es gab auch bereits eine Theorie darüber, welche besondere Art von Person die Kirche darstelle. So wurde die Kirche zum Beispiel als ein unmündiges Kind betrachtet, das vom Recht vor der Unachtsamkeit der ,Hüter‘ geschützt werden müsse. Eine juristische Person hatte sich entwickelt, die unabhängig war von irgendwelchen bestimmten natürlichen Personen (wenn sie auch unter der dauernden Vormundschaft eines Priesters stand), und der nach dem Gesetz viele der Rechte zustanden, die reale Personen besaßen. Das heißt natürlich nicht, daß alle Probleme gelöst waren: Konnte die Kirche beispielsweise für Rechtsverletzungen belangt und haftbar gemacht werden? Was geschah, wenn die Vormundschaft vakant werden sollte? Wer war befähigt, für die Interessen dieser neuen Rechtsperson zu sprechen? Wie sollten Konflikte unter denjenigen, die über die Interessen der Kirchen wachten, gelöst werden?“ (Coleman 1979, S. 4ff.; Hervorhebungen im Original)
Mit der Fixierung der Organisation als unsterbliche juristische Person ist das Problem der Sicherung spezifischer Investitionen also zu lösen. Leider gibt es ein dazu fast symmetrisches Problem: Man wird sie, wenn sie sich einmal etabliert haben und dann in ein weiter verzweigtes System von Beziehungen eingebunden sind, so leicht nicht mehr los, allein deshalb, weil es jetzt stets mehrere Akteure gibt, die darüber in oft komplizierten kollektiven Entscheidungen zu befinden haben. Und es hat sich nun die Organisation endgültig auch von der Kontrolle durch einzelne Akteure emanzipiert und beginnt wie es scheint ein Eigenleben zu führen, bei dem der ursprüngliche „Zweck“ der
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Organisation alsbald vergessen werden kann. Wer hätte denn gedacht, daß die altbackene Röhrenfirma Mannesmann einmal zum Hightech-Anbieter für die Surfer in den virtuellen Welten mutiert?
Die Gründung einer Organisation: Das Pooling der Ressourcen Die Entstehung einer Organisation ist von den äußerlichen Abläufen her, wenn die Akteure sich dazu schließlich durchgerungen haben, letztlich eine einfache Sache: Zuvor voneinander unabhängige Akteure mit jeweils eigenen Interessen und eigener Kontrolle von Ressourcen legen ihre Ressourcen zusammen und vereinbaren, darüber jetzt nur noch kollektiv zu verfügen. Die Akteure treten also ihre zuvor individuelle Kontrolle an ein „Kollektiv“ ab und zwar aus den oben genannten Gründen: die Organisation einer anders nicht möglichen ertragreichen Kooperation, die vertikale Integration riskanter Marktbeziehungen, die dauerhafte Fixierung der Erträge spezifischer Investitionen. Dieser Vorgang wird auch als Ressourcenpooling bezeichnet (vgl. dazu Vanberg 1982, S. 10ff.).
Dekret und Vertrag Das Ressourcenpooling kann im Prinzip auf zweierlei Weise geschehen: durch das Dekret eines Akteurs, der alleine schon die nötigen Mittel aufbringen kann, um die Organisation eines kollektiven Unternehmens auf die Beine zu stellen und die Positionen mit auf dem Arbeitsmarkt eingekauften Angestellten zu besetzen. So entstehen viele Kleinbetriebe. Die zweite Möglichkeit ist der Vertrag: Ein Kollektiv von souveränen Akteuren verständigt sich konsensuell auf das Ressourcenpooling. Das wäre etwa der Fall bei Schiffseigentümern, die alle ihre Schiffe und die Erträge aus dem Transport wertvoller Güter in eine „Schiffahrtsgesellschaft“ einbringen mit dem Ziel, das Risiko, daß ausgerechnet „ihr“ einziges Schiff mit allen seinen Reichtümern sinkt, auszuschalten. Dekret und Vertrag sind, wie wir schon wissen, auch zwei von drei Möglichkeiten, wie Institutionen allgemein entstehen (vgl. dazu schon Abschnitt 1.3 oben, sowie noch Kapitel 10 unten in diesem Band). Die damit zusammenhängenden Probleme sind auch durchaus die gleichen: Die Durchsetzung eines Dekretes setzt einen (relativ) mächtigen und interessierten „Organisator“ voraus, den nicht nur findigen und innovativen, sondern auch „vermögenden“ Unternehmer also. Es ist ein Fall der Ausbeutung der Großen durch die Kleinen: Der Organisationsgründer übernimmt alleine das Risiko, und die Angestellten (und die Kundschaft) profitieren von seiner Bereitschaft, initiativ zu werden. Und einen bindenden Vertrag schließen souveräne Akteure nur, wenn der potentielle Kooperationsgewinn groß und die angenomme-
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ne Verläßlichkeit der anderen Akteure bzw. der Schatten ihrer gemeinsamen Zukunft hinreichend genug sind. Die äußere Leichtigkeit des schließlichen Aktes einer Organisationsgründung durch das Pooling von Ressourcen darf also nicht darüber hinwegtäuschen, daß es im Einzelfall immer ein – mehr oder weniger – gravierendes Problem des kollektiven Handelns dabei gibt.
Bei der Entstehung von Institutionen gibt es noch die Evolution als dritten wichtigen Mechanismus (vgl. dazu Abschnitt 1.3 oben, sowie noch Kapitel 10 und Abschnitt 12.2 unten in diesem Band). Der ist für die Entstehung von Organisationen jedoch nicht unmittelbar bedeutsam: Organisationen werden ja mehr oder weniger: bewußt geplant. Allerdings ist das Überleben von Organisationen, wie man heute weiß, vor allem eine Frage der differentiellen Reproduktionsvorteile der Organisation in einer sich ständig wandelnden Umgebung (siehe dazu auch noch Abschnitt 9.5 unten in diesem Band dazu näher). Und außerdem kann es „evolutionär“ entstandene andere „Kerne“ von Kooperationszusammenhängen geben, wie informelle Netzwerke oder Freizeitbeziehungen, die dann helfen, die Hürden des Problems des kollektiven Handelns genügend abzusenken, die es, wie wir gerade noch einmal festgestellt haben, für jede Organisationsgründung gibt.
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Die beiden Grundprobleme der Organisation: Kollektive Entscheidungen und die Verteilung des Ertrags
Das Modell des Ressourcenpooling führt unmittelbar zu den beiden Grundproblemen, die in jeder Organisation gelöst werden müssen: Die Entscheidung über die Verwendung der kollektiv zusammengelegten Ressourcen; und die Art der Verteilung des Ertrags, der aus der so organisierten Kooperation anfällt, wieder auf die verschiedenen individuellen Akteure.
Kollektive Entscheidungen Viktor Vanberg hat die Problematik an einem einsichtigen Beispiel verdeutlicht. Zunächst die Ausgangssituation: „Man stelle sich eine Gruppe von ... zwanzig Fischern vor, die jeweils für sich mit ihrem eigenen Boot und eigener Ausrüstung auf Fang gehen. Die einzelnen Fischer unterscheiden sich in der Qualität ihrer Ausrüstung, in ihren persönlichen Fähigkeiten, in ihrer Einsatzfreude und an bestimmten Tagen auch in ihrem Fangglück. Im Kontrast dazu stelle man sich eine Situation vor, in der diese zwanzig Fischer sich zusammengetan haben und in einem gemieteten oder gekauften großen Boot gemeinsam auf Fang gehen.“ (Vanberg 1982, S. 15f.)
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Worin unterscheiden sich die beiden Konstellationen? „Offenkundig sind zwei wesentliche Unterschiede gegeben: Zunächst, während im ersten Fall jeder Fischer für sich separat entscheidet, wann, wo und wielange er zum Fischfang ausfahren und in welcher Weise er dabei vorgehen will, müssen diese Fragen im zweiten Fall für die Gruppe insgesamt, also für alle in einheitlicher Weise entschieden werden. Im Unterschied zum ersten Fall ist im zweiten eine kollektive – d.h. für die Gruppe insgesamt getroffene – Entscheidung erforderlich, wobei es für das Problem der kollektiven Entscheidungsfindung durchaus verschiedene Regelungsmöglichkeiten geben kann.“ (Ebd.; Hervorhebungen im Original)
Das ist das erste Problem: die Bündelung der individuellen Interessen zu einer kollektiven Entscheidung, an der ja gerade der Ertrag des Unternehmens hängt und an deren Zustandekommen jeder ein freilich oft genug: mehr oder weniger großes Interesse hat. Solche kollektiven Entscheidungen sind über die Anwendung gewisser Abstimmungsregeln in der „Gruppe“ insgesamt möglich, auf die man sich vorher als Teil der „Verfassung“ der Organisation geeinigt haben muß, etwa die Einstimmigkeit oder die einfache Mehrheit, und hier ist viel Raum für Verhandlungen, Tausch- und Koppelgeschäfte, wenn die Interessen nicht vollständig konvergieren (vgl. dazu schon Kapitel 4 und 5 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Aber natürlich ist auch die Ausübung einer für legitim angesehenen Herrschaft durch einen zentralen Koordinator für das Herbeiführen einer „kollektiven“ Entscheidung möglich (vgl. dazu noch Kapitel 11 unten in diesem Band ausführlich). Die eine Form wird auch als genossenschaftlich-demokratische, die andere als monokratisch-hierarchische kollektive Entscheidung bezeichnet. „Reale“ Organisationen weisen fast immer bestimmte Mischungen dieser beiden Typen auf. So kann die Funktion als zentraler Koordinator natürlich auch wiederum ein Kollektiv ausüben, etwa die Aktionärsversammlung der Anteilseigner eines Unternehmens, das intern folglich wieder ein (kollektives) Entscheidungsproblem zu lösen hat. Die Verteilung des Ertrags Nun das zweite Problem: „Zweitens, während im ersten Fall jeder einzelne Fischer seinen individuellen, separaten Fangertrag erzielt – beeinflußt durch seine Ausrüstung, seine persönlichen Fähigkeiten, seinen Einsatz und auch durch Glück – , wird im zweiten Fall als Produkt des gemeinsamen Einsatzes der Gruppe ein Gesamtfangergebnis erzielt. Der Ertrag der gemeinsamen Aktion fällt also unmittelbar nicht in Form separater individueller Erträge, sondern als Kollektivertrag an, und das, was der einzelne als ‚Lohn‘ für seine Bemühungen erhält, hängt davon ab, wie der Gruppenertrag unter den Beteiligten verteilt wird.“ (Ebd.; Hervorhebungen im Original)
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Es geht jetzt also um die Verteilung des kollektiv erbrachten Ertrags wieder auf die individuellen Akteure. Denn daran hängt ja letztlich alles: daß die Akteure, die sich zusammengeschlossen haben und die Organisation durch ihre Dazutun tragen, auch wieder „individuell“ etwas davon haben. Dabei sind zwei verschiedene Kategorien von Akteuren zu unterscheiden (vgl. dazu auch schon Abschnitt 9.1 oben in diesem Band): erstens die Eigentümer der Organisation, die Mitglieder des Kollektivs also, die die Ressourcen beigesteuert haben und denen damit ein ergebnisabhängiger Anteil des Ertrags zusteht. Das wären etwa die Aktionäre eines Unternehmens, denen eine Dividende aus dem Gewinn ausbezahlt wird. Und zweitens die Angestellten der Organisation, einschließlich des Leiters, die die verschiedenen Positionen in der Organisation eingenommen haben und denen für ihre Tätigkeit eine Entlohnung ausgezahlt wird, die aber zunächst jedenfalls keinen Anspruch auf den Gewinnanteil haben.
Arbeitsbeziehungen und Arbeitsverträge Für die Entlohnung der auf den Positionen angestellten Akteure wäre die Verteilung nach dem jeweiligen „individuellen“ Beitrag zum kollektiven Ertrag am einfachsten. Das Hauptproblem bei vielen kollektiven „Organisationen“ ist jedoch, daß der individuelle Beitrag der einzelnen Angestellten zum Gesamtertrag oft nicht genau zugerechnet werden kann und daß deshalb exakt austarierte „individuelle“ Entlohnungen oft gar nicht möglich sind, daß andererseits aber auch jede einfache Regel etwa jeder bekommt den gleichen Lohn nicht gerecht und der Leistungsfähigkeit der Organisation auch höchst abträglich wäre. Die Folge dieser unterschiedlichen Arbeitsbeziehungen der Akteure zum kollektiven Ertrag einer Organisation sind ganz unterschiedliche Ausgestaltungen von Arbeitsverträgen als Teil der institutionellen „Verfassung“ der Organisation (vgl. dazu auch insgesamt die Übersicht bei Keller 1997). Darauf waren wir schon bei der theoretischen Begründung des Klassenschemas von John H. Goldthorpe in Abschnitt 4.3 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ gestoßen.10 Goldthorpe unterscheidet zwei Arten von Tätigkeiten in Organisationen. Die eine Art von Tätigkeiten läßt sich kaum individuell zurechnen und beruht 10
Vgl. Robert Erikson und John H. Goldthorpe, The Constant Flux. A Study of Class Mobility in Industrial Societies, Oxford 1992; John H. Goldthorpe, On the Service Class, its Formation and Future, in: Anthony Giddens und Gavin Mackenzie (Hrsg.), Social Class and the Division of Labour. Essays in Honor of Ilya Neustadt, Cambridge u.a. 1982, S. 162-185.
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typischerweise auf delegierter Weisungsbefugnis und auf spezialisiertem Wissen. Daher muß diesen Arbeitnehmern ein besonderes Vertrauen und eine gewisse Autonomie zugestanden werden, die das für diese, kaum kontrollierbaren, Tätigkeiten unerläßliche „moral commitment“ sichern. Daraus ergibt sich – für beide Seiten „vernünftigerweise“ – ein Arbeitsvertrag als „longer-term and generally more diffuse exchange.“ (Erikson und Goldthorpe 1992, S. 41f.) Das alles gilt für die andere Art an Tätigkeiten nicht: Sie sind einfach, überwachbar und leicht zu messen. Und hieraus leitet sich, wiederum „vernünftigerweise“, eine ganz andere Art von Arbeitsvertrag ab: ein „short-term and specific exchange of money for effort“. Und daraus ergeben sich zwei typisch verschiedene Arten von „Arbeitnehmern“ in Organisationen: solche, die nach einem „labour contract“ entlohnt, und solche, die als „service class“ unterhalten werden. Im ersten Fall ist die Entlohnung unmittelbar auf die spezifische Leistung gerichtet, etwa Stundenlohn oder Akkord, im zweiten Fall eher generalisierend und „alimentierend“ auf angemessenen Unterhalt, Pensionsrechte oder feste Karriereaussichten.
Natürlich könnten die Eigentümer, die ihre Ressourcen eingebracht oder gepoolt haben, selbst auch Angestellte der Organisation sein, so wie die Firmengründerin, die sich als Geschäftsführerin ihres eigenen Unternehmens einen gewissen Lohn auszahlt, weil sie schließlich selbst merkt, daß man vom Gründungsenthusiasmus alleine nicht leben kann, wenn die erhofften Gewinne und Dividenden nicht so hoch sind, wie zuerst gedacht. Und ebenso können auch die Angestellten am Gewinn der Eigentümer beteiligt sein, etwa indem man ihnen gewisse Firmenanteile überlassen hat, aus denen sie jetzt ihre Coupons schneiden können. Das sind aber immer noch eher untypische Konstellationen. Normal sind die beiden anderen Fälle: Die Eigentümer streichen den Gewinn ein (oder tragen die Verluste) und die Angestellten beziehen einen Lohn (und müssen evtl. vor einer Entlassung bangen).
Das Principal-Agent-Problem In den meisten Fällen wird wenigstens heutzutage und bei größeren Unternehmen die Leitung einer Organisation nicht durch den oder die Eigentümer ausgeübt: Es gibt eine „angestellte“ Geschäftsführung, die für den oder die Eigentümer das Unternehmen nach innen und außen vertritt. Der Eigentümer wird, wie gesagt, auch als Prinzipal bezeichnet; das ist entweder eine konkrete Person oder wiederum ein Kollektiv, wie etwa die Gesamtheit der Aktionäre. Den Geschäftsführer nennt man, was auch inzwischen bekannt ist, den Agenten der Organisation; auch das kann wiederum eine Einzelperson oder ein ganzes Management sein. Daraus ergibt sich, wie man sich leicht vorstellen kann, ein strukturell bedingtes und dauerhaftes Problem: Die Interessen der Eigentümer und die des angestellten Geschäftsführers sind nicht die gleichen. Der Prinzipal ist woran denn sonst? an einem möglichst hohen Gewinn interessiert, der Agent
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daran zwar auch, aber nur weil das für ihn ein „Mittel“ ist, um seine Position im Betrieb zu sichern. Ansonsten möchte er bei seinen Geschäften möglichst günstig davon kommen. Und der Prinzipal ist oft weit und nicht zu sehen. Dieses Problem wird auch als Principal-Agent-Problem bezeichnet. Das Problem beginnt bereits bei der Auswahl des Managers: Der Prinzipal weiß nicht, wen er da vor sich hat, während der Agent genau weiß, was mit ihm ist, etwa ob er verläßlich oder ein windiger Hund ist. Und es setzt sich fort mit den Tätigkeiten, die der Prinzipal selbst nicht einsehen und überprüfen kann, etwa riskante Aktiengeschäfte mit dem Kapital der Firma, denen der Prinzipal, wüßte er davon, nie und nimmer zustimmen würde. Kurz: Es gibt zwischen Prinzipal und Agenten grundsätzliche und „objektive“ Interessendivergenzen, eine asymmetrische Information, die der Agent ausnutzen kann, und damit das Problem des moral hazard, die Gefahr also, die Asymmetrie in der Information zu seinen Gunsten und zuungunsten des Prinzipals auszunutzen.11
Vertrauen und soziale Kontrolle Im Hintergrund steht natürlich die Frage, wie sich der Prinzipal der unverbrüchlichen Loyalität und der Treue seines Agenten versichern kann und wie er möglichst seine Interessen mit denen des Agenten verbindet. In kleineren Betrieben mit Familienanschluß und weiten Vernetzungen auch in anderer Hinsicht ist das kein großes Problem: In dichten Netzwerken zirkulieren die nötigen Informationen rasch und zuverlässig, und allein deshalb ist es für jeden Agenten dann ratsam, loyal und treu zu sein (vgl. dazu auch schon die Abschnitte 7.5 und 8.6 zur Bedeutung des sog. sozialen Kapitals für die Entstehung von Vertrauen in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wenn das aber nicht so ist, gilt der alte Lenin-Spruch wieder: Vertrauen ist gut, (soziale) Kontrolle ist besser. Und deshalb geht es, besonders in den großen Unternehmen, stets auch um die Einrichtung und Ausübung einer ausreichenden „formellen“ sozialen Kontrolle für das, was der Agent im Namen und mit dem Geld des Prinzipals so treibt: Es muß ein eigenes monitoring system eingerichtet werden, das die Überwachung der Geschäftsführung übernimmt ein Aufsichtsrat also oder ein Rechnungsprüfer. Zur Not muß es der Prinzipal selbst tun.
11
Vgl. zu diesen Problemen u.a. Eric Rasmusen, Games and Information. An Introduction to Game Theory, Oxford und New York, 1989, Kapitel 6 und 7.
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Aber auch nun gibt es wieder ein Problem: Jede soziale Kontrolle kostet Zeit, Mühe und Unbeliebtheit. Und deshalb entsteht auch die Versuchung, es damit nicht so genau zu nehmen und eine gewisse Laxheit zuzulassen.12 Und schon haben wir das uns bereits vertraute „sekundäre“ Problem der sozialen Kontrolle wieder (vgl. dazu bereits Abschnitt 5.3 oben, sowie noch Abschnitt 10.3 unten in diesem Band): Wer kontrolliert die Kontrolleure? Und wiegen die Kosten der sozialen Kontrolle die möglichen Verluste durch den moral hazard des Agenten vielleicht sogar auf? Weil die Netzwerke gerade auch die der informellen Gruppen in einer Organisation diese Funktion der sozialen Kontrolle sozusagen nebenbei mit erledigen, sind sie oft so wichtig für die Lösung des Problems: (Soziale) Kontrolle ist zwar gut, Vertrauen wäre aber billiger und daher besser. Leider gibt es diese Netzwerke in den modernen Organisationen aber immer weniger, weil sich die zu ihrer Bildung unerläßlichen afunktionalen Nischen und Lücken im Zuge der „Rationalisierung“ der Organisationen immer mehr verflüchtigen und weil die von den Leitern oft nicht gerne gesehenen informellen Gruppen und Cliquen, wenn es denn geht, auch gerne vergrault werden. Und als sozialtechnologische Maßnahme lassen sie sich „geplant“ kaum schaffen, wenn man aus betriebspsychologischen Gründen glaubt, sie wieder einführen zu sollen. Die fix-forschen Uni-Betriebswirte, die das versuchen, machen sich bei ihren Angestellten nur lächerlich.
Andere Lösungen Welche Lösungen des Problems gäbe es denn noch außer die der kaum zu planenden informellen oder meist zu aufwendigen formellen sozialen Kontrolle? Eric Rasmusen hat nach einer genaueren spieltheoretischen Analyse des Problems eine Reihe von bemerkenswert-einfachen Vorschlägen gemacht. Hier sind sie (leicht zusammengefaßt nach Rasmusen 1989, S. 168f.): Reputation, Gewinnbeteiligung und Konkurrenz. Reputation bedeutet, daß die Agenten nur aufgrund ihres früheren nachweisbaren Einsatzes und einer erwiesenen Vertrauenswürdigkeit befördert werden. Gewinnbeteiligung heißt, daß die Agenten neben ihrem Gehalt noch Optionen auf den Firmengewinn erhalten, und wenn der durch ihre Fahrlässigkeit sinkt, dann fühlen sie das in ihrer eigenen Tasche. Und mit Konkurrenz ist gemeint, daß die jeweiligen stellvertretenden Geschäftsführer in einen Wettbewerb um das jeweils beste Ergebnis ihrer Abteilung treten, und daß der Gewinner der Nachfolger des Geschäftsführers wird, wenn der einmal ausscheidet. 12
Vgl. dazu auch das Konzept der X-Efficiency von Harvey Leibenstein, Beyond Economic Man. A New Foundation for Microeconomics, Cambridge, Mass., und London 1976.
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Der Trick ist immer der gleiche: Die Agenten „internalisieren“ die Interessen des Prinzipals. Entweder, weil dessen Wohlergehen über das Prosperieren der Firma unmittelbar auch das Wohlergehen des Agenten beeinflußt, oder weil sie nur von einem wirklich erwiesenen Wohlverhalten etwas haben. Das ist, wie man sieht, ein ganz anderer Weg als der über die Netzwerke oder die „externe“ soziale Kontrolle. Hier wird ausschließlich durch die Anreize dafür gesorgt, daß es keine „Entfremdung“ zwischen dem Prinzipal und dem Agenten gibt. Die Moral der Angestellten und der Agenten ist, wie es scheint, vor allem also eine Frage des Preises und der Verluste, die für ein unmoralisches Handeln drohen. Das ist nicht nur in Organisationen so (vgl. dazu auch schon den Exkurs über Entfremdung zum Schluß von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
9.4
Organisationskultur
Organisationen leben letztlich von den „materiellen“ Erträgen und Kooperationsgewinnen für ihre Eigentümer und ihr Personal, die sie aus den Leistungen beziehen, die sie anderen Akteuren „anbieten“ können, und ihre „Verfassung“ bildet das institutionelle Gerüst, auf dessen Grundlage sie als kollektive Einheit bestehen und funktionieren können. Das ist aber wie bei nahezu allen sozialen Gebilden gleichwohl nicht alles: Die Akteure innerhalb und außerhalb der Organisation verbinden mit ihr auch ein gewisses „Image“. Und dieses gedankliche Bild ist auch ein gewichtiger Teil der gesellschaftlichen Existenz und des inneren Lebens einer Organisation bzw. eines korporativen Akteurs: Ein Fußballklub „lebt“ mehr als „Modell“ und „Bild“ in den Köpfen und den Emotionen der Fans, als daß es ihn „wirklich“ gibt, und deshalb finden es viele ja so erträglich, daß, sagen wir, Unterhaching in der ersten und der 1.F.C. Köln in der zweiten Bundesliga spielen. Das ist in einem weiten Sinne mit der Organisationskultur gemeint: der spezielle Bezugsrahmen, unter dem die Organisation von den Beteiligten gesehen wird und von dem ihre Gedanken orientiert und ihre Handlungen gesteuert werden. Ein gewichtiger Teil dieses kulturellen Bezugsrahmens ist die sog. Corporate Identity einer Organisation, die unverwechselbare „Marke“, unter der sie firmiert und meist mit einem griffigen und unverwechselbaren Symbol gekennzeichnet ist: der Mercedesstern, die Krupp-Ringe oder das Königsblau von Schalke. Dadurch werden eine Reihe, der Organisation meist zuträgliche, Wirkungen erzeugt: Sie gewinnt nach außen eine besondere Identifizierbarkeit, Unverwechselbarkeit und Einmaligkeit, die eine zeitlang wenigstens darüber hinwegtäuschen kann, daß das Produkt höchst gewöhnlich ist wie etwa
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etwa zeitweise bei VW mit ihrem technisch längst überholten Käfer. Manchmal schadet das Image aber auch, wie bei Opel, dessen Autos technisch weit besser sind als ihr Ruf, mit denen man aber immer sofort Opas mit kalter Zigarre und Hut assoziiert. Die Corporate Identity gibt den Mitgliedern nach innen oft auch einen identitätsstiftenden und motivationsfördernden Anhaltspunkt, der die Mitglieder, wiederum in gewissen Grenzen freilich nur, sogar für relativ schlechte Arbeitsbedingungen entschädigen kann wie eine berühmte Universität, die nicht viel bieten muß, damit die bigshots der Professoren trotzdem gerne kommen. Ein anderer Teil der Organisationskultur sind die im Laufe der Zeit entstandenen typischen Usancen, Habitualisierungen und Rituale, die man auch als Organisationsstil bezeichnen könnte. Der blaue Mantel der Mercedeswerkstattleiter und ihr überhebliches Gehabe gehört dazu, ebenso wie die rotgelbe multikulturelle Geschäftigkeit bei McDonalds oder die ölig-schwarze Langsamkeit in katholischen Pfarrämtern. Die unverwechselbare Organisationskultur der „Frankfurter Allgemeinen“ hat die Journalistin Evelyn Roll in der „Süddeutschen“ vom 6./.7. Mai 2000 so beschrieben: Das „Wesen der FAZ“ sei: „ ... finanzielle Unabhängigkeit, ein Herausgebergremium von verantwortlichen Journalisten, die sich gegenseitig in der Regel nicht reinreden und fast immer ohne Abstimmung einigen, darüber niemand, darunter flache Hierarchien und ein von gegenseitigem Respekt und Hochachtung geprägter Umgangsstil von außerordentlicher Diskretion, jedenfalls gemessen daran, dass es sich auch in der FAZ um Journalisten handelt. Konservativ, gegen den Zeitgeist und nah an der CDU.“
Evelyn Roll beeilt sich hinzuzufügen, daß sich das jetzt ändere, und ihr Artikel handelt von einigen untrüglichen Indizien dafür. Man sollte noch hinzufügen, daß es zum Bild und Stil der „Süddeutschen“ gehört, die anderen wichtigen Blätter dieses Landes aufmerksam und mit einer gewissen bayerischleichten und belustigten Distanz zu beobachten. Die Funktionen des Organisationsstils sind auch nicht zu unterschätzen: Sie geben den Beteiligten eine gewisse Sicherheit, heben ggf. ihr Selbstwertgefühl und sie helfen so eventuelle Lücken in Vertrauen, in Risikobereitschaft und sogar in der Bezahlung zu überbrücken. Über beides, eine ausgeprägte und positiv besetzte Corporate Identity und über einen unverwechselbaren Unternehmensstil läßt sich eine Organisation mit deutlich leichterer Hand leiten. Es ist eine Art symbolischer Leitung, die gerade dann, wenn eine Organisation wegen ihrer inneren Komplexitäten „materiell“ eigentlich gar nicht zu steuern ist, besonders wichtig werden kann. Genau deshalb gibt es gerade derzeit so viele windige und arrogant daherkommende Unternehmensberater und
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schlau aussehende und bestimmt auftretende Karrierefrauen, die nichts weiter tun als das, was Horoskope auch leisten: ein wenig den Anschein von Sicherheit zu geben in einer Welt des Durcheinander. In letzter Zeit hat insbesondere die Fielmannbrillen-BWL das Konzept der Organisationskultur entdeckt. Auslöser waren die scheinbaren Erfolge der japanischen Unternehmen in den 80er-Jahren, die u.a. auch mit der besonderen kulturellen Einbettung der japanischen Unternehmen erklärt wurden. Sicher ist etwas daran gewesen: Gut zugängliche und mit anderen kulturellen Elementen verbundene gedankliche Modelle der Opferbereitschaft und der Solidarität sind Teile der Senkung von Transaktionskosten und der Risiken einseitiger Leistungsbereitschaft. Wichtig ist dabei auch jener oben schon mehrfach erwähnte und in der Industrie- und Organisationssoziologie früh entdeckter Sachverhalt: Neben der formalen Beziehungsstruktur der Positionen bilden sich rasch informelle Gruppen von persönlichen Bekanntschaften und Beziehungen. Und die sind es insbesondere, auf denen die mentalen Modelle der Organisationskultur aufruhen und über die sie auch in den alltäglichen Interaktionen und insbesondere über die sprachliche Kommunikation unter Verwendung der linguistischen „Marken“ für die Corporate Identity der Organisation immer wieder bestärkt und verfestigt werden (vgl. dazu insgesamt auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). In Jülich war (früher einmal) jede Putzfrau mächtig stolz darauf, „om Atom“, in der Kernforschungsanlage also, den Staub zu wischen, und sie kam sich dabei weit bedeutender vor selbst als der Geschäftsführer bei der Molkerei oder der Vikar der Pfarrkirche. Beim „Benz“ in Untertürkheim arbeitet man gerne und aufopferungsvoll und tut alles für den guten Ruf des Sterns. Und die KruppFamilie in Essen hat es seinerzeit bei den katholischen Polen im Ruhrgebiet sogar geschafft, daß die die gefährliche Plackerei in ihren Bergwerken und Fabriken als ein „Gebet“ angesehen haben. Kaum zu glauben. Aber ohne die Einbettung in gewisse Milieus und dichte Netzwerke von Kommunikationen ist das alles nicht denkbar. Und auch deshalb sind die sog. informellen Gruppen für das gute Funktionieren von Organisationen oft sogar funktional so wichtig und nicht bloß eine das Organisationsziel „gefährdende“ innere Umwelt.
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Das Überleben und der Wandel von Organisationen
Ebenso wie die Institutionen allgemein können sich natürlich auch Organisationen wandeln und das tun sie auch fortwährend. Der wichtigste Grund für den Wandel einmal etablierter Organisationen ist die nachhaltige Veränderung der „materiellen“ Basis: das Ausbleiben oder das Anwachsen des kollektiven Ertrags, die Zunahme der Aufwände für ihren Betrieb, das Anwachsen der inneren Spannungen insbesondere. Dem folgt, wie das auch für andere soziale Systeme und Gebilde üblich ist, die Erosion der Legitimität der institutionellen Regeln der Verfassung und der Autorität der Leitungspersonen, und schließlich auch die Abschwächung der mentalen Verankerung des Bezugsrahmens der Organisationskultur.
Das Ende von Organisationen Die empirisch wohl wichtigste Art des „Wandels“ einmal gegründeter Organisationen ist ihr meist rascher Tod: Nur 44% der nach der Wende in Leipzig neu gegründeten Handels- und Dienstleistungsbetriebe überstanden die ersten vier Jahre.13 Meist sind ein Mangel an Kapitalausstattung, eine falsche Markteinschätzung und fehlende Kompetenzen der Grund, vor allem aber auch die Situation der jeweiligen Branche: Immerhin überlebten zwei Drittel der Leipziger Handwerksbetriebe die ersten vier Jahre (ebd., S. 23f.). Je länger es freilich eine Institution schon gibt, um so größer ist die Chance, daß sie weiter bestehen bleibt. Die Gründe sind einsichtig: Die Abläufe sind rationalisiert, die Geschäftsbeziehungen etabliert und die Auslese am Markt hat gezeigt, daß es einen Platz für das Unternehmen gibt. Das Ende von Organisationen läßt sich im Grunde ganz ähnlich erklären wie ihre Entstehung. Sie wissen schon: Dekret und Vertrag, und jetzt vor allem auch die Evolution und das Behaupten in einer Umwelt von Konkurrenz und Bedrohung. Der Hintergrund ist stets die Änderung der Erträge aus dem Unternehmen und der Kosten, die Organisation weiter zu erhalten oder sie zu ändern. Der müde gewordene Chef setzt sich beispielsweise ganz souverän per Dekret in Mallorca zur Ruhe sofern er das alleine kann und nicht irgendeinen Vorstand oder irgendeine Aktionärsversammlung dazu noch zu
13
Vgl. Rolf Ziegler, Von Marx zum Markt. Chancen und Risiken betrieblicher Neugründungen in den neuen Bundesländern, in: Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Sitzungsberichte, Jahrgang 2000, München 2000, S. 23.
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fragen hat. Und lohnt sich das Unternehmen nicht mehr, dann können die Eigentümer, die es tragen, vertraglich seine Auflösung bestimmen. Den evolutionären Exit besorgt, wie man so schön sagt, der Markt: Ein Unternehmen ist in der gegebenen oder sich ändernden Umwelt nicht länger „fit“ und ertragskräftig genug, so daß es im Vergleich der Konkurrenten immer weiter zurückbleibt bis der Konkursverwalter kommt und wenn kein rettender „Gerhard, Gerhard“ das Blaue vom Himmel verspricht und die unerwartete Sanierung doch noch ermöglicht.
Überleben und Wandel Der Exitus ist natürlich nicht die einzige Art des „Wandels“ einer Organisation. Selbstverständlich überleben auch Organisationen, und manche von ihnen scheinen, wie die Katholische Kirche oder Daimler-Benz, für die Ewigkeit gemacht. Gerade die überlebenden Organisationen aber wandeln sich und müssen das auch fortwährend tun, wenn sich die umgebenden Verhältnisse ändern.
Der Wandel der Ziele und der Strukturen Zwei Arten dieses „anpassenden“ Wandels sind hierbei insbesondere zu beachten: der Wandel in den Zielen der Organisation und der Wandel in ihrer internen und externen Struktur. Zum Wandel in den Zielen kommt es insbesondere dann, wenn eine Organisation ihren ursprünglichen Zweck erfüllt hat oder wenn das Ziel gesellschaftlich nicht mehr unterstützt wird, sie aber nicht so einfach wieder aufgelöst werden kann (vgl. dazu immer noch interessant: Mayntz 1963, S. 71ff.). Meist sind dabei die angestellten Mitglieder, besonders auch die Leitungspersonen, die Triebkraft: Sie verlören ihre Arbeit und hätten mit dem für die betreffende Organisation sehr passenden, anderswo aber kaum verwertbaren „spezifischen“ Kapital an Fertigkeiten und Kenntnissen nur schwer eine Chance. Und so sucht man meist erfolgreich nach anderen Zielen. Das erging etwa der Kernforschungsanlage in Jülich so: Zuerst war es eine hoch angesehene Einrichtung mit dem obersten Ziel der Umsetzung der Kernkraft in die wirtschaftliche Nutzung. Jetzt nennt sie sich nach der Diskreditierung ihres Gründungszieles verschämt nur noch „Forschungszentrum Jülich“ und widmet sich u.a. der genbiologischen Forschung und dem Umweltschutz.
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Der Wandel in den Strukturen betrifft die Art und Weise der „Organisation“ der Organisation und ihrer inneren wie äußeren Beziehungen. Der Strukturwandel ist meist eine Art von evolutionärer „Anpassung“ an sich ändernde Verhältnisse, und es ist gerade die Fähigkeit zum flexiblen Wandel der Strukturen, die das Überleben von Organisationen wahrscheinlicher machen. Es gibt freilich auch Organisationen, deren Leistung gerade darin besteht, daß sie sich eben nicht wandeln und die gerade dann in Probleme kämen, wenn sie es denn täten. Die Katholische Kirche gehört zu dieser Art von Organisationen, und der Papst Woityla und der Kardinal Dyba wissen das offenbar ganz genau. Den Wandel von Zielen und Strukturen kann es unabhängig voneinander und auch gleichzeitig geben. Meist wird aber ein Zielwandel nicht ohne einen gewissen Strukturwandel möglich sein; man wechselt nicht ohne weitere organisatorische Folgen vom Röhrengeschäft auf die Telekommunikation. Und oft ist gerade für die strikte Beibehaltung eines Zieles ein Strukturwandel unerläßlich: Damit man weiter vor allem gute Autos produzieren kann, muß man gelegentlich mit einem etwas windigen amerikanischen oder einem leicht maroden japanischen Partner fusionieren.
Evolutionäres Überleben Die dauerhafte Existenz von Organisationen ist, wie im Grunde bei allen sozialen Gebilden und sozialen Systemen, eine Frage der Auseinandersetzung mit den jeweiligen (äußeren wie inneren) Umwelten und vor allem eine der erfolgreichen differentiellen Reproduktion. Es ist, wie man sich vor diesem Hintergrund leicht vorstellen kann, eine Frage des evolutionären Überlebens. Und deshalb ist der Gedanke auch naheliegend, die dauerhafte Existenz und den Wandel von Organisationen als einen Spezialfall der Evolutionstheorie anzusehen und zu behandeln, wie das der sog. Population-Ecology-Ansatz der Organisationstheorie auch tut.14 Organisationen überleben danach ganz allgemein und wie andere „Organismen“ auch evolutionär durch Variation, Se14
Vgl. insbesondere Michael T. Hannan und John Freeman, The Population Ecology of Organizations, in: American Journal of Sociology, 82, 1977, S. 929-964. Siehe auch die Übersicht bei Alfred Kieser und Michael Woywode, Evolutionstheoretische Ansätze, in: Kieser 1999, S. 253-285. Siehe zur (soziologischen) Erklärung evolutionärer gesellschaftlicher Prozesse auch Abschnitt 7.4 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“, und noch Abschnitt 12.2 unten in diesem Band; vgl. auch Kapitel 11 „Evolution“ in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“.
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lektion und differentielle Reproduktion. Daraus ergibt sich allerdings eine für die einzelnen Eigentümer und Geschäftsführer, sowie für die Unternehmensberater und die Betriebswirte etwas unangenehme Konsequenz: Weil wie bei jeder Evolution niemand wissen kann, welche „Variation“ in einer sich stets wandelnden Umwelt einen Reproduktionsvorteil hat und welche nicht, gibt es auch kein verläßliches Rezept, das Überleben zu sichern. Bei einer Evolution ist „alles weitere“, wie das Niklas Luhmann an anderer Stelle (wieder einmal) so schön nichtssagend ausgedrückt hat, „ ... eine Frage der Selektion dessen, was sich bewährt und was für weiteres verwendbar ist.“15
Aber das ist ja klar, und es noch einmal zu wissen, hilft nicht viel: Man kann leider immer nur ex post rekonstruieren, warum welche Variation genau jenen Reproduktionsvorteil hatte, der ihr Überleben sicherte. Ex ante gibt es kein Mittel der Vorhersage, wohin die Evolution führt. Die Übernahme der Konzepte der Evolutionstheorie als Hilfe für die Planung von Organisationen hat eigentlich nur dazu geführt, den Managern zu empfehlen, auch einmal etwas ganz Ungewöhnliches zu tun: Man weiß ja nie, ob das nicht die entscheidende Variation wäre. Und auch so kommt es zu dem Schnick-Schnack vieler Unternehmensberater- und Managerkurse, in denen die geplagten Herren, die nicht mehr wissen wohin und woher, plötzlich über glühende Kohlen laufen oder schlimmer noch einem Vortrag der gestrengen Gertrud Höhler oder des red- und weinseligen Paters Basilius Streithofen lauschen müssen. Helfen tut das meist nicht viel, aber man hat wenigstens alles versucht. Und das ist nicht wenig in einer Welt der Ungewißheit, der gnadenlosen Konkurrenz und des scheinbaren Zufalls.
Das Überleben als Ziel Immer geht es bei den Schritten zur „bewußten“ Variation, sei es der Ziele, sei es der Strukturen, letztlich aber um das Eine: Wie kann sichergestellt werden, daß die Lebensgrundlage der individuellen Akteure, die die Organisation tragen und von ihrer Existenz abhängig sind, gesichert wird. Dazu sind, wenn es denn ernst wird, jedes alternative Ziel und jede andere Struktur recht und willkommen. Und für manche Organisation wird im Laufe ihres Lebens schließlich das schiere Überdauern zum dominanten Ziel. Darüber kann sich 15
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, S. 171.
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nur jemand wundern, der nicht verstanden hat, worum sich letztlich alles dreht: um die Nutzenproduktion, und das auch ganz egal mit welchen primären Zwischengütern. Der Zweck des Überlebens heiligt jeden Organisationszweck als Mittel dazu.
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Die Organisation als Handlungsfeld
Die institutionellen Regeln, insbesondere die Positionen und die daran hängenden sozialen Rollen, bilden den „Kern“ einer Organisation, aber sie determinieren weder das Handeln der individuellen Akteure noch gar die sozialen Prozesse insgesamt. Den Grund dafür haben wir oben schon erwähnt: Bei aller „Hingabe“ an das Kollektiv der Organisation verlieren die Akteure ihre individuellen Interessen nicht, und gelegentlich gibt es oft unmittelbar aus den Verhältnissen und den Abläufen der Organisation selbst besondere Machtverhältnisse und spezielle Interdependenzen, die sich quer zu den institutionell definierten normativen Strukturen legen (siehe dazu auch schon Kapitel 11 und 12 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über „Die Organisation des Tausches“ und über die „Macht“, sowie weiter unten in Abschnitt 9.7 zur Kritik am sog. Befehlsmodell der „rationalen“ Organisation). Kurz: Jede Organisation ist für die Akteure letztlich nichts weiter als eine Arena, bei der zwar gewisse Spielregeln festliegen, die aber nur den äußeren Rahmen für das abgeben, um das sich ohnehin alles nur dreht: die individuelle Nutzenproduktion in einem kollektiven Handlungszusammenhang. Handlungsfelder und situierte Aktivitätssysteme Solche Arenen des Zusammenspiels normativer Vorgaben, materieller Interdependenzen und individueller Interessen wollen wir allgemein als Handlungsfelder bezeichnen. Organisationen gehören zu den wichtigsten Handlungsfeldern des gesellschaftlichen Lebens, aber sie sind nicht die einzigen. Der Alltag kennt eine Reihe weiterer normierter, wenngleich meist deutlich weniger formell geregelter Abläufe von „produktiven“ Handlungssequenzen, wie die Fahrt in einer Straßenbahn oder der Besuch bei einem Friseur mit dem dazu gehörenden geschwätzigen Theater (vgl. dazu auch schon Kapitel 8 über die sozialen Drehbücher oben in diesem Band). Erving Goffman hat für diese eher informell geregelten Handlungsfelder den Ausdruck situiertes Aktivitätssystem gefunden. Das ist ein
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„ ... geschlossener, sich selbstkompensierender und sich selbstbeendender Kreislauf voneinander abhängigen Aktionen ... . Ein Beispiel dafür ist eine Operation. Beispiele aus anderen Lebensbereichen sind z.B.: ein Spiel zu spielen, Durchführung eines KleingruppenExperiments, jemandem die Haare schneiden.“16
Wie die Organisationen kennen auch die Aktivitätssysteme Positionen und die dazugehörigen Rollen: Es gibt freie „Plätze“, an die Erwartungen geknüpft werden die Rollen etwa des Fahrgastes und des Straßenbahnschaffners, des Arztes und der Krankenschwester, des Torwarts und des Mittelstürmers, des Versuchsleiters und der Versuchsperson, des Friseurs und des Kunden. Das Rollenhandeln ist aber, so haben wir schon oben in Abschnitt 7.6 gesehen, ohne Zweifel nicht allein von den normativen Vorgaben der Positionen bestimmt. Die Akteure versuchen vielmehr, im Rahmen dieser Vorgaben durch eine möglichst geschickte Rollenübernahme das jeweils Beste für sich daraus zu machen. Dahinter steht natürlich wieder das bekannte Problem der antagonistischen Kooperation, das als latenter Hintergrund durch keine normative Regel aus der Welt zu schaffen ist: Einerseits sind die Akteure an der Kooperation und der Beachtung der Regeln und Rollen interessiert, weil sie deren Ergebnisse schätzen, andererseits haben sie aber immer auch noch ihre eigenen, individuellen Interessen, die sie gelegentlich in die Versuchung bringen, sich opportunistisch zu verhalten. Aus dem Zusammenspiel der normativen Regeln aus der Positionsstruktur und den Interdependenzen von Interesse und Kontrolle entstehen dann oft Beziehungssysteme, die sich teilweise weit von dem formellen Rollenmuster entfernen und sich dann sogar dem Habitus und der Identität der Menschen in einer Weise aufprägen, daß man wiederum kaum glauben mag, daß den Menschen eine besondere „Wahl“ bei ihrem Handeln bliebe.
Zwei Beispiele der Beziehungen zwischen der normativen Definition eines Aktivitätssystems bzw. eines Handlungsfeldes und der gleichzeitig bestehenden nicht-normativen materiellen Interdependenzen und individuellen Interessen wollen wir besprechen. Sie sind an den beiden Polen des Problems der antagonistischen Kooperation im Rahmen normativer Vorgaben orientiert Kooperation und Konflikt. Im ersten Beispiel wollen die Akteure um jeden Preis die Kooperation aufrechterhalten auch dann wenn es divergierende Interessen und Konflikte unter ihnen gibt. Und im zweiten Beispiel setzen sich die durch die Struktur der Situation erzeugten Konflikte ganz massiv gegen die formellen Rollenbeziehungen sogar einer institutionell eindeutig geregelten hierarchischen Organisation durch.
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Erving Goffman, Interaktion: Spaß am Spiel. Rollendistanz, München 1973a, S. 108.
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Das erste Beispiel: Im Operationssaal Soziale Rollen definieren besonders starke Formen eines sozialen Drehbuches. In seiner extremen Form ist das Rollenhandeln ja so etwas wie ein Ritual, von dem auch in Einzelheiten eigentlich nicht abgewichen werden darf. Nirgendwo scheint dieses Modell des Rollenhandelns zutreffender zu sein als dort, wo die Beteiligten sich des Sinns, der Würde und des gesellschaftlichen Prestiges ihres Tuns ganz sicher sein können. Und nirgendwo ist das wohl mehr der Fall als im Reich der Halbgötter in Weiß in den Fabriken des Gesundheitssystems, den Krankenhäusern und den Kliniken. Erving Goffman beschreibt das „Hollywood-Ideal“ der Rollenträger des Handlungsfeldes einer chirurgischen Operation im Rahmen der Organisation eines Krankenhauses dann auch so: „Der Chefchirurg im weißen Kittel schreitet in das Operationstheater, nachdem der Patient durch seine Assistenten in Narkose versetzt und freigemacht wurde. Automatisch macht man ihm Platz. Er brummt einige kurze einleitende Worte, dann macht er sich, fast schweigend, geschickt an die Arbeit; ernst, grimmig, kompetent wird er dem Bild gerecht, das er und seine Assistenten von ihm haben, und doch in einem Kontext, wo ein einziger Moment des Versagens die Beziehung, die ihm seiner Rolle gegenüber gestattet ist, für immer aufs Spiel setzen kann. Wenn die kritische Phase der Operation erst einmal vorbei ist, tritt er zurück und reißt mit einer ganz besonderen Mischung aus Ermüdung, Kraft und Widerwillen die Handschuhe herunter; so besudelt er sich und dankt aus seiner Rolle ab, allerdings zu einem Zeitpunkt, an dem seine eigenen Mühen die anderen in die Lage versetzen, die operierte Stelle schließen zu können. Zu Hause mag er Vater, Gatte oder ein Baseball-Fan sein, hier ist er das Eine und Einzige: ein Chirurg – und Chirurg zu sein liefert einen voll abgerundeten Eindruck von dem Mann.“ (Goffman 1973a, S. 131)
Das ist das Bild, das uns der Bastei-Verlag aus Bergisch-Gladbach in seinen Arztromänchen und Dr. Brinkmann mit der Schwarzwaldklinik vermittelt haben. Wie aber sieht es wirklich aus? Das Positionssystem für das Handlungsfeld einer Operation ist leicht beschrieben: Es gibt den Chefarzt, der die Leitung des Ganzen hat und die Verantwortung für den Erfolg trägt. Dann gibt es den jüngeren Assistenzarzt, der noch etwas lernen will (und muß), den Narkosearzt, die Schwestern auch abgestuft nach Oberschwester und Hilfsschwestern und nicht zuletzt: den Patienten. Der ist aber während der Operation eher ein „toter“ Gegenstand auch solange er noch lebt. Wir wollen zur Verdeutlichung des Problems nur zwei Positionen betrachten: den Assistenzarzt und den Chefarzt. Der Assistenzarzt hat eigentlich eine wie Goffman formuliert demütigende Stelle inne. Die Chirurgie ist nicht sein Spezialgebiet. Seine Aufgaben haben nicht viel von der eines „richtigen“ Chirurgen. Aber auch die beherrscht er nur unvollkommen und das wird ihm auch, nicht zuletzt von den Schwestern bedeutet. Kurz: Der Assistenzarzt
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hat allen Grund, in seiner Funktion ein starkes Maß an Rollendistanz zu zeigen, wenn er sein Selbstbild erhalten möchte. Und so ist es dann auch: „Ob als Schutz gegen diesen Zustand oder nicht: die jungen Mediziner, die ich beobachtet habe, waren wie zu alte Karussellfahrer, Analysanden oder Fliegende Händler nicht darauf vorbereitet, ihre Rolle voll zu erfassen; es kam zu gekünstelten Darbietungen von Rollendistanz. Manchmal bemerkt man auf ihren Gesichtern einen vorsichtigen nachdenklichen Ausdruck, der andeutet: ‚Das ist nicht mein wirkliches Ich‘.“ (Ebd., S. 133)
Die Rollendistanz des Assistenzarztes ist also nur zu verständlich (vgl. dazu auch schon Abschnitt 7.4 oben in diesem Band). Wie sieht es nun aber mit dem Chefarzt aus? Goffman stellte gerade bei den Chefärzten ebenfalls deutliche Zeichen der Rollendistanz fest. Beispielsweise dankt er dem Team dem Sittenkodex entsprechend nach gelungener Operation aber auf eine sehr ironische und gekünstelte Weise. Oder er läßt sich der Vorschrift entsprechend von der Schwester die Ampulle zeigen, deren Inhalt er dem Patienten injizieren will, tut das aber mit den folgenden Worten (ebd., S. 135): „Schwester:
Doktor James, würden Sie das bitte nachprüfen?
Doktor James: (liest mit lauter Stimme das Etikett) Drei Kubikzentimeter Heparin in ZehnMilligramm-Lösung, von Invenex geliefert und von Schwester Jackson in einem Winkel von 45o gehalten. In Ordnung, Schwester Jackson.“
Warum tut der Chefarzt das? Er hat ja nicht das Problem, das den Assistenzarzt wie einen zwölfjährigen Reiter auf einem Holzpferd zur Demonstration der Rollendistanz veranlaßte. Aber er hat ein anderes Problem: Ihm obliegt die Verantwortung für den Erfolg des gesamten Unternehmens. Wenn der Patient stirbt, wird man das dem Chefarzt, nicht dem Assistenzarzt oder den Schwestern anlasten. Und wenn es dann Situationen gibt, in denen er „aus der Rolle“ fallen muß, um den Erfolg der Operation nicht zu gefährden, dann tut er das auch wenn damit die Zuschreibung einer Identitätsfacette droht, die der Würde eines Halbgottes nicht ganz entspricht: „Wie Personen in vielen anderen beruflichen Positionen erkennt der Chefchirurg seine Verpflichtung, ein besonderes Aktivitätssystem, in diesem Fall eine Operation, managen und leiten zu müssen. Er ist verpflichtet, dafür zu sorgen, daß die Operation effektiv durchgeführt wird, ohne Rücksicht darauf, was das manchmal über ihn selbst aussagt.“ (Ebd., S. 136f.; Hervorhebungen nicht im Original)
Die typische Stilisierung der Rollendistanz von Chefärzten ist die leicht herablassende, aber auch väterliche Ironie, die er gelegentlich auch gegen sich selbst wendet, immer aber mit einem Unterton der absoluten, wenngleich verzeihenden, Autorität. Sie ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund des speziellen Problems, in dem sich der Chefarzt während einer Operation befindet:
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Er ist darauf angewiesen, daß das ganze Team intakt bleibt auch wenn einzelne Pannen passieren, jemand einen Fehler macht oder auch er selbst einmal eine Vene nicht, aber auch gar nicht finden kann. Kurz: Die Distanz des Chefarztes zu seiner Rolle und zum sozialen Drehbuch einer Operation im wirklichen Leben ist nicht eine Folge der Demonstration einer anderen, eher gewünschten Identität. Sie ist vielmehr eine Folge seiner Rolle unmittelbar und seiner Abhängigkeit gerade in der Erfüllung dieser Rolle von der Kooperationswilligkeit und -fähigkeit aller Mitglieder des Teams am Operationstisch: „Damit nun das chirurgische Team erfolgreich funktioniert, muß jedes Kommunikationsmitglied ... seine Fähigkeit als Kommunikator erhalten, eine individuelle Fähigkeit, verbale Kommunikationen oder deren Ersatz zu geben und zu empfangen. Und wie in anderen Aktivitätssystemen muß jedes Mitglied in der Lage sein, physische Handlungen auszuführen, die eine gewisse Kaltblütigkeit und Selbstbeherrschung erfordern. Alles, das dieses verbale oder physische Gleichgewicht bedroht, bedroht die Fähigkeit des Teilnehmers, einen Beitrag dazu zu leisten, und von hier aus das Aktivitätssystem selbst. Jedes einzelne Mitglied des chirurgischen Teams muß sich in der Gewalt haben, und wo es dazu nicht in der Lage ist, müssen ihm andere und besonders der Chefchirurg dabei helfen.“ (Ebd., S. 137)
Der Chefarzt steht also bei Fehlern seiner Untergebenen vor einem schwierigen Problem: Einerseits muß er die Fehler sanktionieren, damit sie sich nicht wiederholen. Andererseits darf er das nicht in einer Weise tun, die die Funktionsfähigkeit des Teams insgesamt beeinträchtigt. Welches Mittel ist dann angemessen? Genau: die wohldosierte wie Erving Goffman sagt „Modulation“ seiner Hinweise, Forderungen und Mahnungen so, daß sie sowohl ihren korrigierenden Zweck erfüllen als auch gleichzeitig die psychische Stabilität des Teams nicht erschüttern (vgl. zu solchen „Reparatur“Maßnahmen in heiklen Situationen auch schon Abschnitt 8.2 oben in diesem Band). Und dazu eignet sich der halbernste Scherz wie nichts anderes. Es ist gerade die Doppelbödigkeit dieser Scherze, die ihre Funktion in dem Konflikt ausmacht: „Ist der Konflikt gegeben zwischen der Korrektur eines Untergebenen und dem Bemühen, ihm bei der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts zu helfen, wird verständlich, daß Chirurgen negative Sanktionen im Scherz anwenden, so daß es schwierig auszumachen ist, ob der Scherz eine Tarnung für eine negative Sanktion oder die Sanktion eine Tarnung für den Scherz ist.“ (Ebd., S. 138)
Je mehr ein Chefarzt von seinen Untergebenen im Gelingen abhängig ist, je mehr von diesen dabei Feinfühligkeit, Geschicklichkeit und intensive Konzentration erforderlich ist, um so zwangloser und freundlicher wird der Chefarzt wohl sein. Die Stilisierung der Leichtigkeit des Umgangs ist also keine Folge irgendwelcher „charakterlicher“ Besonderheiten von Chefärzten. Sie wird von ihnen zunächst jedenfalls auch nicht als zentrales Rollenelement erwartet. Sie entspringt vielmehr der besonderen Struktur der Abhängigkeiten des Aktivitätssystems einer Operation im institutionellen Rahmen der Organisation eines Krankenhauses. Die Wahl der feinfühligen Ironie als Mittel der Rollendistanz geschieht nicht, weil sich der Chefarzt
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„ ... in eine selbstgeschaffene psychologische Welt flieht, sondern (weil er) hier im Namen einer andern sozial erzeugten Identität handelt. Die Freiheit, die (er) sich hinsichtlich eines situationsabhängigen Ichs nimmt, ergreift (er) wegen anderer gleichermaßen sozialer Zwänge.“ (Ebd., S. 136)
Es ist also die besondere Konstellation des Problems der antagonistischen Kooperation, die den „Sozialcharakter“ von Assistenzärzten und Chefärzten und die ganz besondere Organisationskultur von Krankenhäusern erzeugen. Die Assistenzärzte haben es einfacher, aber immer noch schwer genug: Sie müssen nur die Balance zwischen einfacher Rollendistanz und bloßer Clownerie halten, damit sie sich mit der Demonstration ihrer Unabhängigkeit von der ungeliebten Rolle nicht noch mehr schaden. Immerhin können sie davon ausgehen, daß sie auch diese Phase einer turbulenten Identität in ihrer Biographie gut überstehen und schließlich vielleicht selbst den väterlichüberlegenen Ironiker als Chefarzt spielen werden. Der Chefarzt hat ein im Vergleich dazu viel schwierigeres Geschäft: Er muß unter großer Anspannung mit leichter Hand ein sensibles Instrument bedienen das Operationsteam, einschließlich seiner Person. Aber wenn er dies dann eine ganze Zeitlang tut, wird die Angelegenheit auch wieder einfacher: Er kann die Attitüde des kompetenten Ironikers und väterlichen Zynikers zu seinem ganz „persönlichen“ Stil erheben. Er weiß meist aber nicht, daß das mit ihm noch etwa 3 Millionen andere Chefärzte in der Welt tun und daß dies längst ein Teil wenngleich „nur“ ein „peripherer“ der Rolle des Chefarztes geworden ist und ein zuverlässiger Teil der Organisationskultur von Krankenhäusern.
Das zweite Beispiel: Das Monopole Industriel Im Operationssaal erzwang die Abhängigkeit des Chefarztes von seinem Team die Attitüde der väterlichen Ironie wo er von seiner „offiziellen“ Rollendefinition als unumschränkter „Chef“ und wohl auch von seinen privaten Neigungen her insgeheim sicher lieber einmal mit der Faust auf den (Operations-) Tisch geschlagen hätte. Die Organisationssoziologen Michel Crozier und Erhard Friedberg haben ein Handlungsfeld beschrieben, in dem ebenfalls eigentlich ganz eindeutig definierte Rollenbeziehungen fast völlig außer Kraft gesetzt waren und wo sich auch ganz typische Stimmungen und emotionale Einfärbungen der Beziehungen zwischen den Akteuren als Resultat typischer Strategien ergaben, mit der Situation insgesamt fertigzuwerden.17 Auch hier 17
Michel Crozier und Erhard Friedberg, Macht und Organisation. Die Zwänge kollektiven Handelns, Königstein/Ts. 1979, S. 35ff. Die ursprüngliche Darstellung findet sich bei Michel Crozier, Le Phénomène Bureaucratique, Paris 1963, S. 79-148.
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war es das sei gleich vorweggeschickt die Struktur der Abhängigkeiten der Akteure voneinander, die die Beziehungen stilisierte und eben nicht die Definition der „offiziellen“ Rollenerwartungen. Das Monopole Industriel war ein großer staatlicher Monopolbetrieb, der durch eine Gesamtheit von Unternehmen gebildet wurde, die stets den gleichen Satz an Positionen und Rollen aufweisen: Direktor, stellvertretende Direktoren, Buchprüfer, technische Ingenieure, Werkstättenleiter, Produktionsarbeiter und Wartungsarbeiter für die Maschinen in den Werkstätten der Betriebe. Besonders zwei Konstellationen erwiesen sich als bemerkenswert: ein offenbar nicht stillzustellender und durchgehender Streit zwischen den Direktoren und den Buchprüfern und eine bestimmte Struktur von Spannungen in den Werkstätten des Unternehmens.
Direktoren und Buchprüfer Hier zunächst die Struktur des Streites zwischen den Direktoren und den Buchprüfern. Normalerweise hätte natürlich der Direktor immer eine Weisungsbefugnis an den Buchprüfer. Der Streit drehte sich daher auch eher um die Frage des Stils, mit dem beide miteinander umgehen.18 Jeder von beiden hätte innerhalb der gegebenen Rollenstrukturen immer die Möglichkeit, dem anderen gegenüber entweder freundlich und defensiv oder unfreundlich und aggressiv aufzutreten: Der Direktor kann den Prüfer als lästige Formalität oder als jemanden behandeln, den er um Rat fragen und in seine Entscheidungen einbeziehen will; und der Prüfer könnte sich als Kleinkrämer und Korinthenkacker gerieren oder aber seine Rolle als die eines gelehrigen Untergebenen auffassen. Beide wählten aber die aggressive Strategie. Warum? Wenn wir die kooperative Strategie mit K und die aggressive mit A abkürzen, dann gibt es vier Kombinationen (wobei jeweils die Strategie des Direktors zuerst genannt ist): KK, KA, AK und AA. Wie sieht ein Direktor die Situation? Er wird wohl mit einiger Sicherheit KK vor KA, AK vor KK und AA vor KA vorziehen: Die beiderseitige Kooperation brächte beiden etwas und wäre auf jeden Fall besser als das einseitige Nachgeben. Alleine aggressiv zu sein bringt ihm mehr als die beiderseitige Aggression. Und die wiederum wäre sicher besser als das einseitige Nachgeben. Es gilt also für den Direktor diese Ordnung bei den Strategien: AK>KK>AA>KA. Wie sieht die Sache nun für den Buchprüfer aus? Er hätte – ganz ähnlich wie aus seiner Sicht der Direktor – es wohl am liebsten, daß der andere freundlich ist und er selbst streng (KA). Die beiderseitige Kooperation (KK) zieht er ferner verständlicherweise der einseitigen Freundlichkeit seinerseits vor (AK). Soweit ist alles ganz ähnlich wie bei dem Direktor. Am 18
Die folgende Skizze lehnt sich auch an die Analyse des Falles bei Raymond Boudon an: Raymond Boudon, Die Logik des gesellschaftlichen Handelns. Eine Einführung in die soziologische Denk- und Arbeitsweise, Neuwied und Darmstadt 1980, S. 68ff.
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schlimmsten wäre für ihn jedoch, darin ganz anders als für den Direktor, daß beide aggressiv sind (AA): Er könnte dadurch seinen Posten verlieren, während der Direktor „nur“ viel Ärger hätte, aber den Gesichtsverlust gegenüber einem Untergebenen um keinen Preis ertragen möchte. Deshalb ist dem Buchprüfer bei einem aggressiven Verhalten des Direktors die gespielte Freundlichkeit mit der Faust in der Tasche lieber als die gegenseitige Konfrontation. Es gilt für den Buchprüfer damit also die Beziehung KA>KK>AK>AA.
Aus diesen beiden Beziehungen ergibt sich, wenn man die Konstellationen und ihre jeweiligen Bewertungen mit entsprechenden Ordnungszahlen versieht, die folgende strategische Situation (Abbildung 9.1):
Buchprüfer Kooperation
Aggression
Kooperation
3,3
1,4
Aggression
4,2
2,1
Direktor
Abb. 9.1: Die strategische Situation von Direktor und Buchprüfer im Monopole Industriel
Es ist, wie man leicht sieht, die Kombination eines Gefangenendilemmas auf seiten des Direktors und eines Chicken-Game auf seiten des Buchprüfers (vgl. dazu ausführlich schon Abschnitt 3.2 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und was geschieht? Genau: Weil der Direktor aus der Situation eines Gefangenendilemmas in jedem Fall aggressiv reagieren wird, und weil der Buchprüfer das aufgrund der Konstellation auch wissen muß, ist es für ihn nur allzu klug, nachzugeben. Nur so kann er den für sich schlimmsten Fall (AA) vermeiden. Denn daß der Direktor selbst die Nerven verlieren und zugänglich werden könnte, wie das bei einem Chicken-Game auf beiden Seiten durchaus möglich wäre, davon ist hier eben nicht auszugehen. Und so kommt das, was überall in vergleichbaren Situationen auch beobachtet wird: Ein immer nur latent bleibender Streit mit hochnäsigen Direktoren und unterwürfigen Buchprüfern, die dann nur noch blind abzeichnen, was ihnen der Chef vorlegt. Hoffentlich ist trotzdem alles in Ordnung, und es kommt später eben nichts heraus von den schwarzen Kassen, den dunklen Konten und den obskuren Erblassern aus Übersee, von denen der ganze Bimbes angeblich stammen soll.
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Die Werkstätten Nun aber die zweite Konstellation des Streites in der Organisationsstruktur des Monopole Industriel: die Werkstätten. Der organisatorische Rahmen der Werkstätten ist rasch geschildert. Es gab wie bereits erwähnt drei wohldefinierte Positionen: die Werkstättenleiter, die Produktionsarbeiter und die Wartungsarbeiter. Die Werkstättenleiter waren mit der allgemeinen Überwachung der Werkstätten beauftragte Vorarbeiter. Die Produktionsarbeiter hatten nur eine geringe Qualifikation und standen an den Maschinen. Die Wartungsarbeiter schließlich, von denen es in jeder Werkstatt ein Dutzend gab, waren sehr qualifiziert. Sie waren für die Pflege und den reibungslosen Betrieb der Maschinen verantwortlich, wobei sie jeweils für drei bis sechs Maschinen persönlich verantwortlich waren. Die funktionale Trennung zwischen den Positionen der Gruppen war ganz eindeutig. Es gab keinerlei Aufgabenüberschneidungen oder Kompetenzstreitigkeiten. Diese Funktionstrennung wurde durch die technische Organisation der Werkstätten nur noch verstärkt: Jeder Arbeiter war hochspezialisiert und wußte genau, was er zu tun hatte. Für jede Eventualität gab es eine klare Regel. Viel zu „definieren“, zu gestalten oder irgendwelche Rollenkonflikte gab es nicht. Von der bloßen Rollenstruktur her hätte es also keinerlei Schwierigkeiten geben dürfen: „Kurz, nichts ist hier der Willkür der Individuen oder der zwischenmenschlichen Verhandlung überlassen. Es dürfte also keinen Grund mehr für Spannungen oder Konflikte geben, da ja alles im Voraus bestimmt ist und jeder sich an der ihm zugeteilten Stelle befindet.“ (Crozier und Friedberg 1979, S. 35)
Aber so war es empirisch nicht. Über die formelle Rollenstruktur legte sich gewissermaßen ein ganz typisches System der Art der Beziehungen zwischen den drei Gruppen. Dieses System der faktisch bestehenden Beziehungen läßt sich wie folgt zusammenfassen. Zwischen den Produktionsarbeitern und den Werkstättenleitern gibt es keinerlei besondere Beziehungen: Die Produktionsarbeiter sind nicht sonderlich engagiert, zeigen aber auch wenig Respekt und Furcht vor ihren „Chefs“. Gelassenheit ist die Devise. Dies schließt eine gewisse unverbindliche Herzlichkeit und Toleranz füreinander ein. Zu den Wartungsarbeitern haben die Produktionsarbeiter dagegen ein sehr gespanntes Verhältnis. Sie sind sehr emotionalisiert, und es herrscht sogar eine untergründige Feindseligkeit. Zwischen den Gruppen gibt es nur wenig Verständigung. Die Wartungsarbeiter sehen die Produktionsarbeiter als ihre Untergebenen an, sie greifen öfter in deren Tätigkeiten ein, kritisieren ihre Faulheit und Nachlässigkeit – und kommen damit auch den Werkstättenleitern ins Gehege. Die Spannungen kommen aber nur selten offen zum Ausdruck. In den persönlichen Kontakten werden sie eher verharmlost. Das negative Urteil übereinander richtet sich gegen die Gruppen allgemein. Zwischen den Wartungsarbeitern und den Werkstattleitern herrscht dagegen eine unverhohlene Feindschaft und eine emotional stark aufgeladene Abneigung. Die Wartungsarbeiter hal-
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ten die Werkstättenleiter für vollkommen inkompetent und bestreiten ihnen jede Bedeutung für die Werkstatt. Aber obwohl die Werkstättenleiter die Wartungsarbeiter ebenfalls sehr kritisch sehen, halten sie sich doch auffällig in konkreten Äußerungen zurück. Im Gegenteil: Sie waren offenkundig um so zufriedener, je resignierter sie sich mit der Situation abgefunden hatten. Auf der anderen Seite waren gerade die Wartungsarbeiter am zufriedensten, die sich den Werkstättenleitern gegenüber am aggressivsten zeigten.
Das ist ohne Zweifel ein ganz anderes Bild als jenes, das der formelle Organisationsplan und die offiziellen Rollen vorgesehen hatten. Wie aber kommen diese stabilen und von den persönlichen Temperamenten höchstens etwas variierten, aber in der Grundstruktur stets gleichen Beziehungsmuster in den Werkstätten des Monopole Industriel zustande? Michel Crozier und Erhard Friedberg sehen den Schlüssel für die Struktur der Beziehungen in der Machtstruktur zwischen den drei Gruppen, die zwar nur innerhalb des geschilderten Positions- und Rollensystems denkbar ist, dieses aber dann komplett zu einem ganz anderen Beziehungssystem modifiziert. Macht hat das wissen wir ja inzwischen ein Akteur über einen anderen in dem Maße wie er Ressourcen kontrolliert, die für jenen von Interesse sind (vgl. dazu insbesondere Kapitel 12 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Um zwei interessante Ressourcen geht es in den Werkstätten: um Status einerseits und um das, wovon letztlich für alle alles abhängt: eine reibungslose Produktion. Und gleich wird deutlich, warum sich die Wartungsarbeiter in der Tat für die heimlichen Herrscher der Werkstätten halten können: Sie kontrollieren die letztlich für alle Gruppen in der Werkstatt zentrale Ressource: die Sicherstellung einer reibungslosen Produktion. Von ihnen allein hängt ab, ob die Produktionsarbeiter bei einer Panne weitermachen und die Werkstättenleiter gute Ergebnisse an die Unternehmensleitung melden können. Sie sind die heimlichen Herrscher der Werkstätten, weil sie das primäre Zwischengut in der Hand haben, um das sich in der Organisation alles dreht. Vor diesem Hintergrund wird die Art der Beziehungen zwischen den Gruppen unmittelbar verständlich. Der Status der Werkstättenleiter ist alleine über die formale Rollendefinition begründet. Er hat keinerlei reale Grundlage, weil die Werkstättenleiter nichts in der Hand haben, was sie für die Produktionsarbeiter, und erst recht: für die Wartungsarbeiter, interessant macht. Daher sehen die Wartungsarbeiter die formelle Macht der Werkstättenleiter auch als nicht legitim an. Und sie versuchen alles, um die bloß formal begründeten Ansprüche der Werkstättenleiter zurückzudrängen. Daher die Aggressivität. Gleichwohl droht aufgrund der Verankerung der formellen Macht der Werkstättenleiter in der Gesamtstruktur der Organisation immer auch ein Aufbegehren der Werkstättenleiter. Und genau deshalb sind die besonders aggressiven Wartungsarbeiter auch besonders zufrieden: Sie haben sich in diesem Kampf um die höhere Gewichtung der formellen und der realen Macht einen größeren Spielraum verschafft. Die Werkstättenleiter stehen dabei ganz und gar hilflos da. Sie haben fast kein Mittel, etwas gegen die Übergriffe der Wartungsarbeiter zu tun und ihre formelle Position mit anerkanntem Status zu füllen. Es ist eine hohle Größe, die sie repräsentieren. Nach einiger Zeit wissen sie das selbst auch ganz genau. Jeder Versuch, dies zu ändern ist ebenso
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mühselig wie erfolglos. Und deshalb sind gerade die zufrieden, die sich damit abgefunden haben, daß sie zwar einen Status, aber kein Prestige und keine Macht besitzen. Unmittelbar vom Wohlwollen der Wartungsarbeiter sind die Produktionsarbeiter betroffen: Alle Räder stehen still, wenn deren starker Arm es will. Daher tun sie alles, um die Wartungsarbeiter für sie einzunehmen und mit ihnen ein gutes persönliches Verhältnis zu unterhalten. Aber persönliche Beziehungen sind kein sicheres Band. Die latente Spannung der einseitigen Abhängigkeit kann dadurch nicht aufgehoben werden. Die scheinheilige und mit indirekten Hinweisen der Feindseligkeit versehene Unterwürfigkeit der Produktionsarbeiter ist das Mittel, um einerseits das persönliche Verhältnis zu bewahren, andererseits doch auch eine Warnung auszudrücken, die dominante Stellung nicht allzu sehr zu mißbrauchen.
Die formale Positionsstruktur ist der Rahmen, unter dem alles stattfindet: Die Rollen definieren die Spielregeln, unter denen alles stattfindet. Gleichzeitig sind sie aber auch stets nur ein Mittel für den „eigentlichen“ Zweck der ganzen Organisation: die Produktion. Die effiziente Produktion ist das primäre Zwischengut in den Werkstätten. Hierfür sind aber noch andere Mittel bzw. indirekte Zwischengüter wichtig als die bloße Rollenausübung: die Kompetenz zur Wartung der Produktionsmaschinen insbesondere. Die Kontrolle über dieses enorm wichtige und daher für alle interessante Zwischengut legt damit über die formelle Rollenstruktur ein dazu teilweise ganz konträres Machtsystem.
Die Grenzen der Macht Die normativ definierten Machtansprüche und die faktische Macht stehen also in der Organisation der Werkstatt des Monopole Industriel im Widerspruch. Wenn man das verstanden hat, wird mit einem Male klar, warum sich die drei Gruppen wenigstens vom Standpunkt derjenigen aus, die das Organigramm des Monopole Industriel entworfen hatten so eigenartig verhalten: „Die Aufdeckung dieser Machtstrukturierung und der von ihr den einzelnen Kategorien des Personals gebotenen bzw. auferlegten Handlungsgelegenheiten oder Zwänge, ermöglicht es, die Rationalität der für jede dieser Kategorien feststellbaren dominanten Strategien zu verstehen.“ (Ebd., S. 37; Hervorhebung nicht im Original)
Im Operationssaal drehte sich alles um das Gelingen der Operation. Dieses übergreifende Ziel „modulierte“ die eigentlich unumstrittene überlegene Rolle der Chefärzte zugunsten einer gleichzeitig kontrollierend wie kooperativ gemeinten Rollendistanz. In den Werkstätten des Monopole Industriel stand dagegen offenkundig der Kampf um die Ausweitung der Spielräume im Mittelpunkt der Strategien. Und hier hatten ohne Zweifel die Wartungsarbeiter die mit Abstand besten Karten und die nutzten sie auch.
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Dabei sind die Akteure in keiner Weise frei. Letztlich steuern nämlich die jeweiligen Ziele der Organisation bzw. des Handlungssystems, die organisatorisch festgelegten sozialen Produktionsfunktionen also, die Dynamik des Verhältnisses zwischen Rollen und Interdependenzen. An der kollektiven Verwirklichung dieser Ziele hängen ja schließlich die individuellen Interessen der Akteure, und sei es „nur“ der Arbeitsplatz und die Bezahlung. Das übergreifende Ziel des Gelingens der Operation steuerte bei den Chefärzten die faktische Nutzung der Rolle und die Entstehung der kooperationssichernden Rollendistanz. Und in den Werkstätten hatte die Macht der Wartungsarbeiter genau da ihre Grenzen, wo das „letzte“ Ziel aller Tätigkeiten gefährdet ist: Wenn die Maschinen zu oft ausfallen oder wenn die Wartungsarbeiter allzu sehr den Betrieb durch strategisch eingesetzte Wartungsverzögerungen stören, dann ändert sich das Bild nachhaltig. Denn letztlich hängt auch die Macht der Wartungsarbeiter nur von der Produktivität der Werkstatt ab. Und dafür müssen die Maschinen gut laufen und die Produktionsarbeiter funktionieren. Und selbst die Werkstättenleiter haben etwas in der Hand. Sie könnten beispielsweise sich zusammentun und der Unternehmensleitung eine Organisationsreform derart vorschlagen, daß die Wartung der Maschinen durch eine externe Firma vorzunehmen wäre. Und dann wäre es schlagartig aus mit der Macht der Wartungsarbeiter.
Positionen, Interdependenzen und der Stil des Umgangs miteinander Fassen wir zusammen. Positionen bezeichnen in dem arbeitsteiligen Handlungssystem einer Organisation bzw. eines Aktivitätssystems die für ein gemeinsam interessierendes Ziel wichtigen typischen Tätigkeiten. In den sozialen Rollen sind diese Tätigkeiten als Erwartungen formuliert. Die Positionen und die Rollen sind die Grundlage für typische Beziehungen zwischen den Akteuren, die die jeweiligen Positionen besetzen. Über diese drei Systeme das Positionssystem, das Rollensystem und das Beziehungssystem kann sich aber unabhängig eine Interdependenzstruktur legen. Sie ergibt sich aus der Verteilung der Kontrolle über die im Rahmen dieses Positions- bzw. Rollensystems als bedeutsam definierten interessanten Ressourcen, letztlich aus der Kontrolle über die Produktion des jeweiligen primären Zwischengutes. Je nach Verteilung der Positions- und der Interdependenzstruktur ergeben sich dann typische Formen der „Modulation“ des Rollenhandelns und des Stils der sozialen Beziehungen zwischen den Gruppen. Die typischen Stilisierungen des Verhaltens und der sozialen Beziehungen sind die Folge von vier, in jedem Handlungssystem einer Organisation im Prinzip gleichzeitig existierenden Bedingungen. Dazu gehört, erstens, die Definition der Spielregeln, der funktionalen Imperative
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und der Codierungen, kurz: der sozialen Produktionsfunktionen also, unter denen das gesamte Handlungssystem organisiert ist. Zweitens zählen dazu die – oft bereits im Rahmen der Spielregeln verankerten – zahllosen Widersprüche, Ambivalenzen, Konflikte und Komplikationen, die – mehr oder weniger – jede arbeitsteilige, auf Rollenerwartungen beruhende Kooperation mit sich bringt – und sei sie auch noch so gut „organisiert“. Dies verweist, drittens, auf die faktisch bestehenden Interdependenzen der Akteure, die das Handlungssystem so zu einem nicht nur formellen, sondern auch zu einem strategischen Feld werden lassen. Und hinter allem steht, viertens, der niemals – auch nicht durch ein ganz und gar moralisches Bewußtsein, aufopfernde Verpflichtung und altruistische Gesinnung – stillzustellende Opportunismus und das davon geleitete Bemühen der Akteure, innerhalb des gegebenen formellen und strategischen Rahmens nach Möglichkeit ihre individuelle Nutzenproduktion zu verbessern und ein Höchstmaß an positivem Selbstbild und physischem Wohlbefinden dabei herauszuholen.
Und das kann sich dann sehr unterschiedlich, aber aus dem „System“ der Rollen- und der Machtstrukturen leicht verstehbar, zeigen. Etwa: Rollenbegeisterung bei denen, die eine attraktive Position mit Kompetenz und ohne große Komplikationen auszuüben haben. Rollendistanz bei solchen Akteuren, die noch zeigen wollen, daß sie „eigentlich“ eine andere Identität verdient hätten. Oder väterliche Ironie, Resignation, Aggressivität oder lauernde Zurückhaltung je nachdem, welche Reaktion im strategischen Feld der formellen Positionen und faktischen Interdependenzen eines Handlungssystems die alles in allem günstigste Bilanz mit sich bringt. Der Stil des eigenen Handelns und des Umgangs miteinander, sowie eine gewisse Organisationskultur sind nur begrenzt eine Frage des persönlichen Temperamentes, der „Kinderstube“, der frei „reflektierten“ Rollenübernahme oder des Beziehungs- und Identitätsmanagements in einer Organisation. Sie sind viel mehr das Ergebnis der strategischen Interdependenzen der Menschen und der institutionellen Definition der Spielregeln, unter denen diese Interdependenzen in Handeln überführt werden müssen.
Exkurs über den Begriff der Figuration Soziale Rollen erzeugen feste Erwartungen an das Verhalten der Akteure, die die jeweiligen Positionen besetzen, und gerade darauf beruht ja einer der angenommenen Vorzüge von Organisationen: Das Handeln in ihrem Rahmen ist zunächst kein hochkontingentes strategisches Handeln mehr, weil es sich mit der „Organisation“ der Beziehungen „nur“ noch um eine sog. parametrische Situation und um ein „Spiel gegen die Natur“, gegen die „Natur“ der institutionellen Regeln nämlich, handelt (vgl. dazu auch schon Kapitel 1 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Diese „Parametrisierung“ der Situation ist ja gerade eine der ordnungsstiftenden Folgen von Institutionen, sozialen Normen und Rollen allgemein.
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rung haben von den Organisationen der „Industrie“ bis hin zu den abstraktesten Gebilden wie Staat, Verwaltung oder die Weltgesellschaft insgesamt. Diese Sicht mit dem einzelnen Akteur im Zentrum des Geschehens und der Erwartungen ist genau die Art, wie man sich in weiten Bereichen der Soziologie den „Kontext“ der Akteure denkt, etwa in der sog. Kontextanalyse und auch im Konzept der egozentrierten Netzwerke (vgl. dazu Kapitel 11 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und Kapitel 7 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Elias nennt diese Vorstellung dann auch das „Grundschema des egozentrischen Gesellschaftsbildes“ der Soziologie. Bei den verschiedenen Akteuren können diese Umwelten jeweils anders aussehen und auch sehr komplex sein, die Grundidee bleibt jedoch immer die gleiche: „An die Stelle von ‚Familie‘, ‚Schule‘, ‚Industrie‘ oder ‚Staat‘ können Figurationen wie ‚Universität‘, ‚Stadt‘, ‚System‘ und zahllose andere treten. Was sie auch sein mögen, das typische Grundschema der vorherrschenden Verbegrifflichung solcher gesellschaftlicher Gruppierungen und der Selbsterfahrung, die in ihr zum Ausdruck kommt, entspricht weitgehend der angegebenen Figur, die den einzelnen Menschen, das einzelne ‚Ich‘ umgeben von ‚sozialen Gebilden‘ zeigt, die begrifflich so erfaßt sind, als ob es sich um Gegenstände jenseits und außerhalb des einzelnen ‚Ich‘ handele. Zu diesen Begriffen gehört gegenwärtig auch der Begriff der ‚Gesellschaft‘.“ (Ebd.)
Dieses Modell kritisiert Elias heftig: Gesellschaften und andere soziale Gebilde seien keine von den Individuen irgendwie „unabhängig“ zu denkenden Wesenheiten, die sich in einer Art von Zwiebelschale um die einzelnen Akteure herum anordnen und dann als fester „Kontext“ der sozialen Beeinflussung fungieren. Der einzelne Akteur sieht die Welt dabei zwar wohl aus seiner eigenen Perspektive und sich im Mittelpunkt des Geschehens: „Jeder dieser Menschen ist, wie man es objektivierend ausdrückt, ein ‚Ego‘ oder ‚Ich‘. Zu diesen Menschen gehört man auch selbst.“ (Ebd., S. 12)
Aber das könne nicht auch die Sichtweise der Soziologie sein. Soziale Gebilde seien vielmehr immer nur Geflechte von untereinander verbundenen und miteinander interdependenten Akteuren, die sich in einem prozessualen System von sog. Machtbalancen verfangen hätten, über das kein einzelner Akteur so einfach bestimmen könne. Und man könne daher die sozialen Gebilde nur ganz unzureichend erfassen, wenn man sie bloß als „soziale Umgebung“ dem einzelnen Akteur zuordne. Es werde deshalb ein ganz falsches Bild der Akteure erzeugt, wenn man sie sozusagen als Zentrum des Geschehens und als „zentralen“ Ansatzpunkt für die Erklärung der sozialen Prozesse ansehe. Für diese Wechselseitigkeit und Verbundenheit der Akteure und der sich daraus erst ergebenden prozessualen Konstitution sozialer Gebilde als mehr oder weniger labile Machtgleichgewichte hat Elias den Begriff der Figura-
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tion geprägt. Jeder einzelne Akteur sieht sich darin zwar immer nur von seiner Perspektive aus und von jenem Ausschnitt her, dem er im Gesamt-System zugehört. Er ist dabei jedoch immer gleichzeitig Objekt und Teil der Wahrnehmungen und Orientierungen anderer Akteure oder muß im Prinzip damit rechnen. In seinen eigenen Handlungen hat er dann auch direkten und indirekten Einfluß auf die Situation der anderen Akteure. Er produziert und konstituiert die jeweilige Figuration immer zu einem Teil sebst mit und in Interaktion mit anderen Akteuren. Eine Soziologie, die diese Wechselseitigkeiten und Verflechtungen mißachte, müsse zu einer ganz und gar irreführenden Perspektive kommen. Und deshalb müsse sich auch dieses üblich gewordene Bild einer Gegenüberstellung und ontologischen Trennung von „Individuen“ hier und „Gesellschaft“ da nachhaltig ändern: „An die Stelle dieser herkömmlichen Vorstellungen tritt ... das Bild vieler einzelner Menschen, die kraft ihrer elementaren Ausgerichtetheit, ihrer Angewiesenheit aufeinander und ihrer Abhängigkeit voneinander auf die verschiedenste Weise aneinander gebunden sind und demgemäß miteinander Interdependenzgeflechte oder Figurationen mit mehr oder weniger labilen Machtbalancen verschiedenster Art bilden, z.B. Familien, Schulen, Städte, Sozialschichten oder Staaten.“ (Ebd.)
Zur Verdeutlichung seiner Vorstellung über das Konzept der Figuration fügt er die folgenden Skizze an (Abbildung 9.3). Das ist eine etwas ungewöhnliche Darstellung und eine auch nicht ganz übliche Terminologie. Figurationen sind, wenn man von den etwas skurrilen Bezeichnungen absieht, offenbar so etwas wie die Handlungsfelder, von denen gerade oben in Abschnitt 9.6 die Rede war: Geflechte von Interdependenzen und Beziehungen (aller Art; vgl. dazu insgesamt auch schon Abschnitt 2.1 über „Soziale Systeme“ in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und daraus ergibt sich, daß „ ... kein Akt der einen Seite allein als Akt dieser einen Seite zu erklären ist, sondern allein als Fortsetzung der vorangehenden Verflechtung und der erwarteten zukünftigen Verflechtung von Akten beider Seiten.“ (Ebd., S. 87)
Ein etwaiges Gleichgewicht ist dann auch keine festgefügte „Statik“, sondern das Resultat von einander wechselseitig neutralisierenden bzw. blockierenden Macht- und Dependenzeinflüssen: „Im Zentrum ... des Figurationsprozesses steht ein fluktuierendes Spannungsgleichgewicht, das Hin und Her einer Machtbalance, die sich bald mehr der einen, bald mehr der anderen Seite zuneigt. Fluktuierende Machtbalancen dieser Art gehören zu den Struktureigentümlichkeiten jedes Figurationsstromes.“ (Ebd., S. 142f.)
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auch immer noch gibt: Der Mensch ist kein autonomer „homo clausus“, er steht als Einzelner nicht im Mittelpunkt des sozialen Geschehens, und die sozialen Prozesse und Strukturen lassen sich nur angemessen verstehen und erklären, wenn man sie in der Tat als das meist nicht intendierte Ergebnis von Interdependenzen, Verflechtungen, dynamischen Gleichgewichten und prozessualen Pfadabhängikeiten konzipiert und rekonstruiert. Das war es ja gerade, was unter anderem in Abschnitt 9.6 oben zum Verhältnis von formaler Rollenstruktur und den faktischen Machtbeziehungen in Organisationen herauskam: Die formalen Positionen und die darauf eingewiesenen Akteure sind das eine, die von ihnen gebildeten Machtbalancen das andere. Und erst in der simultanen Betrachtung der formalen institutionellen Strukturen und der faktischen Interdependenzen der Akteure wird das auf der empirischen Oberfläche zunächst oft seltsam erscheinende Geschehen verständlich. Dann aber richtig. Die Goffmanschen Handlungsfelder oder das Konzept des „organisierten Handelns“, wie es Crozier und Friedberg für die von ihnen gefundenen Verhältnisse in den Werkstätten des Monopole Industriel nennen, erfüllen wohl die Bedingungen, bei denen auch Elias von „Figurationen“ sprechen würde: Es sind komplizierte, dynamischen „Balancen“ von Macht, formalen Vorgaben und dem übergreifenden kollektiven Interesse an der Erfüllung des Organisationszieles mit allerlei Beigaben strategischer Situationen der antagonistischen Kooperation und der Versuche des Erhalts und der Erweiterung von Handlungsspielräumen und der Identitätsbehauptung inmitten aller dieser Zwänge.
Was Elias nun genau unter einer Figuration versteht und wie man dieses Konzept in das inzwischen vorliegende Instrumentarium der (erklärenden) Soziologie einzuordnen hat, ist nicht ganz einfach zu rekonstruieren. Seine verstreuten und nicht immer eindeutigen Hinweise dazu legen (mindestens) vier Interpretationen nahe. Erstens – und wohl am unstrittigsten – die Interdependenz der Akteure, so wie wir sie etwa in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ im Zusammenhang mit dem Konzept des Tausches und der (wechselseitigen) Macht besprochen haben. Dann wohl auch in dem Sinne, daß Akteure Netzwerke von Beziehungen bilden, so wie sie in Kapitel 7 von Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“ dieser „Speziellen Grundlagen“ dargestellt wurden, und daß sich, je nach der Struktur der Beziehungen, andere Handlungsoptionen und andere Handlungsfolgen erwarten lassen. Schließlich scheint Elias auch an Verkettungen von Handlungen und Handlungsfolgen dergestalt zu denken, wie sie u.a. in dem Konzept der (eigendynamischen) Situationslogik in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ besprochen wurden. Gelegentlich gibt es auch Hinweise, daß Elias an gewisse Konstellationen von strategischen Situationen gedacht hat und daran, daß sich die Akteure dabei gelegentlich in Fallen verfangen, die sie eigentlich nicht wünschen und aus denen sie nicht alleine herauskommen – so wie wir solche Situationen, etwa die des Gefangenendilemmas, in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich behandelt haben.
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Elias wußte nichts von dem Konzept der Netzwerke, wohl auch nichts von der Idee der Macht-Beziehungen als Interdependenzen oder gar von der modernen Spieltheorie. Woher auch? An einer Stelle seines Büchleins „Was ist Soziologie“ wird jedoch sichtbar, daß er durchaus so etwas im Sinn hatte. Er spricht von „Spielmodellen“, in denen sich die „Beziehungen interdependenter Menschen“ abstrakt darstellen und schematisieren ließen, wobei er „Zweipersonenspiele“ und „Vielpersonenspiele“ und die wiederum auf einer und auf mehreren Ebenen unterscheidet (vgl. Elias 1970, Kapitel 3: Spiel-Modelle). Er hat ganz offensichtlich die gleiche Intuition gehabt, die zur Erfindung der richtigen Spieltheorie führte (vgl. dazu ausführlich Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Akteure befinden sich in „strategischen“ Situationen und verfangen sich u.U. in „Machtbalancen“, die sie so nicht immer wünschen und aus denen sie durch einen einsamen Entschluß nicht herauskommen. Von der orthodoxen Elias-Schule ist er übrigens für diesen schüchternen (und etwas ungeschickten) Flirt mit der erklärenden Soziologie, die es ja auch damals in Ansätzen wenigsten schon gab, durchaus gescholten worden: Er vermeide, so schreibt Karl-Siegbert Rehberg in einer gestrengen Fußnote seines ansonsten, wie üblich, höchst adorativen Beitrags, „die Gefahren formalistischer Abstraktion nicht ganz, z.B. bei der Darstellung seiner ‚Spiel-Modelle‘“.21 Als Elias sein Konzept der Figuration entwickelte, hatte er sicher nicht Unrecht in seiner Kritik an einer allzu „statischen“ und „egozentrierten“ Soziologie, wenngleich er in seiner Kritik etwa an Talcott Parsons oder insbesondere an Max Weber auch deutlich über das Ziel hinausgeschossen ist und manches ganz und gar mißverstanden haben muß, was diese Autoren wirklich gedacht und geschrieben haben (vgl. etwa Elias 1976a, S. XLIIIff.). Von daher wird schon verständlich, daß er sein Konzept für eine brilliante und revolutionäre Neuerung angesehen hat. Wenn man bedenkt, daß der „Prozeß der Zivilisation“ schon 1939 herausgekommen ist, dann wird dieser Stolz noch verständlicher. Und es wird auch nachvollziehbar, daß nach der Wiederentdeckung von Elias in den späten sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, viele in seinen Ideen eine „neue“ Soziologie sahen und ihm enthusiastisch und oft sehr kritiklos gefolgt sind. Es hat zeitweise sogar eine eigene Elias-Schule gegeben, die aber nach seinem Tod im Jahre 1991 in den üblichen Diadochenkämpfen verfallen ist. Zum Glück nicht zuletzt für die Würdigung der ansonsten wirklich großen Leistungen von Elias für die Soziologie. 21
Karl-Siegbert Rehberg, Form und Prozeß. Zu den katalysatorischen Wirkungschancen einer Soziologie aus dem Exil: Nobert Elias, in: Peter Gleichmann, Johan Goudsblom und Hermann Korte (Hrsg.), Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie, Frankfurt/M. 1979, S. 167.
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Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, daß es die Elias-Schule so gut wie nicht mehr gibt. Allmählich hat sich herumgesprochen, daß das Konzept der Figuration und damit die Beachtung von Interdependenzen, Netzwerken, situationslogischen Verkettungen und strategischen Situationen eine Sache ist, die eigentlich zu jeder guten soziologischen Erklärung dazu gehört. Raymond Boudon etwa, einer der wohl exponiertesten Vertreter des Konzeptes der erklärenden Soziologie, beruft sich in seinen Schriften ausdrücklich auf Elias und meint, mit guten Gründen, daß „seine“ Soziologie vollauf mit den Vorstellungen von Elias vereinbar wäre. Die ganzen „Grundlagen“ der Soziologie sind, wie man sicher hat bemerken können, nichts anderes als ein Plädoyer, die sozialen Prozesse in dem Sinne zu rekonstruieren, zu erklären und zu verstehen, wie das in dem Konzept der Figuration niedergelegt und beabsichtigt ist. Das Konzept des Methodologischen Individualismus und das der Situationslogik, wie sie u.a. in der Einleitung zu Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ noch einmal dargelegt wurden, sind nichts als Konkretisierungen auch der Ideen, die Elias mit dem Konzept der Figuration und der prozessualen Machtbalancen verbunden hat auch wenn manche das immer noch nicht verstehen wollen. Und es ist kein Wunder, daß diese Fehleinschätzungen korrigiert werden mußten, als die Elias-Schule zeitweise allzu lautstark so tat, als wäre sie der einzige und der allerneueste Weg und alle anderen, auch durchaus schon älteren, Entwicklungen und Vorschläge seien vor diesem Hintergrund daher obsolet oder irreführend, obwohl sie genau das taten, was Elias und die Elias-Schule als ihr Monopol betrachteten.22 Elias selbst hat das alles nicht mehr so recht verstanden23, und die EliasSchule schon gar nicht.24 Aber das ist ja auch nicht weiter tragisch und scha-
22
Hartmut Esser, Figurationssoziologie und Methodologischer Individualismus. Zur Methodologie des Ansatzes von Norbert Elias, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 36, 1984, S. 667-702
23
Vgl. auch seinen Beitrag zu Popper und die Entgegnungen darauf von Autoren, von denen mindestens einer die Arbeiten von Popper sicher besser kannte und besser beurteilen konnte als Elias: Nobert Elias, Das Credo eines Metaphysikers. Kommentare zu Poppers „Logik der Forschung“, in: Zeitschrift für Soziologie, 14, 1985a, S. 93-114; Hans Albert, Mißverständnisse eines Kommentators. Zu Norbert Elias, Das Credo eines Metaphysikers. Kommentare zu Poppers „Logik der Forschung“ (ZfS 2/1985), in: Zeitschrift für Soziologie, 14, 1985, S. 265-267; Hartmut Esser, Logik oder Metaphysik der Forschung? Bemerkungen zur Popper-Interpretation von Elias, in: Zeitschrift für Soziologie, 14, 1985, S. 257-264. Siehe auch noch die Entgegnung von Elias darauf wiederum: Norbert Elias, Wissenschaft oder Wissenschaften? Beitrag zu einer Diskussion mit wirklichkeitsblinden Philosophen, in: Zeitschrift für Soziologie, 14, 1985b, S. 268-281.
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det seiner großen Leistung in keiner Weise: Wenn die Zwerge der erklärenden Soziologie auf den Schultern der Riesen der „klassischen“ Soziologie stehend etwas weiter blicken, dann werden diese Riesen dadurch nicht kleiner (und die Zwerge auch nicht größer)! Und die Wissenschaften beginnen ihren Weg ohnehin ja erst dann wirklich zu gehen, wenn ihre Konzepte und Theoreme sich von den Personen, Schulen und Paradigmen abzulösen beginnen und wenn die „Geschichte“ eines Fachs und die Parade der großen Namen und Richtungen nicht mehr im Zentrum der Ausbildung und der Diskussionen steht, sondern nur noch eine lehrreiche Verzierung sind.
9.7
Organisationen als „rationale“ soziale Systeme
Organisationen gelten oft als „rationale“ Konstruktionen zur möglichst effizienten Produktion gewisser Ressourcen. Sie werden daher manchmal als Teil der „Rationalisierung“ des gesellschaftlichen Lebens angesehen, und es ist kein Zufall, daß sie mit dem Prozeß der „Entzauberung“ der Welt und der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft wenigstens empirisch auf das Engste verbunden sind.
Das Modell der rationalen Bürokratie
Besonders Max Weber war davon fasziniert. Von ihm stammt die Vorstellung von der „rationalen“ Herrschaft durch die moderne bürokratische Verwaltung.25 Ihre idealtypischen Kennzeichen hat er in zehn Eigenschaften so zusammengefaßt: „Die Gesamtheit des Verwaltungsstabes besteht im reinsten Typus aus Einzelbeamten ..., welche 1. persönlich frei nur sachlichen Amtspflichten gehorchen, 2. in fester Amtshierarchie, 3. mit festen Amtskompetenzen, 4. kraft Kontrakts, also (prinzipiell) auf Grund freier Auslese nach
24
Vgl. für viele etwa Hermann Korte, Die etablierten Deutschen und ihre ausländischen Außenseiter, in: Peter Gleichmann, Johan Goudsblom und Hermann Korte (Hrsg.), Macht und Zivilisation. Materialien zu Norbert Elias’ Zivilisationstheorie 2, Frankfurt/M 1984, S. 272ff.
25
Vgl. dazu Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 124ff.
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5. Fachqualifikation im rationalsten Fall: durch Prüfung ermittelter, durch Diplom beglaubigter Fachqualifikation angestellt (nicht: gewählt) sind, 6. entgolten sind mit festen Gehältern in Geld, ..., 7. ihr Amt als einzigen oder Haupt-Beruf behandeln, 8. eine Laufbahn ... vor sich sehen, 9. in völliger ‚Trennung von den Verwaltungsmitteln‘ und ohne Appropriation der Amtsstelle arbeiten, 10. einer strengen einheitlichen Amtsdisziplin und Kontrolle unterliegen.“ (Weber 1972, S. 126f.; Hervorhebungen im Original)
Max Weber beeilt sich hinzuzufügen: „Diese Ordnung ist im Prinzip in erwerbswirtschaftlichen oder karitativen oder beliebigen anderen private ideelle oder materielle Zwecke verfolgenden Betrieben und in politischen oder hierokratischen Verbänden gleich anwendbar und auch historisch (in mehr oder minder starker Annäherung an den reinen Typus) nachweisbar.“ (Ebd., S. 127; Hervorhebung nicht im Original)
Also: Es ist seiner Meinung nach ein Modell für Organisationen für alle Zwecke und für alle funktionalen Sphären. Ausdrücklich erwähnt er als Beispiele noch Privatkliniken und Ordenskrankenhäuser, die Kirchen, die großkapitalistischen Betriebe und das Heer. Sie alle folgen, bei ihren höchst unterschiedlichen Zielen und Zwecksetzungen, den Grundsätzen der „rationalen“ Bürokratie.
Befehl und Zweck-Mittel-Schema
Die Grundüberlegung ist ganz naheliegend: Der wie auch immer inhaltlich definierte Zweck der Organisation wird von einem Leiter durch entsprechende Anweisungen in der Hierarchie von oben nach unten durchgesetzt, und die Mitglieder des Organisations-„Stabes“ tun im Rahmen der ihnen vorgegebenen Ordnung, was ihnen gesagt wird ohne Ansehen der Person, nur ihren speziellen Pflichten gehorchend und durch die feste Bezahlung und die vorgegebene Karriere auch ohne Versuchungen zu moral hazard und ohne Gefahr der Ausnutzung eines eventuellen Machtspielraumes, wie das etwa in den Werkstätten des Monopole Industriel zu beobachten war. Das zentrale Mittel der rationalen Organisation ist dabei der Befehl: die unbefragte und rein „sachliche“ Ausführung einer in ihrer Reichweite genau umrissenen Anweisung in einer speziellen Situation. Der Befehl kombiniert dabei zwei wichtige Aspekte des Handelns in Organisationen: Er informiert den Befehlsempfänger über das, was geschehen muß; und er motiviert ihn gleichzeitig, sei es über die Autorität des Befehlsgebers, sei es über Sanktionsdrohungen. Die Grundlage für die Pauschalakzeptanz von Befehlen ist da-
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bei die „legale“ Herrschaft: der geteilte Glaube an die Legalität zur allgemeinen Regelsetzung und zur konkreten Anweisung durch den jeweiligen „Herrscher“, den Vorgesetzten also (vgl. dazu auch schon Kapitel 4 oben, sowie noch Kapitel 11 unten in diesem Band). Die legale Herrschaft ist damit das entscheidende Instrument zur „rationalen“ Umsetzung des jeweiligen Organisationszieles. Sie stellt über den Mechanismus des Befehls sicher, daß die vom Leiter als instrumentell nötig erachteten Maßnahmen auch bruchlos und unverzüglich ausgeführt werden. Die „rationale“ Organisation ist damit also so etwas wie eine gigantische, nach festen „Gesetzen“ aufgebaute und gut funktionierende Maschine, und der Stab der Angestellten (oder Beamten) ist nichts als eine Verlängerung der Absichten und der Direktiven der Leitung, die wiederum nichts als das Organisationsziel im Blick hat. Niklas Luhmann hat diese Grundstruktur in einem, auch ansonsten höchst beachtlichen, (frühen) Beitrag zu dem Problem so zusammengefaßt: „An der Spitze der Organisation werden die Zwecke gesetzt. Die Handlungen, die als Mittel dazu erforderlich sind, werden Untergebenen als Aufgabe zugewiesen. Diese delegieren ihrerseits Unteraufgaben an Unterinstanzen usw., bis der Boden der Hierarchie, das reine Ausführungshandeln, erreicht ist. Weil die Zwecke den Mitteln vorgeordnet sein sollen, und um diese Vorordnung zur Geltung zu bringen, müssen Vorgesetzte den Untergebenen vorgeordnet werden. Die maßgebenden Kommunikationen laufen danach auf vertikaler Linie, und zwar von oben nach unten. Sie bilden, sei es als Regelsetzung, sei es als Einzelanweisung, das tragende Gerüst der Organisation. Deren Rationalmodell hat die Form einer Kompetenzordnung für Befehlsgebung und Befehlsausführung. Ein System nähert sich diesem Ideal, wenn es die dafür erforderlichen Arbeitseinstellungen erzeugen und Reibungen aus dem menschlich-sozialen Lebensbereich ausschalten kann. Dazu dienen die wesentlichen Komponenten des Weberschen Idealtyps bürokratischer Herrschaft, insbesondere: Ernennung des ‚Beamten‘ von oben, Trennung von Arbeit und Haushalt, Unpersönlichkeit der Amtsführung (oder, wie man heute sagt: institutionalisierte Rollentrennung), Fachschulung, Regelorientierung und besonders: eine an diese Einstellungen gebundene soziale Schätzung, die für deren menschliche Härten entschädigt.“ 26
Max Weber muß bei seinem Konzept der rationalen Verwaltung den preußischen Beamten und „Untertan“ vor Augen gehabt haben, und der Idealtypus der „rationalen“ Organisation erinnert schon sehr an einen Kasernenhof. Und so waren wohl auch viele der kapitalistischen Unternehmungen im 19. Jahr26
Niklas Luhmann, Zweck-Herrschaft-System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, in: Mayntz 1971a, S. 42f. Vgl. dazu insbesondere auch Luhmanns frühe Arbeit über „Funktionen und Folgen formaler Organisation“, in der viele dieser Beobachtungen und auch die später daraus radikalisierten theoretischen Folgerungen schon niedergelegt sind. Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964. Vgl. zur Interpretation der Organisation als „autopoietisches System“: Luhmann 2000, Kapitel 2: Organisation als autopoietisches System, S. 39-80.
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hundert (und später) organisiert: von innerbetrieblicher Demokratie und Mitbestimmung kaum etwas zu sehen.
Die Rationalität der rationalen Verwaltung
Woran aber bestand denn dann die besondere „Rationalität“, „rationalisierende“ und „entzaubernde“ Kraft der (bürokratisch verfaßten) Organisation? Sie bestand in einer wichtigen Errungenschaft auf der Schwelle des Übergangs von der feudal-stratifikatorischen zur demokratisch-funktionalen Differenzierung der Gesellschaft: die Einrichtung strikter Grenzen von Rücksichtsnahmen, Orientierungen und Zuständigkeiten und die fallweise Verknüpfung der Motive der Akteure mit den Direktiven der Organisationen (als den „Trägern“ der sich entwickelnden Funktionssysteme der Gesellschaft). So werden die für die Genese der modernen Gesellschaft so wichtige und typische Trennung von Arbeitsplatz und Haushalt, von Eigentum und Arbeitsmitteln, von Motiven und Leistungen abgesichert und die funktionale Spezialisierung der Tätigkeiten und Sphären und die dazu nötige Ent-Persönlichung der Orientierungen der Menschen unterstützt. Es ist eine Befreiung der technischen und sozialen Abläufe von Produktion und Reproduktion von allen traditionalen und emotionalen, etwa charismatischen, Bindungen und Rücksichtnahmen und damit ein enormer Schub in der Effizienz und Anpassungsfähigkeit der „Organisation“ des gesellschaftlichen Lebens. Die „rationale“ Organisation ist der Träger der gesellschaftlichen Modernisierung und fast alles, was heute zu Wohlstand und Versorgung und individueller Freizügigkeit beiträgt, wäre ohne sie nicht denkbar. Alles hängt vor diesem Hintergrund aber, wie es scheint, am vorgegebenen Zweck der Organisation, der dann „nur“ noch per Befehl und nach rein instrumentell „zweck“-rationalen Gesichtspunkten ausgeführt wird. Und das Befehlsmodell würde sich auch nicht ändern, wenn die Mitglieder der Organisation sich zuvor konsensuell auf den Zweck geeinigt hätten.
Die Realität des Zweck-Mittel-Schemas
Soweit der Idealtypus der „rationalen“ Organisation. Er gilt inzwischen als überholt. Es ist im Grunde das gleiche Problem, das schon die rein „normative“ Rollentheorie hatte (vgl. dazu schon Abschnitt 7.6 oben in diesem Band). Die Ausführungen zu den Organisationen als Handlungsfeldern mit den Beschreibungen der Rollendistanz und den prekären Rollenbalancen am Opera-
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tionstisch bei Goffmann und die der Machtbalancen zwischen Werkstattleitern, Produktionsarbeitern und Wartungspersonal bei Crozier und Friedberg in Abschnitt 9.6 gerade eben waren nur zwei der inzwischen zahllosen Belege dafür, daß es die institutionelle Struktur alleine, und der Mechanismus des Befehls schon gar nicht ist, die die Abläufe in Organisationen bestimmen, und daß derartige Vorgänge auch nicht als letztlich zu vermeidende Fehler oder Lücken im Stellenplan gesehen werden können. Menschen handeln eben nicht einfach nur nach normativen Direktiven, und das wäre auch für die Organisation selbst meist wenig funktional. Die immer bestehenden nichtfunktionalen wie funktionalen Interdependenzen und „Machtbalancen“ erzeugen eine Unzahl von Brüchen und „Paradoxien“ und unintendierten, keineswegs immer disfunktionalen Effekten, die sich dem einfachen ZweckMittel-Schema der „rationalen“ Organisation entziehen. Die wichtigsten Aspekte der Durchbrechung der einfachen Zweck-MittelStruktur von Organisationen hat Luhmann in dem bereits erwähnten Artikel in acht, immer noch gültigen, Punkten zusammengefaßt, die wir hier paraphrasiert wiedergeben wollen (Luhmann 1971a, S. 40f.): 1. Die Zwecke legen die nötigen oder angemessenen Mittel keineswegs immer eindeutig fest, und was als Organisationszweck vorgegeben wird, sind oft nur vage Direktiven mit weiten Interpretationsspielräumen. 2. Das Überleben von Organisationen ist keineswegs immer von der Erreichung ihres Zweckes abhängig, wie das etwa bei den Schulen und Universitäten der Fall ist, die bekanntlich nicht nur daran gemessen werden, ob sie den Schülern auch etwas beibringen, sondern etwa auch daran, ob sie den jeweiligen Zeitgeistströmungen entsprechen. 3. Zwecke determinieren das Handeln in Organisationen nicht eindeutig, weil sich aus ihnen nicht immer eindeutige operationale Unterziele ableiten lassen. Die Folge sind unvermeidliche Kompetenz- und Prioritätsstreitigkeiten zwischen den verschiedenen Abteilungen nach Maßgabe ihrer jeweiligen Oberziele. 4. Organisationen können auch mehrere Ziele gleichzeitig haben, die durchaus auch widersprüchlich sein können, wie etwa das Ziel von Lehre und Forschung in den Universitäten, zu dem heute noch das damit wieder unvereinbare Ziel der rechnerischen Effizienz kommen soll. 5. Für den Bestand von Organisationen ist es keineswegs erforderlich, daß die Mitglieder die Zwecke der Organisation kennen oder ihnen sogar zustimmen. Es genügt, wenn sie – warum auch immer – den Direktiven ihrer Position folgen. Dazu reicht meist eine angemessene Bezahlung. 6. Das Ziel der Organisation muß nicht auch das Ziel der Akteure sein und muß sie bei ihrem Handeln nicht motivieren. Im Gegenteil: Eine Organisation ist um so anpassungsfähiger, je lockerer die Verbindung zwischen den Zielen der Organisation und den Motiven der Akteure ist. Auch hierbei hilft das „Medium“ der Geldzahlung als Motivation ganz beträchtlich. 7. Die Ziele der Organisation können jederzeit umgedeutet, modifiziert oder sogar formal geändert werden. Manchmal ist das für den Erhalt der Organisation unerläßlich (siehe dazu auch schon oben). 8. Die Zweckerfüllung alleine kann die Bestanderhaltung einer Organisation nicht garantieren. Oft wäre das das Ende der Organisation, wie beim Salk-Institut, das zur Erfindung eines Mittels gegen die Kinderlähmung gegründet worden war, und nur unter Änderung ihres Zieles
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weiter bestehen konnte, nachdem der Impfstoff entwickelt war. Die Bestandserhaltung selbst – ganz unabhängig von einem spezifischen Zweck – ist es daher sogar meist, was die „hidden agenda“ der Entscheidungen in Organisationen ausmacht (siehe dazu auch schon Abschnitt 9.5 oben zum Wandel der Ziele von Organisationen).
Kurz: Wenngleich der Zweck und der institutionelle „Plan“ einer Organisation ein wichtiger Bestandteil ihres Agierens ist, kann von ihm aus allein das faktische Geschehen in Organisationen (und zwischen ihnen und ihren Klienten) nicht angemessen verstanden werden. Und jede wirklich erklärende Befassung mit Organisationen muß sich bemühen, wirklich alle wichtigen Umstände einzubeziehen. Wir wissen schon: Materielle Interdependenzen, institutionelle Regeln und kulturelle Muster bestimmen immer nur zusammen, was geschieht, und das in oft sehr komplexen und unerwarteten Aggregationen der individuellen Handlungen.
Die Durchbrechung der Hierarchien
Die Aufweichung des einfachen Zweck-Mittel-Schemas war ein erster Schritt zur Ablösung des Modells der „rationalen“ Organisation zugunsten anderer Konzepte. Ein zweiter Schritt folgte ebenfalls schon einigen frühen Ergebnissen der empirischen Organisationsforschung. Es ist die Feststellung, daß auch das einfache hierarchische Befehlsmodell empirisch so gut wie keine Geltung hat, und daß dies nicht als eine im Grunde vermeidbare oder unerwünschte „Pathologie“, wie Führungsschwäche der Direktoren oder Renitenz des Personals, verstanden werden kann, sondern als eine unmittelbare Folge der besonderen Bedingungen des Handelns in „modernen“ Organisationen. Auch diese Ergebnisse finden wir bei Luhmann hübsch übersichtlich in insgesamt 14 Punkten zusammengefaßt, und wieder paraphrasieren wir sie hier, weil sich an ihrer Richtigkeit und Relevanz kaum etwas geändert hat (vgl. Luhmann 1971a, S. 43ff.). 1. Das Befehlsmodell nahm an, daß die „Rationalität“ der Organisation von der Rationalität nur einer Person abhänge – der des Leiters. Das Ergebnis des Handelns „von“ Organisationen ist jedoch meist das Resultat komplexer kollektiver Prozesse, die sich nicht mehr aus der „Rationalität“ einzelner Akteure ableiten läßt. 2. Untergebene sind nicht einfach nur von ihren Vorgesetzten abhängig, sondern haben – etwa aufgrund ihrer speziellen und für das Funktionieren der Abläufe wichtigen Kompetenzen und Sachverständigkeiten – oft eine hohe Macht über ihre Vorgesetzten. In dem Beispiel der Werkstätten des Monopole Industriel von Crozier und Friedberg oben war das auch deutlich geworden. 3. Ein Teil dieser Macht resultiert aus den unumgänglichen Außenbeziehungen der Untergebenen, und der Vorgesetzte ist darauf angewiesen, daß die Untergebenen diese für sie nicht kontrollierbaren Kontakte nicht ausnutzen.
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4. Nicht alles kann von der Spitze her gelernt und wahrgenommen werden, und daher gewinnt die Initiative, Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft der unteren Stellen eine hohe Bedeutung. 5. Anders als das Befehlsmodell es annimmt, haben die vertikal angeordneten Bereiche jeweils für sich auch eine „horizontale“ Funktion. Die einzelnen Hierachieebenen stehen also nicht nur in einem Verhältnis von Befehl und Ausführung, sondern auch in einem der funktionalen „Arbeitsteilung“. Auch dadurch ebnet sich im faktischen Vollzug die Hierarchie der Befehlsstruktur zugunsten einer mehr „horizontalen“ Abhängigkeit ein. Es ist eine Art von „stratifikatorischer Differenzierung“ der Organisation, bei der die verschiedenen „Schichten“ auch typische „Funktionen“ innehaben, und nicht nur ausführen, was von oben kommt. 6. Die Abstimmungserfordernisse in den modernen Organisationen verlangen regelmäßige Einigungen der verschiedenen betroffenen Abteilungen. Dabei tritt der Vorgesetzte nicht mehr als Direktivengeber, sondern eher als Moderator, als Helfer in sonst nicht lösbaren Konflikten, als „Lückenbüßer“, manchmal auch als für den Fortgang des Geschehens nützlicher Sündenbock auf. 7. Als Folge dieser Prozesse verlagert sich die Ebene, von denen gewisse Initiativen ausgehen: Befehle werden von unten „angeregt“, wenn sie dort als nötig empfunden werden, und es gibt eine deutliche Zunahme des Interesses an Berichten von unten nach oben. 8. Für die Entscheidungen der Organisationsleitung werden zunehmend vorbereitende Zusammenkünfte erforderlich, und die „Entscheidung“ kann, wegen des meist hohen Grades an Unsicherheit und des Fehlens von Informationen, dann oft nicht nach ihrer „Rationalität“ beurteilt werden. 9. Die formal zugewiesene Befehlskompetenz und die faktischen Machtverhältnisse können – aufgrund der beschriebenen Interdependenzen – weit auseinanderfallen. Die formale Hierarchie spiegelt keineswegs immer auch die wirkliche Machtstruktur in einer Organisation. 10. Der höhere Status des Vorgesetzten gewinnt mehr und mehr eine multifunktionale Bedeutung, wozu insbesondere auch die Repräsentation nach außen und die Identifikation nach innen gehört. Vorgesetzte sind als „Persönlichkeit“ in diesem Sinne eher ein Teil der Organisationskultur und der Identifikation mit dem Unternehmen, denn eine für das Geschehen und den Erfolg auch „substantiell“ zentrale Figur. 11. Befehle gibt es eigentlich nur noch beim Militär, in der Katholischen Kirche und am Lehrstuhl Esser in Mannheim, und wenn es denn anderswo einmal sein muß, dann wird er in allerlei beschönigende Floskeln der Konsensfindung eingepackt. 12. Befehle werden gerade auch dadurch immer bedeutungsloser, daß sie zur „Motivation“ der Untergebenen weder nötig noch angemessen sind. Nötig sind sie nicht, weil die Anreize der Entlohnung die erforderliche Motivation für ein organisationsdienliches Handeln erzeugen; und angemessen sind sie nicht, weil sie kulturell zu dem ent-hierarchisierten „polykontexturalen“ System einer modernen Organisation nicht passen. 13. Das Befehlsmodell hatte angenommen, daß es nur innerhalb der Organisation zu einem Konsens kommen müsse – über den Zweck der Organisation nämlich, und über die Legitimität der Leitung und der Legalität ihrer Befehle. Und daß ein einmal erzielter Konsens eine stabile Grundlage für alle Zeiten sei. Je weniger eindeutig jedoch die Zweckstrukturen und die faktischen Machtverhältnisse – nach innen wie nach außen – sind, um so wichtiger wird die immer wieder neue und möglichst breit gestreute Beschaffung von Zustimmung zu jedem speziellen Projekt, und eine derartige Zustimmung läßt sich eben kaum „befehlen“. 14. Die wörtliche Ausführung von Befehlen ist selbst beim Militär nicht immer sinnvoll. Stets kommt es auch auf ein Verständnis des „Geistes“ und des „Sinns“ einer Anweisung an. Und das erfordert die selbständige und verständige Reflexion der Direktiven durch die Untergebenen.
Das Befehlsmodell hatte, wie man sieht, die Organisation als eine recht „triviale“ Maschine angesehen: Man steckt oben eine Direktive hinein und be-
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kommt über gewisse, im Einzelfall durchaus komplexe, aber eindeutig „berechenbare“ Mechanismen der Ausführung einen erwartbaren Output heraus. Empirisch sieht das offenbar ganz anders aus: Organisationen sind komplizierte kollektive Gebilde mit einer Unzahl ganz unterschiedlicher Probleme des kollektiven Handelns und der Aggregation allerlei nicht beabsichtigter Folgen versehen. Und deshalb reicht, wie es aussieht, für ihre soziologische Analyse auch das einfache „handlungstheoretische“ Konzept nicht aus, das Max Weber noch angewandt hatte.
Welche „Rationalität“?
Organisationen sind also zuweilen: äußerst komplexe soziale Gebilde und sie haben wie es scheint auch eine Art von Eigenleben, das sich jeder Beeinflussung durch „natürliche“ Personen entzieht. Darin sind sie nicht allein. Auch auf andere „soziale Systeme“ trifft das zu. Aber bei den Organisationen zeigt sich die „Unabhängigkeit“ des kollektiven Prozessierens von den speziellen Motiven und Handlungen individueller und sogar mächtiger Akteure besonders deutlich. Gerade daraus ergab sich eine weitere Kritik am Modell der „rationalen“ Organisation: Die „Rationalität“ des Handelns der Akteure, etwa des Leiters, erzeugt noch lange keine „Rationalität“ des „Verhaltens“ der Organisation als kollektive Einheit. Das ist das uns wohlvertraute Problem der Unabhängigkeit der individuellen Handlungsmotive und der kollektiven Ergebnisse, und es ist ein Spezialfall des Theorems von den unintendierten Folgen absichtsvoller Handlungen: Organisationen sind kollektive Phänomene und deshalb gehen sie, wie alle anderen kollektiven Prozesse, in den individuellen Effekten des Handelns der Akteure eben nicht auf. Es gibt noch einen weiteren Einwand gegen die These von der besonderen Rationalität der Organisationen: Gerade in Organisationen würden die Akteure nicht „rational“ und den Regeln der Wert-Erwartungstheorie folgend handeln, sondern sich meist unreflektiert und blind an die etablierten Regeln und Routinen halten, wie sie sich in der Organisation als „Standard Operating Procedures“ herausgebildet haben.27 Befehle würden im übrigen zu solchen Standard Operating Procedures dazu zu zählen sein. Empirisch ist das ohne Frage richtig, ähnlich wie im übrigen für die allermeisten der einigermaßen „organisierten“ Alltagsaktivitäten auch. Und es käme für eine „realistische“ Theorie 27
Vgl. dazu insbesondere schon March und Simon 1961, Kapitel 6: Cognitive Limits on Rationality.
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der Organisation schon darauf an, für das unbefragte Handeln nach Regeln und Routinen (und Befehlen) eine erklärende Antwort zu finden. Danach müssen wir freilich nicht mehr lange suchen: Es ist ein Spezialfall der Erklärung der Befolgung von Normen, und das in Abschnitt 3.3 oben in diesem Band vorgestellte Modell der „unbedingten“ Orientierung an normativen Vorgaben wäre eine der Möglichkeiten dazu. In Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ werden wir dieses Problem der Erklärung der Orientierung an Regeln und Routinen (und auch der Abweichung davon!) noch einmal aufgreifen. Und dort zeigt sich, daß das Handeln nach Regeln und Routinen nichts ist als ein Spezialfall des „rationalen“ Handelns. Denn: Warum sollte ich einer Routine, die bis dahin gut funktioniert hat, nicht folgen, wenn es keinen erkennbaren Grund dafür gibt, daß jetzt alles anders sein solle wie bisher? Es war insbesondere Alfred Schütz, der diesen Gedanken formuliert und zur Grundlage seiner Soziologie des Alltags und der sog. „Lebenswelt“ gemacht hat, einem Alltag, der, wenn er eingespielt ist, ja in vielerlei Hinsicht dem Leben in einer (gigantischen und weitläufigen) Organisation gleicht.28
Ansonsten aber bleibt es natürlich auch für das Agieren im „Rahmen“ von Organisationen dabei: Die Akteure verfolgen ihre Ziele, und ihr Handeln folgt, auch in der Anwendung von Regeln und Routinen, den Regeln der Wert-Erwartungstheorie. Manche „Irrationalität“ der Abläufe läßt sich nur so erklären, wie die Überlagerung der Rollenstrukturen durch Macht und Interdependenzen und die Grenzen des Modells der „rationalen“ Bürokratie, wie sie oben beschrieben wurden. Es ist ganz ähnlich wie bei der Erklärung des Handelns unter der Geltung von Institutionen ganz allgemein: Die Regeln stecken das Feld des Handelns und die Arena des Geschehens ab, aber die Menschen nutzen und umgehen sie, vor dem Hintergrund immer auch ihrer Interessen und sonstigen Möglichkeiten.
Organisationen als „soziale Systeme“
Organisationen sind nach allem, was die empirische Organisationsforschung herausgefunden hat, also ganz anders als es das Webersche Modell der „rationalen“ bürokratischen Organisation annahm. Sie sind eben keine kompakten, abgegrenzten, einem eindeutigen Ziel verpflichteten, hierarchisch aufgebauten und nach dem Befehlsschema funktionierenden Einheiten, sondern mehr oder weniger nach außen offene und nach innen höchst „dynamische“ und, wie man meinen könnte, ganz und gar „unberechenbare“ soziale Systeme. Sie holen, sich das, was sie für ihr Überleben und ihren „Zweck“ brauchen, aus ihrer Umwelt. Und sie prozessieren, wenn es sie dann einmal gibt, nach ihren eigenen „Gesetzen“, immer aber in Abhängigkeit und Rückbezogenheit auf die jeweiligen inneren wie äußeren Umwelten. Die Akteure, die im Befehls28
Vgl. Alfred Schütz, Strukturen der Lebenswelt, in: Alfred Schütz, Gesammelte Aufsätze, Band 3: Studien zur phänomenologischen Philosophie, Den Haag 1971b, S. 153-170.
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modell ja noch durch den Organisationszweck motiviert waren und sich darin auch als „volle“ Persönlichkeit einzubringen hatten, sind nur noch „fallible“ Platzhalter auf formal definierten abstrakten Positionen und sie gehören damit zur (inneren) Umwelt der Organisation, die das reibungslose eigengesetzliche Funktionieren der Organisation eher gefährden als durch ihr Tun tragen. Gerade durch diese Trennung von Zwecken, Motiven und Handlungen gewinnen die Organisationen als „Systeme“ aber auch ihren besonderen Spielraum und ihre Anpassungskapazität, und es ist nicht mehr die Wahl „rationaler“ Mittel und die Erfüllung des Zwecks, die das Überleben der Organisation sichern, sondern ihr Bestand in einem nach vorne offenen evolutionären Prozeß. Das ist in etwa das Bild, das Niklas Luhmann mit seinen frühen, mit vielen richtigen empirischen Beobachtungen getränkten Arbeiten zum Funktionieren von Organisationen gezeichnet und später in der ihm eigenen soziologischen Systemtheorie auf alle sozialen Systeme erweitert hat. Warum die Dinge freilich so ablaufen, wie sie es denn tun – das kann man mit dem Bild von den Organisationen als sich selbst reproduzierende „soziale Systeme“ freilich kaum klären. Dazu bedarf es anderer Mittel – die Mittel der soziologischen Erklärung, natürlich (siehe auch noch den gleich folgenden Exkurs dazu). Die Rollenbalancen, die Erving Goffman beschrieb, bespielsweise ließen sich als Spezialfall der Wert-Erwartungstheorie bzw. der darauf aufbauenden Tauschtheorie rekonstruieren, mit dem jeweiligen „Stil“ des Handelns von Chefarzt, Assistenzarzt und Schwestern als Explanandum, und die Machtbalancen in der Werkstatt des Monopole Industriel über das Modell des Tauschgleichgewichts von James S. Coleman (vgl. Kapitel 12 in Band 3, „Soziales Handeln“, und Kapitel 5 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und dahinter steckt immer das Konzept der sozialen Produktionsfunktion und die typische Strukturierung der Interessen und der Möglichkeiten der Akteure. Versuchen Sie die Modellierung der beiden Fälle von Handlungsfeldern doch einmal! Und vielleicht kommen Sie ja auf noch eine andere Lösung als die vorgschlagene.
Kurz: Organisationen sind sich selbst reproduzierende, „autopoietische“ soziale Gebilde mit einem spezifischen „Sinn“, und damit ohne Zweifel „soziale Systeme“. Das aber sind Zusammenkünfte, Märkte und Gruppen auch (vgl. dazu schon ausführlich Kapitel 2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Und immer müssen, auch für die Erklärung der Entstehung, der Etablierung, des Prozessierens, des Wandels und des Verfalls von Organisationen die drei grundlegenden Probleme einer soziologischen Erklärung beantwortet werden: In welcher Situation befinden sich die Akteure? Was ist aufgrund der jeweiligen Situationslogik dann an Handeln und individuellen Effekten zu erwarten? Und was sind die kollektiven Folgen des Handelns der beteiligten Akteure innerhalb und außerhalb des jeweiligen sozialen Systems. Und dabei müssen stets die drei grundlegenden Elemente der Strukturierung sozialer Situationen gleichzeitig beachtet werden: materielle Möglichkeiten, institutionelle Regeln und kulturelle Muster und Rahmungen.
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Exkurs über die Bindestrich-Soziologien am Beispiel von Organisations-Soziologie und Verwaltungswissenschaft Eine Organisation ist, wie wir gesehen haben, oft eine recht komplizierte Angelegenheit, und die Organisations-Soziologie ist auch deshalb wohl ein inzwischen recht unübersichtliches Feld.29 Die Organisations-Soziologie hat dabei wie manche andere „Bindestrich-Soziologie“ auch immerhin den Vorteil, einen einigermaßen benennbaren Gegenstand vor sich zu haben, aber den Nachteil, daß es zur soziologischen Bearbeitung dieses Gegenstandes vieler und unterschiedlicher, teilweise über verschiedene Fächer verstreuter Strukturmodelle und Theorie-Module bedarf, die nicht überall da auch präsent sind, wo man sich mit Firmen, Verwaltungen, Verbänden und so weiter beschäftigt: das Theorem des kollektiven Handelns, die Spiel- und die Tauschtheorie, die Netzwerkanalyse oder Verhandlungs- und Koalitionsmodelle, zum Beispiel. Hinzu kommt, daß sich inzwischen viele Disziplinen mit dem Gegenstand befassen und alle auch etwas nennenswertes dazu beizusteuern haben: Die Juristen, die Volkswirte, natürlich die Betriebswirte, die (Sozial-) Psychologen, die Pädagogen, selbstverständlich auch die Historiker und sogar die Theologen hier und da, von den Soziologen ganz zu schweigen. Und jeder bringt etwas ein, das der jeweils andere nicht so recht kennt oder versteht: die einen das Coase-Theorem, die Transaktionskosten und das Principal-AgentProblem, die anderen die Corporate Identity, die symbolische Leitung, flache Hierarchien, die Standard Operation Procedures und die begrenzte Rationalität, und wieder andere die Rollenstrukturen und die strukturelle Äquivalenz der Beziehungen, die Rollendistanz, die Machtbalancen, die informellen Gruppen, die starken und die schwachen Netzwerke im Betrieb und die Interlocking Directorates zwischen ihnen. Und so wundert es kaum, daß bis heute niemand so recht weiß, wie mit den vielen unterschiedlichen Aspekten von Organisationen und den oben beschriebenen, und ohne Zweifel: unabweisbaren, Komplikationen des einfachen Organisationsmodells in einem einigermaßen überschaubaren Rahmen umgegangen werden soll. Es gibt folglich eine Reihe ganz unterschiedlicher und immer noch weitgehend nebeneinander stehender „Ansätze“, sich dem Problem zu nähern: die Organisation als rationales, als natürliches oder als offenes System, zum Beispiel.30 Wir haben in diesem Kapitel 9 soeben gesehen: An allem ist etwas dran, und keiner der speziellen Ansätze hat die Wahrheit gepachtet. Und so 29
Vgl. dazu auch als Dokument die verschiedenen Beiträge bei Kieser 1999 oder bei Ortmann, Sydow und Türk 2000.
30
So Scott 1998, Teil II: Three Perspectives on Organizations.
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gibt es inzwischen verständlicherweise auch die Einsicht, daß es doch wohl angeraten wäre, zu einer „einheitlichen“ Theorie der Organisation zu kommen, und dann möglichst auf der Grundlage von auch anderswo anwendbaren Aussagen. Davon ist die Organisations-Soziologie und besonders ihre politikwissenschaftliche Schwester, die Verwaltungswissenschaft indessen weit entfernt.31 Der Grund dafür ist der gleiche, mit dem die anderen BindestrichSoziologien es auch zu tun haben: Man erfindet am Beispiel seines speziellen inhaltlichen Gegenstandes die nötig scheinenden Konzepte und Erklärungsbausteine selbst und meist sehr ad hoc und bemerkt nicht, daß es zu den jeweiligen Problemen vielleicht anderswo längst brauchbare Lösungen oder wenigstens Ansätze dazu gibt. Manchmal wächst sich die handgestrickte Nische einer bindestrichsoziologischen Bemühung dann auch zu einer eigenen „Theorie“ aus, die, wenn alles schief geht, dann, selbstverständlich mit viel philosophischem Tiefsinn garniert, obendrein noch „Universalität“ und eine Leitfunktion für den Rest der Welt beansprucht. Das wohl gravierendste Beispiel für eine derartige Spezialerfindung einer „allgemeinen“ Theorie, die sich dann zu einem eigenen Paradigma aufzublähen vermochte, war die Entwicklung und Verbreitung der soziologischen Systemtheorie durch Niklas Luhmann, die, wie man leicht erkennen kann, gerade durch seine frühen Studien zur bürokratischen Organisation motiviert und empirisch inspiriert waren. Diese Studien sind äußerst wichtig und weiterführend gewesen, und das ohne Zweifel auch weit über die Soziologie hinaus. Dabei kam Luhmann sicher zugute, daß er selbst lange Zeit Verwaltungsangestellter war. Aus den oben in Abschnitt 9.7 vor allem geschilderten empirischen Ergebnissen der Organisationsforschung hat er erste „systemtheoretische“ Schlüsse gezogen, die er dann später, wie wir wissen, fortgesponnen, radikalisiert und in ihrer Anwendung drastisch erweitert hat. Aus diesen zum großen Teil zutreffenden und plausiblen organisationssoziologischen Beobachtungen und Überlegungen hat sich die soziologische Systemtheorie inzwischen zu einer im Prinzip ganz ähnlichen Sichtweise für all die anderen „sozialen Systeme“ entwickelt: Es seien, wie die Organisationen, allesamt „autopoietische“ Systeme, die sich in Sinnabgrenzung zu gewissen inneren und äußeren Umwelten nach ihren eigenen Gesetzen durch anschlußfähige Kommunikationen reproduzieren, und zwar unter Verwen-
31
Vgl. dazu die Ausführungen bei Günther Ortmann, Jörg Sydow und Klaus Türk, Organisation, Strukturation, Gesellschaft. Die Rückkehr der Gesellschaft in die Organisationstheorie, in: Ortmann, Sydow und Türk 2000a, S. 15-34.
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dung von Mitteln, die sie aus den Umwelten beziehen.32 Und manche glauben, daß diese Perspektive auch ganz unumgänglich wäre, weil nur die soziologische Systemtheorie in der Lage wäre, mit der auch anderswo erkennbaren Unanwendbarkeit des einfachen Zweck-Mittel-Schemas und den nun überall unübersehbaren Begrenzungen des Konzeptes einer „unilinearen“ Kausalität zurechtzukommen. Wir wissen es wie immer besser. So ist zwar, wie wir oben in Abschnitt 9.6 und 9.7 gesehen haben, ohne Zweifel den Beobachtungen der empirischen Organisationssoziologie und der Kritik am einfachen Befehlsmodell der „rationalen“ Organisation zuzustimmen. Aber eine theoretische Antwort auf die Komplikationen von Organisationen als „offene“ Systeme oder „nicht-triviale Maschinen“ ist die soziologische Systemtheorie nicht: Sie erklärt – schon nach eigenem Bekunden – das Geschehen eben nicht, sondern beschreibt es nur noch einmal in einer zuweilen eigenartigen Terminologie. Manchmal erzeugt sie auch den Eindruck, daß es „nomologische“ Erklärungen dafür auch nicht geben könne, weil, etwa, das Hempel-Oppenheim-Schema nur „einfache“ und „unilineare“ Kausalitäten kenne und daher vielleicht noch mit den „trivialen“ Verhältnissen des Befehlsmodells zurechtkomme, nicht aber mit den hochkomplexen Prozessen bei Organisationen als „soziale Systeme“.
Das ist, wie man vor dem Hintergrund der Möglichkeiten der seriösen Systemtheorie der Naturwissenschaften und der Ökonomie mit ihren inzwischen gut ausgebauten Instrumenten zur Modellierung und Erklärung gerade von nicht-linearen dynamischen Prozessen und des oft „paradoxen“ Verhaltens von „Systemen“, die Akteure in gewissen strategischen Situationen bilden, inzwischen überall wissen kann, freilich nichts als Unfug. Und man muß sich schon wundern, warum viele, darunter auch einige durchaus informierte Soziologen und Organisationsforscher, der Begriffsakrobatik der soziologischen Systemtheorie erliegen, obwohl sie doch sehen müssen, daß mit ihr vieles möglich ist, nur keine „Erklärung“ wie das etwa Peter Kappelhoff unverständlicherweise tut.33 Die soziologische Systemtheorie ist ohne Zweifel eine ergiebige Fundgrube für Anregungen und interessante, anderswo vielleicht in der Tat etwas vernachlässigte Perspektiven, aber eben noch lange keine erklärende Theorie. Und sie will das auch gar nicht sein. Zur erklärenden Bearbeitung der Probleme muß man dabei die Nachbarwissenschaften noch nicht einmal direkt bemühen. Man muß sich nur daran erinnern, welche Möglichkeiten der 32
Vgl. zum Konzept des „sozialen Systems“ in diesem Sinne und seine Einordung in das Modell der soziologischen Erklärung auch schon Kapitel 27 in der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“, sowie Kapitel 2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, und Abschnitt 8.3 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
33
Vgl. dazu Peter Kappelhoff, Rational Choice, Macht und die korporative Organisation der Gesellschaft, in: Ortmann, Sydow und Türk 2000, S. 218-258; sowie die Entgegnung darauf von Hartmut Esser, Wie oft noch? Wie lange noch?, in: Ortmann, Sydow und Türk 2000, S. 259-62.
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Erklärung auch höchst komplexer Prozesse und paradoxer Vorgänge schon das Modell der soziologischen Erklärung bereithält, das ja überdies zu den Modellierungen der seriösen Systemtheorie vollkommen anschlußfähig ist und sie teilweise explizit übernimmt. Es müssen dabei natürlich – wie im Grunde bei jeder soziologischen Erklärung – für die soziologische Erklärung der Vorgänge bei Organisationen als speziellen kollektiven Gebilden auch die (mehr oder weniger) komplexen Interdependenzen der Akteure und die (wiederum: mehr oder minder) schwierigen Fragen der Transformation der individuellen Akte in ein kollektives Ergebnis berücksichtigt und behandelt werden. In den „Speziellen Grundlagen“ haben wir aber gerade dafür eine Reihe von Instrumenten und Modellen kennengelernt – wie etwa die Modelle der Spieltheorie, die von Verhandlungen, von Tauschgleichgewichten und von Interdependenzen aller Art, sowie die Erklärungen reproduktiver und evolutionärer Prozesse des Wandels sozialer Gebilde und Systeme. Sie alle können ein nomologisch-erklärendes Licht in die black box der in der Tat „nicht-trivialen Maschine“ einer modernen Organisation bringen, und es ist unnötig, auf die sicher meist recht turbulenten, oft unübersichtlichen und scheinbar unverständlichen Prozesse mit begrifflich turbulenten, argumentativ unübersichtlichen und schon semantisch unverständlichen Sätzen und Worthülsen zu antworten.
Zwar ist inzwischen das einfache Webersche Zweck-Mittel-Schema und das Befehlsmodell der Organisation ohne Zweifel (mega-)out, und einfache und uni-lineare Kausalitäten sind in der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Tat kaum zu finden. Aber es gibt durchaus Möglichkeiten mit den Komplexitäten der sozialen Prozesse und Systeme, auch denen der „modernen“ Organisationen erklärend umzugehen. Sie finden sich (unter anderem) in diesen „Speziellen Grundlagen“ der Soziologie, wenngleich an verschiedenen Stellen der insgesamt sechs Bände verstreut. Für eine eigene Organisations-Soziologie oder Verwaltungswissenschaft brauchte man diese Instrumente eigentlich nur aufzugreifen und auf das jeweilige Problem anzuwenden. Das gilt im übrigen für die anderen Bindestrich-Soziologien auch, wie etwa die Stadt-Soziologie, die Religionssoziologie oder die Soziologie der Familie. Von diesen speziellen Anwendungen könnte dann sicher auch wieder das Instrumentarium der soziologischen Erklärungen und Modelle profitieren. Hier und da geschieht das erfreulicherweise auch schon mehr und mehr, wenngleich meist noch etwas unentschlossen und verschämt, wie etwa beim „akteurstheoretischen Institutionalismus“ des Kölner Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung, der, wenn man nur etwa genauer hinsieht, eine etwas weichere Variante der erklärenden Soziologie zu sein beabsichtigt. Meist aber bleibt es bei der üblichen Praxis: nur ja dem Steckenpferd der jeweiligen Bindestrich-Soziologie die Scheuklappen nicht abzunehmen. Es könnte sich ja erschrecken.
Kapitel 10
Die Entstehung von Institutionen
Institutionen sind das wissen wir inzwischen soziale Regeln mit Geltungsanspruch. Wie aber kommen sie in die Welt, etablieren und wandeln sich? Institutionen entstehen nie ganz ab ovo. In den grauesten Vorzeiten der Entwicklung des homo sapiens schon gab es mindestens Vorformen von sozialen Regeln. Auf solchen beruhte der enge Familien- und Gruppenzusammenhang, der für die frühen Formen der menschlichen Existenz geradezu lebensnotwendig war. Der Übergang von der Instinktsteuerung des Verhaltens zur Steuerung durch Regeln ist durchaus gleitend: Schon Schimpansen und Primaten und sogar Vögel und andere „höher“ entwickelte Lebewesen kennen so etwas wie „Institutionen“. Obwohl es soziale Regeln für menschliche Gesellschaften also „immer schon“ gegeben hat, lassen sich dennoch Situationen unterscheiden, in denen der Grad der bereits vorhandenen Regelung größer oder kleiner ist. Die Passagiere der Mayflower etwa mußten sich noch vor ihrer Ankunft eine Verfassung für ihr neues Leben geben, weil – wie sich an Bord auf hoher See herausstellte – nicht alle an Bord die gleiche Auffassung darüber hatten, wie es anschließend weitergehen sollte. Solche relativ offenen Situationen werden auch als protosozial bezeichnet. Die Soziologie, die die Entstehung von Regeln in proto-sozialen Situationen untersucht, nennt sich daher auch Proto-Soziologie.
Der Vorgang der Einrichtung und Etablierung einer institutionellen Ordnung in einer eher proto-sozialen Situation wird als Institutionalisierung bezeichnet. Den Kern dieses Vorgangs bilden die Verbreitung und die Verfestigung des Glaubens an die Legitimität der Ordnung der Prozeß der Legitimation. Wenn sich bereits bestehende Regeln, Institutionen und Legitimationen ändern, liegt institutioneller Wandel vor. Mit diesen drei Vorgängen befassen sich die folgenden 3, den Band 5, „Institutionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ abschließenden Kapitel. Die allgemeine Antwort auf die Frage nach der Entstehung von Institutionen ist leicht gegeben: Institutionen gibt es nicht ohne Interessen und nicht ohne Grund. Der wichtigste: Sie helfen, wichtige Probleme zu lösen. Sie sind wie Peter L. Berger und Thomas Luckmann es ausgedrückt haben die „‚permanente‘ Lösung eines ‚permanenten‘ Problems.“1 Diese Leistung ver1
Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1977 (zuerst: 1966), S. 74.
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Institutionen
leiht ihnen letztlich ihre Geltung und bildet die Grundlage für den Glauben an ihre Legitimität. Und sie ist der Hintergrund auch für ihren Wandel oder Verfall. Nicht immer so haben wir jedoch auch schon gesehen profitieren aber die Akteure in einem Kollektiv gleichermaßen von der Geltung einer institutionellen Ordnung. Und nicht immer fallen das kollektive Interesse an der Geltung und die individuellen Interessen zusammen. Interessenkonvergenz und Interessendivergenz unterscheidet die konventionellen, die essentiellen und die repressiven sozialen Regeln ja insbesondere (vgl. Kapitel 4 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ sowie die kurze Zusammenfassung über Normstrukturen und die Mechanismen der Normgeltung im Anschluß an Kapitel 5 oben in diesem Band). Die Einrichtung einer jeden institutionellen Ordnung steht daher vor typisch unterschiedlichen Problemen. Und folglich „müssen“ auch ganz andere Mechanismen greifen, „damit“ eine entsprechende Ordnung entstehen kann. Letztlich aber, so werden wir sehen, hat jede Institutionalisierung nur ein zentrales Problem zu überwinden: daß die Akteure auf die Institution bindend verpflichtet werden, auch wenn ihre individuellen Interessen davon abweichen. Anders gesagt: Die Institutionalisierung ist nichts als ein Spezialfall des Problems der sozialen Ordnung und des kollektiven Handelns.
10.1 Drei Beispiele – und eine Feststellung „Empirisch“ kommen die drei Typen der sozialen Ordnung konventionell, essentiell und repressiv nur selten in reiner Form vor. Real existierende Institutionen enthalten meist alle drei Elemente gleichzeitig, wenngleich in unterschiedlicher Gewichtung. Das wollen wir uns an drei Beispielen einmal ansehen.
Das erste Beispiel: Das Reißverschlußsystem an der Autobahnauffahrt An Autobahnauffahrten und Fahrbahnzusammenführungen vor Baustellen wird manchmal ein interessantes System der Emergenz von Regeln beobachtet:2 Die Fahrer lassen einander abwechselnd vor und fädeln sich so reibungslos in eine Reihe ein genauso wie das die Zähnchen eines Reißverschlusses 2
Vgl. die Darstellung bei Ekkehart Schlicht, On Custom, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics, 149, 1993, S. 195ff.
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tun, der mit leichtem Surren von unten nach oben zusammengezogen wird. Das Reißverschlußsystem entsteht und funktioniert dabei ohne jede Absprache oder explizite Kommunikation, wenngleich nicht ohne symbolische Demonstration. Manchmal muß beispielsweise einem etwas begriffsstutzigen Fahrer durch demonstratives Zögern angezeigt werden, daß er jetzt dran ist. Typischerweise geschieht das Einfädeln meist auch schon relativ weit vor der eigentlichen Engführung der Fahrbahnen. Es ist so kann man vermuten die Folge auch einer Art von symbolisch gemeintem Fahrstil: Frühzeitiges Vorlassen zeigt an, daß es hier eine „soziale“ Regel gibt und daß das sture individuelle Vorteilsuchen gar nicht gerne gesehen wird. Der Vorteil des Systems auch für die einzelnen Fahrer liegt auf der Hand: Der Verkehr fließt reibungsloser. Und es wird viel Ärger erspart, der immer dann entsteht, wenn die Fahrer unterschiedliche Vorstellungen haben, wer gerade „darf“. Freilich gäbe es „objektiv“ noch effizientere Regeln als den einfachen Reißverschluß. Beispielsweise, daß sich jeweils zwei Autos auf einmal abwechselnd einfädeln. Dadurch könnte so weiß man aus Simulationen der Verkehr noch rascher fließen. Aber das Reißverschlußsystem der doppelten Zähne wird kaum beobachtet. Wenn es einmal geschieht, dann verfällt es rasch wieder. Der Grund ist leicht einsehbar: Alle anderen Regeln als der einfache Reißverschluß sind zu kompliziert, werden deshalb schwerer „verstanden“ und sind auch technisch nicht so leicht umsetzbar. Daß es ein griffiges Wort mit deutlichen Vorstellungen über seine Bedeutung „Reißverschluß“ für die Regel gibt, trägt sicher auch zu ihrer Geltung und reibungslosen Anwendung bei. Mit dem Wort alleine weiß jeder, was gemeint ist. Und mit dem Begriff scheint auch schon eine Art von Verpflichtung zu entstehen, die Regel auch zu beachten. Das sprachliche Label und seine lebensweltliche Verankerung sind offenbar ein Teil der Einfachheit, der Verständlichkeit, der Ausführbarkeit und des Aufforderungscharakters der Regel. Natürlich gilt die Regel des Reißverschlußsystems nicht immer und nicht überall. Wird sie jedoch einmal praktiziert, dann stören einzelne Abweichler den Ablauf kaum. Immer gibt es zwar doch einmal einen rücksichtslosen Rüpel oder einen Dummen, der nicht versteht, was vor sich geht. Aber solche punktuellen Irritationen lassen die Regel nicht verfallen. Das Reißverschlußsystem arbeitet wenn es denn überhaupt entsteht jedoch nur, solange der Verkehr nicht zu dicht und die Geschwindigkeit auf der Hauptstrecke nicht zu hoch ist. Oft kehrt es sofort wieder, sobald der Verkehr wieder dünner und die Geschwindigkeiten wieder geringer geworden sind. Manchmal aber auch eben nicht. Warum das so ist, weiß niemand so recht.
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Das zweite Beispiel: Freie Jagdgründe und Privateigentum Indianer kennen keinen Schmerz und keinen Privatbesitz so glauben wir Stadtindianer alle, die wir Karl May gelesen und Udo Lindenberg gehört haben und auch sonst etwas zur Romantik und zur Weltfremdheit neigen. Die Anthropologen Frank G. Speck und Eleanor Leackock berichten zu Beginn dieses Jahrhunderts jedoch von einem Indianerstamm auf der Halbinsel von Labrador, der ein sehr ausgeklügeltes System von Rechten an Privateigentum entwickelt hatte.3 Die Jagdgebiete waren in genau abgegrenzte Territorien unterteilt, die unter den Familien jedes Jahr rotierten, wobei in der Mitte der verteilten Reviere immer ein Stück unbejagtes Gebiet frei blieb. Verletzungen der Grenzen wurden wirksam geahndet. Und es gab sogar so etwas wie ein Erbrecht alles ganz anders als es bei den Indianerstämmen im Südwesten der USA zu finden war. Das Privateigentum an den Jagdgründen auf Labrador gab es jedoch nicht immer schon. Noch für die Mitte des 17. Jahrhunderts hatten jesuitische Missionare berichtet, daß die Labradorindianer privaten Besitz nicht kennen würden. Warum also entstanden zwischen dem 17. und dem Ende des 19. Jahrhunderts private Eigentumsrechte an den Jagdgründen? Frank G. Speck und Eleanor Leacock stellen einen wenigstens: zeitlich engen Zusammenhang zwischen dem Entstehen des Privateigentums und dem Aufkommen des Pelzhandels in der Gegend fest. Gibt es aber vielleicht auch einen kausalen Zusammenhang? Genau das ist die These des Ökonomen Harold Demsetz gewesen, der damit auch im Anschluß an die Überlegungen von Ronald H. Coase (vgl. Abschnitt 1.2 oben in diesem Band) eine lange Beschäftigung der Ökonomie mit dem Problem der Entstehung von Eigentumsrechten einleitete.4 Die Begründung des Zusammenhangs ist recht naheliegend. Ohne Eigentumsrechte kann jeder so viel an Pelztieren insbesondere Biber jagen, wie er will. Solange es keinen extensiven Pelzhandel gibt, ist das auch weiter kein Problem: Es werden Pelztiere nur für den Eigenbedarf gejagt. Mehr konnte man mit Biberpelzen einfach nicht anfangen. Die externen Effekte der freien Jagd waren deshalb nur minimal. Jede Einschränkung der Jagd wäre sinnlos gewesen und hätte nur unnütze Kosten mitsichgebracht.
3
4
Eleanor Leacock, The Montagnes ‚Hunting Territory‘ and the Fur Trade, in: American Anthropologist, 56, Teil 2, Memoir Nr. 78; Frank G. Speck, The Basis of American Indian Ownership of Land, in: Old Penn Weekly Review, 1915, S. 491-495. Harold Demsetz, Toward a Theory of Property Rights, in: The American Economic Review, 57, 1967, S. 350ff.
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Mit dem wie auch immer entstandenen Aufkommen des Pelzhandels aber ändert sich die Situation: Der Wert der Pelze steigt plötzlich deutlich an, und als Ergebnis davon steigert sich natürlich auch das Ausmaß des Jagens. Und die Folge: Die externen Effekte werden jetzt deutlich für jeden einzelnen spürbar. Nun beginnen sich Maßnahmen fühlbar zu lohnen, die die Jagd im Interesse aller beschränken. Die Einführung von Eigentumsrechten an bestimmten Territorien ist eine denkbare Maßnahme dafür. Der Prozeß der Privatisierung der Jagdgründe der Labradorindianer ging dabei offenbar schrittweise und augenscheinlich in tastenden Versuchen des trial and error vor sich. Zuerst wurde eine Art von zeitlich begrenzter Zuteilung von Jagderlaubnissen vorgenommen. Dann wurden gewisse Kontrollen gegen die Wilderei eingerichtet, bis es schließlich zur dauerhaften Abgrenzung und Zuteilung von Jagdrevieren kam. Offensichtlich wurde also „evolutionär“ ausprobiert, wieviel an Einschränkungen nötig war, um die externen Effekte gerade aufzufangen und dennoch ein Maximum an individueller Freiheit beizubehalten. So war es im Norden. In den Weiten der Prärie des amerikanischen Südwestens hatten die Indianer dagegen nie an die Einführung von Eigentumsrechten gedacht. Warum war das so? Die Antwort ist ebenfalls nicht schwer: Es gab dort kein jagdbares Wild von ökonomisch ähnlich hohem Wert wie die Pelztiere auf Labrador. Und die Weite des Landes hätte bei den dort grasenden Büffelherden zu hohe Kosten der Einrichtung und Durchsetzung der Eigentumsrechte mit sich gebracht. Kurz: Die negativen externen Effekte der freien Jagd waren im Südwesten der USA aufgrund der geographischen und ökonomischen Gegebenheiten zu gering, als daß sich eine Regelung gelohnt hätte. Bei den Labradorindianern war das dagegen anders: Biberfelle sind wegen des Pelzhandels sehr wertvoll, und Biber halten sich nur in relativ kleinen Gebieten auf, die leicht einzugrenzen und zu überwachen sind. Und die Folge, etwas vereinfacht gesagt: private Eigentumsrechte im Norden, freies Jagen im Südwesten, je nachdem, was sich besser rechnete.
Das dritte Beispiel: Schiffe, Gefangenenlager und Erziehungsheime In seinem Büchlein über „Prozesse der Machtbildung“ schildert Heinrich Popitz drei wohl auch autobiographisch gefärbte Fälle, in denen es immer um ein Problem geht:5 Wie schaffen es in bestimmten Situationen meist sehr 5
Heinrich Popitz, Prozesse der Machtbildung, 3. Aufl., Tübingen 1976.
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wenige Akteure, relativ rasch eine starke Macht und schließlich die sogar: als legitim geltende Herrschaft über viele andere Akteure zu erlangen und dauerhaft abzusichern, auch ohne daß viel an nackter Gewalt angedroht oder gar angewandt werden müßte? Die Fälle stammen, teilweise wenigstens, aus einer uns inzwischen etwas ferneren Welt. Die soziologischen Prozesse sind dagegen weiterhin aktuell und in ihren Grundstrukturen wohlvertraut. Im ersten Fall ging es um ein Schiff im östlichen Mittelmeer, das als einzigen Luxus für die bunt gewürfelte Schar der Passagiere Liegestühle an Deck bieten konnte (Popitz 1976, S. 7ff.). Es gab aber nur etwa ein Drittel so viel Liegestühle wie Passagiere. Zuerst wurden die Liegestühle frei belegt und wieder verlassen. Das ging die erste Zeit auch ganz gut. Nach der Ausfahrt aus einem Hafen, bei dem wie üblich die Passagiere gewechselt hatten, brach das System jedoch plötzlich zusammen: Es gab eine Gruppe von Passagieren, die Rechte auf die Belegung der Liegestühle beanspruchte und diesen Anspruch bis zur Gewaltandrohung auch durchsetzte, wobei sich die „Besitzer“ gegenseitig in der Aufgabe der Sanktionierung und Überwachung halfen. Die so ausgegrenzten Nicht-Besitzer waren nicht in der Lage, eine Gegenbegwegung zu organisieren – und fügten sich schließlich in die entstandene Ordnung, die sie vom Gebrauch der Liegestühle ausschloß. Der zweite Fall spielte in einem Kriegsgefangenenlager (Ebd., S. 17ff.). Das bestand aus einem flachen Feld und einer Umzäunung aus Stacheldraht. Jeder kümmerte sich im wesentlichen nur um sich selbst – bis auf eine Gruppe von vier Mann. Sie legten alle ihre mitgebrachten Besitztümer zusammen und teilten sich die anfallenden Aufgaben nach ihren Talenten: „ ... der eine war Koch, der andere Klempner, der dritte konnte Englisch, der vierte verfügte über achtunggebietende Durchschlagskraft ... .“ (Ebd., S. 17) Intern wurden die Leistungen füreinander in dieser kleinen Gruppe nicht weiter verrechnet. Jeder trug das Seine ungefragt bei. Dieser solidarische Zusammenhalt im Binnenverhältnis verlieh der Gruppe rasch einen Sonderstatus auch nach außen, der vor allem mit den wertvollen Ressourcen zu tun hatte, die diese Gruppe durch ihre Kooperation kontrollierte. Der wichtigste Schritt auf dem Wege zur endgültigen Konsolidierung der Macht der Gruppe war der Bau eines Herdes, der es erlaubte, die nur roh ins Lager eingeschmuggelten Lebensmittel zuzubereiten – eine offenbar für alle unglaublich interessante Ressource. Natürlich lag es, als es den einen Herd einmal gab, nahe, einen weiteren zu bauen. Und ebenso natürlich hatte an einer solchen Konkurrenz die Gruppe mit dem einen Herd keinerlei Interesse. Der Gruppe gelang es jedoch sehr wirkungsvoll, alle Versuche der Nachahmung und des Baues eines zweiten Herdes zu unterbinden – teils weil sich keine zweite Gruppe fand, die so wohlorganisiert war, teils weil die Gruppe inzwischen so viel Macht hatte, daß sie alle Ansätze zur Konkurrenz im Keime ersticken konnte. Der dritte Fall betraf die Entstehung einer Hackordnung unter Jugendlichen in einem Erziehungsheim (Ebd., S. 29ff.). Dort waren insgesamt 13 Jungen – wohl aus irgendeinem fortschrittlich gemeinten pädagogischen Zweck der Förderung von Selbstverantwortung – zu einer eigenen Gruppe zusammengeschlossen und räumlich sowie organisatorisch vom eigentlichen Betrieb des Heimes abgesondert worden. Rasch bildete sich eine Dreier-Gliederung in dieser Gruppe heraus: die „Zentrale“ von vier Jungen mit einem „Chef“, die das unbestrittene Sagen hatte; eine zweite Gruppe von drei Jungen als eine Art von ergebener Hilfstruppe für die Zentrale; und schließlich der Rest eines Fußvolkes von sechs Jungen, die nach Belieben herumkommandiert und ausgebeutet wurden.
In allen Fällen bildete sich nach kurzer Zeit ein sehr deutliches System an Regeln heraus, die vor allem die Erbringung von Leistungen und den Umgang
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der in einem Ungleichheitssystem deutlich gestaffelten Gruppen miteinander betrafen. Die Regeln wurden von allen beachtet, auch von denjenigen, die in der Bilanz der ausgetauschten Leistungen eindeutig den Kürzeren zogen.
Die Organisation der Ordnung Die Bildung der Macht der Wenigen über die Vielen begann stets mit einem Kooperationskern einiger Weniger, in dem Ressourcen zusammengelegt, Leistungen ausgetauscht und Vertrauen entgegengebracht wurde. Kurz: Am Anfang der Macht stand die Organisation einer Kooperation, also: die Überwindung einer Dilemmasituation des kollektiven Handelns. Dieser kooperative Beginn nach innen erlaubte dann den Wenigen die Usurpation und Monopolisierung von Ressourcen, die für alle auch draußen interessant waren. Dadurch wiederum entstand wenngleich wohl widerstrebend und nach erkennbaren Mißerfolgen in allen Versuchen zur Änderung der Lage ein Interesse der jetzt schon unterlegenen Außenstehenden an der unterwürfigen und bilateralen Kooperation mit den Wenigen. Unterstützt wurde dieses Interesse an der Unterwerfung natürlich auch durch das Fehlen von Alternativen: Schiffe, Gefangenenlager und Erziehungsheime sind totale Institutionen ohne Exit-Möglichkeiten. Das erzeugt Abhängigkeiten auch von sehr nachteiligen Verhältnissen. Vor allem aber war es das Problem des kollektiven Handelns der Vielen: Sie waren nur schwer zu einer Gegenaktion zu mobilisieren gerade weil sie so viele und so unterschiedlich waren, und gerade auch weil sie sich ideologisch gegen die Oligarchisierung wandten, sie eine solche zu ihrer Organisation aber dringend gebraucht hätten.
Die Anerkennung der Ordnung Die einmal entstandene Macht gewann also nach einiger Zeit immer mehr an „Geltung“. Und das war bald durchaus mehr als eine rein äußerliche Fügsamkeit aus bloßem Interesse oder Tradition. Für den Fall der Hackordnung im Erziehungsheim spricht Heinrich Popitz sogar von der „ ... inneren Anerkennung einer Machtordnung durch die Unterdrückten Unterprivilegierten ... .“ (Ebd., S. 33; Hervorhebung nicht im Original)
und
Diese innere Anerkennung, die erst die nackte Macht zur institutionalisierten, legitimierten Herrschaft konvertiert, hat zwei Hintergründe: Die Spaltung der Gruppen in typische „Klassen“ erzeugt Kategorisierungen nach außen und die
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gegenseitige Anerkennung der Gruppen nach innen auch auf seiten der Unterprivilegierten. Auch sie erkennen, daß sie gemeinsame Interessen haben und vor allem gemeinsam sind in der Auswegslosigkeit ihrer Lage. Dies legt die Selbstanerkennung der Unterlegenheit als kollektives, gemeinsames Schicksal nahe, schließlich umrahmt von gedanklichen Konstruktionen, die Heinrich Popitz treffend als Unterlegenheitslegende bezeichnet. Mit der Anerkennung der Ausweglosigkeit wird für die Unterlegenen schließlich die zuerst wohl als gänzlich unakzeptabel empfundene Überlegung naheliegender, daß es wohl doch besser ist, sich in diesem System einzurichten und hier zu investieren, statt auf bessere, aber sehr ferne Zeiten zu hoffen. Heinrich Popitz nennt dies den Investitionswert der Ordnung. Es gibt ihn, auch wenn der Wert der Investitionen nur bescheiden ist. Außerdem hat jede Ordnung, auch noch die unterdrückendste, einen ganz eigenen Wert: Den wie Heinrich Popitz es nennt Ordnungswert der Ordnung (Ebd., S. 33ff.): Die Sicherheit der Orientierung angesichts des drohenden Chaos der Weltoffenheit. Und so richten sich die Unterlegenen alsbald in einem schließlich auch für sie wenigstens subjektiv ganz kommoden, wenngleich diktatorischen System von Macht und Herrschaft ein, das seine Unterstützung nicht bloß aus dumpfer Gewohnheit oder den nackten Interessen alleine, aber auch nicht aus emphatischer Zustimmung bezieht. Die versunkene DDR war auch ein solches System einer kommoden Diktatur. Es brach zusammen, als sich die ExitMöglichkeiten als realistische Alternativen zu erweisen schienen. Manche Ehe gehört auch dazu.
Eine Feststellung Die Beispiele zeigen, daß immer, wenn soziale Regeln entstehen, Elemente der erfolgreichen Koordination des Handelns, der bindenden Lösung von Dilemmasituationen und der schließlich als legitim angesehenen Überwindung von Konflikten beteiligt sind. Das Reißverschlußsystem ist keine bloße konventionelle Koordination, wie sich sofort immer zeigt, wenn die Kosten der einseitigen Zurückhaltung mit dichter werdendem Verkehr ansteigen. Die Einrichtung von Privateigentum wird auch für frei geborene Indianer im Naturzustand ganz individuell interessant, wenn der Wert der Jagdbeute hoch genug, die externen Effekte frei belassener Jagd damit merklich und die Einrichtung der Regelung nicht zu umständlich und zu teuer sind. Und die Entstehung von Herrschaft hat die Überwindung des Problems des kollektiven Handelns zur Voraussetzung und die durch die unverrückbaren Verhältnisse diktierte Einsicht der Beherrschten, daß eine bessere Lösung nicht in Aussicht ist.
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Aber natürlich bleibt das Grundproblem auch bei einer starken Interessenkonvergenz bestehen: Wer soll den ersten Schritt der Zurückhaltung an der Autobahnauffahrt oder in den freien Jagdgründen tun? Und wer nimmt die Kosten der Einrichtung und der Überwachung der Regelungen auf sich? Und selbst die unterdrückendste Herrschaft hat offensichtlich immer noch einen Wert den Wert der Ordnungsstiftung „an sich“ und die Sicherung einer Basisexistenz gegenüber der einstweilen wenigstens: ausgeschlossenen Alternative einer „Revolution“ der gesellschaftlichen Verhältnisse. Gleichwohl haben die geschilderten Fälle immer eine Art von dominierendem Zentralproblem und benötigen deshalb auch stets eine Art von Mindestlösung für dieses Zentralproblem. Das Reißverschlußsystem ist in erster Linie ein Problem der Koordination und ist – im Prinzip – schon mit der Verbreitung einer konventionellen Regel als kognitives Modell der Koorientierung einzurichten. Die Etablierung von Eigentumsrechten ist auch bei starken Interessen auf allen Seiten zuerst immer noch ein soziales Dilemma und ein Problem des kollektiven Handelns und deshalb erst mit der Einrichtung einer essentiellen Norm – mit allem, was dazugehört – zur Geltung zu bringen. Und die Herrschaft ist ein Regelsystem, das sich – wenigstens: partiell – stets gegen die Interessen bestimmter Gruppen richtet, auch wenn es sich letztlich auch für die Unterlegenen als die immer noch relativ „beste“ Alternative erweist. Bei der Einrichtung und Durchsetzung einer Herrschaft muß daher das Problem der Brechung dieses Konfliktes durch – wenigstens – die wirksame Androhung repressiver Maßnahmen gelöst werden. Und das gilt insbesondere dann, wenn die Leistungen der Herrschaft für die Unterlegenen – ihr Ordnungswert und ihr Investitionswert also – kleiner werden und sich Alternativen zur Diktatur der Wenigen zu zeigen beginnen.
Mit den Problemtypen und mit den jeweiligen Mindestlösungen gehen typische Mechanismen der Einrichtung einer institutionellen Ordnung einher. Das ist im einfachsten Fall der Einrichtung einer konventionellen Ordnung der Prozeß der Habitualisierung einer Konvention. Im Fall der Einrichtung einer essentiellen Ordnung ist es das erfolgreiche kollektive Handeln angesichts des free-rider-Problems oder des Problems, daß der eine nötige Held fehlt. Und für die Einrichtung einer repressiven Ordnung muß ganz einfach zunächst Macht usurpiert und monopolisiert und danach legitimiert werden. Wenn man genauer hinsieht, ist aber offensichtlich die Einrichtung einer jeden Ordnung letztlich mit einem Dilemmaproblem verbunden. Das ist bei den essentiellen Regeln klar. Aber schon der Beginn jeder Herrschaft die Usurpation von Macht setzt den handlungsfähigen Kern einer Solidargemeinschaft voraus, in der das Problem des kollektiven Handelns erfolgreich gelöst sein muß. Und selbst die Etablierung von einfachen Konventionen ist von Aspekten einer Dilemmasituation nicht gänzlich frei: Ist die Konvention einmal vorhanden und löst sie ein Problem erfolgreich, dann kann das Problem leicht vergessen werden und die Konvention steht plötzlich, angesichts ihrer ja auch eingrenzenden Wirkungen, vor einem Rechtfertigungsbedarf und
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damit: vor einem Überwachungsproblem. Das Tragen von Jeans bei Konzerten oder Abiturfeiern berührt nicht nur gewisse Konventionen der Kleidung. Kurz: Ganz offensichtlich ist also jede Einrichtung einer institutionellen Ordnung auf irgendeine Weise mit dem Problem des kollektiven Handelns verbunden. Die Erklärung der Überwindung dieses Problems ist daher der eigentliche Kern jeder Erklärung der Normentstehung und der Institutionalisierung.
10.2 Normbedarf Am Anfang jeder Regelung, jeder Institution, jeder Norm steht es sei noch einmal wiederholt ein Problem. Ohne Not werden Regeln nicht eingeführt. Man käme erst gar nicht darauf und hielte sie zu Recht für lästige Einschränkungen. Mit dem Bedarf an Normen sind sie freilich noch keineswegs eingerichtet. Das ist ja gerade das Problem. Es ist wie wir oben gesehen haben letztlich immer und für jede Art von Regeln ein Problem der Überwindung eines sozialen Dilemmas. Wir wollen die beiden Fragen Normbedarf und Normentstehung daher getrennt behandeln.6 Bedarf an Normen entsteht durch die externen Effekte des Handelns anderer: Nichtkompensierte Belästigungen sollen eingedämmt, kostenlos erlangte Vorteile gesichert werden. Nichtraucher möchten gerne Rauchverbote erlassen haben, und Balkonbewohner den freien Blick auf die hübsche Nachbarin nicht verbaut sehen.
Normbedarf als Problem des kollektiven Handelns Normen aber sind nicht kostenlos zu haben. Ihre Einrichtung ist so wissen wir inzwischen längst ein Öffentliches Gut mit der Struktur eines NPersonen-Gefangenendilemmas und ein Problem des kollektiven Handelns: Wenn es sie gibt, nützen sie allen mit dem Interesse an der Norm. Einer alleine kann sie nur selten einrichten. Wer die Aufgabe auf sich nimmt, hat sichere 6
Die folgenden Ausführungen orientieren sich an dem Modell der Normentstehung, wie es James S. Coleman entwickelt hat: James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990a, Kapitel 10: The Demand for Effective Norms, S. 241-265; und Kapitel 11: The Realization of Effective Norms, S. 266-299. Siehe auch: James S. Coleman, The Emergence of Norms, in: Michael Hechter, Karl-Dieter Opp und Reinhard Wippler (Hrsg.), Social Institutions. Their Emergence, Maintenance and Effects, Berlin und New York 1990b, S. 35-59.
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Kosten zu tragen, ohne zu wissen, daß die Einrichtung gelingt. Und weil alle darauf warten, daß jemand anderes die Initiative ergreift und Erfolg hat, geschieht so ohne weiteres wieder einmal nichts (siehe dazu auch schon Abschnitt 5.3 oben in diesem Band) Die Einrichtung und Durchsetzung einer Norm bzw. einer Institution kann damit als ein gemeinsames „Projekt“ einer Gruppe angesehen werden (vgl. Coleman 1990, S. 255ff.). Wir wollen davon ausgehen, daß die institutionelle Regel für die Gruppe um so wertvoller ist, je mehr der N Akteure der Gruppe sich an der Einrichtung beteiligen. Der Einfachheit halber sei dazu eine kleine Gruppe von drei Akteuren A1, A2 und A3 betrachtet. Jeder der drei Akteure hat zwei Alternativen: die Beteiligung an der Einrichtung der Norm C; oder aber die Nicht-Beteiligung D. Die Beteiligung koste 9 DM. Für jeden kollektiv aufgebrachten Betrag von 3 DM gibt es einen kollektiven Wohlfahrtszuwachs durch die Einrichtung der Norm in Höhe von 4 DM. Die so erzeugte Summe an Wohlfahrtsproduktion wird, weil es ja ein Öffentliches Gut ist, über alle N Personen gleichmäßig verteilt. Wenn beispielsweise die Akteure A2 und A3 jeweils ihre 9 DM beitragen würden, A1 aber nicht, dann ergäbe das einen Einsatz von zusammen 0+9+9=18 DM. Daraus ergibt sich ein Gewinn von (18/3)4=24 DM, der dann wieder durch die drei Akteure geteilt wird. Also: 24/3=8 DM für jeden. A1 hätte dadurch einen Nettogewinn von 8-0=8 DM, A2 und A3 jeweils einen solchen von 8-9=-1 DM. Sie verlieren also jeder 1 DM, wenn A1 nicht mitmacht, während A1 mit einem Gewinn von 8 DM als free rider fein heraus ist.
Auf der Grundlage dieser Annahmen ergibt sich die folgende Verteilung von Auszahlungen für alle N3 8 Kombinationen von Alternativen zwischen CCC und DDD (Abbildung 10.1):
Akteur A3 C
D
Akteur A2
Akteur A2
C Akteur A1
D
C
D
C
3,
8
-1,
8, -1
-1, -1, 8
-5,
4,
4
D
3, -1, -1
4,
4, -5
4,
0,
0,
0
3,
-5, 4
Abb. 10.1: Die Auszahlungsmatrix für das gemeinsame Projekt der Normeinrichtung unter drei Akteuren
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Die Auszahlungen für A1 stehen jeweils in der ersten Spalte und werden zeilenweise verglichen, die für A2 und A3 werden waagerecht jeweils über die zweite bzw. dritte Spalte verglichen. Das ist natürlich ein Gefangenendilemma: Unter allen Umständen ist es für jeden der drei Akteure günstiger, nicht in das gemeinsame Projekt der Institutionalisierung einer kollektiv nützlichen Norm zu investieren. Und folglich unterbleiben die Investition in das gemeinsame Projekt und die Institutionalisierung der Norm. An dieser Stelle sei auf eine Ungenauigkeit der Darstellung des Problems bei James S. Coleman hingewiesen, die wir nicht aus Besserwisserei herausstellen wollen, sondern weil es ansonsten auch an anderen Stellen zu Mißverständnissen kommen könnte – etwa in Kapitel 2 oder Abschnitt 3.2 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“. James S. Coleman (1990, S. 253f.) meint, daß unter nur zwei Akteuren das geschilderte PD-Problem nicht auftreten werde, weil sich die beiden Akteure ja leicht verständigen könnten und sich im Vertrauen auf die Absprachen auch wirklich auf die Institutionalisierung einigen würden. Aber: Ein PD bleibt immer ein PD, auch wenn sich die Akteure verständigen. Wenn sonst nichts geschieht – wie etwa der Austausch von Pfändern oder eine Änderung der Präferenzen, wodurch das PD in ein anderes Spiel, etwa in ein Assurance Game, verändert würde –, bleibt die Versuchung T immer größer als die Belohnung R, und die Auszahlung der Defektion P ist auch immer größer als die erlittene Ausbeutung S. Und weil jeder immer fürchten muß, daß dies der andere auch ausnutzt, und daß er selbst dann mit der Auszahlung S als der dumme Sucker dasteht, wird er schon aus Vorsicht defektieren – bei der Institutionalisierung von Normen wie bei allen anderen Situationen mit der Struktur eines PD.
Mit dieser Rekonstruktion des Problems sind wir aber noch keinen Schritt weiter in Richtung auf die faktische Einrichtung der Norm. Zwar sehen wir, daß die Schärfe des Dilemmas in der Tat etwas mit der Höhe der (Transaktions-)Kosten des Beitrags zur Institutionalisierung zu tun hat, und daß bei komplettem Fehlen dieser Kosten eine Einigung leichter möglich wäre. Aber es gibt die Transaktionskosten nun einmal. Sie fehlen nur in der idealen, aber auch utopischen Welt der ökonomischen Neoklassik, von der ja auch Ronald H. Coase in seinem Theorem ausgegangen war (vgl. dazu Abschnitt 1.2 oben in diesem Band).
Das „Second-Order-Public-Good“-Problem Wie also kann die Einrichtung einer Norm dennoch geschehen? Die Antwort kennen wir eigentlich schon: Durch die Ausübung von Druck auf die potentiellen free rider, sich doch an dem Projekt der Institutionalisierung zu beteiligen. Das ist freilich auch wieder ein Problem des kollektiven Handelns, weil die erfolgreiche Sanktionierung des Abweichlers wieder ein Öffentliches Gut darstellt. Aber: Die Erzeugung dieses Öffentlichen Gutes, das die Bereitstellung des „eigentlichen“ Öffentlichen Gutes der Institutionalisierung sichert,
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ist billiger als jenes „eigentliche“ Projekt. Und wenn die (Transaktions)Kosten dafür sinken, dann steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sich ein Ausweg aus dem (Gefangenen-)Dilemma der Normentstehung bietet. Das Problem der Einrichtung der Norm selbst wird also eine Ebene „nach unten“ verlagert. Es geht jetzt erst um die Einrichtung von Sanktionen, die dann die Durchsetzung der Norm sichern sollen. Wieder wollen wir uns dazu ein Beispiel ansehen. Die Zahlen beziehen sich auf die Auszahlungen in der Matrix aus Abbildung 10.1. Es sei angenommen, daß sich die beiden Akteure A2 und A3 verabreden wollen, die sie alle interessierende Norm wirklich durchzusetzen und den A1 zur Mitarbeit zu bewegen. Wenn A2 und A3 sich an die Norm halten, kann A1 durch free riding mit einem Gewinn von 8 DM immerhin 5 DM gegenüber der Situation gewinnen, daß auch er mitmacht, bei der es für alle drei ja „nur“ jeweils 3 DM gibt. Dieser Gewinn ist die „Versuchung“, der A1 unterliegt. Und dieser Versuchung wollen A2 und A3 begegnen. Jeder der beiden alleine könnte den A1 nicht durch eine eigene Drohung von der Defektion abhalten, weil die Defektion von einem der beiden den A1 nur 4 Einheiten kosten würde: 4 DM gegenüber 8 DM für A1, wenn die beiden anderen kooperieren. Es müssen also von A2 und A3 irgendwie Sanktionierungskosten von mindestens 5 DM aufgebracht werden, um den A1 zur Kooperation zu bringen. Diese Kosten können sich A2 und A3 teilen. Das ergibt als Kosten für die Sanktionierung von A1 eine Belastung für jeden der beiden Akteure A2 und A3 in Höhe von 2.50 DM. Die volle Kooperation aller drei bringt den beiden Sanktionierern A2 und A3 jeweils einen Gewinn von 4 DM: Sie verbessern sich von einem Verlust von -1 DM vorher auf einen Gewinn von 3 DM. Abzüglich der Sanktionierungskosten von 2.50 DM ergibt das für jeden der beiden einen Nettogewinn aus der Sanktionierung von A1 und der dadurch erfolgreichen Institutionalisierung der Norm von 1.50 DM: Die Differenz zwischen -1 und 3-2.50. Wenn alle beide zwar miteinander kooperieren, aber auf die Sanktionierung von A1 verzichten, verlieren sie jeweils natürlich 1 DM – so als sei nichts geschehen. Wenn beide kooperieren, aber nur einer von beiden den A1 wirksam sanktioniert und der andere sich an der Sanktionierung nicht beteiligt, dann hat der jeweilige Sanktionierer einen Verlust von 2 DM: Er müßte die nötigen 5 DM alleine aufbringen und gewinnt – wie die beiden anderen – die 3 DM aus der vollständigen Kooperation aller. Der Nicht-Sanktionierer streicht die 3 DM dagegen ohne Abzüge ein.
Aus dieser Konstellation ergibt sich für die beiden Akteure A2 und A3 eine neue Situation, diesmal mit den möglichen Alternativen, sich an dem gemeinsamen Projekt der Sanktionierung von A1 zu beteiligen oder nicht. Die Beteiligung an der Sanktionierung sei mit S, die Nicht-Sanktionierung mit N bezeichnet. Die Auszahlungen für den geschilderten Fall ergeben sich dann wie folgt (Abbildung 10.2):
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Akteur A3
Akteur A2
S
N
S
1.50, 1.50
-2, 3
N
3, -2
-1, -1
Abb. 10.2: Auszahlungen für das Projekt der Sanktionierung
Der mittlerweile schon geübte Leser sieht sofort: Auch das Projekt der gemeinsamen Sanktionierung des free riders ist ein Gefangenendilemma. Und „normalerweise“ würde die Sanktionierung ebenso unterbleiben wie die Institutionalisierung der Norm insgesamt. Und dennoch ist die Situation anders geworden. Es ist wie die Zwischenüberschrift schon sagt ein Öffentliches Gut zweiter Ordnung: Die Unterschiede in den Auszahlungen und die Risiken, hinterher als der Dumme dazustehen, sind wesentlich kleiner geworden. Die Versuchung, den anderen machen zu lassen, ist jetzt nur noch 1.50 DM groß, und das Risiko eines zusätzlichen Verlustes bei der einseitigen Vorleistung beträgt sogar nur noch 1 DM. Kurz: Jetzt sind die Hürden für das Gelingen der Kooperation nicht mehr gar so hoch. Und wenn die beiden Akteure A2 und A3 jetzt nur noch ein wenig „irrational“ wären und vielleicht noch andere Motive hätten, sich zusammenzutun etwa, weil sie Freunde sind , dann können sie es schaffen, die Norm durchzusetzen und schließlich alle anderen zur Konformität zu bringen. So sind wahrscheinlich die Machtkerne auf dem Schiff, im Gefangenenlager und im Erziehungsheim entstanden, von denen Heinrich Popitz so fasziniert war. Natürlich kann auch die Sanktionierung immer noch eine unüberwindliche Hürde darstellen, besonders wenn die Interessen an der Norm nicht bei allen gleich hoch sind. Aber auch für die Sanktionierung kann es wieder eine Sanktionierung und entsprechend ein Öffentliches Gut dritter, vierter, n-ter Ordnung geben. Und das solange „hinunter“, bis die Kosten der Überwindung des Problems nahe null sind und die Kooperation zur Ordnungsstiftung auch auf der Ebene „erster Ordnung“ gelingt, weil im Hintergrund die vielen kleinen Sanktionen reibungs-, weil fast kostenlos arbeiten. Auf diese Weise werden die vergleichsweise unaufwendigen und unauffälligen, aber äußerst wirksamen Folgen der unzähligen Kleinakte der Alltagssanktionen verständlich, besonders wenn es relativ dichte Netzwerke mit Beziehungsstrukturen gibt, in denen die nötigen Kommunikationen leicht zirkulieren können (vgl. dazu schon Kapitel 7 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Spe-
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ziellen Grundlagen“). Der sichtbar erhobene Zeigefinger der keifenden Tanten, die unsichtbare Hand der vielen Tuscheleien im Rücken der free rider und die magische Kraft der nur ganz leicht hochgezogenen Augenbrauen beruhen auf dieser Staffelung der Kosten für die Institutionalisierung von Normen. Sie kosten fast nichts und bringen viel. Es ist das, was Jürgen Habermas wohl auch meint, wenn er von der Fundierung der Systeme in den Lebenswelten spricht (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“): Die Ordnung der anonymen Systeme des formalen Rechts müsse ihre Grundlage in den informellen Kleinsanktionen der alltäglichen Lebenswelt haben. Verfällt die sozialisierende, kontrollierende und orientierende Kraft der Lebenswelt, verliere auch das formelle Recht seine Grundlage (vgl. dazu auch noch Kapitel 11 unten in diesem Band).
10.3 Die „effektive“ Einrichtung von Normen Wenn die Institutionalisierung einer Norm ein Öffentliches Gut ist, dann lassen sich alle Lösungen dieses Problems, wie wir sie in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ besprochen haben, übertragen. Im wesentlichen drehen sich diese Lösungen um zwei Aspekte: die Senkung der Kooperationskosten und die Erhöhung der Kooperationsgewinne einerseits und die Erhöhung des Schattens der Zukunft andererseits. Auf den Fall der Institutionalisierung von Normen übertragen heißt das: Je geringer die (Transaktions-)Kosten für die Einrichtung und je höher das Interesse an der Norm und je weiter der Schatten der Zukunft eines gemeinsamen Schicksals sind, um so eher kann das Problem überwunden werden, daß es einen Normbedarf zwar gibt, die Verwirklichung aber an dem Gefangenendilemma (PD) der „effektiven“ Einrichtung scheitert.
Inkrementale Sanktionierung Der Schlüssel zur Absenkung der (Transaktions-)Kosten für die Sanktionierung ist die gerade oben in Abschnitt 10.2 dieses Bandes geschilderte Staffelung des Aufwandes für die Sanktionierung immer weiter „nach unten“, bis die Sanktionshandlung kaum noch ins Gewicht fällt, aber ihre Wirkung tut. Das ist nicht immer möglich. Wie in dem Falle, daß es nicht viel zu staffeln gibt oder einer alleine schon die erforderliche Leistung erbringen könnte, es aber nicht tut, weil er wie alle anderen darauf wartet, daß jemand anderes die
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Nerven verliert. Es ist das Problem einer „heroischen“ Sanktionierung (vgl. Coleman 1990, S. 270ff.) wie im IC-Großraumwagen des Freitagabends aus Abschnitt 5.3 oben in diesem Band oder in der Fabel vom Rat der Ratten von Jean de La Fontaine: Die Ausschaltung der Katze ist das Öffentliche Gut erster Ordnung, das Umhängen der Glocke ein Öffentliches Gut zweiter Ordnung. „Heroisch“ ist die Sanktionierung deshalb, weil die Kosten dieses Schrittes immer noch prohibitiv hoch sind, für den potentiellen Rattenhelden höher fast noch als die Gefahr durch die Katze im Schutze der Rattenschar insgesamt. Aber es gibt manchmal durchaus auch den nötigen Helden. Wenn der Rattenheld beim Umhängen der Glocke stirbt, der Stamm aber überlebt, weil das Problem gelöst wurde, hat er gute Chancen einer posthumen Verehrung. Manche drängen sich alleine wegen der Aussicht auf diese Verehrung schon zum Heldentum und sogar zum Heldentod. Wenn der Held aber überlebt und zurückkehrt, alle es erfahren haben, und niemand ihm den Ruhm streitig macht, dann wird er enthusiastisch gefeiert, verehrt – und alsbald mit neuen Aufgaben bedacht, die nur durch eine neue Heldentat zu lösen sind. Schafft er es dann wieder, nicht zuletzt, weil jetzt sich viele um ihn drängen und mitmachen möchten, oder weil sein Ruhm den Feind schon eingeschüchtert hat, dann ist seine Stellung ganz unumstritten. Er hat nun das nötige Charisma eines bewährten Helden, kann deshalb Ordnungen einfach per Dekret erlassen, Folgsamkeit mit hoher Legitimität beanspruchen und sich sicher sein, daß der Glaube an die Legitimität seiner Herrschaft, an seine Heldenkraft, gar an seine Heiligkeit und Vorbildlichkeit, alle Untergebenen wirklich erfaßt hat. Es gibt jetzt nur ein Problem: Die Heldentaten müßten weitergehen. Aber jeder Held wird einmal alt und müde und sehnt sich nach dem stillen Glück der Unauffälligkeit.
Die Lösung des Problems der prohibitiven Schwelle bei einer Sanktionierung ist die Staffelung der heroischen Aufgabe in kleinere, „inkrementale“ Einzelschritte. Beispielsweise: Eine Ratte muß die Katze ablenken und die zweite ihr dann die Glocke umhängen. Hoffentlich geht das dann gut. Das oben durchdeklinierte Beispiel der drei Akteure A1, A2 und A3 war ein solcher Fall der inkrementalen Sanktionierung.
Die Steigerung des Interesses Mit dem Bedarf ist eine Norm zwar noch nicht eingerichtet. Aber er erzeugt doch einen permanenten strukturellen Druck dorthin. Der Bedarf selbst ist zunächst natürlich eine Frage der Höhe der externen Effekte: Wenn ein Büffelfell nicht viel wert ist, dann lohnt sich die Eingrenzung der Büffeljagd durch Regeln und Rechte nicht. Wir wollen die von den Akteuren individuell mit der Einrichtung einer Norm verbundenen Gewinne als den Institutionalisierungswert der Norm bezeichnen. Er ist eine Folge des Kooperationsgewinns für den Fall, daß die Norm effektiv geworden ist.
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Zweitens hängt das Interesse an der Einrichtung einer Norm davon ab, ob die Akteure noch andere Möglichkeiten haben, den externen Effekten und den Kosten der Normeinrichtung zu entgehen. Wenn hier die Biber knapp werden, dann könnte ich ja auf Gebiete ausweichen, wo noch niemand war. Erst wenn es solche Exit-Optionen nicht mehr gibt, gewinnt die Einrichtung der Norm an Wert. Kurz: Mit der Abhängigkeit von der Norm steigt das Interesse an ihrer Einrichtung. Institutionalisierungswert und Abhängigkeit sind die Anreize für die Bestimmung des Normbedarfs. Bei der Behandlung des Problems des kollektiven Handelns haben wir gesehen, daß die Auszahlungen es alleine aber nicht sind, die die Akteure zur Überwindung von PD-Situationen bewegen. Es muß ein hoher Schatten der Zukunft hinzukommen: Nur wenn ich davon ausgehen kann, daß die Einrichtung der Norm mir auch noch später zustatten kommen wird, „lohnt“ es sich, mich aktiv an den Aufwendungen der Einrichtung zu beteiligen. Je länger die Zeitperspektive für die Geltung der Regelung, um so höher ist die Kapitalisierung aller damit verbundenen Erträge. Ein wichtiger und oft übersehener Anreiz, sich an dem schwierigen und undankbaren Geschäft der Institutionalisierung zu beteiligen, ist die unmittelbare soziale Anerkennung, die schon für die Bereitschaft der Beteiligung an einem für die Gemeinschaft wichtigen Unternehmen winkt. Diese Anerkennung nur schon für die Bereitschaft, in die Bresche zu springen, hat einen einsehbaren Grund: Alle sind erleichtert, endlich einen dummen Helden in dem für sie peinlichen Freiwilligendilemma gefunden zu haben. Das ist aus Dekanswahlen bekannt. Der Held geht natürlich ein Risiko ein. Er könnte versagen oder aber Erfolg haben, der ihm aber nicht zugeschrieben wird. Man muß nicht nur Gutes tun, sondern auch dafür sorgen, daß andere das mitbekommen. Aber gewiß ist die Zuschreibung des Erfolges dann immer noch nicht. Kurz: Die Verpflichtung auf eine altruistische Leistung entspringt oft dem Nachgeben auf eine situationsbedingte Versuchung: Die kurzfristige Erlangung sozialer Anerkennung durch einen verpflichtenden Akt zum – mehr oder weniger großen – Heldentum. Schon mancher hat sich nur durch ein paar heuchlerisch-freundliche Worte zu einem Amte breitschlagen lassen, das niemand sonst übernehmen wollte – und es bald schon sehr bereut. Wenn aber die Aussicht auf Erfolg hoch und das Kollektiv-„Gut“ besonders wertvoll ist, wird oft genug sogar eine gewisse Drängelei nach Heldentum beobachtet – wie bei dem, allerdings relativ kostengünstigen, Gedränge auf den Plattformen der Moral bei den Brentspar-Aktionen von Greenpeace, bis hin aber auch zu den Hysterien der Kriegsbegeisterung etwa zu Beginn des Ersten Weltkrieges (auf allen Seiten). Vor dem Hintergrund des Konzeptes der sozialen Produktionsfunktionen ist diese „irrationale“ Begeisterung für die Teilnahme an einem kollektiven Projekt nicht schwer zu verstehen: Die soziale Anerkennung wird sehr unmittelbar und schon mit dem Akt der Beteiligung selbst erzeugt. Und das mit dem Akt verbundene Oberziel ist für alle eine lebenswichtige Angelegenheit, dessen verehrende Unterstützung gerne und aufrichtig gewährt wird.
Kurz: Alle jene Umstände und Variablen, die die Evolution von Kooperation ganz allgemein begünstigen Kooperationsgewinn, Abhängigkeit und Schatten der Zukunft sind es also erneut wieder, die die Einrichtung einer Norm lohnend und deshalb wahrscheinlich machen (vgl. dazu auch schon Abschnitt 5.3 oben in diesem Band).
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In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal die Bedeutung der Sozialisation für die Einrichtung von Normen erwähnt. Wenn sich eine Sozialisation von Neuankömmlingen nicht lohnt, weil die betreffende Ordnung nicht so wichtig ist, oder wenn die Sozialisation zu aufwendig ist, dann unterbleibt sie. Wieder kommt es auf die Relationen an: Bei einem größeren Interesse an einer erfolgreichen Sozialisation wird auch ein höherer Aufwand in Kauf genommen, bei geringem Interesse würde auch ein geringer Aufwand unter Umständen nicht aufgebracht werden. Und erneut gilt: Das Interesse an der Sozialisation steigt mit der Abhängigkeit, mit dem Kooperationsgewinn und mit dem Schatten der Zukunft. Meist also: In kleinen, überschaubaren, dicht vernetzten und stabilen Stammesgemeinschaften. Dort aber ist auch der Aufwand für eine erfolgreiche Sozialisation relativ gering – einfach deshalb, weil die zu verinnerlichenden Normen nur wenig innere Widersprüche enthalten und weil es deshalb der aufwendigen Entwicklung eines besonderen „moralischen Bewußtseins“ der Kinder und der Erwachsenen nicht bedarf – ganz anders als in den komplexen Gesellschaften der Moderne.
Normen bestehen aus Regeln mit Geltungsanspruch. Sie sind damit stets mehr als eine bloße Praktik der Kooperation, die „nur“ aus Interessen aufgenommen und unterhalten wird. Institutionen und Normen bedeuten immer eine kognitive und eine evaluative, eine moralisch-ethische und eine kollektive Verankerung einer kooperativen Praxis, oft verbunden mit einem davon teilweise unabhängig operierenden Erzwingungsstab. Fragt man nach den sozialen Hintergründen der Chancen für das Gelingen einer Institutionalisierung, dann ist es aber exakt so wie bei der Erklärung der Evolution von Kooperation alleine aus Interessen auch schon: Hohe Kooperationsgewinne, geringe Kooperationskosten und ein hoher Schatten der Zukunft sind die zentralen Größen hier wie dort. Ohne Verankerung in Interessen und ohne die Aussicht auf eine langfristige Perspektive werden weder ein Bedarf nach Normen entstehen, noch eine Überwindung des Problems ihrer Einrichtung möglich sein. Und das heißt aber auch wieder: In kleinen Gemeinschaften mit hoher Interaktionsdichte, Isolation, Stabilität und Not(!) ist die Erzeugung einer institutionellen Ordnung kein besonderes Problem. Solche Gemeinschaften sind die Kerne der stets freilich: interessenbasierten Solidarität, von denen her sich auch die fragileren Gebilde der Ordnung in den komplexen Gesellschaften aufbauen, konsolidieren und schließlich sogar auf ganz andere, nicht norm- oder wertgebundene Ordnungsfundamente stellen lassen, als es die Solidarität der kleinen Lebenswelten ist.
10.4 Die Objektivation von Institutionen Die Entstehung von Institutionen und Normen wurde bisher als eine doch recht problematische Angelegenheit behandelt. Das ist auch nicht falsch: Es gibt ja ohne Zweifel Situationen, die nach essentiellen oder gar nach repressi-
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ven Regeln verlangen. Was ist aber mit den konventionellen Regeln? Ihre Einrichtung scheint zunächst kein besonderes Problem zu bieten: Es sind Vereinbarungen, die auf das vorbehaltlose Interesse aller stoßen und sich so endogen festigen. Aber auch hier gibt es stets Fallen und Probleme: Die Interessen können sich ändern, die Konvention als lästige Begrenzung erscheinen oder es können einfach technisch bessere Möglichkeiten entstehen etwa: ein verbessertes Videosystem, mit dem man aber leider die alten Bänder nicht mehr abspielen kann. Damit aber entsteht die Frage nach der Objektivation der zunächst nur interessegebundenen konventionellen Regeln: Wie gewinnen Regeln, die als bloße Vereinbarungen ihr gesellschaftliches Leben beginnen, eine objektive Geltung derart, daß die Regeln durch die Änderung der Interessen oder durch neue Vereinbarungen alleine nicht mehr einfach aus der Welt zu schaffen sind? Worin besteht, anders gefragt, die vielzitierte normative Kraft des Faktischen, von der der Staatsrechtler Jellinek einst sprach? Oder wie kommt es, mit einem Buchtitel bei Habermas, von der Faktizität zur Geltung einer Ordnung? Es ist die Frage nach der Objektivation von Institutionen ganz allgemein. Sie geht weit über das Problem der Entstehung konventioneller Institutionen und Normen hinaus. Schon bei David Hume konnten wir ja erfahren, daß alle bindende Moral und letztlich auch jede als legitim angesehene Herrschaft ihre Verankerung in einer verläßlichen und als problemlösend und nützlich angesehenen Praxis hat, die aber auch schon als „Praxis“ – irgendwie – Festigkeit, Verläßlichkeit, Verbindlichkeit und Geltung gewinnen muß (vgl. dazu schon Abschnitt 5.4 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die in ihrer soziologischen Klarheit wohl nicht zu übertreffende Darstellung des Problems und seiner Lösung findet sich bei Peter L. Berger und Thomas Luckmann in jenem Büchlein über die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“, das wir ganz am Anfang schon in der Einleitung zu diesen „Speziellen Grundlagen“ in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, so bewundernd zitiert haben. Sie unterscheiden drei Schritte der Objektivation von Institutionen (Berger und Luckmann 1969, S. 56-76): Habitualisierung, Externalisierung und Symbolisation.
Habitualisierung Die Weltoffenheit ist das Hauptproblem des Menschen bei seiner Reproduktion. Die Institutionen sind, so haben wir in Abschnitt 1.2 oben in diesem Band erfahren, die Lösung dieses Problems. Der Kern der Lösung steckt in einer eher technischen Gegebenheit: Mit der Wiederholung bestimmter Tätigkeiten
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werden die Abläufe „ökonomisiert“ und gewinnen alleine dadurch eine festere Struktur. Die einzelnen Akte werden immer besser schon motorisch beherrscht. Man kennt die Fallen und Fehlerquellen besser. Es muß nicht jeder Schritt mehr neu gewagt werden. Einzelne Akte werden zu Sequenzen zusammengefaßt. Und die Übergänge zwischen bestimmten Sequenzen werden nach und nach auch immer leichter. Schließlich können ganze Bündel von Sequenzen zu einer übergreifenden Einheit zusammengefaßt und in einem „Akt“ abgespult werden. Dieser Vorgang der Gewöhnung und der Ökonomisierung von Handlungsabläufen wird als Habitualisierung bezeichnet. Habitualisierung spart Energie, Zeit und Nerven. Sie läßt für Innovationen und Improvisationen breiten Raum. Sie begrenzt wirkungsvoll die Auswahl der unzähligen anderen Alternativen und schlägt so durch den Dschungel der Weltoffenheit einen psychisch sehr erleichternden Pfad der wohlgeordneten Sicherheit.
Externalisierung Jede Habitualisierung ist von einem kognitiven Vorgang begleitet: Der äußerliche Ablauf wird allmählich zu einer als prototypisches „Modell“ innerlich präsenten Einheit: „Jede Handlung, die man häufig wiederholt, verfestigt sich zu einem Modell, welches unter Einsparung von Kraft reproduziert werden kann und dabei vom Handelnden als Modell aufgefaßt wird.“ (Berger und Luckmann 1969, S. 56; Hervorhebungen so nicht im Original)
Institutionen, allerdings nur: solche einer konventionellen Ordnung!, entstehen in drei Stufen der Verfestigung und „Objektivität“, bei denen jeweils ein, zwei und (mindestens) drei Akteure beteiligt sind. Die erste Stufe ist die Habitualisierung eines Ablaufs bei einem einsamen Akteur, der allmählich „seinen“ Weg gefunden hat: „So mache ich das jetzt!“ ist sein monadischer Gedanke, der nach einiger Zeit seinem Tun vorausgeht, das vorher für jeden einzelnen Schritt eine komplizierte und zeitraubende innere Entscheidung und ein tastendes Versuchen benötigt hatte. Etwa: das morgendliche Aufstehen mit Zähneputzen, Kaffee kochen und die Zeitung lesen. Es ist sozusagen eine konventionelle Vereinbarung mit sich selbst. Solche individuellen Habitualisierungen sind im Prinzip leicht zu revidieren. Meist tut man zwar nicht gut daran, aber es wäre durch eine individuelle Entscheidung immerhin möglich. Das ist anders bei der nächsten Stufe: die Entstehung von Modellen habitualisierter Abläufe mit reziproken Erwartungen. Ihr Ursprung liegt auch in der Habitualisierung von Tätigkeiten. Das sind
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diesmal aufeinander abgestimmte, kooperative Tätigkeiten mehrerer Akteure. Etwa das gemeinsame Frühstück: Sie versorgt die Katzen und kocht den Tee und den Kaffee, er holt die Zeitung und stellt die Marmelade, die Wurst und die Brötchen auf den Tisch. Und alle erwarten gemeinsam, daß der Kater wieder die Wurst klaut und sich wieder auf die aufgeschlagene Zeitung setzt, um zu zeigen, daß jetzt nicht gelesen wird, sondern die Ohren zu kraulen sind. „So machen wir das jetzt!“ ist der gemeinsame und gemeinsam geteilte Gedanke dabei. Auch hier treten alle ökonomisierenden Folgen der Habitualisierung ein: die Entstehung von Routinegewißheit und die Ersparnis von Ressourcen. Und was anfangs aufregende Umständlichkeit war, wird mehr und mehr zur etwas langweilenden Trivialität. Aber immerhin ist eins gewiß: Es gibt zuverlässig Frühstück und einen zufriedenen Kater! Bei den reziprok geteilten Modellen habitualisierter Abläufe beziehen sich die Typisierungen auf typische Oberziele in der Situation, auf mit diesen Oberzielen verbundene typische Akte und auf mit diesen Akten verbundene typische Akteure. Reziproke Habitualisierungen entstehen aus zunächst rein konventionell unter den Akteuren persönlich gefundenen und in der persönlichen Interaktion aufeinander abgestimmten Akten bei der Lösung eines nur in Kooperation zu überwindenden Problems. Die Abstimmung gelingt um so leichter, je größer das Problem ist. Schon der erste Schritt hebt die – mehr oder weniger: zufällig – gefundene Lösung des persönlich gemeinsam erlebten Problems deutlich hervor. Ist er erfolgreich in der Lösung des Problems, rücken andere Alternativen weit in den Hintergrund, auch solche, die vorher als durchaus denkbar oder gar „theoretisch“ besser angesehen wurden. Nun ist eine einseitige Änderung nicht mehr möglich – und auch nicht sinnvoll: Aufgrund der (doppelten) Kontingenz der Vereinbarungen würde man sich nur selbst schaden. Und das um so mehr, je drängender die gemeinsame Lösung des Problems ist. Änderungen könnten wiederum nur in der Form einer Vereinbarung vorgenommen werden. Aber auch die einmal so entstandenen reziproken Vereinbarungen, Habitualisierungen und gedanklichen Modelle des Handelns haben immer noch ein gewisses Maß an „Konventionalität“: Man könnte sie gemeinsam und konventionell ja durchaus ändern. Unter zweien, zumal denjenigen, die die Lösung einmal selbst gefunden und eingerichtet haben, wäre eine solche neue Vereinbarung nicht gar so schwer.
Das ändert sich nachhaltig mit dem Auftreten eines dritten Akteurs, und zwar eines solchen, der an der Entstehung der Konvention nicht beteiligt war, sondern sie vorfindet. Das wären Fremde oder andere Neuankömmlinge, vor allem aber die Kinder der Erfinder der Konvention, die nächste Generation also, die das Problem nicht mehr kennen kann, das einst zur Einrichtung der Konvention geführt hatte. Es ist die dritte Stufe der Objektivation einer konventionellen Regel. Die Regel weist nun über ihren Ursprung hinaus. Sie hat wie auch immer bewertete externe Effekte auf Akteure, die an ihrer Konstruktion nicht beteiligt waren. Das ist der Vorgang der Externalisierung. Erst mit der Externalisierung der Regel auf Unbeteiligte kann richtig von einer Institution gesprochen werden:
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„Die institutionale Welt, in der ursprünglichten Situation von A und B noch in statu nascendi, wird nun an andere weitergereicht. Mit diesem Vorgang vollendet die Institutionalisierung sich selbst.“ (Ebd., S. 62)
Nun transzendiert die Regel die einzelnen Akteure. Wo vorher im Prinzip noch Revidierbarkeit, Intervention, personale Zurechenbarkeit und Durchschaubarkeit gegeben waren, herrschen jetzt Verfestigung, Verdichtung, Unverständnis und Anonymität. Jetzt heißt es: „So macht man das!“. Und basta. Die Ordnung als immer noch von Menschenhand errichtet erkennbare Konstruktion ist zur gesellschaftlichen Wirklichkeit einer unbekannten Herkunft mutiert. Mit einem Male hat die so spontan begonnene Übereinkunft eine unverrückbare und nicht mehr revidierbare Geschichtlichkeit erhalten. Den Akteuren, auch denjenigen, die die Ordnung selbst geschaffen und das nicht vergessen haben, steht plötzlich eine unwiderrufliche „Geschichte“ und eine unverrückbar-objektive gesellschaftliche Welt gegenüber. Und genau das erzeugt die für die Geltung einer Ordnung so wichtige normative und fraglose Kraft des ehemals nur Faktischen: „Jetzt erst wird es überhaupt möglich, von einer gesellschaftlichen Welt im Sinne einer in sich zusammenhängenden, gegebenen Wirklichkeit zu sprechen, die dem Menschen wie die Wirklichkeit der natürlichen Welt gegenübersteht.“ (Ebd., S. 63)
Besonders den Neuankömmlingen muß die vorgefundene gesellschaftliche Wirklichkeit fremd und undurchsichtig vorkommen. Den Begründern der Institution ist der Sinn der Regelung noch unmittelbar einsichtig: Sie hatten ein Problem und sie haben es gelöst durch die konventionelle Regel. Den dritten Akteuren fehlt diese unmittelbare Einsicht. Sie kennen das Problem nicht eben weil es durch die Regel so gut gelöst ist. Ihnen muß die Regel als eine im Grunde fremde und repressive Faktizität vorkommen, die sie vorfinden und mit der sie sich arrangieren müssen. Oft genug sehen sie deshalb nicht ein, warum es der entfremdenden Regel bedarf, wo die doch ganz offenkundig das freie Handeln nur einschränkt. Kurz: Jetzt entsteht das Problem der Rechtfertigung der Regeln, das es vorher nicht gab, weil der Sinn unmittelbar und fühlbar eingesehen wurde. In Kapitel 11 gleich unten in diesem Band werden wir die Techniken besprechen, mit denen die Menschen dieses Problem der Legitimation lösen.
Symbolisation Die Übertragung des Sinns der Institutionen wird zum grundlegenden Problem, sobald es eine neue Generation gibt. Symbole sind Träger von „Bedeu-
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tungen“ und somit von „Sinn“. Symbole sind Zeichen, die bei Akteuren, die die Bedeutung kennen, unmittelbare Reaktionen auslösen: Kognitive Vorstellungen und emotionale Aufregung (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wenn man auf einer Beerdigung „Imagine“ hört, dann weiß man, welches Milieu das ist und welche Regeln der Trauerbekundung jetzt gelten. Und ein ganzer Schwall von Gefühlen und Erinnerungen erfaßt die Gemeinde und entrückt sie in eine ganz bestimmte Welt der gemeinsamen Erinnerungen. Die Wirkung der Symbole beruht darauf, daß sie äußere Objekte der Situation mit Erinnerungen, mit „Sedimenten“, fest verbinden. Die gemeinsam geteilten Erinnerungen und Sedimente sowie die damit verbundenen, kollektiv gleich assoziierten Zeichen sind die Basis des gemeinsamen Wissensbestandes, der die allgemeine und objektive Geltung der Regeln begründet. „Gesellschaftlich“ wird eine Regel erst dann, wenn dieser dritte Schritt der Objektivation vollzogen ist: die kollektive Symbolisation der kollektiv geteilten Modelle des Handelns und Fühlens. Die Symbolisation hat eine ganze Reihe von Folgen für das Wissen um die Modelle des Handelns. Die wichtigsten sind die Anonymisierung, Abstraktion und Typisierung der Eckpunkte der Regel; die Heraushebung besonders zentraler Elemente durch eine griffige Benennung, oft in lautsprachlicher Anlehnung an den faktischen Vorgang selbst; die Vereinfachung und Trivialisierung auch komplexer Zusammenhänge durch ihre Zusammenfassung unter einer einzigen Markierung; und – insbesondere – die Herstellung von Zugänglichkeit zu dem Modell und die Übertragung der Imperative und Einzelheiten des Modells auf andere Akteure mit der Übermittlung des Zeichens und der Auslösung der Reaktion.
Die Sprache ist das wichtigste, flexibelste und leistungsstärkste Medium dafür. Mit ihrer Hilfe können Situationen leicht als „rahmende“ Modelle bestimmter kollektiver Abläufe aufgerufen, definiert und mit Sinn versehen werden. Sie hat diese Wirkung im Rahmen eines weiteren Umfeldes und einer mehr oder weniger langen Tradition gemeinsamer Erfahrungen. Peter L. Berger und Thomas Luckmann schildern diese Wirkung der Sprache mit einem besonders hübschen Beispiel: „In einer Jägergesellschaft zum Beispiel haben nur wenige – weil sie ihre Waffe verloren haben – die Erfahrung gemacht, ein wildes Tier mit bloßen Händen zu bezwingen. Diese harte Erfahrung – gewiß ein Muster an Tapferkeit, Klugheit und Geschicklichkeit – setzt sich im Bewußtsein derer, die sie machen mußten, fest. Haben mehrere sie gemacht, so wird sie intersubjektiv sedimentiert und kann ein festes Band zwischen den einzelnen Männern sein. Wird sie jedoch sprachlich artikuliert und überliefert, so kann sie Männern, die sie selbst niemals gemacht haben, zugänglich und vielleicht höchst relevant für sie werden. Die sprachliche Bezeichnung, die nur bei einer Jägergesellschaft ganz präzise und eindeutig sein kann – etwa ‚Großes Töten von männlichem Nashorn, allein, mit einer Hand‘, oder: ‚Großes Töten von weiblichem Nashorn, allein, mit beiden Händen‘ und so weiter –, abstrahiert das Erlebnis von seinen individuellen Zufälligkeiten. Es wird zur objektiven Möglichkeit für jedermann ... .“ (Ebd., S. 73; Hervorhebungen nicht im Original)
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Mit Hilfe der Sprache vor allem können dann auch die Probleme der Rechtfertigung einer an sich uneinsichtigen Regel angegangen werden. Sie erlaubt die „Erklärung“ von zunächst rätselhaften Vorgängen, etwa indem die Geschichte der Entstehung der Regel erzählt oder die guten Gründe erläutert werden, die jetzt für die Einhaltung der Regel sprechen. Mit Hilfe der Sprache können aber auch ganz andere Ursprünge der Regel erdichtet und der Anschluß an andere Wissensbestände hergestellt werden. Kurz: Die Sprache ist nicht nur das wichtigste Medium der Definition einer Situation, sondern auch der Erzeugung von Legitimität und Sinn. Die sprachliche Benennung einer Regel ist der letzte und wirksamste Schritt der Objektivation einer institutionellen Ordnung durch die Symbolisation, einer Ordnung, die zunächst ganz harmlos, personenbezogen und „spontan“ begann: als Gewohnheit und als nicht weiter bedachte gemeinsame Praxis.
10.5 Fundierung und Durchsetzung Im einleitenden Kapitel 1 oben in diesem Band über die Institutionen allgemein hatten wir drei Vorgänge der Einrichtung von Institutionen unterschieden: Dekrete, Verträge und die sog. spontane bzw. evolutionäre Ordnung. Es liegt nahe, sie mit den drei Arten der Ordnung zu verbinden, die wir in Kapitel 4 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ zusammenfassend unterschieden hatten: die repressive Ordnung beruhend auf Herrschaft, die essentielle Ordnung verankert in einer Moral und die konventionelle Ordnung, die sich aus einer einfachen Interessenkonvergenz und einer daran anschließenden Praxis ergibt. Die Verbindung zwischen diesen drei Vorgängen und Typen der Ordnung verläuft über zwei Mechanismen: Fundierung und Durchsetzung. Die Fundierung der Ordnung bezieht sich auf die Gemeinsamkeit der Interessen der Akteure an der Institution. Dekrete setzen Herrschaft voraus, Verträge sind auf gewisse nicht-vertragliche, moralische Bindungen angewiesen, und die spontane Ordnung hat ihre Basis in den konvergierenden Interessen einerseits, sowie in bestimmten Gewohnheiten und symbolischen Ankerpunkten der Koordination andererseits. Die Vorgänge der Ordnungsentstehung sind dabei selbst wieder ineinander fundiert: Jede Herrschaft, die den Erlaß von Dekreten ermöglicht, beruht ihrerseits auf essentiellen und konventionellen Regeln, auf moralischen Bindungen und auf erfolgreicher Praxis, auf Verträgen und auf Prozessen der spontanen Ordnung, gerade so wie dies Heinrich Popitz in seinen Beispielen zur Machtbildung gezeigt hat. Vertragliche Vereinbarungen bleiben immer ein Risiko und behalten ihre Bindewirkung nur, wenn schon gewisse Verpflichtungen entstanden sind, die
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wenn schon gewisse Verpflichtungen entstanden sind, die ihrerseits auf Interessenkonvergenzen und zur Gewohnheit gewordenen Abmachungen oder einfacher habitueller „Praxis“ beruhen. Und spontan entsteht Ordnung schließlich nur, wenn die Interessen der Akteure konvergieren und die Situation nicht allzu komplex ist, so daß die spontane Koordination des Handelns auch ohne lange Absprachen und Verhandlungen gelingen kann. Kurz: Auch die „repressiveren“ Formen der Ordnung und die eher dekretorischen Mechanismen der Ordnungsbildung beruhen auf den mehr konsensuellen Formen und evolutionär-spontanen Mechanismen. Konsensuelle Konventionen und die Mechanismen der spontanen Ordnung bilden gewissermaßen den informellen, zwanglosen und nicht-antagonistischen Untergrund, auf dem die essentiellen und dann auch die repressiven Formen der Ordnung und der Ordnungsentstehung aufbauen und erst bestehen und gedeihen können. Herrschaft und Dekrete sind ohne irgendeine Interessenbasis und ohne moralische Unterstützung letztlich nicht durchsetzbar, und Verträge nicht ohne konventionelle und spontan und endogen stabilisierte Einverständnisse. Die Fundierung einer Ordnung ist also in gewisser Weise asymmetrisch: Die spontane Ordnung kommt ohne Dekrete und ohne Herrschaft aus, weil sie eindeutig im Interesse der Akteure ist. Eine solche in konvergierenden Interessen verankerte Fundierung haben Herrschaft und Dekrete nicht. Die Durchsetzung einer Ordnung hat mit den Möglichkeiten zu tun, der Ordnung auch gegen die Interessen der Akteure zur Geltung zu verhelfen. Für die Durchsetzung gilt die umgekehrte Asymmetrie: Herrschaftsgestützte Dekrete können im Prinzip nicht nur weitere repressive Anweisungen an„ordnen“, sondern auch essentielle und konventionelle Regeln einsetzen und durchsetzen. Und wenn eine essentielle Ordnung gilt, dann lassen sich in ihrem Rahmen auch leicht bestimmte Konventionen vereinbaren. Dabei bleibt freilich stets das Problem bestehen: Die bloß äußerliche Durchsetzung einer Ordnung ohne Fundierung in den Interessen oder in einer unterstützenden Moral ist keine besonders stabile Grundlage für die betreffende Institution. Die gegenläufige Asymmetrie von Fundierung und Durchsetzung der verschiedenen Arten der Ordnung und Formen der Ordnungsstiftung legt daher die Vermutung nahe, daß funktionierende institutionelle Ordnungen aus einem sich wechselseitig stabilisierenden System von konventionellen, essentiellen und repressiven Elementen der Ordnung und von dekretorischen, vertraglichen und spontanen Mechanismen der Ordnungsentstehung und Ordnungsdurchsetzung bestehen, die füreinander die Leistung der Fundierung und der Durchsetzung erbringen. In Abbildung 10.3 ist diese gegenläufige Asymmetrie skizziert.
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Art der Ordnung
Entstehung
Mechanismen Durchsetzung
repressiv/ Herrschaft
Dekret
essentiell/ Moral
Vertrag
konventionell/ Praxis
spontan Fundierung
Abb. 10.3: Fundierung und Durchsetzung einer institutionellen Ordnung
Es kann also nicht verwundern, daß real existierende soziale Gebilde immer Kombinationen aller drei Formen der Ordnung und der Ordnungsmechanismen enthalten. Immer ist an jedem etwas dauerhafteren gesellschaftlichen Gebilde oder Prozeß etwas an Repression, Herrschaft und Erlaß, etwas an essentieller Bindung, Moral und Vertrag und etwas an konventioneller Gewohnheit, selbstverständlicher Praxis und spontaner Evolution dabei wenngleich ohne Zweifel in unterschiedlicher Gewichtung, je nachdem, ob es sich um eine Autobahnauffahrt, um die Biberjagd oder um die Hackordnung auf einem Schiffsdeck, in einem Gefangenenlager oder in einem Erziehungsheim handelt. *** Damit können wir die Umstände und Vorgänge bei der Entstehung von Institutionen zusammenfassen. Am einfachsten ist die Einrichtung einer sozialen Regel über eine konventionelle Vereinbarung. Sie erfolgt meist nach dem Vorlauf einer „spontan“ entstandenen gemeinsamen Praxis, die zur geteilten Gewohnheit geworden und mit sprachlichen Etiketten versehen ist. Der Hintergrund ist die Konvergenz der individuellen Interessen. Ein „essentielles“ Problem gibt es erst mit dem Auftreten einer neuen Generation, die den Sinn der inzwischen zum soziologischen Tatbestand objektivierten Vereinbarung nicht mehr unmittelbar erkennen kann. Bei essentiellen Regeln und bei der Schließung von Verträgen muß daher das Problem der Garantie
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der Vereinbarungen und damit das der Sanktionierung gelöst werden, weil die individuellen und die kollektiven Interessen nicht mehr übereinstimmen. Das Problem der Garantie hat selbst die Struktur eines „essentiellen“ Ordnungsproblems: Es ist ein Gefangenen- bzw. ein Freiwilligendilemma. Es ist aber – als „second-order“-Problem des kollektiven Handelns – meist weniger gravierend als das Ausgangsproblem der Einrichtung der essentiellen Ordnung selbst. So kann es – bei einem gegebenen Schatten der Zukunft und bei gegebenen Kooperationsgewinnen – zu einer Evolution der Kooperation für die Sanktionierung dadurch kommen, daß die Kooperationskosten in inkrementale Schritte gestaffelt werden und dadurch hinreichend abgesenkt sind, daß erst die Einhaltung der Ordnung durch alle garantiert werden kann – und so die „eigentliche“ essentielle Ordnung entstehen kann. Das Problem der Einrichtung einer essentiellen Ordnung läßt sich auch deshalb lösen, weil die Akteure im Grunde stets auch ein individuelles Interesse daran haben, aber wegen der Risiken und Versuchungen nicht über die Hürde der Vorleistung kommen. Das ist anders bei der repressiven Ordnung und beim Erlaß von Dekreten. Sie stoßen immer auf den – mindestens: latenten – Widerstand einiger Akteure im Geltungsbereich der Regeln, nämlich derjenigen, die nicht zum Herrschaftszentrum selbst gehören. Daher setzen die Durchsetzung repressiver Regeln und der Erlaß von Dekreten die Existenz eines Macht- und Herrschaftszentrums schon voraus. Die Fügsamkeit gegenüber einer Herrschaft wird dann auf dreierlei Weise gesichert: durch die Leistungen des Machtzentrums auch für die Unterlegenen, durch den Ausschluß von Alternativen und – insbesondere – durch den Aufbau eines wirksamen Sanktionsapparates. Man sieht unmittelbar, daß das Machtzentrum selbst schon das Problem des kollektiven Handelns nach innen überwunden haben muß: Die Organisation der Macht und die Errichtung einer Herrschaft sind ein Problem des kollektiven Handelns und ruhen selbst wieder auf essentiellen und konventionellen Ordnungen auf.
Die Geltung einer institutionellen Ordnung ist mit ihrer bloßen Entstehung oder Durchsetzung also noch lange nicht gesichert. Sie muß sich auch in den Orientierungen der Akteure niederschlagen. Die Maximen der Ordnung müssen zu den Maximen der Menschen werden. Das ist das Problem der Entstehung von Legitimität, um das es nun anschließend in Kapitel 11 geht. Es ist um so wichtiger und um so schwieriger zu lösen, je weniger selbstverständlich und je weniger durch die Interessen „self-enforced“ die Fundierung der Ordnung ist: am wenigsten wichtig und am einfachsten für die konventionelle, am wichtigsten und am schwierigsten für die repressive Ordnung.
Exkurs über die Behauptung, bei der Entstehung von Ordnungen sei aller Anfang leicht Auch ein noch so hohes Interesse an einer Ordnung erzeugt sie nicht so ohne weiteres. Der Grund dafür ist auf einer abstrakten Ebene leicht benannt: Es ist die Folge der sog. doppelten Kontingenz, der jedes soziale Handeln in einer proto-soziologischen Situation unterliegt, ein Handeln also, dessen Ergebnis auch vom Handeln anderer Akteure abhängig ist (vgl. dazu schon ausführlich Kapitel 1 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
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Die klassische Soziologie (um Durkheim oder Parsons) kannte für die Frage nach der Überwindung des Problems der doppelten Kontingenz eigentlich nur zwei Antworten. Erstens: Über die bloßen Interessen ist die soziale Ordnung grundsätzlich nicht zu erklären. Und zweitens: Es sind die Normen der Gesellschaft, die den Interessen der Individuen die nötige Orientierung geben, von der her erst deren Handeln strukturiert werden und soziale Ordnung entstehen kann. Beide Antworten haben sich inzwischen als unhaltbar erwiesen: Soziale Ordnung ist, wie etwa das Konzept der Schellingpunkte oder das Theorem von der Evolution der Kooperation zeigen, durchaus auch schon aus den bloßen Interessen (und Erwartungen) der Akteure erklärbar. Und der Hinweis auf die Wichtigkeit gesellschaftlich strukturierter normativer Orientierungen für die Regelung des sozialen Geschehens verschiebt das Problem der Erklärung der Ordnung nur einen Schritt nach hinten und auf die Frage, wo diese normativen Strukturen der Gesellschaft denn eigentlich herkommen. Das alles ist in der Soziologie recht früh erkannt und kritisiert worden und hat dem „normativen Paradigma“ schließlich den Garaus gemacht (vgl. dazu schon Abschnitt 7.6 oben in diesem Band, sowie noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Um die in diesen „Speziellen Grundlagen“ vorgestellten, etwa die tausch- und spieltheoretischen Lösungen des Problems, hat die Soziologie indessen bis auf einige wenige und von ihr selbst heftig befehdete Ausnahmen etwa bei George C. Homans stets einen weiten Bogen gemacht wahrscheinlich aus dem tief verwurzelten Glauben daran, daß es so ohnehin nicht gehen könne. Herausgekommen sind vielmehr zahllose und teilweise miteinander konkurrierende Versuche, weder „normativ“, noch „ökonomisch“, sondern ganz anders mit dem Problem der doppelten Kontingenz und der Ordnungsbildung zurande zu kommen, wie etwa das interpretative Paradigma in seinen verschiedenen Varianten der „symbolischen Interaktion“ oder der sog. Neo-Funktionalismus. Und einer dieser Versuche ist auch Luhmanns soziologische Systemtheorie gewesen. Niklas Luhmann hat dem Zusamenhang von doppelter Kontingenz und der Entstehung sozialer Ordnung ein eigenes Kapitel in seinem Hauptwerk „Soziale Systeme“ gewidmet.7 Es geht dabei um nichts weniger als um die Frage, wie die soziale Ordnung möglich sei, wenngleich verkleidet als Frage nach den Bedingungen, daß „soziale Systeme“, sozusagen aus dem Nichts, entstehen könnten. Der Ausgangspunkt ist die nur zu richtige Feststellung, daß die soziale Ordnung eben nicht (mehr), wie bis dahin, über Recht, Politik oder Wertekonsens erklärt werden könne (150f.; 164). Denn: Woher kommen die 7
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/M. 1984, Kapitel 3: Doppelte Kontingenz, S. 148-190. Die folgenden in Klammern aufgeführten Ziffern beziehen sich auf die jeweiligen Seiten in diesem Buch.
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denn? Und so stößt Luhmann auf das Problem einer protosoziologischen Situation, in der nichts weiter gilt als eben die doppelte Kontingenz von im einfachsten Falle zwei sich gegenseitig beobachtenden Akteuren, die bei Luhmann bekanntlich meist als „psychische Systeme“ bezeichnet werden (155f.; vgl. dazu auch schon Kapitel 2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Die sich beobachtenden psychischen Systeme bilden dabei „black boxes“ füreinander mit einer jeweils unergründlichen „Unerfaßbarkeit des Gegenüber“ (154ff.). Und die Frage ist: Wie kann daraus ein sich selbst reproduzierendes, abgestimmtes „soziales System“ entstehen und wie wird daraus eine „emergente Ordnung“? Das Problem ist klar: „Soziale Systeme bilden sich ... nur dort, wo Handlungen verschiedener psychischer oder sozialer Systeme aufeinander abgestimmt werden müssen, weil für die Selektion der einen Handlung die andere Voraussetzung ist oder umgekehrt.“ (161; Hervorhebungen nicht im Original)
Das klingt ja ganz plausibel: Ein soziales System, ein Gespräch, eine Geschäftsbeziehung etwa oder eine Freundschaft, gibt es erst dann, wenn sich die „Selektionen“ der Akteure in irgendwie „abgestimmter“ Weise aufeinander beziehen. Aber was heißen denn die Worte „Voraussetzung“ und „müssen“ in dem Satz? Wenn damit logische Bedingungen gemeint sind, etwa die, daß soziale Systeme so definiert sind, daß das Geschehen „abgestimmt“ ist, dann ist das eine Trivialität und nichts weiter als ein Teil der (formalen) Transformationsregeln, die zur Erklärung der Emergenz eines sozialen Systems ohnehin notwendig sind (vgl. dazu Kapitel 1, Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Luhmann meint wohl eher etwa anderes: Die Akteure haben ein Interesse daran, daß sie ein abgestimmtes „soziales System“ bilden, etwa, weil ansonsten ein sie beide drückendes Problem nicht zu lösen ist, und sei es das Problem bloß, daß die Akteure nicht länger die Ungewißheiten unter den Bedingungen der doppelten Kontingenz ertragen mögen: „Ego erfährt Alter als alter Ego. Er erfährt mit der Nichtidentität der Perspektiven aber zugleich die Identität dieser Erfahrung auf beiden Seiten. Für beide ist die Situation dadurch unbestimmbar, instabil, unerträglich. In dieser Erfahrung konvergieren die Perspektiven, und das ermöglicht es, ein Interesse an Negation dieser Negativität, ein Interesse an Bestimmung zu unterstellen.“ (172; Hervorhebungen so nicht im Original)
Das ist, mit dem für die soziologische Systemtheorie so üblichen dunklen Tiefsinn versehen, nichts anderes als das, was wir in Abschnitt 10.2 oben und in Kapitel 4 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ mit Norm- bzw. mit Ordnungsbedarf umschrieben haben. Der ergibt sich dar-
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Institutionen
aus, daß die Akteure in einer strategischen Situation an einer Regelung ein mehr oder weniger hohes Interesse haben, es diese Regelung aber noch nicht gibt, etwa ein Ehepaar, das sich in einer Großstadt verloren hat. Und weil bekanntlich mit einem „Bedarf“ noch lange keine Deckung dieses Bedarfs gegeben ist, entsteht ein mehr oder weniger großer Drang, das zu ändern. Kurz: „Doppelte Kontingenz erzeugt Aktionsdruck“ (162). So ist es. Luhmann hat dabei anscheinend eine ganz spezielle Situation vor Augen: Es gibt eine überall gleiche „Konvergenz“ der Interessen auf irgendeine Regelung, die, wenn sie einmal gefunden ist, alle Probleme erst einmal, aber auf einen Schlag löst. Luhmann drückt das wie üblich komplizierter und hochtrabender als nötig, aber gleichwohl unmißverständlich aus: „Damit ist, in Begriffen der allgemeinen Systemtheorie formuliert, ein ‚state of conditional readiness‘ gegeben, eine Systembildungsmöglichkeit im Wartestand, die nahezu jeden Zufall benutzen kann, um Strukturen zu entwickeln.“ (172)
Der „Zufall“ reicht für die Systembildung also schon aus, weil es, so muß man Luhmann wohl verstehen, eine Unzahl von eigentlich als äquivalent angesehenen Lösungen gibt, von denen jedoch nur eine gefunden werden muß. Das aber ist nichts anderes als die nicht weiter „definierte“ Situation eines Koordinationsspiels im Sinne von Abschnitt 3.1 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“. Und weil das so ist, entsteht die soziale Ordnung dann auch nahezu unvermeidlich und spontan: „Aller Anfang ist leicht.“ (184)
Jeder kennt das aus Sitzungen in neu geschaffenen Gremien oder zufälligen Begegnungen auf öffentlichen Plätzen, wie etwa in einem Zugabteil: Man weiß nicht genau, was jetzt passiert und was man voneinander zu halten hat, will oder „muß“ aber irgendwie zu einem koordinierten Fortgang der Dinge kommen. Und was tut man dann? Genau: „Unbekannte signalisieren sich wechselseitig zunächst einmal Hinweise auf die wichtigsten Verhaltensgrundlagen: Situationsdefinition, sozialer Status, Intentionen.“ (Ebd.)
Und schon erste Hinweise oder das spontane Finden eines unverfänglichen „Themas“ lösen das Problem: Die Sitzung kann beginnen und das Gespräch im Zugabteil seinen Gang nehmen einschließlich auch der Regelung, daß man sich nicht weiter behelligen will. Dieser erste zufällige und leichte Anfang setzt also so etwas wie einen Schellingpunkt, von dem aus sich nun alles weitere findet. Auf diese Weise entwickelt sich eine Art von „Systemgeschichte“ weiterer Festlegungen, dann durchaus auch in Form von weiteren „evolutionären“ Selektionen und gewisser, manchmal auch eskalierender,
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Pfadabhängigkeiten, die dann oft nicht mehr revidierbar sind und schließlich das System doch auch wieder in ein plötzliches Ende hineinführen können (vgl. dazu auch noch Kapitel 12 unten in diesem Band). Niklas Luhmann hält also offenbar den Umstand der doppelten Kontingenz schon für eine hinreichende Bedingung für die Entstehung von sozialen Systemen bzw. von sozialer Ordnung: Die doppelte Kontingenz ist das Problem, das sich aber gerade dadurch, daß es für die Akteure! ein drängendes Problem ist, seine Lösung selbst sucht und, wie es dann auch heißt, „autokatalytisch“ auch zuverlässig findet. Denn „ ... unter dieser Bedingung doppelter Kontingenz wird jede Selbstfestlegung, wie immer zufällig entstanden und wie immer kalkuliert, Informations- und Anschlußwert für anderes Handeln gewinnen. Gerade weil ... A durch B bestimnmt wird und B durch A, wird jeder Zufall, jeder Anstoß, jeder Irrtum produktiv.“ (165)
Und „... unter dieser Bedingung ist das Entstehen von ... Ordnung normal, wenn für diejenigen, die ihr Handeln festlegen, doppelte Kontingenz zur Erfahrung gebracht, also eine beidseitig kontingente Ego/Alter-Konstellation hergestellt werden kann.“ (166)
Sowie sogar: „ ... daß unwahrscheinliche Ordnung so gut wie zwangsläufig entsteht, wo immer doppelte Kontingenz erfahren wird.“ (176)
Freilich kann es nach jedem leichten Anfang und nach dem Anlaufen der Systembildung stets wieder neu zu Schwierigkeiten und zu Situationen mit neuer doppelter Kontingenz kommen. Nichts ist ja sicher und endgültig, und alles prozessiert ja stets nur in eine blinde Unendlichkeit mit einem offenen Ende hinein; das lehrt uns die soziologische Systemtheorie vollkommen zu Recht. Doch das macht nichts. Denn dann läuft der alte Mechanismus ja wieder an: Jede neue doppelte Kontingenz findet leicht wieder einen neuen Anfang für eine neue Systembildung, von dem an dann alles wieder von vorne beginnen kann, und das um so rascher, je doppelter, sozusagen, die doppelte Kontinenz ist. Was ist davon zu halten, und das in einem doppelten Sinne? Es ist wie so oft schon vorher: Die soziologische Systemtheorie nach Luhmann ist, ohne Frage, eine Sammlung höchst wichtiger, interessanter und oft überraschender Ansichten und fruchtbarer Verwirrungen, deren gravierendster und leider wohl auch irreparabler, Mangel darin liegt, daß sie mit der Vorstellung einer angemessenen soziologischen Erklärung nichts, aber auch gar nichts, anzufangen weiß und notorisch gerade die Beiträge aus den erklärenden Bereichen der Gesellschaftswissenschaften ignoriert, die für die von ihr thematisierten Fragen von höchster Bedeutung wären. Wären! Und nicht selten verirrt sie sich gerade deshalb in ein, wenn nicht unverstehbares, so doch häufig kaum durchdringliches und unhaltbares Beg-
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riffs- und Behauptungsgestrüpp, aus dem dann nur noch die scharfe Machete der soziologischen Erklärung heraushilft – wie das beispielsweise im Zusammenhang mit dem Begriffspaar „Inklusion und Exklusion“ in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, oder mit der Frage, ob sich Kommunikationen nicht doch als Ketten von aneinander anschließenden Akten rekonstruieren lassen, in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ auch schon geschehen ist.
Und so auch hier: Einerseits, andererseits. Einerseits ist ja nicht einfach falsch, was behauptet wird: Die „doppelte Kontingenz“ bestimmter sozialer Situationen erzeugt in der Tat einen mehr oder weniger großen Problemdruck und es kommt ja auch vor, daß Ordnung durch Zufall entsteht, weil sich die wechselseitig beobachtenden Akteure irgendwie „zufällig“ zurechtfinden oder sich nach einer kurzen gestischen oder symbolischen Verständigung koordinieren. Etwa vor der Fahrstuhltür oder an einer Ampel. Andererseits aber sehen wir auch die extreme Engführung der Ausführungen vor dem Hintergrund der Komplexitäten des Problems der sozialen Ordnung, das der Gegenstand dieses Bandes 5 ist: Luhmann hat augenscheinlich nur die relativ einfachen Probleme der Koordination im Blick. Und für die trifft ja in der Tat alles zu, was beschrieben wird: Jede zufällig oder über Schellingpunkte gefundene Regelung stabilisiert sich selbst, und je höher der „Aktionsdruck“ der Akteure, um so rascher wird eine solche Regelung auch gefunden. Aber ist das denn alles? Gibt es nicht viel gravierendere und kompliziertere! Probleme der sozialen Ordnung bzw. der Bildung sozialer Systeme als die recht einfachen Fragen nach der Koordination von „doppelt kontingenten“ Handlungen? Aber sicher gibt es die! Der ganze Band 3 über das „Soziale Handeln“ und natürlich auch dieser Band 5 über die „Institutionen“ dieser „Speziellen Grundlagen“ handelten davon. Also mindestens: DilemmaSituationen und Konflikte. Für die gilt, wie wir gesehen haben, die These, aller Anfang sei leicht, in keiner Weise. Hier ist jeder Anfang schwer, und manchmal gibt es auch keinerlei Anfang, selbst dann nicht, wenn das Interesse und der „Aktionsdruck“ noch so hoch sind. Warum das so ist, haben wir an den diversen Modellen des sozialen Handelns, insbesondere im Zusammenhang der Modelle der Spieltheorie, gut studieren können. Die aber scheint Niklas Luhmann nicht zur Kenntnis genommen zu haben. Für die damit verbundene theoretische Perspektive hatte er, wie auch die lautstärksten unter seinen Jüngern, stets nur verständnislosen Spott übrig. Aber das Verdrängen hilft nichts: Die soziale Welt besteht für die soziologische Systemtheorie soweit jedenfalls ganz offenbar nur aus den für das Ordnungsproblem relativ harmlosen Koordinationssituationen, für die das Theorem von der „hinreichenden“ Verbindung von doppelter Kontingenz und sozialer Ordnung ja tatsächlich zutrifft. Aber Dilemma-Situationen? Pareto-inferiorität? Antagonistische Kooperation? Ordnung als Kollektivgut?
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Konstitutionelle Interessen, Interessenkonflikte und gesellschaftliche cleavages? Allesamt: Fehlanzeige in der soziologischen Systemtheorie. Die gesellschaftliche Welt schnurrt zu einem Problem der koordinierten Kommunikation zusammen, und die sozialen Systeme entstehen, wenn es nur die Unsicherheiten in der doppelten Kontingenz gibt, ganz von allein. Es ist eine in der Tat nur virtuell-konstruierte Welt ohne wirkliche „materielle“ Probleme, Knappheiten und nicht nur vorgestellte oder bloß „definierte“ Risiken, aus denen sich die Schwierigkeiten ja letztlich ableiten, daß die soziale Ordnung meist nur sehr unwahrscheinlich und ihr Anfang alles andere als leicht ist. Luhmann ist sich in in dieser verträumt-idealistischen Sicht im übrigen nur auf den ersten Blick: überraschenderweise mit Jürgen Habermas einig. Beide eint, bei allen ihren sonstigen Gegensätzen, eine im Grunde freundliche Grundstimmung: Man muß sich nur auf irgendeine Lösung „verständigen“, und schon ist die soziale Ordnung da. Wenn es denn nur so wäre!
Kapitel 11
Legitimation
Die Legitimität einer Ordnung ist die Überzeugung, daß die Regeln der Institution richtig, vorbildlich und verbindlich sowie die damit verbundenen Folgen gerecht seien. Legitimation (oder auch: Legitimierung) ist der Prozeß, durch den eine Institution Legitimität erhält (vgl. auch Kapitel 4 oben in diesem Band). De-Legitimation ist entsprechend der Verfall einer bestehenden Legitimität. Sie ist ein Schritt auf dem Weg zum institutionellen Wandel, den wir im letzten Kapitel 12 dieses Bandes besprechen. Legitimität als eine besondere „Einstellung“ der Akteure zur Ordnung kann auf sehr verschiedene Weise entstehen. Wir werden vier verschiedene „Techniken“ der Legitimation besprechen: Die Konstruktion eines transzendenten nomischen Sinns der Institution, die Legitimation durch kommunikative Verständigung, die Legitimation über den sog. Schleier des Nichtwissens und die sog. Legitimation durch Verfahren. Die vier Techniken der Legitimation können gut mit vier (bzw. fünf) Autoren verbunden werden: Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Jürgen Habermas, John Rawls und Niklas Luhmann. Sie lassen sich in einer Dimension ordnen: Der einsehbare „Sinn“ der jeweils legitimierten institutionellen Ordnung wird in der genannten Reihenfolge immer abstrakter und die Verflechtung in das betreffende Regelwerk für die Akteure immer undurchschaubarer. Die Vermutung, die Sie jetzt haben, ist durchaus zutreffend: Es sind Techniken der Legitimation, die ihren „Sinn“ immer weniger durch eine übergreifende Sinnordnung und immer mehr aus dem bloßen Funktionieren der Ordnung als komplexes System von Interdependenzen gewinnen und die deshalb zunehmend auf die Institutionen der komplexen und modernen Gesellschaften passen.
Legitimation bedeutet immer zweierlei: die Erklärung der Existenz und des Sinns der Institution; und die Rechtfertigung ihrer Verbindlichkeit und ihrer Folgen. Ausgangspunkt jeder Form der Legitimation ist das Fehlen bzw. der Verfall bestehender Erklärungen und Rechtfertigungen, vor allem in jener unreflektierten Gewißheit von Richtigkeit und Gerechtigkeit, von Vorbildlichkeit und Verbindlichkeit, den die meisten Institutionen unseres Alltags allein deshalb haben, weil sie ihren problemlösenden Dienst sicher und unauffällig tun. Die Frage nach dem „Warum?“ der Institution beginnt, wenn der Sinn der Regeln nicht mehr selbstverständlich ist und ihre Folgen nicht mehr als selbstverständlich hingenommen werden.
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11.1 Nomisierung In der allerersten Phase der Institutionalisierung und besonders dann, wenn die Interessen konvergent, wenn Adressaten und Benefiziare der Ordnung konjunkt und wenn die Regeln nur konventioneller Art sind, ist die Legitimität kein weiteres Problem. Die Geschichte der Institutionen und die individuellen Biographien sind gleich. Jeder weiß genau, warum es die Regeln gibt, und warum es auch gut so ist, daß sie gelten. Die Ordnung wird als Teil einer nicht anders und nicht besser denkbaren Lösung eines drängenden Problems erlebt und empfunden. Die Erinnerung an das alte Chaos und das Erlebnis der Problemlösung reichen zur „Legitimation“ vollkommen aus. Aller Anfang ist hier in der Tat nicht nur leicht, sondern geradezu beflügelnd.
Primäre und sekundäre Legitimität Die ursprünglich erlebte Legitimität einer Institution aus eigener leiblicher Erfahrung des Ausgangsproblems, der Entstehungsgeschichte, des problemlösenden Nutzens und des so unmittelbar erkennbaren Sinns einer Regel sei als primäre Legitimität bezeichnet. Bei primärer Legitimität gilt die Institution den Akteuren mit Gewißheit: Sie ist den Akteuren selbst verständlich und selbstverständlich zugleich. Und oft genug wird sie mit allen Zeichen der Begeisterung und Leidenschaft unterstützt. Sobald die Interessen der Akteure jedoch nur ein wenig auseinanderfallen, etwa, weil es neue und bessere Wege gibt, die aber einige Akteure nicht beschreiten wollen, weil sie sich in der einmal gefundenen Ordnung so gut eingefunden haben, wird das Erlebnis der primären Legitimität schon gebrochen. Und spätestens mit dem Hinzutreten neuer Akteure, die die Entstehung nicht selbst erlebt haben, kann es eine primäre Legitimität in dem ursprünglichen Sinne nicht mehr geben. Nun wird eine besondere Legitimation endgültig erforderlich: „Das Problem der Legitimation entsteht unweigerlich erst dann, wenn die Vergegenständlichung einer (nun bereits historischen) institutionalen Ordnung einer neuen Generation vermittelt werden muß. Zu diesem Zeitpunkt kann der Gewißheitscharakter der Institutionen nicht länger mehr mittels Erinnerung und Habitualisierung des Einzelnen aufrechterhalten werden. Die Einheit von Lebenslauf und Geschichte zerbricht.“1
1
Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, 5. Aufl., Frankfurt/M. 1977 (zuerst: 1966), S. 99f.; Hervorhebungen nicht im Original.
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Das Ergebnis der Legitimation einer nicht primär als legitim geltenden Regel, sei als sekundäre Legitimität bezeichnet. Auch die sekundäre Legitimität muß freilich wieder jenen Gewißheitscharakter bekommen, den die primäre Legitimität von „Natur“ aus hat. Wie aber kann diese neue, nicht-primäre Gewißheit vermittelt werden?
Transzendenz Der amerikanische Religionssoziologe Peter L. Berger hat zur Lösung dieses Problems ein Gedankenexperiment und einen naheliegenden Vorschlag gemacht: Wenn der Grund für den Verfall der Legitimität darin liegt, daß die Institution im Prinzip auch als anders gestaltet denkbar ist, dann muß man sie in eine Welt der Ordnung, des Nomos, rücken, in der es einen Zweifel nicht mehr geben kann. Das ist die sakrale Welt eines transzendenten und für unantastbar angesehenen Kosmos. Das Gedankenexperiment geht so: „Gesetzt, jemand habe mit voller Absicht eine neue Gesellschaft gestiftet, ein Moses und ein Machiavelli in einer Person, dann stellt sich die Frage: Wie wird er den Fortbestand der ex nihilo geschaffenen institutionellen Ordnung am besten sichern? Offenkundig lautet die Antwort: durch Macht. Nehmen wir aber an, alle Machtmittel seien schon erfolgreich eingesetzt – alle Feinde vernichtet, die Zügel der Gewalt und des Zwanges fest in der eigenen Hand, und auch für die Übertragung der Macht an designierte Nachfolger ist Vorsorge getroffen. Nur das Problem der Legitimität ist noch offen und stellt sich um so dringlicher, weil die gesellschaftliche Wirklichkeit noch neu und sich in ihrer Gefährdung deshalb deutlich bewußt ist. Die Lösung bietet folgendes Rezept: Man interpretiere die institutionelle Ordnung möglichst so, daß ihr konstruktiver Charakter verborgen bleibt. Man lasse, was dem Nichts abgerungen wurde, als Manifestation von etwas erscheinen, das von Anbeginn der Zeiten oder wenigstens seit den Anfängen dieser einen gesellschaftlichen Gruppierung da war. Die Menschen müssen vergessen, daß die Ordnung, in der sie leben, ein Gebilde von Menschenhand ist, dessen Fortbestand vom Konsens unter Menschen abhängt. Sie müssen glauben, daß sie, wenn sie im Rahmen der ihnen auferlegten institutionellen Programme handeln, ihre eigenen tiefsten Sehnsüchte in die Wirklichkeit umsetzen und sich damit in Einklang mit der Grundordnung des Universums bringen. Kurz: Man setze religiöse Legitimationen.“2
Das ist eine sehr probate Lösung: Die Religion legitimiert die weltlichen Institutionen, indem sie ihnen einen endgültigen und unbezweifelbaren transzendenten, das heißt: außerweltlichen, Status verleiht. Diese Lösung ist worauf Peter L. Berger nicht vergißt, hinzuweisen historisch „in ungezählten Versionen“ vorgekommen: Die Institutionen- und die Religionsgeschichte kennt wie Peter L. Berger weiter berichtet „etliche kühle Köpfe“ (Ebd., S. 33).
2
Peter L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt/M. 1973, S. 32f.; Hervorhebungen im Original.
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Stufen der Welterklärung Durch die Transzendierung einer institutionellen Ordnung in einen übergeordneten und unzweifelhaft gültigen nicht-weltlichen Kosmos wird die Existenz der Institution auf eine neue und sichere Weise erklärt. Und es werden immer: im Zuge dieser Erklärung auch die Folgen ihres Wirkens auf eine neue und sichere Weise gerechtfertigt. Nicht immer aber ist diese weitreichende Lösung des Problems nötig. Und nicht immer reicht sie aus. Vier Stufen der Erklärung und Rechtfertigung von Institutionen lassen sich unterscheiden: Sprache, Legenden und Lebensweisheiten, Legitimations„Theorien“ und symbolische Sinnwelten (vgl. Berger und Luckmann 1969, S. 100-112). Die religiöse Legitimation ist dabei eine Version der vierten Stufe, der Errichtung einer symbolischen Sinnwelt.
Sprache und Konversation Die erste, noch sehr implizite Form der Erklärung und Rechtfertigung ist bereits die bloße sprachliche Etikettierung einer Sache oder eines Vorgangs. Jedes kollektiv verbreitete und weitergegebene Vokabular benennt nicht nur die Dinge, sondern informiert auch über die weiteren Zusammenhänge und Erwartungen und Regeln im Umgang damit. Mit dem Begriff „Abseits“, „Umweltschutz“ oder „Finanzamt“ werden gleich ganze Kaskaden von Erinnerungen an Konventionen, Verpflichtungen und natürlich auch an Repressionen ausgelöst, die sich zunächst von ganz alleine und mit Gewißheit legitimieren: So ist das eben und man macht das so! Die sprachliche Legitimation ist noch ganz unreflektiert und verläuft mit dem Hören der Worte ganz automatisch. Sie ist die „unterste“ Stufe aller darauf aufbauenden Formen der Legitimation. Allein deshalb sind Gespräche so wichtig für die Menschen und für die Institutionen. Das ununterbrochene „Rattern einer Konversationsmaschine“ (Berger und Luckmann 1969, S. 163) ist somit der unterste legitimierende Fundus, auf dem die komplizierten Gebilde der Gesellschaft letztlich alle gründen. Mit Gesprächen umrahmte Interaktionsrituale dienen meist unbeabsichtigt der Sicherung der subjektiven Wirklichkeit der objektiven institutionellen Regeln durch die im Gespräch immer wieder neu erinnerte Geltung der Regeln, an die man sich in der Interaktion gerade hält (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Walter Kempowski hat diesem „großen Chor“ des sprachlichen Alltagsgeschnatters, das alle großen und kleinen Dinge der sozialen Welt stets begleitet, in seinem „Echolot“ ein literarisches Denkmal gesetzt.
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Legenden und Lebensweisheiten Die sprachliche Legitimation ist noch ganz untheoretisch und unreflektiert und beläßt vor allem die verschiedenen Einzelteile der Ordnung relativ isoliert auf sich beruhen. Das geht auch, weil der Sinnzusammenhang noch selbstverständlich ist, und die Ordnung insgesamt mit Gewißheit gilt. Auf der nächsten Ebene der Legitimation finden wir schon einfache theoretische Konstruktionen, die einen komplizierteren oder bereits gebrochenen Sinnzusammenhang (wieder-)herstellen. Es sind Schemata und Rezepte, die in Form von Lebensweisheiten, Sprichwörten oder Legenden unterschiedliche Objekte und Regeln zusammenfügen: „Was Du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen!“. Oder: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, wenn er auch die Wahrheit spricht“ zum Beispiel. Solche Legenden und Lebensweisheiten umrahmen das sprachliche und interaktive Geschehen mit weiteren kognitiven und bewertenden Assoziationen. Sie sind noch sehr eng mit den praktischen Dingen des Alltags verbunden. Die sozialen Drehbücher und die wichtigsten Rollen des Alltags sind von ihnen wie von einem Schutzgürtel umgeben.
Legitimationstheorien Aber auch die Lebensweisheiten und Legenden lassen die Sinnzusammenhänge immer noch unausgesprochen. Die dritte Stufe der legitimatorischen Welterklärung sind die sog. Legitimationstheorien. In ihnen werden die Sinnzusammenhänge explizit gemacht. Sie liefern mehr oder weniger geschlossene Bezugssysteme für die betreffenden Ausschnitte des institutionellen Handelns. Sie erklären ausdrücklich, warum es die Institution gibt und warum sie ihre Verbindlichkeit zu Recht haben. Peter L. Berger und Thomas Luckmann bringen ein fiktives Beispiel einer „Theorie“ der Institution der „Vetternwirtschaft“ mit allen ihren komplizierten Rechten, Pflichten und feststehenden Bräuchen. Das ist etwas fern von unserem Alltag. Näher daran wären für Studenten der Soziologie die ausgetüftelten Theorien der sozialwissenschaftlichen Methodenlehre, in denen ja begründet wird, warum man bestimmte Regeln der Theoriebildung und Theorieprüfung tunlichst beachten soll. Dieses Buch ist zum Beispiel auch ein Versuch für eine explizite Legitimationstheorie, nämlich die, daß es sinnvoll ist, Soziologie nur in einer bestimmten Art zu betreiben. Hoffentlich gelingt hierbei das, was die expliziten Legitimationstheorien allesamt wollen und sollen: daß die Akteure nach der Kenntnisnahme der entsprechenden Instruktionen einsehen und verstehen, warum die Regeln in der Tat richtig und die Folgen gerecht sind.
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Eine besondere Objektivität erhalten die Legitimationstheorien nicht zuletzt durch eine bestimmte soziale Erfindung: die Schriftsprache (vgl. dazu bereits Abschnitt 8.3 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“). Wegen dieser, nicht immer von jedermann beherrschten, technischen Besonderheit und weil die expliziten Legitimationstheorien oftmals recht kompliziert sind, werden sie schon bald zum Gegenstand eigener Bemühungen eines dazu eigens ausersehenen Personals. Sobald es das aber gibt, ist der Schritt zur Ausbildung einer eigenen institutionellen Sphäre der Rechts- und Schriftgelehrten in der Gesellschaft nicht mehr groß. Nun können sogar hauptamtliche „Legitimatoren“ bestellt werden. Und die werden natürlich alles daransetzen, ihr inzwischen bezahltes Tun wieder zu legitimieren und die Legitimationstheorien immer komplizierter und unverständlicher zu machen. Kurz: Es beginnt sich eine eigene Institution als eigene funktionale Sphäre mit eigenen kulturellen Zielen und eigenen institutionalisierten Mitteln und mit eigenen Interessen innerhalb der bisherigen Lebenswelt auszudifferenzieren. Dadurch entfernen sich die Legitimatoren und ihre Produkte! freilich immer weiter vom alltäglichen Geschehen. Und plötzlich verstehen die „Laien“ die Legitimationsexperten und die Legitimationsexperten die Laien nicht mehr, wobei sie doch eigentlich die Aufgabe hatten, eine etwas unverständlich gewordene Institution wieder mit Sinn zu füllen. Jeden Samstagabend kann man dafür ein Beispiel beobachten beim Wort zum Sonntag, das die Millionen Laien nutzen, um eine neue Flasche Veltins aus dem Kühlschrank zu holen.
Symbolische Sinnwelten In den expliziten Legitimationstheorien stehen die Sphären des Alltags immer noch als getrennte Sinnbereiche nebeneinander. Und sie haben immer noch einen deutlichen Bezug zu den profanen Dingen des praktischen Lebens. Das ist bei der vierten Stufe der Legitimation, bei den symbolischen Sinnwelten, anders: Sie bringen die verstreuten Sinnsphären und disparaten sozialen Regeln zu einer umfassenden und zusammenfassenden Einheit zusammen. Symbolische Sinnwelten sind „ ... synoptische Traditionsgesamtheiten, die verschiedene Sinnprovinzen integrieren und die institutionale Ordnung als symbolische Totalität überhöhen.“ (Berger und Luckmann 1969, S. 102)
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Diese Wirkung haben die symbolischen Sinnwelten durch eine besondere Eigenschaft: Die Ordnung der Welt wird als Spiegelung der Ordnung eines transzendenten und unhinterfragten und unhinterfragbaren Kosmos verstanden. Auf der Geltung dieses Kosmos ruhen die Erklärungen und Rechtfertigungen für im Prinzip alle Bereiche des Lebens auf. Sie geben allen Dingen einen unbezweifelten und unbezweifelbaren Sinn: „Jetzt jedoch werden alle Ausschnitte der institutionellen Ordnung in ein allumfassendes Bezugssystem integriert, das eine Welt im eigentlichen Sinn begründet, weil jede menschliche Erfahrung nun nurmehr als das gedacht werden kann, das innerhalb ihrer stattfindet. ... Die ganze Geschichte der Gesellschaft und das ganze Leben des Einzelnen sind Ereignisse innerhalb dieser Sinnwelt.“ (Ebd., S. 103; Hervorhebungen so nicht im Original)
Die wohl wichtigste Funktion der symbolischen Sinnwelten ist die Nomisierung des Lebens: der Schutz der alltäglichen Routineexistenz gegen das immer gegenwärtige Grauen der Anomie jener Schattenwelt des Irrsinns hinter dem hellen Schein der Ordnung in der Alltagswelt, jene „ ... heulenden Gespenster der anderen Wirklichkeit, der Nachtwirklichkeit.“ (Ebd., S. 105)
Im Rahmen der ins Kosmische überhöhten Wirklichkeit der symbolischen Sinnwelten werden nicht nur die Routineabläufe des Alltags, der eigene Lebenslauf und die eigene gegenwärtige Identität mit nomischem Sinn versehen. Sie geben selbst den denkbaren und undenkbaren Grenzsituationen des Lebens Krankheit, Tod, Ungerechtigkeiten, dem an sich unmöglichen Abstieg von Schalke 04 noch eine oberste Bedeutung, sei es als unerforschlicher Ratschluß des Herrn, sei es als dialektisches Walten der Vorsehung oder sei es als unergründliche Allmacht von Gaia, der Mutter Erde. Der Trick, mit dem die Menschen sich diese Sicherheit geschaffen haben, war einfach: Der Ort der Sinnstiftung wird in das realissimum einer transzendenten Sakralität verlegt, welches per definitionem jenseits aller menschlichen Zufälligkeiten liegt und von jedem profanen Bezug abgekoppelt ist.
Religion und Ritual Die Religion ist die geniale Erfindung des Menschen zur Etablierung einer solchen absolut-sakralen Ordnung der Existenz gewesen. So einfach und genial diese Erfindung auch war, so fragil ist sie dann letztlich doch wieder. Denn: Hoffentlich merkt niemand, daß sie selbst nur Menschenwerk ist. Denn nur so werden auch noch die wunderlichsten Widersprüche und Ungerechtigkeiten einer institutionellen Ordnung verständlich, erträglich und legitim. Aber auch dagegen haben die Menschen ein probates Mittel gefunden: das Ri-
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tual. Rituale sind festgefügte Abläufe des immer gleichen Geschehens. Sie bestehen aus zwei Teilen: den Dingen, die getan werden müssen, den dromena, und den Dingen, die gesagt werden müssen, den legoumena. In Ritualen werden heilige Formeln wiederholt, die Namen, Taten und Gedanken zusammenfügen und in die Erinnerung der schwankenden Psychen der Menschen sicher zurückholen. Sie „ ... erneuern die Kontinuität zwischen dem gegenwärtigen Augenblick und der gesellschaftlichen Überlieferung und stellen Einzel- und Gruppenerfahrungen in den Kontext einer Geschichte (einerlei ob fiktiv oder nicht), die alle und alles überhöht.“ (Berger 1973, S. 40)
Kurz: Rituale erneuern das Gedächtnis der „Gesellschaft“ an die sichere Existenz einer sakralen symbolischen Sinnwelt. Religiöse Rituale tun das in ganz besonderem Ausmaß. Religion, Ritual und absolute Legitimation bilden eine Einheit. Das Problem der Übertragung Aber auch die mächtigsten Rituale können nicht alles an Bedrohungen der absoluten Sakralität einer symbolischen Sinnwelt bereinigen. Nicht jeder ist gleich davon voll erfaßt etwa schon, weil mancher zu begriffsstutzig für die netten Geschichten der Bibel ist. Es stellt sich auch für die symbolischen Sinnwelten das Problem der Übertragung der Gewißheiten auf die neuen Generationen. Nicht alle profitieren außerdem gleichermaßen von den Segnungen der irdischen Institutionen, die durch die Sinnwelt gesichert werden, und die Interessenkonflikte verschwinden ja über die symbolisch überhöhte Legitimation alleine nicht. Häretiker gibt es immer wieder. Und die sakral legitimierte Wirklichkeit ist oft genug sehr profan und unheilig und vor allem handgreiflich vorhanden. Das gilt für die entrückte Wirklichkeit der symbolischen Sinnwelt nicht: „Menschliche Vettern (einer sakralisierten symbolischen Sinnwelt der Institution der Vetternwirtschaft; HE) sind empirisch zugegen, göttliche dagegen leider nicht.“ (Berger und Luckmann 1969, S. 114)
Auch wenn es den Menschen nachhaltig schlecht geht, sind die Zweifel an der Realität des realissimum nicht auszuschalten. Vieles läßt sich, wennzwar mit einiger Mühe, immer noch intern bereinigen. Wirklich unter Druck aber geraten symbolische Sinnwelten bei Kontakten mit anderen Gesellschaften und Kulturen mit anderen symbolischen Sinnwelten oder bei Entstehen von „Sub“- oder gar „Gegen“-Kulturen, die auch ohne die betreffenden Institutionen ganz gut auskommen. Die Gefahr für die Absolutheit der symbolischen Sinnwelt hat einen einfachen Grund:
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„Das Auftauchen einer alternativen symbolischen Sinnwelt ist eine Gefahr, weil ihr bloßes Vorhandensein empirisch demonstriert, daß die eigene Sinnwelt nicht wirklich zwingend ist.“ (Ebd., S. 116)
Immer, wenn solche Irritationen auftreten, ist es zunächst vorbei mit der unbezweifelten Gewißheit der symbolischen Sinnwelt, die doch allem und jedem seine Ordnung gab. Nun muß etwas geschehen. Und das ist irgendeine Form der „Durchdringung“ und „Rationalisierung“ der gedanklichen Konstruktionen, die die Sinnwelt tragen.
Die „Rationalisierung“ der symbolischen Sinnwelten Vier Stufen der rationalen Durchdringung und Durcharbeitung symbolischer Sinnwelten können unterschieden werden: Mythologie, Theologie, Philosophie und Wissenschaft (vgl. Berger und Luckmann 1969, S. 118ff., Berger 1973, S. 33ff.). Mythologien sind gedankliche Stützkonzeptionen für die Erklärung der sichtbaren Wirklichkeit, die die andauernde Einwirkung heiliger Kräfte auf die Erfahrungen der Alltagswelt annehmen. Sie setzen ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen kosmischer und gesellschaftlicher Ordnung voraus. Eine der verbreitesten Mythologien war und ist dabei die Annahme, daß die institutionelle Ordnung eine direkte Spiegelung oder Manifestation der göttlichen Weltstruktur sei. Jedem „hinieden“ entspricht ein Analogon „da droben“. Jede Position hier ist auch eine Position dort. Mythologien sind die archaischste Form symbolischer Sinnwelten, wahrscheinlich der Beginn des systematischen menschlichen Denkens überhaupt. Auf den ersten Blick scheint es Parallelen zwischen dem mythologisch geprägten „prälogischen“ Denken der Angehörigen einfacher Gesellschaften, wie es Lucien Lévy-Bruhl behauptet hatte (vgl. dazu bereits Abschnitt 6.6 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“), und den ebenfalls stark „mythologisch“ durchsetzten Denkstrukturen kleiner Kinder zu geben, wie dies etwa Jean Piaget als eine der unumgänglichen Stufen der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit angibt (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und die Ausführungen dort zum „moralischen Bewußtsein“).3 Mit der Erweiterung des Rahmens, in dem die Legitimationen wirken sollen, sind eine gewisse Abstraktion und Ablösung der Sinnwelten vom Alltag, eine Trennung zwischen Sakralität und Profanität nötig. Das leisten die Theologien. Theologie beginnt da, wo der Alltag nicht mehr komplett vom Walten heiliger Kräfte durchdrungen scheint. Theologische Konstruktionen sind in gewisser Weise „höher“ entwickelte und dem Alltag schon stärker entrückte mythologische Systeme. In ihnen sind die Inhalte kanonisiert, systematisiert und integriert. Die Philosophie ist ein weiterer Schritt dieser Ablösung und Systematisierung von Denkinhalten. Die moderne Wissenschaft schließlich ist der äußerste Schritt hin zur rationalen Durchdringung, Durchtheoretisierung und Säkularisierung symbolischen Wissens – bis hinein in derart abstrakte Konstruktionen, daß sie nur noch von einer Handvoll von Experten verstanden werden können. 3
Die ethnologischen Forschungen haben diese Parallelität im übrigen immer nachdrücklich bezweifelt; vgl. Edward E. Evans-Pritchard, Lévy-Bruhl’s Theory of Primitive Mentality, in: Bulletin of the Faculty of Arts, 2, 1934, S. 1ff. Vgl. auch Marvin Harris, Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt/M. und New York 1989, S. 327ff.
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Mythologie, Theologie, Philosophie und moderne Wissenschaft können durchaus koexistieren wie wir an den Universitäten, Feuilletonredaktionen und Funkhäusern sehen können. Aber die Reihenfolge zeichnet dann doch einen Weg den in die modernen, funktional differenzierten und entzauberten Gesellschaften der Gegenwart. Auguste Comte, der Erfinder des Wortes „Soziologie“, hat das sog. Drei-Stadien-Gesetz aufgestellt.4 Diesem „Gesetz“ zufolge durchlaufe das menschliche Denken drei aufeinanderfolgende theoretische „Stadien“: das „theologische“ oder das „fiktive“, das „metaphysische“ oder das „abstrakte“ und schließlich das „positive“, das „wissenschaftliche“ Stadium. In der ersten Phase erklärt der Mensch die Naturerscheinungen in Analogie zu anthropomorphanimistischen Vorstellungen, also: „mythologisch“, in der zweiten Phase behilft er sich bei der Erklärung mit dem Wirken abstrakter Wesenheiten, also: „theologisch“ bzw. „philosophisch“, und im dritten Stadium schließlich beschränkt er sich darauf, zwischen den Erscheinungen intersubjektiv prüfbare Regelmäßigkeiten theoretisch zu postulieren und dann als empirische „Gesetze“ zu bestätigen. Die Stadien erinnern sehr an die geschilderte Stufenfolge der Entwicklung der Rationalisierung, Verselbständigung und Generalisierung symbolischer Sinnwelten – einschließlich ihres dadurch vorgezeichneten Weges in die „Sinnlosigkeit“. Die Soziologie – so meinte Comte übrigens – sei die Krone dieser Entwicklung, auch innerhalb der anderen „positiven“ Wissenschaften. Wie Recht er doch hatte!
Die gemeinsame Dimension dieser Reihenfolge ist die Abstraktion und Generalisierung der Inhalte. Sie wird durch die gesellschaftlichen Erfordernisse an die Institutionen bei sozialer Differenzierung erzwungen, bei sozialem Wandel und bei der Zunahme von Kulturkontakten.
11.2 Verständigung Die Legitimationen müssen mit der Modernisierung und Entzauberung der Welt mehr und mehr auch Interessengegensätze überbrücken und andere kulturelle Entwürfe einbeziehen können. Deshalb müssen die Welterklärungen immer allgemeiner und immer „theoretischer“ werden. Mit zunehmender Differenzierung, Komplexität, Widersprüchlichkeit und Instabilität der Lebenswelten gelingt die Integration legitimierender symbolischer Sinnwelten schließlich nur noch dadurch, daß sie auf abstrakte Prinzipien statt auf konkrete Werte mit daran fest verbundenen spezifischen Handlungen verweisen. Leicht läßt sich also vorstellen, daß irgendwann einmal der Punkt erreicht ist, an dem die Generalisierung der symbolischen Sinnwelten so weit und so dünn 4
Auguste Comte, Cours de Philosophie Positive, Band 1, Paris 1968. Vgl. dazu auch schon Kapitel 7 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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geworden ist, daß sie zwar umfassend und „rational“, aber auch kaum noch handlungssteuernd ist und auch die Leistung der Nomisierung nicht mehr erbringen kann. Der Kantsche Kategorische Imperativ ist ein Beispiel dafür. Er lautet einfach und auf den ersten Blick überzeugend: Handle stets so, daß Dein Handeln zur Maxime für das Handeln aller erhoben werden könnte! Das ist sicher ein ganz allgemeiner und auch rational begründbarer Standard. Aber für die alltäglichen Entscheidungen gibt er nicht viel her. Andere Werte, wie die „freiheitlich demokratische Grundordnung“ oder das „ökologische Bewußtsein“, haben ein ähnliches Problem: Alle berufen sich darauf, und jeder handelt doch nur nach seinen Interessen. Kurz: Überall drohen Sinnlosigkeit, Orientierungs- und Ordnungsprobleme, weil der Bogen der Durchrationalisierung und der Generalisierung der symbolischen Sinnwelten in den rationalen Konstruktionen zu weit gespannt worden ist.
Was also nun? Hier verspricht Jürgen Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Handelns einen Ausweg.5 Das Problem klingt wie die Quadratur des Kreises. Einerseits soll es eine rational begründete Zustimmung zu einer Norm oder Regel geben. Andererseits darf sich diese Zustimmung aber nicht bloß auf Interessen stützen, sondern muß in irgendeiner Weise mit einer unbedingten, wenngleich reflektierten, Bindewirkung versehen sein. Wie also so könnte man fragen kriegt man rationale Egoisten dennoch zu einem moralisch bindenden Einverständnis, so daß ein normativer Anspruch nicht nur als „richtig“, sondern auch als „gerechtfertigt“ gilt? Die Antwort ist vom Ergebnis her gesehen recht einfach: Das Einverständnis, einer Regel zu folgen, ist keine bloße „Gleichstimmung“. Es beruht auch nicht auf einer Täuschung oder einem Irrtum. Und es ist erst recht nicht von außen auferlegt oder durch Macht und Sanktionsdrohungen erzwungen. Die Adressaten der Norm müssen vielmehr zu der rational reflektierten Überzeugung kommen, daß der von einem Normsender geäußerte Anspruch zu Recht besteht. Diese Überzeugung entsteht nach Überzeugung von Habermas dann, wenn das Ansinnen einerseits als grundsätzlich kritisierbar und ablehnbar erkannt wird, und wenn der Adressat andererseits zu dem Ansinnen in rationaler Begründung mit „Ja“ Stellung nimmt. Mit dieser Stellungnahme, die ja nicht durch Furcht, Bestechung oder Irrtum entsteht, bildet sich gleichzeitig eine psychologische Bindung an die Norm, die ganz anders ist als die bloß traditionale oder über Werte oder über einen unreflektierten Glauben gesteuerte gesinnungsethische Zustimmung: Es ist die verantwortungsethische Zustimmung eines rational reflektierenden moralischen Bewußtseins. Es ist 5
Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1981, Erste Zwischenbetrachtung: Soziales Handeln, Zwecktätigkeit und Kommunikation, S. 367-452. Vgl. dazu auch schon kurz die Abschnitte 6.7 und 6.8 in Band 1, „Situationslogik und Handeln“, sowie Abschnitt 8.3 in Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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stimmung eines rational reflektierenden moralischen Bewußtseins. Es ist kein dumpf-konventionelles, auch kein schlau-strategisches, sondern ein bewußt post-konventionelles Einverständnis.
Kommunikatives Handeln Wie aber kommt dieser Zustand zustande? Der Ausgangspunkt aller Überlegungen ist das Konzept des kommunikativen Handelns. Wir haben es in Abschnitt 8.3 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ im Zusammenhang mit dem Konzept der Kommunikation allgemein schon angesprochen. Das kommunikative Handeln ist etwas vereinfacht gesagt ein soziales Handeln, bei dem die Akteure in ihren Absichten und Orientierungen keinerlei egoistische oder strategische Hintergedanken hegen. Der Hintergrund ist die von John L. Austin eingeführte Unterscheidung von lokutionären, illokutionären und perlokutionären Sprechakten. Zentral ist der Unterschied zwischen den illokutionären und den perlokutionären Akten. Illokutionen sind ganz unschuldig und selbstgenügsam. Man handelt, indem man spricht und sonst nichts weiter. Bei Perlokutionen ist aber hinter dem im Sprechen erkennbaren Motiv des Sprechers eine unter Umständen ganz andere Absicht verborgen. Hier „ ... können wir den Sprecher als Täter einer Handlung bezeichnen, in deren Namen der lokutionäre oder der illokutionäre Akt nur indirekt oder überhaupt nicht vorkommen.“ (Habermas 1981, S. 390)
Bei Perlokutionen möchte der Sprecher ein strategisches Ziel erreichen, eine Absicht verwirklichen, einen Erfolg erzielen und benutzt dazu das Mittel der Sprache. Etwa: der Versicherungsvertreter an der Haustüre, der von den vielen Gefahren des Lebens spricht, aber nur einen Abschluß machen möchte; oder Eugen Drewermann in Paderborn, der mit aller seiner Salbaderei doch nur eines will: dem Erzbischof und dem Papst eins auswischen. Perlokutionäre Sprechakte sind also Unterfälle des strategischen Handelns. Lokutionen und Illokutionen werden dabei nur benutzt, um ganz andere finstere, hinterhältige, egoistische Ziele zu erreichen. Das kommunikative Handeln ist nun jener Typ eines Handelns, bei dem die Beteiligten vorbehaltlos nur illokutionäre Ziele verfolgen und keinerlei strategische perlokutionäre Absichten auf eine andere Wirkung als die im Sprechakt geäußerte haben. Ihr einziges Ziel ist die Koordination des Tuns mit dem Interaktionspartner ohne jeden falschen Hintergedanken, etwa des free riding oder der Täuschung:
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„Kommunikatives Handeln zeichnet sich gegenüber strategischen Interaktionen dadurch aus, daß alle Beteiligten illokutionäre Ziele vorbehaltlos verfolgen, um ein Einverständnis zu erzielen, das die Grundlage für eine einvernehmliche Koordinierung der jeweils individuell verfolgten Handlungspläne bildet.“ (Ebd., S. 397)
Den Hintergrund für dieses Motiv nach einvernehmlicher Koordination durch das ganz vorbehaltlos nicht-strategische kommunikative Handeln nennt Habermas auch. Dazu läßt er auf Seite 370 des ersten Bandes der Theorie des kommunikativen Handelns einen gewissen Siegfried Kanngießer für sich sprechen. Wir haben das Zitat von Kanngießer noch um den Aspekt erweitert, der als materieller Hintergrund jeder Legitimation vorausgeht und den Jürgen Habermas in der idealistischen Tradition Hegels gerne zu vergessen oder zu übersehen pflegt die unerläßliche Sicherung der für die Menschen lebensnotwendigen Kooperation. Kanngießer meint: „ ... so kann man sagen, daß die Möglichkeit erfolgreich in Kommunikation miteinander treten zu können, eine Bedingung der Möglichkeit erfolgreicher Interaktion ist; Interaktion aber ist eine Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft überhaupt. Die Notwendigkeit, gewisse Probleme im koordinierten (teilweise sogar im kooperativen) Handeln gemeinsam mit anderen lösen zu müssen, setzt die Existenz von Kommunikationsmöglichkeiten unabdingbar voraus; anders gesagt: die Notwendigkeit koordinierten Handelns erzeugt in der Gesellschaft einen gewissen Kommunikationsbedarf, der gedeckt werden muß, wenn eine effektive Koordinierung von Handlungen zum Zweck der Bedürfnisbefriedigung möglich sein soll.“6
Die Gewinne an Bedürfnisbefriedigung durch eine erfolgreiche Koordination sind also der Anlaß und das Motiv für die Idee, das Handeln durch Kommunikation abzustimmen. Bei Interessenkonvergenz ist das aber ja auch alles kein besonderes Problem. Dabei braucht man eigentlich, wie wir in den Abschnitten 3.1 und 8.1 von Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ gesehen haben, gar keine Kommunikation. Ein Koordinationsproblem ist so einfach zu lösen, daß Jürgen Habermas dazu keine dicken Bücher hätte schreiben müssen. Es geht also offenbar um mehr. Es geht um die Erzeugung einer Bindewirkung auch an essentielle oder sogar auch: repressive Normen. Und das: Allein durch Kommunikation! Durch cheap talk also, wie die Ökonomen meinen!
6
Siegfried Kanngießer, Sprachliche Universalien und diachrone Prozesse, in: Karl-Otto Apel (Hrsg.), Sprachpragmatik und Philosophie, Frankfurt/M. 1976, S. 278; Hervorhebungen so nicht im Original.
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Bedeutung und Geltung Wie kann es also gerade vor diesem, doch wieder sehr nach „Interessen“ riechenden Hintergrund zu jener Vorbehaltlosigkeit einer „echten“ Illokution in einer letztlich doch auch strategischen Situation kommen? Und wie gelingt es ferner, das Einverständnis dann an einen reflektierten und gleichzeitig begründeten normativen Standard zu binden? Wir wollen die Überlegungen an einem einfachen Beispiel erläutern. Ausgangspunkt ist wieder der Großraumwagen im IC zwischen Köln und Koblenz und einer Horde betrunkener Bundeswehrrekruten (vgl. bereits Abschnitt 5.3 oben in diesem Band). Ein Sprecher S der übrigen Fahrgäste verliert die Nerven und richtet an einen Hörer H aus der Horde den folgenden Satz: „Ich fordere Sie hiermit auf, sich doch etwas zivilisierter zu verhalten.“
Die möglichen Reaktionen des Hörers H darauf lassen sich in zwei Alternativen zusammenfassen, wobei die lebensweltlichen und alkoholbedingten Konkretisierungen wohl etwas anders aussehen mögen: 1. „Ja, ich will dem Folge leisten ... .“ 2. „Nein, ich will dem nicht Folge leisten ... .“
Wenn der Hörer H das Sprechaktangebot mit „Ja“ akzeptiert, dann tut er das in zweierlei Hinsicht: erstens in Hinsicht auf den Inhalt der Äußerung und zweitens in Hinsicht auf die Verbindlichkeiten, die daran geknüpft sind. Der Hörer muß also erst einmal schlicht verstehen, was gemeint ist; und er muß sich dann auch noch verpflichtet fühlen, der Aufforderung Folge zu leisten. Sicher ist bei betrunkenen Soldaten zumal oft schon das Verstehen ein Problem. Aber das ist letztlich nicht die Schwierigkeit. Alles hängt vielmehr an der Frage, wie die Verpflichtung der Horde auf ein gewisses Wohlverhalten nicht durch schaffner- oder feldjägergestützte Anordnung oder Befehl, sondern durch ein post-konventionelles, von moralischem Bewußtsein getragenes Einverständnis ganz zwanglos zustande kommen kann: „Es fragt sich nun, woraus Sprechhandlungen ihre handlungskoordinierende Kraft beziehen, soweit sie diese Autorität nicht, wie im Falle institutionell gebundener Sprechhandlungen, unmittelbar der sozialen Geltung von Normen entlehnen oder, wie im Falle von imperativen Willensäußerungen, einem kontingenterweise verfügbaren Sanktionspotential verdanken.“ (Habermas 1981, S. 399)
Was also sind die Bedingungen der Akzeptabilität der Aufforderung? Habermas unterscheidet zwei Komponenten (Habermas 1981, S. 402ff.): das Verstehen der Bedingungen, unter denen die Aufforderung erfüllt wäre Aufhö-
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ren mit dem Grölen, beispielsweise. Und die Kenntnis der Bedingungen für das Einverständnis zum Sprachaktangebot selbst, welches ja die Einhaltung der Erfüllungsbedingungen erst begründet betroffene Einsicht darin beispielsweise, daß ein IC-Großraumwagen keine Bundeswehrkantine ist und hier andere Regeln gelten. Die Erfüllungsbedingungen sind gegeben, wenn der Hörer H verstanden hat, was alles passieren wird, wenn er das Sprachaktangebot ablehnt oder annimmt. Es geht schlicht um das Wissen, welche Sanktionen drohen. Darauf aber kann sich eine „kommunikative“ Akzeptanz natürlich nicht gründen. Es soll ja keine wie Jürgen Habermas sagt bloß durch Macht oder Interessen oder Furcht motivierte „empirische“ Folgsamkeit entstehen, sondern eine aus rational-reflektierter Überzeugung. Es geht also nicht um die Akzeptanz wegen der Folgen des Geltungsanspruchs der Norm, sondern um die Akzeptanz wegen der Akzeptanz des Geltungsanspruchs der Norm selbst. Wie aber wird diese post-konventionelle Akzeptanz des Geltungsanspruchs selbst erzeugt? Jürgen Habermas glaubt, auf diese Weise: Der Sprecher muß in seinem Sprechakt einen grundsätzlich kritisierbaren Anspruch anmelden und begründen, worauf sein Anspruch beruht. Beispielsweise über das Argument: „Wir sind alle sehr müde und möchten etwas Ruhe haben. Auch für Euch ist es besser, einmal Pause zu machen. Und außerdem gibt es auch noch die Fahrgastordnung der Bundesbahn, die Euch, wenn Ihr einmal älter seid, auch gegen Belästigungen schützen würde.“ Nun muß der Hörer zustimmen. Dabei darf er aber nicht durch perlokutionäre Motive oder durch Zwang schon zur Akzeptanz gebracht werden. Wenn nun aber der Hörer den Anspruch verstanden hat, wenn er insbesondere verstanden hat, worauf der Sprecher selbst seinen Anspruch gründet und diese Begründung vernünftig findet, und wenn er dann ohne Zwang und Fremdmotiv zustimmt, dann entstehe jener zwanglose Zwang einer Bindung an das gemeinsame Einverständnis, das der Regel eine auch interessenunabhängige Legitimität verleihe. Und wie das? Ganz einfach: Weil der Sprecher einem Anspruch des Hörers rational zugestimmt hat, den er auch hätte kritisieren und ablehnen können. Mit der Akzeptanz hat aber der Hörer die Gründe auch akzeptiert, die der Sprecher hatte, den Sprechakt an den Hörer zu richten: „Ein Sprecher kann einen Hörer zur Annahme eines Sprechaktangebotes, wie wir nun sagen können, rational motivieren, weil er aufgrund eines inneren Zusammenhangs zwischen Gültigkeit, Geltungsanspruch und Einlösung des Geltungsanspruchs die Gewähr dafür übernehmen kann, erforderlichenfalls überzeugende Gründe anzugeben, die einer Kritik des Hörers am Geltungsanspruch standhalten. So verdankt ein Sprecher die bindende Kraft seines illokutionären Erfolges nicht der Gültigkeit des Gesagten, sondern dem Koordinationseffekt der
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Gewähr, die er dafür bietet, den mit seiner Sprechhandlung erhobenen Geltungsanspruch gegebenenfalls einzulösen.“ (Ebd., S. 406; Hervorhebungen im Original)
Jeder Verstoß gegen den Anspruch wäre jetzt für den Hörer ein Verstoß gegen das, was er selbst als vernünftig eingesehen hat. Und die Folge: „An die Stelle der empirisch motivierenden Kraft eines mit Sprechhandlungen kontingent verknüpften Sanktionspotentials tritt die rational motivierende Kraft der Gewährleistung von Geltungsansprüchen in allen Fällen, wo die illokutionäre Rolle keinen Macht-, sondern einen Geltungsanspruch zum Ausdruck bringt.“ (Ebd.; Hervorhebungen nicht im Original)
Die Norm gewinnt ihre Bindewirkung damit aus der gleichen Logik des situationsgerechten Handelns, die auch schon den einsamen Akteur an die rationale Logik der Situation fesselt (vgl. dazu auch schon Abschnitt 7.3 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“): der zwanglose Zwang, den die als besser erkannte Option auf ihn ausübt. Der einzige Unterschied beim kommunikativen Handeln ist der: Nun entsteht eine interaktive Bindung; und es gibt keinen „egoistischen“ Hintergedanken, sondern nur das Interesse an Koordination und Verständigung.
Lebenswelt und ideale Sprechsituation Wie die Szene im IC-Großraumwagen weitergeht, wollen wir nicht weiter ausmalen. Leicht ist vorstellbar, was geschieht. Jürgen Habermas beeilt sich, zwei Ergänzungen anzufügen, die angesichts der erwartbaren Situation im IC-Großraumwagen auch dringend nötig wären. Erstens: Sprechakte werden oft erst nur vor dem Hintergrund eines im Sprechen nicht thematisierten Wissens verstanden. Ein Sprecher muß nicht nur die Ausdrucksweisen, sondern die Lebenswelt der Hörer kennen, um überhaupt verstanden zu werden. Hier also: die Welt der Rüpel aus der Bundeswehr. Und dann muß zweitens die Sprechsituation auch noch eine solche sein, in der wirklich nur der zwanglose Zwang der Koordination des für alle als angemessen eingesehenen Handelns gilt. Und eben nicht: Befehl und Androhung von Sanktionen. Diese, für die Welt des Militärs etwas ungewöhnliche, Bedingung hat Jürgen Habermas als ideale Sprechsituation beschrieben. Das ist eine Situation, „ ... in der die Kommunikation nicht nur nicht durch äußere kontingente Einwirkungen, sondern auch nicht durch Zwänge behindert wird, die sich aus der Struktur der Kommunikation
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selbst ergeben. Die ideale Sprechsituation schließt systematische Verzerrung der Kommunikation aus.“7
Ideale Sprechsituation und kommunikatives Handeln sind fast schon definitorisch aufeinander bezogen: Der Sprecher muß wirklich meinen, was er sagt. Je mehr nun aber das, was jemand meint, von dem Hintergrundwissen der Lebenswelt abhängig ist, um so größer ist die Gefahr, daß zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten sich eine vielleicht auch: unbeabsichtigte Differenz auftut, wenn Sprecher und Hörer unterschiedlichen Lebenswelten angehören. Deshalb meint Jürgen Habermas auch ganz unverzerrt, daß ideale Sprechsituation, Lebenswelt, kommunikatives Handeln und die rationalmoralische Anerkennung normativer Ansprüche durch Verständigung eine enge Einheit bilden. Und deshalb glaubt er auch ganz allgemein , daß moderne Gesellschaften auf das Funktionieren von Lebenswelten angewiesen sind, weil nur sie die Grundlage für jene unverzerrte Verständigung bilden können, an der das kommunikative Handeln und das Gelingen einer Legitimation der Normen und Institutionen auch der weiteren „Systeme“ der Gesellschaft durch Verständigung hängen. Man muß der Vollständigkeit halber noch ergänzen, daß Jürgen Habermas mit der vorgeschlagenen Konzeption sogar eine objektive Begründung von moralischen Ansprüchen vorlegen will. Mit Hilfe der Technik der kommunikativen Verständigung sei es möglich, eine Art von universaler Moral durch rationale Einsicht zu begründen. Daß das schon für die Erklärung des Entstehens eines bestimmten Legitimitätsglaubens eines moralischen Bewußtseins schwierig ist, haben wir schon gesehen. Denn: Zwar kann ein Hörer einsehen, daß der Sprecher einen normativen Anspruch „zu Recht“ erhebt. Aber dieser normative Anspruch könnte ja selbst wieder – etwa vom Sprecher selbst – in Zweifel gezogen werden – oder sich nachträglich als falsch erweisen. Und dann geht alles von vorne los – und der IC ist in Koblenz. Oft genug ist Jürgen Habermas vorgeworfen worden, daß seine Konstruktion ein logischer Zirkel oder ein unendlicher Regreß sei oder an irgendeiner Stelle dogmatisch abgebrochen werden müsse.8 Und so ist es auch. Es gibt aus dem Münchhausen-Trilemma seiner Konsenstheorie der Legitimation, wenn überhaupt, nur einen Ausweg: Der kommunikative Konsens über die Rechtfertigung einer Regel entsteht dann, wenn alle beteiligten Akteure etwas aufweisen, was Habermas aber gerade abzustreiten scheint: daß sie ein – wennzwar: gemeinsames, aber immer nur als Individuen gemeinsames – Interesse am Gelingen einer Koordination haben. Darauf weist ja auch das Zitat von Kanngießer hin, das Habermas bemüht: Es geht um ein besseres Leben durch einfache Koordination. Kurz: Die ganze Konstruktion des kommunikativen Handelns ist auf den trivialen Fall der Interessenkonvergenz, allenfalls auf den der „konventionellen“ Lösung eines Koordinationsproblems, beschränkt. Wo es wirklich ernst wird – bei der freiwilligen und „motivfreien“ Bindung an essentielle Normen und erst Recht bei der einverständigen Unterwerfung unter eine repressive Herrschaft –, wird die bloß kom7
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Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1973, S. 137. Hartmut Esser, Klaus Klenovits und Helmut Zehnpfennig, Wissenschaftstheorie, Band 2: Funktionalanalyse und hermeneutisch-dialektische Ansätze, Stuttgart 1977, S. 207ff.
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munikative Erzeugung eines „zwanglosen Zwanges“ immer schwieriger. Es sei denn, daß Jürgen Habermas auch der Lösung beitreten möchte, die James S. Coleman vorschlägt: Man stimmt der Übertragung von Rechten an einen Herrscher auch dann zu, wenn dies zwar eine Beziehung der Ungleichheit erzeugt, die aber immer noch – angesichts der anderen Optionen – die relativ beste Alternative ist. Aber gerade das soll ja ausgeschlossen sein, wenn man den kritischen Stimmen der etwas verkniffenen Zwerge auf den großen Schultern von Jürgen Habermas folgt:9 die „rationale“ und reflektierte Zustimmung auch aus Zwang, Macht oder den „empirischen“ Motiven des eigenen Interesses.
In den Lebenswelten idealer Sprechsituationen gibt es keine Ungleichheit, keine Herrschaft, keinen Egoismus, keine free rider, keine Rüpel und keine unflätigen Zurückweisungen gut gemeinter und moralisch begründeter illokutionärer Sprechaktangebote. Hier herrschen nur das lautere Motiv zur kommunikativen Verständigung und der zwanglose Zwang des moralischen Bewußtseins. Wirklich, Du! Jürgen Habermas hat dann auch die postkonventionellen Lebenswelten und die idealen Sprechsituationen seinerzeit mit der Studentenbewegung heraufdämmern sehen. Die WGs im Frankfurter Westend wie anderswo waren die praktischen Versuche dazu. Sie hatten immer mindestens ein Problem: Wer spült? Es wurde durch herrschaftsfreie Diskurse nie so recht gelöst. Und wie sich das prinzipiengeleitete verantwortungsethische Handeln auch im IC-Großraumwagen der bundesdeutschen Gesellschaft im nachsozialistischen Post-Spätkapitalismus der reflexiven Moderne des Freitagsabends unter einer Horde von Bundeswehrsoldaten verbreiten könnte, bedürfte sicher auch noch einer weiteren Ausarbeitung des Konzeptes des kommunikativen Handelns und der Legitimation durch Verständigung.
11.3 Der Schleier des Nichtwissens Die Legitimität von Institutionen wird zunehmend zu einem Problem, wenn die Welt entzaubert, die Menschen rationaler, egoistischer und gerissener und die Gesellschaften widersprüchlicher, komplexer und instabiler geworden sind. Mit der Zunahme von Mündigkeit, Autonomie und Reflexionskraft der Menschen, die allesamt eine Folge der Modernisierung der Gesellschaften sind, entsteht das Problem des Verlustes an Unbedingtheit der sozialen Regeln. Traditionale, sakrale oder emotionale Grundlagen genügen für die Legitimation dann nicht mehr. Die Nagelprobe ist ja auch nicht die einfache Koordination in einer überschaubaren Lebenswelt mit einem langen Schatten der Zukunft. Dort gibt es durchaus so etwas wie Legitimation durch Verständi9
Vgl. die Kritik von Max Miller an der Idee des machtgewichteten Konsensus bei James S. Coleman: Max Miller, Ellbogenmentalität und ihre theoretische Apotheose. Einige kritische Anmerkungen zur Rational Choice Theorie, in: Soziale Welt, 45, 1994, S. 14.
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gung. Der Ernstfall sind vielmehr die Institutionen, die Herrschaft und soziale Ungleichheit unter den Menschen mit sich bringen und festigen, wie sie für alle größeren und komplexeren sozialen Gebilde zu beobachten und wohl auch unerläßlich sind (vgl. dazu auch Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und dort insbesondere Kapitel 6 über das Problem der „Integration“ ausführlich). Es ist die Frage, die uns seit der Beschäftigung mit dem Konzept der antagonistischen Kooperation nicht verlassen hat: Welche Verfassung werden sich die Menschen auf der Grundlage rationaler Überlegungen geben, wenn sie einerseits an der Regelung ihrer Beziehungen interessiert sind, andererseits aber auch widersprüchliche Vorstellungen darüber haben, wie diese Regelung aussehen sollte. Und welche Art von Verfassung hätte angesichts der Rationalität der Grundlegung überhaupt eine Chance, allgemein anerkannt zu werden und nicht im (Gefangenen)Dilemma der sozialen Ordnung hängenzubleiben?
Das Problem der Gerechtigkeit Auf diese Frage hat der Philosoph John Rawls in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“10 eine bedenkenswerte Antwort gegeben. Ausgangspunkt ist das Konzept der Verfassung einer Gesellschaft, des obersten Rahmens aller Institutionen. Sie legt die wichtigsten Rechte und Pflichten der Mitglieder der Gesellschaft, sowie die Verteilung der Früchte und der Lasten des gemeinsamen Tuns fest. Damit diese Verfassung und die in ihr eingerichteten Institutionen Legitimität erhalten, müssen sie vor allem die Eigenschaft der Gerechtigkeit aufweisen: „Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen.“ (Rawls 1979, S. 19)
Damit es Gerechtigkeit gibt, müssen die Grundsätze allgemein anerkannt werden, nach denen die Rechte, die Pflichten, die Früchte und die Lasten des gesellschaftlichen Handelns verteilt werden. Diese gemeinsam geteilten Grundsätze ermöglichen dann die Lösung des schier unüberwindlichen Widerspruchs der antagonistischen Kooperation: Einerseits bringt der Eigennutz die Menschen zu einem für sie unmittelbar vorteilhaften Tun und zwingt sie, voreinander auf der Hut zu sein, doch ihr gemeinsam geteilter Gerechtigkeitssinn ermöglicht es ihnen andererseits, sich in verläßlicher Form zusammenzutun. Die gemeinsam entwickelte und getragene Gerechtigkeitsvorstellung ist dann das „Grundgesetz“ der Gesellschaft, unter dessen Schirm jeder seine 10
John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 6. Aufl., Frankfurt/M. 1991 (zuerst: 1971).
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privaten Ziele verfolgen und dennoch vor ungerechtfertigter Übervorteilung, Ausbeutung oder gar Unterdrückung sicher sein kann.
Fairneß Die Frage ist dann, zu welchem Maßstab ihrer Verfassung ein Kollektiv von Menschen kommen würde, wenn sie einerseits wissen, daß jede Institution stets bestimmte Menschen mit gewissen Ausgangspositionen begünstigt und andere benachteiligt, wenn sie andererseits aber ein allgemeines Einverständnis erzielen wollen. Die Gerechtigkeitsvorstellung, die dies alleine zu leisten imstande wäre, ist nach Auffassung von John Rawls die Fairneß. Fairneß meint: „Wenn sich mehrere Menschen nach Regeln zu gegenseitig nutzbringender Zusammenarbeit vereinigen und damit ihre Freiheit zum Vorteil der anderen beschränken müssen, dann haben diejenigen, die sich diesen Beschränkungen unterwerfen, ein Recht darauf, daß das auch die anderen tun, die Vorteil davon haben. Man darf bei der Zusammenarbeit nicht die Früchte fremder Anstrengung in Anspruch nehmen, ohne selbst seinen fairen Teil beizutragen.“ (Ebd., S. 133)
Der Grundsatz der Fairneß schließt aus, daß Opfer, die einigen wenigen auferlegt werden, durch die um so größere Wohlfahrt anderer ausgeglichen werden können. Damit wendet sich John Rawls insbesondere gegen die Gerechtigkeitskonzeption des sog. Utilitarismus, der als Maßstab für die gesellschaftliche Wohlfahrt das größte Glück der größten Zahl nimmt und dabei auch das Wohl und Übel der verschiedenen Mitglieder einer Gesellschaft aufrechnet. Warum das kein allgemeiner Grundsatz sein kann, wird natürlich gleich deutlich: Wenn ich Pech habe, dann geht es zwar der Gesellschaft vielleicht insgesamt so gut wie nie. Nur: Ich habe nichts davon. Das ist die Situation der Arbeitslosen in einer Gesellschaft, in der der gesamte Reichtum höher ist als je zuvor, sich aber leider nur im DAX-Index und in den Hinterziehungskonten in Luxemburg niederschlägt. Wie aber kann die Vorstellung von der Fairneß als gemeinsam geteiltem Maßstab für die Bildung einer Verfassung entstehen? Die Antwort, auf die John Rawls wie bei Philosophen üblich viele und oft redundante Seiten verwendet, ist wie ebenfalls oft bei Philosophen ganz einfach. Jeder, der aus einer kinderreichen Familie kommt, in der der Nachtisch geteilt werden mußte, kennt das Verfahren: „Mehrere Leute wollen einen Kuchen aufteilen. Angenommen, die faire Aufteilung sei die gleichmäßige; welches Verfahren, wenn es überhaupt eines gibt, liefert dieses Ergebnis? Abgesehen von technischen Einzelheiten ist die naheliegendste Lösung die, daß einer den Ku-
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chen teilt und das letzte Stück bekommt, nachdem sich alle anderen eins genommen haben. Er wird den Kuchen in gleiche Teile teilen, denn so sichert er sich den größtmöglichen Anteil.“ (Ebd., S. 106)
In genau der gleichen Weise wird so meint John Rawls auch der Grundsatz der Fairneß als Grundlage für die Verfassung einer Gesellschaft entstehen und von den Menschen anerkannt und geteilt werden: Wenn niemand vorher weiß, welche Institution ihm nützen und welche ihm schaden würde, dann kommt als Grundsatz für die Einrichtung der Institutionen nur die Regel der Fairneß in Betracht. Sie und nur sie! garantiert, daß nicht die Katastrophe eintritt, daß ich sagen wir einmal den Feudalismus eingeführt haben möchte, weil ich mich zum Herrn berufen fühle, mich dann aber unversehens auf der Seite der Knechte wiederfinde.
Der Urzustand und der Schleier des Nichtwissens Zur Begründung schlägt John Rawls ein Gedankenexperiment vor (Rawls 1979, Abschnitt 20-25 insbesondere). Ein Kollektiv von vernünftigen Menschen befinde sich in einem sog. Urzustand einer wie er sagt natürlichen Situation. Nun sollen sie beschließen, welche Art von Verfassung sie sich geben sollen. Dabei sollen irgendwie alle Zufälle beseitigt werden, die die Menschen in eine ungleiche Situation bringen und sie zu dem Versuch verführen, die durch eine vorgeschlagene Regel verbundenen Umstände zu ihrem Vorteil auszunutzen. Dazu dürfen sie nicht wissen, welche Eigenschaften sie haben: „Es wird also angenommen, daß den Parteien bestimmte Arten von Einzeltatsachen unbekannt sind. Vor allem kennt niemand seinen Platz in der Gesellschaft, seine Klasse, oder seinen Status; ebensowenig seine natürlichen Gaben, seine Intelligenz, Körperkraft usw. Ferner kennt niemand seine Vorstellung vom Guten, die Einzelheiten seines vernünftigen Lebensplanes, ja nicht einmal die Besonderheiten seiner Psyche wie seine Einstellung zum Risiko oder seine Neigung zum Pessimismus. Darüber hinaus setze ich noch voraus, daß die Parteien die besonderen Verhältnisse in ihrer eigenen Gesellschaft nicht kennen, d.h. ihre wirtschaftliche und politische Lage, den Entwicklungsstand ihrer Zivilisation und Kultur. Die Menschen im Urzustand wissen auch nicht, zu welcher Generation sie gehören.“ (Rawls 1979, S. 160)
Diesen Zustand nennt John Rawls den veil of ignorance, den Schleier des Nichtwissens. Unter ihm wird es für vernünftige Menschen zwingend, sich auf den Grundsatz der Fairneß zu einigen allein schon, um sich vor dem Risiko eines schließlichen Nachteils zu schützen, wenn es den Grundsatz der Fairneß nicht gäbe: „Beispielsweise würde niemand darauf drängen, daß man besondere Vorrechte denen geben soll, die genau 180 Zentimeter groß sind oder an einem sonnigen Tag geboren wurden. Auch würde niemand den Grundsatz vorschlagen, die Grundrechte sollen von der Hautfarbe oder
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der Haarform abhängen. Niemand weiß nämlich, ob solche Grundsätze zu seinem Vorteil ausschlagen würden.“ (Ebd., S. 173)
Mit dem Schleier des Nichtwissens läßt sich das Erfordernis der eingesehenen Richtigkeit mit dem der Gerechtigkeit unmittelbar verbinden. Vom Standpunkt der Akteure im Urzustand wäre eine Verfassung, die beispielsweise Rassen- oder Geschlechtsdiskriminierung vorsieht, nicht nur ungerecht, sondern auch unvernünftig. Der Grundsatz der Fairneß kann von vernünftigen Menschen rational eingesehen werden und sie deshalb! an den Grundsatz gleichzeitig binden. Er ist daher ein Prinzip, das sich besonders für die Legitimation von Institutionen in modernen, komplexen, funktional differenzierten Gesellschaften eignet. Die „wirkliche“ Welt Der natürliche Urzustand und der Schleier des Nichtwissens beschreiben aber natürlich keine „wirklichen“ Bedingungen. Die Annahmen sind eine rein gedankliche Konstruktion zur Ableitung von gewissen Vorstellungen über das potentielle Ergebnis einer Einigung unter vernünftigen Menschen in dieser Situation. Gleichwohl ist eine gewisse Realitätsnähe durchaus gegeben: In modernen, komplexen Gesellschaften werden die Verhältnisse ja tatsächlich für die Menschen immer undurchschaubarer und unvorhersagbarer. Tendenziell können sie wirklich nicht sicher sein, was aus ihnen einmal wird, nicht einmal die Beamten und die verdientesten Kämpen der CDU. Das ist schon so eine Art von Schleier des Nichtwissens. Und dann liegt nichts näher als der Wunsch, im Fall des Falles fair behandelt zu werden. Allerdings ist die Konstruktion von John Rawls dann doch ein wenig blauäugig: Natürlich rechnen sich die Menschen auch in den turbulentesten und individualisiertesten Gesellschaften immer noch gewisse Chancen aus, eine für sie günstige Verfassung herauszuholen, oder unter dem Dache einer abstrakten Regel der Fairneß eine für sie vorteilhafte Institution einzurichten. Und dann wird es schwierig mit der Fairneß wie wir am Beispiel der Diskussionen um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfalle erleben können: Herr Seehofer, Frau Fischer und Guido Westerwelle wissen sicher, daß sie nicht betroffen sind. Und sie haben deshalb gut reden vom Standort Deutschland und von den hohen Lohnnebenkosten. Vom Schleier des Nichtwissens und von Fairneß ist dabei jedenfalls nicht viel zu sehen. An dieser Stelle sei ein Hinweis auf eine gewisse Ungenauigkeit in der Argumentation bei John Rawls eingefügt. Bei vollkommener Rationalität sollten die Menschen unter dem Schleier des Nichtwissens eigentlich ganz indifferent gegen alle möglichen Formen von Verfassungen sein, denn alle Alternativen haben für sie die gleiche Wahrscheinlichkeit der Verwirklichung. Jemand könnte ja auch darauf setzen, der Kaiser von China zu werden, und dabei das Risiko bewußt in Kauf nehmen, als Rikschafahrer zu enden. Offenbar nimmt John
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Rawls eine gewisse Vorsichtsneigung an, daß bestimmte Katastrophen vermieden werden sollen. Die Zustimmung zur Fairneßnorm wäre dann nichts anderes als eine Versicherung gegen diese Katastrophe.
Kurz: Auch der Maßstab der Fairneß ist nur ein stets fragil bleibender Konsens, der immer dann in Gefahr gerät, wenn die Menschen den Urzustand verlassen und wenn sich der Schleier des Nichtwissens etwas hebt. Und das ist ja praktisch immer der Fall. Erst recht bei denjenigen, die die Zügel der Herrschaft sowieso in der Hand halten.
11.4 Legitimation durch Verfahren Die Erfahrung der Undurchschaubarkeit, der Sinnlosigkeit und des Verfalls der Orientierungen ist den Menschen in den modernen Gesellschaften sehr vertraut. Feste Werte und unangezweifelte Legitimität scheint es dort weniger zu geben als anderswo. Es gilt noch nicht einmal die Norm der Fairneß als fest verankertes und allgemein verbreitetes Prinzip wie die vielen Erscheinungen der sog. Ellbogengesellschaft nachhaltig zeigen. Gleichwohl weisen gerade die komplexen Gesellschaften eine erstaunliche Widerstandskraft gegen den Zerfall ihrer institutionellen Grundstrukturen auf: Der unmoralische „Spät“-Kapitalismus lebt, trotz aller seiner vorhergesagten Krisen, immer noch. Verfallen sind nach und nach vielmehr alle jene Gesellschaften, die die arbeitsteilige funktionale Differenzierung mit einer übergreifenden, inhaltlich definierten oder gar fundamentalistischen Wertordnung verbinden wollten. Und so stellt sich die Frage schon: Wie läßt sich die Legitimität der institutionellen Ordnung in den stark differenzierten, hoch-komplexen, intern widersprüchlichen modernen Gesellschaften begründen, wenn die Werte verfallen und die Prinzipien zu abstrakt geworden sind, oder wenn Werte und Prinzipien sich mit der Komplexität der Gesellschaft kaum noch vereinbaren lassen ? Der Ausgangspunkt: Der Glaube an die Legalität Hier rückt der Mechanismus der Legitimation in den Blick, auf den Max Weber mit seinem Konzept der rationalen bzw. der legalen Herrschaft hingewiesen hat (vgl. Kapitel 4 oben in diesem Band dazu). Die rationale bzw. die legale Herrschaft beruht ja nicht mehr auf einer inhaltlichen Vorstellung, sondern „auf dem Glauben an die Legalität gesatzter Ordnungen“.11 Das ist nur
11
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1972 (zuerst: 1922), S. 124.
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noch ein Glaube daran, daß die Ordnung formal rechtmäßig zustande gekommen ist und daß deshalb die Anweisungen in ihrem Rahmen „legal“ und deshalb richtig und gerechtfertigt sind egal, was in den Anweisungen jeweils steht und welche Folgen die Ausführung hat. Aber auch der Glaube an die Legalität der Satzung einer Ordnung bleibt natürlich ein Glaube. Wo dieser Glaube herkommt und vor allem wie er sich auch bei erlebten Benachteiligungen erhält: darauf hat Max Weber eigentlich keine weitere Antwort gegeben. Für dieses Problem, mit dem sich die Theorie der Modernisierung immer herumgeschlagen hat und für das Jürgen Habermas und John Rawls eine immer noch inhaltlich begründete Lösung versucht haben, hat nun Niklas Luhmann eine genial-einfache Lösung gefunden: Gesellschaftliche Ordnungen komplexer Gesellschaften legitimieren sich nicht durch Werte oder Prinzipien oder einen Glauben wie geheiligt-massiv oder generalisiert-verdünnt sie auch sein mögen. Die Legitimität komplexer Ordnungen erhält sich vielmehr durch die Verwicklung der Menschen in Abläufe, die in ihren formalen Schritten vorher bekannt sind, ohne Ansehen der Person und nur nach einer legal gesatzten unpersönlichen Ordnung vollzogen werden, und deshalb in ihrem Ergebnis nicht feststehen. Es ist die „Legitimation durch Verfahren.“12 Entscheidend ist dabei die radikale Umformulierung des Begriffs der Legitimität von einem inhaltlich definierten Glauben hin zu einer eines jeden substantiellen Inhaltes entkleideten Konzeption. Noch in den fast kaum mehr praktikablen und immer abstrakteren Varianten der Legitimität etwa der des post-konventionellen moralischen Bewußtseins oder der der Fairneßnorm wird damit ja weiter eine irgendwie begründete Überzeugung verstanden. Und zwar eine Überzeugung „ ... von der Gültigkeit des Rechts, von der Verbindlichkeit bestimmter Normen oder Entscheidungen oder vom Wert der Prinzipien, an denen sie sich rechtfertigen.“ (Ebd., S. 27)
Aber auch die abstraktesten Überzeugungen sind für das Funktionieren komplexer Gesellschaften letztlich viel zu inflexibel und viel zu eng, oder aber auch: viel zu abstrakt und unhandlich, um die erforderliche Ordnungsleistung zu erbringen, ohne die Eigenlogik der Teilsysteme zu erdrosseln, von deren reibungslosen Funktionieren alle leben. Wie wäre dann aber der folgende Gedanke? hat sich Niklas Luhmann gedacht:
12
Niklas Luhmann, Legtimation durch Verfahren, 2. Aufl., Darmstadt und Neuwied 1975 (zuerst: 1969).
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„Man kann Legitimität auffassen als eine generalisierte Bereitschaft, inhaltlich noch unbestimmte Entscheidungen innerhalb gewisser Toleranzgrenzen hinzunehmen.“ (Ebd., S. 28; Hervorhebungen nicht im Original)
Also: Die Grundlage der Legitimität einer Ordnung ist nicht die mehr oder weniger emphatische oder begründete Zustimmung zu ihrem Sinn und Inhalt, sondern: das faktische Akzeptieren von Entscheidungen, die auf ihrer Grundlage getroffen werden, weil die Entscheidungen als letztlich nicht anders denkbar, als gerade noch erträglich und als nicht sonderlich empörend empfunden werden. Die Legitimität beruht dabei also auch nicht einmal mehr auf einem inhaltlichen Glauben an die Legalität des Zustandekommens einer bestimmten Ordnung. Selbst dies wäre noch zu inflexibel für die Abnahme von Entscheidungen der modernen Großbürokratien und Funktionssysteme, wie sie die komplexen Gesellschaften kennzeichnen. Die Besonderheit ist also, daß die Akzeptanz nicht mehr auf einem, und auch nicht auf einem bestimmten Motiv einem Wert, einer Überzeugung, dem Glauben an eine geheiligte Ordnung beruht, sondern in verwickelten Prozessen auf ganz unterschiedliche Weise immer wieder neu erzeugt wird, so daß eine Ordnung nun auch vor dem Hintergrund ganz unterschiedlicher Motive akzeptiert wird. Und gerade das ist die Leistung dieser Form der Legitimation durch „Verfahren“: Es werden bestimmte Entscheidungen über ganz heterogene Populationen von Akteuren mit ganz unterschiedlichen und auch wechselnden Motiven implementierbar.
Der Mechanismus Wie soll dies aber vor sich gehen? Ist die Legitimation durch Verfahren ein Wunder, bei dem plötzlich alle Gesetze der Logik der Selektion außer Kraft gesetzt sind, weil das Akzeptieren wie Niklas Luhmann es ausdrückt ein „fast motivfreies Akzeptieren“ ist? Luhmann selbst umschreibt den Mechanismus über eine Unzahl von Einzelhinweisen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, „ ... daß Betroffene aus welchen Gründen immer die Entscheidung als Prämisse ihres eigenen Verhaltens übernehmen und ihre Erwartungen entsprechend umstrukturieren.“ (Ebd., S. 33; Hervorhebungen nicht im Original).
Legitimation durch Verfahren ist dabei so etwas wie ein schrittweises Lernen, ein inkrementales Abarbeiten von Enttäuschungen und ein stufenweises und fortwährendes Ändern von Erwartungen. Der Grundvorgang ist der, den wir bereits kurz bei der Änderung von Schemata und sozialen Drehbüchern ange-
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sprochen hatten (vgl. Abschnitt 8.3 oben in diesem Band). Schemata und soziale Drehbücher werden ja nur sehr ausnahmsweise ganz komplett ausgetauscht, sondern bei unerwarteten Ereignissen und bei nicht zu leugnenden Widersprüchen in Teilen umgruppiert, erweitert, segmentiert. Genau dies hat Luhmann im Auge. Geändert wird jetzt das sich selbst zugeschriebene Schema die eigene Identität (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“): „Ein solcher Einbau neuer Erwartungsstrukturen in die alte, identisch bleibende Persönlichkeit kann auf sehr verschiedene Weise geschehen und mehr oder weniger zentrale Persönlichkeitsstrukturen betreffen: durch Überzeugungswandel, Abstraktion von Regeln der Erlebnisverarbeitung, Umdeutung der Vergangenheit, Isolierung und Abkapslung der problematischen Themen, Bagatellisierung, weltmännische Resignation, Anlehnung an neue Umwelten usw.“ (Luhmann 1975, S. 33)
Wichtig ist dabei, daß die Identität des Akteurs solche Änderungen auch zuläßt und nicht fundamentalistisch auf bestimmten Überzeugungen beharrt. Wie so oft, wenn er aus seinem Leben als Verwaltungsangestellter berichtet, beschreibt Luhmann diesen Vorgang sehr anschaulich: „Jedenfalls liegt der Anerkennung ein Lernprozeß zugrunde, eine Änderung der Prämissen, nach denen der einzelne weiterhin Erlebnisse verarbeiten, Handlungen auswählen und selbst darstellen wird. Daran fehlt es, wenn der Betroffene im Protest gegen die Entscheidung weiterzuleben sucht, Widerstand leistet, sein gekränktes Recht immer wieder hervorholt, immer wieder den Schorf von seinen Wunden kratzt und Hilfe und Zustimmung gegen die Entscheidung zu organisieren sucht, kurz: nicht lernt, sondern bei seinen alten, enttäuschten Erwartungen bleibt.“ (Ebd., S. 33f.)
Das bedeutet, daß die Akteure gerade durch die für sie nicht durchschaubare Verwicklung in ein Verfahren mit formal vorhersehbaren Schritten niemals in einen psychischen Zustand geraten, der die Empörung so ansteigen läßt, daß sie wie Michael Kohlhaas versuchen würden, aus dem ganzen System auszubrechen oder es gar über den Haufen zu werfen. Damit die generalisierte Einstellung auf Akzeptanz nicht in eine massive Protest-Einstellung umschlägt, müssen drei Bedingungen erfüllt sein (vgl. dazu auch noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über das „Framing“ von Situationen): Die erlebten oder erwarteten Nachteile dürfen nicht übermäßig groß werden, die Gewinne aus einer Verweigerung des Akzeptierens dürfen ebenfalls nicht übermäßig anwachsen und vor allem die Erwartung auf einen wirklichen Erfolg der Empörung darf nicht sehr steigen. Ist diese Erwartung gering, dann gibt es sogar ganz erhebliche Spielräume für das Tolerieren von Nachteilen aus dem Akzeptieren einer Entscheidung im Verfahren. Die „Legitimation durch Verfahren“ ist damit in erster Linie eine Frage des Erhalts der Hoffnung auf spätere Vorteile der aktuellen
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Fügsamkeit einerseits und der Entmutigung aller Aussichten auf den Erfolg einer kompletten Ablehnung des ganzen „Systems“ und eines dann ja maßlosen Protestes andererseits. Die „Verfahren“ gewährleisten aber nun genau dieses. Sie sind einerseits in ihrem Ausgang offen, so daß die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs der Fügsamkeit niemals auf null sinkt. Sie verwickeln den Betroffenen in eine Vielzahl widersprüchlicher Einzel-Entscheidungen mit jeweils punktuell nur relativ geringen Konsequenzen. Und die Folge: Die Reaktionsschwelle zum Wechsel von einer Akzeptanz- auf die Protesteinstellung wird nie erreicht, selbst wenn sich im Nachhinein herausstellen würde, daß es dazu allen Grund gegeben hätte. Jetzt ist es aber zu spät. Und es gibt ja noch die Hoffnung auf Revision. Und wenn die schief gegangen ist: Dann kommt der Gerichtsvollzieher, aber niemand hilft mir dabei, ihn hinauszuwerfen. Verfahren sorgen wegen ihrer Einbettung in staatliche Verwaltungsprozesse ferner dafür, daß die Akzeptanz nicht ohne soziale und administrative Unterstützung bleibt. Das Fehlen der sozialen Unterstützung wäre mit der wichtigste Faktor der Gefährdung einer reibungslosen Legitimation durch Verfahren: „Eine Änderung von Erwartungen, die als Verhaltensprämissen dienen und unter Umständen ganze Rollenbereiche strukturieren, gefährdet die persönliche Identität des einzelnen, sie ist viel zu problematisch, als daß sie ohne Rücksicht auf die Meinung anderer vollzogen werden könnte. Sie darf dem einzelnen nicht als Widerspruch zu sich selbst, als Bruch mit der Vergangenheit, als Zeichen persönlicher Unzuverlässigkeit oder als Verschulden angekreidet werden. Sie darf seine Selbstdarstellung nicht diskreditieren, sondern muß den Miterlebenden als Selbstverständlichkeit, als extern veranlaßt erscheinen.“ (Luhmann 1975, S. 34)
Auf eine ganz ähnliche Weise kühlen auch Betrüger und Autoverkäufer ihre Opfer aus, indem sie ihnen eine Unzahl von sozial akzeptablen Exits aus der ansonsten unvorstellbaren Hypothese weisen, daß sie sich über’s Ohr haben hauen lassen oder unverantwortlich viel Geld für einen ganz und gar unmoralischen Luxus ausgegeben hätten. Bezogen auf die Verfahren der „rationalen“ bürokratischen Verwaltung heißt das: Erst vor dem Hintergrund von „ ... einem sozialen Klima, das die Anerkennung verbindlicher Entscheidungen als Selbstverständlichkeit institutionalisiert und sie nicht als Folge einer persönlichen Entscheidung, sondern als Folge der Geltung der amtlichen Entscheidung ansieht ... “ (Ebd.)
ist einigermaßen zu gewährleisten, daß ein Wechsel in der Einstellung nicht erfolgt, weil die Kosten der Akzeptanz niemals so hoch werden, daß mit dem Akzeptieren die bisherige Identität komplett umgeschrieben werden müßte. Verfahren leisten auch genau dies wegen ihrer wechselseitigen Verflechtung in andere Verfahren, wegen ihrer Episodenhaftigkeit und wegen ihrer Abtrennung vom Rest des Lebens. Sie sind im Ausgang offen und in ihrer
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Einleitung und in ihren Folgen von anderen Bereichen abgeschottet. Sie werden meist in spezialisierten (Leistungs-)Rollen Richter, Staatsanwälte, Verteidiger, Bewährungshelfer, Schuldenberatung, und wenn es sein muß: ein Pfarrer als geistlicher Beistand auf dem letzten Gang abgewickelt. Die Ungewißheit des Ausgangs „ ... gibt den Beteiligten den Anreiz, mit eigenen Reduktionsversuchen zum Fortgang des Verfahrens beizutragen, hält ihre Hoffnung wach und lotst sie zugleich auf den Weg, der nach den Regeln des Verfahrens zur Entscheidung führt.“ (Ebd., S. 51)
Im Ablauf des Verfahrens werden schritt- und scheibchenweise Unzufriedenheiten bei den Klienten aufgesplittert, Proteste absorbiert und Konfliktfronten zerfasert. In komplexen Gesellschaften hilft die Komplexität der Gesellschaft selbst dabei: Durch die dort übliche Überkreuzung der Zugehörigkeiten werden bereits vorab die Konfliktfronten unübersichtlicher und damit denkbare Koalitionen für massivere Reaktionen unwahrscheinlich. Und nicht zuletzt durch die enormen Wohlfahrtsgewinne, durch die demokratische Grundstruktur der Verfassung und über ein ausgebautes System der sozialen Absicherungen bleibt in komplexen Gesellschaften letztlich auch immer noch der notwendige Rest an Hoffnung auf späteres Wohlergehen nach der Fügung erhalten, der nötig ist, um auch in kritischen Phasen die Legitimation durch Verfahren nicht zu gefährden. In einer schönen Metapher: Komplexität legitimiert Komplexität. Oder noch besser: Komplexität reduziert Komplexität. Wer hätte das gedacht?
Verfahren und Systemintegration Die Legitimation durch Verfahren ist in der Tat eine ganz andere Grundlage der Legitimation von Institutionen als die, auf die Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Jürgen Habermas und auch noch John Rawls abstellten. Die sichtbare Wirkung der Legitimation durch Verfahren ist aber trotz eines sozialpsychologisch und soziologisch gänzlich anderen Mechanismus äußerlich völlig gleich: die Absicherung der Geltung einer Ordnung gegen äußere Fluktuationen und gegen die Vielfalt der Motivlagen der Akteure. Nur: Dazu werden jetzt feste Werte nicht mehr benötigt. Sie wären für das Funktionieren komplexer Gesellschaften sogar hinderlich. Den Menschen und der Gesellschaft würde zuviel abverlangt. Hören wir noch einmal Niklas Luhmann dazu: „Nur wenn man die Bindung des Legitimitätsbegriffs an die persönlich geglaubte Richtigkeit der Entscheidungen aufgibt, kann man die sozialen Bedingungen der Institutionalisierung von Legitimität und Lernfähigkeit in sozialen Systemen angemessen untersuchen.“ (Ebd., S. 34)
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Das sind deutliche Worte. Sie richten sich gegen jede Konzeption, die die Ordnung und die Integration der modernen Gesellschaft noch irgendwie mit übergreifenden Werten oder einer universalen Moral oder gar eines kommunikativen Konsens in Verbindung setzen möchte. Solche Vorstellungen hat Niklas Luhmann gerne als alteuropäisch und damit: längst überkommen verspottet. Gemeint hat er mit diesem milden Spott vor allem Jürgen Habermas und all die anderen, die weiter davon träumen, daß die Menschheit zu einer großen Wohngemeinschaft mit moralischem Bewußtsein zusammenwachsen möge. Sie übersehen nach Meinung von Niklas Luhmann, daß „ ... der Zusammenhang dieser Probleme zu abstrakt und zu komplex (wird), als daß er sich noch in der Form eines gemeinsamen und sich als gemeinsam wissenden Bewußtseins institutionalisieren ließe.“13
Moderne Gesellschaften ordnen sich über die anonymen, von jeder Sozialintegration abgekoppelten Kräfte der Systemintegration, über Märkte und Organisationen vor allem. Und die Verfahren sind einer der zentralen Mechanismen dabei. Moderne Gesellschaften sind eben nicht als technisch ausgebaute Großansammlungen von Stammesgesellschaften zu organisieren, die ihren Mitgliedern neben einem enormen Reichtum und außer einer hohen individuellen Freiheit auch noch eine fraglos bindende Solidarität bescheren. Der Traum von der modernen Gesellschaft als Wohngemeinschaft ist nur ein Traum. Und unabhängig von Luhmanns theoretischen Einwänden bliebe ja auch dann immer noch die praktische Frage, die bisher noch jede Wohngemeinschaft regelmäßig an den Rand der vorbehaltlos kommunikativen Illokution bringt: Wer putzt das Badezimmer? *** Die Erzeugung eines „unbedingten“ Glaubens an die Legitimität einer institutionellen Ordnung ist offenbar ein schwieriges Geschäft. Es wird mit der Komplexität der Gesellschaften offenbar immer schwieriger, ihn zu vermitteln. In einfachen und überschaubaren Stammesgesellschaften mit wenig ExitMöglichkeiten gelingen die sakralen, irrationalen und ganz unreflektierten Legitimationen noch ganz ungebrochen. Mit der Zunahme der Interdependenzen, der Konflikte und der Kulturkontakte müssen und können (!) die Legitimationen immer profaner, immer rationaler und immer reflektierter werden. Schließlich aber werden die Gesellschaften offenbar so komplex, daß keine
13
Niklas Luhmann, Gesellschaft, in: Niklas Luhmann, Soziologische Aufklärung 1, 3. Aufl., Opladen 1971b, S. 147.
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Form der inhaltlich definierten Legitimität mehr ausreicht oder handlungswirksam einzurichten wäre. Niklas Luhmann gebührt das Verdienst, die Einsicht in die Soziologie gebracht zu haben, daß die herkömmlichen, immer noch auf irgendeinen Konsens zielenden Arten der Legitimation die Konstruktionsbedingungen komplexer Gesellschaften tatsächlich nicht mehr treffen. Kein Wert legitimiert und integriert die Institutionen der komplexen Gesellschaften mehr, vielmehr „legitimieren“ und integrieren sie sich durch ihre Komplexität, durch die Überkreuzung der Zugehörigkeiten und durch die Vielzahl der Verflechtungen wie von selbst. Darin unterscheidet sich sein Konzept der Legitimation durch Verfahren von allen anderen Vorschlägen zur Erklärung der Legitimation von Institutionen: denen von Peter L. Berger und Thomas Luckmann, dem von Jürgen Habermas und dem von John Rawls. Die klassische Soziologie hängt aber mit allen Fasern an der Vorstellung, daß auch die modernen Gesellschaften immer noch eines übergreifenden und verbindlichen Konsenses bedürfe. Damit macht Niklas Luhmann Schluß. Und – auch – deshalb verstehen ihn viele Soziologen wohl nicht so richtig.
Die Konzeption von der Legitimation durch Verfahren bedeutet wenn man so will die endgültige Umstellung der Erklärung der Integration der komplexen Gesellschaften vom Prinzip der Organisation auf das des Marktes. Märkte gewinnen ihre oft: ultrastabile Ordnung ja eben nicht über einen übergreifenden Konsens oder Plan, sondern über die Verwicklung der unzähligen Einzelmenschen in ihre ebenso unzähligen Einzelabsichten und Einzelaktionen. Die Institutionen sind nur der weite Rahmen, nicht aber der Kern des sozialen Geschehens in den modernen Gesellschaften. Anders gesagt: Die Stabilität der modernen Gesellschaft ist die unintendierte Folge eines Geschehens, bei dem die Menschen nur ihre privaten Ziele verfolgen und ihren individuellen Ärger auch mehr und mehr nur noch individuell verarbeiten. Darum gibt es eben in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus, wohl aber Myriaden von Psychoanalytikern und Magengeschwüren.
Kapitel 12
Institutioneller Wandel
Institutioneller Wandel ist die Änderung einer bereits bestehenden institutionellen Ordnung. Er geht wie die Begründung einer Institution, die wir in Kapitel 10 oben in diesem Band besprochen haben letztlich stets von der „Basis“ aus: Wenn, aus welchen Gründen auch immer, die Organisation der Nutzenproduktion ineffizient oder die Interessen der Menschen an der Geltung der Institution widersprüchlich werden, dann hat das Auswirkungen zuerst auf die Plausibilität der legitimierenden Ideen, und dann auf die Gedanken und Taten, die auf eine Änderung der institutionellen Ordnung zielen. Alles hat damit zu tun, daß die Institutionen nicht im luftleeren Raum bestehen. Ihre Basis sind die Interessen der Menschen und eine effiziente Organisation der Nutzenproduktion. Und ihr Überbau sind die Ideen, die sie legitimieren. Die Interessen stützen die Institution von unten, die Ideen von oben – sozusagen. Interessen, Institutionen und Ideen bilden so ein kohärentes und stabiles System, bei dem sich die verschiedenen Elemente gegenseitig stützen: Die erlebte Bedienung der Interessen legitimiert die Institution, und die Bindungen an die Legitimation sichern den Bestand der Institution auch gegen andere Interessen.1 Funktionierende Gesellschaften und andere Sozialgebilde „bestehen“ zu einem großen Teil aus solchen relativ gleichgewichtigen und stabilen Einheiten von materieller Basis, gesellschaftlichen Verhältnissen und ideellem Überbau. In der Produktion interessanter Ressourcen mit ihrer Hilfe liegen letztlich alle Gründe für die „Geltung“ einer Institution.
Der über die Interessen hinausgehende Überbau der legitimierenden Ideen löst sich mitunter zwar recht weit von dieser Basis. Und er übt gibt es ihn einmal oft auch einen eigenen Einfluß auf das Handeln der Menschen und auf den Bestand der Institutionen aus und das selbst dann, wenn sich die Grundlage der Institutionen sehr gewandelt hat. Aber dieser Einfluß reicht nicht unendlich. Legitimierende Ideen ohne eine Basis in den Interessen der Menschen und in der Erfüllung ihrer Bedürfnisse nach physischem Wohlbefinden und 1
Vgl. M. Rainer Lepsius, Interessen und Ideen. Die Zurechnungsproblematik bei Max Weber, in: M. Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 31-43. Vgl. dazu auch schon Abschnitt 9.1 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“, sowie Abschnitt 25.3 der „Soziologie. Allgemeine Grundlagen“.
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sozialer Wertschätzung werden bald hohl. Und dann entsteht ein neues Interesse: das Interesse an einer Änderung der institutionellen Regel.
12.1 Arten des institutionellen Wandels Institutioneller Wandel kann auf sehr verschiedene Weise angestoßen werden und ablaufen. Und er kann unterschiedliche Grade der Reichweite haben. Wir wollen vier Dimensionen des institutionellen Wandels unterscheiden: die Reichweite des Wandels, exogenen und endogenen, geplanten und ungeplanten, evolutionären und revolutionären Wandel (vgl. dazu ausführlich auch schon Kapitel 7 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über den „Sozialen Wandel“ allgemein).
Die Reichweite des institutionellen Wandels Bei der Reichweite des institutionellen Wandels wird die Unterscheidung nach externen und internen Institutionen wichtig, auf die wir in Abschnitt 1.3 oben in diesem Band hingewiesen haben. Die gesamte Verfassung als den externen Rahmen aller weiteren internen Institutionen einer Gesellschaft oder einer Organisation zu ändern, wäre stets ein größerer Akt. Weil damit stets massive Ab- oder gar Umwertungen von Kapitalien verbunden sind, geht eine solche Änderung fast nur in Form einer gewaltsamen Aktion. Die Änderung interner Regeln dagegen kann allmählich, experimentell und konsensuell erfolgen. Wenn sich allerdings das interne Regelsystem erkennbar fehlentwickelt, wenn die Bedürfnisse der Menschen nicht mehr befriedigt werden und/oder die Interessen am Erhalt der Ordnung auseinanderdriften, dann wachsen auch die Bestrebungen, den kompletten Rahmen der externen Institutionen umzuwälzen.
Exogener und endogener institutioneller Wandel Ausgangspunkt eines jeden institutionellen Wandels ist wie wir noch einmal festhalten wollen die Organisation der Nutzenproduktion. Oft geht ein Wandel in dieser Basis der Institutionen und in den Interessen auf exogene Ereignisse zurück: Mit der Kolonisierung Nordamerikas kommt der bei den Labradorindianern zuvor unbekannte Pelzhandel auf. Und das verändert die externen Effekte der freien Jagd mit der Folge, daß jetzt ein Interesse an privaten Eigentumsrechten entsteht, an das vorher kein Indianer auch nur hätte denken
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te denken können. Aber auch jede bewußte Gesetzgebung und jeder Vertrag wären Formen eines exogen verursachten institutionellen Wandels. Institutionen ändern sich oft ohne äußere Einwirkung und allein durch ihre intern angelegte Dynamik. Das ist der endogene Wandel. Er ist in der Logik der Institutionalisierung selbst angelegt. Dafür gibt es zwei verschiedene Sichtweisen eine optimistische und eine pessimistische. Die optimistische Perspektive geht davon aus, daß Institutionen, wenn man sie sich nur frei entwickeln läßt und möglichst wenig extern eingreift, stets besser und den Bedürfnissen der Menschen angepaßter würden. Die pessimistische Sicht rechnet dagegen mehr damit, daß die schlauen und opportunistischen Menschen mit der Kenntnis und Einübung der Regeln immer auch gesellschaftlich unproduktive Wege finden, die Regeln für sich individuell auszubeuten und deren Effizienz damit von innen auszuhöhlen. Wir werden unten (in den Abschnitten 12.2 und 12.3) noch zu klären haben, was von den beiden Sichtweisen zu halten ist.
Geplanter und ungeplanter institutioneller Wandel Institutionen ändern sich fortwährend. Meistens geschieht das nahezu unmerklich wie bei den Regeln der gesprochenen Sprache, bei den Konventionen der Tischsitten oder bei den Mode- und Eßgewohnheiten. In aller Regel sind diese unmerklichen Änderungen ungeplant. Und erst in der Rückschau oder beim Lesen des FAZ-Feuilletons wird den Menschen klar, wie sehr sich die Welt doch geändert und daß es das früher alles nicht Es gibthat aber natürlich auch geplanten institutionellen Wandel. Regierungen gegeben sind dazu da, um den institutionellen Wandel einer Gesellschaft mit einer bestimmten gewollten Zielrichtung zu verbinden. Dann werden Veträge ausgehandelt, Gesetze beschlossen und Dekrete erlassen, um ein bestimmtes Ziel zu verwirklichen. Meist stellen sich dabei vielerlei ungeplante Folgen ein, die niemand hatte voraussehen können. Alles kommt dann darauf an, erkennbare Fehlentwicklungen rasch und ohne großen Aufwand zu korrigieren. Nicht immer sind die herrschenden Regierungen dazu in der Lage. Auch einfache Korrekturen wären ja nichts anderes als ein riskantes kollektives Handeln, bei dem sich niemand ohne weiteres die Kosten und Unannehmlichkeiten dafür aufhalsen will. Und so werden beispielsweise die vielen Subventionen eben nicht abgeschafft, die alle einmal ihren guten Sinn hatten, jetzt aber erkennbar überflüssig oder gar unproduktiv geworden sind. Und das obwohl alle Welt danach ruft , weil es sich niemand in der Regierung und bei der
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Opposition mit den Landwirten, den Werftarbeitern und den Ruhrkohlemanagern verderben und den nächsten Wahlsieg aufs Spiel setzen will.
Evolutionärer und revolutionärer institutioneller Wandel Ungeplanter Wandel findet meist ganz allmählich und schrittweise, gelegentlich aber auch abrupt und unter Austausch der gesamten Verfassung einer Gesellschaft statt. Wir wollen die fallweise und inkrementale Änderung interner institutioneller Regeln ohne festes Ziel eines Endergebnisses als evolutionären institutionellen Wandel bezeichnen. Revolutionär sei ein institutioneller Wandel dann, wenn er plötzlich passiert und sich auf das gesamte System der politischen Verfassung der externen institutionellen Regeln bezieht. Evolutionär können sich Institutionen insbesondere dann ändern, wenn die Änderungen nicht zu aufwendig und die Interessen daran konvergent sind. Revolutionärer Wandel ist oft wenngleich nicht: immer die Folge eines Staus an Wandlungsbedarf etwa, weil der evolutionär-allmähliche Wandel nicht möglich war oder weil evolutionär dann doch alles bergab ging. *** Die Beispiele zeigen schon, daß die vier Dimensionen, auf denen man verschiedene Arten des Wandels unterscheiden kann, sich nicht gegenseitig ausschließen. Letztlich könnte man beispielsweise jeden institutionellen Wandel, den auf die externen wie auf die internen Institutionen bezogenen, den exogen verursachten wie den endogen angelegten, den geplanten wie den ungeplanten und auch den revolutionären institutionellen Wandel als „evolutionär“ bezeichnen. Es gibt keinen „Gesamtplan“ der Geschichte, auf den die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft hinausliefe. Und alles was die Menschen tun, ist ein weiterer Schritt in einem gigantischen evolutionären Geschehen, von dem niemand weiß, wohin es steuert, und noch nicht einmal: wie der nächste Schritt aussehen wird (vgl. dazu auch schon Abschnitt 7.2 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich und nachdrücklich). Gleichwohl haben sich zwei Meinungen herausgebildet, die versuchen, aus bestimmten Umständen gewisse Vorhersagen über die Art des institutionellen Wandels zu machen. Sie verknüpfen jeweils bestimmte Typen des Wandels mit der Effizienz der Institutionen. Die eine Meinung kennen wir schon: Wenn man die Institutionen sich nur frei und nach ihrer endogenen Eigenlogik entwickeln lasse und bloß dafür sorge, daß erkennbare Fehler durch
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kleine Schritte der Korrektur jederzeit eliminiert werden könnten, dann strebe das System der institutionellen Regeln zu einem immer effizienteren und immer besser abgestimmten funktionalen Gebilde. Dessen „unverstandene Weisheit“ resultiere genau daraus, daß in die Regeln das Wissen und Lernen unzähliger Menschen eingeflossen sei. Kurz: Die Evolution institutioneller Regeln bedeute ein kollektives Lernen und führe zur Entstehung von Institutionen, die allen nützen. Das ist – etwas vereinfachend gesagt – die Idee von der wohltätigen unsichtbaren Hand eines Adam Smith. Danach haben sie vor allem Carl Menger, Friedrich A. Hayek – und mit gewissen Einschränkungen: Karl R. Popper – vertreten. Die andere Meinung geht von der Situation aus, daß eine institutionelle Ordnung immer stärkeren Spannungen ausgesetzt sei, sei es, daß die Organisation der Nutzenproduktion verfällt, oder sei es, daß die Interessen an der Verteilung der Güter im Rahmen der jeweiligen Ordnung immer widersprüchlicher werden. Dann – so die Meinung – führe die Zunahme der Spannungen zwischen Interessen und Institutionen erst dazu, daß die legitimierenden Ideen immer weniger Überzeugungskraft haben und schließlich zur revolutionären Umwälzung der gesamten Verfassung der Gesellschaft. Das ist – ebenfalls etwas vereinfachend dargestellt – die Auffassung von Karl Marx gewesen. In den postmodernen neueren Zeiten wird sie kaum noch von jemandem geteilt. Ein gewisse Zeitlang blühte sie unter dem Titel der Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus, vor allem bei Autoren, die heute daran kaum noch erinnert werden möchten und stattdessen das kommuni(tari)stische Lied der Moral und des Vertrauens in der Gesellschaft singen.
Beide Meinungen sind so allgemein und apodiktisch, wie sie formuliert sind falsch. Evolutionär, endogen und schrittweise können sich Institutionen auch zum erkennbar Schlechten entwickeln und von dort alleine nicht mehr herausfinden. Und Revolutionen brechen keineswegs dann (schon) aus, wenn es den Menschen schlecht geht oder wenn sie sich in ihren Interessen unversöhnlich gegenüberstehen. Beide Fälle wollen wir uns wegen dieser Komplikationen etwas genauer ansehen. Sie helfen auch noch mehr zu verstehen, warum es übergreifende Gesetze des sozialen und institutionellen Wandels nicht geben kann.
12.2 Evolutionärer Wandel Ohne Zweifel gibt es Institutionen, die so funktional und wohlgeordnet sind, daß man schon denken könnte, eine höhere Intelligenz wäre am Werke gewesen, die diese Institutionen mit einer von den Menschen unverstandenen Weisheit geplant hätten.2 Viele Gesellschaftstheoretiker wie etwa Carl Menger oder Friedrich A. Hayek waren davon fasziniert. Offenbar führt der Auslese- und Anpassungsprozeß der Evolution nicht nur zur Entwicklung biologischer Organismen mit einer wohlabgestimmten und oftmals wundersam 2
Vgl. für eine Übersicht über diese Sichtweise der „funktionalen“ Evolution von Regeln, insbesondere in Hinsicht auf die Perspektive von Friedrich A. von Hayek: Viktor Vanberg, Kulturelle Evolution und die Gestaltung von Regeln, Tübingen 1994.
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erscheinenden Funktionalität der Teile zu einem Ganzen. Auch viele gesellschaftliche Institutionen scheinen sich so zu entwickeln: „Die natürlichen Organismen weisen bei genauer Betrachtung eine geradezu bewundernswürdige Zweckmässigkeit aller Theile in Rücksicht auf das Ganze auf, eine Zweckmässigkeit, welche indess nicht das Ergebnis menschlicher Berechnung, sondern eines natürlichen Processes ist. Aehnlich vermögen wir auch an zahlreichen Institutionen eine in die Augen springende Zweckmässigkeit in Rücksicht auf das Ganze der Gesellschaft zu beobachten, während bei näherer Betrachtung dieselben sich uns doch nicht als das Eregbniss einer auf den obigen Zweck gerichteten Absicht, d.i. einer Übereinkunft der Gesellschaftsglieder, beziehungsweise der positiven Gesetzgebung erweisen. Auch sie stellen uns vielmehr (in einem gewissen Sinne) als ‚natürliche‘ Produkte, als unreflectirte Ergebnisse geschichtlicher Entwicklung dar. Man denke z.B. an die Erscheinung des Geldes, einer Institution, welche in so hohem Masse der Wohlfahrt der Gesellschaft dient und doch bei den weitaus meisten Völkern keineswegs das Ergebniss einer auf die Begründung derselben, als socialer Institution, gerichteten Übereinkunft oder der positiven Gesetzgebung, sondern das unreflectirte Product geschichtlicher Entwickelung ist; man denke an das Recht, an die Sprache, an den Ursprung der Märkte, der Gemeinden, der Staaten u.s.f.“3
Aus der Äußerung von Carl Menger spricht eine deutliche Annahme: Kein Vertrag und kein Dekret einer „positiven Gesetzgebung“ könnten diese Leistung erbringen. Man müsse, so kann gefolgert werden, den Dingen nur ihren freien evolutionären Lauf lassen und bloß dafür sorgen, daß sich die Erfahrungen der Menschen mit den Fehlern und den unerwünschten Folgewirkungen der Institution in schrittweisen Änderungen niederschlagen können. Dann finde jener Prozeß des kollektiven Lernens statt, den keine bewußt-rationale Planung auch nur annähernd antizipieren könne (vgl. auch die Darstellung bei Vanberg 1994, S. 21f.): „Wir verdanken es den wechselseitig aneinander angepaßten Handlungen vieler Menschen, daß mehr Wissen genützt wird, als irgendeine Einzelperson besitzt, oder als der Verstand synthetisch bilden könnte.“4
Der Motor bei dieser Entwicklung sei so nicht nur Friedrich A. Hayek, sondern auch wohl Günther Rexrodt, Gerhard Schröder und Guido Westerwelle ein Wettbewerb der Regeln, bei dem die Reproduktion der Institutionen von deren Erfolg gelenkt werde. Gebe es einen solchen evolutionären Wettbewerb der Institutionen, dann würden sich wirksamere Einrichtungen durchsetzen, und die Gesellschaft würde sich zunehmend vervollkommnen.
3
4
Carl Menger, Untersuchungen über die Methode der Socialwissenschaften, und der Politischen Oekonomie insbesondere, Leipzig 1883, Drittes Buch: Das organische Verständniss der Socialerscheinungen, S. 140f.; Hervorhebungen im Original. Friedrich A. von Hayek, Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, S. 40.
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Der Fall QWERTY Wie schön also, und wie einfach wenn es denn nur stimmte! Sehen wir uns doch einmal einen Fall an, in dem nichts politisch geplant wurde, keine Verschwörung stattfand und kein Staat eingriff, bei dem es nur um eine einfache konventionelle Regel ging und alles dem freien Spiel der Kräfte überlassen blieb und dennoch die Evolution der Institution kräftig in die Hose ging. Es ist der Fall QWERTY. Das ist die Geschichte der Beibehaltung einer Konvention, von der man bald wußte, daß sie nicht optimal war. Der seltsame Name QWERTY kommt vom Gegenstand der Geschichte: die Tastatur von Schreibmaschinen. Die oberste Reihe der üblichen Keyboards von Schreibmaschinen und Computern zeigt – sehen Sie selbst nach – die Buchstabenfolge QWERTYUIOP (bzw. QWERTZUIOPÜ hierzulande). Schon bald nach ihrer Einführung stellte sich heraus, daß die QWERTY-Anordnung der Tastatur ergonomisch und von der Schreibleistung her keineswegs das günstigste ist. Es gab auch rasch und immer einmal wieder zahlreiche Versuche, bessere Systeme einzuführen, beispielsweise das DSK-System, das Dvorak Simplified Keyboard, das August Dvorak und W. L. Dealey sich im Jahre 1932 hatten patentieren lassen und um dessen Einführung sich die Erfinder noch bis in die 70er Jahre hinein – vergeblich – bemühten. Experimente der US-Navy hatten zweifelsfrei ergeben, daß die Verbesserung der Schreibleistungen mit dem DSK-System die Kosten des erforderlichen Umlernens schon nach 10 Tagen des Schreibens wieder hereinbringen würde. Aber alle Welt schreibt weiter mit QWERTY – einer bloßen Konvention, von der doch anzunehmen wäre, daß sie sich leicht ändern ließe. Warum?
Die Erklärung des Fortbestandes von QWERTY gegen alle Vernunft ist die Geschichte der Erfindung der Schreibmaschine und der schrittweisen und schließlich unüberwindlichen Erhöhung der Kosten, das System nach seiner Einführung noch zu ändern.5 Die erste Schreibmaschine wurde von einem gewissen Christopher Latham Sholes, unterstützt von seinen Freunden Carlos Glidden und Samuel W. Soule, konstruiert. Die Erfinder meldeten das Patent im Oktober 1867 an. Eine technische Besonderheit dieser ersten Maschine war, daß der Schreiber den Anschlag nicht sehen konnte. Dadurch verhakten sich bei raschem Schreiben die Typen oft. Weil der Anschlag nicht zu sehen war, merkte der Schreiber das erst, wenn die Zeile mit immer dem gleichen Buchstaben auf dem Papier erschien. Das war natürlich ein großer Nachteil für die Marktchancen der Maschine. Der Kapitalgeber der drei Techniker, James Densmore, drängte auf Abhilfe. Nachdem sich eine technische Lösung als sehr viel schwieriger als erwartet erwies, verfiel man auf einen anderen Ausweg: die künstliche Verlangsamung der Schreibgeschwindigkeit durch eine Reihenfolge der Buchstaben auf der Tastatur, die infolgedessen gewollt ergonomisch schlechter war als das zuerst eingeführte Alphabet.
5
Vgl. Paul A. David, Clio and the Economics of QWERTY, in: The American Economic Review, 75, 1985, S. 332-337.
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So entstand QWERTY, weil es eine geringere Schreibgeschwindigkeit erzwang. Und die war nötig, um den Verkaufserfolg der Maschine nicht zu gefährden. Lange Zeit war das Schicksal der so „verbesserten“ Maschine durchaus ungewiß, und eine Reihe von Konkurrenzprodukten erschien auf dem Markt. Aber zwischen 1895 und 1905 setzte sich schließlich die QWERTYTastatur durch sogar gegen die inzwischen auch gefundene Idealtastatur DHIATENSOR in der ersten Reihe, mit der etwa 70% aller englischsprachigen Texte zu schreiben sind. Was war geschehen? Die QWERTY-Schreibmaschinen begannen zum Ende des 19. Jahrhunderts allmählich ihren Platz in den Verwaltungen der rasch anwachsenden Wirtschaft einzunehmen. Um sie herum entstand gleichzeitig ein eng verflochtenes neues System von Beziehungen technischer und sozialer Art: Hersteller, Händler und Käufer der Schreibmaschinen, Operateure, Techniker und Wartungspersonal, sowie eine Reihe von Organisationen, die sich mit dem Training dieser Leute befaßte. Auch die hardware der Maschinen und die Organisation von deren Produktion entwickelte sich immer mehr um die software der Tastatur herum. Der eigentliche Wendepunkt in der Evolution von QWERTY war aber die Einführung des touch-typing – das Zehnfingersystem – in den späten 80ern des vorletzten Jahrhunderts. Das mußte – ganz anders als das bis dahin übliche – „hunt-and-peck“-System in einem gewissen Training gelernt werden. Die Einführung des touch-typing war von Beginn an der QWERTY-Tastatur angepaßt. Nun konvertierte die anfangs tatsächlich eher konventionelle Regel des QWERTY endgültig zu einer, die bald schon keineswegs mehr bloß konventioneller Art war.
Dieser Prozeß hatte ganz allgemein damit zu tun, daß in der einmal eingeschlagenen Entwicklung die zunächst nur leicht dominante Lösung immer kostengünstiger und die Alternativen immer teurer wurden, weil sich ein ganzes System herauszubilden begann, das man schließlich nur noch hätte komplett abschaffen und durch ein neues komplett ersetzen müssen. Drei spezielle Vorgänge sorgten für die Verfestigung von QWERTY. Mit dem länger gewordenen Training in dem touch-typing-System entstand erstens eine Verbindung zwischen der hardware der Schreibmaschinen und der „software“ in den Gedächtnissen und Gewohnheiten der Typistinnen und Typisten. Nun lohnte sich die Ausbildung von Schreibkräften mit QWERTY, wenn nur eine Maschine mit einer QWERTY-Tastatur gekauft worden war. Je mehr zweitens dieses Training in QWERTY stattfand, um so naheliegender wurde es für potentielle Käufer von Schreibmaschinen, darauf zurückzugreifen, weil nun die Lernkosten bei neu eingestellten Schreibkräften, die QWERTY schon konnten, geringer waren. Dadurch verschob sich mit jedem neuen Training in QWERTY das Gewicht bei der Entscheidung für oder gegen eine QWERTY-Maschine zugunsten von QWERTY. Drittens wurden die hardware-Kosten mit der Verfeinerung der Techniken immer geringer, so daß die Anpassung von Nicht-QWERTY-Maschinen an die QWERTY-Fertigkeiten der Schreibkräfte kein besonderes Problem mehr war. Das Umsteigen auf ein anderes, technisch und ergonomisch nachweislich besseres System war jetzt weder individuell noch kollektiv mehr möglich oder auch sinnvoll. Jeder einzelne Käufer einer Maschine mit irgendeinem neuen System und jede einzelne Schreibkraft, die sich in diesem System ausbilden lassen würde, wären ja ganz hirnverbrannt gewesen: Der Käufer müßte alle seine Schreibkräfte neu ausbilden, und die Schreibkraft könnte mit ihrem Können in dem anderen System nichts anfangen.
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So verfing sich das System nach einem zunächst durchaus offenen Beginn nach einiger Zeit auch der Änderbarkeit schließlich in einem wie man sagen könnte lokalen Optimum, aus dem es „spontan“ keinen Ausweg mehr gab auch dann nicht, wenn schließlich alle gewußt hätten, daß es ein absolutes Optimum mit einem technisch verfügbaren anderen System gibt. Die Änderung der zuerst tatsächlich nur konventionellen Regel zu einem objektiv besseren System wurde so mehr und mehr zu einem Problem der Einführung einer essentiellen, und schließlich sogar einer repressiven Regel, weil es alsbald Verlierer und Gewinner einer Umstellung oder Beibehaltung des Systems gab. Verlierer wären nach etwa 1900 die Millionen gewesen, die die QWERTYMaschinen schon hatten und damit schreiben konnten, Gewinner aber nur der einzelne verrückte Pionier, der die Welt verbessern wollte und daran verzweifelte, daß die Menschen so dumm sind. August Dvorak ist 1975 in Frustration und Verbitterung gestorben. Er war nicht der einzige, dem es so erging.
Pfadabhängigkeit Nicht immer gelingen also institutionelle Änderungen, auch dann nicht, wenn es daran ein massives kollektives Interesse gibt. Den Grund kennen wir und er war auch in dem Beispiel von QWERTY unübersehbar: Die institutionelle Änderung ist oft auch ein Problem des kollektiven Handelns, das so ohne weiteres nicht zu lösen ist, auch wenn alle technische Vernunft gegen die Beibehaltung der Regel spricht. Und so kann es dann kommen, daß sich eine Institution, gibt es sie einmal, von ganz alleine und gegen die Interessen der Akteure auf einem nahezu irreversiblen Pfad in eine Richtung entwickelt, bei der die Nutzenproduktion erkennbar schlechter ist als bei anderen Regeln. Dieser Vorgang wird auch als Pfadabhängigkeit einer Entwicklung bezeichnet. Er beruht darauf, daß mit dem ersten Schritt einer Regel zuvor noch gleich wahrscheinliche Alternativen immer unwahrscheinlicher, weil immer teurer werden, und daß der so einmal eingeschlagene Pfad nicht mehr verlassen werden kann. Im Kern sind es technische Gründe, die solche Prozesse steuern und dem Problem des kollektiven Handelns seine Auszahlungsstruktur geben: „Once technology develops along a particular path, given increasing returns, alternative paths and alternative technologies may be shunted aside and ignored, hence development may be entirely led down to a particular path.“6
6
Douglass C. North, Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge u.a. 1990, S. 76.
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Oft führt der evolutionäre Weg des institutionellen Wandels ganz anders als uns die Optimisten Menger und Hayek glauben machen wollen also geradewegs in eine Falle der Suboptimalität. Daraus finden die Menschen dann alleine keinen Ausweg, sei es daß ihre Interessen gespalten sind, oder sei es, daß niemand alleine die Kosten einer Änderung der Institution auf sich nehmen will oder kann. Und je länger dieser Prozeß dauert, um so unwahrscheinlicher wird eine Umkehr, weil sich die Schere zwischen den sicheren Erträgen aus dem einmal eingeschlagenen Weg und dem bereits investierten Kapital einerseits und den immer unsichereren Erträgen aus einer Alternative und den Änderungskosten andererseits immer mehr weitet.
Mechanismen der Änderungsresistenz Die Technik und das investierte Kapital sind nicht die einzigen Barrieren zum Verlassen eines als unproduktiv erkannten Pfades der institutionellen Evolution. Die Logik der Institutionalisierung erzwingt geradezu drei weitere Mechanismen der Änderungsresistenz: spezifisches Wissen, unproduktive Anreize und ideologische Erstarrung.
Spezifisches Wissen Ist eine bestimmte institutionelle Regel einmal eingerichtet, dann lohnt sich der Erwerb eines Wissens, das auf die Nutzung der Regel gerichtet ist, es nahelegt oder gar erzwingt. Dieses Wissen ist unvermeidlicherweise spezifisch: Sein Nutzen ist an die Geltung der Regel gebunden. Alleine deshalb wird jemand, der ein solches Wissen einmal erworben hat, wenig Interesse an einer Änderung einer Regel haben, auch wenn sie „nur“ konventioneller Natur ist. Wer einmal QWERTY oder WordPerfect oder die Abseitsfalle gelernt hat, will nicht wieder auf ein anderes System umsteigen müssen.
Unproduktive Anreize Das Wissen über die Regel und der geschickte Umgang mit ihr können aber auch noch anders genutzt werden. Jede Regel läßt sich nämlich opportunistisch und unproduktiv nutzen. Manche Subvention, manche steuerliche Bestimmung und viele Regeln des Wohlfahrtsstaates wurden beispielsweise aus guten Gründen eingeführt: um Konflikte zu mindern, um Risiken abzusichern
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und um Transaktionskosten zu senken. Letztlich also: zur Verbesserung der Organisation der Nutzenproduktion. Bald aber finden die findigen Menschen Wege, um sich die Regeln und Bestimmungen auch unabhängig von diesen guten kollektiven Zwecken individuell zunutze zu machen. Je mehr das dann mit der Verbreitung und Verfeinerung des spezifischen Wissens um sich greift, um so geringer sind die produktiven kollektiven Erträge der Institutionalisierung, die aber ja doch letztlich die Basis der Interessen am Fortbestand der Regel bilden. Der eigentliche Sinn der Institution wird also unterhöhlt, weil die Institution nicht nur transaktionskostensenkende und daher produktive Folgen hat, sondern weil sie auch ungeplante unproduktive Anreize schafft und die Aktivitäten auf Bereiche lenkt, die mit materieller Nutzenproduktion nicht mehr viel zu tun haben. Wie beispielsweise: der Kampf um den Erhalt der Subventionen und Privilegien, die Suche nach einträglichen Schlupflöchern oder das Angebot für teuer bezahlte Beratungsleistungen zur Ausnutzung aller dieser Lücken. Steuerberater, Rentenberater und Betriebswirte leben davon. Inzwischen gibt es ganze Stäbe in den Stadtverwaltungen, die mit nichts anderem befaßt sind, als die Subventionstöpfe in Brüssel systematisch zu erkunden und anzuzapfen. Das sind alles sicher „Arbeitsplätze“. Aber es wird nichts produziert, was Wert hätte. Aber wenn schließlich fast nur noch findiges rent seeking durch Ausnutzen der Regeln statt Produktion im Rahmen der Regeln stattfindet, dann haben die Regeln bald keine wirkliche Basis mehr.
Ideologische Erstarrung Institutionen müssen, so haben wir gesehen, gegen gewisse Schwankungen in ihrer Produktivität und ihrem Sinn gesichert sein. Das leisten, wie wir inzwischen wissen, die Legitimationen, besonders in der Form von Weltbildern und Ideologien. Legitimierende Ideen sparen außerdem Transaktionskosten, weil die Menschen die Regeln für fair und gerecht halten und ihnen deshalb klaglos folgen. Ideologische Rechtfertigungen wirken aber, gerade weil sie gegen Interessenschwankungen abpuffern sollen, unter Umständen auch als Bremse gegen „nötigen“ institutionellen Wandel. Das tun sie in zweierlei Hinsicht. Erstens steuern Ideologien die gesamte Weltsicht und suggerieren, daß eine Gesellschaft mit anderen Regeln ganz und gar undenkbar wäre. Und gerade dies lenkt zweitens dann wieder alle Aufmerksamkeit auf den Erwerb von Wissen und Kenntnissen im Rahmen der bestehenden Institutionen. Institutionelles Wissen und legitimierende Ideologien verstärken sich so gegenseitig:
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„ ... it is a two way relationship, that is, the way knowledge develops shapes our perceptions of the world around us and in turn those perceptions shape the search for knowledge.“ (North 1990, S. 76)
Die an sich sehr nützliche Schutzfunktion einer legitimierenden Ideologie kann somit auch in eine unproduktive Erstarrung umschlagen, die einen von einer veränderten Basis her nötigen institutionellen Wandel behindern und sogar ganz ausschließen kann.
Die funktionale Evolution von Regeln Soziologisch ausgesprochen interessant, wenngleich für das Leben eher tragisch, ist die innewohnende Dialektik aller dieser Sachverhalte: Spezifisches Wissen und legitimierende Ideologien sind einerseits genau das, was einer Institution zur Geltung verhilft und einen Teil ihrer problemlösenden Funktion ausmacht. Diese ordnungserhaltende Funktion ist es aber andererseits gleichzeitig, die „nötige“ Änderungen behindert und schließlich über den Prozeß der Pfadabhängigkeit ganz unmöglich macht. Leider weiß die Evolution nicht, wann Widerstand gegen Wandel und wann Flexibilität angesagt sind. Sie ist eben blind und kennt ihr Ende nicht. Woran aber hakt die Reversibilität einer einmal begonnenen, aber erkennbar ungünstigen Entwicklung institutioneller Regeln nun letztlich? Es sind so kann man ganz allgemein sagen wieder einmal die Transaktionskosten, diesmal die für die Änderung der Regeln.7 Das sind einerseits die Kosten des nötigen kollektiven Handelns, und andererseits die Kosten einer Änderung der Vorstellungen der Menschen über die Richtigkeit der Regeln. Und beides ist meist nicht billig zu haben. Die vor dem Hintergrund des Problems der Pfadabhängigkeit etwas naive Sicht von Carl Menger und Friedrich A. Hayek hat einen leicht einsehbaren Grund. Insbesondere Hayek ging von einem sehr speziellen Typ von Institutionen aus. Für ihn sind Regeln bloße Instrumente, die standardisierte Lösungen für standardisierte Probleme bieten. Es sind „Werkzeuge“, mit denen die Menschen experimentieren können, in der Praxis Fehler entdecken, sie nach und nach ausmerzen und so das institutionelle Instrument vervollkommnen. Man sieht gleich die Besonderheiten: Die Änderungen liegen in den unmittelbaren Interessen der Menschen, die Vorteile kommen ihnen ebenso unmittelbar zugute, das Experimentieren geht auch individuell, die Änderungen sind schrittweise möglich, und andere müssen nicht gefragt werden, ob sie dabei mitmachen. Friedrich A. Hayek hat selbst gesehen, daß immer dann, wenn es sich um „bewußt auferlegte zwingende Regeln“ handelt, die „nur diskontinuierlich und für 7
Vgl. auch North 1990, Kapitel 11: The Path of Institutional Change; sowie W. Brian Arthur, Self-Reinforcing Mechanisms in Economics, in: Philip W. Anderson, Kenneth J. Arrow und David Pines (Hrsg.), The Economy as an Evolving Complex System, Reading, Mass., 1988, S. 10f.
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alle gleichzeitig geändert werden können“ die Werkzeug-Analogie nicht anwendbar ist (vgl. Hayek 1971, S. 79).
Sollen Fehlentwicklungen durch rasche Korrekturen vermieden werden, dann müssen so können wir zusammenfassen die Änderungskosten niedrig gehalten und die Legitimationen entideologisiert werden. Nur unter diesen Bedingungen kann jener Prozeß der funktionalen Evolution einsetzen, von dem Carl Menger, Karl R. Popper und Friedrich A. Hayek so fasziniert waren. Nur dann wird jene als Stückwerktechnologie bezeichnete Art des institutionellen Wandels denkbar, von der Karl R. Popper im Unterschied zur „utopischen Technik“ der langfristigen und ideologisch geleiteten Planung kompletter Regelsysteme sprach: „Der typische Stückwerk-Ingenieur wird folgendermaßen vorgehen. Er mag zwar einige Vorstellungen von der idealen Gesellschaft ‚als Ganzem‘ haben – sein Ideal wird vielleicht die allgemeine Wohlfahrt sein –, aber er ist nicht dafür, daß die Gesellschaft als Ganzes neu geplant wird. Was immer seine Ziele sein mögen, er sucht sie schrittweise durch kleine Eingriffe zu erreichen, die sich dauernd verbessern lassen. ... . Wie Sokrates weiß der StückwerkIngenieur, wie wenig er weiß. Er weiß, daß wir nur aus unseren Fehlern lernen können. Dabei wird er nur Schritt für Schritt vorgehen und die erwarteten Resultate stets sorgfältig mit den tatsächlich erreichten vergleichen, immer auf der Hut vor den bei jeder Reform unweigerlich auftretenden unerwünschten Nebenwirkungen. Er wird sich auch davor hüten, Reformen von solcher Komplexität und Tragweite zu unternehmen, daß es ihm unmöglich wird, Ursachen und Wirkungen zu entwirren und zu wissen, was er eigentlich tut.“8
Das aber ist wohl nur, wenn überhaupt, mit einem institutionellen Rahmen möglich, der Prämien für institutionelles Experimentieren und rasche, aber stets nur partielle Fehlerkorrekturen bereithält, oder wenigstens solche Experimente und Korrekturen nicht bestraft. Vor diesem Hintergrund werden nun auch gewisse normative Empfehlungen für eine funktionale Evolution von Institutionen plausibel. Es liegt insbesondere nahe, „ ... eine von Grund auf undogmatische Einstellung gegenüber allen Dimensionen und Aspekten menschlicher Problemlösungsbemühungen ... “ (Vanberg 1994, S. 43; Hervorhebung nicht im Original)
als einen solchen Rahmen anzusehen. Der stellt ja wenigstens einigermaßen sicher, daß die Evolution der institutionellen Regeln ein kollektiver Lernprozeß zum Wohle aller ist. Man müßte diesen Rahmen nur als „externe“ Institution institutionalisieren. Manchmal geht das aber nur mit dogmatischer Gewalt.
8
Karl R. Popper, Das Elend des Historizismus, 4. Aufl., Tübingen 1974 (zuerst: 1960), S. 53f.
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12.3 Die Revolution der institutionellen Ordnung Revolutionen sind abrupte, meist auch gewaltsame und komplette Änderungen der externen Institutionen einer Gesellschaft.9 Mit einer Revolution ist daher meist auch eine Änderung der grundlegenden sozialen Produktionsfunktionen, der Interessen an und der Kontrolle über gewisse Ressourcen verbunden. Deshalb alleine gibt es in einer Gesellschaft immer Gruppen, die an einer Revolution kein Interesse haben: die jeweiligen Herrscher, deren Macht und Kapital auf der Gültigkeit der jeweils etablierten institutionellen Ordnung beruhen. Revolutionen kommen geplant zum Beispiel als Militär-Coups oder Palastrevolutionen und ungeplant als Massenbewegungen und als Folgen von Aktionen, die zunächst ganz andere Zielsetzungen haben, vor. Die sog. gewaltlose Revolution der DDR im Herbst 1989 ist ein Beispiel für eine so nicht geplante Revolution: Mancher, der eigentlich die DDR gerne hätte erhalten wollen, hat sich an Vorgängen beteiligt, die schließlich doch zu ihrem Untergang führte. Bei der Französischen Revolution und in vielen anderen Fällen war das nicht anders. Meist gehen Revolutionen mit einem Austausch des Führungspersonals einher. Oft genug rollen aber nur einige wenige Köpfe, und die alten Drahtzieher und Seilschaften bleiben auch nach dem Umsturz am Drücker. Auf jeden Fall aber besteht das weitläufige Netz der fundamentalen Institutionen der Alltagskonventionen im wesentlichen weiter. Und manche Revolution ist mehr oder weniger rasch daran gescheitert, daß sich zwar die formelle Verfassung des Staates, nicht aber die gewachsenen Gewohnheiten und die hergebrachten kulturellen Muster, die „fundamentalen“ Institutionen nach Abschnitt 1.3 oben in diesem Band also, ändern ließen.
Revolution als Kollektivgut So naiv und falsch die Auffassung ist, daß alleine das laissez faire-laissez allez schon zur funktionalen Evolution der Institutionen ausreiche, so naiv und falsch ist auch die Annahme, wonach schon die Not der Massen und die Zu9
Vgl. zur Entstehung von Revolutionen und sozialen Bewegungen u.a. Anthony Oberschall, Social Conflict and Social Movements, Englewood Cliffs, N.J., 1973; Anthony Oberschall, Theories of Social Conflict, in: Annual Review of Sociology 1978, S. 291315; Charles Tilly, From Mobilization to Revolution, Reading, Mass., u.a. 1978; Theda Skocpol, States and Social Revolutions. A Comparative Analysis of France, Russia, and China, Cambridge, Mass., u.a. 1979; Louis Maheu (Hrsg.), Social Movements and Social Classes. The Future of Collective Action, London 1995; Erich Weede, Mensch und Gesellschaft. Soziologie aus der Perspektive des methodologischen Individualismus, Tübingen 1992, Kapitel 21: Gewalt, Rebellion und Revolution, S. 262-284.
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spitzung der Interessengegensätze geradezu zwangsläufig zu einer revolutionären Änderung der Verfassung einer Gesellschaft oder gar zu einer besseren institutionellen Ordnung führe, die der Not ein Ende macht. Ärger und Entbehrungen gibt es überall, Revolutionen aber sind selten. Nicht zuletzt Karl Marx ist diesem Irrtum aufgesessen. Im Manifest der Kommunistischen Partei beschreibt er zusammen mit seinem Gönner und Fabrikantenerben Friedrich Engels die seiner Meinung nach unvermeidliche Verelendung der Arbeiter unter dem Kapitalismus und die zwangsläufige Zuspitzung der Interessengegensätze zwischen ihnen und den Eigentümern der Produktionsmittel. Marx und Engels resümieren: „Indem wir die allgemeinsten Phasen der Entwicklung des Proletariats zeichneten, verfolgten wir den mehr oder minder versteckten Bürgerkrieg der bestehenden Gesellschaft bis zu dem Punkt, wo er in eine offene Revolution ausbricht und durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie das Proletariat seine Herrschaft begründet.“10
Warum die Auffassung, daß die Zuspitzung der Interessengegensätze zur Revolution der gesellschaftlichen Verhältnisse führen müsse, naiv ist, haben wir schon mehrfach, etwa in Abschnitt 10.4 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, oder in Kapitel 7 von Band 3, „Soziales Handeln“, und Kapitel 9 von Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“, besprochen: Revolutionen sind Spezialfälle des Problems des kollektiven Handelns, und gerade große Gruppen lassen sich auch bei dem heftigsten Interesse daran nur schwer dazu bringen. Es gilt alles für Revolutionen, was Mancur Olson für das kollektive Handeln gesagt hat: Der Erfolg ist ungewiß, der eigene Beitrag nur gering, die Mühen dafür sicher und der Preis eines Fehlschlages enorm. Am einfachsten läßt sich die Struktur der strategischen Situation eines potentiellen Revolutionärs wieder einmal als Gefangenendilemma darstellen.11 Es sei angenommen, daß der Erfolg der Revolution einem potentiellen Aktivisten 100 Werteinheiten erbringe, und daß die Chance für den Erfolg 50% betrage. Seine eigene Beteiligung erhöhe diese Chance um 1% auf dann 51%. Die drohende Bestrafung bei Mißerfolg werde mit dem Verlust von 20 Werteinheiten angenommen. Die Bestrafung ist sicher, wenn sich niemand anders als er beteiligt. Wenn sich alle anderen beteiligen, ist die Wahrscheinlichkeit für die Bestrafung dagegen nur 50%. Die Auszahlung beträgt, wenn er sich alleine beteiligt, sichere -20. Wenn er und alle anderen nichts tun, bleibt es beim Status quo mit 0 Werteinheiten für alle und für ihn. Wenn er sich nicht beteiligt, wohl aber alle anderen, sind 0.50100=50 Werteinheiten als Kollektivgut zu erwarten. Macht er zusammen mit allen anderen mit, dann gibt es eine Nutzenerwartung von 0.51100-0.5020=41 Werteinheiten. 10
11
Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-EngelsWerke, Band 4, Berlin 1964, S. 473. Vgl. die Darstellung bei James S. Coleman, Foundations of Social Theory, Cambridge, Mass., und London 1990a, Kapitel 18: Revoking Authority, S. 482f.
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Aus der Sicht unseres potentiellen Revolutionärs ergibt dies die folgende Auszahlungsstruktur (Abbildung 12.1):
alle anderen
potentieller Aktivist
Beteiligung
keine Beteiligung
Beteiligung
41
-20
keine Beteiligung
50
0
Abb. 12.1: Die Beteiligung an einer Revolution als Gefangenendilemma
Kurz: Für den einzelnen Akteur wäre die Beteiligung an der Revolution ganz und gar unvernünftig. Und das erst recht in großen Gruppen, weil dort der eigene Beitrag noch geringer als mit 1% zu veranschlagen ist. Obendrein ist eine wichtige Form der Lösung des Problems des kollektiven Handelns, nämlich: daß ein mächtiger und gleichzeitig interessierter Akteur die Sache selbst in die Hand nimmt, kaum wahrscheinlich: Diejenigen, die ein Interesse am Wandel der Institutionen haben, besitzen oftmals nicht die Mittel zum Umsturz. Und die, die über die nötigen Mittel verfügen, haben meist kein Interesse daran. Allein dies erklärt, warum Revolutionen aller Art, besonders aber als Massenbewegungen so überaus selten sind.
Das Tocqueville-Paradox und die relative Deprivation Zunehmende Verelendung, die Zuspitzung der Widersprüche und Interessengegensätze sowie das Ansteigen der Frustrationen allgemein erklären jedoch nicht nur das Entstehen von Revolutionen nicht. Große Not hält vielmehr die Menschen offenbar eher sogar davon ab, sich zur Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse aufzuraffen. Verelendete Massen machen in aller Regel keine Revolution. Sie leiden eher stumm vor sich hin. In Konzentrationslagern gab es sicher extreme Entbehrungen, aber kaum so etwas wie einen Aufstand. Das hatte Alexis de Tocqueville schon bei seiner Analyse der Vorbedingungen
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der Französischen Revolution beobachtet: Erst wenn es den Menschen etwas besser geht, und gerade dann, wenn die Regierungen zu Reformen bereit zu sein scheinen, brechen die Revolutionen aus. Alexis de Tocqueville schreibt: „Man gelangt nicht immer nur dann zur Revolution, wenn eine schlimme Lage zur schlimmsten wird. Sehr oft geschieht es, daß ein Volk, das die drückendsten Gesetze ohne Klage und gleichsan als fühle es sie nicht, ertragen hatte, diese gewaltsam beseitigt, sobald ihre Last sich vermindert. Die Regierung, die durch eine Revolution vernichtet wird, ist fast stets besser als die unmittelbar voraufgegangene, und die Erfahrung lehrt, daß der gefährlichste Augenblick für eine schlechte Regierung der ist, wo sie sich zu reformieren beginnt.“12
Das ist das sog. Tocqueville-Paradox. Warum aber ist das so? Aus der genaueren Untersuchung der Umstände und Vorgeschichte von drei Revolutionen der sog. Dorr’s Rebellion in Rhode Island von 1842, der Russischen Revolution 1905 bzw. von 1917 und der Revolution in Ägypten im Jahre 1952 glaubt James C. Davies dem Geheimnis auf der Spur zu sein: Revolutionen gehen so James C. Davies üblicherweise längere Perioden der Verbesserung einer zuvor sehr schlimmen Situation voraus, wobei der Pfad der Verbesserung der Lage dann plötzlich unterbrochen wird. Die Erwartungen sind offenbar so die Annahme auf eine weitere Steigerung der Wohlfahrt gerichtet. Mit der Unterbrechung der gedachten Aufwärtsbewegung aber tut sich eine plötzliche Lücke zwischen Anspruch und Wirklichkeit auf. Und diese Lücke sei die motivationale Kraft, die die Revolution erzeugt. Die Lücke entsteht also aus einem Vergleich zwischen zu Ansprüchen verdichteten Erwartungen einerseits und der Realität der Wohlfahrtsentwicklung andererseits (vgl. dazu bereits Abschnitt 3.3 oben in diesem Band). Vergleichsmaßstab für die Ansprüche muß nicht eine gedachte Entwicklung, es können auch andere Personen oder Gruppen sein, die als Bezugsrahmen der Orientierung dienen und vor denen man sich in einer Situation der relativen Deprivation fühlt (vgl. dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ über die Bedeutung von Bezugsgruppen bei solchen Vergleichsprozessen): Zwar mag es den Arbeitern immer besser gehen, aber verglichen mit dem noch stärker steigenden Reichtum der Kapitalisten ist ihre Lage doch immer noch – wennzwar nur: relativ – frustrierend und wird es immer mehr. Auch können als zusammengehörig empfundene Statusdimensionen die Grundlage des Vergleichs sein. Frustration entsteht dann aus einer erlebten Inkonsistenz dieser Statusdimensionen: Wenn etwa jemand eine hohe Bildung erworben hat und nun zusehen muß, daß die dafür bisher übliche berufliche Position nicht mehr – wie bisher allen vergleichbaren Bewerbern – offensteht, dann erzeugt auch das eine Frustration, die Gedanken an eine Änderung des „Systems“ nahelegen kann.13
12
13
Alexis de Tocqueville, Der alte Staat und die Revolution, München 1978 (zuerst: 1856), S. 176. Vgl. zur Erklärung von Revolutionen aus relativer Frustration u.a.: Ted R. Gurr, Why Men Rebel, Princeton, N.J., 1970. Zur Erklärung von Rebellionen aus Statusinkonsistenz: Gerhard E. Lenski, Status Crystallization: A Non-Vertical Dimension of Social Status, in: American Sociological Review, 19, 1954, S. 405-413.
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Damit Revolutionen gelingen, muß also vieles zusammenkommen, was nicht selbstverständlich auch immer gegeben ist. Das Interesse daran ist wie wir gesehen haben alleine nicht ausreichend, noch nicht einmal notwendig. Gerade aus den speziellen und keineswegs wahrscheinlichen Bedingungen von Revolutionen erklärt sich dann das Paradox, daß oft trotz starker Interessen nichts geschieht, und daß manchmal schon bei relativ schwachen oder ganz anderen Motiven gleichwohl sich ein Umsturz ereignet, den so niemand gewollt oder vorhergesehen hat.
Das Kalkül des Revolutionärs Die Unwahrscheinlichkeit einer Revolution ergibt sich wie wir gesehen haben zunächst schon aus der Sicht des einzelnen Akteurs. Das (Gefangenen-) Dilemma der Revolution könnte freilich durch andere Motive und Beweggründe überwunden werden. Betrachten wir dazu den individuellen Akteur noch einmal, der vor der Entscheidung steht, sich an einer Revolution zu beteiligen oder inaktiv zu bleiben. Eine Beteiligung erfolgt so wollen wir wie üblich annehmen nur dann, wenn der aus der Beteiligung r erwartete Nutzen EU(r) höher ist als der erwartete Nutzen bei Inaktivität EU(i).15 Wovon aber sind die Nutzenerwartungen für die Alternativen r und i abhängig? Für die Inaktivität ist die Sache einfach: Es gibt mit Sicherheit die Auszahlung des Status quo. Wir wollen sie mit EU(i)=Us bezeichnen. Mit einer Beteiligung sind dagegen verschiedene mögliche Konsequenzen verbunden, die erst zusammen die Nutzenerwartung EU(r) einer revolutionären Aktivität ausmachen. Dazu gehört zunächst der als Kollektivgut anzusehende Nutzen der Revolution Ur. Dieser Ertrag ist mit der Wahrscheinlichkeit pr für das Gelingen der Revolution zu gewichten. Der Wert pr gilt für den Erfolg der Revolution schon ohne das eigene Mittun. Für den Fall der eigenen Mitwirkung wird ein Zusatzbetrag in Höhe von pi hinzugefügt. Die Gesamterwartung des Erfolges beträgt damit p=pr+pi. Für die Beteiligung gebe es, zweitens, gewisse selektive Anreize Ua, deren Verwirklichung natürlich auch mit der Erwartung p für den Fall des Gelingens der Revolution gewichtet werden muß: Ein Regierungsamt, die Anerkennung eines Minderheitsstatus, die Beförderung gewisser Gruppeninteressen, zum Beispiel. Drittens sei mit der Beteiligung unmittelbar ein Prozeßnutzen Up verbunden: Etwa der Unterhaltungswert der Teilnahme, Anerkennung und Ehre aus der Bezugsgruppe oder auch ein ideologischer Nutzen, den man sich zum Beispiel bei Karl Marx für die proletarische Revolution angelesen hat. Die Studentenrevolutionen waren auch dadurch sehr bewegt, und viele Demos heute leben in erster Linie davon. Natürlich kostet eine Revolution auch etwas. Das sind zunächst die unmittelbaren Prozeßkosten der revolutionären Aktivitäten Cp: Die aufgewendete Zeit und die verbrauchten Ressourcen etwa. Schließlich aber droht auch eine Bestrafung, wenn die Sache schief geht. Sie sei mit Cr bezeichnet. Die Bestra15
Vgl. zur Modellierung der Teilnahme an Revolutionen in der Sprache der WertErwartungstheorie: Gordon Tullock, The Social Dilemma. The Economics of War and Revolution, Blacksburg, Vir., 1974, Kapitel 5: The Paradox of Revolution, S. 36ff.
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fung tritt mit der Wahrscheinlichkeit 1-p=q ein. Bei den Studentenrevolten, den Atomdemos und den zahllosen netten Aktionen der sog. Neuen Sozialen Bewegungen16 waren und sind diese Kosten – verglichen etwa mit dem, was etwa die Verschwörer des 20. Juli zu erwarten hatten – extrem niedrig. Dafür ist der Unterhaltungswert der Aktionen meist hoch.
Damit lassen sich die Nutzenerwartungen für die beiden Alternativen i und r so zusammenfassen: EU(i) Us EU(r) (pr+pi)(Ur + Ua) + Up (Cp + qCr) p(Ur + Ua) + Up (Cp + qCr). Es sind nun insbesondere die niedrigen selektiven Anreize und die nur geringen Erfolgserwartungen, die dafür sorgen, daß die verelendeten Massen meistens so eigenartig apathisch bleiben: Sie haben zwar nichts zu verlieren als ihre Ketten, aber auch nicht sonderlich viel von einer Revolution zu erwarten. Und der individuelle Beitrag zum Gelingen wäre wenigstens subjektiv verschwindend gering. Für die Masse der Bevölkerung eines jeden Landes trifft daher das oben skizzierte Gefangenendilemma tatsächlich zu, und die Inaktivität ist eine naheliegende Reaktion auch auf große Entbehrungen. Das ist anders bei Gruppen oder Akteuren, die selbst schon der Regierung nahestehen. Für einen Offizier beispielsweise, der das Kommando über zuverlässige Militäreinheiten hat, und der mit einem erfolgreichen Coup an die Macht kommen könnte, sind p und Ua schon ganz beträchtlich hoch, so daß sich die Angelegenheit immer: mit einem gewissen Restrisiko freilich schon rechnet, ganz unabhängig vom Wohl des Volkes oder irgendeiner ideologischen Überhöhung seines Dranges nach Herrschaft. Daraus alleine erklärt sich leicht, warum die allermeisten Revolutionen und Rebellionen von den Eliten selbst versucht werden. Die Überlegungen eines solchen Offiziers sind allerdings noch etwas komplizierter (vgl. dazu Weede 1992, S. 269f.). Anders als ein Normalbürger muß er mit Sicherheit damit rechnen, sehr hart bestraft zu werden, wenn der Coup keinen Erfolg hat. Geht die Revolution an anderer Stelle los, muß er sich bald entscheiden, auf welcher Seite er mitmachen will. Neutralität und Apathie sind jetzt – anders als beim Normalbürger – nicht möglich, weil er so exponiert ist. Was er aber macht, verschiebt unter Umständen die Gewichte – meist in einer Weise, die er selbst nicht vorhersehen kann. Weil aber der Staatsstreich für ihn die beste – oft genug: die einzige – Möglichkeit des beruflichen Aufstiegs ist, ist die Neigung zum Putschen nicht unbeträchtlich – wenn es die schwache Gesamtkonstitution eines Staates nur zuläßt. Bolivien hat 16
Vgl. zu den sog. Neuen Sozialen Bewegungen u.a.: Claus Offe, New Social Movements: Challenging the Boundaries of Institutional Politics, in: Social Research, 1985, 52, S. 817868; Dieter Rucht (Hrsg.), Modernisierung und neue soziale Bewegungen, Frankfurt/M. und New York 1994. Vgl. dazu auch schon Abschnitt 3.3 in Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“.
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in den letzten 150 Jahren über 170 Staatsstreiche über sich ergehen lassen müssen. Und das war wohl kein Zufall.
Unmittelbaren ideologischen Nutzen als Element von Up beziehen Personen, die schon am Vorgang der Revolution und den damit verbundenen Aktivitäten selbst Interesse haben ganz unabhängig von irgendwelchen „materiellen“ Folgen. Solche ideologischen Aktivisten und Eiferer sind oft Mitglieder der herrschenden Klasse selbst. Sie treibt eine Art von falschem Bewußtsein. Ihr „Interesse“ speist sich manchmal aus einer theoretischen Einsicht in den angenommenen notwendigen Gang der Geschichte, oft auch ein gewisser philanthropischer Zug: „In Zeiten endlich, wo der Klassenkampf sich der Entscheidung nähert, nimmt der Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse, innerhalb der ganzen Gesellschaft, einen so heftigen und grellen Charakter an, daß ein kleiner Teil der herrschenden Klasse sich von ihr lossagt und sich der revolutionären Klasse anschließt, der Klasse, welche die Zukunft in ihren Händen trägt. Wie daher früher ein Teil des Adels zur Bourgeoisie überging, so geht jetzt ein Teil der Bourgeoisie zum Proletariat über, und namentlich ein Teil der Bourgeoisideologen, welche zum theoretischen Verständnis der ganzen geschichtlichen Bewegung sich hinaufgearbeitet haben.“ (Marx und Engels 1974, S. 471)
Karl Marx und Friedrich Engels haben sich wohl selbst dazu gezählt.
Gruppen und Interessen Mit der Grundgleichung des Kalküls eines potentiellen Revolutionärs lassen sich nun auch verschiedene Gruppen und Situationen differenzieren, die auf den Variablen der Grundgleichung typischerweise unterschiedliche Werte haben und daher auch eine systematisch unterschiedliche Neigung zur Teilnahme an einem Umsturzversuch mitsichbringen. Wir wollen so weit wie möglich vereinfachend fünf Gruppen unterscheiden: die Masse der Bevölkerung, Interessengruppen, die herrschende Elite, die mit dieser Herrschaft unzufriedene Elite und gewisse Aktivisten, die aus mehr ideologischen Gründen die Revolution betreiben wollen. Für die Masse der Bevölkerung wollen wir annehmen, daß sie an dem Kollektivgut des Gelingens einer Revolution ein gewisses Interesse habe, ansonsten aber nichts weiter davon zu erwarten hat – keinen selektiven Anreiz und keinen Prozeßnutzen. Und für sie sind auch die wahrgenommenen Erfolgsaussichten äußerst gering. Die herrschende Elite sei – verständlicherweise – besonders am Erhalt des Status quo interessiert. Für sie ist – das sei nicht vergessen – die Organisation ihrer Herrschaft ein Kollektivgut, ebenso wie die Organisation von Gegenmaßnahmen, wenn eine Revolution droht. Bei bestimmten, wenngleich natürlich nicht allen Interessengruppen, wie auch bei bei der unzufriedenen Elite, gebe es dagegen jeweils einen deutlichen selektiven Anreiz Ua für die Revolution. Bei der unzufriedenen Elite sei überdies die Erwartung pi vergleichsweise hoch, daß ein Putsch durch ihre Initiative auch Er-
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folg habe. Aber auch die bei Mißerfolg drohenden Kosten Cr sind hier höher als bei den anderen Gruppen. Deshalb müssen sie ganz genau überlegen, was zu tun ist. Schließlich gebe es noch die ideologisch geleiteten eifernden Aktivisten. Für sie können wir einen besonderen Wert bei Up eintragen. Er überstrahlt gelegentlich alle kleinlichen Bedenken und anderen Anreize. Eiferer denken nicht. Sie handeln.
Abbildung 12.3 enthält in stilisierter Weise die unterschiedlichen Gewichte der verschiedenen Gruppen für die genannten Komponenten des Grundkalküls eines potentiellen Revolutionärs.
Variable Us
Masse
Ur Ua Up
+
herrschende InteressenElite Gruppe +
+
unzufr. Elite
ideolog. Aktivisten
+ +
Cr Cp
+
p pr+pi
+
Abb. 12.3: Gewichte des Revolutionskalküls bei typischen Gruppen einer Gesellschaft
Leicht wird jetzt verständlich, was empirisch stets beobachtet wird: Die Masse der Bevölkerung hat nur ein mäßiges und obendrein: abstraktes kollektives Interesse an einer Revolution und fast keine Möglichkeiten, sie erfolgversprechend zu beginnen. Daher hält sie auch bei den größten Entbehrungen fast immer still. Es sind allenfalls unzufriedene und eifernde Mitglieder der herrschenden Elite, die ihre (relative) Frustration in einen einigermaßen erfolgversprechenden Putschversuch ausmünden lassen.
Revolutionäre Situationen Die gleiche Logik der Verlagerung der Gewichte im Handlungskalkül läßt sich entsprechend auf typische Situationen anwenden, unter denen Revolutionen stattfinden oder auch nicht. Drei solcher typischer Situationen wollen
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wir unterscheiden: die bereits besprochene zunehmende Verelendung der Massen, die hier als Staatsschwäche bezeichnete Reformbereitschaft einer Regierung und die Bildung von Gruppen, von „revolutionären Zellen“ also, in denen die revolutionären Aktivitäten in Netzwerke sozialer Beziehungen und in die alltägliche Produktion von sozialer Wertschätzung eingebettet sind.
Verelendung Die Verelendung der Massen, der Verfall gesellschaftlicher Wohlfahrt also, hat zwei Folgen für das Revolutionskalkül: Erstens sinkt der Wert des Status quo Us. Das stärkt das Motiv für eine revolutionäre Tat. Es sinkt aber auch, zweitens, die Erfolgserwartung p. Wenn alle anderen Komponenten nicht weiter beachtet werden, kommt es für die Nutzenerwartungen EU(r) und EU(i) nur auf die beiden Werte pUr und Us an. Was wirklich geschieht, hängt dann von den empirischen Verläufen der Funktionen zwischen diesen Größen und der zunehmenden Verelendung bzw. einer steigenden Wohlfahrt ab. In einem wieder einmal sehr vereinfachenden Diagramm können diese Beziehungen so verdeutlicht werden (Abbildung 12.4): Auf der senkrechten Achse sind der Wert des Status quo Us, ausgehend von einem untersten Niveau Usmin, und die Nutzenerwartung für eine erfolgreiche Revolution pUr abgetragen. Der Wert des revolutionären Kollektivgutes Ur ist als Konstante eingezeichnet. Im Zustand der extremen Verelendung sei die Erfolgserwartung p gleich null, und damit auch der Betrag von pUr. Mit wachsendem Wohlstand steige, weil p zunimmt, der Betrag von pUr bis auf die Höhe von Ur bei einem p von eins. Es nimmt aber auch der Wert von Us, wenngleich, so wollen wir annehmen, nicht so stark wie der von pUr zu. Man sieht unmittelbar, daß sich eine Revolution in einer Situation der extremen Verelendung verbietet, daß sie aber immer näherliegender wird, je mehr sich die gesamte Situation verbessert genau so, wie es das Tocqueville-Paradox beschreibt. Der Punkt w bezeichnet schließlich die Situation des Umschlags von Apathie in revolutionäre Taten. Er wird um so rascher erreicht, je stärker das Selbstbewußtsein der Massen, ausgedrückt in p, mit ihrer gesellschaftlichen Emanzipation im Vergleich zum Wohlstandsniveau Us selbst ansteigt.
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Staaten zu erwarten sein. Und genau ein solcher kurvlinearer Zusammenhang zwischen dem Repressionsgrad eines Staates und der Häufigkeit von gewaltsamen Umstürzen wird auch empirisch beobachtet.17
Diese Überlegungen und Zusammenhänge erklären das Tocqueville-Paradox also noch von einer anderen Seite: Eine reformbereite Regierung läuft große Gefahr, daß die Verbesserung im Status quo Us die gleichzeitige Erhöhung der Nutzenerwartung für die Revolution pUr durch das Anwachsen von p im Zuge der Reformen nicht mehr auffangen kann: Der Wert von p verschiebt sich alleine durch die Ankündigung einer Liberalisierung schlagartig auf p’ und es gilt jetzt p’Ur EU(r) ’. Außerdem verringern sich bei einer solchen Staatsschwäche die Kosten: Die Prozeßkosten Cp sinken, weil sich die Bewegung dann leichter organisieren läßt, und auch die drohenden Bestrafungen Cr sind in liberalen Staaten milder. Und die Folge: Nun erheben sich die immer noch recht verelendeten Massen, die zuvor nur wie gelähmt ihr Schicksal ertrugen (Punkt w** in Abbildung 12.2). Reformen eines abgewirtschafteten Systems ermutigen also eher zur Revolution, als daß sie besänftigen. Sie werden oft genug auch nur als Zeichen für die beginnende Schwächung des verhaßten Systems angesehen. Gorbatschow müßte verstehen, wovon die Rede ist.
Revolutionäre Gruppen Die allermeisten Revolutionen haben ihre lebensweltliche wie organisatorische Basis in relativ kleinen Gruppen und Gemeinschaften. Revolutionen und soziale Bewegungen allgemein werden auch fast ausschließlich als Gruppenaktivitäten vollzogen. Barrikaden müssen gemeinsam gebaut, Paläste gemeinsam erstürmt und Fernsehsender gemeinsam besetzt werden.18
17
18
Vgl. Ivo K. Feierabend und Rosalind L. Feierabend, Systemic Conditions of Political Aggression: An Application of Frustration-Aggression Theory, in: Ivo K. Feierabend, Rosalind L. Feierabend und Ted R. Gurr (Hrsg.), Anger, Violence, and Politics, Englewood Cliffs, N.J., 1972, S. 154-168; Edward N. Muller und Erich Weede, Cross-National Variation in Political Violence, in: Journal of Conflict Resolution, 34, 1990, S. 624-651; Erich Weede und Edward N. Muller, Rationalität, Repression und Gewalt, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 42, 1990, S. 232-247; Weede 1992, S. 279ff. Vgl. zur Bedeutung der Einbettung der Aktivitäten in Netzwerke und Gruppen für Revolutionen: Anthony Oberschall, Rational Choice in Collective Protests, in: Rationality and Society, 6, 1994, S. 79-100; Jack A. Goldstone, Is Revolution Individually Rational? Groups and Individuals in Revolutionary Collective Action, in: Rationality and Society, 6, 1994, S. 139-166.
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Die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung hatte ihre Grundlagen in den puritanischen gentry-Netzwerken. Die französische Nationalversammlung agierte, als es ernst wurde, als verschworene Gruppe. Die Russische Revolution hatte ihre Basis in den Dörfern, ebenso wie – derzeit – die baskische Unabhängigkeitsbewegung und die Separatisten in Georgien und Tschetschenien. Die amerikanische Civil-Rights-Bewegung ging von den Kirchengemeinden der Farbigen aus. Und – nicht zuletzt – fand sich die Studentenbewegung zuerst in Wohngemeinschaften zusammen, später, unter Änderung ihrer Ziele und Taten, in revolutionären Zellen.
Kurz: Das Modell des einzelnen Revolutionärs, der für sich alleine kühl die Folgen abschätzt, ist ganz und gar unrealistisch. Aber: Wir haben ja schon gesehen, daß das Handeln in der Gruppe und die Bildung von Solidargemeinschaften nur ein Spezialfall des individuell-rationalen Handelns ist (vgl. Band 3, „Soziales Handeln“, dieser „Speziellen Grundlagen“ und insbesondere Abschnitt 5.3 und Kapitel 7 dort). Wie verändert nun aber die Existenz einer Gruppe die Situation für den einzelnen Akteur? Gruppen so können wir hier kurz und auf Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ vorausgreifend zusammenfassen sind um gewisse informelle Ziele herum organisiert, an denen die Mitglieder ein individuelles und ein kollektives Interesse haben. Gruppenhandeln hat daher die strategische Struktur eines Assurance Game: Alle sind an der Erreichung des kollektiven Zieles schon individuell mehr interessiert als an der Ausbeutung der anderen Mitglieder durch Trittbrettfahren. Außerdem gestatten relativ kleine Gruppen relativ leicht die Feststellung und Sanktionierung von Abweichungen, aber auch die Identifikation, die richtige Zuschreibung und Belohnung von altruistischen Leistungen für die Gruppe. Kurz: In Gruppen kann besonders leicht soziale Wertschätzung erzeugt werden durch Aktivitäten, die sich die Gruppe als gemeinsames Ziel oft sogar buchstäblich auf die Fahne geschrieben hat. Die wichtigsten Folgen der Einbettung in eine Gruppe betreffen daher die selektiven Anreize Ua, den Prozeßnutzen der revolutionären Aktivität Up und die subjektive Erfolgserwartung p=pr+pi in unserem oben entwickelten Modell des „Kalküls“ eines Revolutionärs. Wegen der hohen sozialen Kontrolle in Gruppen wird das gruppenkonforme Handeln unmittelbar mit einem selektiven Anreiz der sozialen Anerkennung in Höhe von Ua belohnt. Für altruistische Heldentaten gibt es in einer funktionierenden Gruppe Ehre – und eben kein höhnisches Gelächter für den gutmütigen dummen Helden, wie es unter rationalen Egoisten zu erwarten wäre. Mancher ist nur mit nach Brokdorf gefahren, um hinterher nicht als Drückeberger vor seinen FreundInnen dazustehen. Das Mittun geschah oft genug auch aus Feigheit vor dem Freunde. Mit dem Wissen um die Möglichkeiten der Gruppe als Ganzes steigt auch die generelle Erwartung pr, daß die Revolution erfolgreich ist. Im Schoße einer Gruppe werden außerdem oft auch die ansonsten kleinen privaten Träume von der Revolution riesengroß: Der eigene Beitrag für die Gruppe ist jetzt – ganz anders als in einer anonymen Masse – merklich. Und damit wächst auch die individuelle Erfolgserwartung pi gegenüber einer Situation in der Isolation. Freilich tut sich nun ein Dilemma auf: Je größer die Gruppe, desto größer ist zwar pr, aber desto kleiner wird wieder pi. Kurz: Es gibt wieder eine „optimale“ mittlere Größe revolutionärer Gruppen, bei der die Kombination von Gruppenmacht und individuellem Einfluß
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maximiert wird. Wenn die betreffende Aktivität als Teil des Gruppenlebens definiert ist, dann steigt auch der Prozeßnutzen Up: Ich fühl’ mich funky auf der Demo! Demonstrationen und Straßenschlachten machen nämlich einfach auch Spaß, besonders dann, wenn es wieder besonders viele Bullen gegeben hat und man den Daheimgebliebenen über große Heldentaten berichten kann – so wie damals schon Großvater von seinen Erlebnissen vor Stalingrad oder Papa von der 68er-Revolution und der Erstürmung des Springer-Hochhauses.19 In Gruppen können auch leicht endogen erzeugte kollektive Definitionen der Situation entstehen und sich stabilisieren, die dem Ganzen einen eigenen ideologischen Prozeßnutzen geben (vgl. auch dazu noch Band 6, „Sinn und Kultur“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ausführlich). Es ist egal, ob Gruppen an den Weltuntergang oder an die Weltrevolution glauben: Wenn sie sich das immer wieder einreden und wenn ihnen diese Einrede andere Probleme löst, dann glauben sie auch gegen allen Augenschein und gegen alle Mächte dieser Welt daran.
Für die Mitglieder von Gruppen ist aufgrund dieser Besonderheiten in den Auszahlungsstrukturen die Beteiligung an einer revolutionären Aktivität meist kein Gefangenendilemma, noch nicht einmal nur ein Assurance Game. Es ist oft genug eine durch Ehre und Ideologie kräftig gespeiste Interessenkonvergenz. Häufig entbrennt ein heißer Kampf um das Positionsgut der Ehre in der Gruppe und ein gnadenloser Wettlauf um die Frage, wer wohl der beste und radikalste Revolutionär ist. Und dann wird gebombt, was das Zeug hält gegen alle Vernunft und ohne jede Basis nach außen, aber immer mit dem Blick auf die Gruppe und die eigene Ehre darin. Daß es dabei einmal um ein ganz besonderes Kollektivgut, die Verbesserung des Loses der arbeitenden und beleidigten proletarischen Massen nämlich, ging, haben inzwischen freilich alle vergessen. Aber diese Massen gab es ja auch nicht wirklich. Für revolutionäre Aktivitäten können natürlich auch Gruppen und Kooperationskerne genutzt werden, die es schon vorher gab. Das wissen die Organisatoren von Revolutionen und sozialen Bewegungen ganz genau. Das gilt besonders dann, wenn diese Gruppen über eine Organisation verfügen, die die vielen technischen Einzelheiten einer Revolution oder Bewegung lösen hilft. Manchmal bilden sich die Gruppen, die die Revolution „braucht“, mit dem Voranschreiten der Bewegung selbst. Vorrevolutionäre und revolutionäre Situationen sind im Prinzip ein guter Nährboden für das Neuentstehen von solidarischen Gruppen und Gemeinschaften. Denn wir wissen ja schon zur Genüge: Je höher der Wert eines Gutes ist, das nur über die Kooperation zu beschaffen ist, um so größer ist ceteris paribus die Wahrscheinlichkeit, daß sich auch rationale Egoisten zu solidarischer Kooperation zusammenfinden. 19
Zu den Beweggründen einer Teilnahme an Formen der sog. unkonventionellen politischen Partizipation, vulgo: Demo, siehe Karl-Dieter Opp, Konventionelle und unkonventionelle politische Partizipation, in: Zeitschrift für Soziologie 14, 1985, S. 282-296; Karl Dieter Opp, Grievances and Participation in Social Movements, in: American Sociological Review, 53, 1988, S. 853-864. Zu den Unterschieden zwischen relativ gefahrlosen Studentendemonstrationen und den „richtigen“ Revolutionen, bei denen auch Blut fließt und Köpfe rollen, vgl. Weede 1992, S. 272f.
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Das ist einer der – wenigen – realen Kerne der Frustrationstheorien: Je höher die Differenz zwischen Kooperationsgewinn und Kooperationskosten ist, um so eher können revolutionäre Gruppen „spontan“ entstehen. Aber auch das ist gleichwohl meist nicht sehr wahrscheinlich. Denn: Was ist eigentlich mit dem Schatten der Zukunft? Und was ist mit der Verteilung der Güter nach der Revolution?
Kurz: Es kommt nur selten vor, daß sich eine revolutionäre Situation die Gemeinschaften erst schafft, die sie für die Überwindung der vielen Fallen und Klippen ihres Gelingens braucht. Deshalb gewinnen die vorher schon existierenden Gruppen und Gemeinschaften eine so hohe Bedeutung für die Organisation von Revolutionen und Bewegungen. Nicht zuletzt deshalb gibt es wohl so viele ethnische und religiöse Konflikte in der Welt. Ethnische und religiöse Gruppen verfügen häufig über das nötige soziale Kapital (in Form von Systemkapital; vgl. Abschnitt 8.6 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“), das bei gewissen kollektiven Frustrationen ein Gefangenendilemma in ein Assurance Game verwandelt und oft genug sogar eine mächtige Interessenkonvergenz zu schmieden vermag (vgl. dazu auch das Modell zur Eskalation ethnischer Konflikte in Kapitel 8 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“).
Die Logik des Revolutionskalküls Wir wollen die Besonderheiten der drei typischen (vor-)revolutionären Situationen Verelendung, Staatsschwäche und revolutionäre Gruppen ebenfalls in der Logik des revolutionären Grundkalküls modellieren (vgl. Abbildung 12.5). Das Modell der Brückenhypothesen zwischen Situationen und Handlungsvariablen entspricht der Logik des Diagramms in Abbildung 12.3 für die typischen Gruppen einer Gesellschaft, nun für die drei gesellschaftlichen Situationen der Verelendung, der Staatsschwäche und der Existenz von, wie auch immer gebildeten, „revolutionären“ Gruppen. Erneut wird erkennbar, wieviel zusammenkommen muß, „damit“ eine Revolution überhaupt entstehen kann. Aus einem einzelnen „Faktor“ alleine Verelendung oder Staatsschwäche oder Gruppenbildung läßt sich jedenfalls nicht viel erklären. Revolutionen sind ein komplexes Phänomen, dem man mit einzelnen „Variablen“ nicht beizukommen vermag. Erst in der Sprache eines Entscheidungskalküls wird verständlich, warum Verelendung, Staatsschwäche oder revolutionäre Gruppen ihre „Wirkung“ haben.
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Variable
Verelendung
Staatsschwäche
Us
-
+
Ur Ua Up
+ +
Cr Cp p pr+pi
revolutionäre Gruppen
-
+
+
Abb. 12.5: Gewichte des Revolutionskalküls in drei typischen (vor-)revolutionären Situationen
Mobilisierung Die Komplexität des Problems der Entstehung von Revolutionen ist mit der Beschreibung von Bevölkerungsstrukturen und Situationen noch keineswegs ausgeschöpft. Revolutionen sind immer auch Prozesse der Mobilisierung, bei denen häufig nach einem ganz anders gedachten Beginn unter sukzessiver Veränderung der Situation für alle Beteiligten, Akteure und Gruppen erfaßt werden können, die darauf eigentlich nicht im Traume haben kommen können. Von zentraler Bedeutung ist dabei, ob es gelingt, rechtzeitig genügend Ressourcen zu mobilisieren, die nötig sind, um die Revolution zum Erfolg zu führen.20 Und oft ist das Gelingen einer Revolution genau davon abhängig: daß nicht nur bestimmte wenige Aktivisten und Eiferer loslegen, sondern daß es zu einer ganzen Welle von Anschlußaktivitäten kommt, über die schließlich so viel an Ressourcen und Beteiligung mobilisiert werden kann, daß die Revolution immer mehr an Kraft gewinnt und schließlich obsiegt. 20
Zur Bedeutung der Ressourcenmobilisierung für den Erfolg von Revolutionen und soziale Bewegungen vgl. Oberschall 1973, S. 28ff.; Tilly 1978, S. 7; John D. McCarthy und Mayer N. Zald, Resource Mobilization and Social Movements, in: American Journal of Sociology, 82, 1977, S. 1212-1241.
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Im Prinzip ist die Erklärung dieses Vorgangs und natürlich auch: des Nichtgelingens einfach. Wir haben ihn in Abschnitt 10.4 von Band 1, „Situationslogik und Handeln“, und in Kapitel 9 von Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ an verschiedenen Stellen im Zusammenhang einiger Modelle der stummen Macht der Möglichkeiten bereits beschrieben. Besonders bei Revolutionen müssen nämlich kritische Massen überschritten, Schwellenwerte der Inaktivität überwunden und immer weitere Kreise von der Bewegung angesteckt und erfaßt werden. Bei diesen Prozessen kommt es sehr auf die speziellen Randbedingungen an. Zur Illustration sei ein weiteres einfaches Modell für eine (vor-)revolutionäre Situation skizziert. Wir wollen vier verschiedene Gruppen für die Bevölkerung eines Landes annehmen: gewisse eifernde und ideologische Aktivisten A, die eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse um jeden Preis anstreben. Dann zwei verschiedene Interessengruppen I1 und I2 mit unterschiedlich starken, aber nicht allzu radikalen, Interessen an einer Änderung der Verfassung der Gesellschaft. Und schließlich der uninteressierte Rest, die Masse M der Bevölkerung. Der Anteil der Aktivisten an der Gesamtbevölkerung betrage 10%, der der inaktiven Masse 45%. Die beiden Interessengruppen umfassen 25% (I1) und 20% (I2) der Bevölkerung (vgl. die rechte senkrechte Achse in Abbildung 12.6). Die unterschiedlichen revolutionären Bereitschaften der verschiedenen Gruppen können über unterschiedlich hohe Schwellenwerte der Teilnahme an revolutionären Aktivitäten modelliert werden: Je konservativer eine Gruppe ist, um so größer muß der Anteil derjenigen sein, die schon mitmachen, bevor man selbst teilnimmt. Die eifernden Aktivisten haben – so wollen wir annehmen – einen Schwellenwert von 0%, und die Masse der Bevölkerung einen von 100% anderer Teilnehmer. Die beiden Interessengruppen sind auch unterschiedlich anfällig: Die Interessengruppe I1 habe einen Schwellenwert von 40%, die Interessengruppe I2 einen von 60% (vgl. die untere waagerechte Achse in Abbildung 12.6).
Gelingen würde die Revolution, davon wollen wir ausgehen, wenn mindestens 50% der Bevölkerung von revolutionären Aktivitäten erfaßt würden (r* im Diagramm 12.6). Trägt man die verschiedenen Gruppen mit ihren Häufigkeiten in ein Schwellenwertmodell gemäß Kapitel 9 in Band 4, „Opportunitäten und Restriktionen“, dieser „Speziellen Grundlagen“ ein, dann ergibt sich zunächst die in Abbildung 12.6 in den durchgezogenen Linien erkennbare Verteilung der Gruppen über die Summenfunktion F(s). Natürlich versuchen die Aktivisten in dieser Situation die Revolution: Sie sind „mehr“ als sie an Mitstreitern brauchen. Aber sie bleiben alleine. Das Gleichgewicht der Mobilisierung bleibt am Punkt 1 hängen Zwischen ihren Aktivitäten und den Bereitschaften der beiden Interessengruppen, die im Prinzip mitmachen würden, wenn es genügend andere schon täten, klafft eine Mobilisierungslücke, die nicht ohne weiteres zu schließen ist. Die Zeit ist eben noch nicht reif für die Revolution.
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tion ihr Vermögen raubt. Die Masse der Bevölkerung bleibe unbeeindruckt. Im Diagramm von Abbildung 12.6 zeigen sich diese Änderungen in den revolutionären Bereitschaften als eine Verschiebung der Schwellenwertfunktion bei den Gruppen I1 und I2 nach links auf die neue Verteilung I1’ und I2’. Und das Ergebnis: Nun gelingt die Mobilisierung der Interessengruppen, und es wird das Mobilisierungsgleichgewicht 2 erreicht. So wird die kritische Mobilisierungsschwelle r* überschritten. Die Revolution hat gesiegt. Das aber nicht wegen der Frustrationen der Masse der Bevölkerung; die bleibt ja apathisch wie zuvor. Sondern weil sich mehr oder weniger auch aus Zufall die Anschlußmöglichkeiten bei anderen Gruppen so entwickelt haben, daß die nötige Diffusion der Teilnahme über hinreichende Anteile von sich zuvor zurückhaltenden Gruppen erfolgen konnte. Oft haben schon Hymnen gesungen zur richtigen Zeit und am richtigen Platz die Schwellenwerte gewisser Akteure kurzfristig so geändert, daß solche Prozesse der Mobilisierung in Gang kamen und der Flächenbrand einer Revolution von diesem Funken entfacht wurde. Solche Fälle, daß einzelne Gruppen auch ganz gegen ihre Interessen und ihre Absicht, etwa aus einem spontanen Ärger und aus einer kurzfristig motivierten Aktion heraus, eine Kaskade von revolutionären Aktivitäten bei anderen Gruppen auslösen, durch die deren Mobilisierungsschwellen überschritten werden und die wiederum andere Gruppen mitreißen, sind so selten nicht. Es waren – beispielsweise – der Adel und der Dritte Stand, nicht so sehr die verelendeten Bauern in der Provinz, die für den Ausbruch und die rasche Verbreitung der Französischen Revolution sorgten: Der Adel wollte nur, daß der König seine Macht mit ihnen etwas mehr teile, aber – bei Gott! – keine Revolution. Und der Dritte Stand verlangte entsprechend seiner gewachsenen wirtschaftlichen Macht etwas mehr Mitspracherecht, aber keine grundlegend neue Ordnung. Zusammen mit den in der Tat unzufriedenen Bauern in der Provinz entstand aus ihren Aktivitäten das, was aus der Rückschau die Französische Revolution genannt wird. Es ist gut denkbar, daß auch nicht einer gewollt oder vorhergesehen hat, wie sie sich schließlich entwickelte.
Das theoretische Modell und die empirische Geschichte der Revolutionen zeigen, wie voraussetzungsreich und anfällig der Prozeß der Mobilisierung ist und wie sehr das Gelingen von winzigen Umständen und auch von Zufällen manchmal abhängen kann. Allein deshalb verbietet sich der einfache Aggregat-Psychologismus etwa der Frustrationstheorien für die Erklärung von Revolutionen und sozialen Bewegungen. Gerade die Erklärung von Revolutionen muß sehr auf die besondere Logik der Aggregation achten. Und das heißt: Die theoretische Modellierung muß hier ganz besonders auf die speziellen empirischen historischen Umstände achten. ***
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Jeder institutionelle Wandel, auch der über Revolutionen, ist so können wir nun zusammenfassen eine Art von Evolution. Wie bei jeder Evolution kann das Ergebnis nicht vorhergesagt werden, weil sich die Mutationen des Systems, die exogenen Ereignisse und die Zufälle, grundsätzlich nicht prognostizieren lassen. Sonst wären es ja keine Mutationen. Außerdem kann beim besten Willen niemand alle Randbedingungen im Blick haben oder gar prognostizieren, die jeweils am Werke sind und deren Kenntnis nötig wäre, um den Gang der Entwicklung vorauszuzeichnen. Die Welt ist eben kein gigantisches Uhrwerk, bei dem präzise jedes Teil ins andere greift. Die Evolution der institutionellen Ordnungen folgt also einerseits durchaus einer gewissen endogenen Eigenlogik, andererseits kann sie an jeder Stelle von exogenen, historisch ganz einmaligen Ereignissen unterbrochen, abgebrochen oder umgelenkt werden. Deshalb alleine schon kann es allgemeine „Gesetze“ des institutionellen Wandels grundsätzlich nicht geben. Es bleibt wohl keine andere Wahl bei der Frage nach einer „allgemeinen“ Theorie des institutionellen bzw. allgemein: des sozialen Wandels als die Einsicht, daß es solche Gesetze prinzipiell nicht geben kann. In den Kapiteln 7 und 8 von Band 2, „Die Konstruktion der Gesellschaft“, dieser „Speziellen Grundlagen“ haben wir das schon ausführlich besprochen. Die Unmöglichkeit allgemeiner Gesetze des sozialen Wandels bedeutet natürlich nicht, daß es nicht auch zwingende Abläufe und endogen gesteuerte Eigendynamiken gäbe. Aber sie beruhen nicht auf einem übergreifenden Gesetz, sondern auf der besonderen Anordnung der Bedingungen, auf vielen einzelnen Hypothesen, Gesetzen und Aggregationsargumenten, die die verschiedenen Prozeßstufen jeweils verbinden, und darauf, daß es exogene Störungen mindestens an gewissen „kritischen“ Stellen des Vorgangs eben nicht gibt. Warum gewisse Eigenlogiken von Situationen und Abläufen oftmals, wenngleich nicht immer, so zwingend sind, erfährt man nicht aus den allgemeinen Gesetzen auf der Makroebene der Gesellschaft. Man versteht ihre zwingende Dynamik erst mit den Modellen der soziologischen Erklärung, angewandt auf die jeweiligen historischen Umstände und Einzelereignisse. Die Spieltheorie und die Modelle der Diffusion sind die formalen und abstrakten Grundinstrumente dafür. Benötigt wird neben den vielen Randbedingungen, den Brückenhypothesen und Aggregationen allerdings auch ein „allgemeines“ Gesetz: das Gesetz des problemlösenden Handelns nach den Regeln der subjektiven Vernunft, dem die Menschen zu allen Zeiten und in jeder Situation unterliegen.
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Register
Agent(en) 242f. Anspruch, Ansprüche 69, 74ff., 77ff., 84ff., 87ff. Arbeitsteilung 143f., 251ff. Aspirationsniveau, Anspruchsniveau 84ff. Beziehungen, soziale 54 Bindestrich-Soziologie(n) 301ff. Brauch 59f. Coase-Theorem 22ff., 25 Corporate Identity 264f. Dekret 38 Dissonanz, kognitive 81f. Drehbuch, soziales 10f., 63, 199ff. Änderung des 221ff. Eigenschaften von 204ff. Entstehung von 212 und kognitive Repräsentation 207f. und Verhalten 207 Versagen von 212ff. Wahl eines 210f. Eindruckskontrolle 180ff., 224ff. Ensembles 225ff. Entfremdung 37f. Enttäuschung(en) 71f. Erwartung(en) 69ff., 78ff. desiderative 74f. -serwartungen 72f. Erzwingungsstab 101 Ethik 75ff. Ethnomethodologie 215ff. Etikettierung 200f. Evolution 38f. Evolution der Kooperation 75f., 372ff., 380f. Externalisierung 324ff. Fairneß 107f., 358f. Figuration, Figurationssoziologie 283ff.
Firma, Firmen 29 Garantie(n) äußere 99f. innere 99f. Geltung 6ff., 97ff. Gerechtigkeit 357f. Habit(s) 63 Habitualisierung 323f. Handeln, kommunikatives 350ff. Hermeneutik, doppelte 68f. Herrschaft 97ff., 104ff., 243 charismatische 107 legitime 106f. rationale 107 traditionale 106f. Hierarchie(n) 30ff. Homo Sociologicus 159ff. Identität 162ff. Identitätspolitik 179ff. Informationsasymmetrie 28 Institutionelle Analyse 45ff. Institution(en) abgeleitete 38f. als Modell(e) des Handelns 11f. als Restriktion 37f. Begriff der 1ff., 7f. Entstehung von 38f., 305ff. externe 41f. fundamentale 38f. Funktionen von 14ff. interne 41f. Objektivation von 322ff. Ordnungsfunktion der 20ff. Orientierungsfunktion der 15ff. Sinnstiftungsfunktion der 33ff. totale 12ff. Institutionalisierung 38f., 305ff. Institutionalistische Soziologie 46ff.
416 Institutioneller Wandel 42f., 305, 369ff. endogener 370f. evolutionärer 372f., 373ff., 380f. exogener 370f. geplanter 371f. revolutionärer 372f., 382ff. und Pfadabhängigkeit 377ff. ungeplanter 371f. Interdependenz 282f., 288 Internalisierung 113f. Interpretation 65f. Kapital, soziales 127f. Kognition(en) 78ff. Konflikte 231f. Kontrolle, soziale 102, 122ff., 127f., 262f. Konvention 100f. Korporative Akteure 243f., 255f. Kosten soziale 21f., 24f. Transaktions- 20ff., 25ff. Transformations- 20 Kriminalität 136f. Krisenexperiment(e) 213ff. Lebenswelt, Grammatik der 66f. Legalität 103f., 361f. Legitimation 305, 339ff. durch Verfahren 361ff. -sexperten 344 -stheorien 343f. Legitimität 8f., 97ff., 103f., 339ff. affektuelle 102 legale 102 Prestige der 97f. primäre 340f. sekundäre 340f. traditionale 102 und Verbindlichkeit 98 und Vorbildlichkeit 98 wertrationale 102 Wirkung der 107ff. Zuschreibung von 102 Leitideen, institutionelle 47f. Liebe (als Code) 219ff. Logik der Angemessenheit 92ff. der Kalkulation 93ff. Loyalität 126f.
Register
Macht 246f., 279ff. -balance 285f. -bildung 309ff. Markt, Märkte 30ff. Modulation, Module 218 Netzwerk(e) 288 Neue Institutionenökonomie 32f. Nomisierung 340ff. Norm(en), soziale 10f., 51ff. -adressat 53 als soziale Regeln 57ff. -benefiziar 53 -bündelung 54 disjunkte 55f. effektive Einrichtung von 319ff. Eigenschaften von 51ff. essentielle 56, 129f. Geltung der 134f. Gruppen- 55 -hüter 53 konjunkte 55f. konventionelle 56, 129f. Mechanismen der ~geltung 128f. partikulare 55 -positionalisierung 54 repressive 56, 129f. -sender 53 -setzer 53 -strukturen 128f. und Fokalhandlungen 52 universale 55 -verklammerung 54 Normbedarf 314ff. als Problem des kollektiven Handelns 314f. als Second-Order-Public-GoodProblem 123ff., 316ff. Opportunismus 27 Ordnung, soziale 306ff. Durchsetzung der 329f. Fundierung der 328f. spontane 331f. Organisation(en) 5f., 29, 233f., 239ff. als „Gesellschaft“ 247f. als Handlungsfeld 271ff., 276ff. als situiertes Aktivitätssystem 271ff. als soziales System 299f. als vertikale Integration 253f. Arten von 245f.
Register
äußere Umwelt der 244 Definition der 240 der Gesellschaft 250 Einrichtung einer 251ff., 257f. innere Umwelt der 244 -skultur 264ff. -sstil 265 Überleben von 266ff., 269f. und Akteure 240f. und Arbeitsbeziehung(en) 260f. und Arbeitsvertrag 260f. und das Problem der Verteilung des Ertrags 259f. und das Zweck-Mittel-Schema 292f. und informelle Gruppen 244f., 266 und Interessen 246f. und kollektive Entscheidungen 258f. und Lebenswelt 248f. und Macht 246f., 279ff. und Pooling von Ressourcen 257f. und rationale Bürokratie 291f., 294f. und Rationalität 298f. und Rollendistanz 273ff. Wandel von 266ff. Organisationsgesellschaft 249 Organisationssoziologie 301ff. Paradigma interpretatives 189, 193ff. normatives 188, 193ff. Pfadabhängigkeit 377ff. Plazierung nach Askription 145f. nach Leistung 145f. Population-Ecology-Ansatz 269f. Position(en) 145ff. -ssatz 146f. und Personensatz 146f. Prinzipal 224f. Prinzipal-Agent-Problem 243f., 261ff. Privateigentum 308f. Publikum 228f. QWERTY 375ff. Rahmenanalyse 218 Rationalisierung 347f. Rationalität, begrenzte 16ff., 27, 298f. Reasoning Criminal 139 Recht(e) 100f., 105f. Übertragung eines 105f.
417 Regel(n) 6ff. Bindung durch 35f. essentielle 129 -kompetenz 65 konventionelle 129 primäre 216f. repressive 129 sekundäre 216f. soziale 57ff., 129 und Interesse 36f., 246f. und Macht 246f. und Regelmäßigkeiten 59 Regelmäßigkeit(en) 5f., 129 Religion 341f., 345f. Revolution 382ff. als Kollektivgut 382f. und das Kalkül des Revolutionärs 387ff., 396f. und das Mobilisierungsproblem 386f., 397ff. und das Tocqueville-Paradox 384ff. und Gruppeninteressen 389f. und relative Deprivation 384ff. und revolutionäre Situationen 390f. und Verelendung 391f. Ritual(e) 77, 345f. Rolle(n), soziale 10f., 142ff., 242 -ambiguität 184ff. -beziehungen 152ff. -distanz 175ff., 180ff., 183f., 273ff. -elemente 149f. -erwartungen 147f. -handel 172, 174f. -handeln 186ff. -konflikte 166ff. Leistungs- 157f. -manipulation 172ff. Publikums- 157f. -satz 149 -streß 168f. -übernahme 190ff. und Bezugsumgebung 153f. und das Theater des Alltags 223ff. und Identität 153f., 161f., 176ff., 183f. und Macht 279ff. und Position(en) 143ff. und Role-Making 191ff. und Role-Playing 187f.
418 und Role-Taking 190ff. und soziale Kategorien 160f. und soziale Mechanismen der Bewältigung des Rollenstresses 169ff. und sozialer Sinn 159 und Status 147f. Sanktion(en) 8f., 111ff. externe 112f., 116f. formelle 112 informelle 112 interne 112f., 117 negative 111 positive 111 und Anreize 118f. Wirkung von 115f. Sanktionierung 111ff., 119ff., 316ff. heroische 320 inkrementale 319f. Schema(ta) 199ff. -aktivierung 203 Bindung an ein 203f. Schleier des Nichtwissens 356ff., 359f. Sinn 34f. sozialer 34f. -leere 37f. -welt(en) 344f. Sitte 59f. Situation, strategische 288f. Situationslogik 45f., 288 Skript(e) 63, 199ff. Sozialisation 102, 119ff., 122, 127f. Soziologischer Tatbestand 3f. Sprache 63f., 200f., 342f. Stückwerktechnologie 381 Symbol(e) 65f., 200f. Symbolisation 326ff. Territorien des Selbst 216 Transzendenz 341f. Unbedingtheit 83f., 87ff., 90f. Unvollständigkeit von Verträgen 28 Utilitarismus 358 Verfahren 103, 361ff., 366f. Verhalten, abweichendes 133ff. Theorien des 137f. und Anomietheorie 137f. und ätiologischer Ansatz 137f. und Labelling Approach 138 und Subkulturtheorie 138
Register
und Theorie der differentiellen Gelegenheiten 137f. und Theorie der differentiellen Kontakte 137f. und Theorie des differentiellen Lernens 137f. Verständigung, kommunikative 348ff. Verstehen 35f. Vertrag 38 Vertrauen 73f., 262f.