Übersetzung antiker Literatur: Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert
Herausgegeben von Martin Harbsmei...
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Übersetzung antiker Literatur: Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert
Herausgegeben von Martin Harbsmeier et al.
Walter de Gruyter
Übersetzung antiker Literatur
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Transformationen der Antike
Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer
Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt
Band 7
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Übersetzung antiker Literatur Funktionen und Konzeptionen im 19. und 20. Jahrhundert
Herausgegeben von
Martin Harbsmeier, Josefine Kitzbichler Katja Lubitz, Nina Mindt
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Dieser Band ist aus einer Tagung des Berliner Sonderforschungsbereichs 644 „Transformationen der Antike“ hervorgegangen und wurde mit finanzieller Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft erstellt.
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm 앪 über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020622-7 ISSN 1864-5208 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Logo „Transformationen der Antike“: Karsten Asshauer ⫺ SEQUENZ Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen
Vorwort Dem Teilprojekt „Übersetzung der Antike“ im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Transformationen der Antike“, aus dessen Arbeit der vorliegende Band entstanden ist, liegt die Beobachtung zugrunde, dass heute die Vermittlung und Aneignung antiker Kultur, soweit sie über die Texte erfolgt, die die Antike hinterlassen hat, immer weniger auf dem Wege direkten Zuganges, durch Lektüre in der Originalsprache, geschieht. Inzwischen ist die Übersetzung dabei, auch in nicht unbeträchtlichen Teilbereichen von Wissenschaft und Lehre an die Stelle des Originals zu treten und ihrerseits als zu interpretierender Text oder als auszuwertende Quelle zu fungieren. Dies zu bedauern führt nicht weiter. Vielmehr erscheint es angebracht, die Übersetzung antiker Texte selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung zu machen. Dabei ist zunächst nach theoretischen Reflexionen zu fragen, die die gegenwärtige Praxis leiten. Man muss heute daran erinnern, dass die Konzeption eines vom Original so viel wie möglich bewahrenden Übersetzens einst gerade in Deutschland entwickelt, erprobt und auch theoretisch ausgearbeitet wurde: Die Eckpunkte bilden einerseits Friedrich Schleiermachers Akademierede von 1813 und Wilhelm von Humboldts Einleitung in seine Übersetzung des Aischyleischen Agamemnon von 1816, andererseits die Arbeiten von Wolfgang Schadewaldt besonders aus den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts. Diese Tradition übersetzungstheoretischer Reflexion ist inzwischen nahezu abgerissen. Was übersetzerische Praxis betrifft, so ist – in Deutschland (im Unterschied zu anderen Ländern) – auf Seiten der Wissenschaft die Auffassung noch immer wirksam, Übersetzungen seien eine Nebensache, mit der man sich nicht abgeben müsse; sie fielen nicht ins Gewicht, wenn wissenschaftliche Leistung gewogen werde. Doch lässt sich ein solcher Standpunkt heute, wenn er überhaupt je vertretbar war, legitimerweise nicht mehr aufrechterhalten. Übersetzungen – und ebenso die Reflexion über sie – müssen im Gegenteil als wesentliche Aufgabe der Philologie ernst genommen werden, mit dem Ziel, die Praxis künftigen Übersetzens entsprechend den Veränderungen des Bildungswesens und der medialen Ressourcen zu verbessern und den Erfordernissen unterschiedlicher Nutzer gezielt anzupassen. Gefordert ist eine neue, theoretisch fundierte Übersetzungskultur, die sich mit der neuen Herausforderung produktiv auseinandersetzt. Hierzu wollen wir mit unserem (im Ganzen längerfristig angelegten) Projekt einen Beitrag leisten. Den Anfang bildet ein Vorhaben, zu dem uns die Diagnose geführt hat, dass die Klassische Philologie, obwohl sie auf eine lange Tradition zurückblickt und sich in Praxis und Unterricht hauptsächlich mit dem Übersetzen beschäftigt, nicht nur keine systematische Theorie des Übersetzens ausgearbeitet, son-
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Vorwort
dern sich nicht einmal ein lebendiges Bewusstsein der in ihrem Umfeld in den letzten 200 Jahren hervorgebrachten und angewandten Übersetzungskonzepte bewahrt hat. Dem wollen wir mit einer Darstellung dieser Entwicklung entgegenwirken. Als Beginn des Untersuchungszeitraumes haben wir die Zeit gewählt, in der die Klassische Philologie in Deutschland zu einer eigenständigen akademischen Disziplin wird. In jene Periode der deutschen Literatur, in der Herder den individuellen Charakter einzelner Nationalsprachen entdeckt, Wieland Shakespeare und antike Autoren zu übersetzen beginnt und Voß auf der Grundlage der Zeitmessung der deutschen Sprache seine Homer-Übersetzungen erarbeitet, fällt auch das wissenschaftsgeschichtliche Epochenjahr 1787, in dem es zur Etablierung des ersten philologischen Universitätsinstituts in Halle durch Friedrich August Wolf kommt. Wolf gehört dann zu den ersten Professoren der 1810 unter entscheidender Mitwirkung Wilhelm von Humboldts gegründeten Berliner Universität, an der auch Schleiermacher wirkt. Der Aufarbeitung der hier beginnenden Entwicklungsgeschichte diente auch die Tagung, die im vorliegenden Band dokumentiert wird. Künftige Untersuchungen im Rahmen des Teilprojekts sollen der Übersetzungspraxis vom 19. Jahrhundert bis heute und möglichen Konsequenzen für die Übersetzungspraxis der Zukunft gewidmet sein. Wolfgang Rösler Ulrich Schmitzer
Inhalt Einleitung ............................................................................................................................. 1 Friedmar Apel Virtuose in der historischen Form. Philologie und Übersetzung bei Friedrich Schlegel .................................................... 17 Jörg Jantzen „… daß ich nämlich sterben will, wenn der Platon vollendet ist“. Schleiermachers Platon-Übersetzung im Kontext von Philologie und Philosophie ........................... 29 Roman Dilcher „Im Anfang war das Wort“ Ein Übersetzungsproblem und seine hermeneutischen Grundlagen ...................... 49 Josefine Kitzbichler Für wen übersetzen? Beobachtungen in Übersetzungsvorreden ............................. 61 Manuel Baumbach Annäherungen an Wielands Lukian: Zum wirkungs- und rezeptionsästhetischen Umgang mit Übersetzungen aus der Weimarer Klassik ............................................. 81 Norbert Bachleitner Der Übersetzungsbetrieb des 18. und 19. Jahrhunderts aus soziologischer Sicht ........................................................................................................ 103 Katja Lubitz Historismus und Epigonalität Das Übersetzungskonzept Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs ....................... 119 Gesa Horstmann Shakespeare als deutscher Klassiker – die deutschen Übersetzungen von Shakespeares Sonetten zwischen institutioneller Monumentalisierung, nationaler Identitätsfindung und privatem Lesevergnügen ..................................... 135
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Inhalt
Ernst A. Schmidt „In heiligen Tümern“ – Rudolf Borchardt als Übersetzer antiker Texte und sein Programm ‚schöpferischer Restauration‘ am Beispiel der Altionischen Götterlieder (1924) ..................................................................................... 155 Nina Mindt Geschmack, Einfühlung, Inspiration Nicht-objektivierbare Größen in Übersetzungsreflexionen .................................... 171 Thomas Poiss Hölderlins Pindar-Übersetzung. Voraussetzungen und Konsequenzen ............... 189 Verzeichnis der Autoren ................................................................................................ 207 Personenregister .............................................................................................................. 209 Sachregister ...................................................................................................................... 213
Einleitung Übersetzen ist ein vielschichtiger Prozess, der sowohl Sprache und Kultur des Übersetzenden als auch die Wahrnehmung von Sprache und Kultur des Übersetzten zwangsläufig transformiert. Die Diskussion darüber, inwieweit literarische Texte im Hinblick auf ihre individuelle Form und ihren kulturell fremden Gehalt in angemessener Weise übersetzt werden können und worin eine solche Angemessenheit überhaupt bestehen kann und soll, erhielt in Deutschland um 1800 eine neue Qualität. Neben Übertragungen der Bibel und der Shakespeare-Dramen beförderte vor allem die Beschäftigung mit den Werken antiker Autoren eine intensive theoretische Auseinandersetzung mit der Übersetzungsproblematik. Viele der bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts behandelten Fragestellungen wurden in der Folgezeit mehrfach wieder aufgegriffen, oft genug allerdings in nur partieller oder oberflächlicher Kenntnis jener theoretischen Ansätze. Diese unterlagen also ihrerseits einer selektiven Aneignung und gedanklichen Transformation bis hin zur Gegenwart. Eine Untersuchung der in der Klassischen Philologie und ihrem Umfeld entwickelten Übersetzungstheorien macht es daher erforderlich, nach übergreifenden Konzeptionen und Funktionen des Übersetzens zu fragen, um in systematischem Zugriff verschiedene Theoreme miteinander in Beziehung setzen zu können. Im Folgenden sollen exemplarisch vier funktionale Aspekte des Übersetzens vorgestellt und unter ausgewählten historischen und vergleichenden Gesichtspunkten auf ihre Eignung als übergreifende Untersuchungskriterien überprüft werden: (1) Übersetzen als hermeneutisches Problem, (2) Übersetzen als Vermittlung, (3) Übersetzen als Suche nach der äquivalenten Form, (4) Übersetzen als schöpferischer Prozess. Gegenüber der vorherrschenden dualen Betrachtungsweise, die sich an polaren Begriffen wie „frei–treu“, „verfremdend–einbürgernd“ u. ä. orientiert, hat dieser Zugriff den Vorteil, dass verschiedene Konzeptionen und Funktionen des Übersetzens einander nicht von vornherein ausschließen, sondern in unterschiedlichen Gewichtungen auch zusammen auftreten können und so eine differenziertere Bestimmung des komplexen Vorgangs des Übersetzens ermöglichen.
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Einleitung
Übersetzen als hermeneutisches Problem Im Zuge der heute verbreiteten Skepsis gegenüber der Möglichkeit verbindlicher Interpretation scheint die Dimension des Verstehens auch in der Übersetzungsdiskussion im Hintergrund zu stehen. Dennoch behält die Erkenntnis, dass Übersetzung ohne Interpretation nicht möglich ist, nach wie vor ihre Gültigkeit, so dass die Frage nach dem Verhältnis zwischen Übersetzen und Verstehen keineswegs obsolet geworden ist. Auf der einen Seite kann man das Übersetzen im weiteren Sinne als einen Akt des Verstehens beschreiben. Man eignet sich einen unbekannten Sachverhalt an, indem man diesen von einer fremden in die eigene, innere Welt gleichsam übersetzt. So kann es, wie der Übersetzer und Hermeneutiker Friedrich Schleiermacher in seiner aus dem Jahre 1813 stammenden Rede „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“ schreibt, bisweilen geradezu notwendig sein, „unsere eigenen Reden nach einiger Zeit zu übersetzen, wenn wir sie uns recht wieder aneignen wollen.“1 Das Übersetzen kann aber auch im engeren Sinne die Weitergabe von Verstehen oder Verstandenem bezeichnen, und setzt hierbei das Verstehen von Seiten des Übersetzers bereits voraus. In beiden Fällen wird, wenn auch in unterschiedlicher Weise, die enge Verbindung von Verstehen und Übersetzen deutlich, so dass es sinnvoll erscheint, historisch und systematisch zu fragen, welche Einsichten in die Kunst des Verstehens aus der Reflexion über das Übersetzen gewonnen werden können und welche Erkenntnisse über das Übersetzen sich aus der Reflexion über die Kunst des Verstehens entwickeln lassen. So hängt beispielsweise die bereits von Goethe formulierte, aber erst durch Schleiermacher berühmt gewordene Wahl des Übersetzers, entweder den Leser zum Autor oder den Autor zum Leser zu bringen,2 nicht zuletzt davon ab, was es für den Übersetzer heißt, einen Text zu verstehen. In ähnlicher Weise führt auch der hermeneutische Grundsatz, man könne das Einzelne nur aus dem Ganzen verstehen und umgekehrt, zu der übersetzungstheoretischen Forderung, man müsse im Grunde genommen fremde Literaturen in ihrer Gesamtheit übersetzen oder „verpflanzen“, wie sich Schleiermacher ausdrückt.3 Dies weist zugleich darauf hin, wie wichtig das Verhältnis von Verstehen (und damit von Übersetzen) und Sprache ist. Am Beginn seiner kleinen Schrift Peri Hermeneias, entwirft Aristoteles ein semantisches Modell, nach dem stimmliche Äußerungen durch Konvention ‚Eindrücke in die Seele‘ (παθήματα) bezeichnen, die wiederum in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu den Dingen in der Welt stehen.4 Nach diesem Modell hinterlässt beispielsweise ein Olivenbaum einen bestimmten Eindruck gleichsam auf der inneren Wachstafel der Seele, und dieser Eindruck kann danach wiederum je nach Konvention sprachlich als _____________ 1 2 3 4
Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 67. Goethe, Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813), 955. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 74. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 83. Aristoteles, int., 16a1–9.
Einleitung
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ἐλαία von einem Griechen oder eben als ‚Olivenbaum‘ von einem Deutschen veräußerlicht werden. Wenn die Bezüge zwischen den Dingen, den inneren Eindrücken oder Gedanken und den sprachlichen Veräußerlichungen immer eindeutig wären, gäbe es, wie das Adjektiv bereits sagt, keinen Deutungs- oder Auslegungsbedarf, die Wörter wären mit einer Formulierung Schleiermachers „gleichsam geeicht“5, und wir wären praktisch im Stande, die Gedanken eines jeden Autors zu lesen. In einer solchen Situation würde sich das Übersetzen auf das mechanische Austauschen der mit einer bestimmten Sache jeweils geeichten Begriffe beschränken, so dass hier nicht eigentlich von einer Kunst des Übersetzens die Rede sein könnte. Dass eine solche Situation in der Regel allerdings nicht vorkommt, vor allem dann nicht, wenn es sich um Literatur oder Philosophie handelt, zeigt sich bereits darin, dass die Rezeptionsgeschichte der eben paraphrasierten Aristoteles-Stelle vor allem eine InterpretationsGeschichte ist, bei der die Interpreten schon seit der Antike herauszufinden suchen, was Aristoteles tatsächlich gemeint hat, wenn er von ‚Eindrücken in die Seele‘ spricht. Der Akt des Verstehens wird somit, wie es Schleiermacher in einer seiner Hermeneutik-Vorlesungen ausdrückt, eine „Umkehrung des Aktes des Redens […]“, bei dem der Interpret rekonstruieren muss, „welches Denken der Rede zum Grunde gelegen“ hat.6 Wie ist also nach der schleiermacherschen Hermeneutik das Verhältnis zwischen Denken und Sprache zu verstehen? Auf der einen Seite wird unser Denken grundsätzlich durch unsere Sprache konstituiert. Der Redner oder Autor ist lediglich, wie Schleiermacher in einer anderen Vorlesung sagt, „Organ der Sprache“ und die Sprache das „eigentlich Genetische“ der Rede. Andererseits ist der subjektive Autor den objektiven Vorgaben seiner Sprache dennoch nicht ganz ausgeliefert, sondern kann sie auch schöpferisch bezwingen, so dass er, nicht die Sprache, so Schleiermacher weiter, zum „Realgrund der Rede“ wird.7 In dieser Auffassung eines wechselseitigdynamischen Verhältnisses zwischen Denken und Sprache liegt einerseits die Grundlage für die Kunst des Verstehens: Die Gebundenheit an die Sprache ermöglicht es überhaupt, die Gedanken eines Autors aus dessen Text zu rekonstruieren. Die wechselnde Hierarchie von Objektivem und Subjektivem in Sprache und Denken weist aber andererseits auch darauf hin, dass eine rein logisch-analytische Interpretation einen Text alleine nicht erschließen kann. Festzustellen, was dasteht, so eine moderne Formulierung desselben Problems durch den Theologen Karl Barth, heißt noch nicht, dass man das, was dasteht, versteht.8 Um, wie Schleiermacher sagt, nicht nur den sachlichen Inhalt eines Textes zu verstehen, sondern auch das Individuelle oder das Eigentümliche an ihm, bedarf es neben der logisch-analytischen In_____________ 5 6 7
8
Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 70. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik (1838), 76. Schleiermacher, Allgemeine Hermeneutik (1809/10), 1273. Der gleiche Gedanke kehrt in übersetzungstheoretischem Zusammenhang wieder in Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 71: „Jeder Mensch ist auf der einen Seite in der Gewalt der Sprache. […] Auf der anderen Seite aber bildet auch jeder freidenkende, geistig selbstthätige Mensch auch seinerseits die Sprache.“ Barth (1989), XVI–XVII.
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Einleitung
terpretation ebenfalls der so genannten ‚technischen‘ oder ‚divinatorischen‘ Interpretation, bei der Herangehensweisen wie Intuition oder Gefühl ins Spiel kommen. „Wer nicht“, heißt es in der allgemeinen Einleitung der schleiermacherschen PlatonÜbersetzung, „von dem dürftigen Zustande der Sprache in philosophischer Hinsicht soviel Kenntnis hat, dass er fühlt, wo und wie Platon durch sie beschränkt wird, und wo er sie selbst mühsam weiter bildet, der wird ihn […] notwendig missverstehen.“9 Wirkliches Verstehen kommt demnach zustande, indem beide Verfahren sozusagen mit und gegen die Sprache einander in ständigem Austausch ergänzen.10 Vor diesem hermeneutischen Hintergrund wird ferner deutlich, weshalb die Vorstellung, man könne den Autor zum Leser transportieren und Platon so wiedergeben, wie er heute auf Deutsch geschrieben hätte, naiv ist. Man kann, wie Schleiermacher sagt, die Sprache nicht einfach wie ein Gespann vom Denken abtrennen und ein anderes anlegen.11 Doch gerade aus diesem Zusammenhang zwischen Sprache und Verstehen ergibt sich auch, dass der Leser einer Übersetzung zwangsläufig diesen Text interpretieren wird, und damit werden zugleich die Schwierigkeiten deutlich, die dann entstehen, wenn der Übersetzer seinem Leser das gleiche Verständnis ermöglichen möchte, das er aus dem Originaltext bzw. aus der Originalsprache gewonnen hat. Denn ein Verständnis des Originaltextes, das sich einem Leser unmittelbar aus der Originalsprache erschließt, ohne dass er in irgend einer Weise von seiner Muttersprache Gebrauch machen und das Original in seine eigene Welt übersetzen muss, kann prinzipiell nur aus der Lektüre in der Originalsprache zustandekommen und entzieht sich deshalb der Übersetzung. Ein Verständnis hingegen, das bereits in erster Instanz, also beim Übersetzer selbst, ein Übersetzen in die eigene Sprache impliziert, kann im Prinzip auch für den Leser der Übersetzung in gewisser Weise zugänglich gemacht werden, indem der Übersetzer den Leser die spezifische sprachliche Fremdheit des Originals in der Übersetzung in geeigneter Weise erkennen lässt und ihm somit eine Teilnahme an dem hermeneutischen Prozess des Übersetzens ermöglicht.12 Dass dies in der Praxis jedoch nicht ganz einfach sein dürfte, liegt auf der Hand. Nicht ohne Grund spricht Schleiermacher von der „schwere[n] Kunst“, in der Übersetzung die Kenntnis der fremden Welt des Originals zu „suppliren“ und überall dessen sprachliche Eigentümlichkeiten „durchleuchten“ zu lassen.13 Wie schon angedeutet, werden solche Zusammenhänge zwischen Verstehen und Übersetzen in der deutschen Frühromantik besonders intensiv reflektiert und zwar häufig in Verbindung mit der Arbeit an antiken Texten. Das gilt nicht zuletzt für Friedrich Schleiermacher, der als Platonübersetzer, Hermeneutiker und Überset_____________ 9 10
11 12 13
Schleiermacher, Vorerinnerung (1804), 28 [Hervorh. d. Verf.]. In Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 72 formuliert es Schleiermacher so: „[…] jegliche Rede dieser Art [sc. Reden, in denen die Selbstständigkeit des Sprechers zum tragen kommt] ist nur verstanden in höherem Sinne des Wortes, wenn diese beiden Beziehungen derselben zusammen und in ihrem wahren Verhältniß gegen einander aufgefaßt sind, so daß man weiß, welche von beiden im Ganzen oder in einzelnen Teilen vorherrscht.“ Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 85. Vgl. hierzu Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 76–78. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 90.
Einleitung
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zungstheoretiker den skizzierten Problemkomplex gewissermaßen in seiner Person repräsentiert. Der Philosoph Platon andererseits verkörperte für die Frühromatiker durch die literarische oder dichterische Qualität seiner Dialoge die ersehnte Fusion zwischen Dichter und Denker und war somit, wie Kurt Nowak in seiner Schleiermacher-Biographie schreibt, für das frühromantische Programm einer Versöhnung zwischen Kunst und Wissenschaft, zwischen Subjektivität und Objektivität geradezu ein Glücksfund.14 Friedmar Apel zeigt, wie im Zusammenhang der Neubestimmung der Aufgabe des Philologen bei Friedrich Schlegel auch der Übersetzungsbegriff eine radikale historische Neuinterpretation erfuhr. Den philologischen und philosophischen Kontext des zunächst von Schleiermacher und Friedrich Schlegel gemeinsam, bald aber von Schleiermacher allein unternommenen Projektes, den ganzen Platon zu übersetzen, untersucht Jörg Jantzen in seinem Beitrag. Ein weiteres Studierzimmer dieser Zeit, in dem ebenfalls übersetzt wird, nämlich dasjenige von Goethes Faust, bildet den Bezugspunkt der Untersuchung von Roman Dilcher. Ausgehend von Fausts Bemühungen um die Übersetzung der ersten Worte des Johannes-Evangeliums („Im Anfang war das Wort“) geht Dilcher dem Problem der Übersetzung und dessen philosophischen Grundlagen nach.
Übersetzen als Vermittlung Eine Übersetzung stellt, spätestens sobald sie einem Publikum vorgelegt wird, eine Vermittlung zwischen dem Text des Originals und dem Leser der Übersetzung dar. Denn der Übersetzer „vermittelt“ zwischen den Polen des Originalautors und des Rezipienten, weil er zwischen zwei Sprachen steht. So erklärt bereits Isidor von Sevilla die Etymologie des lateinischen Wortes interpres für „Übersetzer“ folgendermaßen: Interpres, quod inter partes medius sit duarum linguarum dum transfert.15 In dieser lateinischen Volksetymologie wird interpres auf inter partes zurückgeführt. In diesem Zusammenhang ist das Wort medius (in der Mitte) wichtig. Denn jedes Übersetzen kann im weiteren Sinn als Vermitteln, als Mediation verstanden werden. In dieser Dreierkonstellation von Original(autor), Übersetzer und Rezipient wird der Entschlüsselungsprozess, den der Übersetzer am fremdsprachigen Text vollzieht, auf unterschiedliche Weise aufbereitet, indem der Übersetzer entweder sichtbar wird oder unsichtbar bleibt.16 _____________ 14 15 16
Vgl. Nowak (2002), 132. Isidor, et., 19, 123. „Übersetzer, weil er in der Mitte zwischen den Bereichen zweier Sprachen ist, wenn er über-setzt.“ Diese Metaphorik lehnt sich an das in der Übersetzungsforschung aufgekommene Bild des sichtbaren bzw. unsichtbaren Übersetzers an. Bereits J. Levý (1967) hatte den Dual frei vs. wörtlich und andere derartige Dichotomien durch die Bezeichnung „illusionistisch“ vs. „anti-illusionistisch“ ersetzt, je nachdem, ob der Rezipient bemerkt, dass es sich um eine Übersetzung handelt oder ob die Illusion vermittelt wird, er habe einen mutterprachlichen Text vor sich.
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Einleitung
Dem hermeneutischen Übersetzungskonzept, das im deutschsprachigen Raum seit Schleiermacher in Darstellungen von Übersetzungstheorie dominant ist,17 soll hier ein theoretisch zwar weniger beachtetes, praktisch aber jederzeit ebenso wirksames Modell zur Seite gestellt werden: das auf Wirkungsäquivalenz ausgerichtete, am Leser orientierte Übersetzen und die dazu entwickelten übersetzerischen Strategien. Dies kann als Vermittlung im unmittelbaren Sinn bezeichnet werden. Wenn Schleiermacher fordert, die – mühselige – Übersetzungsarbeit in der Übersetzung mit abzubilden,18 so tritt die Vermittlungsfunktion im Sinne einer aufbereitenden, erleichternden Unterweisung zurück, während eine Übersetzung mit dezidierter Vermittlungsabsicht stets danach strebt, übersetzerische Spuren, die auf die Fremdsprachigkeit des Textes verweisen, nach Möglichkeit zu tilgen. Zentrale Intention einer solchen Übersetzungskonzeption ist also die Unterrichtung des Lesers, der mit einem ihm sonst verschlossen bleibenden fremdsprachigen Text bekannt gemacht werden soll. Für die Praxis des Übersetzens ist dies insofern relevant, als der Übersetzer sich stark an Kenntnisstand und Erwartungshaltung des Publikums orientieren und zwischen der Fremdheit des Ausgangstextes und den Gegebenheiten der Zielkultur vermitteln muss. So können Vorstellungen vom Leser zu dominanten Einflussgrößen von Übersetzungsentscheidungen werden. Unter dieser Schwerpunktsetzung ist im Rahmen von historischen Studien die entscheidende Frage, für wen die Übersetzung vermittelnde Funktion ausüben sollte. Eine sozialgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft hat die literarische Vermittlung zum Gegenstand ihres Interesses gemacht, indem sie die entsprechenden Instanzen und Institutionen, wie Verlage, Buchmarkt, Literaturkritik, Kanonbildung etc. thematisierte. Auch die Vermittlung fremdsprachiger Literatur gehört in diesen Kontext. Übersetzungen fremdsprachiger Werke werden aus dieser Perspektive zu Indikatoren, an denen sich Rezeptionsgeschichte ablesen lässt. Der Leser als Teil der Übersetzungsgeschichte wurde in der deutschsprachigen Übersetzungsforschung besonders vom Göttinger Sonderforschungsbereich 309 „Die literarische Übersetzung in Deutschland“ ins Zentrum gerückt. Übersetzungen sind als Teil des Literatursystems Instanzen literarischen Transfers. An die Fragen der literarischen Vermittlung konnte die Übersetzungsforschung anknüpfen, indem sie die „äußere Übersetzungsgeschichte“19 untersuchte: Was ist übersetzt worden, was nicht? Wie oft wurde das gleiche Werk übertragen und wo wurde es veröffentlicht? Wie wurde ein bestimmter Text übertragen und welche Hintergründe lassen sich dazu herausfinden etc.? Als ein zu berücksichtigendes Normenfeld, d. h. als Wirkungsbereich derjenigen Faktoren, die eine Übersetzung beeinflussen können, wird zu Recht die jeweilige gesamte „Übersetzungskultur“ benannt.20 _____________ 17 18
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S. o. Abschnitt „Übersetzen als hermeneutisches Problem“. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1813), 78. Dort fordert er, die Übersetzung müsse so wirken, als ob der Leser als „Kenner und Liebhaber“ der Originalsprache selbst übersetze. Frank/Kittel (2004), 16. Frank/Kittel (2004), 46.
Einleitung
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Die Analyse des Übersetzens als Vermittlung ist nicht nur für historisch-deskriptive Darstellungen von Übersetzungspraxis, sondern auch von Konzeptionen des Übersetzens ergiebig. Übersetzungsstrategien, die vorwiegend an Produktion und Absatz orientiert sind, den Rezipienten ansprechen und ihm entgegen kommen wollen, sind häufig mit „aktualisierendem Übersetzungsinteresse“21 verbunden und führen in der Regel zu freieren Übertragungen, die sich an Forderungen der Wirkungsäquivalenz entsprechen. In diesem Zusammenhang sind die jeweiligen Vorstellungen, die Übersetzer im Hinblick auf ihre (potentiellen) Rezipienten entwickeln, nicht unwichtig. Denn Leserkonzepte als Bedingungen der literarischen Übersetzung müssen ebenso wie sprach- und bildungsgeschichtliche Entwicklungen als Kodeterminanten berücksichtigt werden. Eben diese Leserkonzepte in den Blick zu nehmen, sie weiter auszudifferenzieren und nach ihren Auswirkungen für das Übersetzen zu fragen, verdient weiteres übersetzungstheoretisches Interesse. In Übersetzungsvorreden kann der Zusammenhang zwischen Übersetzung und Zielpublikum bisweilen offenkundig werden, wenn der Übersetzer sich über den von ihm anvisierte Leserkreis äußert. Allerdings ergibt sich gerade bei den Übersetzern, die im engeren Sinne vermitteln wollen, eine Schwierigkeit: Nicht immer werden entsprechende Vorüberlegungen ausformuliert, sondern müssen häufig erst als implizite Übersetzungstheorie aus den Übertragungen selbst herausdestilliert werden. Aber auch dort, wo sich Reflexionen finden, trifft man auf ein Bemühen, beiden Sprachen gerecht zu werden, das sich übersetzungstheoretisch kaum systematisch darstellen lässt. Neben den Fragen, für wen und auf welche Weise fremdsprachige Literatur, in diesem Fall griechische und lateinische, übersetzerisch aufgeschlossen wird, ist auch relevant, welche Antikekenntnis und Antikeauffassung durch Übersetzungen konkret vermittelt werden. Josefine Kitzbichler betrachtet den Zusammenhang zwischen Übersetzungsstrategie und Zielpublikum, indem sie den Fokus auf Übersetzungsvorreden richtet, aus denen sich die Einflussgröße des intendierten Publikums ablesen lässt. Die LukianÜbersetzung Christoph Martin Wielands wird immer wieder als exemplarischer Fall des vermittelnden Übersetzungskonzepts betrachtet. Eben diese Übersetzung siedelt Manuel Baumbach zwischen Ziel- und Ursprungssprache an und zeigt auf, in welchem Maße Wieland durch seine Übersetzungen auch zum Vermittler seiner eigenen Antikekenntnis und -auffassung wird. Norbert Bachleitner untersucht den deutschen Übersetzungsbetrieb aus soziologischer Sicht, stellt ausgehend von der Feldtheorie grundsätzliche Fragen und steckt dadurch den größeren Rahmen ab, wobei das 19. Jahrhundert im Mittelpunkt steht.
_____________ 21
Poltermann (1987), 32.
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Einleitung
Übersetzen als Suche nach der äquivalenten Form Ein Auszug aus der im Jahr 1811 in Berlin erschienenen Herodot-Übersetzung Friedrich Langes kann die Problematik der Formäquivalenz veranschaulichen: Wie die Geschichtkundigen unter den Persen erzählen, so sind die Föniker Schuld an dem Streit. Denn sie wären gekommen von dem Meer, so das rothe heißet, an unser Meer und hätten sich niedergelassen in dem Land, da sie noch jetzo innen wohnen, und sich alsbald auf weite Seefahrten geleget. Sie verfuhren Aegyptische und Assyrische Waaren und kamen in alle Länder, unter andern auch nach Argos. Argos aber war groß zu der Zeit vor allen in dem Land, das jetzo Hellas heisset. Nach diesem Argos kamen die Föniker und stellten ihre Waaren aus. Und am fünften oder sechsten Tage ihrer Ankunft, da sie beinahe alles verkauft hatten, kam an das Meer mit vielen andern Frauen auch des Königs Tochter; deren Namen war Jo, die Tochter Inachos, wie auch die Hellenen sagen. Die standen an des Schiffes Spiegel und kaufeten von den Waaren, danach ihr Herz gelüstete, und die Föniker vermahneten sich unter einander und fielen über sie her.22
Bei den „Geschichtkundigen“ und den „Persen“ handelt es sich nicht um Druckfehler, sondern um historisierende Wortformen innerhalb einer Übersetzungssprache, die sich an der Sprache der Lutherbibel anlehnt. Der Erfolg, den Lange mit dieser Strategie hatte, wird durch mehrere Neuauflagen und Nachdrucke seiner Übersetzung belegt.23 Ein Rezensent nahm Langes Übersetzung zum Anlass, in der Zeitschrift Die Musen einen Beitrag Ueber die Farbengebung des Alterthümlichen in Verdeutschung alter klassischer Prosa einzurücken. Er schrieb: Es war ein glücklicher Gedanke, daß ihm [scil. Lange] Luthers einfältige und kraftvolle Sprache der Darstellungsweise des Urvaters und Fürsten der Geschichte *)24 analog und zur Uebertragung desselben ganz geeignet schien, zumal, da auch jener ehrwürdige Urheber der Weltgeschichte unter allen seines Gleichen dem alttestamentarischen Zeitalter, das Luther durch seine Dollmetschung gefeiert, am nächsten lebte, und aus seinen kindlichen Erzählungen überall Spuren ähnlicher patriarchalischer Denkweise und Sitte hervorleuchten.25
Diese Analogisierung von Herodot und Luther, mit der der Rezensent Langes Rückgriff auf alte Sprachformen begründet, erscheint vielleicht konstruiert. Sie verweist aber auf ein Kernproblem literarischer Übersetzung und moderner Übersetzungstheorie: auf die Frage nach der Übersetzbarkeit der Form-Inhalt-Relation. _____________ 22
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Lange, Die Geschichten des Herodotos (1811), 3. – Die Hinweise zur Person des Übersetzers sind spärlich. Hermann Strasburger (1961), 203, weiß, dass Lange als „Königl. preußischer Consistorialrat und Schulrat in Koblenz wirkte“. Dass es sich dabei um Friedrich Heinrich Wilhelm Lange (1779– 1854) handelt, der zwischen 1833 und 1850 Provinzialschulrat in Berlin war, ist wahrscheinlich, aber schwer nachzuweisen. Eine zweite, verbesserte Auflage erschien 1824 in Breslau. Reclams Universalbibliothek übernahm die Übersetzung 1885 in einer von Otto Güthling besorgten Ausgabe. Eine Auswahl unter dem Titel Geschichten aus dem Herodot. Ein Lesebuch wurde 1878 bereits in 4. Auflage gedruckt. Pudor verweist hier in einer Fußnote auf Cicero, leg. 1,1 und de orat. 2,13. Pudor, Ueber die Farbengebung des Alterthümlichen in Verdeutschung alter klassischer Prosa (1814), 116.
Einleitung
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Im ausgehenden 18. Jahrhundert hatte die „Erfindung des Originals“26 zu einer übersetzungsgeschichtlichen Zäsur geführt. Die Inkommensurabilität der Sprachen und die Verschiedenheit der einzelnen literarischen Formensysteme traten ins Bewusstsein. Damit erhielt das Formproblem neue Virulenz. Denn erst dann, wenn sprachliche Form nicht mehr als äußerliches, vom Inhalt ablösbares decorum betrachtet wird, wenn an die Stelle der rhetorischen Sprachauffassung die Erkenntnis tritt, dass – in der Formulierung Friedrich Schleiermachers – „wesentlich und innerlich Gedanke und Ausdruck ganz dasselbe sind“27, wird die Ersetzung der ausgangssprachlichen Form durch eine zielsprachliche Form überhaupt problematisch. Archaisierende und historisierende Übersetzungssprachen waren eine mögliche Antwort auf diese Erfahrung; die Herodot-Übersetzung Friedrich Langes ist eines der frühesten Beispiele dafür. Lange zielte dabei offenbar auf das, was heute als „Wirkungsäquivalenz“ bezeichnet wird: aufgrund einer (konstruierten) historischen Affinität und einer angenommenen Wesensverwandtschaft wirke das Deutsch der Luther-Bibel auf die Leser der Übersetzung ähnlich, wie die Sprache Herodots auf seine griechischen Leser gewirkt habe. Allerdings kann man fragen, wie ein deutscher Leser des frühen 19. Jahrhunderts die Wirkung Herodots auf einen griechischen Leser des fünften vorchristlichen Jahrhunderts überhaupt nachvollziehen konnte. Tatsächlich beschäftigte sich die Übersetzungsdiskussion nach 1800 intensiv mit der Frage, wie – die Einheit von Gedanken und Ausdruck vorausgesetzt – äquivalente Wirkung überhaupt möglich sein kann.28 Bekannter als Langes deutscher Herodot sind heute die Übersetzungen griechischer Tragödien, die Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ein knappes Jahrhundert später veröffentlichte. Sie sind durch einen epigonal-historisierenden Formeneklektizismus gekennzeichnet, den Wilamowitz gerade durch die Ablösbarkeit des Inhalts von der Form begründete: „Das Kleid muß neu werden, sein Inhalt bleiben.“29 Mit einem Konglomerat aus wilhelminischem Bildungsidiom und Versatzstücken deutscher Klassiker glaubte Wilamowitz, in diesem Sinn Wirkungsäquivalenz erreichen zu können. Bei Lesern und auf dem Theater hatte er damit sehr großen (heute allerdings nur schwer nachvollziehbaren) Erfolg, bevor insbesondere aus dem GeorgeKreis Kritik laut wurde. Interessant ist, dass einer der heftigsten Wilamowitz-Geg_____________ 26 27 28
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Vgl. Poltermann (1987). Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 85. Das bekannteste Beispiel ist Friedrich Schleiermachers Akademierede. Dort heißt es an einer Stelle: „Wir können uns in einem gewissen Sinne denken, wie Tacitus würde geredet haben, wenn er ein Deutscher gewesen wäre, das heißt, genauer genommen, wie ein Deutscher reden würde, der unserer Sprache das wäre, was Tacitus der seinigen; und wohl dem, der es sich so lebendig denkt, daß er ihn wirklich kann reden lassen!“ An anderer Stelle jedoch erklärt Schleiermacher dieses Prinzip für letztlich nicht einlösbar: „Ja was will man einwenden, wenn ein Uebersetzer dem Leser sagt, Hier bringe ich dir das Buch, wie der Mann es würde geschrieben haben, wenn er es deutsch geschrieben hätte; und der Leser ihm antwortet, Ich bin dir ebenso verbunden, als ob du mir des Mannes Bild gebracht hättest, wie er aussehen würde, wenn seine Mutter ihn mit einem andern Vater erzeugt hätte?“ Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 84 resp. 89. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1913), 7.
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ner, Rudolf Borchardt, für seine eigenen Übersetzungen ebenfalls eine historisierende, wenn auch ganz anderen Prinzipien und Absichten verpflichtete Sprache prägte. Die Beispiele Lange und Wilamowitz führen unterschiedliche Möglichkeiten historisierender Übersetzungssprache vor Augen. Größere Wirksamkeit und Verbreitung als diese archaisierenden bzw. historisierenden Strategien fand indessen ein anderes Verfahren: die mimetische Nachformung von Sprache und Vers, die Johann Heinrich Voss für seine Homer-Übersetzung (1793) prägte. „Es ist Methode in seiner Undeutschheit“30, schrieb August Wilhelm Schlegel in seiner Rezension, und tatsächlich schuf Voss mit seiner Nachformung von Wort, Satz und Metrum eine radikal neue Übersetzersprache, der bei Solger, Schleiermacher und Humboldt bald auch eine Theoriediskussion folgte und die zum Paradigma klassizistischer Übersetzung „im Versmaß der Urschrift“ wurde. Eben diese klassizistische Übersetzungssprache war es, die seit dem Vormärz immer stärker auf Ablehnung stieß. Anstelle des „photographischen Abbilds“ sollte die absichtsvolle „Nostrifizierung“31 treten, wie Franz Dingelstedt es nannte, also die Überführung ausgangssprachlicher in zeitgenössische zielsprachliche Formen. Dass auch diese Übersetzungsstrategien durch Reflexion über die Konditionen des Übersetzens begleitet wurden (z. B. bei Ludwig Seeger oder Adolf Wilbrandt), wurde von der Forschung bisher vergleichsweise wenig zur Kenntnis genommen. Die konsequent auf Wirksamkeit ausgerichtete Übersetzungsästhetik zielte dabei auf eine auch national- und kulturpolitisch begründete Eingliederung fremder Autoren in die deutsche Literatur, wie besonders am Beispiel Shakespeare deutlich wird, und führte bisweilen bis zu Tendenzen, das Äquivalenzgebot zugunsten frei transformierender Adaption ganz aufzugeben: „Denn nur was wirkt, ist lebendig, und nur was lebendig ist, ist treu.“32 Die Frage nach der Möglichkeit formaler Äquivalenz in Übersetzungen stellt also eine Leitfrage moderner Übersetzungstheorie dar. Sie führt zu einer Reflexion über das Verhältnis der Formensysteme unterschiedlicher Sprachen und Literaturen zueinander und macht damit sowohl die je zugrunde liegende Auffassung von Antike als auch die Auffassung der eigenen Sprache und Literatur sichtbar. Katja Lubitz untersucht in ihrem Beitrag das für diesen Zusammenhang besonders markante Übersetzungskonzept Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs und seine eklektizistische Formensprache. Gesa Horstmanns Aufsatz – ein Exkurs zur Übersetzung nicht-antiker Literatur – stellt Friedrich Bodenstedts Übersetzung der Sonette Shakespeares vor, die als exemplarisch für das nostrifizierende Übersetzungsprinzip des Münchner Dichterkreises gelten kann und somit auch Rückschlüsse auf die von der Forschung bisher vernachlässigten Übersetzungen antiker Autoren aus diesem Kreis ermöglicht. _____________ 30 31 32
A. W. Schlegel, Allgemeine Literatur-Zeitung (1796), Sp. 506. Dingelstedt, Studien und Copien nach Shakespeare (1858), 5. Wilbrandt, Drei Tragödien des Sophokles mit Euripides’ Satyrspiel (1866), XVI.
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Übersetzen als schöpferischer Prozess Jeder Übersetzungsvorgang ist insofern als schöpferischer Prozess anzusehen, als durch ihn ein neues, singuläres, nicht reproduzierbares Sprachgebilde geschaffen wird, das sowohl die Zielsprache wie auch den Blick auf das Original beeinflusst. Jeder Übersetzer ist gefordert, nach individuellen Lösungen für die grundsätzliche Problematik der Irrationalität der Sprachen im Allgemeinen, der Inkommensurabilität von Sprachkunstwerken im Besonderen zu suchen. Dabei erscheinen die Möglichkeiten der übersetzerischen Realisierung zunächst nahezu unbegrenzt: Der Übersetzer kann die Normen der Zielsprache genau befolgen, an einigen Stellen von ihnen abweichen oder ihre Grenzen ausloten; er kann versuchen, die formalen und syntaktischen Strukturen des Ausgangstextes detailgetreu nachzubilden, sie durch andere Strukturen zu ersetzen oder den Inhalt rein paraphrasierend wiederzugeben; er kann sich auf eher konventionelle, bereits vorgeprägte Wort- und Formbestände der Zielsprache beschränken, spezifische Ausdrucksmittel oder Terminologien des Ausgangstextes sprachschöpferisch nachahmen oder eine eigenständige künstlerische Interpretation des Originals vorlegen. Die Übergänge zwischen den einzelnen Stufen sind dabei jeweils fließend. Das „Übersetzen als schöpferischer Prozess“ soll hier jedoch in erster Linie unter dem Aspekt einer intensiven dichterisch-kreativen Auseinandersetzung mit antiker Literatur verstanden werden, wie sie u. a. bei Friedrich Hölderlin oder Rudolf Borchardt sichtbar wird, deren eigenes dichterisches Schaffen nur in engster Wechselwirkung mit dem Übertragen antiker Dichtung gedacht werden kann. Beide Dichter verbindet im Besonderen, dass sie – der eine an der Wende zum 19., der andere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – die komplexen lyrischen Dichtungen Pindars zum Gegenstand ihrer übersetzerischen Auseinandersetzung mit der Antike gewählt haben. Anders als die übersetzenden Fachgelehrten wie Friedrich August Wolf, Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schleiermacher, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff oder Wolfgang Schadewaldt nähern sie sich den antiken Originalen nicht in erster Linie aus philologischem, sprachphilosophischem oder pädagogischem Interesse, sondern tragen vielmehr ihr eigenes dichterisches, künstlerisches, an der Muttersprache entwickeltes Stil-, Sprach- und Formenkonzept an das antike Werk und den antiken Autor heran, um gleichzeitig in der Begegnung mit dem Anderen ihre sprachlich-formalen Möglichkeiten zu erproben und zu erweitern. Ihr Ziel ist die umfassende sprachliche und künstlerische Durchdringung der eigenen Dichtersprache mit derjenigen des antiken Autors. Hier wird das Novalis-Diktum, der Übersetzer müsse „Dichter des Dichters seyn und ihn also nach seiner und des Dichters eigener Idee zugleich reden lassen können“33, im eigentlichsten Sinne verwirklicht. Die unterschiedlichen Realisierungen dieser Forderung, Hölderlins wörtliche, geradezu mechanische Nachkonstruktion der Pindarischen Oden oder Borchardts Programm der „schöpferischen Restauration“, das einerseits darauf zielt, antike und spätmittelalterliche Texte von den überlieferungsbedingten Spuren ihrer _____________ 33
Novalis, Blüthenstaub-Fragment Nr. 68 (1798), 439 f.
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Zerstörung zu heilen, und andererseits die wieder zum Vorschein gebrachten Formen in neue, unvorbelastete Ausdrucksformen des Deutschen zu überführen,34 weisen dabei durchaus Gemeinsamkeiten auf. Beide Dichter überschreiten in ihren Übersetzungen bewusst die gängigen Sprachnormen des Deutschen und verarbeiten die neugewonnenen Formelemente auch in ihrer eigenen muttersprachlichen Dichtung. Zugleich zerstören, hinterfragen, ergänzen und ersetzen sie bereits bestehende Rezeptionsgewohnheiten durch Einbringen neuer, subjektiver Sichtweisen auf Text und Autor. Die Subjektivität als Grundhaltung dichterischen Schaffens findet demnach ihr übersetzerisches Pendant in der besonderen Hervorhebung des eigenen dichterischen und künstlerischen Blickes auf das antike Werk. Der übersetzende Dichter nimmt in der Regel wenig Rücksicht auf die Erwartungshaltung eines potentiellen Leserkreises und schließt sich eher selten bereits etablierten normativen Übersetzungsrichtungen an („im Versmaß des Urtextes“, „im modernen Gewande“ u. ä.). Seine Übersetzung ist vielmehr Zeugnis der individuellen Aneignung und der produktiven Auseinandersetzung mit dem Original. Er sucht nach gültigen Übertragungsmodi, mit denen er die für ihn interessanten oder bedeutsamen Aspekte des Originals, die sich nicht auf Inhaltliches oder Sprachlich-Formales beschränken müssen, in seiner eigenen Dichter- und Formensprache darstellen kann. In diesem Sinne formuliert etwa Rudolf Borchardt seine Definition der „schöpferischen Übertragung“: Die schöpferische Übertragung gestaltet genau wie das schöpferische Gedicht ein Ausdruck forderndes Bild der Phantasie, und man kann, wie im gemeinsten Sinne nur, was man versteht, im höheren nur übersetzen, was man so zwingend sieht, dass der Eindruck nach allen Seiten in Gestalt ausbricht.35
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit das zugrunde liegende Original in einer Übertragung überhaupt noch als solches erkennbar bleibt bzw. wo die schöpferische Übersetzung aufhört und die freie Bearbeitung anfängt. Sehr deutlich wird dieses Problem am Beispiel der Alkestis-Übertragung Hugo von Hofmannsthals,36 die sich zwar im Hinblick auf Stoff, Personal und Szenenabfolge an die Tragödie des Euripides hält, aber durch Kürzungen, durch Aufgabe des Originalmetrums, durch eine nur partiell am originalen Wortlaut orientierte, größtenteils eher resümierende Wiedergabe der Sprechszenen sowie durch Verwendung einer ganz eigenen lyrischen Sprache eine völlig neue Akzentsetzung im Vergleich zum Ausgangstext erfährt. _____________ 34
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So „rekonstruiert“ Borchardt in der Auseinandersetzung mit der Sprache Dantes für seine Übertragung der Divina Comedia unter Rückgriff auf das „archaische Element“ der Mundart – insbesondere auf das Alemannische – eine spätmittelalterliche, vorlutherische deutsche Literatursprache, die in dieser Form niemals existiert hat. Vgl. dazu Borchardt, Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia (1930), 519 ff. Borchardt, Epilegomena zu Dante I: Einleitung in die Vita Nova (1923), 396. Hofmannsthal, Alkestis. Ein Trauerspiel nach Euripides (1909).
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Wie lassen sich solche individuell-poetischen Motivationen auch auf einer theoretischen Ebene erfassen und darstellen? Mit welchen Begrifflichkeiten operieren Übersetzer selbst, wenn sie sich oder ihren Lesern Rechenschaft über bestimmte – eher psychologisch, künstlerisch oder emotional denn rational begründbare – Übersetzungsentscheidungen ablegen? Eine systematische Untersuchung der Fragestellung, in welcher Art und Weise die scheinbar irrationalen Aspekte des Übersetzens zu verschiedenen Zeiten in konkreten Übersetzungskonzepten behandelt und berücksichtigt wurden, dürfte zur theoretischen Fundierung dieser Problematik aufschlussreich sein. Am Beispiel der Altionischen Götterlieder demonstriert Ernst A. Schmidt, wie Rudolf Borchardt sein Programm der „schöpferischen Restauration“ in seinen Übertragungen antiker Dichtung praktisch umgesetzt hat. Durch Detailbeobachtungen nähert sich Thomas Poiss den Pindar-Übertragungen von Friedrich Hölderlin und versucht Aufschluss darüber zu gewinnen, inwieweit Hölderlins spezifisches Übersetzungsverfahren den Blick auf das antike Original zu verändern und zu erneuern vermag. Nina Mindt untersucht Übersetzerreflexionen systematisch auf Aussagen zu subjektiven Kriterien wie Geschmack, Einfühlung und Inspiration, die bei der übersetzerischen Annäherung an poetische Kategorien eine wichtige Rolle spielen, für deren Beschreibung jedoch bislang noch keine ausreichende theoretische Grundlage existiert. Die Herausgeber
Primärliteratur Aristoteles, De interpretatione, hg. v. L. Minio-Paluello, Oxford 1988 (= Aristoteles, int.). Borchardt, Rudolf, Epilegomena zu Dante I: Einleitung in die Vita Nova (1923), in: GW Prosa II, 389–471. Borchardt, Rudolf, Pindarische Gedichte. Übersetzt von Rudolf Borchardt (1929/1930), in: GW Übertragungen, 97–147 (Übersetzung); Prosa II, 131–234 (Nachwort: Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Poesie). Borchardt, Rudolf, Epilegomena zu Dante II: Divina Comedia. Konrad Burdach zum siebzigsten Geburtstage (1930), in: GW Prosa II, 472–531. Borchardt, Rudolf, Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. v. Marie Luise Borchardt/Ernst Zinn, 2. unveränd. Auflage, Stuttgart 1998 (= GW). Dingelstedt, Franz, Studien und Copien nach Shakespeare, Pesth u. a. 1858.
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Goethe, Johann Wolfgang von, Zu brüderlichem Andenken Wielands (1813), in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), hg. v. Karl Richter/Herbert G. Göpfert, Bd. 9, hg. v. Christoph Siegrist, München 1987, 945–965. Hofmannsthal, Hugo von, Alkestis. Ein Trauerspiel nach Euripides (1909), in: Sämtliche Werke VII, Dramen 5, hg. v. Klaus E. Bohnenkamp/Mathias Mayer, Frankfurt a. M. 1997, 7–42. Isidori Hispaniensis episcopi etymologiarum sive originum libri XX, recogn. brevique adnotatione critica instruxit Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911 (= Isidor, et.). Lange, Friedrich, Die Geschichten des Herodotos übersetzt von Friedrich Lange, Bd. 1, Berlin 1811. Novalis, „Blüthenstaub“-Fragment Nr. 68 (1798), in: Schriften, Bd. 2: Das philosophische Werk I, hg. v. Richard Samuel/Hans-Joachim Mähl/Gerhard Schulz, rev. v. Richard Samuel/Hans-Joachim Mähl, Stuttgart/Berlin/Köln 31981, 439 f. Pudor, [Karl Heinrich?], „Ueber die Farbengebung des Alterthümlichen in Verdeutschung alter klassischer Prosa. (Veranlaßt durch Lange’s Uebersetzung des Herodot. Berlin 1812 bis 1813.)“, in: Die Musen (1814), 102–120 (Reprint: Nendeln 1971). Schlegel, August Wilhelm, Rez. zu Homers Werke, übersetzt von J. H. Voss, Altona 1793, in: Allgemeine Literatur-Zeitung (1796), Sp. 473–519. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, „Vorerinnerung“ (1804), in: Über die Philosophie Platons, hg. u. eingel. v. Peter M. Steiner, m. Beitr. v. Andreas Arndt u. Jörg Jantzen, Hamburg 1995. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, „Allgemeine Hermeneutik“ (1809/10), hg. v. Wolfgang Virmond, in: Internationaler Schleiermacher Kongreß Berlin 1984, Teilbd. 2, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin/New York 1985, 1269–1310. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“ (1813), in: Kritische Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 11 (Akademievorträge), hg. v. Martin Rössler unter Mitw. v. Lars Emersleben, Berlin 2002, 67–93. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, „Hermeneutik und Kritik“ (1838), in: Hermeneutik und Kritik, hg. v. Manfred Frank, Frankfurt 1977. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „Was ist übersetzen?“, in: Reden und Vorträge, 3. verm. Auflage, Berlin 1913, 1–29. Wilbrandt, Adolf, Drei Tragödien des Sophokles mit Euripides’ Satyrspiel. Mit Rücksicht auf die Bühne übertragen von Adolf Wilbrandt, Nördlingen 1866.
Sekundärliteratur Barth, Karl, Der Römerbrief (zweite Fassung) (1922), 15. Auflage, Zürich 1989. Frank, Armin Paul/Kittel, Harald, „Der Transferansatz in der Übersetzungsforschung“, in: Die literarische Übersetzung in Deutschland. Studien zu ihrer Kulturgeschichte in der Neuzeit, hg. v. Armin Paul Frank/Horst Turk, Berlin 2004, 3–67. Levý, Jiří, Die literarische Übersetzung. Theorie einer Kunstgattung, Frankfurt a. M. 1969. Nowak, Kurt, Schleiermacher. Leben, Werk und Wirkung, 2. Auflage, Göttingen 2002.
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Poltermann, Andreas, „Die Erfindung des Originals. Zur Geschichte der Übersetzungskonzeptionen in Deutschland im 18. Jahrhundert“, in: Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte, hg. v. Brigitte Schultze, Berlin 1987, 14–52. Strasburger, Hermann, „Nachwort“, in: Herodot, Geschichten, dt. von Friedrich Lange, hg. v. H. Strasburger, Frankfurt a. M./Hamburg 1961 (= Fischer Bibliothek der hundert Bücher).
Virtuose in der historischen Form. Philologie und Übersetzung bei Friedrich Schlegel Friedmar Apel (Bielefeld) „Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte, oder wünschte; vorzüglich sich selbst.“1 Friedrich Schlegels 151. Athenäumsfragment steht zwar im Kontext spöttischer Bemerkungen über eine Auslegungspraxis, die übersieht, wie häufig das Auslegen ein Einlegen des Erwünschten ist, zugleich aber basiert es auf einer kritischen Einsicht in den Zusammenhang von Erkenntnis und Interesse und auf einer Reflexion der Subjektivität, die ihre bestimmte Form aus einem historischen Zusammenhang ableitet. In Verbindung mit den Umrissen einer „Theorie der historischen Kritik“2, die das „wichtigste Stück“ von Schlegels 1797 skizzierter „Philosophie der Philologie“ hätte bilden und in Überbietung Winckelmanns und Herders den „unermeßlichen Unterschied“3 von Antike und Moderne charakterisierend herausarbeiten sollen, lässt sich das Fragment auch als grundsätzliche Infragestellung dessen lesen, was Verstehen der Texte der Antike bedeuten kann. In der Diskussion von Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum wurde die These einer kollektiven Autorschaft der homerischen Epen um 1795 als Infragestellung Homers als dichterisches Genie verstanden. Schlegel wollte ihr in dem Sinn nicht folgen; er räumte zwar ein, dass es bei der Entstehung des Textes den Eingriff ordnender Hände gegeben haben musste, die Epen seien aber aufgrund ihrer unverwechselbaren Charakteristik doch das Werk eines Mannes „von großen Fähigkeiten, Erfahrungen und nach Art seiner Zeit, von großen Kenntnißen.“4 Die Auseinandersetzung mit Wolf festigte sogar Schlegels Überzeugung der inneren Einheit der Epen: Wolfs Thesen nahm er daher zum Anlass, Fragmentierung und Ganzheit miteinander zu vermitteln. Folgenreich für Schlegels Konzeption der Philologie war auch Wolfs Einsicht in den grundsätzlichen Wandel der Natur des Gegenstands, der sich im Übergang von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit vollzogen haben musste. Wolf selbst zog daraus im Gegensatz zu Herders Programm einer poetischen Philologie den Schluss einer konsequenten funktionalen Trennung von Poesie und Philologie. Vorzüglicher Gegenstand der Philologie war nunmehr der Text selbst, in dem _____________ 1 2 3 4
KSA II, 189. KSA XVI, 35. KSA XVI, 35. KSA XXIII, 215.
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Friedmar Apel
aber trotz der Einsicht in dessen Disparatheit und in die Fragwürdigkeit der Überlieferung der griechische Geist erkannt werden konnte.5 Gerade der Geistbegriff aber sollte unter der zunehmenden Einsicht in die Historizität hermeneutische Unwägbarkeiten zutage fördern, vor allem eine grundsätzliche Problematisierung des Verstehens des Vergangenen, die Frage nach der Interpretationsbedürftigkeit nicht mehr nur der einzelnen (dunklen) Stelle, sondern der Werke insgesamt. In Friedrich Asts Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik von 1808 wird dann die Aufklärung über und die hermeneutische Reflexion auf den griechischen Geist zur Hauptaufgabe einer Philologie, die in der ästhetischen Erziehung des Menschen mit der Dichtung konkurrieren will. „Und dies eben ist das Ziel der philologischen Bildung, den Geist vom Zeitlichen, Zufälligen und Subjektiven zu reinigen, und ihm diejenige Ursprünglichkeit und Allseitigkeit zu ertheilen, die dem höheren und reinen Menschen nothwendig ist, die Humanität: auf daß er das Wahre, Gute und Schöne in allen, wenn auch noch so fremden, Formen und Darstellungen auffasse“.6 Bei Ast wird die Reproduktion zum Kriterium des Verstehens, das aber als Nachbildung zugleich in seiner Produktivität erscheint. Schon in Schlegels Notizen zeichnet sich bei allen Widersprüchen die konzeptionelle Alternative der Philologie als historisch-kritischer Textwissenschaft und als auf Vergegenwärtigung zielender Kunst des Verstehens ab, wie sie Friedrich Schleiermacher in der kritischen Auseinandersetzung mit Ast und Wolf ausarbeiten sollte. Ein paradox anmutender Effekt der Thesen Wolfs war, dass sie die Philologie in der Verpflichtung auf die Textkonstitution von der Frage nach der Intention des Autors entlastete, zugleich aber, und entgegen der postulierten wissenschaftlichen Distanz zum Poetischen, Schlegel die Idee nahelegte, den Philologen selbst als mit Einbildungskraft begabten Autor zu betrachten. Es könnte ja der Philologe gewesen sein, der den homerischen Fragmenten jene Einheit verliehen hatte, die auch Wolf zuletzt wieder darin erkennen wollte. In dem Fall aber müsste dem Philologen auch eine poetische Kompetenz zugeschrieben werden, mindestens aber „ein Auge, welches in einigen zerstreuten Teilen das Ganze zu erblicken vermag“7, also ein Sinn für jene innere Logik der Komposition, die Schlegel im Text der Epen sehen wollte. Radikaler gedacht konnte das zu der Einsicht führen, dass Überlieferung die Kontinuität und Einheit des Geistes, auf der sie zu basieren glaubt, überhaupt erst herstellt; das heißt auch, dass Überlieferung genuin produktiv ist, also nicht etwas, das mit einer wissenschaftlichen Methode aufgefunden wird. So bekommt die Philologie von _____________ 5 6 7
Zur Bedeutung von Wolfs Prolegomena für den hermeneutischen und poetologischen Diskurs der Goethezeit ausführlich: Buschmeier (2007). Ast (1808), 168 f. Vgl. KSA I, 527. Nicht zufällig erscheinen Herausgeber, Redaktoren, Sammler und Archivare in der Goethe-Zeit fortan immer häufiger als Erzähler wie als zentrale Figuren der Texte selbst, weil sie die Literatur als eine autonome Sphäre markieren, sie aber zugleich als ein in der Lebenswelt wirksames soziales Faktum erscheinen lassen. Das führt Matthias Buschmeier (2007) zufolge in den Wanderjahren zu einer grundlegenden Neubestimmung der modernen Gattung des Romans, die gleichwohl auf den Ursprung des antiken Epos und dessen philologische Redaktion zurückverweist. Epische Objektivität erscheint bei Goethe vor allem als Fiktion philologischer Authentizität.
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Schlegel die Aufgabe zugewiesen, sich ans schon Gebildete produktiv anzuschließen, und das gilt gleichermaßen für die Kunst.8 In Friedrich Schlegels Aufzeichnungen des Jahres 1797 lassen sich Ansätze zu einer ästhetischen Theorie und Praxis erkennen, die Philologie, Hermeneutik, Grammatik und Kritik mit der Bestimmung der spezifischen Seinsweise der modernen Poesie vermitteln sollen. Als praktischer und technischer Kunst und Wissenschaft zugleich soll der Philologie ein handelnder Anteil an einer in Freiheit werdenden Literatur der Moderne zugewiesen werden, in der die Antike in der Vermittlung eines Verstehens erscheint, das selbst wieder an die Zukunft, an ein Werdendes verwiesen wird. Dabei wollte Schlegel zuvörderst an Wolf anknüpfen, der ihm freilich noch entschieden zu wenig historisch dachte. Unter Schlegels radikalerer historischer Reflexion verändert sich die Funktion des Begriffs des Geistes grundlegend. Geist wird selbst zu einem Prinzip der Bewegung und Verjüngung, das eine für die Gegenwart produktive Entzifferung der überlieferten Buchstaben der Antike allererst ermöglicht; eine Idee, die ihren systematischen Ursprung in Kants Ästhetik zu haben scheint.9 So kann Schlegel in der Verbindung zwischen Goethes Wilhelm Meister und dem homerischen Epos eine prospektive Überwindung der absoluten Verschiedenheit von Antike und Moderne postulieren, die weder durch Nachahmung noch durch Wirkungsähnlichkeit begründet ist, sondern durch Historizität als Wirkungsund Erscheinungsform der Produktivität und der Differenz. Im gattungsgeschichtlichen Bezug auf Goethes Bildungsroman will Schlegel retrospektiv das Moderne im Antiken erkennen und progressiv das Antike im Gegenwärtigen und Kommenden. Diesen Wechselbezug versteht der Schlegel der Athenäumszeit zugleich als treibende Kraft eines dynamisch gefassten Bildungsbegriffs. Dem entspricht eine Theorie des zyklischen Lesens, die Schlegel nicht zufällig in der Würdigung des kritischen Vermittlers Lessing entwickelt. Sie ersetzt die gradlinig bedingende Beziehung zwischen überliefertem Text und lesendem Subjekt durch eine progressiv-regressive Struktur. „So lange wir noch an Bildung wachsen, besteht ja ein Teil, und gewiß nicht der unwesentlichste, unseres Fortschreitens eben darin, daß wir immer wieder zu den alten Gegenständen, die es wert sind, zurückkehren, und alles neue, was wir mehr sind oder mehr wissen, auf sie anwenden, die vorigen Gesichtspunkte und Resultate berichtigen, und uns neue Aussichten eröffnen.“10 Entsprechend entwirft Schlegel als Kernstück einer progressiven Philologie eine „Kritik, die nicht sowohl der Kommentar einer schon vorhandenen, vollendeten, verblühten, sondern vielmehr das Organon einer noch zu vollendenden, zu bildenden, ja anzufangenden Literatur wäre. Ein Organon der Literatur, also eine Kritik, die nicht bloß erklärend und erhaltend, sondern die selbst produzierend wäre.“11 So soll der Text des Philologen Subjekt und Objekt der Bildung werden. _____________ 8 9 10 11
KSA II, 290. Dazu Matthias Buschmeier, Vom Wirken des Geistes im Werk. Kant und das bewegte Kunstwerk, in: Buschmeier/Dembeck (2007), 165–183. KSA II, 100 f. KSA III, 82.
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Friedmar Apel
Das ist eine klare Absetzung von Wolfs Programm, die aber dennoch daran anschließt. Wolf scheint Schlegel erst die Augen für die „Historische Paradoxie des Alterthums“12 geöffnet zu haben, die bei Winckelmann und Herder nur ansatzweise zutage getreten war. Wenn die Werke an die empirischen Bedingungen ihrer Entstehung, an die sie tragende Gesellschaftsschicht und -struktur und an den jeweiligen Ausbildungsstand der Sprache gebunden sind, so kann ihr Sinn unter den Bedingungen der Gegenwart nicht oder jedenfalls nicht vollständig und nicht sicher erfasst werden. „Viele der Alten sind Fragmente geworden“,13 heißt es daher vieldeutig im 39. Athenäumsfragment, die Philologie selbst hat daran mitgewirkt. Der fragmentarische Charakter der Alten markiert aber zugleich die Anschlussmöglichkeiten für die Moderne. Die antiquarische Philologie wird damit obsolet. Die Bedeutung des klassischen Werks kann nur erfasst werden im Bewusstsein, dass der Sinn je ein anderer sein wird. Philologie setzt daher „Interesse für bedingtes Wissen“14 voraus, das heißt auch, die Vorläufigkeit der Erkenntnis ist nicht nur zu akzeptieren, sondern als Antrieb der Produktivität zu begreifen. So erscheint das überlieferte Werk nicht mehr in seiner Abgeschlossenheit, sondern je als Potential noch unrealisierter Möglichkeiten. In der Meister-Rezension hat Schlegel das im Hinblick auf die Aufgabe der Kritik auf den Punkt gebracht. An die Stelle der Explikation der Intention des Autors tritt die Entfaltung von Deutungsmöglichkeiten, weil jedes vortreffliche Werk „mehr weiß als es sagt, und mehr will als es weiß“15. So ist es fortan Ausweis des Klassischen, seiner Potenz und Anschlussfähigkeit, dass der Anspruch auf vollständiges Verstehen daran scheitert: „Eine klassische Schrift muß nie ganz verstanden werden können. Aber die welche gebildet sind und sich bilden, müssen immer mehr draus lernen wollen.“16 So gedacht wird das Klassische zum Gegenstand einer dynamisch gedachten Bildung, zugleich stellt es die Aufgabe der Philologie und das Interesse des Philologen auf Dauer: „Alle class.[ischen] Schriften werden nie ganz verstanden, müssen daher ewig wieder kritisiert und interpretirt werden.“17 Damit wird Gegenwärtigkeit noch der ältesten Texte zur entscheidenden Herausforderung philologischer Erkenntnis. Wenn es den definitiven Text, dessen Sinn verbindlich und eindeutig ermittelt werden kann, nicht mehr gibt, stellt sich das Problem der Übersetzung ganz neu. So sollte es sich alsbald als eine Art Gretchenfrage der konkurrierenden philologischen Modelle des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts erweisen. Für Herder war Übersetzung selbstverständliche Praxis einer poetischen Philologie und eines sinnlichen Lesers, der sich den Homer auf dem Marktplatz vorstellen kann. Für die textkritische Richtung war sie ein bloßes Hilfsmittel der Erläuterung, für Ast als bildende Reproduktion der Erweis der Kontinuität des Geistes, für Jacob Grimm schließlich grenzte _____________ 12 13 14 15 16 17
KSA XVI, 81. KSA II, 169. KSA XVI, 46. KSA II, 140. KSA II, 149. KSA XVI, 141.
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sie an Frevel an den Buchstaben einer geheiligten Überlieferung. Für die in die Gegenwart wirken wollende Philologie der Schlegels, der Dichter-Philologen Arnim und Brentano mit ihrem Wunderhorn wie auch für Goethe war Übersetzung vor allem Bereicherung der eigenen Sprache und Dichtung. Bei Friedrich Schleiermacher erscheint sie als Demonstration philologischer Kenner- wie Liebhaberschaft und als Mittel, das Klassische geltend zu machen. Bei August Boeckh schließlich wird Übersetzung als willkommenes, aber nicht notwendiges Mittel der Darlegung von Verständnis verstanden, die das Erkennen des Erkannten als Bildung des Gebildeten veranschaulicht und objektiviert. Noch für Boeckh aber wird der übersetzende Philologe zum Dichter, wenn er denn die Fähigkeiten mitbringt. In Schlegels Überlegungen von 1797 gehört das Übersetzen ganz zur Philologie. In dieser Hinsicht grenzt er sich in seinen Aufzeichnungen weniger von Wolf als von der englischen Philologie des 18. Jahrhunderts ab. Von einem „Sinn für die Poesie“ findet Schlegel bei James Harris oder Richard Bentley „auch nicht die schamhafteste Andeutung“18. Sie seien am Klassischen gar nicht interessiert, allenfalls an dessen Begriff. „Grundfalsch“ sei vor allem Harris’ sich auf Aristoteles berufende Bestimmung der Kritik in den Philological Inquiries von 1781, nach der sie als „a deep und philosophical Search into the primary Laws and Elements of good Writing“19 entstanden sei und vor allem der Ermittlung der Bedeutung und des Sinns des Texts zwecks Erforschung der Natur des Menschen diene. Eine bündige Definition des Übersetzens will Schlegel noch nicht formulieren, er weiß aber sicher, dass die von Harris ebenso grundfalsch ist wie sein Begriff der Kritik. „Translation is a Species of Explanation, which differs no otherwise from explanatory Comments, than that these attend to Parts, while Translation goes to the Whole.“20 Diese Definition beruht auf einem aristotelischen Begriff des vom Autor folgerichtig und in sich geschlossenen komponierten Werks, dessen Sinn die Übersetzung wiedergibt. Unter Schlegels Einsicht in die Historizität und in die Bildsamkeit jeder Sprache erscheint eine solche, zeitlos gültige Regeln rhetorischer Textverfertigung exponierende Konzeption gegenstandslos. Schlegels tastende Ansätze zu einer Neudefinition beinhalten daher immer das Moment der Veränderung, der Differenz. „Jede Uebersetzung ist Verpflanzung oder Verwandlung oder beides. […] Jede wahre Ueb[ersetzung] muß eine Verjüngung sein.“21 Das nimmt noch einmal auf die Klima- und Bodentheorie des 18. Jahrhunderts Bezug. Wenn Sinn und Ausdruck des als organisch gedachten griechischen Werks an seine Entstehungsbedingungen und den historischen Stand der in der Sprache angelegten Ausdrucksmöglichkeiten gebunden sind, so wird die Verpflanzung unter den nordischen Himmel notwendig zur Veränderung seiner Gestalt wie seines Sinns führen, ohne dass jedoch diese Verschiedenheit je gänzlich zu ermessen beziehungsweise vorauszusagen wäre. Zudem unterliegt auch die Übersetzung als _____________ 18 19 20 21
KSA II, 238. Harris (1781), 7. Harris (1781), 27. KSA XVIII, 204.
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Werk des Philologen dem Prozess der Veränderung, erscheint als Stadium eines Wachstums, als ein Werdendes der Sprache und der Literatur, modern gesprochen als je vorläufige Einschreibung in den Diskurs der eigenen Zeit. Mehr aber als dem poetischen Werk eignet der Übersetzung als einem Medium zweiter Ordnung eine solche Vorläufigkeit. Die vollkommene Übersetzung ist aufgrund vermehrter Randbedingungen noch offensichtlicher als das vollständige Verstehen ein unerreichbares Ideal: „Wer vollkommen ins Moderne | übersetzen will, muß desselben so mächtig seyn, daß er allenfalls alles Moderne machen könnte; zugleich aber die Antike so verstehen, daß ers nicht bloß nachmachen, sondern allenfalls wiederschaffen könnte.“22 Daher: „Eine Uebersetzung ist durchaus keine Nachbildung.“23 Schlegel fügt hinzu: „Ueber das Wörtchen Nach bei Uebersetzungen.“24 Das bezieht sich auf die im 18. Jahrhundert geläufige Angabe: nach dem Griechischen des X übersetzt von Y. Unter Schlegels historischem Blick beginnt das Wort zwischen Adverb und Präposition der Zeit zu schillern. So entdeckt er darin die doppelte, nämlich zeitliche und mediale Differenz, aus der die Unmöglichkeit des Abbilds folgt. Dem scheint eine Metapher zu widersprechen, die Schlegel in seinen Aufzeichnungen mehrmals variiert und auf die er augenscheinlich besonders stolz war, nämlich die der Übersetzung als Mimus. „Uebersetzungen sind [philologische] Mimen. Sehr fruchtbarer Gedanke!!“25 Oder auch: „Eine gute Uebersetzung aus den Alten ist also ein [philologischer] Mimus eines kritischen [Philologen].“26 Nun war es wohl Ende des 18. Jahrhunderts nicht leichter als heute, eine konkrete Bestimmung des Mimus zu benennen. Helmut Wiemken will in seiner Untersuchung des Wortgebrauchs den Kern einer Definition des griechischen Mimus lediglich „im improvisierten Spiel“27 sehen. Tatsächlich gebraucht auch Schlegel im Zusammenhang mit der Übersetzung den Begriff der Improvisation und umgibt die Kategorie des Mimus mit einer Reihe weiterer Metaphern, die darauf hindeuten, dass Schlegel Übersetzen als eine Darbietungspraxis, als spielerische, theatralische oder gar artistische Performanz vorstellen wollte. Überdies bezeichnet Schlegel die Übersetzung mehrfach als Epideixis, um das mit den anderen Bestimmungen des Performativen zu verknüpfen: „Improvisazion und Mimos sind die Merkmahle absoluter [epideixis].“28 Die Übersetzung ist so der Teil der philologischen Arbeit, mit welcher der Philologe an die Öffentlichkeit tritt und auf sie wirkt. In Schlegels Metaphern erscheint sie als philologische Artistik, als metasprachlicher Balanceakt einer Prunk- und Festrede, die immanent das klassische Werk preist, aber auch die Kunst des Philologen selbst _____________ 22 23 24 25 26 27 28
KSA XVI, 65. KSA XVI, 63. KSA XVI, 63. KSA XVI, 54. KSA XVI, 55. Wiemken (1972), 211. KSA XVI, 55.
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erscheinen lassen soll. „“29 Entsprechend ist der Text der Übersetzung subjektiv und objektiv zugleich und hat hinsichtlich der Bildung einen Nutzen für den Philologen selbst wie für die Bildung der Allgemeinheit und der Sprache. „Man soll übersetzen, um die moderne[n] Sprach[en] antik zu bilden, sich selbst das Klassische praktisch zuzueignen in Saft und Blut, und die größere Verbreitung desselben zu befördern.“30 Die Vollendung des Mimus erblickte Schlegel in Shakespeare, insofern als dieser bildend und aktualisierend an das antike Drama anschließt, ohne es regelgerecht nachzuahmen. Als praktisches Beispiel der romantischen Übersetzungskonzeption hatte Friedrich Schlegel naturgemäß die ersten Shakespeare-Übersetzungen seines Bruders vor Augen, deren Konzeption August Wilhelm Schlegel 1796 positiv im Aufsatz zu Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters und negativ in der Rezension von Voss’ Homerübersetzung dargelegt hatte. Seine formorientierte Übersetzungsmethode rechtfertigt Schlegel aus seinem dynamisierten Sprachbegriff, der These von der Bildsamkeit der Sprache, die für die Übersetzung die Forderung nach freiestem Gebrauch nach sich zieht und zugleich aus einer historischen Konstruktion, in der Goethes Roman in einer Kontinuität mit den homerischen Epen wie aber auch mit Shakespeare erscheint, indem er die Notwendigkeit einer poetischen Übersetzung darlegt. Goethes Protagonist erscheint in diesem Zusammenhang als Philologe und zugleich als Subjekt der Bildung. „Wilhelm hatte sich schon lange mit einer Übersetzung Hamlets abgegeben; er hatte sich dabei der geistvollen Wielandschen Arbeit bedient, durch die er überhaupt Shakespearn zuerst kennenlernte. Was in derselben ausgelassen war, fügte er hinzu, und so war er im Besitz eines vollständigen Exemplars in dem Augenblicke, da er mit Serlo über die Behandlung so ziemlich einig geworden war. Er fing nun an, nach seinem Plane auszuheben und einzuschieben, zu trennen und zu verbinden, zu verändern und oft wiederherzustellen; denn so zufrieden er auch mit seiner Idee war, so schien ihm doch bei der Ausführung immer, daß das Original nur verdorben werde.“31 Aus dem Widerspruch, der Wilhelm Meister beschäftigt, und dem Missverhältnis der im Roman gegebenen Textproben zu der Bedeutung, die Shakespeares Werk dort für die Bildung zugeschrieben wird, begründet August Wilhelm Schlegel die Notwendigkeit seines eigenen Projekts. Die scharfsinnigere Reflexion der Bedingungen der Möglichkeit des Übersetzens aber findet sich in der Voss-Rezension. August Wilhelm Schlegel geht darin von dem Postulat aus, dass „aller Inhalt eines Gedichts doch nur durch das Medium der Form erkannt wird“, und dies führt gerade bei der Rezeption der Antike zu grundsätzlichen Unwägbarkeiten sowohl, was die Immanenz des Werks wie, was den empirischen Kontext betrifft: „bei der doppelten Beziehung der Wörter nach außen, von denen wir gar keine sinnliche Anschauung haben, und die wir erst durch sie kennen lernen müßen, und nach innen auf einen Kreiß von Vorstellungen, auf eine Ansicht der Dinge, die von der unsrigen unendlich weit absteht, sind wir mannigfaltigsten _____________ 29 30 31
KSA XVI, 49. KSA XVI, 67. Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, V, 5; FA, I/9, 666.
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Täuschungen ausgesetzt.“32 Das betrifft insbesondere das Verhältnis von poetischer und allgemeiner Sprache, nach dem die philologische Kritik als Charakteristik in der Konzeption beider Schlegels zu fragen hat. Völlig im Dunklen liege, wie zu Homers Zeiten „die Sprache des gemeinen Lebens beschaffen gewesen; und aus dem Verhältniß des homerischen Ausdrucks zu dieser ließe sich doch allein seine poetische Höhe mit Sicherheit bestimmen“.33 Allein schon deshalb ist „alles poetische Uebersetzen, wo es nicht bloß auf den Sinn im Ganzen, sondern auf die feinsten Nebenbezüge ankommt, eine unvollkommene Annäherung.“34 An die Poesie als gebildete Objektivation des menschlichen Geistes kann in der Form reflektierter Bildsamkeit die Übersetzung anschließen, aber eben nicht im Geiste und mit den Mitteln des Altertums oder im Sinn der Autorenintention, sondern unter den gegenwärtigen Bedingungen der Wahrnehmung wie der Ausdrucksmöglichkeiten. „Bildsamkeit ohne eigenen Geist, was wäre sie anders als erklärte Nullität?“35 Nicht nur aber ist Übersetzen Entfaltung einer Potentialität von Sinn, auch die Beurteilung der Übersetzung verändert sich unter dem Einfluss von Zeitverhältnissen: „das bisher Geleistete giebt uns einen Maßstab für die Schätzung des Neuesten an die Hand“36 und umgekehrt. Schlegel demonstriert das im Kommentar zum Wiederabdruck der Rezension auch praktisch, wenn er die eigenen Urteile über Voss’ falschen Klassizismus gelinde revidiert. So stellen die Schlegels die Übersetzung wie ihre Kritik wie die Philologie selbst in einen nie abgeschlossenen Prozess der Bedeutungszuweisung. In Überbietung der Bestimmung der Übersetzung als unvollkommener Annäherung resümiert schließlich Friedrich Schlegel: „Jede Uebersetzung ist eine unbestimmte, unendliche Aufgabe.“37 Im Kontext des Sprach- und Geschichtsdenkens der Schlegels erscheint diese, oft als frühromantische Nebelkerze dargestellte Aussage als erkenntniskritisch und geschichtsphilosophisch gewonnene Vorausnahme von Willard van Orman Quines These der „indeterminacy of translation“38. Sie besagt in Kürze, dass Hypothesen über die Entsprechung von Bedeutungen sprachlicher Äußerungen nie vollständig bestimmt werden können, weil die Realisierung der Bedeutung in der konkreten Situation vom empirischen Kontext ebenso abhängt wie vom individuellen Erfahrungshorizont und nicht repräsentierbaren geistigen Fähigkeiten der beteiligten Subjekte. So kann Übersetzung definitiv nicht als Abbildung, als Umformung aber auch nur sehr allgemein gefasst werden. Für eine genauere Bestimmung fehlt je die Vergleichsbasis. Unbestimmbar ist die Übersetzung nach Quine auch im Sinne der Unvorhersehbarkeit, „just because translation proceeds little by little“39, weil nämlich _____________ 32 33 34 35 36 37 38 39
A.W. Schlegel, SW X, 120. A.W. Schlegel, SW X, 121. A.W. Schlegel, SW X, 150. A.W. Schlegel, SW X, 152. A.W. Schlegel, SW X, 192. KSA XVI, 60. Quine, Translation and Meaning, in: Quine (1960), 26 ff. Quine (1960), 79.
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die Arbeit an ihr als Prozess sich in wechselseitiger Abhängigkeit entwickelnder Bedeutungszuweisungen, als „conveying meanings severally“40 vor sich geht. Die Praxis der Übersetzung produziert und verändert also fortlaufend ihre eigenen Randbedingungen. Das gilt für jede einzelne Übersetzung wie auch für Übersetzungsparadigmen. Quine hat sich 1960 in seiner Abhandlung Word and Object gewundert, dass seine These gerade auf dem Gebiet der Interlinguistik nicht angenommen worden ist, „for it is just here that the semantic indeterminacy makes clear empirical sense“41. Er hätte aber nur kurz in das im gleichen Verlag erschienene Werk Automatic Language Translation seines Kollegen in Cambridge, Anthony Gervin Oettinger blicken müssen, um zu erkennen, dass seine These den auf Exaktheit, Prognose und geschlossene Regelsätze ausgerichteten Wissenschaftsanspruch der aufstrebenden Linguistik, besonders der Computerlinguistik massiv in Frage gestellt hätte. Diese Forschung war Oettinger zufolge damit beschäftigt, „Kriterien der Äquivalenz und Invarianz exakt zu definieren, eine fundierte theoretische Basis für eine Abbildung zwischen Ausgangsgebiet und Zielgebiet oder zwischen Teilen dieser Gebiete zu schaffen, sowie leistungsfähige und elegante automatische Verfahren zu entwickeln, durch welche die Abbilder des Ausgangsbereiches gefunden werden können.“42 Damit war das Problem der Übersetzung im Kern wieder auf den Stand der Frühaufklärung zurückgeführt. Vermutlich zum Amüsement Quines wurde das Forschungsprogramm 1966 von Yehoshua Bar-Hillel, dem führenden Kopf auf dem Gebiet, für gescheitert erklärt.43 Ähnlich wie im Falle Quines sind auch Friedrich Schlegels frühromantische Ansätze einer erkenntniskritischen Analyse der Aufgabe der Philologie und der Übersetzung, die er freilich in der Hinwendung zur eigentlichen Gretchenfrage, zur Erlangung höherer Gewissheit alsbald wieder aufgeben sollte, in der Praxis der Übersetzung wie der Philologie und ihrer Selbstreflexion kaum beachtet worden. In der Darstellung der Begriffs- und der Sachgeschichte im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft findet der heutige Student zu Friedrich Schlegel nur einen unzutreffenden Halbsatz, die einzige Literaturangabe besteht in Gottfried Hermanns Schrift Ueber Herrn Professor Böckhs Behandlung der Griechischen Inschriften von 1828. Die begriffs- und wissenschaftsgeschichtliche Betrachtung geht in der Tat selten hinter August Boeckh zurück, obwohl die Kritische Schlegel-Ausgabe, die sich sonst gelegentlich der unterlassenen Hilfeleistung in Tateinheit mit fahrlässiger Irreführung schuldig macht, ausführlich auf die von Josef Körner nachgewiesenen wörtlichen und inhaltlichen Anklänge von Boeckhs Methodenlehre an Schlegels Notizen zur Philologie eingeht.44 _____________ 40 41 42 43 44
Quine (1960), 79. Quine (1960), 79. Zit. nach der Übersetzung in: Störig (1973), 419. Bar-Hillel (1967), 210–217. KSA XVI, XVIII–XIX.
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So kommt auch Hans Ulrich Gumbrecht in seinem als Provokation der Literaturwissenschaft konzipierten Programm der Versöhnung von Philologie und ästhetischer Erfahrung ohne einen Hinweis auf Friedrich Schlegel aus. Die Beschwörung einer neuen „Macht der Philologie“ präsentiert Gumbrecht als „intellektuell herausforderndes Feuerwerk mit all seinen special effects“45. Ein solches aber hat Friedrich Schlegel schon 1797 zünden wollen. Gumbrecht hätte sich bei seiner Absicht, die Philologie wieder stärker in den Dienst der Bildung als Reflexion des Subjekts auf die Tradition und zugleich auf sich selbst zu stellen, in fast allen Punkten auf Schlegel berufen können. Und er hätte sein Programm um den Aspekt der Übersetzung als praktizierter Bildung ergänzen können. Ob das die Erfolgsaussichten seiner Vorschläge verbessert hätte, steht unter den gegenwärtigen Bedingungen der Bildungsplanung freilich höchstens in den Sternen.
Primärliteratur Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. v. Ernst Behler, München/Paderborn/Wien 1959 ff. [= KSA]. Schlegel, August Wilhelm, „Homers Werke von Joh. Heinr. Voß“, in: Sämtliche Werke, Bd. X, hg. v. Eduard Böcking, Leipzig 1846 [= A.W. Schlegel, SW].
Sekundärliteratur Ast, Friedrich, Grundlinien der Grammatik, Hermeneutik und Kritik, Landshut 1808. Buschmeier, Matthias, Poesie und Philologie in der Goethe-Zeit. Studien zum Verhältnis der Literatur mit ihrer Wissenschaft, Phil. Diss., Bielefeld 2007. Buschmeier, Matthias/Dembeck, Till (Hg.), Textbewegungen 1800/1900, Würzburg 2007. Harris, James, Philological Inquiries, London 1781. Wiemken, Helmut, Der griechische Mimus, Bremen 1972. Quine, Willard Van Orman, Word and Objekt, Cambridge 1960. Störig, Hans Joachim (Hg.), Das Problem des Übersetzens, Darmstadt 1973.
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Gumbrecht (2003), 20.
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Bar-Hillel, Yehoshua, „Die Zukunft der maschinellen Übersetzung, oder: Warum Maschinen das Übersetzen nicht erlernen“, in: Sprache im Technischen Zeitalter 23, 1967. Gumbrecht, Hans Ulrich, Die Macht der Philologie, Frankfurt am Main 2003. Wolf, Friedrich August, Prolegomena ad Homerum sive de operum Homericorum prisca et genuina forma variisque mutationibus et probabili ratione emendandi, Halle 1884.
„…daß ich nämlich sterben will, wenn der Platon vollendet ist“. Schleiermachers Übersetzung des Platon Jörg Jantzen (München) Am 12. November 1803 erschien in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung mit Datum vom 29. Juli Schleiermachers „Anzeige die Übersetzung des Platon betreffend“.1 Schleiermacher teilt hier mit, er werde die vor nunmehr drei Jahren von Friedrich Schlegel mit ihm – Schleiermacher – als (freilich namentlich nicht genanntem) „Gehülfen“ angekündigte Platon-Übersetzung nun allein durchführen, da „auf der einen Seite der Verleger, durch immer erneute Verzögerung nicht mit Unrecht ermüdet, sich zurückgezogen, auf der andern Seite auch Fr. Schlegel sich überzeugt [habe], er werde in den nächsten Jahren das Geschäft des Übersetzens nicht so eifrig und ausdauernd betreiben können, wie dem Fortgange des Unternehmens notwendig wäre. Solcherart von dem Verbündeten verlassen, vermag ich dennoch nicht, das Werk zu verlassen, sondern finde mich auf alle Weise gedrungen, es auch allein zu wagen“. Sicherlich will Schleiermacher die von ihm in das einmal gemeinsame Projekt investierte Arbeit nicht einfach verloren geben; das sind die Übersetzungen des Phaidros und des Protagoras (mit Einleitungen und Anmerkungen). Auch die Befürchtung, ein anderer könnte das Unternehmen einer Platon-Übersetzung an sich ziehen, mag eine Rolle spielen.2 Aber entscheidend ist doch die innere Verpflichtung: Platon zu übersetzen ist Schleiermacher zur Aufgabe seines Lebens geworden: Es ist also weder das Sterben überhaupt, noch die Reflexion über einen Verlust die Hauptsache dabei [d. i. beim Tod eines Menschen, J.], sondern das meiste ist wohl das Verhältniß, in welchem sich der Mensch bei seinem Tode zur Erreichung seiner Bestimmung befindet. Nach meiner ganzen Ansicht muß mich auch dieses am stärksten afficiren. Denkst Du Dir aber wohl daß mir dieses eine große Bestärkung gewesen ist in der Idee, die ich seit meinem Geburtstage auf’s neue lebhaft gefaßt habe, daß ich nemlich
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In: Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802 (1988), CIV–CVI; vgl. Arndt (1996). An Reimer, 12.8.1803, in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 357–359, 358: „Gut wäre es wol nicht zu lange zu säumen [d. i. mit der Ankündigung der Platon-Übersetzung im Verlag von Reimer, J.], denn wenn sich die Nachricht daß das gemeinschaftliche Unternehmen gescheitert ist verbreitet so könnte leicht irgend ein andrer den kecken Gedanken fassen die Stelle auszufüllen, welches doch unangenehm wäre.“ – Mit einem Schreiben vom 21.7.1803 an Schleiermacher hatte der Verleger Frommann seinen Rücktritt vom Schlegel/Schleiermacherschen Unternehmen der Platon-Übersetzung bekräftigt, in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 356 f.
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Jörg Jantzen sterben will, wenn der Platon vollendet ist? Denn dies ist eine übernommene Schuld, die ich erst abtragen muß.
So schreibt Schleiermacher am 7. Dezember 1803 an Henriette Herz.3 Schon zuvor begegnet die Assoziation des eigenen Sterbens mit der Arbeit am Platon: „Ich habe wieder eine neue Verpflichtung übernommen, den Platon allein auszuführen, mit dem mich Schlegel hat sitzen lassen, – in der besten Aussicht auf den Tod, ein Werk, das wenigstens zehn Jahre Leben erfordert. Aber ich denke, das ist Recht.“4 Das Unternehmen der Platon-Übersetzung hatte fünf Jahre vorher seinen Anfang genommen. 1798 äußerte Schlegel in den philosophischen Unterhaltungen mit Schleiermacher (so erinnert sich dieser) den Gedanken, „daß es notwendig wäre, in dem dermaligen Zustand der Philosophie den Platon recht geltend zu machen, und ihn deshalb vollständig zu übersetzen.“5 Gemeinsam sollte das Werk sein, und es sollte eine „Anordnung des Ganzen“ darstellen. Ach! es ist eine göttliche Idee! und ich glaube wohl, daß es Wenige so gut können werden, als wir, aber eher als in einigen Jahren wage ich doch nicht es zu unternehmen, und dann muß es so frei von jeder äußern Abhängigkeit unternommen werden, als je ein Werk ward, und Jahre, die darüber hingehen, müssen nichts geachtet werden.6
Aber dann schloß Schlegel im März 1800 plötzlich und von Schleiermacher ganz unerwartet mit dem Verleger Frommann einen Vertrag über die Übersetzung ab. Am 21. März kündigte er sie an: Ich habe mich entschlossen, eine genaue und vollständige Übersetzung der sämtlichen Werke des Platon herauszugeben, von welcher der erste Band zur Ostermesse 1801 im Verlage des Herrn Frommann erscheinen wird. Warum ich es überhaupt und besonders jetzt nach der Erfindung und Aufstellung der Wissenschaftslehre für nützlich, ja für notwendig halte, das Studium dieses großen Autors, mit welchem das der Philosophie am schicklichsten angefangen und am würdigsten beschlossen wird, allgemeiner zu verbreiten, werde ich in einer besonderen Abhandlung, welche das ganze Werk eröffnen soll, zu entwickeln suchen. Daß es auf dem Punkte der Ausbildung, welchem die deutsche Sprache sich jetzt zu nähern anfängt, möglich sei, diese schwere Aufgabe der Übersetzungskunst aufzulösen, wird am besten durch die Tat selbst gezeigt werden. Ich darf also nichts mehr sagen, als daß ich durch die Erklärung des Gedankenganges und Zusammenhanges nicht nur den Forderungen des Philologen und den Erwartungen des Philosophen Genüge zu leisten hoffe, sondern auch durch begleitende Anmerkungen für das Bedürfnis des Laien sorgen werde.7
Es war eine gewaltige Aufgabe, die Schlegel sich und Schleiermacher stellte. Eine genaue philologische und hermeneutische Arbeit war an jedem einzelnen Dialog zu _____________ 3 4 5
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In: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 1 (1861), 401. An Eleonore Grunow, 20.08.1803, in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 1 (1861), 349. Schleiermacher an August Boeckh, 18.6.1808, in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 13,2 (1970), 70 f.; der Brief antwortet auf Boeckhs bahnbrechende Rezension der Platon-Übersetzung (Kritik der Uebersetzung des Platon von Schleiermacher, 1808). An Henriette Herz, 29.4.1799, in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 1 (1861), 227. Ankündigung der Platon-Übersetzung im Intelligenzblatt der Allgemeinen Literaturzeitung, Nr. 43, 1800, Sp. 349 f., in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 13,2 (1970), 62 f.
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leisten, und damit zu verbinden war eine historisch-kritische, die Materialien überblickende Darstellung und eine chronologische und zugleich philosophisch-systematische Ordnung des corpus Platonicum als eines Ganzen und Zusammenhängenden. „Der Himmel möge uns helfen“, schreibt Schleiermacher einmal.8 Das Unternehmen scheiterte. Schlegel lieferte nicht die versprochenen Übersetzungen von Parmenides und Phaidon und vor allem auch nicht die allgemeine Einleitung, die Platon auf dem Stand der neueren, idealistischen Philosophie erschließen sollte. Ganz abgesehen von der unzureichenden, ja fehlenden Vorbereitung des Übersetzungsprojekts und auch abgesehen von den ,Schwierigkeiten‘ seines Lebens9 – es gelang Schlegel nicht, ein begriffliches Instrumentarium für das Platon-Verständnis zu entwickeln. Das Problem konkretisiert sich in der Frage nach der Ordnung und Reihenfolge der Dialoge und das heißt auch ihrer Authentizität. Noch in dem Brief vom Mai 1803, mit dem Schlegel sich aus der Übersetzung zurückzieht, skizziert er einmal mehr eine Ordnung der Dialoge.10 (2) „Daß eine Anordnung des Ganzen notwendig sei“, war bereits ganz am Anfang, 1798, gemeinsame Überzeugung von Schlegel und Schleiermacher. Aber sie schwankten „zwischen einer chronologischen und einer solchen, welche mehr darauf berechnet wäre, der gegenwärtigen Zeit den Platon am besten und schnellsten aufzuschließen.“11 Die „Einsicht“, daß Chronologie und Systematik sich decken müßten, kam Schleiermacher, wie er bemerkt, später; zunächst, in den allerersten Überlegungen, ging es darum, die chronologische Ordnung zu suchen und zu „besetzen“.12 Der Ausdruck ist wohl wörtlich zu nehmen; denn Platon chronologisch zu verstehen, ist neu. Ein erster Versuch dazu liegt zwar mit dem „System der platonischen Philosophie“ von W. G. Tennemann vor, aber die Chronologie bleibt hermeneutisch folgenlos.13 Tennemann bleibt weiter einer topisch-systematischen Darstellung und der Unterscheidung einer esoterischen und exoterischen Lehre verpflichtet. Schon früh steht für Schlegel und Schleiermacher gleichsam eine Grundanordnung fest. An den Anfang setzen sie Phaidros (der antiken Tradition folgend) und Protagoras, zu dem als theoretisches Gegenstück der Parmenides gezogen wird; dazu _____________ 8 9 10
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An Karl Gustav v. Brinckmann, 22.4.1800, in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 4 (1864), 65. Vgl. Dorothea Schlegel an Schleiermacher am 21.11.1802 und o. D. (Mai) 1802, in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 325 f., 343 f. An Schleiermacher am 05.05.1805, in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 343: „Phädrus, Parmenides, Protagoras, Phädon, / Theätet, Kratylus, Sophistes, Politikus, (Philosophus), / Philebus, Republik, Timäus, Kritias, das bleibt mein Glaube.“ Schleiermacher an August Boeckh, in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 13,2 (1970), 70 f. Schleiermacher an August Boeckh, in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 13,2 (1970), 71. Tennemann, System der Platonischen Philosophie (1792–1795); ders., Geschichte der Philosophie, Bd. 2 (1799), 2. Hauptst. 6. Abschn.; vgl. auch Tiedemann, Dialogorum Platonis Argumenta (1786). – Zu Anordnung und Chronologie siehe Zeller, Die Philosophie der Griechen (1856), 2. Teil, 1. Abt., 326 ff.; Erler, Platon (2007), 22 ff.
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kommt (mit Schleiermachers Bedenken) der Phaidon. Die Politeia markiert das Ende. So kommt es (fast von selbst, möchte man sagen) zur Unterscheidung von drei „Massen“, wie Schleiermacher sagt.14 Schlegel versucht in der Folgezeit, die anfangs noch ganz unbestimmte zweite Gruppe und dann die dritte Gruppe näher zu bestimmen. Hervorgehoben sei hier der lange Brief an Schleiermacher vom 8. Dezember 1800 mit einem „ganzen Complexus von Hypothesen“.15 Aber auch diese Notizensammlung, die Schlegel selbst charakterisierte als „der erste bedeutende und wichtige Schritt um das Verstehen des Plato möglich zu machen“,16 war in Schleiermachers Augen ganz unzureichend, dem Übersetzungsprojekt eine theoretische Grundlage zu geben; Schlegel gab keine argumentative Begründung für seine Anordnung.17 Verbindungs- bzw. Entwicklungslinien zwischen den Dialogen kommen ebensowenig in den Blick wie ein Ganzes des platonischen Werks. Auch die beiden kurzen Einleitungen zu Parmenides und Phaidon, die Schlegel vorab verfaßt hatte, blieben eigentümlich äußerlich und philosophisch hilflos.18 Schleiermacher mußte sich Platon selbst (und in gewisser Weise für sich selbst) aneignen, nachdem die Erwartung eines symphilosophein mit Schlegel sich nicht erfüllte.19 Im März 1801 lag seine Phaidros-Übersetzung vor, im Mai folgte die des Protagoras. Eine intensive und methodisch-kritische Platon-Lektüre bezeugen (seit 1801) die Notizen „Zum Platon“.20 Zum Gesprächspartner Schleiermachers wird Heindorf, _____________ 14 15 16
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Schleiermacher an August Boeckh, 18.6.1808, in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 13,2 (1970), 70– 75, 71. In: Schleiermacher, Briefwechsel 1800 (1994), 350–359. An Schleiermacher, 26.10.1801, in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 294–296, 295. Schlegel beklagt zugleich „die Kälte“, mit der der Freund die „Theorie der Anordnung“ aufgenommen habe; vgl. auch den Brief vom 14.8.1801, in dem Schlegel von einem „mehr als ein jährige[n] Studium zu dieser Arbeit“ spricht, Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 289. Schleiermacher an August Boeckh, in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 13,2 (1970), 72; vgl. auch Schlegels Kommentar an Schleiermacher in: Schleiermacher, Briefwechsel 1800 (1994), 354. In der Vorlesung „Philosophie des Plato“ von 1804/5 gibt Schlegel folgende Anordnung der – echten! – Dialoge: „Phädrus – Parmenides – Protagoras (im Fall er echt ist) – Gorgias – Kratylus (wenn er von Plato ist) – Theätetus – Sophista – Politikus – Phädon – Philebus – Republik – Fragment des Timäus – Fragment des Kritias.“ Schlegel, Die Entwicklung der Philosophie in zwölf Büchern (1804/85), 213. Die Einleitungen in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 13,2 (1970), 64–70; der Verleger Frommann hatte eine Kopie der Texte an Schleiermacher geschickt, 22.10.1802, in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 323 f. Vgl. den Brief an Boeckh, in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 13,2 (1970), 70–75, 71., 72 f.; Schleiermachers Brief an Schlegel vom 27.4.1801 macht die innere Entfremdung deutlich, in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 270–273. Zum Platon, in: Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802 (1988), 343–375; die intensive Arbeit an Platon wird im übrigen auch aus Schleiermachers Briefen an Schlegel deutlich. Zu vergleichen ist auch Schleiermachers Rezension von Friedrich Ast, De Platonis Phaedro (Jena 1801) in der Erlanger Litteraturzeitung Nr. 30, 12. April 1802, 233–240, wieder in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 4 (1864), 573–579. – In diesem sehr bedenkenswerten Text äußert Schleiermacher Zweifel an der Frühdatierung des Phaidros (wie übrigens auch im Briefwechsel mit Friedrich Schlegel).
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der gleichzeitig mit Schleiermachers Übersetzung an der Edition des Phaidros arbeitet.21 In den drei Jahren seit Schlegels Ankündigung im März 1800 eignet Schleiermacher sich die philologischen und philosophischen Voraussetzungen für das Übersetzungswerk an. In seiner „Anzeige, die Übersetzung des Platons betreffend“ spricht er von seiner „Überzeugung, daß gerade jetzt nähere Bekanntschaft mit dem Sinn und Geist jenes großen Weisen [d. i. Platon, J.] zu den ersten Bedürfnissen gehört und daß, um nicht mehr zu sagen, die Liebhaber wenigstens der Philosophie zum größten Teile nicht ausgerüstet sind, ihn in seiner eigenen Sprache zu vernehmen.“ Es ist an der Zeit, Platon neu übersetzt vorzulegen; Schleiermacher treibt das „Gefühl der Notwendigkeit“, zumal andere, welche vielleicht besser dazu versehen wären, sich diesem Geschäft nicht widmen wollen, wie es in der „Anzeige“ heißt. Zu dem Geschäft, wie Schleiermacher es versteht, gehört die Absicht, „die Worte des Platon mehr, als bisher geschehen, in ihrem Zusammenhange verständlich zu machen, dann auch die Verbindung möglichst zu erhalten und ins Licht zu setzen zwischen dem Zweck und Geist eines jeden und der Ausführung.“ Hier kündigt sich vorsichtig, aber deutlich genug ein neues und der Übersetzung eben nicht äußerliches Platon-Verständnis an: Es richtet den Blick auf das Werk als ein Ganzes, läßt die topische Auffassung Platons also hinter sich und bedeutet bzw. fordert die Aufregung des Lesers „zu eigenen und verbessernden Untersuchungen“. Die Auseinandersetzung mit der Übersetzung wird tendenziell zur Auseinandersetzung mit Platons Philosophie; man mag hier übrigens eine erste Andeutung der Dialog-Theorie erkennen (s. dazu unten). Und auch ein neues Verständnis des Werks der Übersetzung kündigt sich an: Erläuternde Aufsätze über Platon und seine Stellung im Gang der Philosophie sollen es begleiten, Anmerkungen sollen hinzukommen, und vor allem will Schleiermacher „die Leser mit dem Standpunkte des Übersetzers und den Grundsätzen seiner Arbeit bekanntmachen“; wo notwendig sollen gewagte Änderungen des Griechischen im deutschen Ausdruck angezeigt und legitimiert werden, und jedes Gespräch soll eine eigene Einleitung erhalten.22 _____________ 21
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Im Juli 1800 ist die Arbeit beendet, vgl. Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 195, 204; sie erschien 1802 zusammen mit Lysis, Charmides, Hippias maior; zur Zusammenarbeit Schleiermachers mit Heindorf vgl. u. a. den Brief an Schlegel vom 24.1.1801: „Ich lese jetzt alle Woche zwei Abende Platon mit Heindorf, wobei die pünktlichste Kritik sehr heilig getrieben wird.“ In: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 258. Ludwig Friedrich Heindorf, 1774–1816, Klass. Philologe, Prof. in Berlin (1810), Breslau (1811), Halle (1816); Hg.: Platonis Dialogi selecti (1802 ff.). Schleiermachers Anzeige in: Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 13,2 (1970), 63–64. Die Anzeige wurde gelegentlich als „undeutsch und unverständlich“ aufgefaßt (Schleiermacher an Reimer, 17.12.1803, in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 374. Zur Übernahme des Übersetzungsprojekts durch Reimer siehe den Briefwechsel in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 331 ff. – „Den Plato soll ich nun allein übersetzen“, schreibt Schleiermacher am 19.10.1803 an Brinckmann und fährt fort: „Nüchtern muß ich den Gedanken gar nicht denken, sonst könnte ich in Versuchung kommen mich für toll zu halten.“ In: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 4 (1863), 80. In der Ankündigung schreibt Schleiermacher: „[…] Ist meine Befugnis zu diesem Geschäft den mehrsten, welche dessen gute Ausführung wünschen, noch unbewährt, so
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(3) Pünktlich, wie angekündigt, erschien zur Ostermesse 1804 der erste Band (= 1. Theiles 1. Band) mit der umfangreichen „Einleitung“ zum Gesamtwerk (S. 1–52) und den Übersetzungen von Phädros, Lysis, Protagoras und Laches, jeweils mit Einleitungen und Anmerkungen; insgesamt 412 Seiten, außerdem eine kurze, römisch paginierte „Vorerinnerung“ (III–VI). 1805 kam der zweite Band (= 1. Theiles 2. Band) mit den Übersetzungen (dazu Einleitungen und Anmerkungen) von Charmides, Euthyphron und Parmenides, außerdem einem „Anhang“, der zweifelhafte Texte wiedergibt: Apologie, Kriton, Ion, die Schleiermacher als echt ansehen möchte, ferner Hippias minor, Minos und Alkibiades II; insgesamt 445 Seiten. Im selben Jahr erschien auch schon der dritte Band (= 2. Theiles 1. Band) mit den Übersetzungen (dazu Einleitungen und Anmerkungen) von Gorgias, Theaitetos, Menon und Euthydem; insgesamt 540 Seiten. Dann stockte die Arbeit ein wenig, den persönlichen, beruflichen und politischen Verhältnissen geschuldet; aber pünktlich, wie von Schleiermacher angekündigt, erschien zur Herbstmesse 1807 der vierte Band (= 2. Theiles 2. Band) mit den Übersetzungen (dazu Einleitungen und Anmerkungen) von Kratylos, Sophistes, Politikos und Symposium; insgesamt 518 Seiten. Der fünfte und (zunächst letzte) Band (= 2. Theiles 3. Band) kam dann allerdings erst 1809; er enthielt die Übersetzungen (mit Einleitungen und Anmerkungen) von Phädon und Philebos und wieder einen „Anhang“ mit zweifelhaften Texten: Theages, Die Nebenbuhler, Alkibiades I, Menexenos (den Schleiermacher als echt ansieht), Hippias major (der vielleicht echt ist, jedenfalls eher als der Hippias minor) und Kleitophon; insgesamt 543 Seiten. Unübersetzt blieben also Politeia, Kritias, Timaios, Nomoi und Epinomis. In der zweiten, teilweise überarbeiteten Auflage der ersten Bände, die sich von 1817 bis 1828 hinzieht, kommt dann, 1828, als zusätzlicher Band die Übersetzung der Politeia („Platons Staat“), die als 1. Band eines dritten Teils des Gesamtwerks geplant war. In der dem ersten Band 1804 vorangestellten „Einleitung“ zum Ganzen der Übersetzung entfaltet Schleiermacher die Grundlinien seiner Arbeit an Platon im Sinne „hermeneutisch-technischer Prolegomena“, ohne noch die platonische Philosophie als solche darstellen zu wollen.23 Er kritisiert zunächst grundsätzlich den Umgang mit Platon: „Denn in vielfacher Hinsicht hat wohl unter allen, die es von jeher gegeben, kein Philosoph ein solches Recht gehabt, jene nur zu allgemeine Klage anzustimmen über _____________
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mögen ihnen die Versicherungen zu einiger Bürgschaft dienen, dass Zwey bewährte und mir befreundete Männer, G. L. Spalding und L. F. Heindorf mir Rath und Unterstützung verheißen“. In: Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802 (1988), CV. – Zu Heindorf siehe oben; Georg Ludwig Spalding, 1762–1811, Prof. am Grauen Kloster zu Berlin. Vgl. Arndt, „Schleiermacher und Platon“ (1996), XX; zur Einleitung (in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 [1804], 3–52) vgl. Boeckh, Kritik der Uebersetzung des Platon von Schleiermacher (1808), 3 f.: „vor allem ragt die allgemeine Einleitung mit den einzelnen hervor: zu dieser Quelle lasset uns hingehen, ihr Philologen; verstehen wir das Ganze nicht, wozu frommt uns das Einzelne?“
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das falsch oder gar nicht verstanden werden, als eben der unsrige.“ Und daß solche Klage im Fall Platons weiter gilt, macht Schleiermacher mit einem Seitenblick auf Kant deutlich: Etwas „unreif“ ist jene Zufriedenheit, die „behauptet, wir könnten den Platon jetzt schon besser verstehen, als er sich selbst verstanden habe“; „belächeln kann [man], daß sie [d. i. jene Zufriedenheit, J.] den Platon, welcher auf das Bewußtsein des Nichtwissens einen solchen Werth legt, so unplatonisch suchen will.“24 Abgesehen von der unbegriffenen Form der platonischen Mitteilung wird das Verständnis Platons in zweierlei Hinsicht von der gängigen Auffassung von Philosophie behindert. Das ist zum einen die Meinung, Philosophie sei ein (gleichsam wie ein Gebäude geordnetes) Ganzes aus einzelnen Wissenschaften und Disziplinen, und zum anderen der („nicht minder beliebte“) Versuch, aus einer einzelnen, fragmentarisch abgesonderten Untersuchung dennoch das Ganze der Philosophie begreiflich zu machen, deren Ziel dann im Voraus bestimmt ist. Beide Auffassungen sind schon an sich fragwürdig, weil sie den philosophischen Gedanken nicht entwickeln; um Platon zu verstehen, sind sie gänzlich ungeeignet. Wer sich solcher Methodik bedient, „muß im Platon alles wunderlich und entweder leer oder geheimnisvoll finden“. Zweifach kommt es zu einem gravierenden Fehlurteil: Wer sich auf die Texte, d. h. die Dialoge stützt, findet nichts Ganzes, nichts Durchgehendes und Zusammenhängendes, sondern nur ein beziehungsloses Schwanken, Polemik und aufgegriffene Meinungen.25 Woher und warum dann die schon antik bezeugte Bewunderung Platons? Sie muß sich aus anderen Quellen als den Dialogen speisen, deren Form unnütz und bloß verwirrend scheint und die allenfalls „einzelne sogenannte schöne Stellen oder sittliche Sprüche und Grundsäze“ hergeben. Die Bewunderung Platons verweist (dies das andere Fehlurteil) auf eine geheime, esoterische Lehre Platons; einzelne Äußerungen Platons, vor allem aber eine weit verbreitete antike Tradition befestigen diesen „an sich ganz unbestimmten Gedanken“, der „sich indessen in die mannichfaltigsten Gestalten ausgebildet [hat], und bald mehr bald weniger hat man den Schriften des Platon von ihrem Inhalt entzogen, und dagegen seine wahre Weisheit in geheimen Lehren gesucht.“26 Schleiermachers Beschreibung ist durchaus treffend. Bis ins späte 18. Jahrhundert fehlt ein eigentliches, nicht bloß topisches Verständnis der Dialoge als Texte von Philosophie. Ausnahme ist in gewisser Weise der Timaios, ein philosophiae theoreticae compendium, wie noch Tiedemann sagt.27 _____________ 24 25
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Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 6 f.; vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), A 315. Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 9; vgl. Schleiermachers Bemerkung, daß diese Ansicht leicht durch die Tat widerlegt werden könne, „in sofern es gelingt, diese Werke [d. i. die Dialoge, J.] in einen Zusammenhang zu bringen, durch welchen auch jedes einzelne mit den darin enthaltenen Lehren verständlich wird.“ Einleitung zu Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 10. Schleiermacher, Einleitung zu Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 11 f. Tiedemann, Dialogorum Platonis Argumenta (1786), 302; nicht zufällig spielte der Timaios in der christlichen Schöpfungs- und Trinitätslehre eine besondere Rolle, vgl. Jantzen (1996), XLVII ff.;
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Für ein neues Verständnis Platons, das die Dialoge nicht nach Sentenzen durchsucht bzw. eine dogmatische Lehre jenseits der Dialoge konstruiert, hat Kant eine wesentliche Bedeutung. Dies gilt in einem engeren, aber folgenreichen Sinn zunächst für seine mit Blick auf Platon geführte Diskussion des Begriffs der Idee. Kant bemerkt, daß der platonische Begriff der Idee nicht den Sinnen entnommen ist und auch die Verstandesbegriffe „weit übersteigt, indem in der Erfahrung niemals etwas damit Kongruierendes angetroffen wird. Die Ideen sind bei ihm Urbilder der Dinge selbst, und nicht bloß Schlüssel zu möglichen Erfahrungen, wie die Kategorien. Nach seiner Meinung flossen sie aus der höchsten Vernunft aus, von da sie der menschlichen zu Teil geworden, die sich aber jetzt nicht mehr in ihrem ursprünglichen Zustande befindet“.28 Kant läßt sich eingestandenermaßen nicht auf eine „literarische Untersuchung“ ein und ist einem neuplatonischen Verständnis (mit J. Brucker) verpflichtet; aber seine Bemerkungen setzen Platon in den Kontext der Vernunftkritik und (transzendentalen) Erkenntnisbegründung. Derart ergibt sich ein neuer Verstehenshorizont gerade für die Dialoge. Und er ergibt sich mit Kant auch in Hinsicht einer praktischen Philosophie. Platon fand seine Ideen vorzüglich im praktischen, auf Freiheit beruhenden Handeln, das Vernunfterkenntnisse fordert. Wer die Tugendbegriffe aus der Erfahrung schöpfen wollte, würde „aus der Tugend ein nach Zeit und Umständen wandelbares, zu keiner Regel brauchbares zweideutiges Unding machen“.29 Für das mit Kant veränderte Platon-Verständnis steht vor allem Wilhelm Gottlieb Tennemann; er rekonstruiert das platonische Denken durch eine wesentlich Kantische Begrifflichkeit und Methode, die von der Grundannahme ausgeht, daß Platon ein philosophisches System besessen habe und daß dieses System – unbeschadet eines esoterischen Vortrags – Eingang in die exoterischen Schriften, die Dialoge, gefunden haben müsse. Die Aufgabe der Rekonstruktion besteht also darin, die „zerrütteten Theile in ihren Zusammenhang wieder zu bringen“, also ein „System der platonischen Philosophie“ aus der Verstreuung der Dialoge wiederherzustellen.30 Schleiermacher sieht seine Platon-Übersetzung als „nothwendiges Ergänzungsstück“ zu Tennemanns Werk. Tennemann zerlegt Platon, zwar „in einer die vorigen Versuche weit übertreffenden Vollkommenheit“, aber er löst die Einheit von Form und Inhalt auf und verkennt also, daß „jeder Satz nur an seinem Orte und in den _____________ 28 29 30
zur topischen Platon-Auffassung vgl. z. B. Büsching, Vergleichung der griechischen Philosophie mit der neuem (1785); Meiners, Grundriß der Geschichte der Weltweisheit (1786). Kritik der reinen Vernunft (1781), A 313 ff.; in dem Zusammenhang der bekannte Satz, man könne einen Verfasser „besser verstehen, als er sich selbst verstand“ (A 315). Kritik der reinen Vernunft (1781), A 314 f. Tennemann, System der platonischen Philosophie (1792–1795); Tennemann, Geschichte der Philosophie, Bd. 2 (1799), besonders 219 ff.; neben Tennemann sind vor allem auch Friedrich Plessing und Gottlob Ernst Schulze für die Aufnahme Kantischer Begrifflichkeit zu nennen, hinsichtlich der praktischen Philosophie ist Karl Morgenstern (De Platonis republica, 1794) wichtig; vgl. insgesamt Wundt, Die Wiederentdeckung Platons im 18. Jahrhundert (1941), 149–158; Heimsoeth, Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik und der Ausgang des Mittelalters (1965). – Die von Kant angestoßene Debatte über die Idee findet einen hochbedeutenden Eingang in die Interpretation von Timaios und Philebos, die der junge Schelling gibt (Schelling, „Timaeus“, 1794).
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Verbindungen und Begränzungen, wie ihn Platon aufgestellt hat, recht zu verstehen“ ist. Hier setzt Schleiermachers eigenes und neues Platon-Verständnis ein: Jedes Gespräch ist ein Ganzes von eigener Bedeutung, das gleichwohl selbst wieder im Zusammenhang eines Ganzen steht; und wie jedes Gespräch eine Entwicklung darstellt, so auch das Ganze der Gespräche. Im Erfassen der „eigenthümlichen Natur des Ganzen“ ist das Textverständnis begründet; die hermeneutische Aufgabe besteht wesentlich darin, „diese Werke [d. h. die Dialoge, J.] in einen Zusammenhang zu bringen, durch welches auch jedes einzelne mit den darin enthaltenen Lehren verständlich wird“.31 Schleiermacher überführt die Frage nach der Anordnung der Dialoge in eine durchaus neue Hermeneutik. Die grundlegende Einsicht in die Einheit und Unzertrennlichkeit von Form und Inhalt, von Teil und Ganzem, die Schleiermacher gelegentlich im Blick auf den Organismus verdeutlicht,32 muß sicherlich im Kontext des frühidealistischen Entwurfs von Philosophie verstanden werden, der Form und Inhalt in ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis setzt. Auch der Gedanke der Entwicklung gehört hierher. Der frühe Idealismus genetisiert den philosophischen Gedanken, er konzipiert Philosophie als Wiederholung einer Evolution eines Ursprungsaktes, als Geschichte des Selbstbewußtseins.33 Die Einsicht in die Einheit von Form und Inhalt des platonischen Textes läßt Platon nun auch als Künstler erscheinen bzw. fordert, ihn als „philosophischen Künstler“ zu begreifen.34 Auch hier könnte man auf den zeitgenössischen Kontext verweisen, aber in unserem Zusammenhang ist vor allem wichtig: Mit der Auffassung des platonischen Textes als Kunstwerk gewinnt seine Form neue bzw. überhaupt erst Bedeutung. Der Dialog ist eben die Kunstform, die dem Text seinen eigenen, autonomen Rang als Ausdruck und Darstellung von Philosophie gibt. Schleiermacher versteht die Dialogform im Ausgang von der bekannten Schriftkritik im „Phaidros“ (275c ff.). Die schriftliche Mitteilung der Ideen lässt immer ungewiß, „ob auch die Seele des Lesers sie [d. i. die Ideen, J.] selbstthätig nachgebildet und sich also in Wahrheit angeeignet habe“; im mündlichen Gespräch, der „gegenwärtigen _____________ 31
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Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 16 f., 10 f. – Wolfgang Virmond hat auf den Gegensatz zur „Stellenhermeneutik“ (Szondi) der Aufklärung aufmerksam gemacht: „es ist eine Seite der ,hermeneutischen Wende‘ um 1800, daß nunmehr das Einzelne als Teil des Ganzen interpretiert wird. Charakteristisch ist etwa ein Satz des Altphilologen Friedrich Ast aus dem Jahre 1808: ,Das Grundgesetz alles Verstehens und Erkennens ist, aus dem Einzelnen den Geist des Ganzen zu finden, und durch das Ganze das Einzelne zu begreifen […], weil beide sich gegenseitig bedingen.“ (Virmond, „Der fiktive Autor. Schleiermachers technische Interpretation der Platonischen Dialoge (1804) als Vorstufe seiner Hallenser Hermenutik (1805)“; Ast, Grundlinien der Grammatik (1808), 164). Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 16; siehe Phaidros 264c, wo die lebendige Rede mit einem Körper von Kopf bis Fuß, mit Mitte und Enden verglichen wird. Vgl. Schelling, System des transzendentalen Idealismus (1800), 50 und 89 ff. – In dem Zusammenhang ist auch hinzuweisen auf die nachkantische Thematisierung der Geschichte der Philosophie, grundlegend bei Reinhold, Ueber den Begriff der Geschichte der Philosophie (1791), 1 ff. Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 6, 17.
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und lebendigen Wechselwirkung“ zwischen Lehrendem und Lernenden dagegen ist jederzeit deutlich, was dieser begriffen hat. Die sokratische Methode ist alles andere als äußerlich, sie gehört der Philosophie selbst (die Dialogform ist also in keiner Weise „unnütze und verwirrende Einkleidung“). Da Platon gleichwohl schrieb, „so ist offenbar, er muß gesucht haben, auch die schriftliche Belehrung jener besseren so ähnlich zu machen als möglich, und es muß ihm damit auch gelungen sein.“35 Schrift bedeutet für Platon Erinnerung (Phaidros, 275d, 276d); philosophisch heißt das Erinnerung an die Ideen, genauer: „an die erste und ursprüngliche Art des Erwerbes. Daher schon um deswillen die dialogische Form, als nothwendig zur Nachahmung jenes ursprünglichen gegenseitigen Mittheilens, auch seinen Schriften eben so unentbehrlich und natürlich ist, als seinem mündlichen Unterrichte.“ Indem der platonische Dialog das Gespräch nachahmt und wiederholt, verwickelt er nun auch den Leser von Anfang an in die Untersuchung, um ihn zur eigenen inneren Erzeugung der „beabsichtigten Idee“ (2. Aufl.: „des beabsichtigten Gedankens“!) zu führen oder zum Eingeständnis des Nichtwissens, der Aporie, zu zwingen, um von hier aus den Leser zum selbsttätigen Denken zu bringen.36 Die literarischen Formen, derer Platon sich im einzelnen bedient, differieren; wesentlich ist, daß das Ende „nicht geradezu ausgesprochen und wörtlich niedergelegt wird“. Die Selbsttätigkeit kann nicht übersprungen werden. Ihr Begriff weist wie die Auffassung des philosophischen Textes als Kunstwerk auf eine neue Auffassung von Philosophie hin. Ermöglicht ist sie von der kantischen Kritik; erst mit ihr lassen sich die Dialoge als genuin philosophische Texte lesen, die dem Diktum entsprechen, daß man nicht Philosophie, sondern nur philosophieren lernen kann.37 Die Auffassung der Dialoge als gemeinschaftliche Untersuchung und Anleitung zum selbsttätigen Denken impliziert indessen ein Fortschreiten des Denkens, und zwar im einzelnen Dialog wie im Ganzen: „von der ersten Aufregung der ursprünglichen und leitenden Ideen bis zu einer wenn auch nicht vollendeten Darstellung der besonderen Wissenschaften“. Es muß, kurz gesagt, „eine natürliche Folge und eine nothwendige Beziehung dieser Gespräche auf einander geben.“38 Spätestens hier tut sich ein durchaus systematischer philosophischer Bruch zwischen Schleiermacher und Schlegel auf. Dieser versteht die Dialogform ganz ähnlich _____________ 35 36
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Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 17 f., 19. Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 19 f.; vgl. ebd. 21: „Und so wäre dieses die einzige Bedeutung, in welcher man hier von einem Esoterischen und Exoterischen reden könnte, so nämlich, dass dieses nur eine Beschaffenheit des Lesers anzeigte, je nachdem er sich zu einem wahren Hörer des Inneren erhebt oder nicht; oder soll er doch auf den Platon selbst bezogen werden, so kann man nur sagen, das unmittelbare Lehren sei allein sein esoterisches Handeln gewesen, das Schreiben aber nur sein exoterisches.“ Kant, Kritik der reinen Vernunft (1781), 838; zum Begriff der Selbsttätigkeit im Kontext von Philosophie vgl. z. B. Schelling, Allgemeine Übersicht der neuesten philosophischen Literatur (1797/8), 144 f. Schleiermacher erwähnt den philosophischen bzw. idealistischen Kontext nicht. Siehe auch A. W. Schlegel: „Selbstthätigkeit ist noch wesentlich von Willkür unterschieden. Eine Wirksamkeit kann nach der gegebenen Anregung nothwendig und doch unser eigen seyn.“ Die Gemählde. Gespräch (1799), 18. Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 21.
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wie Schleiermacher, wenn er (mit einer schönen Formulierung) von den Dialogen als „Darstellungen des gemeinschaftlichen Selbstdenkens“, von einem „innerlichen Mitdenken und Nachdenken“ spricht. Aber für ihn liegt darin die Absage an ein systematisches Denken („ein philosophisches Gespräch kann nicht systematisch sein“). Platon besaß nur eine Philosophie, ein Streben und Suchen nach Wissenschaft, aber hatte kein System. „Er ist nie mit seinem Denken fertig geworden.“ Schlegel sieht in Platon eine sozusagen prinzipielle Offenheit, deren Grund in einer „relativen Undarstellbarkeit des Höchsten“ ebenso wie in einem nicht zu vermittelnden Gegensatz der Welt der Ideen und der sinnlichen Welt der Erscheinungen liegt. Philosophie bleibt so in gewisser Hinsicht negativ bestimmt, als Ironie und Schweben und Erinnerung eines Unendlichen. Es liegt auf der Hand, daß von hier aus – trotz der Annahme eines „bestimmten, planmäßigen Fortschreitens seiner philosophischen Untersuchungen“ – sich Kriterien für eine Anordnung der Dialoge in chronologisch und systematischer Hinsicht nur schwer angeben lassen.39 Für Schleiermacher ist das Problem der Anordnung von größter Bedeutung. Wie Schlegel schließt er eine esoterische Lehre jenseits der Dialoge aus; allein sie stellen das platonische Philosophieren dar (s. o.). Aber anders als Schlegel, der mit der Esoterik auch überhaupt eine positive Lehre leugnet und in den Dialogen nur eine bloß negative Dialektik erkennt, muß Schleiermacher in ihnen ein systematisches Fortschreiten des platonischen Denkens rekonstruieren, wenn denn die leitende These eines Ganzen und in sich Zusammenhängenden in der Tat gültig sein soll.40 Diese natürliche Folge nun wieder herzustellen, dies ist, wie Jeder sieht, eine Absicht, welche sich sehr weit entfernt von allen bisherigen Versuchen zur Anordnung der Platonischen Werke, als welche theils nur auf leere Spielereien hinauslaufen, theils ausgehn auf eine systematische Sonderung und Zusammenstellung nach den hergebrachten Eintheilungen der Philosophie, theils auch nur hie und da einen Ansaz nehmen, und nichts Ganzes im Auge haben.41
Hier ist das Herzstück von Schleiermachers Bemühung um Platon ausgesprochen: Es geht ihm um die Herstellung der „natürlichen Folge“ der Dialoge als einer systematischen Entwicklung von ursprünglicher Fraglichkeit des Wissens hin zu einer Fundierung und Darstellung von Wissen. _____________ 39
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Die Zitate aus F. Schlegel, Charakteristik des Plato (1803/4), 118–125, und F. Schlegel, Philosophie des Plato (1804/5), 207–226. Auf die Äußerlichkeit von Schlegels Bemühungen um die Anordnung der Dialoge hatte Schleiermacher schon früh, im Anschluß an Schlegels „Complexus von Hypothesen“ im Brief an Schleiermacher vom 8.12.1800 hingewiesen (siehe oben). Schlegels letzte Anordnung in: Philosophie des Plato (1804/5), 213. – Auch Schlegel verwirft die Annahme einer esoterischen Lehre; Platons eigentliche Philosophie besitzen wir in seinen Schriften, „daß aber die Dialoge nichts absolut Vollendetes liefern, liegt in der Natur der Sache, da Plato als durchaus progressiver Denker entweder mit seiner Philosophie, oder mit ihrer Darstellung nicht fertig geworden ist.“ (Philosophie des Plato (1804/5), 212). Vgl. Schleiermachers Briefe an Schlegel, Januar 1801 bis April 1801, in: Dilthey (Hg.), Aus Schleiermachers Leben, Bd. 3 (1861), 251–273. Vgl. Theo Kobusch (1997), 220: „[Schleiermacher] hat einen positiven Wissensbegriff. Nach seiner Platon-Interpretation ist die Dialektik Ausdruck eines alles tragenden positiven Wissens“. Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 22.
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Ein erster und unumgänglicher Schritt dabei ist die Unterscheidung der echten von den Platon bloß zugeschriebenen Schriften. Schleiermacher geht hier vom aristotelischen Zeugnis aus, um einen „festen Punkt“ zu gewinnen, „von welchem aus beide Bemühungen, die Aechtheit der übrigen zu entscheiden, und die Stelle welche jedem gebührt auszumitteln, fortgehn können“.42 In dreierlei Hinsicht ist zu prüfen, ob die übrigen Schriften mit den echten verwandt, also ebenfalls echt sind: „die Eigentümlichkeit der Sprache, ein gewisses gemeinschaftliches Gebiet des Inhalts, und die besondere Gestalt, in welcher Platon ihn auszubilden pflegt“.43 Das wichtigste Kriterium, in dem sich in gewisser Weise die beiden anderen vereinigen, ist das dritte: die Gestalt bzw. Form. Denn sie drückt ja unmittelbar Platons Methode aus, im Dialog „die Seele des Lesers zur eignen Ideenerzeugung zu nötigen“.44 Die „Nötigung“ bedeutet eine erste Gruppe von Dialogen. In ihnen wird die Philosophie als Dialektik, als Technik des Philosophierens grundgelegt; sie bringt die Ideen als eigentlichen Gegenstand zur Sprache, handelt von der Möglichkeit und den Bedingungen des Wissens. Phaidros, Protagoras und Parmenides bilden gleichsam den Kern dieser Gruppe. Von ihnen deutlich unterschieden sind jene Dialoge, die „eine objektive wissenschaftliche Darstellung enthalten“, in denen das Wissen also zum Ziel gekommen ist. Schleiermacher spricht auch von der „auf den Menschen selbst und die Natur“ angewendeten „Idee der Wissenschaft“. Staat, Timaios und Kritias konstituieren diese Gruppe. Zwischen ihr und der ersten, „elementarischen“ Gruppe stehen jene Dialoge, die die Erklärung des Wissens gleichsam vertiefen und sich einer konstruktiven Darstellung nähern; sie vermitteln die Ideen in Ethik und Physik, konstruieren ihre Anwendbarkeit. Theaitetos, Sophistes, dann Phaidon, Philebos bilden hier den Kern.45 Auf die nähere Ausführung, d. h. vor allem die Zuordnung der „Nebenwerke“, ist hier nicht weiter einzugehen (sie erschließt sich ebenso wie die Unterscheidung der echten von den unechten Dialogen aus den oben gegebenen Bandbeschreibungen). Wesentlich ist die Dreigliederung. Schleiermacher hat sie formelhaft schon früh festgehalten: Man kann am Ende Alles im Plato auf drei Trilogien bringen Phaedrus – Protagoras – Parmenides Theaetet – Sophist – Philosoph
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Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 35, vgl. 42. Die anerkannt echten Dialoge: Phaidros, Protagoras, Parmenides, Theaitetos, Sophist, Politikos, Phaidon, Philebos, Staat, Timaios, Kritias. Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 36. Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 41. Einleitung, in: Schleiermacher, Platons Werke, Bd. 1,1 (1804), 44–52. Gegenüber den Schlegelschen Versuchen ist Schleiermachers Systematik bedeutsam: Sie erkennt im Gang der Dialoge die Dialektik als Hinführung und als Ermöglichung von positiver Wissenschaft, d. h. von Physik und Ethik; vgl. dazu auch Schleiermacher, Geschichte der Philosophie (1819/32), 7–20.
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Respublica – Timaeus – Critias Das Uebrige sind Ausflüsse.46
Das trinitarische Schema erschließt die platonischen Dialoge als ein System, d. h. als Folge und inneres Verhältnis von (1) elementarischen, (2) indirekt untersuchenden und (3) objektiv darstellenden bzw. konstruktiven Gesprächen.47 (4) Schleiermachers Übersetzungswerk ist in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen. Die Ordnung der platonischen Dialoge nach einem inneren, künstlerisch-literarisch wie philosophisch erschlossenen Zusammenhang, der Nachweis einer systematischen Entwicklung von der ursprünglichen Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit wahrer Wissenschaft und moralischer Praxis, restituiert den platonischen Text als einen philosophischen, der – mit Boeckh zu sprechen – die „Zuflucht zu der Unterscheidung einer esoterischen und exoterischen Lehre“ hinfällig macht. „Noch Niemand hat den Platon so vollständig selbst verstanden und Andere verstehen gelehrt, wie dieser Mann“, schreibt Boeckh in seiner großen Rezension von 1808: „Danken wir ihm, dass er das Verständnis gelöst hat, welches zwei Jahrtausende so nicht lösen konnten“; Schleiermacher gibt dem neueren Leser, etwas weniger emphatisch gesagt, „den Schlüssel zum Platon“.48 Boeckhs Urteil, daß mit Schleiermachers Übersetzungswerk das Verstehen Platons möglich gemacht worden sei, ist in der Folge immer wieder aufgenommen und erneuert worden – genannt seien Bekker, Zeller, Dilthey.49 Kritik andererseits äußerte sich zweifach. Sie ließ zum einen zwar Schleiermachers Restitution des pla_____________ 46
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Zum Platon, in: Schleiermacher, Schriften aus der Berliner Zeit 1800–1802 (1988), 373; den „Philosophen“ sieht Schleiermacher in Symposium und Phaidon dargestellt, vgl. Einleitung zum Symposium, in: Schleiermacher, Platons Werke, 2. Teil, Bd. 2 (1804), 357 f., Einleitung zum Phaidon, in: Schleiermacher, Platons Werke, 2. Teil, Bd. 3 (1809), 289 ff. Zeller, Die Philosophie der Griechen (1856), 2. Teil, 1. Abt., 328 ff. – Schleiermachers Einleitungen dienen nicht zuletzt der Legitimation der Anordnung der Dialoge. In den an den Anfang gesetzten Dialogen Phaidros, Protagoras und Parmenides sieht Schleiermacher die systematische Differenzierung nach Logik, Ethik und Physik angelegt, vgl. Einleitung zum Parmenides, in: Schleiermacher, Platons Werke, 1. Teil, Bd. 1 (1804), 88 ff. Zu den Anordnungen der Dialoge im Anschluß an Schleiermacher siehe Zeller, Die Philosophie der Griechen (1856), 2. Teil, 1. Abt., 328 ff.; ferner Ueberweg, Untersuchungen über die Echtheit und Zeitfolge Platonischer Schriften und über die Hauptmomente aus Plato’s Leben (1861). – In diesem Zusammenhang bedeutsam ist die Versetzung des Phaidros in eine spätere Periode durch Socher und vor allem Stallbaum (Hg., Platonis Opera omnia, Bd. 4, 1 [Phaedrus], 1832). Boeckh, Kritik der Uebersetzung des Platon von Schleiermacher (1808), 3 f. Immanuel Bekker widmet den ersten Band seiner Platon-Edition (die im übrigen der Schleiermacherschen Anordnung folgt) „Friderico Schleiermachero – Platonis Restitutori“ (Platonis Dialogi, 1816 ff., Kommentarbde. 1823); Zeller, Die Philosophie der Griechen (1856), 2. Teil, 1. Abt., 328 ff.; Jaeger (1960), 129, zu Schleiermachers Platon-Übersetzung: „Dieses Werk bedeutete eine vollkommene Renaissance des größten griechischen Philosophen, an dessen geistigem Besitz es zum ersten Male dem ganzen Volke Anteil gab“; Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. 13,1 (1970) 37: „Durch ihn [d. i. Schleiermachers Platon, J.] wurde erst die Erkenntnis der griechischen Philosophie möglich. Denn deren Mittelpunkt bildet Platon; dieser ist aber erst durch die Einsicht in die innere Form seiner Dialoge und ihren Zusammenhang untereinander zum Wiederverständnis gebracht worden.“
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tonischen Textes als solchen unangetastet, spielte aber eine chronologische Ordnung gegen Schleiermachers Systematik aus, die ja ein Früher und Später ebenfalls beanspruchen mußte. G. Stallbaums Versetzung des Phaidros in Platons späte Zeit ist hier zu nennen, dann der streng entwicklungsgeschichtliche Ansatz K. F. Hermanns, der die Datierung der einzelnen Dialoge vordringlich machte; die Sprachstatistik nahm den Faden auf, um die dialektischen Dialoge als Spätwerke zu erkennen und eben nicht wie Schleiermacher als methodische Einführungsschriften an den Anfang zu setzen.50 Zum anderen ist mit der These (und Rekonstruktion) einer esoterischen bzw. ungeschriebenen Lehre Platons eine fundamentale Kritik an Schleiermacher verbunden. Dieser erkennt ja – entgegen einer bis weit ins 18. Jahrhundert reichenden (neu-)platonistischen Tradition – in den Dialogen, und nur in ihnen, den Text des platonischen Denkens, das sich eben in dieser, der dialogischen Form darstellt. Die Kritik richtet sich insofern dezidiert gegen Schleiermachers sog. Dialogtheorie.51 Schleiermachers Übersetzung ist gelehrt und hebt sich schon allein darum ab von den besten ihrer Vorgänger, etwa denen von Stolberg oder Wolff, wie Boeckh bemerkt.52 Das zeigt sich in den Einleitungen und dann vor allem in den Anmerkungen, die den Übersetzungen beigegeben sind.53 Sie dienen, wo nötig, der Rechtfertigung der Übersetzung in grammatischer und semantischer Hinsicht, begründen bestimmte, auch eigene Lesarten, geben Namen- und Sacherklärungen, erläutern und kritisieren auch den platonischen Text (nicht ohne bisweilen künftige Klärung zu erhoffen). Ein Kommentar ergibt sich daraus weder in philologischer noch philosophischer Hinsicht, und dergleichen liegt auch nicht in Schleiermachers Absicht, wie er in seiner dem Ganzen vorangestellten ,,Vorerinnerung“ bemerkt.54 Die bis heute andauernde Wirkung von Schleiermachers Platon-Übersetzung als solcher beruht indessen nicht auf ihrer Gelehrsamkeit, und auch der Paradigmenwechsel, den sie in der Platoninterpretation und -rezeption eingeleitet hat, erklärt ihren Einfluß nicht. Es ist die Sprache, die die Übersetzung gleichsam zum Bestandteil der deutschen philosophischen Literatur gemacht hat. Das ist einigermaßen paradox; denn die Sprache der Übersetzung unterscheidet sich signifikant von der Sprache, die die mit der Übersetzung zeitgenössische philosophische Literatur spricht. Man vergleiche nur Schellings Gespräch ,,Bruno oder über das göttliche und _____________ 50
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Stallbaum (Hg.), Platonis Opera omnia, Bd. 4,1 (Phaedrus) (1832); Hermann, Geschichte und System der platonischen Philosophie (1839); zur neueren Chronologie und besonders der Sprachstatistik vgl. Ritter, Platon, Bd. 1 (1910), 197–280; neben Ritter selbst ist vor allem Lutoslawski zu nennen (The Origin and Growth of Plato’s Logic, with an Account of Plato’s Style and of the Chronology of his Writings, 1897); zur Spätdatierung der dialektischen Dialoge siehe Campbell (Hg., The Theaetetus of Plato [1861]; Hg., The Sophistes and Politicus of Plato [1867]). Vgl. u. a. Krämer (1959), 17–24; neuerdings Szlezak (1985), Anhang I. Boeckh, Kritik der Uebersetzung des Platon von Schleiermacher (1808), 24; als Kontrast vgl. auch die Übersetzung von Kleuker (Werke des Plato, 6 Bde., 1778–1797). Zu den Anmerkungen vgl. Jantzen (1996), XLV–LVIII. Ferner: Harbsmeier (im Erscheinen). Platons Werke, Teil 1, Bd. 1 (1804), V f.; die Anmerkungen zeigen Schleiermacher im übrigen auf dem Stand der Wissenschaft.
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natürliche Princip der Dinge“ von 1802, für das der Autor zumindest implizit Platon in Anspruch nimmt. Der platonische Text in Schleiermachers Übersetzung spricht ganz anders. Ellipsen, Parenthesen unterbrechen den Gang der Sätze, Nachstellungen ebenso wie das Vorziehen des Prädikats schaffen eigene syntaktische Strukturen, der Periodenbau ist virtuos und komplex, aber an der Grenze des im Deutschen Möglichen (oder darüber hinaus); dazu die Partikelfülle, die Partizipien. Die Übersetzung gibt in ihrem Tonfall und in ihren syntaktischen Strukturen das Griechische, die ,,Ursprache“ (wie Schleiermacher gern sagt) deutsch wieder; sie geht – wenn man so will – so weit wie möglich im Deutschen auf den griechischen Text ein, verwandelt sich ihm an. Der Leser der Übersetzung meint, soweit dies möglich ist, das Original zu lesen. Boeckh meint in dem Zusammenhang einmal, „wer selbst zu übersetzen versucht, sieht sich zur Beibehaltung solcher Structuren unwillkürlich getrieben“.55 Schleiermachers deutscher Platon-Text ist ganz unvergleichlich mit den philosophischen Texten der Zeit – mit Fichte, Schelling, Hegel, Jacobi usw., mit Schleiermachers eigenen Texten. Aber doch ist er kein fremder deutscher Text (wie etwa Böhme, der um 1800 ins Gespräch kommt), sondern durchaus und auf bestimmte Weise syntaktisch und semantisch elaboriert. Er ist gleichsam ein Ursprungs- oder, wenn man so sagen kann, ein Denktext; ein Text, dem man wörtlich folgen und den man konstruieren, an dem man arbeiten muß. Boeckhs Satz wäre etwa so zu paraphrasieren: ,,wer selbst zu denken versucht, sieht sich zu solchen Strukturen getrieben“.56 Davon abgesehen, ist die Übersetzung nicht zuletzt im Kontext eines Philosophierens eben in deutscher Sprache, d. h. einer Emanzipation vom Lateinischen und auch Französischen, zu sehen. Fülleborn, der als einer der ersten sein Augenmerk auf das Sprachliche gerichtet hat, unterscheidet drei Epochen: die übersetzende, die verdeutschende und schließlich mit und durch Kant eine neueste Epoche: die kritische Philosophie überwindet den Latinismus, um zum Denken in eigenen Ausdrücken zu kommen. In einem parallelen Text handelt Fülleborn über das Studium der griechischen Philosophen, das wesentlich Übersetzen bedeutet, und Fülleborn führt sogleich all die Begriffe aus Vorsokratik, Platon, Aristoteles und Stoa vor, deren Übersetzung und Verstehen eben (im Kantischen Kontext) Philosophieren bedeutet.57 Die philosophische Arbeit als Arbeit am Begriff kann nicht gut ohne „Zuziehung der Alten“ vonstatten gehen. Einen Beleg dafür sieht Fülleborn bei Kant und _____________ 55 56
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A. Boeckh, Kritik der Uebersetzung des Platon von Schleiermacher (1808), 20; vgl. insgesamt 17–25. Hier ein wesentlicher Unterschied zu den eher glatten Übersetzungen von Apelt (Platon. Sämtliche Dialoge, 1919) und Rufener (Platon. Sämtliche Werke, 1960), die dem deutschen Satzbau zu entsprechen scheinen. Fülleborn, „Ueber Geschichte der philosophischen Kunst-Sprache unter den Deutschen“, in: Beyträge zur Geschichte der Philosophie (1794), 4. Stück, 116–144; Fülleborn, „Ueber einige Vortheile aus dem Studium der Alten Philosophen“, in: Beyträge zur Geschichte der Philosophie (1794), 6. Stück, 103– 123; ferner Fülleborn, „Von der Verschiedenheit der Alten und Neuen Philosophie“, in: Beyträge zur Geschichte der Philosophie (1794), 4. Stück, 187–219.
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dessen Veränderung der Begrifflichkeit58: „So gieng er [d. i. Kant, J.] z. B. dem Ausdruck Idee bis in Platons Schriften nach, um ihn richtig zu fassen, und an die rechte Stelle zu einzusetzen.“ Idee geht nicht in den Synonymen von Vorstellung, Begriff, Gedanke usw. auf, sondern verweist auf einen philosophischen Sachverhalt, der mit Setzung, Einheit, Vernunft hier nur kurz angedeutet sei (man denke etwa an den Phaidon). Der Verweis ist sozusagen doppelt: Er führt hin zum Sachverhalt und bringt umgekehrt diesen nahe (das neukantianische Platonverständnis ist ein gutes Beispiel). Der hermeneutischen Erschließung voran geht die Übersetzung. Schleiermacher sieht die Doppeltheit basal an dieser Stelle und als ein entweder/oder: „Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen“, heißt es in der bekannten Rede „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“ von 1813.59 Schleiermacher grenzt das Übersetzen ab vom Dolmetschen (das im Geschäftsverkehr angebracht ist) und von Paraphrase und Nachbildung (die der Verzweiflung entstammen, den Geist der fremden Sprache und das Gemüt des in ihr Redenden nicht fassen zu können). Die eigentliche Übersetzung gerät indessen schnell in Schwierigkeiten. Die erste Methode will das Fremde in der Mutter-, d. h. der Übersetzungssprache darstellen, so daß diese durchaus umgeprägt und auf ihre Biegsamkeit hin geprüft werden muß. Das Fremde soll nicht verschwinden, sondern bleiben, aber doch verstanden und geschätzt werden. Der Leser solcher Übersetzung soll dem Leser der Ursprache ja gleichkommen. Das ist an sich schon schwierig genug, aber zudem „erfordert diese Art zu übersetzen durchaus ein Verfahren im Großen, ein Verpflanzen ganzer Litteraturen in eine Sprache, und hat also auch nur Sinn und Werth unter einem Volk, welches entschiedene Neigung hat, sich das Fremde anzueignen.“60 Die zweite Methode eröffnet keinen Ausweg, sie ist vielmehr von Anfang an verfehlt: „das Ziel, so zu übersetzen wie der Verfasser in der Sprache der Uebersetzung selbst würde ursprünglich geschrieben haben, ist nicht nur unerreichbar, sondern es ist auch in sich nichtig und leer“; denn so würde die bildende und jedem Volk eigentümliche Kraft der Sprache, ihr eigener Geist verkannt. Die Sprache ist nicht äußerlich und gleichsam frei zu wählen. Ein Werk Platons so darzustellen, wie dieser es selbst auf deutsch geschrieben hätte, ist bloße und zudem eine schlechte Fiktion, die Geister der Sprachen (sic!) wären ineinander aufgelöst.61 _____________ 58 59
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„Ueber einige Vortheile aus dem Studium der Alten Philosophen“, in: Beyträge zur Geschichte der Philosophie (1794), 6. Stück, 115. Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 74. Die Unterscheidung erinnert an Goethes Unterscheidung zweier Übersetzungsmaximen (Wieland’s Todtenfeier), siehe Rössler, „Schleiermachers Akademie-Vorträge“, in Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 11, (2002), XXXIV. Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 83. Der ‚sprachpolitische‘ Aspekt, die Rolle der Übersetzung in der Ausbildung der eigenen, d. h. der deutschen Sprache und die Legitimation des Übersetzens prägt Schleiermachers Rede. Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 84 ff., 91.
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So bleibt nur der erste Weg, der den Leser an das Andere und Fremde heranführt; denn Nachbildung und Paraphrase bleiben ganz ungenügend. Dies gilt zumal für die Deutschen: „Eine innere Nothwendigkeit, in der sich ein eigenthümlicher Beruf unsres Volkes deutlich genug ausspricht, hat uns auf das Uebersetzen in Masse getrieben; wir können nicht zurück, und müssen durch.“62 Ebendies „wir müssen durch“ auf Schleiermacher selbst zu beziehen, der 1813 sein eigenes Übersetzungswerk ja noch nicht beendet hat, liegt nahe. Und in gewisser Weise hat er wohl seine Platonübersetzung vor Augen; denn sie führt ja in der Tat und durchaus paradigmatisch zum fremden Text, um diesen als solchen zu einem eigenen zu machen.
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Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 92. Martin Rössler, der Herausgeber der Rede, erkennt keine Beziehung zur Platonübersetzung („Schleiermachers Akademie-Vorträge“, in Schleiermacher, Kritische Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 11 [2002], XXXIV), und in der Tat lassen sich Anspielungen nicht nachweisen. Andererseits verweist Schleiermachers Betonung gerade der großen Übersetzungen ins Deutsche und die damit einhergehende Legitimation des Übersetzens „wie es bei uns nun einheimisch ist“, also des Übersetzens nach der ersten Methode (92 f.), wohl auch auf die Platonübersetzung. – Vgl. im übrigen das Diktum von Schlaffer (2002), 110: „Ohne das ‚Andere‘ wäre keine deutsche Literatur entstanden“.
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„Im Anfang war das Wort“. Ein Übersetzungsproblem und seine hermeneutischen Grundlagen Roman Dilcher (Heidelberg) In einer düsteren Studierstube sitzt ein Gelehrter und versucht sich an einer Übersetzung. Er schlägt den „Grundtext“ auf, um „das heilige Original“ in sein „geliebtes Deutsch zu übertragen“:1 Geschrieben steht: „im Anfang war das Wort!“ Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, Ich muß es anders übersetzen, Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, Daß deine Feder sich nicht übereile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: im Anfang war die Kraft! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, Schon warnt mich was, daß ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! Auf einmal seh’ ich Rat Und schreibe getrost: im Anfang war die Tat!
Die Übersetzung des ersten Satzes des Johannesprologs gehört zu den berühmtesten Szenen aus Goethes Faust („Studierzimmer I“), und man hat in ihr oft den Schlüssel zu Fausts Charakter und Wesen erblicken wollen: als die Selbstcharakterisierung des „faustischen“ Tatmenschentums.2 In jedem Falle hat die Übersetzungsszene eine unübersehbare dramatische Funktion: mit dieser Übersetzung, die vom „Wort“ zur „Tat“ führt, nimmt Faust seinen Ausbruch aus dem Gefängnis der Wortgelehrsamkeit vorweg, hier zunächst nur in Worten, dann im Teufelspakt, dem diese Szene präludiert, durch die Tat.
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J. W. Goethe, Faust, hg. v. Albrecht Schöne, Frankfurt 2005, vv. 1224–37. E. g. Heinrich Rickert: „Ausdruck von Fausts Persönlichkeit in Form seiner Weltanschauung“ (Goethes Faust, Tübingen 1932, S. 159). In negativer Wertung Ernst Jockers, Im Anfang war die Tat?, in: Mit Goethe, Heidelberg 1957, S. 193–202.
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Übersetzung und Interpretation Fausts hier demonstrierte Übersetzungskünste werden in der Goethephilologie eher gering geschätzt. Von Mißdeutung, Sinnfälschung, Willkür ist die Rede.3 Doch bei aller Fragwürdigkeit der Ergebnisse, zu denen Faust gelangt, wäre es doch verkehrt, das Übersetzungsproblem selbst, an das er rührt, zu unterschätzen. Die Frage nach der rechten Übersetzung des Johannesprologs ist von Goethe offenbar als exemplarischer Fall für die Übersetzungsproblematik intendiert: wenn Faust hier als Übersetzer vorgestellt wird, so in deutlichem Anklang, wenn nicht gar in Parallele zu dem Übersetzer Luther.4 Fausts Räsonnement, das seine Übersetzungsversuche leitet, nimmt denn auch die bekannten Topoi des Übersetzens auf: er nimmt den „Grundtext“, „das heilige Original“ zur Hand, er stockt, er schwankt zwischen dem, was geschrieben steht, und dem, was stehen sollte, und die Entscheidung fällt schließlich durch eine Erleuchtung des „Geistes“. Insbesondere die ersten beiden Übersetzungsvarianten, „Wort“ und „Sinn“, stehen dabei zugleich auch für die Prinzipien des Übersetzens selbst: die Worte und ihr Sinn sind es, woran sich der Übersetzer zu halten hat, gewissermaßen als die beiden Pole, die das Übersetzen leiten. Schon zu Luthers Zeit wurden daraus zwei verschiedene Ideale des Übersetzens formuliert: verbum ex verbo, „Wort für Wort“, steht für den Versuch, sich so eng wie möglich, auch auf Kosten der Verständlichkeit, an das Original zu halten. Demgegenüber die sinngemäße Übersetzung, sensum de sensu, die in freierer Weise verfährt und ihre Aufgabe eher als Übertragung in eine andere Sprache und Auffassung versteht. Die Wahl des Beispiels bringt es also mit sich, daß die Szene auch als dramatischer Traktat über das Geschäft des Übersetzens zu lesen ist. Wenn Faust zunächst auf die kanonische Übersetzung verfällt, dann aber zögert, so darum, weil ihm die Übersetzung durch „Wort“ fragwürdig erscheint: „Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen / Ich muß es anders übersetzen“ (v. 1226 f). Dies ist weniger der Ausdruck einer persönlichen Vorliebe als vielmehr der Hinweis auf ein Verständnisproblem: denn das, was in dieser herausgehobenen Weise „im Anfang“ ist, muß offenkundig so hoch zu „schätzen“ sein, daß es dieser „anfänglichen“ Stellung auch zu entsprechen vermag; ansonsten bliebe der Text rätselhaft. Wenn Faust nun in einem zweiten Versuch zu der alternativen Übersetzung greift: „im Anfang war der Sinn“, so ist dieser Schritt ohne weiteres nachvollziehbar: Worte werden nur darum _____________ 3
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Von Mißdeutung spricht Schöne (Faust. Kommentare Bd. 1, Frankfurt 2005, S. 247). „Nicht, daß Faust die Bibel übersetzt, sondern daß er sie so verhängnisvoll verfälscht, ist das Wesentliche an dieser Szene, die so zu einer Achse des ganzen Stückes wird“ E. Beutler (Besinnung, Wiesbaden 1946, S. 18); eine „wie unter hypnotischem Zwang vollzogene Sinnfälschung des Logos in die absolute Tat“ Ernst Jockers (op. cit. S. 196); „[…] beweist hier nur erneut seine schrankenlose Subjektivität“ Hans Arens (Kommentar zu Goethes Faust I, Heidelberg 1982, S. 147). – Gegen die Tendenz, die Übersetzungsszene auf diese eine Sentenz zu verkürzen, vgl. Gerhard Storz, GoetheVigilien, Stuttgart 1953, S. 182 ff. Zum Folgenden vgl. Karl Pestalozzi, Faust als Luther. Zur Übersetzungsszene in Goethes Faust, in: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens, hg. v. Ulrich Stadler, Stuttgart/Weimar 1996, S. 42–51.
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gesagt, weil sie einen Sinn haben oder ausdrücken. Ein Hörer oder Leser vernimmt die Worte, um durch sie zu ihrem Sinn vorzudringen. Es ist daher einleuchtend, daß das, was „im Anfang“ ist, eher so etwas wie „Sinn“, also etwas Geistiges, sein müßte. Diese Überlegung, die für Fausts Übergang von der ersten zur zweiten Übersetzung anzunehmen ist, mag eigenwillig wirken, weil sie offenkundig von menschlichen Verhältnissen ausgeht. Genau hierin liegt allerdings die theologische Herausforderung des Johannesprologs, das Wort in seinem Sein „im Anfang“ und „bei Gott“ zu verstehen. So schreibt Luther in seiner Evangelienauslegung: „Nun müssen wir das Herz und Verständnis weit auftun, daß wir solche Wort nicht achten wie eines Menschen geringe vergängliche Worte, sondern so groß der ist, der da spricht, so groß müssen wir auch sein Wort achten“; „Dasselbige Wort ist nicht ein lediger Wind oder Schall, sondern bringt mit sich das ganze Wesen göttlicher Natur“, es ist „unvergleichlich über alle Worte in allen Kreaturen“.5 Für das Verständnis des ersten Satzes des Johannesevangeliums ist also entscheidend, in welcher Weise hier das Wort aufzufassen ist: nämlich als göttliches, und damit im Unterschied zu den unvollkommenen menschlichen Worten. Es handelt sich hier mithin nicht um ein „bloßes“ Wort. Eine nicht geringe Verstehensleistung ist also zu erbringen, indem von vielem, was von den menschlichen Worten gelten mag, abzusehen ist: wenn λόγος hier durch „Wort“ übersetzt wird, so muß es schon als göttliches Wort verstanden sein. Die Frage nach der rechten Übersetzung führt somit unweigerlich in das Deutungsproblem hinein: der Prolog des Johannesevangeliums ist eine der theologisch wichtigsten und dichtesten Passagen des Neuen Testamentes, geradezu eine „Summe“ oder gar ein „Inbegriff des Evangeliums“.6 Johannes mutet hier seinen Lesern zu, diesen Logos, mit dem das Evangelium ohne weiteres Zutun anhebt, einerseits als „anfänglich“ Gott beigeordnet zu verstehen, andererseits zugleich im Blick auf seine Fleischwerdung in Christus als göttliche Offenbarung: denn von diesem fleischgewordenen Logos handelt das Evangelium. An dem genaueren Verständnis dieses „Logos“ hängt demnach, wie das Verhältnis Gottes zu seiner Offenbarung und damit auch das Verhältnis von „Vater“ und „Sohn“ zu denken sei. Im Verlauf der langen exegetischen Tradition der Natur dieses göttlichen Logos wurde auch die Frage nach der rechten Übersetzung (zunächst ins Lateinische) immer wieder bewegt. In seinem Johannes-Kommentar diskutiert Thomas von Aquin auf das ausführlichste das Verhältnis von Vernunft (intellectus) und Wort (verbum) im allgemeinen, um zu klären, daß es sich hier nicht um ein gewöhnliches „Wort“ handelt, von welchem gilt, daß es „dem allgemeinen Sprachgebrauch entsprechend irgendeinen Laut, eine Äußerung von Bedürfnissen oder eine Mitteilung von Gedan-
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Martin Luthers Evangelien-Auslegung, hg. v. Erwin Mühlhaupt, Göttingen 1954, S. 4 f. Heinrich Schlier, Im Anfang war das Wort. Zum Prolog des Johannesevangeliums, in: Die Zeit der Kirche, Freiburg 1956, S. 274–87, hier S. 274.
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ken bezeichnet“.7 Gegenüber derartigen vergänglichen menschlichen Worten unterscheide sich das göttliche Wort in dreifacher Hinsicht, indem es „immer in der Wirklichkeit“ (semper est in actu), „vollkommen“ (perfectissimum) und von der gleichen Natur (eiusdem naturae) wie der Sprechende sei (ebd. S. 21 f.). Auf dieser Grundlage beantwortet Thomas einige weitere Fragen, zu denen auch die der Übersetzung gehört: „Die dritte Frage stellt Augustinus; sie lautet folgendermaßen: Im griechischen Text steht logos, wo wir verbum lesen. Wenn aber logos im Lateinischen ratio und auch verbum bedeutet, warum übertragen die Übersetzer dann verbum und nicht ratio, da doch der Begriff (ratio) sowohl etwas Innerliches als auch ein Wort ist? Ich antworte: Begriff (ratio) bezeichnet eigentlich einen Gedanken des Geistes im Hinblick auf das, was im Geiste ist, auch wenn nichts Äußerliches hervorgeht. Durch Wort (verbum) aber bringt man den Aspekt des Äußeren zum Ausdruck – und weil der Evangelist, indem er vom logos sprach, nicht allein auf den Aspekt der Existenz des Sohnes im Vater hindeuten wollte, sondern auch auf die wirkende Macht (operativa potentia) des Sohnes, in der durch ihn alles geworden ist: deshalb übersetzen die Alten lieber mit Wort, worin der Aspekt des Äußeren anklingt, als mit Begriff, womit lediglich auf einen Gedanken des Geistes hingedeutet würde“ (ebd. S. 25). Der Sache nach ist Fausts Übersetzungsproblem in der Tradition also bereits gesehen und verhandelt worden. Wie Thomas’ Ausführungen zeigen, ist die traditionelle Übersetzung von λόγος durch verbum keineswegs die einzig mögliche: den Vorzug gegenüber der Alternative ratio gibt Thomas ihr allein aus einem theologisch bereits geklärten Verständnis, das auf den weiteren Kontext ausgreift.8 Und es ist eben dieser weitere Kontext des Johannesprologs, durch den auch Faust zu einem dritten und vierten Übersetzungsversuch sich gedrängt fühlt. Er fragt sich: „ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft?“ (v. 1232). Offenbar blickt Faust bereits auf den nachfolgenden Satz, den auch Thomas zur Klärung herangezogen hatte: Joh 1, 3 heißt es: „alles ist durch es geworden“, in Anspielung auf den Schöpfungsbericht der Genesis, demgemäß Gott durch sein Wort die Welt erschafft. An diesem neuen Aspekt gemessen wird auch die Übersetzung „im Anfang war der Sinn“ nun ungenügend erscheinen. Denn mag diese Übersetzung vielleicht das anfängliche Sein charakterisieren, so ist mit ihr doch allein das erfaßt, was, wie Thomas sagt, „im Geiste ist, auch wenn daraus nichts Äußerliches hervorgeht“. Faust versucht also, dem Mangel seiner zweiten Übersetzung abzuhelfen, indem er nach neuen Begriffen sucht, die diesen Aspekt zur Geltung bringen. So gelangt er zur Übersetzung durch „Kraft“, und gleich darauf, im Zuge derselben Überlegung und in einer gewissen Überbietung, zur „Tat“.9 _____________ 7
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Thomas von Aquin, Der Prolog des Johannes-Evangeliums: Super evangelium S. Johannis lectura (caput I, lectio I–XI). Übersetzung, Einführung und Erläuterungen von Wolf-Ulrich Klünker, Stuttgart 1986, S. 39. Eine dritte Übersetzungsmöglichkeit wählte, in humanistischem Geiste, Erasmus mit sermo (vgl. Pestalozzi, S. 43). Ähnlich bereits Harold Jantz, The Form of Faust, Baltimore/London 1978, S. 104: „Thus Faust deduces that the logos cannot be a mere word, it must have meaning, significance; beyond that it must have the potentiality, the power, to lead over to the divine act of creation“.
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Fausts Gedankengänge, die zu diesen weiteren Übersetzungsvorschlägen führen, sind also keineswegs willkürlich, – sie führen beispielhaft die Gedanken vor, die ein Leser zum rechten Verständnis der Stelle zu bewegen hat: denn als anfänglich kann das göttliche Wort nur verstanden werden, wenn es als mit Kraft begabt, wenn es selbst auch als hervorbringend-tätig verstanden wird. Faust benennt mit seinen Übersetzungen also präzise jene Aspekte, die für die Interpretation des Prologs und damit auch die Übersetzung von λόγος wesentlich sind. Wiederum sei Thomas zitiert: „Weil aber bei allem zweierlei zu bedenken ist, nämlich das Sein (esse) und das Wirken (operatio) oder die Kraft (virtus), handelt er [der Evangelist] zuerst von dem Sein des Wortes im Hinblick auf seine göttliche Natur und sodann von seiner Kraft bzw. von seinem Wirken, wenn es heißt ‚Alles ist durch es geworden‘“ (op. cit. S. 17). Es ist kein Zufall, daß ähnliche Begriffe auch in der neueren theologischen Literatur ausdrücklich begegnen.10 Auch ohne weitere Vertiefung in die theologischen und philosophischen Probleme des Logos wird deutlich, daß es verkehrt wäre, die Interpretation der Übersetzungsszene von der vorgegebenen Übersetzungsproblematik abzulösen, so als würde Faust es darauf anlegen, den Johannesprolog durch eigene Einfälle zu verbessern oder zu überbieten. Vielmehr versucht Faust sich hier an einem geradezu exemplarischen Fall von Übersetzung, dessen Komplexität gewöhnliche Übersetzungsaufgaben bei weitem übersteigt. Gerade darum ist dieses Beispiel geeignet, die hermeneutischen Grundprobleme des Übersetzens zu beleuchten: Wenn sich die Frage der Übersetzung in keiner Weise von den Interpretationsproblemen ablösen läßt, so wird man also sagen dürfen, daß Faust mit seinen Übersetzungsversuchen den Deutungsraum vermißt, der mit der Nennung des „Wortes“ als eines im Anfang seienden aufgestellt wird. Aus eben diesem Grund sind sie allerdings auch als Übersetzungen untauglich: denn sie sind intendiert, einander zu ersetzen. Woran der Übersetzer Faust hier scheitert, ist also durchaus nicht sein Mangel an Verständnis. Man mag sagen, daß ihm der theologische Bezugspunkt fehlt, um seine Gedanken in eine sinnvolle Ordnung zu bringen. Übersetzungstheoretisch – und das ist hier vor allem von Interesse – scheitert er daran, daß er Übersetzung und Exegese nicht auseinanderhält. Als miteinander rivalisierende Übersetzungen vorgebracht, führt sein Versuch zu einer Pervertierung der johanneischen Theologie. Doch versteht man sie als Überlegungen, wie das Wort als im Anfang seiendes verständlich gemacht werden soll, so ist seine Gedankenfolge nicht nur sinnvoll, sondern unverzichtbar, gerade um die kanonische Übersetzung zu stützen, um also das „Wort“ auf eine Weise zu verstehen, die ihm als anfänglichem gerecht wird. Erst wenn dieses Wort nicht aus einem Gegensatz zu Sinn, Kraft und Tat verstanden wird, sondern diese als dessen Aspekte, erst dann kann es wirklich als göttliches Schöpfungswort verstanden werden. _____________ 10
Beispielshalber sei aus Bultmanns Johanneskommentar zitiert: „[…] ist der λόγος eine personifizierte Kraft Gottes?“; „Gottes Wort ist Gottes Tat, und seine Tat ist sein Wort, d. h. er handelt durch sein Wort“ (Rudolf Bultmann, Das Evangelium des Johannes, Göttingen 1941, S. 6).
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Nur vordergründig ähnelt Fausts Versuch mithin den teilweise gleichlautenden Erläuterungen, die etwa Herder zum Logos im Johannesprolog vorträgt: „das Bild Gottes in der Menschlichen Seele, Gedanke! Wort! Wille! That! Liebe!“; „Nichts endlich ist würkender, beseligender, als dies Wort. Es ist Wille, Vorbildung des, was werden soll, Kraft, That“.11 Herders emphatische Umschreibungen sind nicht als Übersetzungen gemeint, sie dienen der Erläuterung und Auslegung des vorgegebenen Textes. Anders als eine Übersetzung unterstehen Interpretation und Kommentar keiner äußeren Beschränkung: indem sie sich auf den auszulegenden Text rückbeziehen, sind sie frei, ihre Verständnisweise weit ausholend auszubuchstabieren, verdeutlichend, vergleichend, argumentierend. Fausts Übersetzungsproblem wirft also ein Schlaglicht auf den Zusammenhang und zugleich den Unterschied von Übersetzung und Interpretation. Eine Übersetzung setzt eine hinreichende Interpretation voraus, doch kann diese nicht an ihre Stelle treten. Der Versuch, interpretierend immer neue Übersetzungen zu geben, schlägt notwendigerweise fehl. Der Übersetzer steht hier in einem Dilemma: er kann sein Textverständnis nicht extensiv erläutern, sondern er muß zum Punkt kommen und das eine treffende Wort finden, das (seinem Verständnis zufolge) am besten geeignet ist, an die Stelle des Originals zu treten. Er muß sich hier also bescheiden: nicht alles, was er verstanden hat, kann er in seiner Übersetzung auch zum Ausdruck bringen. Während man Interpretation als unabgeschlossene, unendliche Aufgabe auffassen kann, hat eine Übersetzung ein anderes Ziel: dem Leser den übersetzten Text in denjenigen Worten zu präsentieren, die ihn am ehesten befähigt, den übersetzten Text zu verstehen und zu interpretieren. Die Interpretationsarbeit abnehmen kann der Übersetzer ihm nicht.
Logos als Übersetzungsproblem Bietet die Übersetzungsszene des Faust einen willkommenen Anlaß, um über das Geschäft der Übersetzung nachzusinnen, so führt die Bedeutungsvielfalt des hier zu übersetzenden griechischen Wortes λόγος zu den hermeneutischen Grundproblemen. Zwar ist die Übersetzung „Im Anfang war das Wort“ die bekannte und gängige, die Luther gewählt hatte, und Luther wiederum folgte hierin der kanonischen der lateinischen Vulgata: in principio erat verbum. Der griechische Urtext des Johannesprologs lautet: ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος. Die Übersetzung von λόγος durch verbum oder „Wort“ versteht sich dabei keineswegs von selbst, wie bereits die aus dem Kommentar von Thomas zitierte Überlegung verdeutlicht. Ungeachtet der Frage ihrer „Richtigkeit“ an dieser Stelle ist sie sogar in hohem Maße erklärungsbedürftig, da λόγος in gewöhnlichem Griechisch eben nicht durch „Wort“ wiedergegeben werden kann. _____________ 11
Johann Gottfried Herder, Erläuterungen zum neuen Testament, in: Herders Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Band 7, Berlin 1884, S. 356 f.
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Das griechische Wort λόγος hat einen eigenen Bedeutungsraum.12 Wie die Übersetzungsalternative von verbum gegenüber ratio prägnant demonstriert, zerfällt bereits im Lateinischen sein semantischer Gehalt in zwei Bedeutungsstränge, die keinerlei Gemeinsamkeit haben. Das hierin sich stellende Problem hat Martin Heidegger folgendermaßen formuliert: „Der Begriff des λόγος ist […] vieldeutig, und zwar in einer Weise, daß die Bedeutungen auseinanderstreben, ohne positiv durch eine Grundbedeutung geführt zu sein“. „λόγος wird ‚übersetzt‘, d. h. immer ausgelegt als Vernunft, Urteil, Begriff, Definition, Grund, Verhältnis“.13 Abgeleitet ist λόγος von λέγειν, „reden, sprechen“, und so mag man (hier Heidegger folgend) den semantischen Kernbereich von λόγος in etwa mit „Rede“ wiedergeben. Die Schwierigkeiten, vor die dieses griechische Wort stellt, liegen jedoch darin begründet, daß λόγος im Bereich des Redens nicht die sprachliche Seite, den Ausdruck oder die Worte, meint, sondern eher das, was man als „Inhalt“ oder Sache, also den Gegenstand der Rede, umschreiben müßte. So wird man, je nach Kontext, λόγος oft durch „Bericht“, „Erzählung“, „Geschichte“, „Darstellung“ übersetzen wollen; beispielsweise den λόγος von Helena erzählen, oder (wie Herodot) verschiedene λόγοι von fremden Völkern und großen Begebenheiten. λόγος ist das, was man über eine Sache zu sagen hat, und von daher wird die charakteristische Wendung λόγον διδόναι verständlich: über eine Sache Rede stehen, Rechenschaft ablegen. Von dieser Bedeutung her mag man sich die starken „rationalen“ Implikationen im Logosbegriff erklärlich machen, die den Phänomenbereich des (nur) Sprachlichen weit übersteigen. So kann etwa gefragt werden, aus welchem λόγος heraus man etwas tut: aus welcher Überlegung, mit welcher Begründung, aus welchem Grund. Im Zeitalter von Wissenschaft, Sophistik und Philosophie wurde λόγος so zunehmend zu einem umfassenden Bezugswort für das, was man nur annäherungsweise und vage als „Vernunft“ umschreiben kann: man soll etwas mit λόγος beurteilen; man kann sagen, nach dem richtigen λόγος verhalte eine Sache sich so und so. Wenn man κατὰ λόγον, dem λόγος entsprechend, lebt, so heißt dies, daß man vernünftig und überlegt handelt. Bereits diese abbreviatorische Skizze der Semantik dieses griechischen Wortes mag verdeutlichen, daß es für λόγος eine halbwegs passende Entsprechung in anderen Sprachen schlichtweg nicht gibt. Zwar lassen sich für einzelne Verwendungsweisen aus dem Kontext heraus in der Regel jeweils einigermaßen treffende Übersetzungen finden, und doch werden sie angesichts dessen, wofür im Griechischen das eine Wort λόγος steht, eher wie bloße Notbehelfe wirken: man mag durch die Übersetzung den Sinn dessen, was im Original steht, irgendwie „verstehen“, und doch ist er gleichsam in ein anderes Element versetzt. Naturgemäß wird dies umso mehr ins Gewicht fallen, je weniger pragmatisch der betreffende Text bzw. die entsprechenden Anforderungen an die Übersetzungsarbeit sind. So mag es im Kontext einer Zinsrechnung genügen, daß durch das Wort λόγος hier ein bestimmtes Verhältnis, also ein Zinssatz gemeint ist. In einem philosophischen Kontext hingegen mag man λόγος in einer analogen Verwendung (etwa bei _____________ 12 13
Belege für das Folgende bei Verf., Studies in Heraclitus, Hildesheim 1995, Kp. 2. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 151979, S. 32.
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Heraklit, B 31) zwar ebenfalls durch „Verhältnis“ wiedergeben können, und doch wird man dadurch nicht nur die semantischen Bezüge zu anderen Bedeutungen dieses Wortes im Kontext beschneiden, sondern auch schon die Rationalität dieses „Verhältnisses“, auf die es hier ankommt, nicht angemessen ausdrücken können. – Im Kontext eines Symposiums mag klar sein, was es bedeutet, wenn man dazu übergeht, einander mit λόγοι zu unterhalten: mit Gesprächen, Reden, Erzählungen. Nahezu unübersetzbar wird aber eine ähnliche Verwendungsweise, wenn Sokrates davon spricht, „in die Logoi zu flüchten“, um dort die Wahrheit zu suchen (Plat., Phd. 99e). Gemeint ist mit dieser ironischen Wendung nichts weniger als die Abkehr von der ionischen Naturphilosophie und ihrem vermeintlich direkten Zugriff auf die Dinge, an deren Stelle nun die prüfende, Rechenschaft ablegende Dialektik treten soll. Schleiermacher übersetzt hier: „zu den Gedanken Zuflucht nehmen“,14 offenbar um die naheliegende, jedoch banalisierende Übersetzung durch „Rede, Gespräch“ zu vermeiden. Welche Übersetzung auch immer man wählt, sie wird zwangsläufig nur einen Aspekt auf Kosten anderer vermitteln können. Insofern diese Stelle einen Schlüssel zum Verständnis der platonischen Philosophie überhaupt darstellt, kann keine Übersetzung ihr Genüge tun.
Logos bei Johannes Vor diesem Hintergrund wird es befremdlich erscheinen müssen, wenn λόγος bei Johannes durch „Wort“ wiedergegeben wird. Denn so unbezweifelbar λόγος in seiner Grundbedeutung an das Reden gebunden ist, so doch eben nicht an die Seite des Redens, die sich als „Wortemachen“ charakterisieren ließe. λόγος ist nicht etwas, das erst in ausgesprochener Form vorliegt. Bei Platon und Aristoteles wird λόγος geradezu im Unterschied zu den Worten (ὄνομα, ῥῆμα) definiert, die zwar etwas bedeuten, aber noch nichts aussagen; der λόγος hingegen ist eine Verflechtung von Worten zu dem, was (in moderner Terminologie) Aussage oder Urteil genannt wird. Die Funktion des λόγος ist es, etwas auszusagen und damit eine Sache offenbar zu machen.15 Wenn die Übersetzung von λόγος durch „Wort“ im Johannesevangelium gleichwohl nicht verfehlt ist, so allein darum, weil es sich hier um eine Sonderbedeutung handelt. Im Greek-English Lexicon von Liddell/Scott/Jones findet sich etwa unter den vielfältigen Übersetzungsmöglichkeiten erst am Ende der entsprechende Eintrag, und zwar als „Word or Wisdom of God“, belegt ausschließlich mit Stellen aus der Septuaginta oder von jüdischen Autoren.16 Es ist ersichtlich, daß es zu dieser Bedeutung nicht aus einer gleichsam autochthonen Entwicklung des griechischen Wortgebrauchs gekommen ist. Die Sonderbedeutung von λόγος, die auch für den _____________ 14 15 16
Platon, Sämtliche Werke 3 (in der Übersetzung von Fr. Schleiermacher hg. v. Walter Otto u. a.), Hamburg 1958, S. 49. Plat. Soph. 261c ff.; Arist. Cat. 1–4; De int. 1–6. Liddell/Scott/Jones, A Greek-English Lexicon (Oxford 1968), s. v. X.
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Johannesprolog anzusetzen ist, ist selbst eine Übersetzung aus dem Hebräischen. Mit dieser Übersetzung einher geht ein Sprachverständnis, das dem griechischen Logosdenken fremd ist: das Wort aufgefaßt als Machtäußerung Gottes, als Schöpfungsakt und zugleich als Anrede an den Menschen, als Befehl, Gebot und Verheißung.17 Die zehn Gebote werden etwa als οἱ δέκα λόγοι übersetzt. Damit wird das Gesprochenwerden des Wortes entscheidend, nicht, wie im griechischen Verständnis, sein ablösbarer Sinngehalt. Das Wort gewinnt damit selbst einen Tatcharakter, und man hat darauf hingewiesen, daß im Hebräischen das Wort für „Reden“ auch „Handeln“ bedeuten kann: „Weil das Wort mit seiner Verwirklichung zusammenhängt, könnte man dåbår mit Tatwort wiedergeben. Unser Begriff ‚Wort‘ gibt deshalb den hebräischen Begriff dåbår schlecht wieder, weil für uns Wort an sich nie die Tat einschließt“18. Dies ist der Hintergrund, von dem aus der johanneische Logosbegriff verständlich gemacht werden muß.19 Wenn Johannes 1, 3 sagt, daß durch ihn, den Logos, alles geworden ist und ohne ihn nichts geworden ist, so bezieht sich diese Aussage auf den Schöpfungsbericht der Genesis: „und Gott sprach: […]“ (Gen. 1). Doch über dieses traditionelle jüdische Verständnis des Schöpfungswortes geht Johannes zugleich hinaus, indem er dem Logos eine gleichsam prinzipielle Stellung zuerteilt. Während im vergleichbaren Sprachgebrauch der Septuaginta stets vom λόγος τοῦ θεοῦ, als einem bestimmt in der Zeit gesprochenen und offenbarten, die Rede ist, stellt Johannes ihn geradezu absolut: als bei Gott seiend, aber gerade darin eine gewisse Selbständigkeit haltend.20 Der johanneische Logos ist damit nicht erst das von Gott ausgesprochene Wort, das die Schöpfung hervorbringt und in diesem Akt, als reiner Mittler, aufgeht. Vielmehr soll er als dem zuvor bereits im Anfang seiend verstanden werden, und in diesen gewichtigen drei Worten des ersten Satzes – Anfang, _____________ 17
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Diese Unterschiede der hebräischen und der griechischen Sprachauffassung hat Rudolf Bultmann scharf herausgearbeitet (Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament, in: Glauben und Verstehen, Band I, Tübingen 1933, S. 268–93). Daneben vgl. auch Thorleif Boman, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, Göttingen 41965, S. 45 ff. Oskar Grether, Name und Wort Gottes im Alten Testament, Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 64, Gießen 1934. Boman, op. cit., S. 52. Boman geht so weit, Goethe für seine Übersetzung zu loben, da er damit „zu der hebräischen (aramäischen) Vorlage zurückgeht und ihren tiefsten Sinn übersetzt.“ Boman scheint damit allerdings Bultmanns fragwürdige These eines ursprünglich aramäischen „Logoshymnus“ vorauszusetzen. Orientierend über die Ergebnisse der theologischen Forschung: Charles Barrett, Das Evangelium nach Johannes, Göttingen 1990, S. 180 ff. Daneben Walther Eltester, Der Logos und sein Prophet. Fragen zur heutigen Erklärung des johanneischen Prologs, in: Apophoreta (FS Ernst Haenchen), hg. v. W. Eltester, Berlin 1964, S. 109–34. Dieser Unterschied wird zu Recht von Ernst Haenchen betont: „Wer ist dieser in der Genesis nicht genannte Logos? Denn daß er das personifizierte εἶπεν (ὁ θεός ) der Genesis wäre, trifft nicht zu: das Judentum hat jenes εἶπεν eben gerade nicht zu einer neben Gott stehenden Person hypostasiert und nie ὁ λόγος absolut gebraucht.“ (Probleme des johanneischen „Prologs“, in: Gott und Mensch, Tübingen 1965, S. 122).
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Sein, Logos, – spielt der Prolog gleichsam mit dem Vokabular der griechischen Philosophie. Der johanneische Logosbegriff steht damit im Kreuzungsfeld verschiedener Traditionen. Vorauszusetzen ist die Gedankenarbeit des hellenistischen Judentums, vornehmlich bei Philon von Alexandrien greifbar, den alttestamentlichen Glauben mit den Begriffen der griechischen Philosophie zu vermitteln. Hierbei steht die Gestalt der göttlichen „Weisheit“ (σοφία) im Zentrum, die zunehmend mithilfe des Logosbegriffes der Stoa gedeutet und durch ihn ersetzt wurde.21 Einerseits stellt sich der Johannesprolog damit in die griechische Linie der Logosphilosophie.22 Doch auch wenn dieser Eigencharakter, den der Logos hier gewinnt, ohne sie kaum erklärlich wäre, so verwandelt dieser verdichtete Anklang den johanneischen Logosbegriff doch keineswegs in einen „griechischen“. Die zentralen Aussagen, auf die der Prolog zusteuert, lauten, daß der Logos in Christus Fleisch geworden ist, doch daß die Welt (ὁ κόσμος) ihn nicht erkannt habe. Dieser Gegensatz von Kosmos und Logos muß der griechischen Philosophie notwendigerweise unverständlich bleiben, da im Logosbegriff die rationale Verständlichkeit der Welt gedacht wird. Ebenso muß es ihr als Zumutung erscheinen, den Logos in seiner Fleischwerdung als göttliche Offenbarung anzunehmen. Dieses schillernde Doppelgesicht des johanneischen Logosbegriffes sollte nicht kurzsichtig zugunsten der einen oder der anderen Traditionslinie aufgelöst werden.23 Zwar wächst der johanneische Logos aus der jüdischen Weisheitsspekulation hervor, doch geht er in seiner griechischen Prägung über sie hinaus. Auf diese Weise bildet er nicht nur eine Brücke für die christliche Apologetik, sich des Erbes der griechi_____________ 21
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Eine ausführliche Untersuchung bietet Burton Lee Mack, Logos und Sophia. Untersuchungen zur Weisheitstheologie im hellenistischen Judentum, Göttingen 1973: „Logos ersetzt Sophia als Führer auf dem Weg“ (ebd. S. 137). Insgesamt vgl. auch Martin Hengel, Judentum und Hellenismus, Tübingen 21973, bes. Kp. III, 5, S. 275 ff.; Rudolf Bultmann, Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Prologs zum Johannes-Evangelium, in: ΕΥΧΑΡΙΣΤΗΡΙΟΝ. FS Hermann Gunkel (Studien zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments N.F. 19), 2. Teil, Göttingen 1923, S. 1–26. Vgl. die älteren Gesamtdarstellungen Max Heinze, Die Lehre vom Logos in der griechischen Philosophie, Oldenburg 1872; Anathon Aall, Geschichte der Logosidee in der griechischen Philosophie, 2 Bde., Leipzig 1896 und 1899. Die theologische Forschung des 19. Jahrhunderts hat den Johannesprolog vor allem aus der griechischen Tradition verstehen wollen. Zur Interpretationsgeschichte vgl. v. a. Michael Theobald, Die Fleischwerdung des Logos, Münster 1988, I. Teil. Die markanteste Ausprägung ist hier die Meinung Adolf v. Harnacks, der Johannesprolog stelle bloß eine Einleitung „für hellenistische Leser“ dar (vgl. Theobald, S. 26 ff). Im 20. Jahrhundert überwiegt, auf der Grundlage religionshistorischer Forschung, die Betonung der jüdischen Tradition. Auch wenn die direkte Verbindung von Joh 1, 1 zu stoischem Gedankengut zu recht abgelehnt wird (Eltester S. 121 f.; Theobald S. 478: der Logosbegriff gehört „zu den Allerwelts-Ideen des Hellenismus“), so bedeutet es doch eine Übertreibung in die andere Richtung, wenn, wie u. a. von Bultmann, der Prolog für eine Übersetzung eines Hymnus in aramäischer Sprache gehalten wird (Bultmann, Evang. d. Joh. S. 5 und passim; hierzu Theobald S. 56 ff.). – Von Heraklits Logos her deutet Walther Kranz: „eine christliche Logoslehre, welche die des großen Heiden bewußt nachbildend zugleich ehrt und bekämpft“ (Der Logos Heraklits und der Logos des Johannes, in: Studien zur antiken Literatur und ihrem Nachwirken, Heidelberg 1967, S. 389 ff.).
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schen Logosphilosophie zu bedienen,24 sondern er legt damit zugleich eine Grundlage dafür, daß das „Wort Gottes“ in Altem und Neuem Testament zum Ausgangspunkt eines eigenständigen theoretischen „Logos“ werden konnte – dem Logos der Theologie. „Im Anfang war der Logos“ – mit diesen Worten verbindet der Johannesprolog verschiedene Traditionen und erschafft damit einen Text, der gleichsam eine Übersetzung ohne Original ist.
Literaturverzeichnis Aall, Anathon, Geschichte der Logosidee in der griechischen Philosophie, 2 Bde., Leipzig 1896/1899. Arens, Hans, Kommentar zu Goethes Faust I, Heidelberg 1982. Barrett, Charles, Das Evangelium nach Johannes, Göttingen 1990. Beutler, E., Besinnung, Wiesbaden 1946. Boman, Thorleif, Das hebräische Denken im Vergleich mit dem griechischen, Göttingen 41965. Bultmann, Rudolf, „Der religionsgeschichtliche Hintergrund des Prologs zum Johannes-Evangelium“, in: ΕΥΧΑΡΙΣΤΗΡΙΟΝ. FS Hermann Gunkel (Studien zur Religion und Literatur des Alten und Neuen Testaments N.F. 19), 2. Teil, Göttingen 1923, 1–26. Bultmann, Rudolf, „Der Begriff des Wortes Gottes im Neuen Testament“, in: Glauben und Verstehen, Band I, Tübingen 1933, 268–93. Bultmann, Rudolf, Das Evangelium des Johannes, Göttingen 1941. Dilcher, Roman, Studies in Heraclitus, Hildesheim 1995. Eltester, Walther, „Der Logos und sein Prophet. Fragen zur heutigen Erklärung des johanneischen Prologs“, in: Apophoreta (FS Ernst Haenchen), hg. v. W. Eltester, Berlin 1964. Goethe, J. W., Faust, hg. v. Albrecht Schöne, Frankfurt a. M. 2005. Goethe, J. W., Faust, hg. v. Albrecht Schöne, Kommentare Bd. 1, Frankfurt a. M. 2005. Grether, Oskar, Name und Wort Gottes im Alten Testament, Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft 64, Gießen 1934. Haenchen, Ernst, „Probleme des johanneischen ‚Prologs‘“, in: Gott und Mensch, Tübingen 1965, 114–43. Heidegger, Martin, Sein und Zeit, Tübingen 151979. _____________ 24
Eine dichte Nachzeichnung der frühesten Stufe dieser Entwicklung bietet Max Mühl, Der λόγος ἐνδιάθετος und προφορικός von der älteren Stoa bis zur Synode von Sirmium 351, Archiv für Begriffsgeschichte 7, 1962, S. 7–56.
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Heinrich Schlier, „Im Anfang war das Wort. Zum Prolog des Johannesevangeliums“, in: Die Zeit der Kirche, Freiburg 1956. Heinze, Max, Die Lehre vom Logos in der griechischen Philosophie, Oldenburg 1872. Hengel, Martin, Judentum und Hellenismus, Tübingen 21973. Herder, Johann Gottfried, „Erläuterungen zum neuen Testament“, in: Herders Sämmtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Band 7, Berlin 1884. Jantz, Harold, The Form of Faust, Baltimore/London 1978. Jockers, Ernst, „Im Anfang war die Tat?“, in: Mit Goethe, Heidelberg 1957. Kranz, Walther, „Der Logos Heraklits und der Logos des Johannes“, in: Studien zur antiken Literatur und ihrem Nachwirken, Heidelberg 1967, 388–98. Luther, Martin, Martin Luthers Evangelien-Auslegung, hg. v. Erwin Mühlhaupt, Göttingen 1954. Mack, Burton Lee, Logos und Sophia. Untersuchungen zur Weisheitstheologie im hellenistischen Judentum, Göttingen 1973. Mühl, Max, „Der λόγος ἐνδιάθετος und προφοικός von der älteren Stoa bis zur Synode von Sirmium 351“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 7, 1962, 7–56. Pestalozzi, Karl, „Faust als Luther. Zur Übersetzungsszene in Goethes Faust“, in: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens, hg. v. Ulrich Stadler, Stuttgart/Weimar 1996, 42–51. Platon, Sämtliche Werke 3 (in der Übersetzung von Fr. Schleiermacher hg. v. Walter Otto u. a.), Hamburg 1958. Rickert, Heinrich, Goethes Faust, Tübingen 1932. Storz, Gerhard, Goethe-Vigilien, Stuttgart 1953. Theobald, Michael, Die Fleischwerdung des Logos, Münster 1988. Thomas von Aquin, Der Prolog des Johannes-Evangeliums: Super evangelium S. Johannis lectura (caput I, lectio I–XI). Übersetzung, Einführung und Erläuterungen von Wolf-Ulrich Klünker, Stuttgart 1986.
Für wen übersetzen? Beobachtungen in Übersetzungsvorreden Josefine Kitzbichler (Berlin) Bestimmt man literarisches Übersetzen als einen Prozess der Vermittlung, dann stellt sich die Frage: Vermittlung welcher Sache, durch wen und an wen? Vermittlung zwischen welchen Seiten? In seiner Rede Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens benannte Friedrich Schleiermacher drei am Übersetzen beteiligte Parteien: den Autor des fremdsprachigen Textes, den Übersetzer und den Leser der Übersetzung. Aufgabe des Übersetzers sei es, Autor und Leser zueinander zu bringen. Die viel zitierte Formel Schleiermachers lässt sich insofern auch als Beschreibung des Übersetzens als eines Kommunikations- und Vermittlungsprozesses zwischen Autor und Leser durch den Übersetzer verstehen: Entweder der Uebersetzer läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser möglichst in Ruhe, und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.1
Für die Diskussion des Übersetzungsproblems müsste folglich neben dem Autor und dem Übersetzer auch der Leser eine wichtige Position einnehmen. Tatsächlich ist bei der Beschäftigung mit Antike-Übersetzungen des 19. Jahrhunderts zu beobachten, dass Übersetzer sich häufig, ja fast regelmäßig zu den Lesern geäußert haben, mit denen sie rechneten, auf die sie hofften oder auf deren Kenntnisse und Erwartungen sie ihre Übersetzung abstimmten. Katharina Reiß und Hans Vermeer haben unter dem Stichwort „Skopostheorie“ innerhalb der Übersetzungswissenschaft die kommunikative Funktion der Übersetzung und damit auch die Rezipientenseite radikal aufgewertet. Ihre Kernthese lautet: „Die Dominante aller Translation ist deren Zweck.“2 Ob es tatsächlich sinnvoll ist, _____________ 1 2
Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 74. Reiß/Vermeer (1984), 96. In der linguistischen Übersetzungsforschung und zumal in der pragmatisch-didaktisch ausgerichteten Übersetzungswissenschaft der vergangenen Jahre und Jahrzehnte spielte der Leser generell eine recht große Rolle. Anknüpfend an sprechakt- bzw. kommunikationstheoretische Vorlagen wurde hier die Funktionalität des Zieltextes innerhalb der Zielkultur – und damit die Wirkung der Übersetzung auf den Leser – zum leitenden Prinzip erhoben. Ausrichtung auf den Leser als Ziel der Übersetzung zeigt sich auch in jenen schematischen Diagrammen der Übersetzungswissenschaft, die das kommunikationstheoretische Modell Sender – Message – Empfänger bzw. Autor – Text – Leser auf das Übersetzen anzuwenden suchten. Stolze (2005) gibt einen Überblick über verschiedene Varianten dieses Grundmusters. Dagegen hat sich literaturhistorische Übersetzungsforschung bislang für den Leser kaum interessiert. Eine Ausnahme bilden N. Bachleitners Arbeiten zu Übersetzung und Buchhandel (z. B. zu den „Übersetzungsfabriken“ Bachleitner [1989]), wobei der Leser allerdings hauptsächlich als potentieller Käufer präsent ist.
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diese funktionalistische Definition auf das Übersetzen literarischer Texte anzuwenden, ist zweifelhaft, erst recht, wenn es um antike Schriftsteller geht, die sprachlich und kulturell weit entfernt und überdies durch eine singuläre Rezeptionsgeschichte belastet sind. Aber auch ohne Rückgriff auf solche Positionen erweist sich, dass der Leser für übersetzte Literatur in besonders hohem Maß konstitutiv ist. Schon die Tatsache, dass es den Leser in Übersetzungen gewissermaßen doppelt gibt, deutet darauf hin. Denn auch der Übersetzer ist, bevor er übersetzt, zunächst selbst Leser. Als solcher steht er in der Regel mit dem eigentlichen Leser, d. h. dem Rezipienten der Übersetzung, im gleichen Rezeptionshorizont und bringt häufig ein ähnliches konzeptionelles Vorverständnis gegenüber dem zu übersetzenden Schriftsteller mit. Dieses Vorverständnis schreibt sich in seine Übersetzung ein, daher auch die oft gehörte Annahme, dass Übersetzungen schneller altern als Originale: Frühere Übersetzungen transportieren ein Verständnis des jeweiligen Textes, das von jüngeren Rezeptionsmustern mehr oder weniger stark abweicht und daher als veraltet empfunden wird. Aber der Übersetzer wird, indem er übersetzt, vom Leser selbst zu einem Autor, der wiederum für seine Leser eine bestimmte Auffassung des Textes vorgibt und der, indem er herkömmliche Auffassungen und Lesererwartungen bedient oder unterläuft, Kanonisierung oder Dekanonisierung befördert etc., seinerseits aktiv den Rezeptionshorizont und das Vorverständnis modifizieren und weiterschreiben kann. Seine Übersetzung ist Resultat seiner Lektüre und kann die Lektüre anderer Leser bestimmen. Nur, wenn man den Leser – und die damit zusammenhängenden Kategorien wie den Rezeptionshorizont und das konzeptionelle Vorverständnis – als eine Größe betrachtet, die für literarische Übersetzung konstitutiv ist, lässt sich daher auch der Sonderstatus des Übersetzens antiker Literatur begründen, der in der Regel lediglich stillschweigend vorausgesetzt wird. Denn der fundamentale Unterschied zwischen Übersetzen antiker Literatur und Übersetzen aus anderen, vor allem modernen Literaturen liegt weder in Besonderheiten der Sprachenpaare Griechisch/Deutsch bzw. Lateinisch/Deutsch, noch in der großen historischen und kulturellen Distanz; vielmehr begründet sich die Exzeptionalität der „Übersetzung der Antike“ wesentlich aus der besonderen Vorbedeutung, die Antike für die Neuzeit stets mitbrachte, und aus einem spezifischen Rezeptionsmuster, das sich aus dem Spannungsverhältnis von Alterität auf der einen und Klassizität auf der anderen Seite ergibt. In Übersetzervorreden ist der Leserbezug, wie gesagt, deutlich greifbar. Meistens dienen diese Vorreden dem Übersetzer zur Selbsterklärung oder zur Rechtfertigung; häufig geben sie den Lesern eine historische, literarische, philosophische oder mythologische Einführung an die Hand; bisweilen sind sie einfach praktische Gebrauchsanweisung für die Lektüre und geben Hinweise auf die zugrundeliegenden _____________ Wichtig in diesem Zusammenhang sind aber auch verschiedene Beiträge aus dem Göttinger Sonderforschungsbereich 309 „Literarische Übersetzung“, vor allem Andreas Poltermanns Untersuchung Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text (1995).
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Textausgaben und verwendete Hilfsmittel. Das Spektrum reicht dabei vom kurzen Geleitwort bis hin zur umfangreichen Abhandlung. In jedem Fall aber sind Vorreden ein Ort, an dem der Übersetzer sich direkt an seine Leser wendet, und damit das Instrument, um auf die Leser Einfluss zu nehmen und ihre Lektüre zu steuern – vorausgesetzt natürlich, die Leser ziehen es nicht vor, das Vorwort zu überspringen und unmittelbar die Lektüre des Übersetzungstexts zu beginnen. An einem Ort direkter Ansprache des Übersetzers an seine Leser spricht sich auch die Haltung des Übersetzers zum Rezipienten besonders deutlich aus. Dies soll im folgenden exemplarisch anhand von Vorreden verschiedener Sophokles-Übersetzungen aus dem 19. Jahrhundert gezeigt werden. Sophokles zählte von Beginn an zum Kern des Lesekanons in den Curricula humanistischer Gymnasien und wurde häufig als „der eigentliche Schulautor“3 für den Griechischunterricht angesehen. Vielen galt er als der „klassischste“ der drei griechischen Tragiker und war fester Bestandteil des kulturellen Kanons für das deutsche Bildungsbürgertum. Besonders Antigone erfuhr im deutschen Sprachraum, befördert durch die Interpretation dieses Stücks durch Hegel,4 eine außerordentlich intensive Rezeption. Daher ist es kein Zufall, dass Antigone auch die erste griechische Tragödie war, die 1841 in Übersetzung auf eine deutsche Bühne kam.5 Da mit dieser vielfältigen und intensiven Rezeptionsgeschichte eine ebensolche Übersetzungsgeschichte verbunden ist, bieten sich die entsprechenden Vorreden für eine exemplarisch vorgehende Untersuchung an. Allein sieben Übersetzungen des Sophokleischen Gesamtwerks (d. h. der sieben vollständig überlieferten Stücke) sind zwischen 1800 und 1900 erschienen, dazu eine enorme Anzahl von Übertragungen einzelner Tragödien, Teilübersetzungen und Übersetzungsproben.6 Für den vorliegenden Beitrag wurden die Gesamtübersetzungen von Friedrich Ast (1804), Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1808), Johannes Minckwitz (ab 1835), Johann Jakob Christian Donner (1839), Franz Fritze (ab 1843) und Adolf Schöll (ab 1856) herangezogen, dazu Ausgaben einzelner Stücke von Wilhelm Süvern (1802), Friedrich Hölderlin (1804), Arnold Ruge (1830), August Boeckh (1843), Viktor Strauß (1842), Adolf Wilbrandt (1866) und schließlich von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1899). _____________ 3
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So Paul Dörwald (Didaktik und Methodik des griechischen Unterrichts [1912]), zit. nach Kipf (2006), 179. Seit 1812 war Sophokles (neben Homer, Euripides und Platon) in Preußen verbindlicher Gegenstand der Abiturprüfung. Auch mit dem Aufstieg des Realgymnysiums blieb er kanonisch: „Für das realgymnasium ist das lesen des Sophokles in der übersetzung vorgeschrieben.“ Landmann, Deutsche Schulausgaben von H. Schiller und V. Valentin (1896), 195. Hegel hatte als junger Mann selbst Übersetzungsversuche unternommen und hat sich später in der Phänomenologie des Geistes und vor allem in den Ästhetik-Vorlesungen wiederholt mit Antigone befasst. Vgl. Oeben (1953) und Pöggeler (1964). Für die Antigone-Aufführung, die im Januar 1809 unter Goethes Ägide in Weimar stattfand, hatte man eine Bearbeitung des Textes (durch Friedrich Rochlitz) zu Grunde gelegt. Zur griechischen Tragödie auf deutschen Bühnen des 19. Jahrhunderts vgl. Flashar (1991) und Boetius (2005). Eine Liste aller erwähnten Sophokles-Übersetzungen mit bibliographischem Nachweis findet sich im Anhang. Es wurden ausschließlich Erstveröffentlichungen herangezogen, da nur dort der unmittelbare Zusammenhang von Zielpublikum und Übersetzung gegeben ist.
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Zunächst ist in den genannten Ausgaben auffällig, dass die Beigabe von Paratexten bei Übersetzungen antiker Schriftsteller ausgesprochen üblich war, und dass es sich dabei meist um Vor-, nicht Nachworte handelt. Nur eine der genannten Übersetzungen – die von Strauß – enthält weder ein Vor- noch ein Nachwort. Hölderlin schickte keine Vorrede voraus; an Stelle eines Nachworts rückte er bekanntermaßen seine Anmerkungen zum Oedipus bzw. Anmerkungen zur Antigonä ein, die keinen Übersetzerbericht nach üblichem Muster darstellen und für Fragen zur Rezipientenproblematik nicht ergiebig sind. Alle übrigen zehn Übersetzungen werden durch Vorreden eingeleitet. Zwei davon – die von Ast und Donner – äußern sich nicht über ihr Zielpublikum. Marginale Hinweise oder indirekte Indizien finden sich bei Süvern, Ruge, Minckwitz, Boeckh und Fritze. In Schölls deutschem Sophokles ist weniger die Übersetzervorrede von Interesse, umso mehr sind es die durch den Verlag vorgebundenen „Winke für die Benutzung der Langenscheidtschen Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker“, innerhalb der seine Übersetzung erschien. Solger, Wilbrandt und Wilamowitz-Moellendorff schließlich gehen in ihren Vorreden über beiläufige Bemerkungen hinaus und entwerfen jeweils eine regelrechte Rezipientencharakteristik. Diese zuletzt genannten Übersetzungen von (in chronologischer Folge) Solger, Schöll, Wilbrandt und Wilamowitz-Moellendorff stehen zugleich für grundlegend verschiedene Konditionen des Übersetzens antiker Literatur im 19. Jahrhundert und sollen im Folgenden eingehender betrachtet werden. Der Kunsttheoretiker, Mythen- und Religionsforscher Karl Wilhelm Ferdinand Solger (1780–1819) hatte bereits 1804 – im selben Jahr, in dem auch Hölderlin, Ast und Fähse Sophokles-Übersetzungen veröffentlichten, was auf die damals stattfindende enthusiastische Neuentdeckung des Tragikers hinweist – einen deutschen König Oidipus herausgebracht,7 und in seiner knappen Vorbemerkung dazu hatte er bereits zu erkennen gegeben, dass er mit „Kennern“8 der Materie als Lesern rechnete. Vier Jahre später erschien Solgers zweibändige deutsche Sophokles-Gesamtausgabe, eingeleitet durch eine fast 80 Seiten umfassende Abhandlung. Solger nutzte diese Einleitung hauptsächlich dazu, die Ergebnisse seiner ästhetischen Studien zu Sophokles und zur griechischen Tragödie darzulegen; im gleichen Jahr wurde er mit der Übersetzung an der Universität Jena promoviert. Daneben sind nur knappe Anmerkungen den Zielen und Prinzipien des Übersetzens gewidmet, die allerdings ein bemerkenswertes und bisher wenig beachtetes Zeugnis des übersetzungstheoretischen Paradigmenwechsels um 1800 im Kontext eines frühromantisch geprägten Philologie-Konzepts darstellen. _____________ 7
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Diese erste Übersetzung erschien anonym. Heinrich Voss gab in seiner Sammelrezension zu allen vier genannten Übersetzungen der seines Freundes Solger (ohne Namensnennung) den Vorzug. Vgl. Voss, Alte Literatur (1804). Für die Gesamtübersetzung 1808 übernahm Solger nicht die Fassung von 1804, sondern fertigte noch einmal eine völlig neue Übersetzung des König Oidipus an. „Die Grundsätze, welchen ich in Ansehung des Versbaues gefolgt bin, werden Kennern leicht in die Augen fallen.“ Solger, Vorrede (1804), VIII.
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Zum ersten Mal wurde hier in aller Bestimmtheit ein philologisch-hermeneutisches Übersetzungskonzept begründet, dessen letztes Ziel darin liegt, „das ganze Leben jener Zeitalter selbst zu seiner eigenen unmittelbaren und lebendigen Anschauung zu bringen“9, wie Solger formulierte. Das bedeutete auch, dass die Vermittlung fremdsprachiger Literatur an sprachunkundige Leser nur eine nachgeordnete Aufgabe der Übersetzung sein konnte. Solger schreibt: Uebersetzungen von Kunstwerken aus fremden Sprachen haben, außer dem zunächst auffallenden Zwecke, denen, welche nicht im Stande sind, diese Werke in ihren Grundsprachen zu lesen, einen neuen Weg zum Genuß und zur Bildung zu eröffnen, wohl noch einen andern, in gewisser Rücksicht höheren, und den sich, wie ich glaube, wenigstens alle Uebersetzer aus den alten Sprachen vorsetzen sollten.10
Dieses höhere Ziel sei, so Solger, das gleiche, was auch die philologische Wissenschaft verfolge, nämlich die „Darstellung eines vollständigen Lebens in seiner wirklichen Erscheinung“ und damit die „Wiederbelebung“11 des Altertums als eines Ganzen. Die Philologie bediene sich dazu einerseits der herkömmlichen Form historischer Abhandlungen. Andererseits müsse sie aber auch das Mittel der sich „annähernden Nachbildungen“ und der „Kopieen“12 nutzen, zu denen eben auch Übersetzungen zählen. Dass sich daraus zwangsläufig möglichst dicht am Ausgangstext operierende, sprachmimetische Übersetzungsstrategien ergeben, bedurfte für Solger fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen des Voss’schen Homer13 keiner weiteren Begründung. Solgers Programm zielte also auf den äußerlich-formalen Nachbau des griechischen Textes im Deutschen, auf „Nachbildungen“, die er als Analogie zu den Kopien bildnerischer und plastischer Kunstwerke dachte, und auf die hermeneutische Funktion des Übersetzens, wodurch Übersetzen nicht bloß Aufgabe, sondern Methode der Philologie sein sollte. Die Würde, welche hier den gedachten Kopieen versichert werden soll, ist also eine rein wissenschaftliche; sie sollen uns das Vergangene vollkommen darstellen, uns dazu helfen, es wieder mit zu durchleben, und wenn wir es so recht durchdrungen haben, welches der Wissenschaft letzter Zweck an sich sein muß, so wird das schon mit beitragen, uns eine allseitige harmonische Durchbildung zu ertheilen, welche sich auch in der Gegenwart, und zwar ohne Nachahmung, auf eigenthümliche Weise wird äußern müssen.14
Mit diesem Übersetzungsbegriff nahm Solger wichtige Aspekte dessen voraus, was Friedrich Schleiermacher dann wenige Jahre später in seiner Akademierede Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813) ausführte. Weder Solgers Sophokles noch _____________ 9 10 11 12 13
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Solger, Vorrede (1808), VII. Solger, Vorrede (1808), VII. Solger, Vorrede (1808), VIII. Solger, Vorrede (1808), VIII. „Der ganz neue Homer von Voß scheint mir wirklich der beste. […] Jetzt erst können wir sagen, daß wir einen vollkommenen deutschen Homer haben“, notierte Solger nach der Erscheinung der neuen Auflage des Voss’schen Homer 1803 in seinem Tagebuch. Solger, Nachgelassene Schriften und Briefwechsel (1826), 97. Solger, Vorrede (1808), VIII f.
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die Platon-Übersetzung Schleiermachers waren in erster Linie auf Unterrichtung und Unterhaltung des Lesers gerichtet. Das prodesse et delectare, im 18. Jahrhundert Leitsatz auch in Übersetzervorreden,15 war damit außer Kraft gesetzt, ebenso die gängige Auffassung, dass Übersetzungen vorzugsweise als Mittel zur Popularisierung der Alten dienen mussten. Anstelle der Unterweisung des Lesers durch einen in seinen Sprach-, Sach- und Geschichtskenntnissen überlegenen Übersetzer sahen sowohl Solger als auch Schleiermacher ein Verhältnis weitgehender Ebenbürtigkeit zwischen beiden Seiten als den idealen Fall an. Man übersetzte, im Sprachgebrauch der Zeit, lieber für den „griechischen“ als den „ungriechischen“ Leser. Der Leser sollte potentiell selbst Übersetzer sein können; beide waren, was Schleiermacher „im besseren Sinne des Worts den Liebhaber und Kenner“16 nannte. Dabei war in der Perspektive des beginnenden 19. Jahrhunderts zwischen „Liebhabern“ und „Kennern“ nicht notwendig ein Unterschied, und um sich als „Kenner“ auszuweisen, war ein akademischer Titel nicht zwangsläufig erforderlich. Dennoch hat Friedmar Apel recht, wenn er schreibt: Jener gebildete Liebhaber und Kenner, der sich hinter dem Bild des Übersetzers in Schleiermachers Theorie verbirgt, ist natürlich niemand anders als der Philologe. Ohne Bezug auf diese Zentralfigur der Kulturentwicklung des 19. Jahrhunderts bleibt der größte Teil der Übersetzungstheorie dieses Zeitraums weitgehend unverständlich.17
Auch hinter der Übersetzung Adolf Schölls steht in gewisser Weise ein Philologe: der Philologe als Gymnasiallehrer. Nicht Schöll selbst ist damit gemeint. Adolf Schöll (1805–1882) hatte zwar Philologie studiert, betätigte sich aber auf ganz unterschiedlichen Feldern und machte sich vor allem als deutscher Literaturhistoriker und später als Bibliothekar und Kunstsammlungs-Direktor in Weimar einen Namen. Die Buchreihe aber, innerhalb der Schölls Sophokles seit 1855 veröffentlicht wurde, war erkennbar von Pädagogen und zu didaktischen Zwecken konzipiert worden. Erst ein Jahr zuvor war die Langenscheidtsche Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker in neueren deutschen Muster-Übersetzungen gegründet worden. Sie etablierte sich sehr rasch und wurde zu einer der verbreitetsten und einflussreichsten unter den zahlreichen Übersetzungsreihen der zweiten Jahrhunderthälfte. Schon ihr Programm zeigt, dass man großen Wert legte auf eine Legitimierung der Übersetzungen durch die Titel der Übersetzer. Im Jahr 1866 war kein einziger ohne Titel _____________ 15
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Als Beispiel kann die einflussreiche Cicero-Übersetzung des Philosophen Christian Garve, Freund Moses Mendelssohns, dienen, die dezidiert für Leser gedacht war, „welche ohne das Original in der Hand zu haben, die Uebersetzung, so wie jede andere Schrift lesen, um daraus für ihren Geist Nahrung oder Vergnügen zu schöpfen“. Garve, [Vorwort] (1787), XIV. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 78. In ähnliche Richtung zielte Friedrich Schlegel im 70. Lyceums-Fragment: „Leute die Bücher schreiben, und sich dann einbilden, ihre Leser wären das Publikum, und sie müßten das Publikum bilden: diese kommen sehr bald dahin, ihr sogenanntes Publikum nicht bloß zu verachten, sondern zu hassen; welches zu gar nichts führen kann.“. Apel (1982), 144 f.
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darin verzeichnet, die meisten Übersetzer wurden als Prof. oder Dr. ausgewiesen, einige als Konrektor, Pfr. (Pfarrer), Hofrat oder Oberst. Viele von ihnen dürften tatsächlich im höheren Schuldienst gestanden haben (so wie der erfolgreiche Johann Jakob Donner oder wie Oskar Hubatsch, die ihre Sophokles-Übersetzungen allerdings in anderen Verlagen publizierten). Schöll äußerte sich in der Vorrede weder zu seinen Übersetzungsprinzipien noch zur anvisierten Zielgruppe. Jedoch haben sich in einigen der Langenscheidt-Bändchen Blätter erhalten, die der Verlag den Übersetzungen als didaktischen Leitfaden und als „Gebrauchsanweisung“ damals vorschaltete.18 Diese Blätter wurden durch alphabetische und systematische Übersichten sämtlicher innerhalb der Langenscheidt-Bibliothek vorliegenden Übersetzungen eröffnet, die der Verlagswerbung dienten und für uns zugleich den klassischen Lesekanon jener Zeit dokumentieren können. Der sich anschließende Hinweis auf „Ergänzungsschriften zur Langenscheidtschen Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker“ listete Einführungsschriften auf, wie z. B. die Vorschule zu Homer von Johannes Minckwitz (2,80 Mark) oder den Abriß der Geschichte der antiken Litteratur. Mit besonderer Berücksichtigung der Langenscheidtschen Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker (ohne Nennung eines Autors, 35 Pfennige). Auch hier verschränken sich kaufmännische und didaktische Absichten. Schließlich folgen „Einige Winke für die Benutzung der Langenscheidtschen Bibliothek sämtlicher griechischen und römischen Klassiker“. Sie betreffen hauptsächlich die Reihenfolge, in der die Klassikerlektüre zu erfolgen hatte. Eine Tabelle teilt dazu die im Verlagsprogramm enthaltenen Autoren fünf Schwierigkeitsstufen zu, wobei die für die „reifere Jugend“ tauglichen Autoren zusätzlich durch einen Asteriskus markiert sind. So zählten beispielsweise Cäsar, Herodot oder Xenophon zu den am leichtesten lesbaren Autoren. Livius und Thukydides wurden der zweiten Stufe zugeordnet, Homer, Ovid und Quintilian der dritten. Sophokles steht, zusammen mit Cicero, Lysias, Tacitus, Vergil u. a. in der vierten Gruppe. Zur fünften schließlich gehören Aischylos, Lukrez oder Pindar.19 Die Übersetzungen der Langenscheidt-Bibliothek zielten also darauf, einen antiken Regelkanon aufzustellen und seine Autoren in didaktischer Aufbereitung zugänglich zu machen, sei es als Übersetzungshilfe oder zur ergänzenden Lektüre für Gymnasiasten, sei es für diejenigen, die keine humanistische Bildung erhalten hatten. Diesen Lesern wurden einerseits mit Einführungen, „Erklärenden Noten“ und Aussprachehilfen alle denkbaren Mittel zur „Hinwegräumung der sich bietenden Schwierigkeiten“20 an die Hand gegeben. Andererseits wurde sehr deutlich gemacht, dass es sich um einen vorgegebenen, normativen Kanon handelte, dessen Kenntnis nur _____________ 18
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Häufig wurden diese Blätter später vom Buchbinder abgetrennt. Ich beziehe mich auf das in der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz (Berlin) aufbewahrte Exemplar des 1. Bändchens der 1866 erschienenen 2. Auflage. Diese Abstufung betrifft nicht die für die Lektüre des Originals maßgeblichen sprachlichen Anforderungen, sondern den Schwierigkeitsgrad des deutschen Textes. So die Formulierung in den „Winken zur Benutzung“.
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durch systematisches Studium und Befolgung der didaktischen Leitlinien erworben werden konnte. „Wer will haben den Genuß, / Soll nit scheuen den Verdruß. (Altdeutsches Sprichwort.)“, hatte der Verlag deshalb als Motto darüber gesetzt. Mit diesem Programm und mit Übersetzungen, die (wie die von Schöll) nach Möglichkeit bürgerlichen Lesegewohnheiten entsprachen, ohne die Verbindlichkeit gegen den Originaltext aufzugeben, erschien die Langenscheidt-Bibliothek, neben ähnlichen Programmen konkurrierender Verlage, als eine besonders straff strukturierte Übersetzungsreihe. Bis ins beginnende 20. Jahrhundert hinein gelang es ihr damit, maßgeblich zum gemeinsamen Wissenspool des Bildungsbürgertums beizutragen, auch wenn der Typus der Schul- oder Musterübersetzungen vielerorts schon bald als lebensfern und steif abgelehnt wurde. Schon in den 1820er Jahren war die Klage über pädagogische Instrumentalisierung antiker Literatur verbreitet. So hatte Arnold Ruge (1802–1880), der später als philosophisch-politischer Schriftsteller und prominenter Vertreter des Linkshegelianismus bekannt wurde, seiner 1830 erschienenen Übersetzung des Oedipus in Kolonos folgendes Widmungsgedicht vorangesetzt: Nicht zu der Schulen eingeschränktem Trost, Nicht für den Klügler, der um todte Rhythmen Und längst verklungne Weisen sich erbos’t; Dem Leben ein Lebendiges zu widmen, Des Alten Lied im wohlbekannten Ton: Das ist mein Dichten; und sein höchster Lohn, Daß du und wer geweiht wie du die Chöre Mit freiem Ohr und mitbegeistert höre.21
Das hier anklingende Motiv der „Lebendigkeit“ war seit den 1830er Jahren in Übersetzervorreden weit verbreitet und wurde auch von Adolf Wilbrandt (1837–1911) aufgegriffen. Wilbrandts Übersetzungen ausgewählter Stücke des Sophokles und Euripides waren in seiner Münchner Zeit entstanden, als er Paul Heyse und dem Münchner Dichterkreis nahestand, lange bevor er Direktor des Wiener Burgtheaters wurde.22 Die Bestimmung dieser Übersetzungen wird bereits im Buchtitel deutlich benannt: „Drei Tragödien des Sophokles mit Euripides’ Satyrspiel. Mit Rücksicht auf die Bühne übertragen von Adolf Wilbrandt“. Wilbrandts Vorrede zu seinen Übersetzungen ist (wie die von Solger) ein in der Übersetzungsforschung wenig bekannter Text, dürfte aber für den Übersetzungsbegriff der Münchner und darüber hinaus auch für andere zeitgenössische Übersetzungen aufschlussreich, ja repräsentativ sein.23 Wilbrandt begründete hier eine radikal _____________ 21 22 23
Ruge, Vorrede (1830), V. Die Übersetzung war während einer mehrjährigen Festungshaft in Kolberg entstanden, zu der Ruge auf Grund burschenschaftlicher Aktivitäten verurteilt worden war. Wilbrandt stellte dem Buch als Motto das Distichon Hölderlins voran: „Viele versuchten umsonst, das Freudigste freudig zu sagen, / Hier spricht endlich es mir, hier in der Trauer sich aus.“ Vgl. Giroday (1978). Bisher wurde den Antike-Übersetzungen aus dem Umkreis des Münchner Dichterkreises nahezu keine Beachtung geschenkt. Vieles, was Gesa Horstmann zu zeitgenössi-
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wirkungsästhetische und, wie er schrieb, auf die „Bedingungen unsrer eignen Bühne“24 und auf die Zeitlosigkeit in den „ewig menschlichen Schicksalen“25 zugeschnittene Übersetzungsstrategie, die es ihm erlaubte, „den uns fremden Chor zu beseitigen“26, die Trimeter durch deutsche fünfhebige Jamben zu ersetzen und schließlich „alles durchaus Exotische“27, alles, was ihm „unheilbar fremdartig“28 erschien, zu entfernen. Seine Schlüsseltermini lauten Lebendigkeit und Wirksamkeit. Als Motto kann sein Grundsatz gelten: „Denn nur was wirkt, ist lebendig, und nur was lebendig ist, ist treu.“29 Nicht der Leser, sondern der Theaterbesucher war also Adressat der Übersetzungen Wilbrandts. Von vorn herein waren seine Verlebendigungsstrategien an die zeitgenössische bürgerliche Theaterpraxis gebunden. „Denn die Bühne,“ schrieb er, „erträgt nicht, was der Leser erträgt.“30 Wilbrandt stellte also nicht die Berechtigung der philologischen Übersetzung per se in Abrede, sondern berief sich auf den kategorischen Unterschied zwischen Leseausgaben und Bühnenfassungen. Die Buchstabentreue vorliegender Übersetzungen wollte er sicher nicht ersetzen, eher komplementär ergänzen. So konnte er an den von Institutionen wie der Langenscheidtschen Bibliothek gepflegten Bildungskanon anknüpfen und gleichzeitig diesen Kanon und vor allem die in seinem Kontext stehenden Übersetzungskonzepte mindestens partiell in Frage stellen. Es ist bezeichnend, dass er seine Auffassung mit damals stattfindenden Verschiebungen und Umschichtungen der Bildungsschichten begründete, aus denen sich sowohl das Lese- als auch das Theaterpublikum rekrutierte: [I]n jedem Jahr wächst die Zahl der Gebildeten, die sich dem Zauber dieser alten poetischen Offenbarungen hinzugeben vermöchten, und in jedem Jahr scheint sich die Zahl der des Griechischen Kundigen zu verringern. Natürlich; denn während die philologische Wißbegierde, die ehedem an der Antike hängen blieb, auf hundert andre Felder ausfliegen lernt, breitet sich die Gesittung in immer tiefere Schichten aus, und vor Allem die Frauenwelt sucht sich in literarischem Wissen und Empfinden neben ihrem engen Daheim eine zweite Heimath anzubauen. Wie viele Tausende, die gern das Beste sich zu eigen erwerben möchten, und denen doch die sprachliche Gelehrsamkeit, welche dahin führt, unerreichbar bleibt!31
Parallel zum Verlust sprachlicher und historischer Kompetenzen, parallel auch zur Aufsplitterung der Wissensgebiete fand in dieser Zeit also, so Wilbrandts Beobachtung, eine Erweiterung der Kreise statt, die Zugang zu Bildung, Literatur und Theater hatten oder suchten, und damit letztlich eine Demokratisierung der herkömmli_____________ 24 25 26 27 28 29 30 31
schen Shakespeare-Übersetzungen sagt, ist aber auf Übersetzungen antiker Schriftsteller übertragbar, vgl. den Beitrag in diesem Band. Wilbrandt, Vorwort (1866), VII. Wilbrandt, Vorwort (1866), XVI. Wilbrandt, Vorwort (1866), VIII. Wilbrandt, Vorwort (1866), VIII. Wilbrandt, Vorwort (1866), XXVII. Wilbrandt, Vorwort (1866), XVI. Wilbrandt, Vorwort (1866), VIII. Wilbrandt, Vorwort (1866), X.
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chen Bildungsgüter. Dem wollte er mit seiner Übersetzungsstrategie Rechnung tragen, um unter veränderten Bedingungen die, in seiner Auffassung, ewigen Werte der „herrlichsten und seelenvollsten Werke des Sophokles wieder bühnenlebendig“32 werden zu lassen. Durchgreifender Erfolg stellte sich zunächst dennoch nicht ein. Erst 1882, als Wilbrandt als Burgtheaterdirektor selbst Aufführungen veranstalten konnte, fand seine Art des Übersetzens beim Publikum und bei der Kritik Zustimmung. Von da an bis zum Ersten Weltkrieg blieben seine Übersetzungen regelmäßiger Bestandteil deutscher Spielpläne.33 Natürlich war Wilbrandt nicht der erste, der Sophokles eigens zu Aufführungszwecken übersetzte. Hellmut Flashar begründete den verspäteten Erfolg seiner Übersetzungen mit der enormen, maßstabsetzenden Wirkung einer früheren Sophokles-Aufführung, nämlich der Antigone im Potsdamer Neuen Palais im Oktober 1841.34 Die Verantwortung für die Ausrichtung dieser Aufführung hatte in den Händen Ludwig Tiecks gelegen. Tiecks ursprünglicher Plan sah vor, die gerade erschienene und weithin positiv aufgenommene Übersetzung Johann Jakob Donners zugrunde zu legen – eine Übersetzung, die klassizistische Übersetzungstraditionen fortführte und sie zugleich für die Gegenwart kompatibel zu machen suchte, und die nicht für die Bühne, sondern zur Lektüre gedacht war. Als philologischen Fachberater gewann Tieck August Boeckh (1785–1867), und zu Boeckhs Aufgaben gehörte es, Felix Mendelssohn, dem die Vertonung der Chöre übertragen war, in Fragen der griechischen Metrik zur Seite zu stehen. Die Zusammenarbeit mit Mendelssohn und das gesamte Vorhaben sagten Boeckh schließlich so zu, dass er seine prinzipiellen Vorbehalte gegen das Übersetzen aufgab und auf der Grundlage der Donner’schen Übersetzung eine eigene deutsche Fassung erarbeitete. Die Einmaligkeit dieses Projektes brachte Boeckh offensichtlich dazu, seine generelle Skepsis gegen das Übersetzen beiseite zu stellen. Hier lag jener „besondere Beruf“ vor, von dem Boeckh in seinen philologischen Einführungsvorlesungen sprach, wenn er den Studenten vom Übersetzen, als einer nicht philologischen, sondern wesentlich künstlerisch-poetischen Aufgabe, abriet: Wenn die Philologie anfängt zu übersetzen, hört sie daher auf Philologie zu sein. Da somit das Uebersetzen von der eigentlichen philologischen Arbeit abzieht, würde ich abrathen sich ohne besonderen Beruf viel damit zu befassen.35
Es war der Plan, eine antike Tragödie auf der modernen Bühne mit größtmöglicher historischer Genauigkeit aufzuführen, der Boeckh letztlich zur Mitarbeit veranlasste. Wunsch des preußischen Königs, der hinter dem Projekt stand, und Aufgabe Tiecks und aller Beteiligten war die Wiedergewinnung der Antike für die Gegenwart, wozu _____________ 32 33 34 35
Wilbrandt, Aus der Werdezeit (1907), 193. Vgl. Flashar (1989), 100 ff. Zu dieser Aufführung vgl. Boeckh/Toelken/Förster, Über die Antigone (1842) und Flashar (1989), 66–74. Boeckh, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (1886), 161.
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die historische Realität detailgetreu auf der Bühne des Neuen Palais reproduziert werden sollte. Zu diesem Ziel wurde die verlorene antike Musik wenigstens notdürftig durch moderne Schauspielmusik ersetzt; man verzichtete auf Vorhang und Bühnenmalerei und spielte auf einer reinen Architekturbühne, die, nach damaligem Kenntnisstand und so weit es die räumlichen Verhältnisse erlaubten, der antiken Bühne entsprach; und auch Boeckh folgte mit seiner sprachmimetisch verfahrenden, metrisch getreuen Übersetzung den Prinzipien historischer Aufführungspraxis. Die Potsdamer Antigone war also in Allem ein konträres Gegenstück zu Wilbrandts Vorstellungen von der Inszenierung antiker Tragödie auf der modernen Bühne gewesen. Boeckhs Übersetzung wurde 1842 und 1843 in drei verschiedenen Ausgaben gedruckt:36 zuerst im Notendruck zusammen mit der Musik Mendelssohns und wenig später im Berliner Verlag Veit & Co. parallel als einsprachige Lesefassung und als zweisprachige Ausgabe, der Boeckh zusätzlich zwei gelehrte Abhandlungen über Sophokles beigab. Die Notenausgabe war für Aufführungen gedacht, die einsprachige Ausgabe für die „ungriechischen“ Leser. Die zweisprachige Ausgabe aber zeigt, dass Boeckh sehr daran gelegen war, im Nachhinein die Übersetzung wieder an fachwissenschaftliche Diskurse anzubinden. Diese Ausgabe diente, wie er in der Vorbemerkung schrieb, dazu, dem gelehrten Leser die Vergleichung zu erleichtern, wie weit, namentlich in Rücksicht der Form der Rede, die Uebertragung mit dem Grundtext übereinstimme. Denn diesen so genau als möglich wiederzugeben, ohne der Sprache Gewalt anzuthun, war mein erstes Bestreben.37
Der Erfolg der Potsdamer Aufführung war singulär – auch deshalb, weil es sich um eine Veranstaltung des preußischen Hofs handelte, zu der nur geladene Gäste Zugang hatten. Dass bald darauf Wiederholungen in Berlin und Leipzig stattfanden, die auch dem gewöhnlichen bürgerlichen Publikum offen waren, ändert nichts an der Tatsache, dass es eine auf die speziellen Verhältnisse und das Publikum des preußischen Hofs zugeschnittene Veranstaltung war, die Repräsentationszwecken diente und letztlich nicht wiederholbar war. Allerdings ging von ihr ein starker Impuls aus. In den folgenden Jahren kam es in Berlin und an anderen deutschen Bühnen zu weiteren Aufführungen antiker Tragödien.38 Auch ein neuer deutscher Sophokles entstand als Reaktion auf die Aufführung von 1841. Der Jurist Franz Fritze veröffentlichte seine Übersetzung mit Rücksicht auf Sprech- und Spielbarkeit und mit dem Ziel, dass _____________ 36 37 38
Boeckh war nicht rechtzeitig fertig geworden, weshalb bei der ersten Aufführung schließlich doch die (leicht veränderte) Übersetzung Donners zum Einsatz kam. Boeckh, Vorrede (1843), VI. In Berlin wurde 1843 Euripides’ Medea mit der Musik Carl Gottfried Wilhelm Tauberts aufgeführt, 1845 Sophokles’ König Oedipus, wieder mit der Musik Mendelssohns. Antigone wurde verschiedentlich wiederholt, u. a. in Karlsruhe unter E. Devrient und in Kassel, wo man sich auf eine konzertante Aufführung beschränken musste, nachdem der Kurfürst die szenische Aufführung verboten hatte. Vgl. Flashar (1991), 75 ff.
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Josefine Kitzbichler die hohen Schönheiten der altgriechischen Tragödie, die Jahrhunderte hindurch lediglich dem in die höheren Studien der Philologie Eingeweihten zugänglich waren, und die selbst in Uebersetzungen immer nur wenig zur Anschauung kamen, jetzt für den ganzen Kreis der Gebildeten in das Leben gerufen und dem Auge zu unmittelbarem Genusse vorgeführt [werden].39
1843 erschien als erster Band Elektra, versehen mit einer Widmung an Friedrich Wilhelm IV., einem Geleitwort Ludwig Tiecks (mit dem Fritze befreundet war) und einer Übersetzervorrede, in der Fritze weitläufig sein Übersetzungsverfahren begründete. Während er nämlich in den Chorstücken, wie vor ihm Boeckh, dem metrischen Prinzip folgte, ersetzte er in den Sprechpartien den griechischen Trimeter durch fünfhebige Jamben nach dem Vorbild der Goethe’schen Iphigenie, weil der Trimeter nach seiner Überzeugung nicht dem Wesen der deutschen Sprache entsprach. Tieck, anfangs skeptisch, begrüßte dieses Verfahren schließlich als „wahr und natürlich, […] kräftig und wirklich deutsch und verständlich“40, und deutete bereits in seinem Geleitwort die Möglichkeit einer Aufführung an. Als 1845 (wieder im Potsdamer Neuen Palais) Oedipus in Kolonos aufgeführt wurde, gab man die Chöre in der metrischen Donner-Übersetzung, für die Sprechpartien aber wurde die JambenÜbersetzung von Fritze verwendet. Dieses zweigleisige Verfahren – „deutsche“ Jamben und „griechische“ Chorverse – ist symptomatisch für die Schwierigkeiten, die historische Aufführungspraxis von 1841 auf der deutschen Bühne jenseits höfischer Einzelereignisse zu etablieren. Es ist kein Zufall, dass Fritzes Ziele – der ganze Kreis der Gebildeten, die Verlebendigung, die Anschaulichkeit, der unmittelbare Genuss – deutlich mit denen Wilbrandts korrespondierten. Für Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931) nahm Sophokles nicht den ersten Rang unter den Tragikern ein. Unter den elf von ihm übersetzten Tragödien ist nur eine Sophokleische: Die Übersetzung des König Oedipus erschien 1899 im ersten Band der Griechischen Tragoedien zusammen mit drei Euripides-Stücken (Hippolytos, Hiketiden – bei Wilamowitz unter dem Titel Der Mütter Bittgang – und Herakles). Die letzteren waren schon früher teils in zweisprachigen und mit Kommentar versehenen Ausgaben gedruckt, teils für zweisprachigen Druck vorbereitet worden.41 Wilamowitz schrieb dazu in seiner Vorbemerkung: Die Übersetzungen griechischer Tragödien, die ich bisher veröffentlicht habe, sind von dem griechischen Texte und zum Teil von Erläuterungen begleitet gewesen. Es war das geboten, da meine Arbeit in erster Linie dahin gegangen war, den Text zu verstehen und verständlich zu machen; ich halte die Form auch noch für die sachlich richtige und hoffe sie noch einmal für Agamemnon und Eumeniden anzuwenden. Allein sie hat den Nach-
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Fritze, [Widmungstext an Friedrich Wilhelm IV.] (1843), V. Tieck, An den Herrn Uebersetzer der Elektra (1843), X. Hippolytos war 1891 zweisprachig erschienen, Herakles geht bis auf die Greifswalder Zeit zurück und war in einer bearbeiteten Neuausgabe 1895 erschienen, Hiketiden (Der Mütter Bittgang) lagen nach eigenen Angaben fertig vorbereitet zur zweisprachigen und kommentierten Ausgabe, eine Arbeit, die jetzt „praktisch entwertet“ sei.
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teil, daß die Übersetzungen kaum über die Kreise hinauskommen, die auch den gelehrten Teil des Buches lesen. So bin ich oft aufgefordert worden, besondere Ausgaben der Übersetzungen zu veranstalten. Insbesondere ist mir gesagt worden, daß auf Schulen, die die griechische Sprache nicht lehren, Übersetzungen griechischer Dramen gelesen werden, so daß ich geradezu die Pflicht hätte, diesen die meinen zugänglich zu machen. Dem habe ich mich gefügt […].42
Der Hinweis auf Schulen ohne Griechischunterricht steht im Zusammenhang damals stattfindender Auseinandersetzungen um Schulreformen und um die Aufwertung der Realschulen gegenüber den humanistischen Gymnasien. Im Jahr 1890 berief Wilhelm II. eine Schulkonferenz ein, in deren Folge die Lehrplan- und Abiturordnungen neu aufgestellt wurden. Wilamowitz zählte zu den Verfechtern des humanistischen Gymnasiums; in einer 1892 in Göttingen gehaltenen Festrede reagierte er auf die Lehrplanreformen: Der Glaube an die Macht und den Wert der Antike ist allerdings bedroht, und wir, die wir ihn hochhalten, sehen darin eine schwere Gefahr für die geistige und sittliche Gesundheit unseres Volkes, oder vielmehr der gesamten menschlichen Kultur […] In diesem Kampfe stehen wir: wohlan denn, so wollen wir unsern Mann stehen. Nein, wenn wir nur unserm Ideale Treue halten, so können wir dem kommenden zwanzigsten Jahrhundert festen Auges entgegenblicken. Was es auch den Völkern bringe: die Sonne Homers wird leuchten über die weite Welt, Licht und Leben spendend den Menschenseelen, herrlich wie am ersten Tag.43
Es passt zum kämpferischen Vokabular Wilamowitz’, dass die Debatten damals auch unter der Bezeichnung „Schulkrieg“ liefen. Als das Kultusministerium 1900 in Berlin eine weitere Schulkonferenz veranstaltete, war Wilamowitz, als führender Philologe der Zeit und einflussreicher Wissenschaftsorganisator, selbst unter den eingeladenen Repräsentanten deutscher Bildungsinstitutionen. Das Ergebnis dieser Konferenz ist bekannt: Es kam zur endgültigen Gleichstellung der in Oberrealschulen und Realgymnasien erworbenen Abschlüsse mit dem Abitur Humanistischer Gymnasien. Realgymnasiasten und Oberrealschüler waren von nun an gleichberechtigt zum Studium an allen Fakultäten deutscher Universitäten zugelassen. Wilamowitz setzte diesen Entwicklungen ein ausgesprochen elitäres, nicht selten missionarisches Verständnis des Philologenberufs entgegen. Niemand außer der Philologie sei kompetent und berechtigt, über antike Autoren und Schriften zu urteilen, woraus sich die Pflicht ergebe, die Öffentlichkeit, und besonders den Teil der Öffentlichkeit, dem humanistische Bildung fehlte, zu unterrichten. Bei seiner Berufung an die Berliner Universität (1897) musste Wilamowitz sich zu öffentlichen Vorlesungen verpflichten, die dazu dienen sollten, die zu erwartenden Bildungsdefizite wenigstens partiell auszugleichen. Dieses philologische Selbstverständnis bestimmte auch seine Haltung als Übersetzer. In nuce ist sie in der zitierten Vorbemerkung zu den Griechischen Tragoedien sichtbar, wenn Wilamowitz von der „Pflicht“ zum Übersetzen spricht, der er „sich _____________ 42 43
Wilamowitz-Moellendorff, Vorwort (1899), 4. Wilamowitz-Moellendorff, Philologie und Schulreform (1892), 115 f.
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gefügt“ habe. Ausführlicher hatte Wilamowitz diese Haltung des Übersetzers gegen seine Leser schon 1891 im Vorwort seiner Hippolytos-Übersetzung dargelegt, das den Titel Was ist übersetzen? trägt und später in überarbeiteter Form in der Sammlung Reden und Vorträge Verbreitung fand. In dieser Abhandlung hatte Wilamowitz deutlich zu erkennen gegeben, dass er im Publikum wenig mehr als „Bildungspöbel“44 erblickte, mit dem die Philologie – „Sache der Arbeit, Sache der Männer, an der Anteil nur nehmen kann, wer selbst an der Arbeit teilhat“45 – sich nicht gemein machen dürfe. Insofern waren ihm die antiken Schriftsteller ein rein esoterischer Forschungsgegenstand. Zugleich verkörperte aber das „Hellenentum“, wie er es nannte, für ihn auch ein besiegeltes, allgemein gültiges „Ideal“, das er bedroht sah: Aber wohl ist es traurig, wenn man sieht, daß das eigene Vaterland sich von dem Ideal abwendet, nicht bloß dem hellenischen, sondern überhaupt dem Ideal. Gold, Sinnengenuß, Ehren, das sind die Götter, an die sie glauben; der Rest ist Phrase. Davon abzukehren, keineswegs bloß ästhetisch und intellektuell, sondern sittlich, ist das Hellenentum […] sehr wohl imstande. Dazu bedürfen wir seiner: ich weiß nicht vieles, was das ebenso gut könnte. Der echte Goethe, und alles was mit diesem Worte gesagt ist, kann es gewiß […]. Das, was die Seele des Christentums ist, ist gewiß auch dazu imstande.46
Es galt also, die instabil gewordenen Säulen deutscher Bildung und „Sittlichkeit“ wieder zu befestigen und dauerhaft zu installieren: die deutsche Klassik, das Christentum47 und eben das Hellenentum. Deswegen, so Wilamowitz, hätten Philologen die Pflicht, die antiken Schriftsteller zu übersetzen: Nur wenn wir Philologen sie machen, können Übersetzungen der hellenischen Poesie, die existenzberechtig sind, entstehen. Und daß den Deutschen die hellenische Poesie in solchen Übersetzungen dargeboten wird, ist nur eines der Mittel, die not tun, um dem sittlichen und geistigen Verfalle zu steuern, dem unser Volk immer rascher entgegen geht.48
Der Philologe als Vaterlandsretter, in der Pflicht, den Niedergang aufzuhalten. „Noblesse oblige“49, wie Wilamowitz schrieb. In einer späteren Auflage der Reden und Vorträge (1925) fügte er an dieser Stelle noch eine kulturpessimistische Anmerkung ein: „Das ist 1891 geschrieben; leider habe ich unsere Zukunft richtig beurteilt.“50
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48 49 50
Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1891), 2. Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1891), 3. Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1891), 2. Wilamowitz selbst war protestantisch erzogen, zeigte aber zeitlebens einen „entschiedenen Antiklerikalismus und eine Glaubensferne, so sie christlich determiniert ist“. Klaus-Gunther Wesseling, Art. „Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich Friedrich Wichard von“, in: Biographisch-bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 13, bearb. u. hg. v. Friedrich Wilhelm Bautz, fortgeführt von Traugott Bautz, Hamm 1998, 1113–1160. Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1891), 2. Wilamowitz-Moellendorff, Was ist übersetzen? (1891), 4. Wilamowitz-Moellendorff, Reden und Vorträge (1925), Bd. 1, 2.
Für wen übersetzen? Beobachtungen in Übersetzungsvorreden
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Verschiedene Leserprofile sind in den besprochenen Übersetzervorreden sichtbar geworden. Karl Wilhelm Solger wollte in der nachformenden Kopie Anschauung, Wiederbelebung und umfassendes Verständnis des antiken Autors für sich selbst und für den ebenbürtigen Leser erlangen. Adolf Schölls Übersetzung steht im Dienst eines etablierten Antikekanons, in dem sein Leser unterwiesen werden sollte; zugleich zeigt sich bei ihm, dass Buchhändler mit Übersetzungen antiker Klassiker auf eine lukrative Zielgruppe bauen konnten. Adolf Wilbrandts Ziel war, antike Tragödie dem bildungsbürgerlichen Geschmack anzugleichen und für das bürgerliche Theaterpublikum zu adaptieren. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff schließlich reagierte auf den Rückgang humanistischer Bildung mit professionellem Hochmut gegen den Laien-Leser. Für Antike-Übersetzungen im 19. Jahrhundert sind damit wichtige paradigmatische Grundmuster angesprochen. Es wird deutlich, dass die Frage nach dem Rezipientenbezug von Übersetzungen unmittelbar in die Problemzusammenhänge von kultureller Kanonbildung, von Rezeption und Transformation der Antike und von Bildungs-, Schul- und Wissenschaftsgeschichte führt. Zum Beginn des 20. Jahrhunderts erteilten Übersetzer dem Leser dann eine kategorische Absage. „Was lag mir an Lesern, die etwa zu mir gegriffen hätten, weil sie kein Italienisch konnten?“51 fragte der Wilamowitz-Gegner und Dante-Übersetzer Rudolf Borchardt. Walter Benjamin sagte im Vorwort seiner Baudelaire-Übersetzung: „Denn kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft.“52 Andreas Poltermann hat gezeigt, wie die Kontinuität des Kanons und seiner Tradition an die Existenz einer weitgehend kohärenten Bildungsschicht gebunden ist, und wie literarische Übersetzung immer auch als „fortwährende Neubestimmung des Eigenen in der Beziehung zum Fremden, des kulturellen Kanons in der Beziehung zum Ausgegrenzten und Zensierten“53 fungiert. In den Übersetzungen von Solger, Schöll und Wilbrandt lässt sich verfolgen, wie die Beschaffenheit der Bildungsschicht und ihres Kanons die Übersetzungen bestimmte, und wie umgekehrt Übersetzungen zur Konstituierung des Kanons beitrugen, während Wilamowitz auf den drohenden Verlust von Kohärenz und Homogenität des Publikums reagierte und die Tradition autoritär wiederherzustellen hoffte.
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Borchardt, Epilegomena zu Dante II (1959), 521. Benjamin, Die Aufgabe des Übersetzers (1921), 9. Poltermann (1995), 1.
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Sophokles-Übersetzungen 1800–1900 (Auswahl, chronologisch) Sophokles Trachinierinnen als Probe einer metrischen Nachbildung der Werke des Tragikers übersetzt von W. Süvern, Berlin: Realschulbuchhandlung, 1802. Sophocles Trauerspiele. Uebers. von Friedrich Ast, Leipzig: Schwickert, 1804. Sophokles Trauerspiele. Übersetzt von Gottfried Fähse, 2 Bde., Leipzig: Tauchnitz, 1804/1809. Die Trauerspiele des Sophokles. Übersetzt von Friedrich Hölderlin, 2 Bde., Frankfurt a. M.: Friedrich Wilmans, 1804. König Oidipus. Eine Tragödie des Sophokles in den Versmassen des Originals aus dem Griechischen übersetzt [von Karl Wilhelm Ferdinand Solger], Berlin und Leipzig: C. E. Adamson, [1804]. Des Sophocles Tragödien übersetzt von Karl Wilh. Ferd. Solger, 2 Tle., Berlin: Realschulbuchhandlung, 1808. Sophokles Oedipus in Kolonos. Von Arnold Ruge, Jena: August Schmid, 1830. Sophokles Werke, im Versmaß der Urschrift übersetzt von Johannes Minckwitz, 7 Bdch., Stuttgart: Metzler, 1835–1844. Sophokles, von J. J. C. Donner, Heidelberg: Winter, 1839. Des Sophokles Antigone. Uebersetzt von Victor Strauß, Bielefeld: Velhagen & Klasing, 1842. Des Sophokles Antigone, griechisch und deutsch, herausgegeben von August Böckh. Nebst zwei Abhandlungen über diese Tragödie im Ganzen und über einzelne Stellen derselben, Berlin: Veit & Co. 1843 [zeitgleich erschien eine einsprachige Ausgabe mit identischem Übersetzungstext]. Sophokles, [Werke in Einzelbänden]. Metrisch übertragen von Franz Fritze, 7 Bde., Berlin: Albert Förstner, 1843–1845. Sophokles’ Werke verdeutscht in der Versweise der Urschrift und erklärt von Adolf Schöll, 3 Bde., Stuttgart und Berlin: Langenscheidt, 1856–68. Sophokles und Euripides. Ausgewählte Dramen. Mit Rücksicht auf die Bühne übertragen von A. Wilbrandt, Nördlingen: Beck, 1866. Sophokles’ Antigone. In neuer Übersetzung von Dr. Oskar Hubatsch, Direktor des Realgymnasiums zu Charlottenburg, Bielefeld und Leipzig: Velhagen & Klasing, 1895 (Sammlung Deutscher Schulausgaben, 70). Sophokles Antigone. Eine Tragödie. Übers. u. hg. v. Veit Valentin, Dresden: Ehlermann, 1895 (Deutsche Schul-Ausgaben, 14). Griechische Tragoedien übersetzt von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, 3 Bde., Berlin: Weidmann, 1899–1906.
Für wen übersetzen? Beobachtungen in Übersetzungsvorreden
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Primärliteratur Benjamin, Walter, „Die Aufgabe des Übersetzers“ (1921), in: Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, unter Mitw. v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, Bd. 4, 1, Frankfurt a. M. 1991, 9–21. Boeckh, August, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. v. Ernst Bratuscheck, 2. Auflage, bes. v. Rudolf Klussmann, Leipzig 1886. Boeckh, August, „Vorrede“, in: Des Sophokles Antigone, griechisch und deutsch, herausgegeben von August Böckh. Nebst zwei Abhandlungen über diese Tragödie im Ganzen und über einzelne Stellen derselben, Berlin 1843, III–VIII. Boeckh, August/Toelken, Ernst Heinrich/Förster, Friedrich, Über die Antigone des Sophokles und ihre Darstellung auf dem Königlichen Schloßtheater im neuen Palais bei Sanssouci, 3 Abhandlungen von August Böckh, Ernst Heinrich Toelken, Friedrich Förster, Berlin 1842. Borchardt, Rudolf, „Epilegomena zu Dante II“, in: Gesammelte Werke in Einzelbänden, Prosa II, Stuttgart 1959. Fritze, Franz, „Vorwort“, in: Elektra des Sophokles. Metrisch übertragen von Franz Fritze, Berlin 1843, XIII–XXIV. Garve, Christian, [Vorwort], in: Abhandlungen über die menschlichen Pflichten in drey Büchern aus dem Lateinischen das Marcus Tullius Cicero übersetzt von Christian Garve, 2. Auflage, Breslau 1787, VII–XXX. Landmann, Karl, „Deutsche Schulausgaben von H. Schiller und V. Valentin“ [= Rez. zu: Antigone. Eine Tragödie von Sophokles. Übers. und hrsg. von Dr. Veit Valentin], in: Neue Jahrbücher für Philologie und Pädagogik 42 (1896), 195 f. Ruge, Arnold, „Vorrede“, in: Sophokles Oedipus in Kolonos, Jena 1830, V–XXIV. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“ (1813), in: Kritische Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 11, Berlin 2002, 67– 93. Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, „Vorrede“, in: Des Sophocles Tragödien übersetzt von Karl Wilh. Ferd. Solger, Bd. 1, Berlin 1808, VII–CII. Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, Nachgelassene Schriften und Briefwechsel, hg. v. L. Tieck und F. v. Raumer, Bd. 1, 1826. Tieck, Ludwig, „An den Herrn Uebersetzer der Elektra“, in: Elektra des Sophokles. Metrisch übertragen von Franz Fritze, Berlin 1843, IX–XII. Voss, Heinrich, „Alte Literatur“ [= Rez. zu den Sophokles-Übersetzungen von Hölderlin, Fähse, Ast und Solger], in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, 24.10.1804, 161–183. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „Was ist übersetzen?“ (1891), in: Reden und Vorträge, 3. Auflage, Berlin 1913, 1–29. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „Philologie und Schulreform“ (1892), in: Reden und Vorträge, 3. verm. Auflage Berlin 1901, 97–120. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „Vorwort“, in: Griechische Tragoedien, übersetzt von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Bd. 1, Berlin 1899, 4.
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Wilbrandt, Adolf, „Vorwort“, in: Drei Tragödien des Sophokles mit Euripides’ Satyrspiel. Mit Rücksicht auf die Bühne übertragen von Adolf Wilbrandt, Nördlingen 1866, VII– XXXII. Wilbrandt, Adolf, Erinnerungen. Neue Folge: Aus der Werdezeit, Stuttgart 1907.
Sekundärliteratur Apel, Friedmar, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982. Bachleitner, Norbert, „Übersetzungsfabriken. Das Deutsche Übersetzungswesen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Internationales Archiv zur Sozialgeschichte der Literatur 14, 1 (1989), 1–49. Baumgart, Peter (Hg.), Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs, Stuttgart 1980. Boetius, Susanne, Die Wiedergeburt der griechischen Tragödie auf der Bühne des 19. Jahrhunderts. Bühnenfassungen mit Schauspielmusik, Tübingen 2005. „Briefe von Heinrich Voss an Karl Solger“ [hg. von Karoline Solger], in: Archiv für Litteraturgeschichte, Bd. 9, Leipzig 1882, 94–141. Canfora, Luciano, „Wilamowitz und die Schulreform: Das griechische Lesebuch“, in: AU 25, 3 (1982), 5–19. Dubischar, Markus, „Wilamowitz and Sophocles: A Classicist Idol from the Perspective of an Anticlassicist Admirer“, in: Wilamowitz und kein Ende: Wissenschaftsgeschichtliches Kolloquium Fondation Hardt, 9.–13. September 2002, hg. v. Markus Mülke, Hildesheim/Zürich/New York 2003, 51–86. Flashar, Hellmut, „Aufführungen von Griechischen Dramen in der Übersetzung von Wilamowitz“, in: Wilamowitz nach 50 Jahren, hg. v. William M. Calder III/H. Flashar/Theodor Lindken, Darmstadt 1985, 306–357. Flashar, Hellmut, „F. Mendelssohn Bartholdys Vertonungen antiker Dramen“, in: Eidola. Ausgewählte kleine Schriften, hg. v. Manfred Kraus, Amsterdam 1989, 563– 579. Flashar, Hellmut, Inszenierung der Antike. Das griechische Drama auf der Bühne der Neuzeit 1585–1990, München 1991. Giroday, Véronique de la, Die Übersetzertätigkeit des Münchner Dichterkreises, Wiesbaden 1978. Glöckner, Eckhard, Zur Schulreform im preußischen Imperialismus. Preußische Schul- und Bildungspolitik im Spannungsfeld der Schulkonferenzen von 1890, 1900 und 1920, Glashütten im Taunus 1976. Kipf, Stefan, „Von Arrian bis Xenophon. Der griechische Lektüreplan der Berliner Gymnasien unter dem Einfluss des Neuhumanismus“, in: Altertumswissenschaften in Berlin um 1800 an Akademie, Schule und Universität, hg. v. Bernd Seidensticker und Felix Mundt, Hannover 2006, 167–187. Oeben, H., Hegels Antigone-Interpretation (masch. Diss.), Bonn 1953. Pöggeler, Otto, „Hegel und die griechische Tragödie“, in: Hegel-Studien, Beiheft 1 (1964), 285–305.
Für wen übersetzen? Beobachtungen in Übersetzungsvorreden
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Poltermann, Andreas (Hg.), Literaturkanon – Medienereignis – kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Übersetzung, Berlin 1995 (= Göttinger Beiträge zur Internationalen Übersetzungsforschung, 10). Reiß, Katharina/Vermeer, Hans J., Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, 2. Auflage, Tübingen 1991. Stolze, Radegundis, Übersetzungstheorien. Eine Einführung, 4. Auflage, Tübingen 2005. Vanča, Tomáš, Der Schulkrieg 1870–1901. Der Humanismus-Realismus-Streit im höheren Schulwesen Preußens am Ende des 19. Jahrhunderts – Eine Einführung, Berlin 2006.
Annäherungen an Wielands Lukian: Zum wirkungs- und rezeptionsästhetischen Umgang mit Übersetzungen aus der Weimarer Klassik Manuel Baumbach (Zürich) 1. Übersetzungen zwischen Rezeptions- und Wirkungsästhetik Das Bedeutungspotential literarischer Texte erschließt sich – führt man die beiden unterschiedlichen Standpunkte der Konstanzer Schule einmal zusammen – sowohl über den ‚Akt des Lesens‘ (Iser), d. h. über das aktualisierende Aufgreifen von textimmanenten Appellstrukturen durch den impliziten Leser, als auch über die rezeptionsästhetische Betrachtung von Texten (Jauss), d. h. in den Lektüren ihrer historischen Leser mit deren individuellen Bildungs-, Erfahrungs- und Erwartungshorizonten.1 Jede Lektüre eröffnet – ob wirkungs- oder rezeptionsästhetisch betrachtet – neue, potentiell andere Bedeutungshorizonte, und die Rezeptionsgeschichte von Texten legt Stück für Stück, jedoch nicht notwendigerweise teleologisch deren Sinnpotential frei. Was für literarische Texte gilt, lässt sich jedoch nur bedingt auf deren Übersetzungen übertragen, die sich – ganz im Sinne einer lukianischen Gattungshybride – wie Hippokentauren2 teils vermittelnd, teils polarisierend zwischen einer Reihe von binären Oppositionen wie Zielsprache/Ursprungssprache, imitatio/aemulatio, Fremdheit/Vertrautheit, Eigenständigkeit/Verweishaftigkeit, Vergangenheit/Gegenwart hin- und herbewegen und sich aus zwei Gründen gegenüber einer Befragung nach ihrem Sinnpotential auf der Basis der Konstanzer Schule als widerspenstig erweisen: Jauss’ rezeptionsästhetischer Ansatz basiert auf dem Versuch, die verschiedenen historischen Komponenten der Sinnstiftung zu analysieren, d. h. einen Text in seiner synchronen und diachronen Rezeption zu betrachten. Damit rückt der historische _____________ 1 2
Vgl. Iser (1994a und 1994b) sowie Jauss (1970). Weitere wichtige Texte aus dem Umfeld der Rezeptionsästhetik sind abgedruckt bei Warning (1975). Lukian verwendet den Ausdruck in Bis Accusatus (Der doppelt Angeklagte) 33 zur Beschreibung des literarischen Zwitters seines satirischen Dialogs, der als Mischung aus aristophanischer Komödie und platonischer Dialogform eine groteske Gestalt annimmt. Entsprechend beschwert sich der personifizierte (platonische) Dialog über den Syrer [Lukian] mit den Worten: „Aber was noch das aller ungereimteste ist, er hat ein so seltsames Mischmasch aus mir gemacht, daß ich weder zu Fuß gehe noch auf Versen einhersteige, sondern gleich einem Hippocentauren [ἱπποκενταύρου δίκην] aus zwey ungleichen Naturen zusammengesetzt bin, und allen die mich hören ein ganz fremdes Wunderthier scheinen muß.“ (Zitiert nach Wieland, Lucians Werke [1789], Bd. VI, 220).
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Manuel Baumbach
oder tatsächliche Leser in den Blick, der aufgrund verschiedener Rezeptionsbedingungen und unterschiedlicher Erfahrungshorizonte Texten ‚Sinn‘ verleiht und diesen in seinen wissenschaftlichen oder kreativen Rezeptionszeugnissen dokumentiert. Entsprechend fordert Jauss eine Literaturgeschichte des Lesers, die das Bedeutungspotential eines Textes über seine historisch fassbaren Konkretisierungen bestimmt. Und genau darin liegt mit Blick auf Übersetzungen eine Schwierigkeit: Zu Übersetzungen fehlen häufig aussagekräftige Rezeptionszeugnisse, da Übersetzungen zwar viel benutzt, aber wenig besprochen werden.3 Vielmehr verschweigen gerade Rezipienten, die fremdsprachige Literatur in Übersetzungen lesen, gern und unabhängig von ihrem Bildungsgrad deren Benutzung – sei es aus falsch verstandener Eitelkeit, sei es aufgrund der Annahme, dass eine Übersetzung im Dienste des ‚Originals‘4 steht und dieses wohl auch richtig abbilden wird. Allfällige, aus diesen Lektüren entstandene Rezeptionszeugnisse evozieren daher einen verstellten Blick sowohl auf der Produzentenseite, wenn bewusst oder unbewusst Übersetzungen mit Originallektüren gleichgesetzt werden,5 als auch besonders auf der Rezipientenseite, wenn – häufig in Ermangelung gesicherter produktionsästhetischer Kenntnisse – auf Übersetzungen basierende Rezeptionszeugnisse fälschlich auf das hinter ihnen stehende Original anstatt auf dessen Vermittlung zurückgeführt werden.6 Beispiele für diese Form von referentiellen misreadings begegnen zahlreich seit der Antike, man denke nur an das bekannte Grabepigramm auf die bei den Thermopylen gefallenen dreihundert Spartaner, das Cicero seinen Lesern in lateinischer Übersetzung und mit einer von der griechischen Vorlage abweichenden politischen Nuancierung gibt,7 _____________ 3
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5 6 7
Allenfalls direkt nach Erscheinen nimmt die Fachwelt von Übersetzungen in Form von Rezensionen Kenntnis; deren Einfluss auf das weitere Lesepublikum ist jedoch in der Regel äußerst begrenzt. Im folgenden wird vom Original im Sinne des ursprünglichen, vom Autor in einer bestimmten Sprache verfassten Textes gesprochen, ungeachtet der Tatsache, dass – gerade im Fall der Antike – diese Texte fast ausschließlich durch Vermittlung verschiedener Überlieferungträger und -stränge auf uns gekommen und nicht im eigentlichen Wortsinn ‚Originale‘ sind. Die Begrifflichkeit in diesem Beitrag ist daher eine pragmatische und beansprucht keine definitorische Korrektheit. Zu beachten ist auch, dass im Untersuchungszeitraum der Weimarer Klassik die problematische Überlieferungslage antiker Texte und die daraus resultierenden philologisch-textkritischen Methoden erst in Ansätzen kritisch reflektiert wurden, so dass der Originalitätsbegriff eine breitere Anwendung erfuhr. Vgl. Koller (19924), 51: „Der ‚Normalleser‘ einer literarischen Übersetzung liest diese im allgemeinen nicht als Übersetzung, sondern gleichsam als Originaltext.“ Vgl. auch Maurer (1976), 233–234. Simonides (zitiert nach Herodot 7.228): ὦ ξεῖν’ ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε κείμεθα, τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι.
(„Fremder, melde den Spartanern, dass wir hier liegen den Worten jener gehorchend“). Cic., Tusc. 1,101: Dic, hospes, Spartae nos te hic vidisse iacentes, Dum sanctis patriae legibus obsequimur („Melde, Fremder, in Sparta, dass Du uns hier liegen sahst, nachdem wir den heiligen Gesetzen der Heimat gehorchten“).
Annäherungen an Wielands Lukian
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und das – über Cicero vermittelt und nochmals umgedeutet – in Friedrich Schillers Übersetzung zum geflügelten Wort werden konnte: Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.8
Zu oft wird vergessen oder verdrängt, dass es sich bei dieser Äußerung nicht um den Wortlaut des antiken Originals, sondern um eine Übersetzung handelt, die im deutschen Sprachraum zwar ihrerseits den Status eines Originals erlangen konnte, aber als solches nicht unreflektiert auf die Antike bzw. deren Verständnis rückbezogen werden darf, um den Blick nicht durch das zuweilen stark abweichende Sinnpotential, das Übersetzungen transportieren, zu verstellen.9 Von einer solchen Verstellung muss jedoch in vielen literarischen Zirkeln der Weimarer Klassik, zumindest was die Rezeption der griechischen Literatur angeht, ausgegangen werden: Wenn etwa Wilhelm von Humboldt erwähnt, dass Friedrich August Wolfs Übersetzung der Acharner des Aristophanes Goethe in die Lage versetzt habe, „den Aristophanes lesen und geniessen“ zu können,10 oder Schiller gegenüber Körner von seiner aus Wielands Übersetzung gewonnenen Lukiankenntnis spricht,11 dann ist in beiden Fällen von einer vermittelten Kenntnis der beiden antiken Autoren die Rede, die griechischen Originale wurden aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse nicht gelesen bzw. rezipiert.12 Entsprechend bleibt von Fall zu Fall zu prüfen, wieviel Wieland Schiller in seine Lukianrezeption hereingelesen hat oder wie wolfianisch Goethes Aristophaneslektüren sind.13 Man darf in dieser Beobachtung keine Kritik sehen – die Rezeption der Rezeption steht literarisch betrachtet der Rezeption von Originalen völlig gleichwertig gegenüber –, aber sie erinnert daran, dass sich wirkmächtigste literarische Impulse _____________ 8
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Zur Rezeptions- und Wirkungsgeschichte dieses Epigramms, dessen Zuschreibung an den Dichter Simonides von Keos umstritten ist, vgl. Baumbach (2000). Schillers Versübertragung findet sich in der überarbeiteten Fassung seiner Elegie Der Spaziergang, die zuerst in den Horen erschien (1795); zitiert nach: Schiller Werke (1983), Bd. II,1, 308–314; 310. Vgl. auch Koller (19924), 121: „Der Übersetzer als ein unter […] historischen Rezeptionsbedingungen stehender Empfänger realisiert in der sprachlich-stilistischen Ausformung der Übersetzung eine historisch mögliche Konkretisation, die freilich ihrerseits Mehrdeutigkeiten und Unbestimmtheitsstellen aufweisen kann, die bei unterschiedlichen Rezeptionsbedingungen unterschiedlich konkretisiert oder interpretiert werden.“ Humboldt, Briefe an Friedrich August Wolf (1990), 308 (Brief vom 3. Juli 1812). Brief an Körner vom 25. April 1788; zitiert nach Schillers Werke (1979), Bd. 25, 48: „Wenn Du dir aus dem MessCatalogus einiges aussuchst, so vergiss Wielands Lukian nicht, er wird Dir gewiss sehr werth werden; durch Wielands Galanterie besitze ich ihn selbst und habe ihm schon manche angenehme Stunde zu danken.“ Um die Griechischkenntnisse vieler Schriftsteller und Intellektueller am ausgehenden 18. Jahrhundert war es nicht gut bestellt, was zum Teil an der „alten latein-humanistischen Schultradition“ (Monecke [1964], 62) gelegen hat, zum Teil an dem sich erst allmählich einstellenden Griechischinteresse in der weiterführenden Bildung. Weitere Beispiele für Schriftsteller, die sich im 19. Jahrhundert durch Aristophanes-Übersetzungen zu kreativen Rezeptionen anregen ließen, sind Platen und Heine, die Aristophanes in der Übersetzung von Voss gelesen haben. Vgl. hierzu Holtermann (2004), 301.
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Manuel Baumbach
für eine breite gesellschaftliche Etablierung der (griechischen) Antike am ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert auf der Basis eines in Übersetzungen (re)konstruierten Antikebildes entwickelten. Entsprechend wichtig erscheint die Einbeziehung von Übersetzungen in Analysen von kreativen Antikerezeptionen dieser Zeit im Sinne der Rezeptionsästhetik, und entsprechend bedauerlich ist die lückenhafte ,Literaturgeschichte‘ der Übersetzungen. Daher stößt die Rezeptionsästhetik für Übersetzungen an ihre Grenzen, und selbst wenn es bei einigen Rezeptionszeugnissen trotz des Fehlens direkter Hinweise auf eine Verwendung von Übersetzungen zuweilen gelingt, aus dem besonderen Textverständnis eines Rezipienten abzulesen, welche vermittelnde Übersetzung er bei seiner Lektüre benutzt hat, ist dieses Analyseverfahren ebenso mühsam wie unsicher, zumal in dubio pro reo immer auch von einer (parallelen) Originallektüre ausgegangen werden sollte. Es scheint daher vielversprechender, über einen wirkungsästhetischen Ansatz das Sinnpotential von Übersetzungen auszuloten, d. h. Übersetzungen – ebenso wie originäre literarische Texte – werden ohne Blick auf die historischen Rezeptionsbedingungen auf die ihnen innewohnenden sinnvermittelnden Textstrukturen untersucht. Mit Hilfe einer Analyse des Leseprozesses14 kann Iser jeden ‚Akt des Lesens‘ als eigenständigen Interpretationsprozess verstehen, durch den ein Rezipient sich die Gegenstände seiner Betrachtungen verständlich macht. Als Konsequenz liest – um in Schillers Terminologie zu bleiben – jeder ,Wanderer‘ das Thermopylenepigramm so, dass bzw. wie er es versteht, und nicht so, wie es vor ihm oder zeitgleich mit ihm andere Leser (geschweige denn der Autor) verstanden haben oder verstehen. Indem die Wirkungsästhetik literarische Texte unabhängig von einer wie auch immer gearteten außertextlichen Referentialität zu betrachten sucht und stattdessen die künstlerische Eigenständigkeit von Texten und ihre inhärenten Wirkungsstrategien betont, kappt sie – auf Übersetzungen angewandt – zunächst auch deren charakteristische Referentialität zu einem anderen Text, d. h. dem übersetzten Original, und beraubt sie eines Teils ihrer Identität. Unabhängig davon, ob man Übersetzungen als streng mimetisches Verfahren der Nachahmung betrachtet, bei der die Übersetzung ganz im platonischen Sinn eine bereits existierende Vorlage, ein Original, inhaltlich ebenso getreu abbilden möchte wie beispielsweise ein Dichter das von ihm ekphrastisch beschriebene Kunstwerk, oder weiter gefasst als freie Nachdichtung,15 _____________ 14
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Vgl. Iser (1994a), 7: „Da ein literarischer Text seine Wirkung erst dann zu entfalten vermag, wenn er gelesen wird, fällt eine Beschreibung dieser Wirkung weitgehend mit einer Analyse des Lesevorgangs zusammen.“ In diese Richtung geht auch Friedrich Schleiermacher, wenn er in seiner Abhandlung Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813) die Paraphrase von der Nachbildung unterscheidet und letztere wie folgt charakterisiert: „Die Nachbildung dagegen beugt sich unter der Irrationalität der Sprachen; sie gesteht, man könne von einem Kunstwerk der Rede kein Abbild in einer andern Sprache hervorbringen, das in seinen einzelnen Theilen den einzelnen Theilen des Urbildes genau entspräche, sondern es bleibe bei der Verschiedenheit der Sprachen, mit welcher so viele andere Verschiedenheiten wesentlich zusammenhängen, nichts anders übrig, als ein Nachbild auszuarbeiten, ein Ganzes, aus merklich von den Theilen des Urbildes verschiedenen Theilen zusammengesetzt, welches dennoch in seiner Wirkung jenem Ganzen so nahe komme, als die Verschiedenheit des Materials nur immer gestatte. Ein solches Nachbild ist nun nicht mehr jenes Werk selbst, es soll
Annäherungen an Wielands Lukian
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gilt es festzuhalten, dass Übersetzungen auch als Kunstgattung per definitionem stets ein Verweischarakter auf den Originaltext innewohnt.16 Die dadurch bestehende Intertextualität kann zusätzlich durch paratextuelle Hinweise etwa im Untertitel, Vorwort oder in den Anmerkungen markiert sein oder auch unmarkiert bleiben, wodurch die Übersetzung stärker ihr zweites, eigenständiges Gesicht zeigt, das ihr als spezifischer, aus dem subjektiven Textverständnis des Übersetzers entsprungener ‚Lesart‘ des Originals zukommt.17 Diese Janusköpfigkeit von Übersetzungen geht bei einer wirkungsästhetischen Analyse derselben jedoch verloren, wenn man die Paratexte nicht als Aufforderung versteht, den Übersetzungstext stets im Dialog mit dem Original zu rezipieren, sondern ‚nur‘ wie Goethe den deutschen Aristophanes Wolfs oder wie Schiller Wielands Lukian liest. Aus dieser Beobachtung ergeben sich für die Anwendung eines wirkungsästhetischen Ansatzes bei Übersetzungen zwei Konsequenzen: Zum einen tritt die Intertextualität zwischen Übersetzung und Original im ,Akt des Lesens‘ zurück, so dass ein Teil des aus dieser Beziehung erwachsenen Bedeutungspotentials von Übersetzungen zunächst unberücksichtigt bzw. unabgerufen bleibt. Zum anderen kann eine Übersetzung auf diese Weise stärker als eigenständiger Text wahrgenommen und in Verbindung mit den Paratexten auf das ihr innewohnende Sinnpotential befragt werden, ohne dieses mit dem Hinzuziehen eines hinter ihr liegenden Originaltextes und mit dessen Beutungspotential intertextuell erweitern zu müssen. Die Übersetzung kann sich emanzipieren, sie wird in ihrer (weitgehend ungeschriebenen) populären Rezeption, die – einmal abgesehen von zweisprachigen Ausgaben, die bereits optisch zu einer (zumindest punktuellen) Parallellektüre von Original und Übersetzung einladen – die Intertextualität mit dem Original weitgehend ausblendet, ernst genommen und bekommt wie im Fall von Schillers „Wanderer“-Epigramm Flügel. Um das spezifische Bedeutungspotential einer ersten wirkungsästhetischen Betrachtung noch schärfer herausarbeiten zu können, sollten in einem zweiten Schritt die dabei unberücksichtigt gebliebenen Bezüge von Übersetzung und Original durch eine vergleichende intertextuelle Analyse erarbeitet werden. Weiteres Wirkungs- und Bedeutungspotential von Übersetzungen entfaltet sich – sofern vorhanden – durch Rezeptionszeugnisse, womit sich ein dreistufiges Analyseschema von Übersetzungen empfiehlt. _____________
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darin auch keineswegs der Geist der Ursprache dargestellt werden und wirksam sein, vielmehr wird eben dem fremdartigen, was dieser hervorgebracht hat, manches andere untergelegt.“ Zitiert nach Störig (1963), 46. Zu den hinter diesen Positionen liegenden ,Normen des Reproduzierens‘ bzw. ‚Normen des Künstlerischen‘ und ihren Abstufungen vgl. Levý (1969), 68–72. Zum Verweischarakter bemerkt Levý, 66: „Die Übersetzung als Werk ist eine künstlerische Reproduktion, das Übersetzen als Vorgang ein originales Schaffen, die Übersetzung als Kunstgattung ein Grenzfall an der Scheide zwischen reproduzierender und original schöpfender Kunst.“ Zur modernen Übersetzungstheorie und -kritik mit Blick auf ‚literarische‘ Übersetzungen vgl. Nida (1964), Kloepfer (1967), Wuthenow (1969), Levý (1969) und Apel/Kopetzki (2003), 30–70. Zum Verfahren des literarischen Übersetzens in der griechisch-römischen Antike siehe Seele (1995).
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1) Betrachtung der Übersetzung als eines eigenständigen Textes, dessen wirkungsästhetische Analyse ein erstes Bedeutungspotential offenlegt, wobei übersetzungsbegleitende Paratexte wie Vorwort, Nachwort oder Anmerkungen einbezogen werden. 2) Soweit fassbar, die Einbeziehung der Rezeptionsgeschichte einer Übersetzung. 3) Komparatistischer Vergleich mit dem übersetzten Original, das zuvor seinerseits einer wirkungsästhetischen Analyse unterzogen werden sollte, um im Dialog mit der Übersetzung den Grad der Deckungsgleichheit zu ermitteln bzw. vergleichend eigenständige Elemente/Wirkungen/Bedeutungen von Originalen und Übersetzungen herauszuarbeiten. Das Ergebnis einer solchen Analyse wird ein subjektives bleiben, da jede Interpretation/Sinndeutung naturgemäß nur vorläufig ist und zudem aus dem begrenzten Horizont des Interpreten sowie aufgrund bestimmter Zugriffs- bzw. Analysemethoden erfolgt, die den jeweiligen Interpretationsgemeinschaften geschuldet und damit wandelbar sind. Der Vorteil dieser Analyse ist, dass zunächst die aus Sicht der Rezeptionsgeschichte wichtige Eigenständigkeit von Übersetzungen und das ihnen inhärente Wirkungspotential in den Blick genommen wird, welches weitgehend unabgerufen bleibt oder verstellt zu werden droht, wenn man Übersetzungen primär (oder ausschließlich) aus dem Dialog mit dem Original verstehen will. Gelöst vom Referenztext wird dagegen die Vermittlung des eigenen Sinnpotentials betont, das sich nicht in der Übertragung von Inhalten bzw. Bedeutungen eines anderen Textes in eine neue Sprache erschöpft, sondern zuweilen ganz bestimmte (in den Originaltexten nicht angelegte) Wirkungen erzielen möchte und eigene inhaltliche oder ästhetische Ansprüche formuliert, deren Betrachtung u. a. helfen kann, Vorurteile gegenüber Übersetzungen, wie sie Lessing in seinem bekannten Ausspruch aus dem 7. Brief die neueste Literatur betreffend vom 18.1.1759 formuliert, zu widerlegen: Wenn durch eine grosse, wunderbare Weltveränderung auf einmal alle Bücher, die deutsch geschriebenen ausgenommen, untergingen; welch eine erbärmliche Figur würden die Virgile und Horaze […] bei der Nachwelt machen!18
Wieland schreibt mit seinen Übersetzungen genau gegen eine solche Haltung an, er will – wie andere Zeitgenossen auch – die eigene Nationalliteratur um Übersetzungen erweitern, denen er schon allein dieses Ziels wegen einen hohen poetischen Eigenwert zuschreiben muss. Doch wie eigen ist der Wert, was sind die Signale für ein besonderes Textverständnis des Übersetzers und wie lässt sich das Sinnpotential der Übersetzung sowohl wirkungs- bzw. rezeptionsästhetisch als auch im Dialog mit dem Ursprungstext Lukians bestimmen? Anstelle einer exemplarischen Analyse der vorgeschlagenen dreistufigen Herangehensweise an Übersetzungen soll im folgenden das Zusammenspiel von Übersetzung und ihren Paratexten betrachtet werden, um die Hintergründe, Ziele und Strategien von Wielands Aktualisierung des lukianischen Œuvres herauszuarbeiten. Indem Wieland den antiken Satiriker in die Sprache des 18. Jahrhunderts überträgt, _____________ 18
Zitiert nach Lessing, Werke und Briefe (1997), 467–468.
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ihn zu einem Mitstreiter in Sachen Aufklärung werden lässt und seinen Figuren moderne Züge verleiht, vermittelt er mit der Lukianübersetzung ganz bewusst nicht Lukian, sondern Wielands Lukian.
2. Wielands Lukianübersetzung: historische Verortung und Paratexte Von Wieland ist seit Schulzeiten eine breite Übersetzungstätigkeit antiker Texte bezeugt, wobei nicht alle professionellen Charakter haben, sondern zum Teil häuslichen Übungszwecken dienten. Von den ‚exoterischen‘ (Gesamt-)Übersetzungen sind in chronologischer Reihenfolge zu nennen: Shakespeares Werke (1762), Horaz’ Briefe und Satiren (1781 und 1786), das Œuvre Lukians (1788/89) und die Cicerobriefe (1808–12). Hinzu kommen Einzelübersetzungen aus den Werken von Plinius dem Jüngeren, Xenophon, Demosthenes, Isokrates, Sophokles, Euripides, Aischylos und Aristophanes.19 Deckt Wieland so über sein Leben verteilt eine enorme Spannbreite ab, indem Autoren der klassisch-griechischen Zeit ebenso übersetzt werden wie der kaiserzeitliche Lukian und griechische wie lateinische Autoren gleichermaßen zum Zuge kommen, so fällt auf, dass seine übersetzerischen Großprodukte nicht in der Klassik und Archaik angesiedelt sind, d. h. in den beiden Epochen griechischer Literaturgeschichte, die von Wielands Zeitgenossen unter Rückgriff auf Winckelmann als vorbildlich und nachahmenswert postuliert wurden, sondern in der ausgehenden römischen Republik und frühen Kaiserzeit. Hier deutet sich bereits der für Wieland typische Versuch des Aufbrechens eines idealisierten, epochenverengten Antikebildes an, der auch seine Affinität zu Lukian (ca. 120–180 n. Chr.) ein Stück weit erklärt.20 Lukian nimmt unter allen Übersetzungsprojekten insofern eine Sonderstellung ein, als sich Wieland seit den 1750er Jahren mit dem Gedanken an eine Lukianübersetzung herumtrug, diese aber u. a. mit Rücksicht auf seinen Schweizer Freund Johann Heinrich Waser immer wieder zurückstellte, ehe er sein Vorhaben in den Jahren 1788/89 aus Enttäuschung über die fehlende Grazie von Wasers Übersetzung und im Bestreben auf Vollständigkeit dann doch verwirklichte. Die Lukianübersetzung Wielands erscheint in sechs Bänden in den Jahren 1788 (Bde. 1–3) und 1789 (Bde. 4–6) im Verlag der Weidmannschen Buchhandlung Leipzig unter dem Titel Lucians von Samosata Sämtliche Werke. Aus dem Griechischen übersetzt und mit Anmerkungen und Erläuterungen versehen von C. M. Wieland.21 Dieser Paratext _____________ 19
20 21
Zu Wieland als Übersetzer vgl. Ischer (1907), Fränzel (1914), Monecke (1964), 62–120, Jens (1981) und Berthold (1986). Speziell zur Lukianübersetzung siehe Werner (1985), Baumbach (2002) 94– 111 und Deitz (2007). Zu Wielands Antikebild im Unterschied zu Winckelmann vgl. Bantel (1952), Monecke (1964), 91– 94, Reuter (1981), Fuhrmann (1986), 1073–1082, Henning (1986) und Deitz (2007), 180–184. Als Textgrundlage, auf der Wieland gearbeitet hat, lässt sich die dreibändige Edition von Hemsterhuis/Reitz (1743) ermitteln, auf die er in den Anmerkungen seiner Übersetzung immer
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enthält nicht nur die relevanten Informationen zum Objekt der Übersetzung, d. h. dem Werk Lukians, zur Originalsprache Griechisch und zum Übersetzer, sondern er kündigt über den Zusatz, dass die Übersetzung von Anmerkungen und Erläuterungen begleitet wird, weitere Paratexte an, die für die Rezeption der Übersetzung wichtig sind – zumindest aus Sicht Wielands. Unabhängig davon, ob man den Hinweis auf die Anmerkungen und Erläuterungen als Ausdruck des vergleichsweise hohen philologischen Anspruchs des Übersetzers werten möchte, ob man ihn als Ausweis von Wielands Gelehrsamkeit versteht oder aber als Hinweis auf die großen Verständnisschwierigkeiten einer Lukianlektüre durch zeitgenössische Leser, die nur durch eine solche Form der Kommentierung behoben werden können, wird der Leser von Beginn an für eine enge Verbindung dieser Paratexte mit dem übersetzten Text und damit für ein enges Zusammenspiel von Lukian als Autor eines Textes und Wieland als dessen Übersetzer und Kommentator sensibilisiert. Die Stimme des Übersetzers, die im übersetzten Text selbst zurücktritt, wird so wieder sichtbar, und schreibt sich direkt in die Übersetzung herein.
2.1 Anmerkungen und Vorwort: Die Übersetzung als Hippokentaur zwischen Antike und Moderne Das auktoriale Eingreifen in Lukians Text geschieht, anders als in vielen modernen Übersetzungen (und auch Nachdrucken der Wieland-Übersetzung),22 nicht durch einen Anmerkungsanhang, sondern Wieland setzt seine Anmerkungen als Fußnoten direkt unter die Übersetzung, was den Dialog zwischen übersetztem Text und Übersetzerkommentar verstärkt (Abb. 1). Zuweilen können Wielands Kommentare dabei den Haupttext Lukians sogar quantitativ überlagern bzw. verdrängen, wie etwa im Verlauf des Stückes Das Lebensende des Peregrinus (Band 3, Leipzig 1788, 45–92):23 _____________ 22 23
wieder verweist. Zu den französischen und englischen Übersetzungen, die Wieland konsultierte, vgl. Deitz (2007). So in der Herausgabe von Werner (1981), der Wielands Übersetzung mit eigenen Kommentaren in einem Anmerkungsanhang verbindet. In dieser als Brief konzipierten Schrift berichtet Lukian seinem Freund Kronios von einem Besuch der olympischen Spiele im Jahr 165 n. Chr., bei denen sich ein gewisser Peregrinos Proteus selbst verbrannt hat (§ 1–2). Nach einer ausführlichen Wiedergabe der Lobesrede auf Peregrinos seitens des Kynikers Theagenes (§ 3–6) wird die Gegenrede eines Ungenannten rezitiert, die mehr als die Hälfte der Erzählung einnimmt (§ 7–31) und den Hauptteil der Lebensgeschichte des Peregrinos enthält. Es wird berichtet, wie dieser sich nach anfänglicher Karriere als Ehebrecher, Knabenschänder und Vatermörder den Christen anschloss und dort hoher Würdenträger wurde. Nach Verstößen gegen deren Regeln wird Peregrinos jedoch aus ihrer religiösen Gemeinschaft ausgeschlossen und mutiert zum Kyniker, deren Oberhaupt er wird. Damit schließt sich der Kreis der vita, und Lukian berichtet im Anschluss vom Auftritt des Peregrinos in Olympia (§ 32–34), der seinen Entschluss zur Selbstverbrennung als Vorbild kynischer Lebensführung und Beweis seiner Verachtung von allem Irdischen verkündet. Es folgt die Schilderung seines Freitods (§ 35–42) und am Schluss (§ 43– 45) ein anekdotenhafter Rückblick auf sein Leben. Zu Text, Kommentar, Deutungsansätzen und
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Abb. 1: Wieland, Lucians Werke, Band 3, Leipzig 1788.
_____________ zur Rezeptionsgeschichte der Schrift siehe Pilhofer/Baumbach/Hansen/Gerlach (2005). Die zeitgenössische Rezeption der Gestalt v. a. bei Aulus Gellius bespricht Heusch (2007).
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Wieland fügt auf Seite 58 bei der Beschreibung von Peregrinus’ Verehrung durch die Christen mit den Worten „Man erlaube mir […], nur einige Umstände in Erinnerung zu bringen“ einen langen Anmerkungsexkurs ein, der den Referenztext über fünf Seiten völlig zurücktreten lässt und ihm jeweils nur 2 bis 3 Zeilen pro Seite zugesteht (Abb. 2). Dadurch ist Wieland für den Rezipienten der Übersetzung zeitweilig visuell deutlich präsenter als der übersetzte Lukian, seine auktoriale Stimme kann nicht überlesen oder ignoriert werden. Mit Blick auf Lukian erlebt der Leser zugleich ein Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz, insofern als die Unmittelbarkeit des aktualisierten Lukian im Übersetzungsteil auf beinahe jeder Seite durch Anmerkungen durchbrochen wird. Eine zweite Form des kommentierenden Sich-Einschreibens in den Lukiantext findet sich mehrfach in Form von eigenständigen Kurzabhandlungen, die Wieland teils als Vorworte/Vorreden, teils im Anschluss an einen übersetzten Text bringt und damit in direkten Dialog mit diesem setzt. So fügt er an das besagte Lebensende des Peregrinus einen langen Aufsatz „Ueber die Glaubwürdigkeit Lucians in seinen Nachrichten vom Peregrinus“ an, der als Paratext zur Bedeutungsgenese von Lukians Schrift hinzugezogen werden soll.24 Mit dieser doppelten Technik der Anmerkungen/Erläuterungen und begleitenden Essays setzt Wieland den übersetzten Text in einen ständigen Dialog mit seinen eigenen kommentierenden Hinweisen, die ‚Lukian‘ nicht nur um Lukian-externe Informationen erweitern bzw. erklären, sondern ihn ganz neu kontextualisieren und in Wielands Moderne verorten. Zusammen mit dem Vorwort geben die Anmerkungen auf diese Weise einen Einblick in das besondere Textverständnis des Autors, das von einem Leser der Übersetzung automatisch mitgelesen wird und auch mitgelesen und damit vermittelt werden soll. Die gewählte Form der kommentierten Übersetzung, die an antike und mittelalterliche Scholien erinnert, übernimmt entsprechend eine doppelte Funktion: Sie erklärt einerseits die Antike und ermöglicht es andererseits dem Verfasser, über den antiken Text hinaus eigene Lesarten zu transportieren, so dass vermeintlich im Dienst des Textverständnisses von Lukian stehende Anmerkungen zu Trägern von Wielands eigenen Gedanken werden. Beispiele für beide Aspekte finden sich zahlreich: a) Die mit Blick auf die Antike geschriebenen kommentierenden Anmerkungen zerfallen in zwei Kategorien. Am häufigsten finden sich philologische und kulturgeschichtliche Sacherklärungen, die die Antike aus ihr selbst, d. h. mit Hilfe der umfassenden Antikebildung des Übersetzers zu verstehen suchen. Richten sich die sprachlich-philologischen Anmerkungen, die zum Teil mit unübersetzten griechischen _____________ 24
Lucians Werke (1788), Bd. III, 93–110. Weitere Beispiele solcher Abhandlungen finden sich in Band III zum Demonax („Beylagen zum Demonax“, 262–276) sowie in Band II (Leipzig 1788) zu den Göttergesprächen („Vorrede zu den Göttergesprächen“, 1–8; „Kurzes Schema der Verwandtschaften der Griechischen Götter und des alten und neuen Götterhofes zum Behuf der Lucianischen Göttergespräche“, 8–12) und zur Höllenfahrt des Menippus („Zusatz, die Aechtheit des vorhergehenden Stückes betreffend“, 357–360), in Band IV (Leipzig 1789) zum Lucius, oder der Magische Esel („Ueber den wahren Verfasser des vorstehenden Mährchens“, 296–304).
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Abb. 2: Wieland, Lucians Werke, Band 3, Leipzig 1788.
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Begriffen arbeiten oder Exkurse über philologische Debatten enthalten, die Fachwissen voraussetzen, dabei in der Regel an ein gebildetes und des Griechischen mächtiges Publikum, so zielen die kulturgeschichtlichen Anmerkungen und Sacherklärungen auf eine breite, weniger gebildete Leserschaft. Hier werden allgemeine Grundkenntnisse in antiker Mythologie vermittelt, derer ein Gelehrter nicht bedarf,25 Eigennamen etymologisch erklärt und historische Begebenheiten erläutert. In einigen Fällen spricht Wieland auch beide intendierte Lesergruppen zugleich an, wenn er etwa im elften Göttergespräch Venus’ Dialogpartnerin den Namen Luna anstelle von Selene gibt und dazu für die Gelehrten entschuldigend und für die Unwissenden informativ anmerkt: „Ich habe den lateinischen Namen Luna dem griechischen vorgezogen, weil er den meisten bekannter ist und es mir immer wohlgetan scheint, auf diesen Umstand Rücksicht zu nehmen.“26 Wie im Vorwort formuliert, schreibt Wieland für ein sehr disparates Lesepublikum, für „Leser aller Arten“,27 weshalb sich die Übersetzung als wissenschaftlicher Beitrag zu Lukian ebenso wie als Erschließung und Wiedergabe von Lukian, d. h. als gleichzeitiges Sprechen über und mit Lukian, versteht. Wieland schreibt in den Anmerkungen den Philologen Wieland in Lukian hinein und erscheint im Zusammenspiel aus schriftstellerischem Schaffen, Forschen und Belehren als poeta doctus im alexandrinischen Sinn. Die zweite Kategorie von Anmerkungen zum Antikeverständnis sucht die Erklärung nicht in dem antiken Kontext selbst, sondern gibt sie illustrierend aus der Gegenüberstellung mit ‚parallelen‘ modernen Ereignissen/Vorstellungen des 18. Jahrhunderts. Das betrifft einfache Vergleiche aus der näher oder entfernter liegenden Lebenswelt von Wielands Zeitgenossen wie etwa den Hinweis zu einer Stelle im Alexandros, bei der von einer Schutzbegleitung Reisender in Kappadokien die Rede ist, dass man auch „heut zu Tage, um in diesen und andern Provinzen des türkischen Reiches sicher zu reisen, einen oder ein paar Janitscharen in seine Dienste nehmen muss“28, ebenso wie das Aufzeigen von ‚Parallelen‘ zu konkreten zeitgenössischen Phänomenen, die beim Leser als vertraut vorausgesetzt werden und so als Erklärungshilfe einer antiken, fremden Kultur fungieren. Anmerkungen dieser beider Kategorien stehen im Dienst eines besseren Verständnisses des antiken Textes.
_____________ 25
26 27 28
Vgl. z. B. die illustrierende Beschreibung von Wasserwesen und Tritonen in der zweiten Anmerkung zum sechsten Meergöttergespräch (Lucians Werke [1788], Bd. II, 84): „Ungeachtet es viele Tritonen, ebenso wie viele Panen, Cyclopen, Liebesgötter u. s. w. gab, so war doch Ein Triton (so wie Ein Pan, Ein Cyclops, Ein Amor), dem dieser Nahme vorzugsweise zukam, und der eine Art von Kammerdiener, oder gleichsam den Merkur des Gottes der Meere vorstellte. Sowohl er, als seine Brüder, zeichnen sich von den übrigen Wassergöttern durch ihre Gestalt aus; denn ihre Haare sind von Wassereppich, und der Leib, der mit kleinen wasserblauen Schuppen bedeckt ist, endiget sich, statt der Füsse, in einen Delphinenschwanz.“ Lucians Werke (1788), Bd. II, 62, Anm. 1. Lucians Werke (1788), Bd. I, XLIII. Lucians Werke (1788), Bd. III, 220–221, Anm. 55.
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b) Im Unterschied zur Funktion des Hineinführens bzw. -denkens in die Antike enthalten viele Anmerkungen jedoch auch kommentierende Aktualisierungen, die Zeugnis von einer spezifischen Lesart der Antike abgeben und eine Transformation der Antike in die Moderne ermöglichen. Auf diese Weise schreiben Wielands Anmerkungen nicht nur die Moderne in die Antike hinein, um diese besser zu verstehen, sondern sie modernisieren die Antike zugleich, um die Gegenwart zu diskutieren. So gesehen nehmen die Anmerkungen zu Lukians Werk dieses ihrerseits in Dienst, und von Wieland (gesuchte und) gefundene Bezüge zur Moderne machen das lukianische Werk als exemplum für moderne Phänomene lesbar. Die Basis für eine solche Aktualisierung Lukians ist eine Parallelisierung des 18. mit dem 2. Jahrhundert n. Chr., auf die Wieland v. a. in seiner Schrift Über den freyen Gebrauch der Vernunft in Glaubenssachen explizit verweist, die nicht zuletzt deshalb, weil sie zeitgleich mit der Lukianübersetzung (1788) entstanden ist, als Metatext zu dieser gelesen werden kann: Unsre eigne Zeit ausgenommen, wird man schwerlich in der ganzen Geschichte einen andern Zeitraum finden, wo zugleich und zum Theil in denselben Ländern, neben einem ziemlich hohen Grade von Kultur und Verfeinerung auf der einen Seite, auf der andern mehr Finsterniß in den Köpfen, mehr Schwäche, Leichtgläubigkeit und Hang zu allen Arten von Schwärmerey, mehr Neigung zu geheimen religiösen Verbindungen, Mysterien und Orden, mehr Glauben an unglaubliche Dinge, mehr Leidenschaft für magische Wissenschaften und Operazionen, selbst unter den obersten Klassen des Staates Statt gefunden, kurz, wo es allen Gattungen von religiösen Betrügern, Gauklern, Taschenspielern und Wundermännern leichter gemacht worden wäre, mit der Schwäche und Einfalt der Leute ihr Spiel zu treiben, als – das erste und zweyte Jahrhundert der christlichen Zeitrechnung.29
Vor dem Hintergrund, dass Wieland in Lukians Satiren das Potential sieht, „durch einen menschenfreundlichen Spott unsre Thorheiten“ zu heilen30, wird deutlich, wie weit Wieland bei seiner Aktualisierung Lukians ging bzw. gehen konnte: Liefert ihm Lukian mit seinen Satiren zunächst den Stoff für aktualisierte Nachahmungen, so erkennt Wieland in den Schriften zugleich eine direkte, zeitübergreifende Aktualität, die eigentlich keiner Nachahmung mehr bedarf, sondern lediglich einer Zugänglichmachung etwa in Form einer Übersetzung. Lukian könnte – überspitzt formuliert – Wielands Zeitgenosse sein, seine Themen, seine Kritikpunkte sind modern. Entsprechend naheliegend ist die Vermutung, dass Wieland bei seinen oben zitierten Hinweisen auf „religiöse Betrüger, Gaukler, Taschenspieler und Wundermänner“ sowie auf die „Schwärmerey“ konkret an Lukians Schriften Alexandros, Die Lügenfreunde und Peregrinos dachte, die er in dieser Zeit übersetzte und in eigenen Schriften kreativ rezipierte. Die Lukianübersetzung wird von Wieland daher als direktes Mittel der Aufklärung und Bekämpfung von Aberglauben eingesetzt, wobei die Anmerkungen dieser Lesart Eindeutigkeit verleihen sollen. Beispiele finden sich über die ganze _____________ 29 30
Zitiert nach Wieland, Sämmtliche Werke (1797), Bd. 29, 43 f. Sympathien 199.
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Übersetzung verstreut,31 die wohl deutlichste und ausführlichste Aktualisierung in diesem Sinne findet sich in der ersten Anmerkung zum Dialog Philopseudeis (Die Lügenfreunde): Vor etwa 25 Jahren brauchte man sich nur in das Zimmer irgend eines alten schwachköpfigen Grafen oder Herrn in Schwaben, Bayern oder Oesterreich zu denken, – statt der sogenannten Philosophen Ion, Dinomachus, Kleodemus, Arignotus, einen bocksbärtigen Kapuziner, einen wohlbeleibten Prämonstratenser, oder starkcolorirten Bernhardiner, einen hagern habichtsnasigen Jesuiten, und allenfalls noch einen derbglaubigen Karmeliter um ihn herumzusetzen, und sie aus Veranlassung einiger Millionen Teufel, die unlängst von irgend einer mondsüchtigen Bauerdirne abgetrieben worden, in ein Gespräch über dergleichen erbauliche Dinge gerathen zu lassen, um ein herrliches Gegenstück zu diesem Lucianischen Gemählde zu haben. Aber seit dieser Zeit haben sich die Umstände sehr geändert; man kann sich nun mitten unter lauter Protestanten in das Zimmer des Eukrates versetzt sehen; und die Geisterseher, Zauberer, Mystagogen, Hermesschüler, Magnetisirer, Desorganisirer und Exaltirer der menschlichen Natur, kurz alle Arten von Adepten und Wundermännern, spielen unter allerley Gestalten und Nahmen eine so große Rolle gegen das Ende unsers Jahrhunderts, dass die Ion und Eukrates und Dinomachus u. s. w. wenn sie wiederkommen könnten, sich genöthigt sehen würden, die großen Vorzüge der Neuern vor den Alten, und unsrer aufgeklärten Zeiten vor dem Jahrhundert der Antonine auch in diesem Stücke demüthig einzugestehen.32
Die Funktionalisierung Lukians für die Moderne wird in dieser Anmerkung sogar über einen zweistufigen Aktualisierungsprozess vorgenommen: Nach der Dienstbarmachung für die Zeit der 1760er Jahre (und damit vornehmlich für die Kritik an Auswüchsen des Katholizismus), wird Lukians Text ein zweites Mal aktualisiert, um die aus Wielands Sicht enttäuschenden Blüten des Protestantismus der Gegenwart des Schreibens, d. h. des Jahres 1788 zu kritisieren. Zeitloser und in seiner Bedeutung umfassender kann man einen antiken Text kaum deuten. Die Aktualisierung im Sinne der Aufklärung wird durch das Vorwort Ueber Lucians Lebensumstände, Charakter und Schriften vorbereitet. Wieland führt Lukian nicht nur als einen Schriftsteller ein, dessen „von neuern Schriftstellern so oft copierte und nachgeahmte Erfindungen“33 ihm bereits vor der Übersetzung einen Platz im literarischen und kulturellen Bewusstsein der Moderne gesichert haben, sondern er konkretisiert diesen Platz mit Blick auf die Funktionalisierung Lukians als Aufklärer. Ganz ähnlich wie in den oben zitierten Passagen aus Über den freyen Gebrauch der Ver_____________ 31
32 33
Vgl. etwa die Anmerkung 19 zum Alexandros, wo zum Namensschwindel des Alexander mit Hilfe eines Orakels folgendes bemerkt wird (Lucians Werke [1788], Bd. III, 178): „Ungefähr so, wie in unsern Tagen Joseph Balsamo, von Palermo, sich selbst, ohne Vermittlung eines Orakels, zum Grafen Cagliostro creirte, und in Frankreich, Deutschland, England, u. s. w. noch immer mit diesem Nahmen öffentlich decorirt wird, ungeachtet jedermann weiss, dass er sich mit eben so viel Recht für einen Abkömmling Dschingis-Kans ausgeben könnte.“ Ähnlich aktualisiert wird in der Anmerkung 48, S. 213: „Daher die Ketzergerichte und die Verfolgungen, die wir noch heutigen Tages in Ländern, wo solche Menschen die Oberhand haben, gegen die Freunde und Lehrer der Wahrheit wüthen sehen.“ Lucians Werke (1788), Bd. I, 149–150. Lucians Werke (1788), Bd. I, XXIII.
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nunft in Glaubenssachen und den Lügenfreunden zur Parallelisierung der Zeit Lukians mit dem 18. Jahrhundert formuliert er: Aber was die Zeiten unsers Autors ganz besonders charakterisiert, war ein gewisser schwindlichter Hang zur Schwärmerey, zu wunderbaren und unglaublichen Dingen, sonderlich wenn sie von Morgen herkamen, zu neuen Gottesdiensten, Mysterien, religiösen Brüderschaften, u. dergl. kurz, eine Art von epidemischer Krankheit des Menschenverstandes […].34
Hier wird deutlich, wie sehr Wieland Lukian aus der Moderne versteht bzw. verstanden wissen will. Die Verfallserscheinungen, die Lukian für das 2. Jahrhundert n. Chr. beschreibt, müssten – so Wieland – einem Zeitgenossen „beynahe unglaublich scheinen […], wenn uns ihre Möglichkeit nicht durch ähnliche Erscheinungen in unsern eigenen Tagen begreiflich gemacht worden wäre“.35 Daher lässt sich nicht nur Lukians Wirkungsabsicht im wielandschen Sinn perfekt verstehen, wenn man ihn durch die moderne Brille liest, sondern man findet in Lukian kritische Betrachtungen über die eigene Zeit des 18. Jahrhunderts. Für Wieland selbst lässt sich diese Beobachtung mit Blick auf sein literarisches Schaffen noch weiterführen: Er entdeckt mit und über Lukian zahlreiche Themen für kreative Rezeptionen, die gleichermaßen im Vorfeld und Anschluss an die Übersetzung entstehen und dem Aufklärer Lukian eine weitere Stimme, ja einen kongenialen Doppelgänger an die Seite stellen: Christoph Martin Wieland als deutschen Lukian.36 Als ein solcher hat Wieland nicht nur Lukian bei der Übersetzung „zuweilen Worte geliehen […], um seine [Lukians] Gedanken desto sichtbarer zu machen“,37 sondern konnte ihm auch in eigenen Werken Worte leihen, die Wielands Gedanken tragen. Das beste Beispiel für dieses aktualisierende Zusammenspiel zwischen antikem und modernem Lukian findet sich im erwähnten Lebensende des Peregrinus. Die bereits bei Lukian proteushaft gezeichnete Figur des Peregrinos38 macht bei Wieland gleich in der ersten Anmerkung eine weitere Metamorphose durch und wird von Wieland zu einem Schwärmer stilisiert: Da unser Autor in diesem Sendschreiben an seinen (sonst unbekannten) Freund Kronius den Charakter und das ausserordentliche Ende des sonderbarsten Schwärmers […] darstellt: so wäre es wohl überflüssig, sie der Aufmerksamkeit und dem Nachdenken des Lesers noch besonders empfehlen zu wollen.39
Das neue Verständnis von Peregrinos als ‚selbstbetrogenem Betrüger‘ bzw. Schwärmer wird von Wieland von Beginn an leserlenkend in den Text geschrieben und in den Anmerkungen kontinuierlich fortgeführt. Wie sehr der Übersetzer dabei auf ein _____________ 34 35 36
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Lucians Werke (1788), Bd. I, XXX. Lucians Werke (1788), Bd. I, 1788, XXXI. Hierzu vgl. Baumbach (2002), 89–113 mit weiterer Sekundärliteratur. Der Terminus ‚deutscher Lukian‘ für Wieland hat sich durch Johann Friedrich Degen und v. a. durch Goethe in seiner Rede Zum brüderlichen Andenken Wielands (1813) eingebürgert. Lucians Werke (1788), Bd. I, 1788, XLV. Vgl. Anm. 23. Lucians Werke (1788), Bd. III, 45 (die Hervorhebung stammt von Wieland).
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understanding mit seinen Lesern hofft, zeigt seine Anmerkung zu Kapitel 38, wo Wieland den Satz „[Peregrinos], der schon so viele Proben eines wahnsinnigen und halb verrückten Kopfes gegeben hatte“, mit den Worten kommentiert: „Diese so simpel scheinende Bemerkung hat etwas ungemein feines und richtiges zugleich, welches ich dem Leser selbst zu entwickeln überlasse.“40 Wieland geht davon aus, dass der Leser – geleitet von seinen Anmerkungen – spätestens zu diesem Zeitpunkt Peregrinos als Schwärmer erkennt. Zugleich liest sich die Bemerkung aus der Vogelperspektive auf Wielands gesamtes literarisches Schaffen wie eine vorbereitende Ankündigung seines eigenen Peregrin-Buches, zu dem er sich durch die Lektüre/Übersetzung von Lukians Werk anregen ließ und in dem er die Stilisierung des Peregrinos zum Schwärmer vollendet: Die Geheime Geschichte des Philosophen Peregrinus Proteus,41 die kurz nach der Übersetzung im Jahr 1791 erscheint und nicht nur die wielandsche Interpretation von Peregrinos in der Übersetzung durch kreative Rezeption bestärkt und verfestigt, sondern auch ein Beispiel für die langsame Emanzipation seiner Übersetzung vom Original gibt: In Wielands Dialog trifft der personifizierte Lukian auf Peregrinos und muss einen Teil der Anschuldigungen aus seinem antiken Werk zurücknehmen. Natürlich zitiert Wielands Lukianfigur seinen Text (= Lukians Lebensende des Peregrinus) dabei in Wielands Übersetzung, wodurch diese durch Lukian selbst als Referenztext fiktional nobilitiert wird. Zugleich korrigiert Lukian in Wielands Worten sein antikes Bild von Peregrinos (= Lukians Schrift), was die wielandsche Lesart von Lukian in der Übersetzung ebenso entlarvt wie es sie letztlich nobilitiert und verfestigt. Anmerkungen und Vorwort schreiben – wie angedeutet – die Moderne in die Antike herein und umgekehrt, so dass der Eindruck von Zeitlosigkeit der von Lukian beschriebenen Phänomene entsteht. Neben seiner aufklärerischen Kritik vermittelt Wielands Lukian Reflexionen über allgemein menschliche Dinge, deren Rückbindung an die Antike akzidentiell und nicht wesenhaft ist. Vor dem Hintergrund, dass die Antike für Wieland exempla bereitstellt, ohne selbst ein perfektes, in sich epochal geschlossenes exemplum zu sein, greift Wieland auch auf Lukian nicht affirmativ im Sinne einer idealisierten Vorbildlichkeit zurück. Vielmehr rechtfertigen sich die Aktualisierungen Lukians in Übersetzung und kreativer Rezeption für Wieland nicht zuletzt aufgrund der Überzeugung, dass die Antike kein einheitliches Ideal darstellt, sondern ihre Bedeutung aus der paradigmatischen Relevanz von geschichtlichen Ereignissen für die Gegenwart erhält. Phänomene wiederholen sich, und mit ihnen steigt auch die Aktualität der Schriftsteller (aller Epochen), die Zeugnis von ihnen ablegen. Die Antike ist in diesem Sinne immer schon potentiell modern, weshalb auch ein vermeintlich direkter Zugang zu ihr mittels einer Übersetzung für moderne Rezipienten möglich und nützlich zugleich ist. So gesehen brauchte Wieland Lukian auch nicht neu zu entdecken bzw. gegen den Strich zu aktualisieren, sondern Lukian selbst drängte sich einem wielandschen Rezipienten förmlich durch die ihm inhärente Aktualität auf. Dass dabei ein nachklassischer Autor aktualisiert wurde, machte _____________ 40 41
Lucians Werke (1788), Bd. III, 87. Vgl. Braunsperger (1993), 48–64, Lee (1998), 43–63 und Baumbach (2005), 208–218.
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Wieland zwar in den Augen seiner durch Winckelmann auf die archaische und besonders auf die klassische Epoche der griechischen Kultur fokussierten Zeitgenossen noch stärker zu einem – wie es Friedrich Schlegel formuliert – „negativen Klassiker“42, als er es in Goethes Farce Götter, Helden und Wieland (1773/74) durch seine kreativen Antikerezeptionen (v. a. die Alceste) bereits war, es fügt sich aber nahtlos in Wielands breiten, unidealistischen Blick auf die griechisch-römische Antike ein.
2.2 Stil: Die Übersetzung als Hippokentaur zwischen Ziel- und Ursprungssprachlichkeit Mit seiner Übersetzung will Wieland im Unterschied zu früheren Lukianübersetzungen43 sowohl Vollständigkeit als auch mehr stilistische Grazie,44 als sie die antikisierende Sprache des Lukianübersetzers Johann Heinrich Waser bot, erreichen. Hier zeichnet sich eine Tendenz Wielands zur zielsprachlichen Übersetzung ab, die in der Tradition Gottscheds eine ‚Eindeutschung‘ fremdsprachlicher Texte anstrebt. Dabei scheint sich Wieland konsequent an die Maxime gehalten zu haben, die er in seinen Anmerkungen über eine Probe einer Übersetzung des Lukrez im Jahr 1792 programmatisch formuliert hat: Eigentümlichkeiten im antiken Text wie veraltete Bilder und Metaphern dürfen sinngemäß aktualisiert und im Deutschen überflüssig erscheinende oder nicht nachahmbare Tautologien oder Stilfiguren des Griechischen weggelassen werden. Dagegen gehören ‚Verschönerungen‘ oder inhaltliche Verbesserungen nicht in den Text – mit einer Ausnahme: Auffällig sind die konsequent durchgehaltenen Ausblendungen derb erotischer Stellen, wie etwa im Asinus, sowie das Nichtübersetzen von kleineren erotischen Dialogen wie den Amores.45 Wielands Lukian ist in diesem Punkt hoffähiger geworden als der antike, wobei die Enterotisierung angesichts der eigenen zum Teil sehr erotischen Dichtungen Wielands (Urteil des Paris) wahrscheinlich der Rücksichtnahme auf zeitgenössische Konventionen und Wertvorstellungen des Lesepublikums geschuldet ist. Das Ergebnis bleibt jedoch dasselbe, zumal Wieland es sich nicht nehmen lässt, die ausgelassenen Stellen zum Teil mit Hinweisen wie „Das Original erklärt sich hier mit einer Deutlichkeit die unsere Sitten nicht ertragen könnten“, so deutlich zu markieren, dass er die Phantasie des Lesers aufzu_____________ 42 43
44 45
Vgl. hierzu auch Jaumann (1983). Die beiden umfangreichsten Übersetzungsprojekte von Lukians Werken ins Deutsche im 18. Jahrhundert waren Johann Christoph Gottscheds Sammlung Lucians von Samosata Auserlesene Schriften von moralischem, satirischen und critischen Inhalte. Durch verschiedene Federn verdeutscht, Leipzig 1745, und Johann Heinrich Waser, Lucianus. Schriften, Zürich 1769 ff. Hierzu vgl. Baumbach (2002), 98–99 u. 258–266 (Übersetzungsbeispiele aus Gottsched und Waser). Zum Begriff bei Wieland vgl. Monecke (1964), 121–147. Ähnliches lässt sich auch bei der Horaz-Übersetzung aus den Jahren 1784/85 beobachten; vgl. hierzu Fuhrmann (1986), 1092: „[…] jedwede durch erotische Direktheit oder sonstwie anstössige Stelle wurde eliminiert – durch Verwischen oder Weglassen, und im Falle der Satire 1,2, eines Plädoyers für eine möglichst umstände- und gefahrlose Triebbefriedigung, brach Wieland Übersetzung und Kommentar kurzerhand auf halbem Wege ab.“
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Manuel Baumbach
rufen, ja beinahe herauszufordern scheint, um die entstandenen Leerstellen selbst zu ergänzen.46 Hand in Hand mit Wielands Anspruch, die Bedürfnisse der Zielsprache Deutsch zu erfüllen, geht sein Bemühen, die Ursprungssprache in Stil und Wortwahl so weit wie möglich zu bewahren: „Ich habe mich seines [Lukians] Geistes, seiner Laune, seiner Genialität zu bemächtigen, und […] seine Wendungen und das Colorit seiner Schreibart nachzuahmen gesucht“, heißt es im Vorwort zur Übersetzung,47 um wenig später in einer captatio benevolentiae zu schreiben: Vielleicht hat er [Lukian] gleichwohl, durch eine zu sorgsame Bemühung, mich nicht zu weit von seiner Manier zu entfernen, nur zu oft etwas von seiner Eleganz verloren.48
Hier ist der Anspruch an eine ursprungssprachlich orientierte Übersetzung spürbar, wie ihn Breitinger gegen Gottsched formuliert hatte und wie ihn Wieland v. a. im Vorwort zu den Sokratischen Gesprächen aus Xenofons denkwürdigen Nachrichten von Sokrates (1799) formuliert, nämlich dass man die Eigenheiten des Originals als solche schätzen und wenn möglich auch in der Übersetzung abbilden sollte.49 Wie sehr Wieland zwischen diesen Polen zu vermitteln versuchte, zeigt exemplarisch eine Anmerkung zum Nigrinus, in der es heißt: Ich hoffe, vor dem Richterstuhl des Geschmacks losgesprochen zu werden, wenn mich jemand anklagen sollte, dass ich mir hier mehr Paraphrase als gewöhnlich erlaubt habe. Kenner des Originals allein können die ganze Schwierigkeit solcher Stellen fühlen, und die Unmöglichkeit einsehen, sie, ohne einen gewissen freyen Schwung, in irgend eine heutige Sprache zu übertragen – vorausgesetzt, dass man schreiben will – um gelesen zu werden.50
Dieses Oszillieren zwischen den unterschiedlichen Ansprüchen einer gelehrten Welt an eine ursprungssprachlich ausgerichtete Lukianübersetzung51 und der einer breiteren Leserschaft geschuldeten zielsprachlichen Verortung führt zu einem literarischen Hippokentauren – zumindest im Urteil seiner Zeitgenossen, in deren Augen Wieland einen ungewöhnlichen Mittelweg in der Debatte über Ziel- vs. Ursprungssprachlich_____________ 46 47 48 49
50 51
Wieland kommentiert so eine Stelle im Timon, wo bestimmte Liebesdienste von Untergebenen und Schmeichlern erwähnt werden, Lucians Werke (1788), Bd. I, 75, Anm. 29. Lucians Werke (1788), Bd. I, XLIV. Lucians Werke (1788), Bd. I, XLV. Wieland formuliert als erste Hauptregel des Übersetzens: „Mich nie von den Worten, und Redensarten, den Stellungen und Wendungen, dem Periodenbau und dem Rhythmus meines Autors […] zu entfernen, als wo und so weit es mir entweder die Verschiedenheit der Sprachen, oder mein letzter Zweck, – von dem Sinn und Geist einer Stelle nichts, oder doch so wenig als möglich, bey meinen Lesern verlohren gehen zu lassen – zur unumgänglichen Pflicht macht.“ Zitiert nach Reemtsma/Radspieler, Xenophon. Sokratische Denkwürdigkeiten (1998), 4. Lucians Werke (1788), Bd. I, 35, Anm. 17. „Die Gelehrten […] sind es, von denen ich mir die meiste Billigung und Nachsicht verspreche – wie sehr ich auch gewünscht hätte, der letztern nicht nöthig zu haben.“ Lucians Werke (1788), Bd. I, XLIV f. Ganz ähnlich äußert sich Wieland in einem Brief an Voss vom 14. März 1788, vgl. Scheibe (1996), 210–212.
Annäherungen an Wielands Lukian
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keit eingeschlagen hat. Goethe formuliert es in seiner Rede „Zum brüderlichen Andenken Wielands“ wie folgt: Es gibt zwei Übersetzungsmaximen: die eine verlangt, dass der Autor einer fremden Nation zu uns herüber gebracht werde, dergestalt, dass wir ihn als den unsrigen ansehen können, die andere hingegen macht an uns die Forderung, dass wir uns zu dem Fremden hinüber begeben sollen. Die Vorzüge von beiden sind durch musterhafte Beispiele allen gebildeten Menschen genugsam bekannt. Unser Freund, der auch hier den Mittelweg suchte, war beide zu verbinden bemüht, doch zog er als Mann von Gefühl und Geschmack in zweifelhaften Fällen die erste Maxime vor.52
Das Ergebnis dieses Mittelwegs ist eine Erfolgsgeschichte,53 die der Übersetzung ganz gegen die Erwartung ihres Autors genau den dauerhaften Erfolg sicherte, den Wieland noch im Jahr 1802 in seinem Vorbericht zur Ausgabe von Xenophons Gastmahl für eine Übersetzung eigentlich auszuschließen schien: „so lange unsere Sprache eine der Lebenden bleibt, wird eine neue Übersetzung wenigstens alle dreissig oder vierzig Jahre sogar nöthig sein.“54 Mit dieser Aussage benennt Wieland ein grundsätzliches Problem des rein zielsprachenorientierten Übersetzens, wonach gerade die sprachlich-stilistische Ausrichtung einer Übersetzung auf die Erwartungshaltung einer historisch fixierten Rezipientengruppe dem Werk durch zu erwartende Veränderung des Sprach- und Stilempfindens die Flügel stutzt. Eine Mischung der Übersetzungstechnik – so könnte man meinen – würde diesem Prozess insofern entgegentreten, als auch bei verändertem Sprachempfinden die Konstante der ursprungssprachlichen Orientierung gegeben wäre. Im Fall von Wielands Lukianübersetzung liegt der anhaltende Erfolg jedoch eher im zielsprachlichen Aspekt der Sprachwahl, da sie – was Wieland bei der Abfassung der Übersetzung und bei der Formulierung seiner Erwartungen an einen notwendigen Sprach- und Übersetzungswandel natürlich nicht wissen konnte – einem Literaturstil folgt, der bei allen Unterschieden innerhalb der deutschen Klassiker der Weimarer Zeit und trotz der unterschiedlichen Grade ihrer individuellen Wertschätzung im 19. Jahrhundert, die Schulbildung bis in das 21. Jahrhundert prägte und prägt. Aufgrund des Unterrichts in den Klassikern (zu denen nach starker Kritik in der Romantik auch Wieland gehört) sind auch heutige Rezipienten in der Lage, Wielands Lukian sprachlich-stilistisch zu genießen. Rezeptionsgeschichtlich bedeutsam ist zudem, dass der Erfolg von Nachdrucken der wielandschen Übersetzung auch dem Verzicht auf die wielandschen Paratexte, d. h. auf die Anmerkungen und das Vorwort, geschuldet ist. Zwar ist das Fehlen der Kommentare Wielands zu seiner Übersetzung, wie wir es etwa in Jürgen Werners dreibändigem Nachdruck beobachten können,55 unter historisch-philologischen Gesichtspunkten problematisch, da die Einheit der wielandschen Übersetzung mit der _____________ 52 53 54 55
Goethe, Zum brüderlichen Andenken Wielands (1813), 955 f. Zu dem Erfolg der wielandschen Übersetzung und den zahlreichen Nachdrucken bis an das Ende des 20. Jahrhunderts vgl. Baumbach (2002), bes. 226–243. Wieland, Vorbericht zur Ausgabe von Xenophons Gastmahl (1802) 77. Werner (1981).
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beabsichtigten Verzahnung von Text und Paratexten und damit ein großer Teil der wielandschen Aktualisierungsstrategien seines literarischen Hippokentaurs verloren geht;56 es trägt jedoch der historisch gewachsenen Distanz der heutigen Zeit gegenüber der Periode der Aufklärung und damit auch gegenüber einem Teil der Wirkungsintentionen Rechnung, die in Wielands Lukian als einer der möglichen historischen Konkretisationen des lukianischen Textes verankert sind.57
Primärliteratur Goethe, Johann Wolfgang von, „Zum brüderlichen Andenken Wielands“ (1813), in: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens (Münchner Ausgabe), Bd. 9, München 1987. Hemsterhuis, T./Reitz, J. F., Luciani Samosatensis opera, Amsterdam 1743. Humboldt, Wilhelm von, Briefe an Friedrich August Wolf, hg. v. Philip Mattson, Berlin/New York 1990. Lessing, Gotthold Ephraim, Werke und Briefe, Bd. 4 (1758–1759), hg. v. G. E. Grimm, Frankfurt a. M. 1977. Lukian, Werke in drei Bänden, hg. v. Jürgen Werner, Berlin/Weimar 1981. Schiller, Friedrich, Werke, Bd. 25, hg. v. E. Haufe, Weimar 1979. Schiller, Friedrich, Werke (Nationalausgabe), Bd. II,1 (Gedichte), hg. v. Karl-Heinz Hahn, Weimar 1983. Schleiermacher, Friedrich, „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“ (1813), in: Das Problem des Übersetzens, hg. v. Hans Joachim Störig, Darmstadt 1963, 38–70. Wieland, Christoph Martin, Briefwechsel, hg. von Siegfried Scheibe, Bd. 9,1, Berlin 1996. Wieland, Christoph Martin, Lucians Werke, Bde. 1–6, Leipzig 1788–89. Wieland, Christoph Martin, Sämmtliche Werke, Bd. 29, Leipzig 1797. Wieland, Christoph Martin, „Vorbericht zur Ausgabe von Xenophons Gastmahl“, in: Attisches Museum 4,1, Leipzig 1802.
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Die Ausgabe von Werner (1981) hat mit dem Vorwort des Herausgebers und eigenen Anmerkungen neue Paratexte; eine wirkungs- und rezeptionsästhetische Untersuchung dieser neuen hippokentaurischen Übersetzung Lukians bzw. Wielands wäre spannend, doch auch hier fehlen bislang aussagekräftige Rezeptionszeugnisse. Für wertvolle Anregungen danke ich den Organisatoren/innen und Teilnehmern/innen der Tagung Übersetzung antiker Literatur. Funktionen und Konzeptionen seit 1800. Ein besonderer Dank gilt Dr. Sabine Vogt, deren response meinen Vortrag um wichtige Punkte ergänzte.
Annäherungen an Wielands Lukian
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Manuel Baumbach
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Der Übersetzungsbetrieb des 18. und 19. Jahrhunderts aus soziologischer Sicht Norbert Bachleitner (Wien) Die Herausbildung eines Übersetzungs-„Feldes“ Der Übersetzungsbetrieb des 19. Jahrhunderts soll hier mit Pierre Bourdieu als Teilbereich des literarischen Feldes betrachtet werden, als Teilbereich, der zwar im Kontext der Literatur insgesamt steht, jedoch bei entsprechender Ausdifferenzierung auch eigene Feldstrukturen herausbildet. In einem literarischen Feld beziehen sich Werke bzw. Autoren aufeinander, sie positionieren sich im Feld durch Abgrenzung bezüglich Stilen und Schreibweisen voneinander, wobei sie nach den höchsten Positionen streben. Die höchsten Positionen nimmt autonome Literatur ein, d. h. solche, die sich durch genuin literarische Qualitäten auszeichnet, während Heteronomie, die Abhängigkeit von literaturfremden Zielsetzungen wie politischer oder religiöser Propaganda, im literarischen Feld verpönt ist. Die Feldtheorie kann auf zwei Ebenen angewendet werden: auf einer mikrosoziologischen Ebene werden die an der Selektion, Produktion, Distribution und Rezeption beteiligten Akteure und ihr Zusammenspiel analysiert; auf einer makrosoziologischen Ebene handelt es sich um den Austausch zwischen Literaturen qua Übersetzung, wobei die „Akteure“ die daran beteiligten Sprachen sind, die unterschiedliches Prestige besitzen und daher für asymmetrische Verhältnisse beim Austausch sorgen.1 Erste Voraussetzung für die Herausbildung von Feldstrukturen ist eine gewisse Anzahl beteiligter Akteure, in unserem Fall ein einigermaßen entwickelter Übersetzungsbetrieb. Das rapide Wachstum des Übersetzungsmarktes seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts lässt sich anhand weniger Zahlen demonstrieren: 1765 zählte man 62 Übersetzungen aus lebenden Sprachen, 1785 war ihre Zahl auf 137 angestiegen und hatte sich damit mehr als verdoppelt. 1820 waren 180 Übersetzungen allein von Romanen zu verzeichnen, 1835 zählte man 440, 1845 540, und 1850 war jeder zweite in deutscher Sprache neu erschienene Roman eine Übersetzung.2 Übersetzungen übernahmen verstärkt die Aufgabe, den Buchmarkt mit Belletristik zu versorgen. Faktoren, die diese Entwicklung unterstützen, sind:
_____________ 1 2
Näheres dazu bei Bachleitner/Wolf (2004). Vgl. dazu Bachleitner (1989), 6–8.
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technische Innovationen der Buchherstellung und eine entsprechende Verbilligung der Bücher – auch der Übersetzungsliteratur wurden einige ausgesprochen billige Reihen gewidmet; – die rechtliche Lage, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch keine systematischen Beschränkungen des Copyrights vorsieht; – neue Leserschichten; mit der Ausweitung des Publikums erschienen Übersetzungen zunehmend als Ersatz für das Original bei einem Publikum, das die Originale nicht lesen konnte; – neue Funktionen des Lesens: anstelle der Bildung tritt die Unterhaltung als Lesemotiv in den Vordergrund, dadurch werden Feldpositionen, zumindest aber Hierarchien definiert, indem die Oppositionen Kunst und Bildung (z. B. antike Literatur, die zweifellos in toto am Pol der hochgewerteten Literatur angesiedelt ist) vs. Unterhaltung und Evasion (neuere Trivialliteratur) bzw. Qualität vs. Eile beim Übersetzen für ein Gefälle an symbolischem Kapital sorgen. Ein Blick auf den Markt im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zeigt, dass bereits zwei Drittel der Übersetzungen Fabrikware waren,3 dass sich mit anderen Worten unterhalb einer dünner werdenden Schicht von Qualitätsübersetzungen auf raschen Konsum ausgerichtete Übersetzungen ausbreiteten. Auch für eilige Übersetzungstätigkeit gibt es zahlreiche Belege: Übersetzungspensa von 2 Bogen pro Tag waren keine Seltenheit, wie Briefwechsel des Vieweg-Verlags mit seinen Übersetzern belegen.4 Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wandelte sich das Profil der Übersetzer. Neben Schriftstellern und anderen Personen, die enge Verbindungen mit dem Literaturbetrieb unterhielten, übersetzten nun zunehmend auch der Literatur eher fern Stehende. Während im 18. Jahrhundert gelehrte Übersetzer vorherrschten und gelegentlich auch Sprachpädagogen, Amateure, Bibliothekare und Allerweltsliteraten übersetzten,5 fällt zunächst auf, dass die Übersetzer im 19. Jahrhundert immer häufiger anonym bleiben. Die auf den Titelblättern namentlich genannten Personen betrieben das Übersetzen oft neben eigener, mehrheitlich eher trivialer Schriftstellerei und/oder journalistischer Tätigkeit. Aber es stoßen verstärkt auch Personen aus einem literaturfernen Bereich zum Übersetzen: zum Beispiel Beamte, Lehrer in Schulen und Universitäten, auch Gouvernanten. Auffällig ist die große berufliche Mobilität dieser Menschen. Akademiker, vor allem Theologen, hatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Probleme auf dem Arbeitsmarkt, so dass Kommentatoren von einem „intellektuellen Proletariat“ sprachen.6 Nur wenige Übersetzer waren aber derart schillernde Persönlichkeiten wie Anton Edmund Wollheim da Fonseca (1810–1884), der nach einem Philosophie-, Philologie- und Geschichtsstudium nach Paris ging, in portugiesische Kriegsdienste trat, dann Bibliothekar in Kopenhagen wurde, nach einer kurzen Zwischenstation in Wien eine Professur für Sanskrit in _____________ 3 4 5 6
Siehe Vogel (1991), B 62. Vgl. Jentzsch (1989), B 88. Nach Knufmann (1967). Zit. bei Jentzsch (1989), B 85.
Der Übersetzungsbetrieb des 18. und 19. Jahrhunderts aus soziologischer Sicht
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Leipzig antrat, sich aber bald der Theaterarbeit zuwandte, unter anderem als Dramaturg in Hamburg, 1847 als Staatsdolmetsch und Translator für 11 Sprachen auftrat, dann wieder als Dozent tätig war, ehe er als Diplomat in österreichische Dienste trat. Nicht nur an diesem eher krassen Beispiel lässt sich der Übergang von professionellen Übersetzern und Kennern zu übersetzenden Dilettanten beobachten. Die infolge der Kommerzialisierung der Buchproduktion gebotene Eile bei der Herstellung führte schon in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu Gemeinschaftsarbeit, z. B. im Fall der Übersetzung von Rousseaus Nouvelle Héloise, die innerhalb von acht Wochen von zwei Übersetzern unter der Leitung von Johann Gottfried Gellius angefertigt wurde.7 Honorare setzten sich durch, insbesondere die Honorierung nach Bogen, die eine mechanische Auffassung des Schreibvorgangs und das flüchtige Übersetzen förderte. Man schrieb und übersetzte zunehmend, um damit als freier Schriftsteller seinen Lebensunterhalt zu verdienen oder aufzubessern, ein Umstand, der kritische Kommentatoren von dem „Heißhunger des Übersetzerschwarms“8 sprechen ließ. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts betrug das Honorar pro übersetztem Bogen durchschnittlich 3 Gulden; es lag damit 1 bis 2 Taler unter dem durchschnittlichen Honorar für Originalschriften,9 was bezeichnend für die bis heute anhaltende mindere Bewertung der Übersetzungstätigkeit im Vergleich zu originaler Schriftstellerei ist. Honorare waren aber stets verhandelbar; da es offenbar nicht schwer war, Übersetzer zu finden, hatten die Verleger es leicht, das Honorar zu drücken. So sind auch Honorare von 1 ½ Talern verbürgt, auf der anderen Seite der Skala hatte Wilhelm Hauff Angebote für 30 Taler pro Bogen.10 Der Lebensunterhalt für eine Person erforderte in diesem Zeitraum mindestens 100 Taler, für eine Familie mindestens 150 Taler. Zur Sicherung der Existenz genügten theoretisch zwei Romane pro Jahr, eine gutbürgerliche Lebensführung war aber erst ab 300 Talern jährlich möglich – eine Summe, die ein fleißiger Übersetzer ohne besondere Schwierigkeiten erzielen konnte.11 Das Übersetzen zum Beruf zu machen, war somit nicht ganz unattraktiv.
Johann Jakob Hottingers Kritik an den Übersetzungsfabriken Charakteristisch für die Herausbildung eines Feldes sind auch Kontroversen um die führenden Positionen, in diesem Fall um die „richtige“ Übersetzung und die legitime Übersetzungsweise. Am Beginn stehen etwa Lessings Briefe die neueste Literatur betreffend, und zwar insbesondere die Briefe zwei bis sieben (1759). Lessing polemisiert hier gegen das Übersetzen für Geld und die daraus resultierende Eile. Ein Viertel_____________ 7 8 9 10 11
Knufmann (1967), 505. Zit. bei Knufmann (1967), 513. Vgl. Jentzsch (1989), B 88. Siehe Bachleitner (1989), 30. So Jentzsch (1989), B 90, am Beispiel des im übernächsten Abschnitt näher vorgestellten G. N. Bärmann.
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jahrhundert später wurden die Zustände auf dem Buch- und Übersetzungsmarkt von Friedrich Nicolai in seiner bekannten Satire auf den Buchhandel in dem Roman Sebaldus Nothanker treffend dargestellt. In einer sachlichen Abhandlung bestätigte der Philologe und Theologe Johann Jakob Hottinger 1782 die in Nicolais Satire gezeichneten Merkmale des Übersetzungswesens. Anlass war die Übersetzung der Annalen des Tacitus durch Carl Friedrich Bahrdt. Nachdem sich Hottinger, der seit 1773 Professor in Zürich und selbst als Herausgeber und Übersetzer tätig war, genug über die jetzige „Sündflut von Uebersetzungen“, die „Uebersetzungen Rechts und Links, und von allen vier Winden her“ ereifert hat,12 bezeichnet er als Motiv für die überhitzte Übersetzungskonjunktur die „niedrige Gewinnsucht“. Das Übersetzen wird als „Taglöhnerarbeit“ betrieben; Eile treibt zu Oberflächlichkeit, denn „der Ankündigung [von Übersetzungen] jagt die Ausführung hinten auf dem Fusse nach“. Die Konkurrenz verschiedener Übersetzungen verstärkt den Zeitdruck und verhindert fruchtbare Zusammenarbeit: „Jeder will das Monopolium haben, und schimpft auf die schlechte Waare des andern; und zum Unglück haben beyde Theile recht.“13 In der Vorrede zu seiner Tacitus-Ausgabe hatte der Übersetzer angekündigt, dass er alle klassischen griechischen und römischen Geschichtsschreiber zu übertragen gedenke und dabei jährlich drei bis vier Alphabete liefern, also auf jeden Bogen drei bis vier Tage Arbeit verwenden wolle. Diese Bemerkungen sind nun Anlass für Hottinger, einen Abriss seiner Vorstellungen vom Übersetzen zu geben: Der Uebersetzer, der etwas mehr als Handlanger seines Verlegers ist, berechnet seine Arbeit nicht, sondern er wiegt sie. Für ihn, wie für den Schriftsteller giebt es glückliche Stunden, welche Tage aufwiegen, und unfruchtbare Tage und Wochen, binnen welchen er, wenn er klug ist, sein Original ruhen läßt, um es nicht zu verderben.14
Die hohe Kunst des Übersetzens verlangt neben Talent und Kenntnissen vor allem Zeit; die Inspiration lässt sich nicht zwingen, daher kann termingebundenes Übersetzen nur Stückwerk ergeben. Zudem hält sich jeder „feile Mietling, dem die Thaler seines Verlegers süsser klingen, wie das Saitenspiel des Phöbus“15, für fähig zu übersetzen. Noch sind wir Deutschen nicht von dem närrischen Wahne zurückgekommen, daß Uebersetzen ein sehr leichtes Geschäft sey. Das Gegentheil ward von unsern besten Köpfen oft gesagt und bewiesen, aber wer kehrt sich daran? Hält sich nicht jeder Sudler (ich rede itzt nicht von Herrn Bahrdt,) der nichts Erträgliches aus sich selbst hervorbringen kann, zum Uebersetzer für gut genug? Von allen Classen der federführenden Legion ist diese wol die zahlreichste, aber die Uebersetzungen der Alten, welche wir neben die guten Uebersetzungen unsrer Nachbarn mit Ehren hinstellen können, lassen sich sehr bequem an den Fingern der einen Hand berechnen.16
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Hottinger, Etwas über die neuesten Uebersetzerfabriken der Griechen und Römer (1782), 6 f. Hottinger, Etwas über die neuesten Uebersetzerfabriken der Griechen und Römer (1782), 11 f. Hottinger, Etwas über die neuesten Uebersetzerfabriken der Griechen und Römer (1782), 20. Hottinger, Etwas über die neuesten Uebersetzerfabriken der Griechen und Römer (1782), 39. Hottinger, Etwas über die neuesten Uebersetzerfabriken der Griechen und Römer (1782), 37 f.
Der Übersetzungsbetrieb des 18. und 19. Jahrhunderts aus soziologischer Sicht
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Mit viel Pathos beschwört Hottinger sein Ideal des gelehrten Übersetzers, der in der Muße der Nebenstunden seine der Antike kongenial nachempfundenen Übertragungen zu Papier bringt. Kein Verständnis kann er dabei dem zu ständiger Produktion gezwungenen „freien“ Schriftsteller bzw. Übersetzer entgegenbringen. Bereits im 18. Jahrhundert waren aber die Mehrzahl der Übersetzer professionelle Autoren.17 Auch Bahrdt hatte seine theologische Karriere Mitte der siebziger Jahre wegen seiner scharfen rationalistischen Kritik und wegen liederlichen Lebenswandels beenden müssen und fristete sein Leben fortan als freier Schriftsteller. Nicolais und Hottingers Kritik und viele analoge Stellungnahmen aus dem 19. Jahrhundert sind zu einem Gutteil Reaktion der traditionellen Ästhetik und des traditionellen gelehrten und schriftstellerischen Berufsethos auf das Eindringen der Marktgesetze in das literarische Leben, das sich auf dem Gebiet der Übersetzung besonders gut studieren lässt. In einem autonomen literarischen Feld hat aber ökonomischer Gewinn keinen hohen Stellenwert.
Die Übersetzung der Romane Walter Scotts Wenn wir im Folgenden einen Blick auf die zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts werfen, so treffen wir mit dem Siegeszug der Romane Walter Scotts auf den Ausgangspunkt einer sich in den folgenden beiden Jahrzehnten überschlagenden Übersetzungswelle. An dem Schotten führte in der deutschen Literaturszene dieser Jahre kein Weg vorbei. Der Verfasser des Waverley war der erklärte Liebling des Lesepublikums, so gut wie jeder deutsche Autor oder Kritiker nahm Stellung zu seinen Romanen. Bei den Entleihungen in den Leihbibliotheken lag Scott gemeinsam mit August Lafontaine an der Spitze, erst nach ihm reihten sich Kotzebue, Schilling, Laun, Clauren, Cramer und all die anderen Erfolgsautoren ein.18 Am Beispiel von Scotts Romanen erfuhren die Verleger erstmals, welche Gewinne mit geeigneter Übersetzungsliteratur zu erzielen waren. Neben den zahlreichen Einzelübersetzungen der Romane und Versepen erschienen bis 1827 fünf Gesamtausgaben seiner Werke, dazu kamen noch drei österreichische Nachdruckausgaben. In den zwanziger Jahren bedeutete die Scott-Übersetzung einen Wettlauf gegen die Zeit und eine Lizitation um den niedrigsten Preis. Die Gebrüder Schumann in Zwickau boten 1825 ihre neue Ausgabe zum Preis von 8 Groschen pro Bändchen an. Die Konkurrenz trieb diesen Preis aber schnell nach unten, zwei Jahre später berichtete Franckh aus Stuttgart triumphierend, dass von seiner Ausgabe um 2 Groschen bereits fast 30 000 Exemplare verkauft seien.19 Nur am Rande sei hier vermerkt, dass auch Übersetzungen antiker Klassiker in einer billigen Taschenbuchreihe erschienen, und zwar in der von Gustav Schwab zusammen mit dem Tübinger Gräzisten Gottlieb Lukas Friedrich Tafel und dem _____________ 17 18 19
Vgl. Knufmann (1967), 504. Vgl. Martino (1990), 275–288. Intelligenzblatt (1827), 8.
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Stuttgarter Gymnasialprofessor Christian Nathanael Osiander bei Metzler in Stuttgart ab 1826 herausgegebenen Reihe von Übersetzungen griechischer und römischer Prosaiker und Dichter. In der Reihe erschienen bis zu ihrem Abschluss im Jahr 1877 749 Bändchen, die in erster Linie als Schulbücher Verwendung fanden. Sie kosteten 3 bis 6 Groschen, lagen also im Bereich des modernen belletristischen Preissegments.20 Die Werke wurden „großteils von renommierten Altphilologen wie Donner, Pauly, Teuffel“ übersetzt, andererseits wurde berichtet, dass die Übersetzungen „unter Assistenz von Pfarrern und Gymnasiallehrern, von Forstmeistern und Apothekern aus dem ganzen Lande“ entstanden.21 Zurück zur Scott-Übersetzung. Auf einem Nebenschauplatz des Kampfes um buchhändlerische Marktanteile trugen die Übersetzer ihre Fehden aus. Im Hamburger Bemerker attackierte Georg Nikolaus Bärmann, der für Schumann übersetzte, die „Ballen von zwei Groschen-Uebersetzungen der Schriften Walter Scott’s, auch anderer auswärtigen Autoren, [welche] neuerdings von einer Stuttgarter UebersetzungsFabrik aus […] in den Verkehr des Meßhandels befördert werden.“ Er weist den für Franckh arbeitenden Übersetzern fehlende Zeilen und Übersetzungsfehler vor und kommt zu dem Resümee: So also, Ihr Käufer, Ihr Freunde, Ihr Beförderer, Ihr Lobhudler der Zwei-GroschenAusgaben der Uebersetzungen der Werke Scott’s, sind diese Uebersetzungen beschaffen! […] Das sind die Zwei-Groschen-Ausgaben, die eine unselige Concurrenz herbei führen! Das sind die Zwei-Groschen-Ausgaben, die Ursach wurden und sind der bittern Klagen der gebildeten Lesewelt und der Buchhändler-Gilde auf und außer der Messe! […] Das sind die Zwei-Groschen-Ausgaben, die nicht wenig geeignet sind, Walter Scott’s Genius in Deutschland in Verruf zu bringen, sobald man denselben nach ihnen zu beurtheilen sich übereilen ließe! Das sind die Zwei-Groschen-Ausgaben, die Jean Paul’s hier wohl zu wiederholenden Spruch: „Der Genius wird nur vom Genius gefasset, die edle Natur nur von ihres Gleichen!“ verketzern.22
Die Replik ließ nicht lange auf sich warten. Carl Weil, einer der angegriffenen Übersetzer zog Bärmanns Verbesserungsvorschläge zu den bekrittelten Stellen ins Lächerliche, warf ihm Konkurrenzneid vor und witterte – wohl zu Recht – eine vom Verlag Schumann lancierte Verunglimpfung der Franckh-Ausgabe. Tatsächlich hatte Bärmann recht deutlich und nicht allzu geschickt buchhändlerische Interessen durchblicken lassen. Er [Bärmann] behauptet die Buchhändlergilde (ja wohl!) auf und außer der Messe beklage sich bitterlich über die Concurrenz in der Uebersetzerwelt und über die spottwohlfeilen Zwei-Groschen-Ausgaben u. s. w. Daß sich z. B. die Hrn. Gebrüder Schumann bitterlich darüber beklagen, daß man lieber 2 als 4 Gr. zahlt, das glaube ich gern. Daß es eine ganze Uebersetzerwelt giebt, ist eine Entdeckung des Columbus-Bärmann, die mich höchlich
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Siehe dazu Fallbacher (1992), 22–23. Wittmann (1982), 395. Die Reihe setzte sich aus folgenden Abteilungen zusammen: Griechische Prosaiker in neuen Übersetzungen, 355 Bände, Römische Prosaiker in neuen Übersetzungen, 242 Bände, Griechische Dichter in neuen metrischen Übersetzungen, 75 Bände, Römische Dichter in neuen metrischen Übersetzungen, 77 Bände. Bemerker (1827), Nr. 19, 671.
Der Übersetzungsbetrieb des 18. und 19. Jahrhunderts aus soziologischer Sicht
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erfreut; das muß eine trefliche Welt seyn, wo es nur Producenten und gar keine Consumenten gibt. Aber wehe uns beiden, armen Doctoren, wieviel Honorar bekommt man denn alsdann? Und was endlich die Spottwohlfeilheit betrifft, so muß man gestehn, daß die Ausgabe der Herren Gebrüder Schumann nur wohlfeil ist, denn den Spott hat Hr. Dr. und Mag. B. für sich in die Tasche geschoben. Doch genug für 2 Groschen!23
Ohne Mühe lassen sich haarsträubende Fehler in der Mehrzahl der Übersetzungen dieser Zeit finden. Die Rezensenten spießten sie genüsslich auf, so z. B. ein anonymer Kritiker von St. Ronan’s Well in der Übersetzung von Sophie May: „a tappit hen“ (ein Krug aus Zinn) wird dort mit „eine gesottene Henne“ übersetzt, „brass hammered mansions“ (mit Türklopfern aus Messing versehene Herrschaftshäuser) mit „mit Hammerschlag glänzend beworfene Häuser der englischen Aristokraten“ usw.24 Der Wettlauf gegen die Zeit, in den die Übersetzer nicht zuletzt aufgrund der buchhändlerischen Konkurrenz verwickelt waren, führte dazu, dass die Verleger Beziehungen zu den ausländischen, vor allem zu den englischen Verlagen unterhielten und danach trachteten, die Übersetzung eines neuen Buches möglichst gleichzeitig mit dem Original, jedenfalls aber als erste auf dem deutschen Markt herauszubringen. Wilhelm Müller ereiferte sich darüber folgendermaßen: Welchen schändlichen Misbrauch treiben der deutsche Buchhandel und die deutsche Uebersetzerinnung mit den trefflichen Romanen [Walter Scotts]! – Kaum ist einer da, so stehn ein, zwei, drei, vier Buchhändler mit honorirenden Hetzpeitschen und goldenen Stacheln hinter ihren allzeit fertigen Uebersetzern, und wer der schnellste ist, der wird am besten bezahlt, also der gewissenhafteste am schlechtesten. […] Da es nun keine unübersetzte Romane von Scott mehr gibt, so werden die gut oder schlecht, einmal oder zweimal übersetzten unter neuen pretiösen Titeln als etwas Neues feilgeboten, und der begierige Leser wird, wie der Leihbibliothekar, damit betrogen. […] Ein oder mehrere Buchhändler lassen sich von dem Verleger in Edinburg oder auch durch andere Vermittelung die einzelnen Bogen des Buches schicken, und nun muß der Patent-Uebersetzer gleich an die Arbeit gehn; Bogen für Bogen wird übersetzt, in die Druckerei geschickt, ohne sonderliche Correctur abgedruckt und gefalzt. Mit dem letzten Bogen geht das Buch dann in die Welt und ist auf diese Weise gewöhnlich früher unter uns, als das englische Original, das fester gebunden wird und einen weiteren Weg hat. Aber welche Uebersetzungen gibt das! – Wir erinnern nur an die charakteristische Haltung des Tons und Ausdrucks im Dialog der Scottschen Romane, die man erst bei wiederholter Lesung fassen und würdigen kann. Wo bleibt diese? – Und überhaupt, wie vielen Misverständnissen, Zweideutigkeiten, Verdrehungen ist der Bogenübersetzer ausgesetzt, ganz abgesehen von der Eile seiner Arbeit!25
Tatsächlich gelang es den deutschen Buchhändlern, Übersetzungen gelegentlich vor der Originalausgabe fertigzustellen. Dies wurde möglich mit Hilfe von Firmen, die darauf spezialisiert waren, Fahnen oder Aushängebogen neuer englischer Werke nach Deutschland zu vermitteln. Der erste auf dem Markt zu sein, war nicht nur in geschäftlicher Hinsicht wünschenswert, sondern auch eine Verpflichtung dem Publi_____________ 23 24 25
Bemerker (1827), Nr. 24, 972. „Die Uebersetzung von St. Ronans Well“ (1824). Müller, Scottsche Romane (1823), 50.
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kum gegenüber. Hinweise auf die Vorkehrungen, die ein rasches Erscheinen der Übersetzung ermöglichen sollten, fehlten daher auch selten in den Buchanzeigen und Subskriptionseinladungen. Das Image des Übersetzers, der unter diesen Bedingungen, vor allem unter solchem Zeitdruck, arbeiten musste, war begreiflicherweise schlecht. Autoren, die schon einen gewissen Ruf erworben hatten, betrachteten das Übersetzen als lästige Verpflichtung und suchten nach geeigneten Mitarbeitern, denen sie einen Teil des Honorars abtraten. So schob Immermann die Anfang 1824 übernommene Übersetzung des Ivanhoe vor sich her. Er versuchte die befreundete Gräfin Elisa von Ahlefeldt-Lützow für die Arbeit an der Übersetzung zu gewinnen, die er dann lediglich durchsehen und mit einem Vorwort versehen wollte. Die Zusammenarbeit mit der Gräfin kam aber nicht zustande – sie übersetzte nur das erste Kapitel – und Immermann machte sich zähneknirschend selbst an die Arbeit. Scotts epische Breite verursachte ihm zunehmend „ästhetischen Ekel“: Übrigens ist die ganze Arbeit ein opus infaustum, sie macht mich hypochondrisch wenn ich daran denke, sie war mir vom Buchhändler aufgedrungen, ich habe mit dem größten Widerwillen daran geschrieben, und will froh seyn, wenn davon im Publico gar nicht geredet wird. – Mir ist der ganze Walter Scott dadurch verleidet, der sonst recht brave Sachen macht.26
Immermann sah seine eigene Arbeit durch das Übersetzen beeinträchtigt; die ScottÜbersetzung, das „Geschäft“, verdrängte die „Musen“ in die Nebenstunden. Was mich betrifft, so kann ich Ihnen leider nicht viel Neues von geistiger Fruchtbarkeit in den letzten 9 Monaten erzählen. Außer einem Bande des Ivanhoe, welchen ich übersetze, habe ich nichts gemacht, ich blicke in poetischer Hinsicht rückwärts in eine gänzliche Leere. Die Musen sind eigensinnige Wesen, sie theilen nicht mit andern Göttern, auch soll man sie zu hoch halten, als daß man sich erkühnte, ihnen in den sogenannten geschäftsfreyen Nebenstunden, ihre Gunst abzudringen.27
Das Gefälle an Prestige und symbolischem Kapital zwischen Originalschriftstellerei und Übersetzen verstärkte sich zunehmend, nachdem sich die früher selbstverständliche Personalunion von Dichter und Übersetzer aufgelöst hatte. Das originale Dichten rückte von der imitatio großer Muster ab und wurde zu einer Inspiration und Genie voraussetzenden Tätigkeit hochstilisiert, Übersetzen dagegen – parallel zur Trivialliteratur – zum Inbegriff des abhängigen, nur für Lohn getätigten Schreibens abgewertet. Obwohl sie den Anstrengungen des Übersetzens auszuweichen trachteten, waren aber auch bereits etablierte Autoren ständig bestrebt, wegen der respektablen Honorare Übersetzungen zumindest in die Wege zu leiten und als Herausgeber zu betreuen. So bemühte sich Ludwig Tieck wiederholt, seine Verleger für Übersetzungen zu gewinnen, um sie dann seiner Tochter Dorothea übertragen zu können. Schon 1817 hatte Tieck unter anderem eine Übersetzung von Scotts Waverley und Tales of my Landlord angeregt.28 _____________ 26 27 28
Immermann, Briefe (1978), 505. Immermann, Briefe (1978), 491. Vgl. Tieck, Letters (1937), 77 f.
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Das Übersetzungsrecht Das Übersetzungsrecht reagierte auf die stark ansteigende kommerzielle Bedeutung von Übersetzungen und die sich vergrößernde Kluft zwischen originalem Schreiben und Übersetzen, man könnte auch sagen, es unterstützte sie. Dabei ist zu unterscheiden zwischen dem Schutz des Originals gegen Übersetzung und dem Schutz von bestehenden Übersetzungen gegen Konkurrenz. Lange Zeit war die Übersetzung frei gewesen, weder Autor noch Verlag des Originals mussten um Erlaubnis gefragt werden. Nur der Nachdruck von Texten, auch von Übersetzungen, war verboten, allerdings konnte die Einhaltung dieses Verbots über Landesgrenzen hinweg nur selten überwacht werden. Im 18. Jahrhundert begann die Diskussion über den Schutz von Werken gegen Nachdruck und unautorisierte Übersetzung, im letzten Drittel des Jahrhunderts begegnet man ersten Maßnahmen gegen Konkurrenzübersetzungen. Einen ersten Ordnungsversuch der ungeregelten Verhältnisse brachte das Allgemeine Landrecht in Preußen: Übersetzungen, auch solche aus dem Lateinischen, wurden nun erstmals als eigenständige neue Schriften betrachtet.29 Entscheidend für diese Einschätzung war die neue Form, die ein Werk zum Original machte, während der Inhalt, die Gedanken, die bei der Übersetzung mehr oder weniger erhalten blieben, Allgemeingut waren. Autoritäten wie Cella, Kant, Fichte und von Kramer hatten die Übersetzungsfreiheit mit dem Argument gerechtfertigt, dass sich jeder der Inhalte bedienen und sie in eine neue Form bringen könne. Diese Sicht entspricht der Praxis der freien Übersetzung, die Vorlage ist frei für Übersetzung bzw. Bearbeitung verfügbar, die Übersetzung ist aber vor Nachahmung geschützt; Konkurrenzübersetzungen waren dennoch möglich – eine Ausnahme von dieser Freiheit wurde lediglich durch das so genannte Reichsche Mandat in Sachsen zwischen 1773 und 1812 herbeigeführt. Bei Übersetzungen aus antiken Sprachen wurde dieser Modus beibehalten, für lebende Sprachen wurden im Lauf des 19. Jahrhunderts auch die Vorlagen geschützt, weil man von einem fiktiven intendierten Verbreitungsgebiet ausging, Werke also als Teile von Nationalliteraturen definierte. Der Grundsatz der Übersetzungsfreiheit wurde erstmals durchbrochen durch das preußische Gesetz zum Schutze des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst vom 11. Juni 1837, das vorsah, dass sich Autoren das Übersetzungsrecht durch eine entsprechende Formulierung auf dem Titelblatt vorbehalten konnten, Übersetzungen also autorisiert werden mussten. Wenn das Original im Ausland erschienen war, musste eine Genehmigung des Originalautors bzw. seines Verlegers eingeholt werden, aber nur, wenn die Gegenseitigkeit durch einen internationalen Vertrag gesichert war. Solche Verträge wurden ab den fünfziger Jahren zwischen deutschen Staaten einerseits und England, Frankreich und anderen Staaten geschlossen. Der Übersetzungswildwuchs wurde auf diese Weise nach und nach durch Gesetze eingedämmt.30 Diese Entwicklung verlief gleichzeitig mit dem Vordringen der Idee der _____________ 29 30
Siehe Vogel (1991), B 63. Vgl. dazu Bachleitner (1989), 33–40, und Bachleitner (1990), 32–51.
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treuen Übersetzung, die eine Übersetzung zunehmend als Ersatz für das Original, und nicht als neues Werk in anderer Form erscheinen ließ.
Der übersetzerische Transfer aus soziologischer Sicht Bisher war fast ausschließlich von den Verhältnissen auf dem Übersetzungsmarkt der Zielkultur die Rede. Die Übersetzung ist aber dadurch definiert, dass sie zwei Kulturen bzw. Sprachräume verbindet. Der literarische Austausch bzw. Transfer, der beim Übersetzen vor sich geht, ist fast nie symmetrisch strukturiert, d. h. er findet nur in Sonderfällen zwischen gleichberechtigten Partnern statt. In der Regel ist eine der beteiligten Literaturen dominant, besitzt eine längere Tradition und größeres Prestige als die andere, die folglich mehr oder weniger dominiert ist. Rang („literarisches Kapital“) verleihen einer Literatur z. B. anerkannte Werke (Klassiker), ein elaboriertes Gattungssystem und ein entwickelter Literaturbetrieb. Die Übersetzung von „Klassikern“ aus dominanten Literaturen kann der übersetzenden Kultur Prestige verleihen, leitet literarisches Kapital ab. Werke aus dominanten Kulturen zu übersetzen, bedeutet immer auch, sie sich einzuverleiben, sie einzubürgern und damit zu zeigen, dass man für sie bereit und gerüstet ist.31 Aus einer makrosoziologischen Perspektive erscheint der globale Übersetzungsmarkt als ein Feld, auf dem die beteiligten Sprachen um die Vorherrschaft kämpfen. Die „toten“ Sprachen genießen hierbei eine Sonderstellung. Sie bilden sozusagen Fixpunkte und nehmen, was ihr Prestige betrifft, die höchsten Positionen ein und sind daher Lieferanten literarischen Kapitals par excellence. Das Übersetzungsprogramm des Klassizismus und noch mehr der Romantik, das nicht zuletzt die Übertragung der griechischen und römischen Literatur ins Deutsche umfasste, kann als hervorragendes Beispiel für einen solchen asymmetrischen Transfer mit literarischem Kapitalgewinn gelten. Das Deutsche war als Literatursprache trotz der Bemühungen der Barockpoeten (Opitz) und der Aufklärungspoetik (Gottsched) nicht an die europäische Spitze vorgedrungen, die vom Französischen und Englischen – und vielleicht angesichts des in der Vergangenheit erworbenen symbolischen Kapitals auch noch vom Italienischen und Spanischen – besetzt war. Die großen regionalen Unterschiede im deutschen Sprachraum waren durch die Bemühungen um eine einheitliche Hoch- und Literatursprache nur unzureichend und erst seit relativ kurzer Zeit bekämpft worden. Es fehlen genaue statistische Untersuchungen bzw. Vergleiche, aber es kann dennoch ausgeschlossen werden, dass die deutsche Literaturproduktion des 18. Jahrhunderts eine ähnliche Attraktivität und Strahlkraft wie die französische und englische erzielte. Übersetzt und stärker wahrgenommen wurden Goethe, das eine oder andere Werk von Lessing und Wieland, vielleicht auch vereinzelt Trivialliteratur (Kotzebue, Lafontaine). Die Herausbildung einer deutschen Nationalliteratur war begleitet von einer beispiellosen übersetzerischen Aneignung der Antike. Die Begleiterscheinungen dieser Aneignung sind die durch das zugeführte _____________ 31
Vgl. dazu Traduction (2002), und Casanova (1999).
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literarische Kapital ermöglichte Aufwertung der eigenen Sprache und Literatur, nicht zuletzt in Konkurrenz mit den an der Spitze der europäischen Hierarchie etablierten Literaturen. Es ist lohnend, die programmatischen Schriften zur Übersetzungsproblematik vor diesem Hintergrund neu zu lesen. Friedrich Schleiermacher spricht 1813 von einer inneren Notwendigkeit des Übersetzens für die deutsche Kultur. In der Antike und in der Neuzeit wurde meist frei übersetzt, im Sinne von Nachbildung und Paraphrase. Dagegen richtet sich Schleiermachers Polemik: Wer wollte behaupten, es sei jemals etwas weder aus den alten Sprachen noch aus den germanischen in die französische übersetzt worden! Aber wir Deutsche möchten noch so sehr diesem Rathe [beim Übersetzen auf Paraphrasen zurückzugreifen] Gehör geben, folgen würden wir ihm doch nicht. Eine innere Nothwendigkeit, in der sich ein eigenthümlicher Beruf unseres Volkes deutlich genug ausspricht, hat uns auf das Uebersezen in Masse getrieben; wir können nicht zurükk und müssen durch.32
Die innere Notwendigkeit und der Beruf des Volkes sind natürlich Mythen. In Ausgestaltung dieser Idee weist Schleiermacher darauf hin, dass die Sprache erst durch die Anreicherung mit Fremdem ihre volle Kraft entfalte. Und damit scheint zusammenzutreffen, daß wegen seiner Achtung für das Fremde und seiner vermittelnden Natur unser Volk bestimmt sein mag, alle Schätze fremder Wissenschaft und Kunst mit seinen eignen zugleich in seiner Sprache gleichsam zu einem großen geschichtlichen Ganzen zu vereinigen, das im Mittelpunkt und Herzen von Europa verwahrt werde […]. Dies scheint in der That der wahre geschichtliche Zwekk des Uebersezens im großen, wie es bei uns nun einheimisch ist.33
Für sich allein stehend ergibt eine treue Übersetzung laut Schleiermacher keinen Sinn, die Leser sollen vielmehr durch Lektüre vieler Übersetzungen gewissermaßen auf das Verständnis des Fremden trainiert werden. Ein Text soll nicht einfach nur fremd bzw. „nicht ganz einheimisch“ klingen, „sondern es muss ihm [dem Leser] nach etwas bestimmtem anderm klingen: das ist aber nur möglich, wenn er Vergleichungen in Masse anstellen kann. Hat er einiges gelesen, wovon er weiß daß es aus andern neuen und anderes aus alten Sprachen übersezt ist: so wird sich ihm wol ein Gehör anbilden, um das alte und neuere zu unterscheiden.“34 Die treue Übersetzung bedarf also systematischer Übersetzungstätigkeit, kontinuierlicher Bemühungen um Verständnis, daher sind mehrere Übersetzungen ein- und derselben Vorlage vonnöten, weil jede einzelne Übersetzung nur einen Aspekt des Originals einfängt und andere vernachlässigt. So werden gewissermaßen verschiedene Schulen unter den Meistern und verschiedene Partheien im Publikum sich bilden als Anhänger von jenen; und wiewol dieselbe Methode überall zum Grunde liegt, werden doch von demselben Werk verschiedene Ueber-
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Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1963), 69. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1963), 69. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1963), 57.
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Norbert Bachleitner sezungen neben einander bestehen können, aus verschiedenen Gesichtspunkten gefaßt […].35
Sehr schön beschreibt Schleiermacher hier, wie durch die verschiedenen Akzentuierungen bei der treuen Übersetzung, die ihrerseits gänzlich in Opposition zur freien Übersetzung tritt, Feldpositionen bezogen werden. Auch spricht Schleiermacher noch in anderem Zusammenhang von einer gewissen Eigenständigkeit des Übersetzungssektors, der „ein eigenes Sprachgebiet“ bildet, weil in Übersetzungen sprachlich „manches erlaubt sein muß, was sich anderwärts nicht darf blikken lassen“36. Die Theorie der treuen Übersetzung hob die Übersetzung ins Deutsche insbesondere von der französischen Tradition der freien Übersetzung bzw. Adaptation, den so genannten belles infidèles, ab. Die französischen Übersetzer übertrugen fremdsprachliche Originale – auch aus der Antike – mehrheitlich, indem sie sie an die heimischen ästhetischen Prinzipien (Klassizismus) und Denkformen (Rationalismus) anpassten. Das Fremde wurde eingemeindet und eingeebnet und über den einen bewährten Leisten der französischen Literatursprache und Ästhetik geschlagen. Realien und unübersetzbare Begriffe aus der Ausgangskultur wurden dabei durch mehr oder weniger entsprechende aus der Zielkultur ersetzt. In Deutschland wurde dagegen die „treue“ Übersetzung zur einzig wahren und angemessenen Art des Übersetzens hochstilisiert. Das Deutsche wurde als Sprache gepriesen, die sich besonders dazu eigne, sich an andere Sprachen und Kulturen anzuschmiegen und Fremdes in sich aufzunehmen. Aufgrund dieser (behaupteten) überlegenen Eigenschaften deutscher Übersetzungen konnte man sich zu Gute halten, einen höheren Grad an Kultur erreicht und das Deutsche zur neuen Universalsprache erhoben zu haben.37 Besonders deutlich formuliert diesen Anspruch A. W. Schlegel: [Das Deutsche] ist auf nicht geringeres angelegt, als die Vorzüge der verschiedensten Nationalitäten zu vereinigen, sich in alle hinein zu denken und hinein zu fühlen, und so einen kosmopolitischen Mittelpunkt für den menschlichen Geist zu stiften. Universalität, Kosmopolitismus ist die wahre Deutsche Eigenthümlichkeit.38
Ähnlich ging Robert Prutz in einer Sammelbesprechung von neueren SophoklesÜbersetzungen, der er einen umfangreichen Überblick über die Geschichte der literarischen Übersetzung in Deutschland voranstellte, von der durch Übersetzungen erzielten Bereicherung der Gestaltungsmöglichkeiten der eigenen Sprache und Literatur aus. Nach einer langen historischen Phase, die von der Renaissance bis ins 18. Jahrhundert reichte und während der in den deutschen Übersetzungen das stoffliche Interesse an antiken Werken vorgeherrscht habe, sei in letzter Zeit die Bedeutung der Form klar geworden. So sind wir also auf einem Standpunkte angelangt, wo mit der lebendigen Durchdringung des Alterthums auch die Form der alten Kunstwerke bis in ihre besondersten Einzelhei-
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Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1963), 58. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1963), 70. Vgl. Casanova (2002), 10–12. Zit. bei Kortländer (1995), 182.
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ten hinein uns bedeutsam, nothwendig und unentbehrlich geworden ist, und wo mit der Erkenntniß der fremden Schönheit unsre Sprache selbst die Fülle, Bildung und Schmiegsamkeit gewonnen hat, diese Schönheit wiederzugeben.
Und auch Prutz spricht sich folgerichtig für die treue Übersetzung aus, die die antiken Formen beibehält: Auf diesem Standpunkt kann die Frage, wie denn nun ferner zu übersetzen sei, ob in strengster Nachahmung der Antike, ob halb, ob ganz modernisirend, nicht wohl mehr aufgeworfen worden [sic]. Die Geschichte geht nie und nirgends rückwärts; rückwärts würde aber gehen, würde dem gesammten Entwicklungsgange unserer Litteratur Hohn sprechen und so viel mühseligste Erfahrung muthwillig verleugnen, wer noch allen Ernstes der Meinung sein könnte, die Alten seien anders zu übersetzen als in ihrer alten Form.39
Der Mythos von der Übersetzernation herrschte in intellektuellen Kreisen vor, es handelt sich um eine idealistische Sicht der Dinge, die die französische Art zu übersetzen diskreditieren und verdrängen sollte. Im Alltag des literarischen Lebens wurde aber bald heftige Kritik an dem extensiven Übersetzen laut. So formulierte etwa Hermann Marggraff um die Mitte des 19. Jahrhunderts, bezogen auf die Verhältnisse bei der Dramenübersetzung: Der unnationale, durch die politische Zerrissenheit des Vaterlandes und die Prunk- und Nachahmungssucht der Großen und Fürsten von ehemals genährte unselbständige Sinn der Deutschen begünstigt das Uebersetzungswesen ungemein […]. Da wir im Lustspiele, in kleinern Füllstücken, in der dramatisirten Zeitanekdote, wenigstens jetzt, so überaus schwach sind, so kann man allerdings den Bühnendirectoren nicht verargen, daß sie den ausländischen Vorrath benutzen; daß aber das große Magazin an der Seine von den bekanntlich meist sehr albernen und langweiligen franz. Trauerspielen und blut- und greuelvollen Melodramen an bis zur frivolsten und demoralisirtesten Hausanekdote, bis zum dramatisirten Ehebruchsscandal und pariser Straßenspektakel herab, förmlich ausgebeutet wird, ist eine Schmach für die deutsche Nation, auf welche die Franzosen hinweisend ein Recht haben, zu sagen: Seht, wir sind doch die Herren der Welt, denn wir sind Herren ihrer Bühnen!40
Das ist der merkwürdige Doppelcharakter von Übersetzungen aus soziologischer Sicht: sie können als Bewährungsprobe einer Sprache und damit einer Nationalliteratur fungieren; als wirtschaftliches Phänomen betrachtet, stehen sie aber in einem Verhältnis der Konkurrenz zur „nationalen“ Literaturproduktion. Deutlich wird auch das starke Gefälle an symbolischem Kapital zwischen der Literatur aus der Antike und der zeitgenössischen französischen Unterhaltungsliteratur, das für eine unterschiedliche Bewertung der entsprechenden Übersetzungstätigkeit sorgt.
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Prutz, Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur: Sophokles (1840), 494. Marggraff, Uebersetzung, Version, Uebersetzungsunwesen (1842), 139–41.
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Norbert Bachleitner
Primärliteratur Bemerker, Nr. 19 (Beilage zu Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz, Nr. 134), 1827, 669–671. Bemerker, Nr. 24 (Beilage zu Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz, Nr. 194), 1827, 971 f. „Die Uebersetzung von St. Ronans Well“, in: Beilage zum literarischen Conversations-Blatt Nr. 3, 21. 9. 1824. [Hottinger, Johann Jakob], Etwas über die neuesten Uebersetzerfabriken der Griechen und Römer in Deutschland, ins Besondre über den Bahrdtschen Tacitus, [Zürich] 1782. Immermann, Karl Leberecht, Briefe, hg. v. Peter Hasubek, Bd. 1 (1804–1831), München/Wien 1978. Intelligenzblatt (Beilage zum Morgenblatt für gebildete Stände) 1827, Nr. 2. Marggraff, Hermann, „Uebersetzung, Version, Uebersetzungsunwesen“, in: Allgemeines Theater-Lexikon, hg. v. R. Blum/K. Herloßsohn/H. Marggraff, Bd. 7. Altenburg, Leipzig 1842, 139–141. Müller, Wilhelm, „Scottsche Romane“, in: Literarisches Conversations-Blatt 1823, 50. Prutz, Robert, „Zur Geschichte der deutschen Uebersetzungs-Litteratur: Sophokles“, in: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 1840, 449– 454, 457–464, 465–472, 473–479, 481–488, 489–496, 502–504. Schleiermacher, Friedrich, „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens“, in: Das Problem des Übersetzens, hg. v. Hans Joachim Störig, Stuttgart 1963, 38–70. Tieck, Ludwig, Letters of Ludwig Tieck Hitherto Unpublished 1792–1853, hg. v. Edwin H. Zeydel/Percy Matenko/Robert Herndon Fife, New York 1937.
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Der Übersetzungsbetrieb des 18. und 19. Jahrhunderts aus soziologischer Sicht
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schichte 1989/3 (Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel Nr. 77, 26. Sept.), B 81–B 96. Knufmann, Helmut, „Das deutsche Übersetzungswesen des 18. Jahrhunderts im Spiegel von Übersetzer- und Herausgebervorreden“, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 9 (1967), 491–572. Kortländer, Bernd, „Übersetzen – ,würdigstes Geschäft‘ oder ,widerliches Unwesen‘. Zur Geschichte des Übersetzens aus dem Französischen ins Deutsche in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Journalliteratur im Vormärz (Forum Vormärz Forschung, Jahrbuch 1995), 179–203. Martino, Alberto, Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756– 1914), Wiesbaden 1990. Traduction: Les échanges littéraires internationaux (= Actes de la Recherche en Sciences Sociales, Nr. 144, Sept. 2002), Numéro coordonné par Johan Heilbron/Gisèle Sapiro, Paris 2002. Vogel, Martin, „Die Entfaltung des Übersetzungsrechts im deutschen Urheberrecht des 19. Jahrhunderts“, in: Buchhandelsgeschichte 1991/2 (Beilage zum Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel Nr. 49, 21. Juni), B 61–B 72. Wittmann, Reinhard, Ein Verlag und seine Geschichte. Dreihundert Jahre J. B. Metzler Stuttgart, Stuttgart 1982.
Historismus und Epigonalität. Das Übersetzungskonzept Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs Katja Lubitz (Berlin) „Meine Übersetzung will mindestens so verständlich sein wie den Athenern das Original war, womöglich noch leichter verständlich; sie will also einen Teil der Erklärung bereits liefern.“1 Diesen Leitsatz formuliert Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff im Vorwort zu seiner im Jahr 1900 erstmals gesamt publizierten Übertragung der aischyleischen Orestie. Dabei wendet er sich ausdrücklich nicht an ein humanistisch gebildetes Publikum, sondern gerade an diejenigen, „die unverdorben und meinethalben ungebildet nach dem reinen Lebenswasser einer echten Kunst dürsten“. Ihnen will er durch seine Übersetzungen die Ergebnisse seiner Wissenschaft nahe bringen. In welcher Weise Wilamowitz die an sich selbst erhobene Forderung in die Praxis umsetzt, soll ein kurzer Blick in seine Agamemnon-Übersetzung zeigen: Hurrah, hurrah, jetzt sag’ ich Agamemnons Gattin laut Bescheid.2
ruft der Wächter am mykenischen Königshof mit preußischem Elan aus, als er das lang ersehnte Feuerzeichen, das den Sieg der Griechen über Troja verkündet, erblickt. Und in freudiger Erwartung der baldigen Rückkehr des Königs wünscht er sich: Ach, könnt’ ich meines gnäd’gen Herren liebe Hand zum Willkomm einmal schütteln.3
Wenn Klytaimestra über die unterschiedlichen Empfindungen der Sieger und Besiegten vor Troja sinniert, so ist ihre Rede gespickt mit militärischen Fachbegriffen, die in einem wilhelminischen Offizier sofort Erinnerungen an eigene Kriegserlebnisse wachrufen dürften: Die Sieger suchen Frühmal, wie die Stadt es beut, sie hungert nach dem Wirrsal einer nächt’gen Schlacht. Und keiner sucht mit einem Zettel sich Quartier. Heut ist Fourier4 der Zufall, und sie machen schon in den eroberten Palästen sich’s bequem.
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Wilamowitz, Griechische Tragödien (1900), Bd. 2, 3. Aischylos, Ag. 25 f.: ἰοῦ ἰοῦ. / Ἀγαμέμνονος γυναικὶ σημαίνω τορῶς / […] Originalstellen zitiert nach West (1991). Übersetzungen s. Wilamowitz, Griechische Tragödien (1900), Bd. 2. Aischylos, Ag. 34 f.: γένοιτο δ’ οὖν μολόντος εὐφιλῆ χέρα / ἄνακτος οἴκων τῆιδε βαστάσαι χερί. Der Fourier bzw. Furier ist der für Unterkunft und Verpflegung sorgende Unteroffizier.
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Katja Lubitz Der Nachtthau und der Reif des Biwaks ist vorbei, wie große Herren können sie die ganze Nacht durchschlafen, und kein Posten wird mehr ausgesetzt.5
Neben den zackig-jovialen Formulierungen preußischer Militär- und Beamtensprache finden sich, vor allem in den Chorliedern, auch geradezu anrührende lyrische Passagen: Artemis ist nicht hold den befiederten Boten des Vaters [,κυσὶ πατρός‘], die sich zum Opfer die Häschen im Schoße der Mutter erkiesen.6
oder: Die holde Schöne, welche die hilflosen Jungen aller der Tiere des Waldes, selbst die Kätzchen der grimmen Leuen freundlich behütet […].7
Auch das Walten der griechischen Götter dürfte einem christlich geprägten Mitteleuropäer recht vertraut erscheinen: Lieder und Gebete stimmen ein in deinen Gottesdienst.8 Gott lenkt das Weltenregiment gewaltsam, doch Gott ist gütig.9 Das Auge Gottes sieht vom Himmel auf den Herrn, der milde seine Macht gebraucht, und segnet ihn.10
Natürlich handelt es sich hier um eine Bündelung von aus dem Zusammenhang gerissenen Extrembeispielen Wilamowitz’scher Übersetzungspraxis, die aber dennoch dazu geeignet sind, die Gründe für die zwiespältige Aufnahme der Tragödienübersetzungen von Wilamowitz näher zu beleuchten. Denn dass sich durchaus ein großer Teil des bürgerlichen Theaterpublikums wilhelminischer Zeit von einer derart lebensnahen Sprache angesprochen fühlte, lässt sich an dem großen Erfolg der Theateraufführungen antiker Tragödien unter Verwendung der Wilamowitz-Übertragungen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts ebenso ablesen wie an den hohen Auflagezahlen der Druckfassungen dieser Übersetzungen zwischen 1885 und 1949. _____________ 5
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Aischylos, Ag. 330 ff.: τοὺς δ’ αὖτε νυκτίπλαγκτος ἐκ μάχης πόνος / νήστεις πρὸς ἀρίστοισιν ὧν ἔχει πόλις / τάσσει, πρὸς οὐδὲν ἐν μέρει τεκμήριον, / ἀλλ’ ὡς ἕκαστος ἔσπασεν τύχης πάλον. [Herv. K. L.]. Aischylos, Ag. 134 ff.: οἴκ<τ>ωι γὰρ ἐπίφθονος Ἄρτεμις ἁγνά / πτανοῖσιν κυσὶ πατρός /
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αὐτότοκον πρὸ λόχου μογερὰν πτάκα θυομένοισιν· Aischylos, Ag. 140 ff.: „τόσον περ εὔφρων Ἑκάτα [Wilamowitz liest ἁ καλὰ] / δρόσοις ἀέπτοις μαλερῶν <λε>όντων / πάντων τ’ ἀγρονόμων φιλομάστοις / θηρῶν ὀβρικάλοισι τερπνά, / […].“ Aischylos, Ag. 105 f.: ἔτι γὰρ θεόθεν καταπνεύει / πειθώ, μολπᾶν ἀλκάν, σύμφυτος αἰών·
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Übersetzung: Wilamowitz, Griechiche Tragödien (1900), Bd. 2, 54. Aischylos, Ag. 182 f.: δαιμόνων δέ που χάρις, / βιαιίως σέλμα σεμνὸν ἡμένων. Aischylos, Ag. 951 f.: τὸν κρατοῦντα μαλθακῶς / θεὸς πρόσωθεν εὐμενῶς προσδέρκεται.
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Dass auf der anderen Seite zeitgenössische Dichter und Literaten wie Rudolf Borchardt und die Anhänger Stefan Georges heftig gegen Wilamowitz polemisierten, ist ebenfalls bekannt. Sie warfen dem als herausragenden Wissenschaftler allseits anerkannten Philologen, Inhaber des Berliner Lehrstuhls für Klassische Philologie von 1897 bis 1921, in Bezug auf seine Tragödienübertragungen mangelndes Kunstverständnis, fehlende dichterische Begabung, Anbiederung an den Publikumsgeschmack und Trivialisierung der griechischen Tragödie vor.11 Aber auch wohlmeinendere Charakterisierungen des wilamowitzschen Übersetzungsstils lassen stets ein gewisses Unbehagen durchscheinen: [E]in seltsames Gemisch von Schiller, Geibel, protestantischem Kirchenlied, spätgoethschen Rhythmen, Hebbelschem Dialog mit seltsamen Abstürzen in die Alltagssprache,12
konstatiert der Wilamowitz-Schüler Wolfgang Schadewaldt, und ganz ähnlich äußert sich auch Uvo Hölscher in seinem Wilamowitz-Aufsatz von 1965: Es gibt Partien, da schreiten wir, mit den beiden Prinzipien Geprägter Stil und Verständlichkeit, durch wechselnde Travestierungen von Faust II über Edda und Paul Gerhard zur wilhelminischen Amtssprache und zum schnoddrigen Jargon.13
Dass ausgerechnet die Tragödienübersetzungen des angesehensten Interpreten, Metrikers und Stilisten seiner Zeit, des „princeps philologorum“ – wie Wilamowitz von Eduard Norden bezeichnet wurde –, bei ihren Lesern einen derart disparaten Eindruck hinterlassen, dürfte nicht zuletzt in dessen eigener Übersetzungskonzeption begründet sein, die er ausführlich erstmals in dem Vorwort zu seiner Übersetzung des euripideischen Hippolytos von 1891 darlegte. Dieses Vorwort wurde später in überarbeiteter und erweiterter Form unter dem Titel Was ist übersetzen? im ersten Band der Reden und Vorträge publiziert.14 Außerdem erschien im Jahr 1924 eine auf vier Seiten komprimierte Fassung seiner Übersetzungsreflexionen mit dem Titel Die Kunst der Übersetzung im zweiten Band des Propyläen-Jahrbuches Der Spiegel. Die Tatsache, dass Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff sich im Gegensatz zu vielen seiner philologischen Fachkollegen selbst so intensiv als Übersetzer betätigt und sich auch theoretisch mit dem Problem des Übersetzens befasst hat, wird verständlicher, wenn man sich zunächst sein Selbstverständnis als Philologe vergegenwärtigt. Am Anfang seiner Monographie Geschichte der Philologie von 1921 wird der Gegenstand der Klassischen Philologie näher bestimmt:
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Vgl. Borchardt, Das Gespräch über Formen (1905) und Hildebrandt, Hellas und Wilamowitz (1910). Schadewaldt (1957), 636. Hölscher (1965), 7 ff. Zitiert wird hier nach der vierten umgearbeiteten Auflage der Reden und Vorträge von 1925. In den früheren Auflagen (1901, 1902 und 1913) finden sich leichte Abweichungen.
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Katja Lubitz Die Philologie, die immer noch den Zusatz klassisch erhält, obwohl sie den Vorrang, der in dieser Bezeichnung liegt, nicht mehr beansprucht, wird durch ihr Objekt bestimmt, die griechisch-römische Kultur in ihrem Wesen und allen Äußerungen ihres Lebens.15
Die Aufgabe des ‚Klassischen‘ Philologen sieht Wilamowitz nun in erster Linie darin, jenes vergangene Leben durch die Kraft der Wissenschaft wieder lebendig zu machen, das Lied des Dichters, den Gedanken des Philosophen und Gesetzgebers, die Heiligkeit des Gotteshauses und die Gefühle der Gläubigen und Ungläubigen, das bunte Getriebe auf dem Markte und im Hafen, Land und Meer und die Menschen in ihrer Arbeit und in ihrem Spiele.16
Die griechisch-römische Antike wird dabei von Wilamowitz als Einheit im Sinne eines „kulturellen Kontinuums“17 verstanden, das in etwa den Zeitraum zwischen 1200 v. Chr. und 300 n. Chr. umfasst18 und innerhalb dessen sich wiederum verschiedenste Phasen kultureller, geistiger und sozialer Entwicklung ausmachen lassen. Um diese Einheit des (antiken) Lebens in möglichst allen Facetten nachvollziehen und darstellen, d. h. wiederbeleben zu können, solle sich der Philologe der grundsätzlichen Einheit seiner Wissenschaft bewusst sein und sich auch jenseits seines sprachlich-literarischen Spezialistentums mit den übrigen altertumswissenschaftlichen Disziplinen wie Archäologie, Alter Geschichte, Epigraphik, Numismatik oder Papyrologie auseinandersetzen. In welcher Weise das Übersetzen antiker Texte zu einer ‚Wiederbelebung‘ der Antike beitragen kann, wird im Folgenden zu klären sein. Gleich im ersten Satz seiner Abhandlung Was ist übersetzen? heißt es bei Wilamowitz: „Die Übersetzung eines griechischen Gedichtes kann nur ein Philologe machen.“19 Dieses Postulat bezieht sich zunächst auf den ersten von zwei Aspekten des Übersetzens: auf das Verständnis des Originals, das der eigentlichen Übertragung in die Zielsprache vorausgehen muss. Nach Ansicht von Wilamowitz verfügt allein der Philologe sowohl über die entsprechende Sprachkompetenz als auch über das geeignete wissenschaftliche Instrumentarium zur Texterschließung, die für die Erlangung eines umfassenden Verständnisses des antiken Autors unverzichtbar sind. Der Philologe muss zunächst „durch geschichtliche Arbeit“20 sowohl die Voraussetzungen zurückgewinnen, „welche durch Raum und Zeit dem Dichter gegeben waren“21 als auch den langwierigen Prozess der Stilentwicklung von Sprache und Verskunst nachvollziehen. Erst wenn diese Arbeit der genauen historischen Verortung eines literarischen Werkes innerhalb des kulturellen Gesamtgefüges der griechisch-römischen Epoche geleistet wurde, ist der Philologe – nach Auffassung von Wilamowitz _____________ 15 16 17 18
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Wilamowitz, Geschichte der Philologie (1921), 1. Vgl. auch Wilamowitz, Philologie und Schulreform (1892), 105 f. Wilamowitz, Geschichte der Philologie (1921), 1. Henrichs (1998), 82. Vgl. Landfester (1979), 176. Zu erschließen u. a. auch aus Wilamowitz, Antike und Hellenentum (o. J.), 111–126 (das Entstehungsjahr ist weder in den Reden und Vorträgen vermerkt, noch mit Hilfe der beiden einschlägigen Wilamowitz-Bibliographien von 1929 bzw. 1991 zu ermitteln). Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 1. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 5. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 5.
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– in der Lage, dieses Werk sich und anderen interpretierend zu erschließen. Der Versuch des Philologen, sein auf diese Weise erlangtes Verständnis des Autors in seiner eigenen Sprache auszudrücken, münde dann beinahe zwangsläufig, jedoch als „weder beabsichtigtes noch vorhergesehenes“ Ergebnis der philologischen Arbeit,22 in eine Übersetzung des Werkes: Der Philologe, der sich pflichtmäßig mit aller Kraft daranmacht, das vollkommene Verständnis eines Gedichtes zu erreichen, wird unwillkürlich dazu getrieben, sein Verständnis auszusprechen, und wenn er zu sagen versucht, was der alte Dichter gesagt hat, so versucht er das in seiner eigenen Sprache, er übersetzt.23
Darüber hinaus hat der Philologe nach Ansicht von Wilamowitz einem Bildungsauftrag nachzukommen, der ihm gebietet, seine über das antike Leben gewonnenen Einsichten nicht für sich zu behalten oder allein in den Dienst der Wissenschaft zu stellen, sondern sie auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen: Wer aber einen solchen Besitz erworben hat, der soll davon mitteilen an jeden, der danach begehrt. Noblesse oblige. In dem Sinne bringe ich meine Übersetzungen vor das Publikum.24
Immer wieder betont Wilamowitz in seinen Abhandlungen und Vorträgen die Bedeutung der Griechen als Wegbereiter der europäischen Kultur und insbesondere die „tiefe innere Verwandtschaft“ von Griechen und Deutschen bzw. Germanen.25 So vertritt er auch in seiner Abhandlung Was ist übersetzen? die Auffassung, dass die Vermittlung hellenischer Dichtung nicht nur notwendige Voraussetzung für das Verständnis der eigenen kulturellen und sittlichen Werte sei, zu denen Wilamowitz in Deutschland vor allem das Christentum und das Werk Goethes zählt, sie sei vielmehr auch „eines der Mittel, die Not tun, um auf diese Weise dem“, wie Wilamowitz es ausdrückt, „sittlichen und geistigen Verfalle zu steuern, dem unser Volk immer rascher entgegen geht“.26 Mit seinem expliziten Verzicht auf den Anspruch einer Vorrangstellung der Klassischen Philologie, mit seinem Plädoyer für eine historisch-kritische Werkerschließung unter Einbeziehung auch der faktischen Lebenszeugnisse des Altertums und mit seinem vorrangigen Interesse an den sittlichen Aspekten antiker Dichtung steht Wilamowitz ganz in der wissenschaftlichen Tradition des Historismus, die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Abgrenzung zu den ästhetisch-idealistischen Wertbegriffen des Klassizismus herausgebildet hatte. Das zunehmende Interesse an der Erforschung der antiken Lebenswirklichkeit hatte auch im Bereich der Klassischen Philo_____________ 22 23 24 25
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Vgl. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 1. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 1. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 4. Wilamowitz, Griechen und Germanen (1923), 97: „Mit ihnen beginnt die Geschichte und Kultur Europas, darum ist ihre Geschichte für alle europäischen Kulturvölker ein Teil der eigenen Geschichte.“ Ebd. 107: „Wir aber sind [scil. im Ggs. zu Franzosen, Engländern, Italienern und Schweden] imstande gewesen, den Hellenen in die Seele zu sehen, weil wir Germanen waren. Denn diese tiefe innere Verwandtschaft ist auch an den Tag gekommen und wird noch deutlicher werden.“ Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 2.
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logie zu einer stärkeren Faktenorientierung, zur Einführung und Verfeinerung historisch-kritischer Forschungsmethoden sowie zur Etablierung neuer Spezialdisziplinen wie Epigraphik oder Papyrologie geführt. Vor dem Hintergrund der im Zuge dieser Entwicklung neu gewonnenen Einsichten über strukturelle Parallelen historischer Prozesse und die Autonomie historischer Einzelfakten verlor die Antike allmählich ihren herausgehobenen Stellenwert und wurde fortan als eine von zahlreichen gleichberechtigten, anhand bestimmter Merkmale identifizierbaren und durch bestimmte Kenntnisse und Methoden erschließbaren Kulturformen verstanden.27 Damit wurde es erstmals auch möglich Analogiebildungen zwischen den verschiedenen historischen Entwicklungsstadien der antiken Kultur und der neuzeitlichen europäischen Geschichte vorzunehmen. In diesem Sinne äußert sich auch Wilamowitz in seinem 1921 erschienenen Aufsatz Die Geltung des klassischen Altertums im Wandel der Zeiten: Je tiefer die Einzelforschung dringt, um so klarer erkennen wir, daß die antike Welt der modernen mit all ihrem Reichtum an Gegensätzen, an Weisheit und Torheit durchaus vergleichbar ist. Auf die klassische Kunst ist auch damals Barock, Rokoko und Klassizismus gefolgt; auch Impressionismus hat es gegeben.28
Diese Relativierung des Antikebildes wirkt sich auch auf Wilamowitz’ Übersetzungskonzeption aus. Während die Vertreter der romantisch-klassizistischen Übersetzungsrichtung wie Johann Heinrich Voss, Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schleiermacher u. a. sich in Abgrenzung zur rationalistischen Sprach- und Übersetzungsauffassung der Aufklärung darum bemühten, die aufgrund der großen zeitlichen und räumliche Distanz empfundene Fremdheit antiker Dichtung in ihren Übersetzungen sichtbar zu machen, ist Wilamowitz vor allem daran interessiert, seinen Lesern die Nähe der Antike vor Augen zu führen. Er bezeichnet die seit Ende des 18. Jahrhunderts vor allem in der Nachfolge der vossischen Homer-Übersetzungen _____________ 27
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Wilamowitz, Geschichte der Philologie (1921), 15: „Seitdem [scil. seit den Zeiten F. A. Wolfs] sind so viele Völker und Kulturen mit gleicher Liebe und gleicher Kritik erforscht, daß keine einzige mehr einen absoluten Vorrang beansprucht. Innerhalb des Altertums selbst aber ist erst durch die Unterscheidung der Zeiten ermöglicht, daß jede einzelne Erscheinung unter den Bedingungen ihres Werdens gewürdigt werden kann und so der ganze Reichtum erst entdeckt, den dieser Ablauf einer ganzen Weltperiode enthält.“ Vgl. auch Wilamowitz, Antike und Hellenentum (o. J.), 120 f.: „Indem die historische Kritik auf das Altertum angewandt ward, verschob sich sein ganzes Bild. Man lernte gewissermaßen erst perspektivisch sehen. So lange die Antike als solche klassisch war, lagen Homer und Horaz, Platon und Cicero auf einer Fläche. Das gilt noch von der Theorie, die Goethes Zeitschrift Kunst und Altertum vertrat. Er stellte die Juno Ludovisi in sein Zimmer; der Unterschied zwischen dem originalen Hellenentum und dem römischen Klassizismus ward noch nicht empfunden. […] Mit dem Aristophanes wußte man noch nichts anzufangen. Er und erst recht die Herrlichkeit des archaischen Hellenentums ist freilich erst lebendig geworden, als das Land Hellas und die unübersehbare Fülle seiner Monumente ans Licht getreten sind.“ Wilamowitz, Die Geltung des klassischen Altertums im Wandel der Zeiten (1921), 151. Vgl. dazu auch Wilamowitz, Griechen und Germanen (1923), 96: „denn wer Völkerschicksale begreifen will, muß sich an die Analogien halten, die im Laufe der Zeiten hie oder da sich bieten.“ Ebd. 97 heißt es, die „Analogie der Germanen“ helfe dabei, sich ein Bild von den Anfängen der griechischen Kultur zu machen.
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verbreitete Praxis des sogenannten Übersetzens antiker Dichtung „in den Versmaßen der Urschrift“ als „Schlendrian“29, da er in dem Bemühen um eine formbewahrende Nachbildung des Originals lediglich ein mangelhaftes Werkverständnis des Übersetzers zu erkennen meint, das auf die Vernachlässigung der notwendigen philologisch-historischen Arbeit zurückzuführen sei. Treue sei die „Tochter der Ignoranz“, merkt Wilamowitz in einer Fußnote an.30 Wer sich ein antikes Werk vollständig erschlossen habe und sich seines Verständnisses sicher sei, müsse auch in der Lage sein, dessen Inhalt „frei aus sich“31 wiederzugeben: Das ist Übersetzen; nicht mehr, aber auch nicht weniger. Es ist kein freies Dichten (ποιεῖν); das dürften wir nicht, gesetzt, wir könnten es. Aber der Geist des Dichters muß über uns kommen und mit unseren Worten reden. Die neuen Verse sollen auf ihre Leser dieselbe Wirkung tun wie die alten zu ihrer Zeit auf ihr Volk und heute noch auf die, welche sich die nötige Mühe philologischer Arbeit gegeben haben.32
Der Philologe soll den antiken Text also in der Weise wiederbeleben, dass eine der antiken Primär-Rezeption entsprechende Wirkung auf den Leser erzielt wird. Die in den Übersetzungsreflexionen des frühen 19. Jahrhunderts aufgeworfenen Grundsatzfragen der Irrationalität der Sprachen und der Untrennbarkeit von Form und Inhalt werden von Wilamowitz völlig außer Acht gelassen. In selbstverständlicher Anknüpfung an die rationalistische Sprachauffassung der Aufklärung begreift er den Übersetzungsvorgang lediglich als mathematische Operation, bei der der zu vermittelnde Inhalt ohne größere Verluste von einer Sprache in die andere transportiert werden kann: Es gilt auch hier, den Buchstaben verachten und dem Geiste folgen, nicht Wörter noch Sätze übersetzen, sondern Gedanken und Gefühle aufnehmen und wiedergeben. Das Kleid muß neu werden, sein Inhalt bleiben. Jede rechte Übersetzung ist Travestie. Noch schärfer gesprochen, es bleibt die Seele, aber sie wechselt den Leib: die wahre Übersetzung ist Metempsychose.33
Wilamowitz betrachtet die sprachlich-metrische Form eines literarischen Werkes als austauschbares Gewand eines objektiv ermittelbaren Stimmungs- und Sinngehaltes. Der „Geist“ des Dichters – seine Weltsicht und seine spezifische Art des Denkens – offenbart sich für Wilamowitz nicht, wie (noch) für die Romantiker, unmittelbar in der individuellen Gestaltung von Sprache und Form, sondern tritt erst dann zutage, wenn man ihn aus seiner jeweiligen Sprachhülle herauslöst. Da die dichterische Form für Wilamowitz eng an die jeweilige Sprachbeschaffenheit geknüpft ist, lässt sich nach seiner Auffassung eine bestimmte Aussageabsicht eines Dichters in unterschiedlichen Sprachen auch nur in unterschiedlicher Weise realisieren. Sobald eine in einer Sprache alltägliche oder volkstümliche Wendung wortwörtlich in eine andere Sprache übertragen wird, muss sie in dieser Sprache ungewohnt, fremd und gesucht _____________ 29 30 31 32 33
Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 6. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 19 Anm. 1. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 6. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 6. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 8.
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erscheinen. Dies gilt in verstärktem Maße für die Metrik: Wilamowitz hält die gesamte Entwicklung der deutschen Übersetzungstheorie und -praxis des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts für verfehlt, weil sie nicht zuletzt auf der Annahme beruhte, man könne die quantitierende Metrik des Griechischen auf die akzentuierende Metrik des Deutschen übertragen, d. h. griechische Silbenlängen und -kürzen im Deutschen durch betonte und unbetonte Silben wiedergeben.34 Auf dem Wege metrisch nachahmender Übersetzungen, deutscher Dichtungen in antiken Versmaßen oder auch theoretischer Abhandlungen über griechische Metrik und deren Übertragungsmöglichkeiten ins Deutsche35 hatten sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts Dichter und Gelehrte darum bemüht, die bis dahin auf wenige einfache Versarten (Knittelvers, Blankvers, Alexandriner) beschränkten und vor allem auf Reimbindung beruhenden poetischen Ausdrucksformen des Deutschen zu erweitern. Besonders interessiert war man dabei an der Schaffung eines deutschen Hexameters und an der Integration komplexer lyrischer Formen. Diese von Johann Heinrich Voss, Wilhelm von Humboldt oder Karl Wilhelm Ferdinand Solger unternommenen metrischen Übertragungsversuche, die sich dann u. a. auch Goethe und Schiller produktiv zu eigen machten, indem sie eigene Dichtungen in ‚antiken‘ Metren verfassten, sei durch deren zum damaligen Zeitpunkt noch unzureichendes Wissen über antike Metrik zwar erklärlich, mit dem aktuellen Stand der Forschung jedoch nicht mehr vereinbar: Große Dichter sind Könige und können einen Bastard legitimieren. Aber der Versuch, quantitierende und akzentuierende Poesie gleichzusetzen, war dennoch nur möglich, weil man die griechische Sprache und Verskunst schlechterdings nicht verstand. […] In Wahrheit gehören Sprache und Vers zusammen, und es ist ein Unding, zu griechischen Versen deutsche Sprache zu verwenden.36
Die Betonung liegt hier wohlgemerkt nicht mehr auf der postulierten Untrennbarkeit von Inhalt und Form, sondern auf der Zusammengehörigkeit von Sprache und Vers, und damit auf der Annahme, dass jede Sprache ein auf ihre besonderen syllabischen, syntaktischen und klanglichen Strukturen abgestimmtes eigenes metrisches System besitze, das sich nicht auf andere Sprachen übertragen lasse. Hat also der Übersetzer – im Sinne von Wilamowitz – aufgrund seiner philologischen und historischen Kompetenz den vom Autor intendierten Aussagegehalt durch genaue Analyse der ausgangssprachlichen Textgestalt ermittelt, so soll er diesen Aussagegehalt anschließend ohne Sinnverlust in einer der Zielsprache konformen Weise übertragen, ihn in ein neues (deutsches) Gewand einkleiden. Dabei wird das Vorhandensein äquivalenter Stilformen auf beiden Seiten, das heißt in der Ausgangs- wie in der Zielsprache, zur Voraussetzung erklärt: _____________ 34 35
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Vgl. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 10 f. Vgl. zur griechischen Metrik u. a.: Hermann, Handbuch der Metrik (1799); zur Übertragung griechischer Metren ins Deutsche u. a.: Klopstock, Von der Nachahmung des griechischen Silbenmasses (1756); Vom deutschen Hexameter (1769); Voss, Zeitmessung der deutschen Sprache (1802). Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 11.
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So steht es überhaupt: wer ein Gedicht übersetzen will, muß es zunächst verstehen. Ist diese Bedingung erfüllt, so steht er vor der Aufgabe, etwas, das in bestimmter Sprache vorliegt, mit der Versmaß und Stil auch gegeben sind, in einer anderen bestimmten Sprache neu zu schaffen, mit der wieder Versmaß und Stil gegeben sind.37
Kurioserweise führt Wilamowitz zur Bekräftigung seiner Aussage zunächst diverse Beispiele eigener, stilistisch durchaus gelungener Übertragungen deutscher Dichtungen ins Griechische an. Darunter befinden sich unter anderem eine Passage des mittelhochdeutschen Nibelungenliedes in homerische Verse – in Analogie zu Lachmanns Homer-Übersetzung in die Nibelungenstrophe –, sowie diverse Goethe-Gedichte, die je nach Aussage- und Stimmungsgehalt in die sapphische Strophe, in horazische Odenform, in griechischen Epigrammstil oder in die archilochische Epode überführt werden. Zum Beweis dafür, dass „einem Menschen, der Griechisch kann“, die wort- und formgetreue Übertragung eines deutschen Gedichtes ins Griechische „einfach bestialisch“ erscheinen müsse,38 führt Wilamowitz eine von Friedrich August Wolf verfasste Übersetzung der fünften Römischen Elegie Goethes an, der er eine eigene Übertragung desselben Gedichts gegenüberstellt. Während sich Wilamowitz bei der Wahl der Wörter und Formulierungen streng nach den für die Gattung der elegischen Dichtung üblichen sprachlich-stilistischen Konventionen richtet, liefert Wolf gewissermaßen eine wortgetreue Übersetzung des Deutschen ins Griechische, bei der ihm zahlreiche metrische, sprachliche und stilistische Fehler unterlaufen, die von Wilamowitz akribisch angemerkt werden. In der Tat wirkt Wolfs Übertragung im Vergleich mit Wilamowitz’ elegantem Stil recht dilettantisch und unbeholfen. Diesen ‚Punktvorteil‘ für das stilgerechte Übersetzen in das Griechische versucht Wilamowitz nun im Umkehrschluss auch für seine Argumentation für ein stilgerechtes Übertragen altsprachlicher Texte ins Deutsche zu nutzen, ohne allerdings zu berücksichtigen, dass die griechische Sprache im Gegensatz zur deutschen keiner lebendigen Entwicklung mehr unterliegt, sondern gleichsam auf einem sprachlich-formalen status quo fixiert ist. Mit seiner Forderung von Wirkungsäquivalenz, seiner Annahme eines von der sprachlichen Form trennbaren objektiven Sinngehaltes und dem metaphorischen Vergleich des Übersetzens mit dessen Einkleidung in ein neues Gewand knüpft Wilamowitz direkt an das Übersetzungsmodell der Aufklärung an. Dennoch soll hier bemerkt werden, dass Wilamowitz’ Übersetzungskonzeption sich zumindest in einem Punkt deutlich von der aufklärerischen unterscheidet. Während die Übersetzungstheoretiker des 18. und auch noch des frühen 19. Jahrhunderts stets den Mangel des Deutschen an poetischen Ausdrucksformen beklagten und es daher für erforderlich hielten, die eigene Ausdrucksfähigkeit durch Orientierung an antiker Dichtung zu schulen und gewissermaßen aus der Position des Schwächeren dem bewunderten Vorbild nachzustreben, stellt Wilamowitz in seiner Abhandlung selbstbewusst fest, dass die noch zur Zeit Klopstocks ungebildete und stillose deutsche _____________ 37 38
Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 13. Vgl. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 14. Ebd. Anm. 1 gibt Wilamowitz als Beispiel eine wörtlich und metrisch „treue“ Übersetzung der Anfangszeilen des Königs in Thule.
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Sprache mittlerweile ein Niveau erreicht habe, das dem der alten Sprachen vergleichbar sei und im Grunde keiner weiteren Ausbildung und Ergänzung mehr bedürfe: Als Klopstock den verhängnisvollen Schritt tat, Vergil und Horaz werden zu wollen, besaß der Deutsche weder Kultur noch gebildete Sprache noch einen auch nur ungebildeten Stil. Das zu schaffen war die Aufgabe, und die Nachahmung war das notwendige Mittel, sie zu lösen. Sie ist gelöst. Eine Anzahl großer Männer schuf uns Sprache und Stil.39
Erst in der Nachfolge der großen deutschen Dichter, gemeint sind in erster Linie die Vertreter der deutschen Klassik, ist es nach Wilamowitz’ Ansicht möglich, antike Dichtung in angemessener Weise zu übertragen, da dem modernen Übersetzer nun ein ausreichend großes Arsenal äquivalenter Ausdrucksformen zur Verfügung steht: „Ins Deutsche übersetzen heißt in Sprache und Stil unserer großen Dichter übersetzen.“40 Wilamowitz führt in seinen beiden Übersetzungs-Aufsätzen jeweils eine Reihe von Beispielen deutscher Stilformen an, die er als formale Äquivalente zur Übertragung bestimmter griechischer Stilformen für geeignet hält. Das „alte Epos“ sei „zurzeit unübersetzbar“, da das Deutsche selbst kein episches Versmaß besitze.41 Für die Übertragung attischer Chorlieder stehe der von Goethe an der Helena-Tragödie des Faust II und an der Pandora entwickelte Stil zur Verfügung,42 zur Wiedergabe der tragischen Dialogpartien eigneten sich die goetheschen Trimeter-Nachbildungen mit ihrem volltönenden Versschluss.43 Während Epigramme sich in bestimmten Fällen in Goethesche Disticha übertragen ließen, könne man für die Übertragung gesungener Poesie, Lyrik, hellenistischer und römischer Kunstpoesie keine festen Regeln aufstellen und müsse sich jeweils eine dem Stil und der Stimmung entsprechende deutsche Form suchen.44 In Analogie zur eklektizistischen Verwendung architektonischer oder ornamentaler Stilzitate in der historistischen Baukunst und Malerei des 19. Jahrhunderts kann und soll sich also auch der Übersetzer je nach Bedarf aus einem umfangreichen Reservoir vor allem goethescher Stilformen bedienen. Bewusste Übersetzerentscheidungen für eine Orientierung an bestimmten Stilvorbildern der Zielsprache in Abgrenzung zur Übernahme antiker Metren sind seit Beginn der durch Klopstocks erste Einbürgerungsversuche von Hexametern und horazischen Odenmaßen ausgelösten Diskussion über die Vorzüge und Nachteile metrischer Übertragungen in zahlreichen Übersetzungsvorworten dokumentiert. So plädierte 1771 Gottfried August Bürger, bevor er sich einige Zeit später selber einer hexametrischen Homer-Übersetzung zuwandte, für eine Wiedergabe Homers in _____________ 39 40 41 42 43 44
Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 12 f. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 13. Vgl. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 27. Vgl. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 27. Vgl. Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1925), 29. Vgl. Wilamowitz, Die Kunst der Übersetzung (1924), 156.
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fünfhebigen Iamben, die er, Herder zustimmend, als „ein natürliches deutsches Versmaß“ bezeichnete: Denn wenn Homer, ein alter Teutscher, im Zeitalter der Minnesinger, oder Luthers, frei von klassischer Schulfüchserei und poetischer Pedanterei, gelebt hätte, so hätt’ er auch – und das red’t mir keiner aus, – seine Ilias in Jamben gesungen.45
Bürgers Homer-Übersetzung sollte „nach Altertum schmecken“, daher empfahl er, vor allem die Sprache Luthers, der Minnesänger und Martin Opitz’ zu studieren. Als metrische Vorbilder werden Miltons Epos Paradise Lost von 1667 und die von Friedrich Wilhelm Zachariä verfasste epische Dichtung Cortes von 1766, beide in Blankversen, genannt. Auch Friedrich Schiller entschied sich in seiner Übertragung des zweiten Buches der vergilischen Aeneis bewusst gegen den Hexameter, der seiner Ansicht nach, „selbst nicht unter Klopstockischen und Voßischen Händen diejenige Biegsamkeit, Harmonie und Mannichfaltikeit erlangen könnte, welche Virgil seinem Übersetzer zur ersten Pflicht macht.“ Er gab schließlich der achtzeiligen Stanzenform den Vorzug, die im Deutschen seit Wielands Dichtungen Idris und Oberon als geeignetes Ausdrucksmittel für das Große, Erhabene, Pathetische und Schreckhafte etabliert sei. Während sich dann seit den überaus erfolgreichen Übersetzungsversuchen von Voss46, Solger47 oder Droysen48 im Verein mit den theoretischen Grundlegungen Schleiermachers49 und Humboldts50 die allgemeine Übersetzungstätigkeit für mehrere Jahrzehnte auf das Übertragen antiker Texte „im Versmaß des Urtextes“ verlagerte, führten schließlich der Rückgang humanistischer Bildung, das damit verbundene zunehmende Befremden im Umgang mit metrisch nachbildenden Übertragungen, das verstärkte Interesse an der Schaffung einer deutschen „Nationalliteratur“ und der allgemeine Trend zur „Einbürgerung“ ausländischer Autoren (Shakespeare, Dante), später auch das Bedürfnis, antike Tragödien für die deutschsprachige Theaterbühne zu erschließen, seit Mitte des 19. Jahrhunderts wieder zu einer verstärkten Nachfrage nach „verständlichen“ Übersetzungen. An die Stelle der Übertragung „im Versmaß des Urtextes“ traten nun verstärkt Übersetzungen antiker Dichtung „in modernen Gewande“.51 _____________ 45 46
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Bürger, G. A. Bürger an einen Freund über seine teutsche Ilias (1771), 652. Übersetzungen von J. H. Voss: u. a. Homer, Odyssee (1781); Vergil, Georgica (1789); Homer, Ilias (1793); Ovid, Metamorphosen (1798); Vergil, Aeneis (1799); Horaz, Werke (1806); Hesiod, Werke (1806); Aristophanes, Werke (1821); Properz, Werke (posth. 1830). Übersetzungen von Karl Wilhelm Ferdinand Solger: Sophokles, Werke (1808). Übersetzungen von Johann Gustav Droysen: Aischylos, Werke (1832); Aristophanes, Werke (1835– 1838). Vgl. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813). Vgl. Humboldts Einleitung zu Aeschylos Agamemnon metrisch übersetzt (1816). Vgl. ähnliche Titel: Liebesbüchlein: Ein Cyklus altrömischen Lebens in Modernem Gewande von Fritz Herz, Halle a. d. Saale [1891]. Horaz in modernem Gewande. Ein Übersetzungsversuch von Heinrich Meichelt, Professor. Beilage zum Programm des Grossh. Gymnasiums in Pforzheim, Pforzheim 1899. Die Iphigeniesage in antikem und modernen Gewande von F[riedrich] Thümen, Berlin 1895 (1. Auflage erschien 1881 als Beilage zum Programm des Gymnasiums zu Stralsund). Ausgewählte Oden des Horaz
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Als Beispiel sei das 1898 von Emil Ermatinger und Rudolf Hunziker herausgegebene Büchlein Antike Lyrik in modernem Gewande angeführt, in dessen Anhang mit dem Titel Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen sich mit Verweis auf Wilamowitz’ Übersetzungs-Aufsatz auch die folgende Feststellung findet: Unsere deutschen Dichter, vorab die Klassiker, haben in der Lyrik so viel Schönes geschaffen, daß es für einen Übersetzer nicht allzuschwer sein dürfte, für das Versmaß einer sapphischen Ode oder der Chorgesänge eines Aischylos ein deutsches Aequivalent zu finden […].52
Im 20. Jahrhundert ist dann wohl Emil Staiger der bekannteste Übersetzer antiker Dichtung, der sich explizit für ein am Stil der deutschen Klassiker orientiertes Übersetzungsverfahren ausspricht. Im Nachwort zu seiner 1958 bei Reclam erschienenen Orestie-Übertragung äußert er, „Aischylos in einem Deutsch, das wirklich deutsch ist“, vorstellen zu wollen. Dazu sei es für einen Übersetzer, „der sich keine dichterische Schöpfungskraft zutraut“ erforderlich, sich nach einem Stil umzusehen, der sich für seine Zwecke schicke. Mit der Verwendung des an Aischylos geschulten goetheschen Tragödienstils53 in der Übersetzung eines aischyleischen Dramas schließt sich für ihn gewissermaßen ein natürlicher Kreislauf: Ein Übersetzer, der aufmerksam auf den Tonfall der Goetheschen Trimeter lauscht, hat die Verse geschrieben, die hier Agamemnon, Klytaimestra, Aigisthos Kassandra, der Bote und der Wächter sprechen. Aischylos fällt damit nur wieder zu, was von ihm ausgegangen ist.54
Hatten Dichter wie Bürger oder Schiller ihre Entscheidung gegen die Übernahme des antiken Versmaßes noch in erster Linie aus rein künstlerischen Erwägungen heraus getroffen, mit der Begründung, die ursprüngliche Einfachheit des Originals auch in der Übersetzung bewahren zu wollen, und folgten die Verfechter des Übersetzens „in modernem Gewande“ am Ende des 19. Jahrhunderts häufig nur der allgemeinen Mode der Einbürgerung fremdsprachlicher Dichter, so stellt sich der Sachverhalt im Falle von Wilamowitz’ Übersetzungskonzeption schwieriger dar. Abgesehen von der grundsätzlichen Fragwürdigkeit seiner rationalistischen Sprachauffassung, die hier nicht weiter thematisiert werden soll, versucht Wilamowitz zwei einander widerstrebende Ansätze miteinander zu verknüpfen: auf der Seite der Werkerschließung fordert er die nur von einem Philologen zu leistende präzise Anwendung textkritischer Methoden unter Heranziehung aller zur Verfügung stehenden altertumswissenschaftlichen Quellen mit dem Ziel, ein möglichst umfassendes, alle Ein_____________
52 53 54
in modernem Gewande, übers. von Edmund Bartsch, Sangerhausen 1907. Antike Märchen in modernem Gewande, Käethe Roese-Strang, Jena 1921. Die schönsten Verwandlungen des Ovid in modernem Gewande von Wilhelm Ebel, Breslau 1933. Perlen griechischer und römischer Lyrik in modernem Gewande von Wilhelm Ebel, Breslau 1933. Dieses Verfahren konnte sogar bis zu einem völligen Unkenntlichmachen des antiken Ursprungs gehen, wie der Titel der 1893 von Hermann Stegemann (Pseud. Hermann Sentier) herausgegebenen Horaz-Übersetzung andeutet: Des Horatius schönste Lieder. Der Antike entrückt und verdeutscht zu Nutz und Frommen der Poesie. Ermatinger/Hunziker, Antike Lyrik in modernem Gewande (1898), 69. Vgl. v. a. Goethes Pandora und die Helena-Tragödie in Faust II. Staiger, [Nachwort zu] Die Orestie (1958), 155.
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zelaspekte berücksichtigendes Werkverständnis zu erlangen. Auf der Seite der Vermittlung des Verstandenen soll dagegen das Prinzip der Stiläquivalenz zur Anwendung kommen, das bei Wilamowitz auf eine Übertragung der vielfältigen, unter verschiedensten Bedingungen entstandenen Ausdrucksformen antiker Dichtung in ein epigonales, an den deutschen Klassikern orientiertes Formensystem hinausläuft. Dem historistischen Prinzip der objektiven Annäherung, das naturgemäß darauf ausgerichtet ist, das ästhetisch überhöhte Antikebild des Idealismus zu relativieren und den Blick des Wissenschaftlers verstärkt auf die antike Lebenswirklichkeit zu lenken, muss ein Übersetzungsansatz, der die Sprache Goethes und Schillers zum zielsprachlichen Vorbild erhebt, zwangsläufig entgegenstehen. Anders als Wilamowitz’ Beharren auf der Anwendung historisch-kritischer Texterschließungsmethoden zunächst vermuten lässt, können neue wissenschaftliche Erkenntnisse über Werk und Autor und damit ein neues, wissenschaftlich fundiertes und aktualisiertes Antikebild auf dem Wege der Übersetzung kaum vermittelt werden. Anstatt den antiken Autor auf dem Wege der Übersetzung von überkommenen klassizistischen Anschauungen zu befreien, versetzt Wilamowitz ihn vielmehr in ein keineswegs modernes, geschlossenes, undynamisches und vor allem klassizistisch aufgeladenes Sprachund Formensystem, das der angestrebten ‚Verlebendigung‘ der Antike entgegenstehen muss und letztlich wiederum nur dazu geeignet erscheint, dem modernen Leser den antiken ‚Klassiker‘ im ebenbürtigen Gewand des deutschen ‚Klassikers‘ vorzuführen. Und selbst eine zufriedenstellende Realisierung dieses Konzepts erscheint nahezu unmöglich, da es dem Übersetzer eine äußerst selten anzutreffende Doppelkompetenz abverlangen muss: historisch-philologische Fachkompetenz im Hinblick auf das genaue Erfassen des dichterischen Ausdruckswillens des antiken Autors und zugleich poetisch-schöpferische Begabung im Hinblick auf die adäquate Umsetzung dieses Ausdruckswillens in eine sprachliche Form, die sich an der Qualität goethescher Dichtung messen lassen kann. Dass Wilamowitz’ Übertragungen zumindest auf einer der beiden Seiten durchaus noch Wünsche offen lassen, wurde bereits zu Beginn angedeutet.
Primärliteratur Aischylos, Ag. = Aeschyli Agamemnon, ed. Martin L. West, Stuttgart 1991. Borchardt, Rudolf, Das Gespräch über Formen (1905), in: Gesammelte Werke in Einzelbänden, hg. v. Marie Luise Borchardt/Ernst Zinn, Prosa I, Stuttgart 1957, 328–373. Bürger, Gottfried August, „G. A. Bürger an einen Freund über seine teutsche Ilias“ (1771), in: Sämtliche Werke, hg. v. Günter Häntzschel/Hiltrud Häntzschel, München/Wien 1987, 646–661. Ermatinger, Emil/Hunziker, Rudolf, Antike Lyrik in modernem Gewande. Mit einem Anhang: „Die Kunst des Übersetzens fremdsprachlicher Dichtungen“, Frauenfeld 1898.
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Katja Lubitz
Hildebrandt, Kurt, „Hellas und Wilamowitz (Zum Ethos der Tragödie)“, in: Jahrbuch für die geistige Bewegung 1 (1910), 64–117. Humboldt, Wilhelm von, [Einleitung zu] Aeschylos Agamemnon metrisch übersetzt (1816), in: Gesammelte Schriften, hg. v. Albert Leitzmann, Bd. 8, Berlin 1909, 119–146. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“ (1813), in: Kritische Gesamtausgabe, 1. Abteilung, Bd. 11, Berlin 2002, 67–93. Solger, Karl Wilhelm Ferdinand, Des Sophokles Tragödien, Berlin 1808. Staiger, Emil, Die Orestie. Deutsch von Emil Staiger. Mit einem Nachwort des Übersetzers (1958), (Reclams Universal-Bibliothek; 508), Stuttgart 31987. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „was ist übersetzen?“ [sic], [Vorwort zu] Euripides Hippolytos griechisch und deutsch, Berlin 1891. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „Philologie und Schulreform“ (1892), in: Reden und Vorträge, 3. verm. Auflage, Berlin 1913, 98–119. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, Griechische Tragödien, Bd. 2, Orestie, Berlin 1900. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „Die Geltung des klassischen Altertums im Wandel der Zeiten“ (1921), in: Kleine Schriften Bd. 6, Berlin/Amsterdam 1972, 144–153. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, Geschichte der Philologie (1921), mit einem Nachwort und Register von Albert Henrichs, 3. Auflage, Neudr. d. Erstauflage v. 1921, Stuttgart/Leipzig 1998. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „Griechen und Germanen“ (1923), in: Reden und Vorträge Bd. 2, 4. umgearb. Auflage, Berlin 1926, 95–110. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „Die Kunst der Übersetzung“ (1924), in: Kleine Schriften Bd. 4, Berlin/Amsterdam 1972, 154–157. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „Was ist übersetzen?“ (1925), in: Reden und Vorträge Bd. 1, 4. umgearb. Auflage, Berlin 1925, 1–36. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „Antike und Hellenentum“ (o. J.), in: Reden und Vorträge Bd. 2, 4. umgearb. Auflage, Berlin 1926, 111–126.
Sekundärliteratur Henrichs, Albert, [Nachwort zu] Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Geschichte der Philologie. Mit einem Nachwort und Register von Albert Henrichs, 3. Auflage, Neudr. d. Erstauflage v. 1921, Stuttgart/Leipzig 1998, 81–93. Hölscher, Uvo, „Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff“, in: Die Chance des Unbehagens, Göttingen 1965,7–30. Landfester, Manfred, „Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff und die hermeneutische Tradition des 19. Jahrhunderts“, in: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften, hg. v. Hellmut Flashar/Karlfried Gründer/Axel Horstmann, Göttingen 1979, 156–180.
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Schadewaldt, Wolfgang, „Antike Tragödie auf der modernen Bühne. Zur Geschichte der Rezeption der griechischen Tragödie auf der heutigen Bühne“ (1957), in: Hellas und Hesperien. Gesammelte Schriften zur Antike und zur neueren Literatur in zwei Bänden, zweite, neugestaltete und vermehrte Ausgabe unter Mitarb. v. Klaus Bartels, hg. v. Reinhard Thurow/Ernst Zinn, Bd. 2, Zürich/Stuttgart 1970, 622–650.
Shakespeare als deutscher Klassiker – die deutschen Übersetzungen von Shakespeares Sonetten zwischen institutioneller Monumentalisierung, nationaler Identitätsfindung und privatem Lesevergnügen Gesa Horstmann (Berlin) I. Shakespeare als deutscher Klassiker Seht, heut’ gesellt, im heil’gen Bund der Dritte, Zu Deutschlands Dioskuren sich der Brite, Auch er ist unser, so ruf’ ich jubelnd aus, Am Shakespeare-Fest im Goethe-Schiller-Haus!1
Dass der englische Barde Shakespeare im Verein mit Goethe und Schiller zum Triumvirn deutscher Klassik avancieren konnte, wie 1864 der Shakespeare-Übersetzer Franz von Dingelstedt in dem Prolog zu seinen Shakespeare-Inszenierungen, die die Gründungsfeierlichkeiten der Shakespeare-Gesellschaft in Weimar begleiteten, emphatisch verkündete, offenbart die Wirkungsmacht von Übersetzungen. Anhand der Geschichte der deutschen Übersetzungen, speziell der deutschen Übertragungen von Shakespeares 1609 erschienener Sammlung von 154 Sonetten soll in der vorliegenden Abhandlung die Apotheose des britischen Dichters zum deutschen Klassiker und Kultobjekt nachgezeichnet werden. 1797 schreibt der wohl prominenteste deutsche Shakespeare-Übersetzer, August Wilhelm Schlegel, in einem Brief an Ludwig Tieck, der eine breit angelegte Studie zum Shakespeareschen Werk plant: Ich hoffe, Sie werden in Ihrer Schrift unter anderm beweisen, Shakespeare sey kein Engländer gewesen. Wie kam er nur unter die frostigen, stupiden Seelen auf dieser brutalen Insel? Freylich müssen sie damals noch mehr menschliches Gefühl und Dichtersinn gehabt haben, als jetzt.2
Moderater klingt der Ton in Schlegels richtungsweisendem Aufsatz Etwas über William Shakespeare bey Gelegenheit Wilhelm Meisters, der ein Jahr zuvor in Schillers Horen erschienen war: Man darf kühnlich behaupten, daß er nächst den Engländern keinem Volke so eigentümlich angehört wie den Deutschen, weil er von keinem im Original und in der Kopie so
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Dingelstedt, Sämtliche Werke (1877), Bd. 9, 43. Lohner (Hg.), Ludwig Tieck und die Brüder Schlegel. Briefe, 23.
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Gesa Horstmann viel gelesen, so tief studiert, so warm geliebt, und so einsichtsvoll bewundert wird […] er ist uns nicht fremd: wir brauchen keinen Schritt aus unserm Charakter herauszugehen, um ihn ganz unser nennen zu dürfen.3
In Schlegels Äußerungen zum deutschen Shakespeare formieren sich zwei Topoi, die die deutsche Shakespeare-Rezeption kontinuierlich durch das 19. Jahrhundert begleiten werden: Zum einen die grundlegende Annahme einer geistigen Verwandtschaft zwischen Shakespeare und den Deutschen,4 die im 19. Jahrhundert zur „Stammverwandtschaft“ verdichtet und national instrumentalisiert wird;5 zum anderen die Proklamation einer exponierten Stellung der Deutschen, sich als erste des Dichters wahrhaft angenommen und so per geistigem Verdienst Eigentumsrechte erworben zu haben. Schlegel – so muss hier festgehalten werden – geht es nicht um das Verkünden nationaler Überlegenheit, auch wenn eine nationale Vereinnahmung sich anzukündigen scheint und Schlegel mit seiner Übertragung Shakespeare gleichsam zu einem „alten Deutschen“ zu machen sucht.6 Die Zielsetzung frühromantischer Übersetzung ist national nur insofern, als diese in ein geschichtsphilosophisch fundiertes universalistisches Bezugssystem eingebettet ist.7 Nur vor dem Hintergrund der _____________ 3
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A. W. Schlegel, Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters (1796), 38. In beiden Äußerungen Schlegels zum deutschen Shakespeare klingt unüberhörbar der Enthusiasmus mit, der das Projekt der übersetzerischen Großtat, erstmals den gesamten Shakespeare in poetischer Übersetzung Gestalt annehmen zu lassen, in den Anfängen begleitete: 1796/97 erschienen die ersten Übersetzungsproben in den Horen, Ostern 1797 der erste Band der Schlegelschen ShakespeareÜbersetzung, der den Sommernachtstraum und Romeo und Julia enthält; bis 1801 entstehen sieben weitere Bände, danach ruht das Unternehmen für neun Jahre; 1810 erscheint der neunte und letzte Band, nach dessen Veröffentlichung das übersetzerische Unternehmen in die Hände Ludwig Tiecks übergeht und unter dessen Redaktion 1825–33 zu Ende geführt wird. Die Konstruktion einer geistigen Verwandtschaft hat bereits zu Schlegels Zeit Tradition, greift Schlegel doch auf ein Paradigma zurück, das schon Lessing in seinem vielzitierten und als Initiation der deutschen Shakespeare-Rezeption gefeierten 17. Literaturbrief formuliert hatte. Dieser Ausdruck findet sich in dem Vorwort Friedrich Bodenstedts zu der von ihm herausgegebenen Shakespeare-Übersetzung; Bodenstedt, William Shakespeare’s Dramatische Werke (1867–1872), Bd. 38, 1. Schlegels Abhandlung ist weniger eine kritische Erörterung von Goethes Bildungsroman als vielmehr eine ausführliche Darstellung und Rechtfertigung seiner übersetzerischen Maximen. In diesem Zusammenhang spricht Schlegel von der leitenden Absicht, Shakespeare zu einem „alten Deutschen“ zu machen, Shakespeare in die „Sprache unsrer biedern Vorältern“ zu übertragen, einer Sprache mit einem „ganz leichten Anstrich des Alten in Wörtern und Redensarten“, die „das Gepräge der damaligen noch einfältigeren Sitten“ vergegenwärtigen soll und „solche Wörter und Redensarten, welche unsre heutige Verfeinerung bloß zu ihrem Behufe ersonnen“ meidet. Schlegel, Etwas über William Shakespeare bei Gelegenheit Wilhelm Meisters (1796), 63. Die universalistische, kosmopolitische Ausrichtung wird in den frühromantischen Übersetzungstheorien als das genuin Nationale, als der „eigenthümliche Beruf“ der Deutschen ausgemacht. Am eindrücklichsten formuliert findet sich dies in Friedrich Schleiermachers Abhandlung Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1813), 243 f. Die entsprechende Passage lautet: „Eine innere Nothwendigkeit, in der sich ein eigenthümlicher Beruf unseres Volkes deutlich genug ausspricht, hat uns auf das Uebersezen in Masse getrieben; wir können nicht zurükk und müssen durch. Wie vielleicht erst durch vielfältiges Hineinverpflanzen fremder Gewächse unser Boden selbst reicher
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frühromantischen Konzeption von Dichtung und Übersetzung als progressiver Universalpoesie, die die Übersetzung vom Stigma des Zweitrangigen befreite und als Dichtung der Dichtung zur Gattung par exellence avancieren ließ,8 erschließt sich der eigentliche Sinn des vielzitierten Lobes, das Novalis dem Dichterfreund Schlegel anlässlich des Erscheinens des ersten Bandes der Shakespeare-Übersetzung brieflich übermittelt: Übersetzen ist so gut dichten, als eigene Werke zustande zu bringen und schwerer, seltener. Am Ende ist alle Poesie Übersetzung. Ich bin überzeugt, daß der deutsche Shakespeare jetzt besser als der englische ist.9
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und fruchtbarer geworden ist, und unser Klima anmuthiger und milder: so fühlen wir auch, daß unsere Sprache, weil wir sie der nordischen Trägheit wegen weniger selbst bewegen, nur durch die vielseitigste Berührung mit dem fremden recht frisch gedeihen und ihre eigne Kraft vollkommen entwikkeln kann. Und damit scheint zusammenzutreffen, daß wegen seiner Achtung für das fremde und seiner vermittelnden Natur unser Volk bestimmt sein mag, alle Schätze fremder Wissenschaft und Kunst mit seinen eignen zugleich in seiner Sprache gleichsam zu einem großen geschichtlichen Ganzen zu vereinigen, das im Mittelpunkt und Herzen von Europa verwahrt werde, damit nun durch Hülfe unserer Sprache, was die verschiedensten Zeiten schönes gebracht haben, jeder so rein und vollkommen genießen könne, als es dem Fremdling nur möglich ist. Dies scheint in der That der wahre geschichtliche Zwekk des Uebersezens im großen, wie es bei uns einheimisch ist.“ Auch Schlegels Übersetzungskonzeption ist derart geschichtsphilosophisch fundiert und universalistisch ausgerichtet. 1799 schreibt Schlegel in der Zeitschrift Athenäum: „Nur die vielseitige Empfänglichkeit für fremde Nazionalpoesie, die womöglich bis zur Universalität gedeihen soll, macht die Fortschritte im treuen Nachbilden von Gedichten möglich. Ich glaube man ist auf dem Wege, die wahre poetische Uebersetzungskunst zu erfinden; dieser Ruhm war den Deutschen vorbehalten. [… ] Es ist seit kurzem hierin so viel und mancherley geschehen, daß vielleicht schon Beyspiele genug vorhanden sind, um an ihnen nach der Verschiedenheit der möglichen Aufgaben das richtige Verfahren auf Grundsätze zurückzuführen; und ich will ihnen nur gestehen, ich gehe mit einem solchen Versuche um. Freylich wäre mit der bloßen Theorie wenig geholfen, wenn man nicht die Kunst selber besitzt, ich arbeite daher, mir diese zu erwerben. [… ] Meine Absicht ist, alles in seiner Form und Eigenthümlichkeit poetisch übersetzen zu können, es mag Namen haben wie es will: antikes und modernes, klassische Kunstwerke und nazionale Naturprodukte.“ A. W. Schlegel, Nachschrift des Uebersetzers an Ludwig Tieck anlässlich einer Übersetzungsprobe aus Ariosts Stanzenepos Der rasende Roland (1799), 280 f. Was sich romantische Poesie im Sinne einer progressiven Universalpoesie erst vornehmen muss, nämlich die poetische Reflexion immer wieder zu potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln zu vervielfachen, wie Friedrich Schlegel in dem 116. Athenaeums-Fragment ausführt, das eignet der poetischen Übersetzung als Dichtung der Dichtung, als dichterische Neuformung des dichterisch bereits Gestalteten nach frühromantischem Verständnis von vornherein. Vgl. Friedrich Schlegel, 116. Athenaeums-Fragment (1798), 28 ff. Novalis, Werke, 237. Die den oben zitierten vorausgehenden Sätze zeigen einmal mehr die der frühromantischen Übersetzungskonzeption eigene Verbindung des Nationalen mit einer kosmopolitisch-universalistischen Ausrichtung: „Deutschheit ist Kosmopolitismus mit der kräftigsten Individualität gemischt. Nur für uns sind Übersetzungen Erweiterungen gewesen. Es gehört poetische Moralität, Aufopferung und Neigung dazu, um sich einer wahren Übersetzung zu unterziehen. – Man übersetzt aus echter Liebe zum Schönen und zur vaterländischen Literatur.“ Friedmar Apel schreibt zu Novalis Einschätzung von Schlegels Übertragung: „Den deutschen Shakespeare kann Novalis als besser als den englischen bezeichnen, weil darin – nach seiner Meinung – der Geist Shakespeares ebenso wohl enthalten ist, als die Individualität des zeitgenössischen Dichters zum Ausdruck kommt: weil darin das Alte und das Neue zu einem Kontinuum der Formen unauflöslich
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Eine dezidiert nationale Vereinnahmung Shakespeares wird erst im weiteren Verlauf des 19. Jahrhunderts betrieben,10 in dem zwischen Deutschland und England ein Wettlauf um die nationale Monumentalisierung entbrennt. Dass gerade die Shakespeareschen Sonette im 19. Jahrhundert im Kontext der Apotheose Shakespeares zum deutschen Klassiker eine so zentrale Rolle zu spielen vermögen, mag zunächst überraschen, war die rationalistische Shakespeare-Kritik des 18. Jahrhunderts in England und Deutschland doch von dem ästhetischen Unwert der den rhetorischen Mustern der Elizabethanischen Sonettmode verpflichteten Gedichte überzeugt und widmete sich diesen nur in Nebenbemerkungen. Noch um 1800 schrieb der englische Shakespeare-Herausgeber Steevens, dass nicht einmal die strengste Parlamentsakte in der Lage sei, Shakespeares Sonetten eine Leserschaft zu bescheren.11 Seit ihrer romantischen Wiederentdeckung galten Shakespeares Sonette als höchst private Zeugnisse; die Losungsworte William Wordsworths: „With this key Shakespeare unlocked his heart“12, bringen das emphatische Verständnis der Shakespeareschen Gedichte als Bekenntnisse prägnant zum Ausdruck. Das 19. Jahrhundert wird – gestützt auf diese biographische Lesart als Erlebnislyrik – mithilfe der Sonette _____________
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und ohne den Bruch, der als Reflexion wie Erinnerung des Verlorenen alle Werke der romantischen Poesie kennzeichnet, verschmolzen sind. So illustriert Übersetzung in hervorragender Weise die romantische Theorie der Idee der Kunst als dem Ausdruck von Einheit und Unendlichkeit zugleich, deren Hauptbestimmung die Progressivität ist.“ Apel (1982), 100. Die erste Etappe der nationalen Vereinnahmung Shakespeares findet sich in den theoretischen Explikationen der Generation des Vormärz. So greift beispielsweise Georg Gottfried Gervinus in seiner Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen (1840–1844) die bereits von August Wilhelm Schlegel formulierten Topoi auf und instrumentalisiert dessen Übersetzung, um den Mythos einer germanischen Kulturtradition zu begründen. „Und derselbe Mann, der uns zuerst die Feuerwerke des spanischen Dramatikers lehrte, übersetzte uns damals zur gleichen Zeit eine Reihe von Schauspielen des Shakespeare [… ], die den Ruhm des Dichters und des Uebersetzers zugleich erst recht ausgebreitet unter uns haben, die uns den britischen Tragöden mit allen seinen Eigenheiten dennoch wie einen der Unseren, in dem wir germanisches Fleisch und Blut mit uneigennütziger Freude begrüßten, nahe rückten, so daß er nun in zahllosen Auflagen und Übersetzungen bei uns gelesen wird, und daß wir uns mit Recht gegen sein Vaterland rühmen, ihm sei erst seine volle Anerkennung bei uns zu Theil geworden. Auch gegen diese Uebersetzung Schlegel’s war die voßische Genauigkeit eine unzeitige Opposition.“ Gervinus, Geschichte der poetischen Nationalliteratur der Deutschen, Bd. 5, 633. In direktem Anschluss an sein Lob für Schlegels eindeutschende Übersetzung folgt die strikte Ablehnung der eher verfremdenden Übertragung von Shakespeares Werken durch Johann Heinrich Voss und dessen Söhne Heinrich und Abraham Voss, die als „unzeitige Opposition“ verworfen wird. In dieser Gegenüberstellung wird die für das 19. Jahrhundert dominante Tendenz erkennbar, dass nur dem Übersetzer Erfolg beschieden ist, der das fremde Original verdeutscht. Diese ablehnende Haltung prägt auch die Ausführungen Johann Joachim Eschenburgs, der in seinem 1787 publizierten umfangreichen Kompendium Über W. Shakespeare die ersten deutschen Übertragungen von Shakespeares Sonetten präsentiert. Eschenburg, der in den Jahren 1775 bis 1777 Wielands Shakespeare-Übersetzung überarbeitet und vervollständigt hatte, übersetzt nur eine Auswahl der Sonette in Prosa und versichert dem Leser in dem einführenden Begleittext nachdrücklich, dass seine übersetzerischen Bemühungen um Shakespeares Gedichte vornehmlich dem Hang zur Vollständigkeit geschuldet sind. William Wordsworth, Scorn not the sonnet (1827), 206.
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nicht nur das Fehlen biographischen Materials kompensieren, sondern die Gedichte mit einer Aura des Geheimnisvollen umgeben, Shakespeares Sammlung zu einer der größten lyrischen Offenbarungen der Weltliteratur stilisieren und damit einen modernen Mythos generieren, der bis in die Forschungsliteratur und übersetzerische Tätigkeit der Gegenwart seinen Nachhall ausstrahlt. Aber dennoch scheint die Verortung im privaten, geradezu intimen Bereich auf den ersten Blick – vor allem aufgrund des für den Geschmack des 19. Jahrhunderts moralisch zweifelhaften Inhalts der Gedichte, der Huldigung eines androgynen fair young man und der derb-sinnlichen Hingabe an eine dark lady – wenig dazu angetan, eine öffentlich-nationale Monumentalisierung zu befördern. Während im philologisch-wissenschaftlichen Diskurs in England und Deutschland die Sonette Shakespeares denn auch immer wieder deutlichen Widerstand hervorrufen, kann mithilfe einer Übersetzung, die alles ästhetisch und moralisch Inkommensurable assimilierend einebnet, ein makelloses Bild des Menschen und Dichters entworfen werden. Damit vermögen die Herzensergüsse Shakespeares – transformiert in deutsche Gedichte – der Stilisierung Shakespeares zur Dichterikone den entscheidenden Impuls zu verleihen, der aus den von der Person des Autors distanzierenden Dramen nicht zu gewinnen war. Am Beispiel der erfolgreichsten deutschen Version von Shakespeares Sonetten, der 1862 erschienenen Übertragung von Friedrich Bodenstedt, soll dieses nostrifizierende13 Übersetzungskonzept nachgezeichnet werden, in dem die Übersetzung als Modellfall einer bürgerlichen Leitkultur greifbar wird, in der sich Institutionalisierung, nationale Identitätsfindung und privates Lesevergnügen, Popularisierung und Sakralisierung zusammen finden, in der gleichermaßen Teilhabe wie Distinktion verbürgt sind.
II. Münchner Dichterschule Die Zeit nach 1850 ist die Ära der wissenschaftlichen Konsolidierung, Differenzierung und Institutionalisierung. In Bayern setzt Maximilian II. mit dem von seinem Vater geerbten pädagogischen Eifer nach seinem Regierungsantritt 1848 gegen preußisches Militärprimat auf eine offensive Kulturpolitik und leistet mit gezielten Berufungen einer der wohl prominentesten Gruppierungen auf dem Gebiet der Literatur, Übersetzung und Philologie Geburtshilfe, der Münchner Dichterschule.14 Der Erfolg der _____________ 13
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Der Begriff „nostrifizierend“, der im folgenden zur Bestimmung einer für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristischen Übersetzungskonzeption verwendet wird, stammt von Bodenstedts Zeitgenossen Franz von Dingelstedt und findet sich mehrfach in dessen Schrift Studien und Copien nach Shakespeare aus dem Jahre 1858 (vgl. ebd., 2–5 und 15). Dingelstedt und Bodenstedt waren beide Mitglieder der Münchner Dichterschule und Gründungsmitglieder der deutschen Shakespeare-Gesellschaft. Und ebenso wie Bodenstedt betreute Dingelstedt eine Gesamtausgabe der dramatischen Werke Shakespeares; vgl. Fußnote 28. Maximilians Berufungspolitik konzentrierte sich zunächst auf herausragende Naturwissenschaftler; in einem zweiten Schritt folgten die Berufungen bedeutender Historiker, wobei der Ausbau einer
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Münchner Dichterschule – gerade auch in Bezug auf die Etablierung einer bürgerlichen Leitkultur – gründet auf zweierlei; zum einen auf der institutionellen Befestigung, die in München auf den unterschiedlichsten Ebenen greift: Im öffentlichen Raum durch die Berufung auf neu eingerichtete Lehrstühle, im halböffentlichen Raum der wöchentlichen Königsrunde – beides im Zeichen eines dem romantischen Erbe verpflichteten Ideals universalistischer Wissenschaft15 – und schlussendlich im privaten Dichter-Verein, im literarischen Zirkel der Krokodile.16 Zum anderen und eng mit der Institutionalisierung verbunden fußt die Wirkungsmächtigkeit der Münchner Dichtervereinigung auf deren kollektiver Gerichtetheit. Im Schaffen der Neu-Münchner Künstler verbindet sich stets originäre mit übersetzerischer Tätigkeit und beides ist einem ähnlich gearteten Kunstideal verpflichtet, das auf der Abkehr von der Tendenzdichtung der 40er und der heftigen Ablehnung der gängigen Unterhaltungsliteratur der 50er Jahre beruht.17 Gemeinsam ist ihnen ein kosmopolitisch ausgerichteter romantischer Europäismus, ein, wie Felix Dahn in seinen Erinnerungen formuliert, „gewisser Idealismus, sofern man hierunter die sorgfältigste Pflege der Form-Reinheit, die Vorliebe für den hohen Stil, die Schulung durch die Antike und die übrigen Classiker der Weltliteratur versteht und eine Neigung zu dem Vorneh_____________
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historischen Fakultät sicherlich Maximilians liebstes Kind war. Ab 1852 setzt die gezielte Anwerbung repräsentativer Poeten ein. Der erste nach München verpflichtete Poet war Emanuel Geibel, der die weiteren dichterischen Berufungen entscheidend mitbeeinflusste und dafür sorgte, dass 1854 zwei weitere Schriftsteller nach München geholt wurden, die bereits erste literarische Erfolge vorzuweisen hatten: Paul Heyse und Friedrich Bodenstedt, der erste als Dichter, der zweite vor allem als Übersetzer und Reiseschriftsteller. Auch wenn die Trennung der zwei Kulturen unterschwellig längst vollzogen war, wurde in München in den königlichen Symposien, die darüber hinaus dem aufklärerischen Ideal einer überständischen Gesellschaft verpflichtet waren, vor allem aber auch in halböffentlichen Foren, wie etwa den prominent besetzten Vorträgen in Liebigs Hörsaal, ein aus der frühromantischen Bewegung hergeleitetes universalistisches Konzept von Wissenschaft zum Programm gemacht. Eindrückliche zeitgenössische Schilderungen dieser Veranstaltungen finden sich in dem Sammelband: Die Münchner Krokodile, hg. v. Johannes Mahr (1987). Die Münchner Krokodile, die sich 1855 konstituieren, sind der zweite und diesmal langfristig erfolgreiche Versuch der Gründung eines literarischen Zirkels. Vorgänger war die 1852 gegründete Gesellschaft Die Zwanglosen. Heyse und Geibel waren vor ihrer Berufung nach München bereits Mitglieder des Berliner Vereins Tunnel über der Spree. Die Namenswahl Krokodile geht zurück auf das Gelegenheitsgedicht von Hermann Lingg mit dem Titel Das Krokodil zu Singapur. Dieses Reptil, das später als präpariertes Objekt zum handgreiflichen Wahrzeichen der Vereinigung werden sollte, eignete sich als Urzeitfossil ägyptischer Herkunft bestens zum einen als Anknüpfungspunkt an das Erbe der Freimaurerlogen und zum anderen um die eigene literarische Positionierung humoristisch zu reflektieren. Paul Heyse schreibt in seinen Jugenderinnerungen: „Der erhabene Charakter dieses Amphibiums schien uns trefflich zum Vorbild idealistischer Poeten zu taugen, und wir hofften, in unserm Münchener heiligen Teich dermaleinst ebenso gegen die schnöde prosaische Welt gepanzert zu sein, wie jener uralte Weise, der nur noch für den Wechsel der Temperatur empfindlich war.“ Heyse, Jugenderinnerungen und Bekenntnisse, 214. Alle Neuberufenen hatten sich nicht nur als originäre Schriftsteller, sondern vor allem auch als Übersetzer profiliert und wurden gerade auch wegen ihrer übersetzerischen Tätigkeit nach München berufen. Vgl. Giroday (1978) und Werner (1996 und 1998).
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men, sowohl in der Wahl als in der Behandlung der Stoffe“18. Aus einem ausgeprägten Formbewusstsein heraus – die Vorbildhaftigkeit Platens spricht Bände – entsteht eine Literatur, der an metaphysischen Spekulationen ebenso wenig gelegen ist wie an heftigen Emotionen oder dem Streben nach sprachlicher und thematischer Originalität.19 Der Literaturkritiker Robert Prutz fasst das Phänomen in seiner Rezension des Münchner Dichterbuchs20 prägnant zusammen, wenn er schreibt, es gehe den Münchnern vor allem um den „Anbau einer Mittlern Sphäre“21. In dieser „mittleren Sphäre“ finden das Fremde und das Eigene zusammen, die Ausrichtung auf die europäischen Traditionen und die Gestaltung der eigenen bürgerlichen Verhältnisse. Was für die originären Dichtungen der Münchner Dichterschule gilt, dass selbst große Stoffe der Weltliteratur so adaptiert und aufbereitet werden, dass sie eben von diesen eigenen Verhältnissen handeln,22 realisiert sich in noch stärkerem Maße in Gestalt der Übersetzung. Symptomatisch für die Münchner ist nicht zuletzt auch das Spannungsfeld zwischen idealistischer Dichtungskonzeption und Broterwerb. Die Sicherung eines großbürgerlichen Lebensstils zwingt zur Produktion „für die Küche“, zu einer emsigen Betriebsamkeit, aus der heraus „in fast jedem Einzelfall riesige, heute von keinem Leser mehr beherrschbare Werke entstehen“.23 Nicht mehr nur die Einzelübersetzungen stehen im Zentrum des Interesses, sondern die übersetzerische Tätigkeit weitet sich aus auf umfangreiche Werkausgaben oder ganze Literaturgeschichten. Und so ist es nicht verwunderlich, dass die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sich ausweist als das Zeitalter der Übersetzung, der Klassiker-Bibliotheken, der Universalbibliotheken und wie diese zahlreichen Verlagsunternehmungen sonst immer heißen, die in möglichst museumshafter Ordnung und Vollständigkeit die Schätze der Weltliteratur einem breiten Lesepublikum zugänglich zu machen suchen.
III. Friedrich Bodenstedt Für Friedrich Bodenstedt bedeutete die Anstellung als Professor in München das Ende drückender finanzieller Verhältnisse und eines strapaziösen unsteten Wanderlebens, das ihn als Zwanzigjährigen zunächst nach Moskau, dann über Georgien und Armenien zurück zu wechselnden Aufenthalten in Deutschland führte. Bodenstedts Eintrittskarte nach München war seine Gedichtsammlung Die Lieder des Mirza Schaffy. Diese Gedichte waren ursprünglich in den 1850 veröffentlichten autobiographischen Reisebericht Tausend und ein Tag im Orient eingebettet und mit sicherem Gespür für _____________ 18 19 20 21 22 23
Dahn, Erinnerungen (1892), 305. Vgl. das Vorwort von Mahr (1987), 19. Die Anthologie Ein Münchner Dichterbuch von 1862 war die erste gemeinsame Publikation der Münchner Dichtervereinigung. Prutz, Ein Münchner Dichterbuch (1862), 291. Vgl. Mahr (1987), 19. Mahr (1987), 22.
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den Markt bereits ein Jahr später von Bodenstedts Verleger separat publiziert worden. Allgemein galten diese Gedichte lange Zeit als Übersetzungen von Liedern, die der georgische Sprachlehrer Bodenstedts, eben jener Mirza Schaffy, in seine Lektionen einstreute, und sie wurden ein Welterfolg von angesichts der heutigen Unbekanntheit Bodenstedts kaum vorstellbarem Ausmaß: bereits 1861 erschien die 10. Auflage, 1922 waren 280 Tausend Exemplare dieser Gedichtsammlung in unterschiedlichsten Ausstattungen gedruckt. Ähnlich wie im Falle von Macphersons populärer Ossian-Dichtung handelt es sich um eine Übersetzung ohne Original24 und Bodenstedt hütete sich, das Geheimnis zu lüften. Im Gegenteil, während der Jahre in München wird im Hause Bodenstedt dem Orientalisch-Mystischen gehuldigt: der Hausherr empfängt seine Gäste im orientalischen Gewand25 und seine Frau wird er zeitlebens mit dem Namen Edlitam anreden, der angedichtete Name der Geliebten in den Liedern Schaffys, der eben nichts anderes ist als das Palindrom des wirklichen Namens: Mathilde. Der weltflüchtige Exotismus dieser Lieder, die heiter den Lebens- und Liebesgenuss besingen, lag mit seiner gänzlich apolitischen Ausrichtung und mit der Bodenstedts Lyrik eigenen form- und sprachgewandten Gestaltung im Trend der Zeit, konnte ein breites, geschlechts- und standesübergreifendes Lesepublikum auf sich vereinen und als der bayrische Regent Maximilian, von dem berichtet wird, er habe seit 1853 stets ein Exemplar der Schaffy-Lieder mit sich geführt, nach präsentablen Autoren suchte, die man nach München berufen konnte, fiel die Wahl nicht zuletzt wegen der – heute würde man sagen – political correctness auf Bodenstedt. Neben dieser angeblichen hatte sich Bodenstedt auch durch zahlreiche echte Übersetzungen für den neu eingerichteten Lehrstuhl für slawische Sprachen qualifiziert.26 1858 aber tauschte Bodenstedt seine Professur gegen die der altenglischen Literatur – ein nach heutigen Maßstäben unglaublicher Vorgang. 1862 erschien dann seine deutsche Übersetzung der Shakespeareschen Sonette, mit der er erstmals wieder an den großen Publikumserfolg der Schaffy-Lieder anknüpfen konnte.
IV. Shakespeare-Gesellschaft Neben dem Münchner Dichterkreis hat eine weitere Institution entscheidenden Anteil an dem Siegeszug der Shakespeareschen Sonette im Allgemeinen und dem Erfolg von Bodenstedts Übertragung im Besonderen: die deutsche Shakespeare_____________ 24
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So der Titel eines Vortrags von Anne-Kathrin Reulecke zu Macphersons Ossian-Übersetzung, der im Rahmen des Symposiums Das bestimmte Wort – Die Übersetzung zwischen Profanierung und Sakralisierung im Juni 2007 an der TU Berlin gehalten wurde. Anschauliche Illustrationen finden sich vor allem in zeitgenössischen Karikaturen; die Zeichnung Großes Dichter-Steeplechase des Grafen von Pocci beispielsweise zeigt Bodenstedt in dieser orientalischen Kostümierung. Abgedruckt bei Moisy (1981), 73. Durch Übertragungen der Werke Lermontows, ausgewählter Gedichte Puschkins und ukrainischer Volkslieder. Die Übersetzung russischer Literatur wird er in München in großem Umfang fortsetzen und sich u. a. als Übersetzer der Werke Turgenjews einen Namen machen.
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Gesellschaft, die sich gegen realpolitisch ungünstige Bedingungen inmitten des deutsch-dänischen Kriegsgeschehens anschickte, die nationale Monumentalisierung Shakespeares institutionell zu befestigen und zur feierlichen Gründung am 23. April 1864 erlesene literarische und philologische Prominenz in Weimar versammelte. Die deutsche Shakespeare-Gesellschaft ist die erste deutsche literarische Gesellschaft, die über das regional begrenzte Heimatvereinsgetümmel hinaus einen nationalen Anspruch erhebt und einlöst;27 die ebenfalls in Weimar ansässige Goethe-Gesellschaft wird sich erst zwei Jahrzehnte später konstituieren und das englische Pendant in Gestalt der Royal Shakespeare Society entsteht erst in den späten 70er Jahren des 19. Jahrhunderts. Der Zusammenhang von Institutionalisierung und nationaler Identitätsstiftung ist im Falle der deutschen Shakespeare-Übersetzungen evident: in dem Jahrzehnt von 1862 bis 1872, in das die Gründung der Shakespeare-Gesellschaft (1864) ebenso wie die Reichsgründung (1871) fällt, erscheinen drei Gesamtausgaben der dramatischen Werke sowie neun Gesamt- und ungezählte Teilübersetzungen der Shakespeareschen Sonette, mehr als jemals zuvor oder nachher in einem vergleichbaren Zeitraum.28 Arbeit am Mythos Shakespeare ist Arbeit für die Nation und diese Ar_____________ 27 28
Andere literarische Vereinigungen, wie etwa die Schiller-Gesellschaft, sind zu dem Zeitpunkt in gewissem Sinne noch Heimatvereine, kommen über die regionale Anbindung nicht hinaus. Eines der ersten Projekte, das die Shakespeare-Gesellschaft initiiert, um die nationale Monumentalisierung voranzutreiben, ist eine Neuübersetzung der Shakespeareschen Werke. Aufgrund divergierender Intentionen der Mitglieder und buchhändlerischer Strategien wird sich dieses Projekt nicht unter einem Dach zusammenfinden, sondern es gehen 1867 drei Shakespeare-Ausgaben zeitgleich an den Start. Friedrich Bodenstedt kann eine illustre Übersetzerrunde für seine beim BrockhausVerlag edierte Shakespeare-Ausgabe vereinen, unter anderen werden Otto Gildemeister und Paul Heyse für dieses Unternehmen verpflichtet. Franz Dingelstedt, der spätere Intendant des Wiener Burgtheaters, publiziert unter Mitwirkung von Karl Simrock, Wilhelm Jordan, Ferdinand Adolph Gelbcke und anderen im Meyer-Verlag seine vor allem der Aufführungspraxis verpflichtete Shakespeare-Übertragung. Während der in Leipzig ansässige Brockhaus-Verlag auf ein vornehmlich bildungsbürgerliches Publikum ausgerichtet war, setzte der Meyer-Verlag in Hildburghausen mit preiswerten Volksausgaben dezidiert auf breite Popularisierung. Die deutsche Shakespeare-Gesellschaft, die sich nicht auf einen der beiden Herausgeber, die beide sowohl Angehörige der Münchner Dichterschule waren als auch zu den prominenten Gründungsmitgliedern der Gesellschaft zählten, festlegen wollte, entschied sich diplomatisch für eine dritte Variante und ließ durch den Anglisten Hermann Ulrici eine Neuauflage von Schlegels Shakespeare-Übertragung mit Überarbeitungen der Tieckschen Übersetzungen besorgen, die bei dem renommierten Berliner Verlag Reimer erschien. Waren in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts andere Werkausgaben, wie etwa die Wiener Shakespeare-Ausgabe Eduard von Bauernfelds (1825–27) oder die Übersetzung durch Voss und Söhne (ab 1814, erschienen in 9 Bänden 1818–1829), durchaus konkurrierende Unternehmungen, deren Verbreitungsgrad nicht hinter dem der Schlegelschen Übersetzung zurückstanden, so begründete die Absolution, die die Shakespeare-Gesellschaft auf diesem Wege der Schlegel-Tieckschen Übersetzung als institutionell verbindliche Ausgabe erteilte, wesentlich den sakrosankten Status, den diese Übertragung seitdem ungebrochen bis heute innehat. Die Erläuterungen zum Übersetzungsprogramm, die Hermann Ulrici als Vorsitzender der Shakespeare-Gesellschaft in deren Jahresbericht formulierte, zeigen eine Entwicklung, die sich wegbewegt von der kosmopolitschuniversalistischen Ausrichtung von Philologie und Übersetzung hin zu einer nationalen Konzentration: „Wir wollen den Engländer Shakespeare gleichsam entenglisieren, wir wollen ihn verdeutschen, verdeutschen im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes, das heißt, wir wollen nach Kräften
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beit ist eine übersetzerische. Bodenstedts Übertragung kommt in diesem Wirkungsgeflecht eine exponierte Stellung zu: er dediziert seine 1862 erschienene Übertragung Nicolaus Delius, einem der Wegbereiter der deutschen Shakespeare-Philologie. Beide sind Gründungsmitglieder der deutschen Shakespeare-Gesellschaft, und der erste Band, den diese 1865 als Gründungsakte publiziert, eröffnet mit einem Beitrag von Nicolaus Delius, der den Diskurs über Shakespeares Sonette als zentralen Gegenstand einführt, unter dem Titel: Ueber Shakespeare’s Sonette. Ein Sendschreiben an Friedrich Bodenstedt29. Während sich der Philologe Delius durch komplizierte Argumentationsstrategien unter Rückgriff auf literaturgeschichtliche Zusammenhänge und Traditionen und auf endlose Listen von Emendationen abmühen musste, die Sonette als Variationen tradierter Muster und die Personenkonstellation als Spiel mit eigentlich dramatischen Rollenfiguren auszuweisen, um daraus eine moralische Rehabilitation abzuleiten, konnte sich der poetische Übersetzer Bodenstedt durch die Transformation der Texte in Gestalt der Übersetzung leichter Hand über alles moralisch und ästhetisch Inkommensurable hinwegsetzen. Wem dabei der größere Zuspruch des breiten Publikums beschieden war, dem gelehrten Philologen oder dem poetischen Übersetzer, liegt auf der Hand.
V. Bodenstedts Shakespeare Kein anderer Übersetzer hat so konsequent wie Bodenstedt aus Shakespeares Sonetten deutsche Gedichte gemacht und damit den Nerv seiner Zeit getroffen. Zur Illustration des Bodenstedtschen Übersetzungsverfahrens sei hier ein Beispiel angeführt; gewählt wurde das 130. Sonett, das im Original lautet: _____________
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dazu beitragen, daß er das, was er bereits ist, ein deutscher Dichter, immer mehr im wahrsten und vollsten Sinne des Wortes werde.“ Ulrici, Jahresbericht (1867), 3. Was die deutschen Übertragungen der Shakespeareschen Sonette anbetrifft, so ist die Zahl der Teilübersetzungen, die als Einzelübertragungen oder als kleinere Auswahlübersetzungen die Zeitschriften, Journale und Zeitungen füllten, kaum zu ermitteln. In der Mehrzahl handelte es sich um Liebhaberübersetzungen, die eher als literatursoziologisches Phänomen von Interesse sind. Als prominente und durch die Übernahme in Werkausgaben weit verbreitete Gesamt-Übersetzungen von Shakespeares Sonetten sind neben Bodenstedts Version die Übertragungen von Wilhelm Jordan, Karl Simrock, Ferdinand Adolph Gelbcke, Alexander Neidhardt und Otto Gildemeister zu nennen, wobei die Übertragung von Otto Gildemeister insofern eine Ausnahme in dieser Reihe der poetisierenden bürgerlichen Übersetzungen darstellt, als Gildemeister einen Mittelweg zwischen eindeutschendem und verfremdendem Übersetzungsverfahren einschlägt, in dem die Eigenart der Shakespeareschen Sprachverwendung und die Fremdheit des Originals in die Übertragung gerettet wird. Gildemeisters Übertragung gehört zu den wenigen Übersetzungen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die auch modernen Ansprüchen an die Übersetzung Genüge leistet, und erlebte als deutsche Übertragung in der zweisprachigen Ausgabe der Shakespeare-Sonette in der Reihe der Exempla Classica der Fischer-Bibliothek eine Neuauflage im 20. Jahrhundert. Gildemeister, Shakespeare’s Sonette. Delius, Ueber Shakespeare’s Sonette. Ein Sendschreiben an Friedrich Bodenstedt (1865), 18–56.
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My mistress’ eyes are nothing like the sun; Coral is far more red, than her lips red: If snow be white, why then her breasts are dun; If hairs be wires, black wires grow on her head. I have seen roses damasked, red and white, But no such roses see I in her cheeks; And in some perfumes is there more delight Than in the breath that from my mistress reeks. I love to hear her speak, yet well I know That music hath a far more pleasing sound: I grant I never saw a goddess go, My mistress, when she walks, treads on the ground: And yet by heaven, I think my love as rare, As any she belied with false compare.30
Dieses Gedicht, das für den heutigen Leser vielleicht nicht zu den ergreifendsten der Shakespeareschen Sammlung gehört, da eben jenes Quantum des wahrhaft Bekenntnishaften fehlt, das wir so gerne in Shakespeares Sonetten erspüren wollen, eignet sich gerade aufgrund der Tatsache, dass es sich um ein extrem formalisiertes Metasonett handelt. Bodenstedts deutsche Version lautet: Dein Auge gleicht in Nichts dem Sonnenlicht, Dein Mund ist nicht so rosig wie Korallen, Wenn Schnee als weiß gilt, ist’s Dein Busen nicht, Dein dunkles Haar will Manchem nicht gefallen. Weit schönre sah ich roth’ und weiße Rosen Als jene, welche Deine Wangen zeigen, Auch mancher Duft schien in der Winde Kosen Mir süßer als der Deinem Odem eigen. Gern hör’ ich Deine Stimme, doch gestehn Muß ich, Musik beut mir noch mehr Genuß. Ich sah noch niemals eine Göttin gehn, Doch weiß ich, auf die Erde tritt Dein Fuß. Und doch, beim Himmel! so schön find’ ich Dich Als je die Beste, die man schlecht verglich.31
Im Rahmen dieser Abhandlung können weder Shakespeares poetologisches Konzept noch die zahlreichen Veränderungen in der Übertragung ausführlich und detailliert verhandelt, sondern lediglich einige charakteristische Merkmale von Bodenstedts Übersetzungsverfahren skizziert werden. An erster Stelle ist die Entrhetorisierung zu nennen, die Auflösung des durch eine rhetorische Strukturierung getragenen streng tektonischen Aufbaus, besonders markant im Wegfall der anaphorisch verwendeten Formulierung My Mistress (V. 1 und 12), die bei Shakespeare den Rahmen der Argumentation in den Quartetten ausmacht. Damit einher geht die Dekonstruktion des argumentativen Aufbaus der _____________ 30 31
Shakespeare, Sonett 130, 270. Bodenstedt, William Shakespeare’s Sonette in deutscher Nachbildung (1866), 42.
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Quartette selbst, in denen die Konfrontation des petrarkistischen Ideals mit der Darstellung der Geliebten in unterschiedlichen Verteilungsmustern durchgespielt wird. Als zweite Auffälligkeit sei hier auf die Tendenz zur poetischen Phrase, zum poetischen Klischee hingewiesen, die sich bei Bodenstedt oftmals durch in der Vorlage nicht vorhandene Einfügungen realisiert; im vorliegenden Fall deutlich zu erkennen in der frei erfundenen Ergänzung: in der Winde Kosen (V. 7). Auch Worte wie Odem (V. 8) oder beut (V. 10) entstammen einem poetisch standardisierten Vokabular und unterstützen die Generierung eines dem zeitgenössischen deutschen Lesepublikum vertrauten lyrisch-poetischen Tonfalls ebenso wie – generalisierend gesprochen – die Ellisionshäufigkeit und Inversionslastigkeit mancher Zeilen. Als Drittes ist eine Nähe zum Prosaischen zu vermerken, die für heutige Leser in deutlich misstönendem Widerspruch zu dem zuvor genannten poetischen Tonfall steht. So löst Bodenstedt den im Original vorgegebenen Vergleich der Haare mit wire auf, der auf einen in der Elisabethanischen Dichtung oft zitierten Beschreibungstopos der Haare mit golden wire, mit Golddraht, rekurriert. Bodenstedts Version ignoriert nicht nur die tektonische Struktur des Verses, der wie im ersten Quartett durchgängig üblich in einer Zeile Ideal und Wirklichkeit miteinander konfrontiert, sondern eliminiert darüber hinaus alles Fremdartige der Beschreibung und setzt an diese Stelle den leicht verständlichen, prosanahen Satz: Dein schwarzes Haar will manchem nicht gefallen (V. 4). Eine ähnlich prosanahe Diktion lässt sich auch in dem abschließenden Couplet des Sonetts ausmachen, das bei Bodenstedt nun eine völlig andere Zielrichtung erhält, als dies im Original der Fall ist. Shakespeares 130. Sonett ist ein poetologisches Gedicht, das sich der Sonettform bedient, um auf höchst artifizielle Weise an einem tradierten Dichtungsideal Kritik zu üben, um die Unzulänglichkeit und Falschheit stereotyper Beschreibungsrituale dem Leser anschaulich vor Augen zu führen. Adressat des entlarvenden Wechselspiels von Inszenierung und Demaskierung ist der mit diesen Dichtungstraditionen und -konventionen vertraute Leser, der die spielerische Absicht durchschaut. Während bei Shakespeare der Dichter nicht mit seiner, sondern über seine Geliebte spricht, verändert Bodenstedt die dem Gedicht zugrunde liegende Sprechsituation. Als gegenläufiger Abschluss zu der vorausgehenden Negation gipfelt Bodenstedts Version in der Feststellung: „Und doch, beim Himmel, so schön find’ ich Dich / Als je die Beste, die man schlecht verglich“, in der sich die poetische Emphase der Interjektion mit einem prosaischem Duktus verbindet. Die im Original so entscheidende metapoetische Dimension verblasst in Bodenstedts Version eines intimen Zwiegesprächs, die Schlusspointe in Bodenstedts Übersetzung wird dadurch nachgerade unverständlich. Entrhetorisierung und eine Sprachverwendung, die zum einen an wohlvertraute poetische Sprachmuster anknüpft, zum anderen eine der Alltagssprache angenäherte prosaische Diktion einführt, in der sich alles leichter Hand reimt und zum formal geschlossenem Gedicht fügt, zu einem Gedicht, in dem alles Fremdartige eliminiert und durch Bekanntes ersetzt wird – dies ist das Erfolgsrezept von Bodenstedts popularisierender Übertragung der Shakespeareschen Sonette.
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Hatte die romantische Übersetzungstheorie die Sinngebung der Übersetzung im Werdenden,32 in ihrem sprachbewegenden Moment verortet, so lautet das Gebot der Stunde nun: Konservieren und Bewahren. Nicht mehr sprachbildend will die Übersetzung sein; man übersetzt in die durch Goethe und Schiller und durch die Romantiker-Generation geformte Sprache, die es zu bewahren, nicht aber zu verbessern gilt. Anders als die poetische Übersetzungskunst romantischer Provenienz, die auf der Konzeption einer organischen Einheit von Sinngehalt und sprachlich formaler Gestaltung, von Gedanke und Ausdruck im Kunstwerk gründet,33 trennt Bodenstedt in einen „reinen Kern“ und eine „Schale“, die „nicht überall anmuthen“ will und legitimiert von daher seine verändernde Übersetzung.34 Seine nostrifizierende, auf den „Anbau einer mittleren [und vermittelnden, Anm. G.H.] Sphäre“ zielende übersetzerische Maxime lautet: Meine Absicht war einfach die Sonette in die poetische Sprache unserer Zeit zu übersetzen; meine Absicht war nicht, ein photographisches Abbild der englischen Sonette zu liefern, sondern sie deutsch nachzubilden, so daß sie auch in dieser neuen Gestalt Kennern wie Laien reinen poetischen Genuß gewähren möchten.35
VI. Lyrik und Positivismus Bodenstedts Übertragung der Shakespeareschen Sonette erschließt einen neuen, was die marktwirtschaftlichen Aspekte des Buchhandels anbetrifft, nicht zu unterschätzenden Publikumsanteil: waren die Dramen Shakespeares – und eben auch die Shakespeare-Gesellschaft – eine reine Männerdomäne, so sind die Sonette in Bodenstedts Übersetzung unterstützt durch die äußere Gestaltung als kleinformatige Goldschnitt-Ausgabe auch dediziert in zarte Frauenhand. Bodenstedt vermochte mit seiner Übertragung der Shakespeareschen Sonette nicht nur Kennern und Laien „poetischen Genuß“ zu gewähren, sondern das kritische Urteil der gelehrten Herren _____________ 32 33 34 35
„Die romantische Dichtart ist noch im Werden, ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet seyn kann.“ Friedrich Schlegel, 116. Athenaeums-Fragment (1798), 29. Vgl. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersezens (1813). Bodenstedt, William Shakespeare’s Sonette in deutscher Nachbildung (1866), 203. Die entsprechende Passage von Bodenstedts Nachwort zu seiner Übersetzung lautet im ungekürzten Zusammenhang: „Der Kern ist überall ein reiner, aber die Schale will uns, nach heutigem Geschmacke, nicht überall anmuthen. Es waren zu Shakespeare’s Zeit Ausdrücke üblich, an welchen damals selbst in den erhabensten Dichtungen Niemand Anstoß nahm, welche aber heutzutage in der Poesie geradezu unstatthaft erscheinen. Ich habe solche Ausdrücke, als etwas ganz Unwesentliches, gemildert, wo mir das nöthig schien, d. h. wo sich der Sinn eben so gut durch andere Worte, in einer uns mehr anmuthenden Weise, wiedergeben ließ. Es ist noch genug übrig geblieben, was Shakespeare’s Zeit und den Boden, worauf die Sonette gewachsen sind, in ihrer ganzen Eigenthümlichkeit zeigt. Meine Absicht war nicht, ein photographisches Abbild der englischen Sonette zu liefern, sondern sie deutsch nachzubilden, so daß sie auch in dieser neuen Gestalt Kennern wie Laien reinen poetischen Genuß gewähren möchten.“ Bodenstedt, William Shakespeare’s Sonette in deutscher Nachbildung (1866), 203 f.
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ebenso wie das sittliche Empfinden der Damenwelt auf sich und für sich zu vereinen.36 Dass es Bodenstedt gelang, die Ansprüche von öffentlich-philologischem Diskurs und privatem Lesevergnügen, von Bildung und Unterhaltung gleichermaßen einzulösen, liegt nicht nur in der Übertragung der einzelnen Gedichte begründet. Im Unterschied zu den meisten anderen Übersetzern hält sich Bodenstedt nicht an die in der Ausgabe von 1609 vorgegebene Anordnung der Sonette, in die eher grobe Aufteilung der Gedichte durch die Adressierung an den Fair Young Man (Sonett 1– 127) und die Dark Lady (Sonett 128–152). Mit seiner Neugliederung in vier Abteilungen, die – wie er in seinem umfangreichen Nachwort ausführt – verschiedenen Schaffensphasen im Leben Shakespeares zugeordnet sind, bedient Bodenstedts Übertragung zum einen das Muster vieler gängiger Lyrikanthologien, zum anderen vertieft er damit die biographische Lesart zu einem entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang von Werk und Autor, in dem den Sonetten eine entscheidende Funktion zukommt. Shakespeares Leben und Schaffen – eine solche biographisch ausgerichtete Darstellung wird in den nächsten Jahrzehnten alle Shakespeare-Übersetzungen zumeist als umfangreiches Vorwort begleiten und stets erscheinen die Sonette in diesem Zusammenhang als Kulminationspunkt, in dem wahrhaft Erlebtes und dessen dichterische Gestaltung unmittelbar zusammen finden. Die zentrale Position, die Shakespeares Sonetten zugewiesen wird, steht im Kontext der Definition der Gattung Lyrik nach 1850. Ausgehend von Goethes Bestimmung als enthusiastisch aufgeregte Dichtart wird die Lyrik in den großen ästhetisch-systematischen Entwürfen des 19. Jahrhundert als die „subjektive“ Gattung definiert. So sehr die Lyrik der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Traditionellen und Epigonalen, dem Handwerklichen und Formbewussten verhaftet ist,37 dient gerade diese Gattung der Inszenierung eines quasi religiösen Geniekults. Im Verständnis des 19. Jahrhunderts verweist die Lyrik mehr als alle anderen poetischen Gattungen auf die Dichterpersönlichkeit selbst. Vornehmlich _____________ 36
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Gerade beim weiblichen Publikum erzielten die lyrischen Dichtungen Bodenstedts große Erfolge. Die wohl auch darauf gründende Selbsteinschätzung Bodenstedts als Weltmann und Don Juan, die Bodenstedts literarische Selbstinszenierungen in den Vor- und Nachwörtern sowie den autobiographischen Skizzen prägen, entsprach, wenn man den zeitgenössischen Berichten folgt, kaum der Wirklichkeit; vielen erschien er eher als kleinbürgerlicher Biedermann im orientalischen Kostüm. Vgl. die Sammlung von Mahr (1987), insbesondere die Schilderung in den Memoiren des Komponisten Rudolf von Hornstein, 89–92. Schlägt man in einem beliebigen Handbuch zur Literaturgeschichte unter dem Stichwort Realismus nach, so fällt sofort der Vorrang der narrativen Genres im Gattungsspektrum ins Auge. Viel ist insbesondere über Roman und Novelle nachzulesen, wenig dagegen zur Lyrik zu finden. Wenn von der Lyrik im Realismus überhaupt gehandelt wird, trifft man zumeist auf summarisch abschlägige Urteile: von dem rein Epigonalen ist dort die Rede, von der Mittelmäßigkeit der lyrischen Produktion, von der Trivialisierung des Genres, von dilettantischer Spielerei – die Liste der Vorbehalte und Vorwürfe gegenüber der Gattung Lyrik im Zeitalter des Realismus ließe sich beliebig verlängern. Diese abschätzige Haltung ist keine nachträgliche Konstruktion des 20. Jahrhunderts, sie formiert sich bereits in den literaturkritischen und literaturtheoretischen Diskussionen um die Mitte des 19. Jahrhunderts.
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über das Genre des Lyrischen lässt sich das romantische Konzept der Kunstreligion auf den bürgerlichen Dichterkult und die nationale Monumentalisierung hin fokussieren, auf denen die positivistische Literaturwissenschaft gründet. Moritz Carrière, ebenfalls Mitglied der Münchner Dichterschule,38 definiert in seiner, die großen ästhetischen Systeme des 19. Jahrhunderts aufnehmenden und auf populärwissenschaftlichem Niveau verbreitenden Abhandlung Das Wesen und die Formen der Poesie das lyrische Genre als den „Herzschlag der Poesie“39, denn – so die Argumentation Carrières – während in Epik und Dramatik der Dichter hinter den fiktiven, bzw. den dramatischen Figuren zurücktrete, erscheine er in der Lyrik als Mittelpunkt der Dichtung: „die Persönlichkeit als solche macht sich geltend, sein Gefühl ist es, das die Welt in sich aufnimmt, er zeigt sie uns nur im Spiegel seines Gemüts“40. Bei Carrière findet sich der Zusammenhang von Lyrik, Dichterkult und Positivismus vorgezeichnet, wenn er behauptet: Weil er [der Dichter, Anm. G. H.] wesentlich sich selbst darstellt, muß sein Selbst ein großes, ein sangeswürdiges sein, er muß ein Universum im Busen tragen und seine Individualität zu der Höhe des edelsten Menschtums erheben. Deshalb interessiert uns aber auch bei den großen Lyrikern ihr Leben fast so sehr als ihre Werke, und diese gewinnen durch die Kunde von jenem oft ihr rechtes Verständnis.41
Das Potential der Lyrik im Wettstreit der literarischen Gattungen besteht in der Anschlussfähigkeit der Lyrik für eine Sakralisierung, für die Stilisierung zu Dichterikonen. Der Kampf um Shakespeare hat mit der nostrifizierenden Übersetzung, die Shakespeares moralisch zweifelhafte Sonette in geschmackvolle deutsche Gedichte verwandelt, im Zeitalter der Klassikerbibliotheken das Ziel erreicht, den ganzen Shakespeare, den Mensch und den Dichter, den Dramatiker und den Lyriker, ganz sein eigen nennen zu dürfen, Shakespeares Werke in schönsten Goldschnittausgaben neben die Ausgaben von Schiller und Goethe in den Bücherschrank als geistiges Besitztum einzureihen. Mehr noch als im Falle der dramatischen Werke erweist sich für die Shakespeareschen Sonette das englische Bonmot, das die Deutschen gegenüber den Engländern als glückliche Nation preist, da sie sich jedes Jahr einen neuen Shakespeare schreiben können, als überaus wirksam. Über Deutschland scheint in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die englische Dichtersonne Shakespeare in _____________ 38 39 40
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Moritz Carrière, seit 1854 Professor für Kunstgeschichte in München, war der Schwiegersohn Justus von Liebigs. Carrière, Die Poesie: Ihr Wesen und ihre Formen mit Grundzügen der vergleichenden Literaturgeschichte (1884), 376. Carrière, Die Poesie: Ihr Wesen und ihre Formen mit Grundzügen der vergleichenden Literaturgeschichte (1884), 368. Gerade Shakespeares Sonetten als umfangreicher Sammlung kommt hier Bedeutung zu, denn nicht das einzelne Gedicht sondern der größere Zusammenhang ist von Bedeutung, wie Carrière ausführt: „Der Lyriker [… ] offenbart die Totalität seiner Persönlichkeit in einer Reihe von Gedichten, und daraus wird uns dann ein so volles und reiches Gemälde des Lebens tiefsinnig und klar hervortreten“; ebd., 376. Carrière, Die Poesie: Ihr Wesen und ihre Formen mit Grundzügen der vergleichenden Literaturgeschichte (1884), 376.
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makellosem Glanz, während in England – schwankend zwischen Voyeurismus und Verdrängung – verzweifelt versucht wird, das durch Sonnenflecken verunzierte Bild zu retouchieren.
VII. Bodenstedt und die Folgen 1908 charakterisiert Rudolf Borchardt in seinem Aufsatz „Dante und deutscher Dante“ diese Ära der poetisierenden bürgerlichen Übersetzung als „Bankrott der Sprache und des Stils“, als „die rosenrothe Zeit, in der man alles konnte, wo alles leicht war und es zwar noch Schwierigkeiten gab, aber keinen mehr, der sie fühlte“.42 Borchardts Äußerung trifft zwar in der polemisierenden Zuspitzung den Kern, verschleiert aber durch die Verwendung der Vergangenheitsform den literaturgeschichtlichen Sachverhalt; denn um 1908 ist diese bürgerliche Übersetzung alles andere als ein Relikt vergangener Zeiten. Die nostrifizierende popularisierende Übersetzungskonzeption à la Bodenstedt überdauert unbeschadet nicht nur den ersten Weltkrieg, sondern treibt bis in die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts hinein späte, überaus zählebige Blüten und bleibt, was die Publikumswirksamkeit anbetrifft, tonangebend.43 Die Nachfolgegeneration Bodenstedts geht sowohl in Anbetracht der national vereinnahmenden Tendenzen als auch in dem, wie der Übersetzungsbegriff veräußerlicht wird, weit über das hinaus, was die bürgerliche Übersetzung des 19. Jahrhunderts initiiert hatte. Wenn Ludwig Fulda 1913 seine Übertragung der Shakespeareschen Sonette ins Werk setzt, so lässt er sich zu diesem Zweck von drei prominenten Anglisten eine Rohübersetzung in Prosa erstellen und macht sich auf dieser Grundlage an die „poetische Übersetzungsarbeit in Versen als eigenstes und persönliches Werk“.44 Wollte man Herders Ausspruch in dessen Fragmenten über die neuere deutsche Literatur folgen und fragen: „Wo ist der Übersetzer, der zugleich Philosoph, Dichter und Philologe ist; er soll der Morgenstern einer neuen Epoche in unsrer Litteratur seyn“, so ist das Resultat dessen, was von den bei Herder implizierten Anforderungen an den Übersetzer etwa 150 Jahre später übrig bleibt, überaus ernüchternd und bietet Gelegenheit, das Verhältnis von Philologie und _____________ 42 43
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Borchardt, Dante und deutscher Dante, 355. Signifikant sind die zeitlichen Koinzidenzen; so erhält 1909, im Erscheinungsjahr von Stefan Georges Umdichtung der Shakespeare-Sonette, die in der Sekundärliteratur gerne als Neubeginn in der Geschichte der deutschen Übersetzungen von Shakespeares Sonetten gefeiert wird, der Schriftsteller und Übersetzer Paul Heyse den Literaturnobelpreis. Zu Recht wurde im Stefan-GeorgeKolloquium, das 1971 stattfand, im Anschluss an den Vortrag von Roger Bauer über die Übersetzungstechnik Stefan Georges darauf hingewiesen, dass die aus der Retrospektive gewonnene langlebige Einschätzung, George könne „nur von der Reaktion auf den Naturalismus her verstanden werden“, eine „eigenartige Einseitigkeit der Betrachtung“ dokumentiere und dringend revisionsbedürftig sei; entscheidend sei weniger der Naturalismus als eine eher „außenseiterische Position“ gewesen, sondern „gesamtliterarisch und stilistisch beherrschend war der Münchner Kreis und die mit ihm zusammenhängende Literatur“. Heftrich/Klussmann/Schrimpf (1971), 175. Fulda, Shakespeares Sonette (1913), LV.
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Übersetzung, das immer wieder im Zentrum der Tagungsdiskussionen stand, am Exempel der deutschen Übertragungen von Shakespeareschen Sonette literaturhistorisch kurz zu rekapitulieren. Die für die frühromantische Übersetzungskonzeption grundlegende geschichtsphilosophische Fundierung, die übersetzerische Tätigkeit und philologische Erkenntnis zur untrennbaren Einheit verbunden hatte, wird bereits in den bürgerlichen poetisierenden Übertragungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufgelöst. Dennoch verbleiben Übersetzung und Philologie im Schaffen dieser Übersetzer, die zumeist wie Bodenstedt Philologen, Übersetzer und Dichter in einer Person waren, in einer Art friedlicher Koexistenz. In den Übertragungen selbst regiert der Dichter, das philologische Erkenntnisbestreben kommt in den oftmals umfangreichen Stellenkommentaren sowie ausführlichen literaturhistorischen Vor- oder Nachwörter zum Tragen. Bei Ludwig Fulda dagegen findet die radikale Trennung von Philologie und Übersetzung statt. Der Übersetzer ist nun nicht mehr Philologe, erst recht kein Philosoph und ein Dichter nur noch in dem Sinne, dass er eine Rohübersetzung in ansprechende deutsche Verse zu setzen vermag. Das Problem des Übersetzens, das Schlegel als eine Aufgabe begriffen hatte, die „ins Unendliche hin nur durch Annäherung gelöst werden kann“45, scheint nun ein grundsätzlich lösbares; die Kunst des Übersetzens reduziert sich auf das Verseschmieden. Damit einher geht eine Entwicklung, die wegführt von dem klassisch-romantischen Erbe eines kosmopolitischen Konzepts von Weltliteratur, dem Bodenstedts Übertragungen trotz der nostrifizierenden Grundlegung verpflichtet bleiben,46 hin zu internationaler Expansion und einer nationalistischen Konzentration, der Fulda in seinen übersetzungstheoretischen Explikationen mithilfe eines martialischen Vokabulars prägnant Ausdruck verleiht: Daß der fremde Dichter in unseren Augen ganz und gar ein Deutscher werde, dies ist das letzte und höchste Ziel der Übersetzungskunst. Vermag sie es zu erreichen, dann hat sie eine friedliche Usurpation vollbracht; sie hat einen ursprünglich fremden Besitz vollkommen erobert, ohne ihn den rechtmäßigen Eigentümern zu schmälern; sie hat den Nationalreichtum in schönstem Sinne gemehrt. Dem Übersetzer, der zu diesem Ziel vorzudringen wünscht, kann es also nicht so sehr darauf ankommen möglichst treu als möglichst deutsch zu sein. Jede Freiheit, die er sich zu dem Zwecke nimmt, Äußerlichkeiten der fremden Herkunft zu verwischen, Einzelheiten unserm Empfinden, unserer Anschauungsweise anzugleichen, ist ihm hier erlaubt, ja geboten. Der Schlegelsche Shakespeare hat gezeigt, bis zu welchem Grad dieses Ideal verwirklicht werden kann.47
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„Die Aufgabe des poetischen Uebersetzers ist eine ganz bestimmte, und zwar eine solche, die ins Unendliche hin nur durch Annäherung gelöst werden kann.“ A. W. Schlegel, Abfertigung eines unwissenden Recensenten der schlegelschen Uebersetzung des Shakspeare, 140. Für Bodenstedt steht die übersetzerische Tätigkeit im Sinne humanistischer Ideale im Dienst der Völkerverständigung; so heißt es in seinen Vorlesungen Aus Ost und West von 1861: „Durch ihre Lieder sieht man den Völkern ins Herz und lernt das bessere von ihnen schätzen und lieben. Man erkennt, dass ein inneres Band sie alle gleichmäßig umschlingt und zueinander hinzieht. Und je mehr solche Erkenntnis wächst, desto mehr werden sie einsehen lernen, dass sie mehr Grund haben einander zu lieben als zu hassen.“ Bodenstedt, Aus Ost und West (1861), 43. Fulda, Die Kunst des Übersetzers (1929), 285.
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In Borchardts Aufsatz erscheint Bodenstedt als die Wurzel allen Übels, als Begründer und exponierter Vertreter einer sinnentleerten, phrasenhaften und damit verfehlten Übersetzungsproduktion, dem mit den berühmten Worten Didos aus Vergils Aeneis: „Exoriare aliquis nostris ex ossibus ultor“ ein Strafgericht metaphysischer Dimension zu wünschen ist. Die von Borchardt prophezeiten Rächer aus den Gebeinen haben sich nicht erhoben und mussten sich nicht erheben. Die Dichterfürsten eines bürgerlichen Zeitalters und mit ihnen ihre Übersetzungen, die sich so vollständig am Geschmack ihres Lesepublikums orientierten, die eine alles Widerständige einebnende Assimilation des Fremden zugunsten der Etablierung einer bürgerlichen Leitkultur betrieben hatten, sind langsam und lautlos, aber desto nachhaltiger aus der Literaturgeschichtsschreibung verschwunden.48 Am Beispiel Friedrich Bodenstedts wird die Gründlichkeit, mit der die Auslöschung aus dem kulturellen Gedächtnis sich vollziehen kann, erschreckend deutlich.
Primärliteratur Bodenstedt, Friedrich, Aus Ost und West, Berlin 1861. Bodenstedt, Friedrich (Hg.), William Shakespeare’s Dramatische Werke, 38 Bde., Leipzig 1867–1872. Bodenstedt, Friedrich, William Shakespeare’s Sonette in deutscher Nachbildung, 2. Aufl., Berlin 1866. Borchardt, Rudolf, „Dante und deutscher Dante“, in: Rudolf Borchardt, Gesammelte Werke, Prosa II, Stuttgart 1959, 354–367. Carrière, Moritz, Die Poesie: Ihr Wesen und ihre Formen mit Grundzügen der vergleichenden Literaturgeschichte, 2. Aufl., Leipzig 1884. Dahn, Felix, Erinnerungen, 3. Buch, Leipzig 1892. Delius, Nicolaus, „Ueber Shakespeare’s Sonette. Ein Sendschreiben an Friedrich Bodenstedt“, in: Shakespeare-Jahrbuch 1 (1865), 18–65. Dingelstedt, Franz von, Sämtliche Werke, 12 Bde., Berlin 1877. Dingelstedt, Franz von (Hg.), Shakespeare’s dramatische Werke, 10 Bde., Leipzig 1865. Dingelstedt, Franz von, Studien und Copien nach Shakespeare, Pest u. a. 1858. Fulda, Ludwig, „Die Kunst des Übersetzers“, in: Veröffentlichungen der Preußischen Akademie der Künste. Jahrbuch der Sektion Dichtkunst (1929), 263–286. _____________ 48
Die Prognose für eine Wiederentdeckung von Bodenstedts Werk kann wohl nur dem Befund entsprechen, den Norbert Miller in seinem Aufsatz über Bodenstedts Zeitgenossen und Schicksalsgefährten Paul Heyse erhebt: „Sein Werk wird keine Wiederauferstehung erleben“. Die Begründung, die Miller liefert, lässt sich auf Bodenstedts Schaffen übertragen, beiden, Bodenstedt wie Heyse, hat die „freie Verfügbarkeit des Sujets und der Form […] die Eigenart genommen“, d. h. die dominierende Ausrichtung auf literarische Traditionen und Konventionen die Ausprägung eines signifikanten Individualstils verhindert, die anderen Vertretern dieser Epoche, wie Storm oder Keller, ein Nachleben in der Literaturgeschichte sicherte. Miller (1981), 14 f.
Shakespeare als deutscher Klassiker
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Gesa Horstmann
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„In heiligen Tümern“ – Rudolf Borchardt als Übersetzer antiker Texte und sein Programm ‚schöpferischer Restauration‘ am Beispiel der Altionischen Götterlieder (1924) Ernst A. Schmidt (Tübingen) Dieser Beitrag stellt sich die Aufgabe, den Satz Friedmar Apels: „Borchardts Übersetzungen (sind) praktizierte schöpferische Restauration“1 mit dem konkreten Beispiel der Altionischen Götterlieder zu illustrieren und auf diese Weise die Übersetzungspraxis Rudolf Borchardts von seiner Übersetzungskonzeption her zu beleuchten. Die Verse 347 f. des von ihm „Apollonlied“ genannten homerischen Apollonhymnus2 lauten in seiner Ausgabe Altionische Götterlieder / unter dem Namen Homers. Deutsch von Rudolf Borchardt (München 1924) folgendermaßen: Sondern in heiligen Tümern || Hochangebetete bleibend Opfer genoss die Erhabene || Mit Kuhblick bannende Here.
Über die „heiligen Tümer“, Plural von ‚heiliges Tum‘ als Wiedergabe von griechisch ἐν νηοῖσι („in den Tempeln“) statt „Heiligtümer“, schüttelt der naive Leser den Kopf. Aber auch der im Umgang mit Borchardt gewitztere Rezipient mag hier irregehen. So habe ich in meiner Abhandlung über Rudolf Borchardts Antike (2006) die Anmerkung geschrieben: „Ist die Endsilbe ‚-tum‘ jemals ein eigenes Vollwort gewesen? So daß man archaisierend bilden könnte ‚sieches Tum‘, ‚Brauches Tum‘, ‚Wachses Tum‘? […].“3 Diese Ridikülisierung fällt auf den ahnungslosen Spötter zurück. Wie mich Konrad Vollmann, Mittellateinischer Philologe, mit Kopien aus dem Mittelhochdeutschen Handwörterbuch von Lexer4 und dem Grimmschen Wörterbuch5 aufklärt, ist „tuom“ oder „thum“ durchaus ein selbständiges Vollwort gewesen, einmal in den Bedeutungen ‚Macht, Herrschaft‘ („keisers tûm“), ‚Würde, Stand, Le_____________ 1 2
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Apel (1989), 13. Im folgenden werden die vier von Borchardt übersetzten Homerischen Hymnen so abgekürzt: „Demeterlied“ (Hom. hymn. 2): Dem. – „Apollonlied“ (Hom. hymn. 3): Apoll. – „Hermeslied“ (Hom. hymn. 4): Herm. – „Aphroditenlied“ (Hom. hymn. 5): Aphr. Die unmittelbar angeschlossenen Zahlen identifizieren den jeweiligen Borchardtschen Vers (der wegen Auslassungen [Athetesen] von der Vorlage abweicht) durch die Versnummer des griechischen Originals. Dies geschieht einerseits, weil die deutschen Texte keine Verszählung aufweisen, und andererseits, weil auf diese Weise der Vergleich mit dem Original erleichtert wird. Schmidt (2006), 84, Anm. 249. – Vgl. generell zu diesem Beitrag a. O. 14–19 und 73–85. Lexer (1876), 1571. Grimm, Bd. 2 (1860), 1233 f.
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bensverhältnisse‘ („küniglich tûm“), ‚Würde, Besitz, eigentümlicher Zustand‘ („von dîner gnâden tuome“) und zweitens im Sinn von ‚bischöflicher Kirche, Hauptkirche, Stiftskirche, Dom, Domstift, Collegialstift‘. Borchardts Fügungen und Kompositionen „heilige Tümer“, „Heiltum“ (Dem. 297), „Weihtum“ (Dem. 270. 385), alle statt „Tempel“, oder „das geheimeste Tum“ (Apoll. 523) für ἄδυτον (das geheime Tempelinnerste) scheinen zwar nicht belegt zu sein, aber es kann kein Zweifel daran bestehen, daß seine Bildungen in mittelhochdeutscher Lizenz erfolgen.6 Das Beispiel illustriert die Schwierigkeiten bei der Beurteilung des Borchardtschen Übersetzens bzw. die Notwendigkeit sprachlicher Kompetenz nicht allein im Griechischen und Lateinischen, sondern auch im Deutschen und zwar in allen dessen geschichtlichen Sprachstufen – als klassischer Philologe bin ich überfordert. Es leistet noch mehr. Es veranschaulicht, daß der Übersetzer für die Verdeutschung archaischer griechischer Dichtungen, der ältesten unter den Homerischen Hymnen, die der Philologe und Dichter Borchardt für älter und für ursprünglicher als die Epen Homers hält, eine Sprache wählt, die archaisch ist bzw. derart archaische Elemente mit sich führt, daß sie insgesamt eine archaische, nämlich mittelhochdeutsche, Färbung annimmt. Und eben zu dem spezifischen Verfahren des Archaisierens lehrt der zitierte Einzelfall ein Weiteres. Borchardt spricht von „Tümern“, aber nach Ausweis des Grimmschen Wörterbuchs gebraucht noch Luther den Plural „thüme“, bzw., im Dativ: „den thümen“. Daher kann man schließen, daß der Archaismus gleichsam in der Mitte zwischen dem Neuhochdeutschen – vgl. ‚Altertümer‘, ‚Irrtümer‘ oder, bei Borchardt in den Altionischen Götterliedern selbst: „Weistümer“ (Apoll. 394: θέμιστας) – und dem Mittel- oder Frühneuhochdeutschen angesiedelt ist. In einem Brief an Josef Hofmiller aus dem Jahre 1912, in dem es zwar nicht um Übersetzen aus einer antiken Sprache, sondern um „schonendste[r] sprachliche[r] Umsetzung“ mittelalterlicher deutscher Epik geht und obwohl das Verfahren nicht von der Zielsprache, sondern vom Original her betrachtet wird, sagt Borchardt, eines seiner „Principien“ bei solcher Umsetzung sei das folgende: „Die Sprachformen die nicht zu erhalten sind, werden nicht bis ins heutige Nhd. geschoben sondern nur bis zur ersten uns vom heutigen Nhd. aus erreichbaren Form“. Eben dies liegt auch in den „heiligen Tümern“ vor: Die Form ist von „Heiligtümern“ aus noch erreichbar, während „heilige Tümen“ oder „thümen“/„thuomen“ Formen darstellen, „die nicht zu erhalten sind“. So setzt Borchardt im Armen Heinrich, v. 2 „an den buochen“ um zu „in den büchern“. Borchardt fährt fort: „[…] im Ganzen soll statt einer Übersetzung etwas wie Restauration verwitterter romanischer Skulptur erreicht werden, bei der man das zerstörte – in diesem Falle unsichtig gewordene7 – so ersetzt, dass der Ersatz möglichst nicht zu gewahren ist.“ Etwas später heißt es im gleichen Brief, noch immer zum Programm und Projekt sprachlicher Umsetzung von Epen des deutschen Mit_____________ 6
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Andere Eindeutschungen von νηός sind: „Weihhaus“ (Apoll. 266), „Weihstatt“ (Apoll. 478), „Weihstift“ (Apoll. 247), „Hochstift“ (Apoll. 287), „Halle“ (Apoll. 523). „Haus“ (Apoll. 245), „Opfergehäuse“ (Apoll. 293). Vgl. „Nachwort“ zum Armen Heinrich, Prosa II, 341: „die Sprachform“ des Hartmannschen Gedichts „nur mit Vorsicht von unsichtig gewordenem und gänzlich blicklosem befreit“.
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telalters, ihn, Borchardt, beglücke „die Durchführung einer nach zusammenhängenden Prinzipien verfahrenden geistigen Organisation des Alten Geistigen“.8 Darum geht es auch hier, nämlich um die systematisch-theoretische Begründung der philologischen und dichterischen Arbeit des Übersetzens aus den antiken Sprachen als einer ‚nach zusammenhängenden Prinzipien verfahrenden geistigen Organisation des Alten Geistigen‘ in antiken Gedichten. Dieses systematisch-theoretische Fundament ist das Programm der „schöpferischen Restauration“. Locus classicus ist die gleichnamige Rede vom 9.3.1927 an der Universität München, aber das Konzept läßt sich auch an vielen anderen Äußerungen ablesen. Borchardts berühmter Vortrag fand zwei Monate nach dem seines Freundes Hugo von Hofmannsthal vom 10.1.1927 über Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation9 am gleichen Ort statt. Borchardts Alternativbegriff zu Hofmannsthals ‚konservativer Revolution‘ läßt sich mit diesem Zitat aus seiner Antwort auf einen Verlags-Fragebogen von 1932 illustrieren: Aus „grundsätzlich theoretische(r) und practische(r) Gegnerschaft gegen den modernen Zeitgeist in allen seinen geistigen und kulturellen Äußerungen“ betrachte er als seine Lebensaufgabe eine „Erziehung der Mitzeit zu einer schöpferischen Auffassung des Traditionsbegriffs als organischen Prinzips der nationalen Plastik (Weiterführung der Herderschen Linie)“.10 Ein Selbstporträt gibt Borchardt auch, wenn er 1939 über Walter Pater zu dessen hundertstem Geburtstag sagt: „Der Autor […] unternimmt den nie vorher unternommenen Versuch, sich seiner gesamten geistigen Schuld an die Vorzeit gleichzeitig schuldig zu bekennen und zu entledigen, indem er die Weltgeschichte des Geistes auf die eigene Seele übernimmt und in seine innere Biographie verwandelt.“11 Schöpferische Restauration ist keine Reaktion, „sondern, wenn Ihnen das Wort Revolution hier bedenklich klingt, […] eine Reformation an Haupt und Gliedern“. Dabei aber gilt für Borchardt, daß es nur um „die Tradition des Ganzen, nicht die des Einzelnen“ gehen könne, so daß zu ihrer Restitution „die Sprache und die Mittel […] im einzelnen revolutionär zu behandeln“ seien.12 Das Konzept umfaßt Rückgang und Wiederholung, Restitution, Erneuerung, zugleich Analyse, Kritik, Ausscheidung, Reinigung, Ergänzung, Vervollständigung (wie bei der Restauration übermalter oder nachgedunkelter Bilder), Erlebnis, Schöpfung. Schöpferische Restauration ist damit im Blick auf die Antike ein Unternehmen, in dem sich kritische Philologie oder philologische Kritik, Geschichte bzw. Altertumswissenschaft und dichterische Schöpfung vereinen, oder, anders gesagt, in welchem existenzielle Geschichtshermeneutik aus der Not der Zeitgenossenschaft sich in den Dienst der Schöpfung aus Liebe für die Not der Zeitgenossenschaft stellt. Auf die Herkunft seines Konzepts von Herder und der Romantik hat Borchardt wiederholt selbst _____________ 8 9 10 11 12
Borchardt, Briefe. 1907–1913. Text (1995), Brief Nr. 231: An Josef Hofmiller vom 17.11.1912, 421– 431; Zitate: 426 f. Zuerst 1927. Jetzt in: H. v. H., Prosa IV (1955), 390–413. Tgahrt (1978), 39. „Walter Pater“ (1939), Prosa III (1960), 420. „Schöpferische Restauration“ (1927), Reden (1955), 252.
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verwiesen, und die gelehrte Literatur bestätigt diese Selbstinterpretation. Thomas Poiss hat darüber hinaus die Vermutung geäußert, „der Grundgedanke der ‚schöpferischen Restauration‘“ habe „seine terminologischen Vorläufer gerade auch im Philologiekonzept der Tradition Wolf-Boeckh-Usener und Bücheler-Leo“.13 Hier noch einige Zitate; die für das Programm konstitutiven Begriffe werden hervorgehoben (Kursive). „In mir selber […] hatte ich Deutschland zu suchen oder zu ergänzen: und sage ich Deutschland, so meine ich die mir durch Sprache und Charakter vorgeschriebene Varietät.“ „Ich begriff, daß die Gegenstände meines Studiums und meiner Qualen – Wissenschaft und Leidenschaft – Geschichte des deutschen Volkes und Geschichte des menschlichen Geistes im Sinne meiner eigenen höheren Biographie waren“.14 Es geht „um restaurierende Revolution […] um revoltierende Reformation, um den erstürmten Rückzug bergan in die unausgelebte Geschichte des Menschengeschlechtes, um Verwerfung der Zeit und Heimkehr in die Ewigkeit, die […] eine Funktion der Geschichte, wie der Einsicht, wie der Schöpfung“ ist.15 „Die zentrale Aufgabe, die Herder der Romantik und dem Jahrhundert übergeben hatte, war, mit der Ausscheidung des deutschen Renaissancebestandes, eine restitutio in integrum des ideellen deutschen Volksganzen durch Rückbelebung und, wenn es sein mußte, Rückerlebnis aller seiner Stadien in Geschichte, bis in den Schöpfungstag hinein und den Lebenshauch aus Gottes Mund“.16 „Nichts bleibt als jenes schöpferische Wiedererlebnis der Vergangenheit“.17 Schöpferische Restauration fordert sowohl den Dichter als auch den gelehrten Philologen. Das belegt allein schon der Umstand, daß alle Übersetzungen von wissenschaftlicher Prosa begleitet werden, von Oden der Sappho bis zur taciteischen „Germania“ unter dem Titel Tacitus, Deutschland. Die Übersetzungen als schöpferische Restaurationen richten sich auch an die Gegenwart. Die Gegenwart, deren leidender Zeitgenosse Borchardt ist, stellt sich ihm als ein ohne radikale Umkehr unrettbares hoffnungsloses Geschlecht dar. Das Zentrum seiner Zeitdiagnose ist das Fehlen des Volkes, der Gemeinschaft, und der allein authentischen Stimme dieses Volkes, des Dichters. Die wahre Dichtung, die Ur-Poesie, versteht er als Einheit von Dichten und Forschen, als Philosophie und Gesetz, als Theologie und Sittenlehre, während in der Gegenwart alles ursprünglich Vereinte getrennt ist und daher axiomlos, bodenlos, ziellos wuchert. Dieser kümmerlichen Gegenwart steht die Antike nicht insgesamt als Muster und Norm, als Andachts- und Erbauungsbild gegenüber – das wäre ‚Klassizismus‘, und Borchardts geschichtliches Verdammungsurteil, nämlich: „klassizistisch“, trifft gerade auch die zeitgenössischen Übersetzungen –, sondern, da er auch sie selbst als einen von Umbrüchen und Katastrophen gezeichneten historischen Prozess sieht, nur das Dichterische bestimmter Epochen: Poesie der Frühe oder des Neubeginns, der eine echte _____________ 13 14 15 16 17
Poiss (1997), 72. „Eranos-Brief“ (1923/24), Prosa I (2002), 314 f. „Eranos-Brief“ (1923/24), Prosa I (2002), 318. „Geistesgesch. 19. Jahrhundert“ (1927), Reden (1955), 339. „Geistesgesch. 19. Jahrhundert“ (1927), Reden (1955), 344.
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Zukunft und eine geschichtliche Wirkung versagt blieb, oder Dichtungen einer Schwellenzeit, epochaler Umbrüche, die zwar historische Folgen hatten, deren Wirklichkeit aber ebenfalls die Gegenwart als die Konsequenz der neueren Geschichte nicht erreicht hat. Die vernichtende Diagnose der Gegenwart, Rationalismus, Demokratie, Liberalismus, Literatur, gilt der zeitgenössischen Kultur generell in allen ihren Manifestationen. Sie gilt auch und gerade ihrer Sprache. Übersetzung als Praxis schöpferischer Restauration würde daher von vornherein ihren Sinn und ihr Ziel verfehlen, wenn sie in die Gegenwartssprache hinein, jenes, wie Borchardt im „Nachwort“ zum Armen Heinrich (1925) sie schilt, „erniedrigte, sieche und blasse Idiom“,18 oder, wie es im „Nachwort“ zum Dante/Deutsch (1930) heißt, das „flache[n] Gemeinidiom, das sich Deutsch (nennt)“, eindeutschen würde. Das jeweilige Deutsch, das Borchardt für seine Übertragungen und Umsetzungen von Texten aus anderen Sprachen nicht so sehr wählt im Sinn von ‚sich aussuchen‘ als vielmehr erfindet, bedeutet daher eine doppelte Restaurationsleistung, nämlich nicht nur der jeweiligen Dichtung sondern auch unserer Sprache, die sich ihrer Geschichte, ihrer Tradition, ihres Reichtums, ihrer Wärme neu bewußt wird. Und zur Frage, was er mit seiner Commedia-Übersetzung wollte: „Wem wollte ich die Comedia ‚ersetzen‘? Meine Schmerzen wollte ich heilen, mich wollte ich belehren, die Wunden meiner Nationalbiographie lindern oder schließen, […] unsern Volkssprachen, unsern ehrwürdigen Mundarten nicht das Verschmähtsein, unserm Ganzen nicht sein trümmerhaftes Zerfalls- und Zufallslos (sc. hingehen lassen) – dem Abgeschmackten der Geschichte nicht den Weg freigeben, dem Tragischen nicht den Weg in die Katastrophe. Meine jahrelange Forschung wollte ohne daß ich es wußte, Schöpfung werden, Gestalt als Beweis aus der Kraft.“19 Im „Nachwort“ zu den Altionischen Götterliedern liest man: „Dem Ideale von Menschlichkeit, das jenes Jahrhundert (sc. „Goethe und sein Zeitalter“) in die alten Verse hineinlas, sind wir zu unserm Unheile oder Heile, wie die Tragik der Geschichte es will, entwachsen. Ob das neue Menschending, das wir hineinlesen, und um dessentwillen wir dies erste Muster einer uns gemäßen, kathartischen und heroischen, ‚reinigenden und heldenhaften‘ Dichtung an die Spitze unserer Veröffentlichungen rücken, ihrem Geiste gemäßer sei, wird die Geschichte entscheiden.“20 Diese ambitiöse Programmatik entspricht dem Programm der „Schöpferischen Restauration“ von 1927. Borchardt zeichnet dramatisch Entstehung und Überlieferung der Sammlung der Homerischen Hymnen, eine Geschichte von Fälschungen und Verwüstungen. Die mit Orphik, der „endemische[n] Selbsttrübungssucht des hellenischen Klarheitsorgans“, mit „Wahn“ und „Superstition“ aus „Spät-“ und „Entartungszeiten“ konta_____________ 18 19 20
Prosa II, 341 f. Prosa II, 507 f., 510, 521. Altionische Götterlieder (1924). Texte der Lieder jetzt in: Übertragungen, 5–74; „Notiz“ a. O., 497 f.; „Nachwort“ in: Prosa II, 109–130; hier: 130.
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minierten Lieder21 restauriert er in einem wissenschaftlichen und einem dichterischen Reinigungs- und Ausscheidungsakt, der zur Wiedergewinnung von „Blüten aus dem Morgengarten des Menschengeschlechtes“ (117) führt, eben jenen von ihm in Übersetzung vorgelegten vier größeren Hymnen an Demeter, Apollon, Hermes und Aphrodite, den Gedichten Nr. 2–5. Die kritische Arbeit hatte dabei neben der Aussonderung der späteren und schlechteren Stücke auch die aus insgesamt 33 Einzelstücken ausgewählten Lieder zu restaurieren, nämlich durch Interpretation und Analyse („Auflösung“) ihren authentischen Text wiederzugewinnen.22 In einer beigegebenen „Notiz“ räumt Borchardt ein, daß ihm das nur für die beiden ersten Gesänge gelungen sei, die also „nach den eigenen Texten des Verfassers gearbeitet“ seien.23 In einer Notiz für einen Verlagsprospekt heißt es 1929: „Mein Streben ist immer darauf ausgegangen, unsere griechische Kulturvoraussetzung von den letzten Resten Roms, der Renaissance, des klassischen Altertums und des Klassizismus abzuscheiden und als urverwandten Reingehalt zurückzugewinnen (‚Alkestis‘ 1908 und PindarÜbersetzung seit 1905 ‚Altionische Götterlieder‘ seit 1921 wissenschaftlich, ‚Klage der Daphne‘ und der ‚Ruhende Herakles‘ dichterisch) […]“.24 Was Borchardt mit seinen deutschen Altionischen Götterliedern beansprucht, geht eindeutig darüber hinaus. Er ‚scheidet‘ nicht nur die Spätantike und Byzanz ‚ab‘, sondern sogar schon das 6. und 5. vorchristliche Jahrhundert (128). Was er gewinnt, ist Gesang, wie er „am eleusinischen Markt und auf peloponnesischen Festfreiungen oder auf dem delischen Klippengrunde, zwischen schweren bunten Tempeln, vor Urvölkern, Ionern in langen Ärmelhemden, Ionerinnen mit steilen Korbhüten, die Ohren voll Goldschnecken, glühendblaue Ketten eng um den Hals, gesungen worden“ (125) sei. Damit stellt er sich gegen die gräzistische Forschung,25 die alle Hymnen erst nach den homerischen Epen ansetzt und die vier ‚altionischen Götterlieder‘ Borchardts dem 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. zuweist. Den Apollonhymnus (Nr. 3) datiert Walter Burkert, dem andere folgen, heute auf das Jahr 522, nämlich auf das von dem Tyrannen Polykrates von Samos auf der Insel Delos veranstaltete Fest der ‚Pythien und Delien‘.26 _____________ 21
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„Nachwort“ Götterlieder, Prosa II, 115 und 123. – Im Folgenden werden die Verweise auf das „Nachwort“ zu den Altionischen Götterliedern in Prosa II mit bloßer Seitenzahl im Text in Klammern gegeben. Später wird Borchardt seine Beurteilung z. T. zurücknehmen, wenn er im Grundriß zu Epilegomena zu Homeros und Homer (1944/45), Prosa II, 7–108; hier: 18, den Demeterhymnus eine „Nachblüte“ nennt, „eng an den Hofstil des Odysseusbuches angeschlossen“. Für den Aphroditehymnus dagegen bleibt das alte Urteil bestehen, wenn es heißt, daß zwar „Sprache und Vers durch Rhapsodenpraxis bis zur Unkenntlichkeit in die allgemeine Konvention verschoben (sind), aber Stil, Umfang, Gliederung, Komposition, Ethos sind original und geben Augenpunkte für Rückgewinnung der analogen Urgestalt der überarbeitet erhaltenen Stücke.“ Übertragungen, 497 f. (in der Originalausgabe 88, vor dem Inhaltsverzeichnis); hier auch der Terminus „Auflösung“ statt ‚Analyse‘. Der Dichter über sich selbst (1929), Prosa VI, 199–202; hier: 201. Sowohl die seiner Zeit (bzw. die Arbeiten, die er kennen konnte) als auch die spätere und gegenwärtige. Vgl. zuletzt Pfeiff (2002), v und xiv. Walter Burkert (1979), 53–62.
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Borchardt aber gewinnt den geschichtlichen Ort ‚der alten Götterlieder Ioniens‘ gerade wieder, indem er auch noch den ‚letzten Bann‘ über ihnen ‚endgiltig ablöste‘ (125): sie nämlich von Homer befreite, nicht allein von der alten Fälschung der Insel Chios,27 sondern auch von der deutschen Wissenschaft von 1777 an, dem Jahr des Fundes der Moskauer Handschrift, bis hin zu Wilamowitz, der Wissenschaft, die zwar wußte, daß nicht Homer der Dichter war, die die Hymnen aber „Homer“ zuschrieb, d. h. sie in die homerische Tradition stellte und mit dieser in ‚Literatur‘, in gelesene Poesie verwandelte. Die Katharsis durch die Restaurationsarbeit, d. h. das Abtragen eingefälschter Bestandteile und fälschender Deckschichten, hatte noch ein weiteres zu leisten. Der Vers dieser Götterlieder durfte nicht „der uns wolvertraute Vers von ‚Hermann und Dorothea‘“, nicht der von „Goethes Achilleïs und Vossens Homer“ sein, nicht „der deutsche klassizistische Hexameter“ (128 und 129). Denn das geschichtliche Recht „des am falsch erlebten Homer entwickelten deutschen Hellenismus und Klassizismus“ war aufgezehrt; dessen Bild „des Griechentums der Urzeit“ habe „historisch, als eine Seelenbewegung der deutschen Nation, seine Schicksale erfüllt“ (127 und 129). Und zweitens: Rhythmus und Sprache der altionischen Lieder unterschieden sich, „in neuem Gehör“ (128), von den homerischen Epen in ihrer „ethisch überhauchten“ und „künstlichen Versgestalt“, wie sie sie durch Verschriftlichung und Stadtkultur des 6. und 5. Jahrhunderts erhalten hätten. „Kein Homer also mehr des ‚klassischen Altertums‘“ (128). Damit ist das Anathema über die Antiketradition von Goethe bis Wilamowitz gesprochen. Der geschichtlich verbrauchte Homer und der klassizistische Hexameter sind „nur noch, und zwar in der Schöpfung, zu vernichten“ (129). Diese Schöpfung war die Antwort auf eine Entdeckung, der „Drang, sich der erfahrenen Offenbarung“, nämlich der Offenbarung einer „unterscheidenden Neuheit“, „gestaltend zu erwehren“ (128). Diese Neuheit war die poetische Sprache dieser Lieder, in der „der Genius des Volkes als breiter sinnlicher Drang gewalttätig“ ausbrach, war eine Dichtung, in der „die Noch-nicht-Sprache […] sich erst im Blitze der Poesie zu Sprache bildet“ und derart „ganze“ Sprache ist, war ein Vers „schollernd und strudelnd wo er viel Beute führt, wiegend, schläfernd und schmeichelnd wenn er will, rüttelnd und reizend wenn er wechselt und seinen Höhen zustürmt“ (129). Daher in Borchardts „vier deutschen Gedichte[n]“ „ein rhythmisches Gebilde […], dem die Gewöhnung sich zu bequemen zögert“, „die ungewohnte und originale Fremdheit, ja die neue wilde und harte Farbe […], in die hinein verwandelt (der Verfasser) sein Erlebnis der alten griechischen Lieder vorlegt“ (127 f.). Dieses ‚Erlebnis‘ ist wiederum geleitet und geprägt von Borchardts Theorie „vom Ursprung und Wesen des epischen Hexameters“, Vorstellungen, die „ganz _____________ 27
Der Hinweis auf den blinden Mann von Chios im Apollonhymnus (v. 172 f.) – von Borchardt trotz seiner Abscheidungsabsicht mit übersetzt – gilt nicht dem Sänger und Verfasser des Hymnus, wie die Antike meinte (vgl. vor allem Thukydides 3,104), welche angebliche Verfasserschaft dann auf alle Hymnen übertragen wurde, sondern, wie Burkert erkannt hat, dem Dichter, dessen Werke die Rhapsodengilde von Chios betreute und die der Sänger des Hymnos auf dem delischen Fest vortrug. Vgl. Walter Burkert (1987), 43–62.
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unmodern“ seien und die die Wissenschaft „für überwunden“ halte.28 Selbst noch die Offenbarung im Erlebnis, die hermeneutische Ahnung und die Neuschöpfung sind von wissenschaftlicher Theorie vorgeformt, und diese steht ebenfalls quer zur eigenen Zeit, in diesem Fall der geltenden Universitätsphilologie (Wilamowitz), und stellt selbst einen Akt schöpferischer Restauration dar, indem Borchardt hier eine wissenschaftliche causa victa, Hermann Useners ‚Ahnung‘ in Altgriechischer Versbau (Bonn 1887), aufgriff und zu erneuern, zu beleben unternahm. Zu dieser Verstheorie äußert er sich in seinem Grundriß zu Epilegomena zu Homeros und Homer (1944).29 Die asiatischen Aeolier hätten „nachweislich nur ein einziges nationales Liedmaß für alle verschiedenen […] Anlässe des Gesanges“ besessen, für das ἡρῷον, für den θρῆνος und das ἐλεγεῖον, nämlich „eine Langzeile aus zwei Gliedern“. „Die melische Einheit der drei γένη (ist) für die ursprünglichen Verhältnisse nicht sowol unbestreitbar als geschichtlich überliefert“. Die Langzeile ist ein aeolisches System […] aus zwei von einander abweichenden silbenzählenden Melismen (κῶλα).“ Zwischen den κῶλα steht eine ‚Fermate‘; sie „ist keine διαίρεσις, Diärese, Caesur; sie ist eine musikalische, keine ‚metrische‘, eine melisch ausgefüllte, keine leere Pause.“ Diese „von Usener entdeckte morphologisch entscheidende Mittelfermate“, auch „von dem größten Metriker des Jahrhunderts“ – so Borchardt hier über Wilamowitz – nicht anerkannt, greift Borchardt auf, eine causa victa rettend, eine Einsicht restaurierend, und markiert sie in den Altionischen Götterliedern gelegentlich mit senkrechtem Doppelstrich,30 worauf er in seiner „Notiz“ eigens hinweist, und Neueinsatz danach mit Großschreibung.31 _____________ 28 29 30 31
„Notiz“; Übertragungen, 498. Prosa II, 7–108; hier: 8 ff.; zu Usener dort 17 und später 74 f. Der Abdruck in dem Band Übertragungen ersetzt den senkrechten Doppelstrich durch einfachen Schrägstrich. Die einzige mir bekannte Äußerung in gelehrter Literatur zu Borchardts metrischer Theorie oder speziell zu seiner Herleitung des epischen Hexameters steht in Paul Friedländers Besprechung der Altionischen Götterlieder im Gnomon 2 (1926), 344–349; hier: 348: „Wir können es doch nicht für richtig halten, daß zuweilen die Zäsur ignoriert wird, oder daß die Usenersche Hexameter-Theorie dazu herhalten muß, häufige rhythmische Überladungen an der Zäsurstelle zu rechtfertigen“. – Auf der Tagung ergänzte Thomas Poiss in seiner Responsion den obigen Beitrag um den wichtigen Hinweis, daß Borchardt „auf seltsame Weise [… ] teilweise auch (mit seiner Auffassung vom Ursprung und Bau des Hexameters) auf triumphale Weise recht bekommen“ habe. „Zwar nicht so, daß sich aus der Usenerschen Urverstheorie das einzige nationale Versmaß der Äolier irgendwann hätte rekonstruieren lassen, aber seit den letzten Jahrzehnten hat auch in die führenden Metrikhandbücher von Martin L. West (Greek Metre 1982) und Bruno Gentili (Gentili/Lomiento 2003) die Lehre Einzug gehalten, daß der Hexameter tatsächlich eine nachträglich stabilisierte und normalisierte Versform ist, die ursprünglich zweigeteilt war, nicht äolisch, sondern aus den Grundelementen der (dorischen) Chorlyrik: Hemiepes (der halbe Pentameter) plus Paroimiakus (West) bzw. Enhoplier (Gentili) (= Hemiepes mit vorne und hinten einem Element zusätzlich). Borchardts zweigeteilter Hexameter aus zwei Achtsilblern trifft das nicht schlecht (und genau diese Achtsilbler tauchen auch heute in Wests und Gentilis Rekοnstruktionen der indogermanischen und äolischen Lyrik auf). Borchardt hat sich dadurch einen archaisierend verfremdenden Vers geschaffen, der den Blick auf das Original schärft.“ Vgl. Gentili (1952), 224; West (1982), 35 und 48 mit Anm. 48; Gentili/Lomiento (2003), 279–283.
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Wie ist die Borchardtsche Entdeckung zu erfahren? Dazu der erstaunlichste Satz des „Nachworts“: Sie ist „griechisch nie wieder zu gewinnen, deutsch zu erahnen“ (128). Die reinigende wissenschaftliche Restauration konnte also nicht alle Schichten abtragen hinunter bis zu dem ursprünglichen Substrat, der sprachlichen und rhythmischen Gestalt der ionischen Götterlieder. Nur als Offenbarung war hier eine Erfahrung zu machen und diese Offenbarung dann ins Deutsche hinein ahnend dichterisch zu gestalten, so daß die Offenbarung als Restauration sich erst in der Schöpfung vollendet. Im Sinn des bereits zitierten Satzes von der ‚Vernichtung in der Schöpfung‘ bedeutet das: Wissenschaftlich nicht zu durchdringende und abzutragende Verdeckungsschichten werden durch dichterische Apperzeption („in neuem Gehör“) und Offenbarungserfahrung des verborgenen ‚Reingehaltes‘ und ‚Urphänomens‘ sowie durch die im ‚geweckten Widerhalle‘ aufbrechende Gestaltung durchdrungen und durchsichtig. Borchardt „unternimmt es“, diesen Götterliedern, „als wären sie das einzige Urdenkmal des griechischen Völkermorgens“, „zum ersten Male wieder, seit sie am eleusinischen Markt […] oder auf dem delischen Klippengrunde, […] vor Urvölkern […] gesungen worden sind, – eine Menschheit, ein Publikum, liebevolle Seelen zu bereiten, in deren Mitte sie mit der vollen Kraft des Originaldichters wieder eintreten mögen“ (125). ‚Eine Menschheit, ein Publikum‘!: Die wiedergewonnene, die restaurierte Dichtung soll ein Publikum finden wie auf dem ‚eleusinischen Markt‘! In dessen ‚Mitte‘ der Dichter Borchardt mit seinen „vier deutschen Gedichten“, „mit der vollen Kraft des Originaldichters“ sprechend. Die hybride Selbsteinschätzung wird dadurch bekräftigt, daß der Dichter vom ‚Bereiten‘ eines Publikums für die Lieder spricht, (125), so daß „das Gewinde solcher Blüten aus dem Morgengarten des Menschengechlechts“, das „geisterhaft die Jahrtausende durchglitten hat, bis auf diese Tage, die ihrer kaum noch würdig sind“, „vielleicht […] noch ein Mal, zum letzten Male“ ein seiner würdiges Publikum findet (117).32 Borchardt hat in der oben zitierten autobiographischen Notiz von der ‚Rückgewinnung‘ ‚unserer griechischen Kulturvoraussetzung‘ „als urverwandten Reingehalt(s)“ gesprochen. Und solche Urverwandtschaft kann nur die der Deutschen mit den Griechen sein, so daß zwar Borchardt als dem Dichter aus jener Urverwandtschaft die ‚Offenbarung‘ der Urgestalt der altionischen Götterlieder geschah, aber seine Antwort auf die Offenbarung, die authentische Schöpfung, auf verwandte Seelen treffen und in ihnen Liebe und Erregung als Widerhall wecken muß. Borchardt erobert eine Dichtung zurück, die ursprünglicher und archaischer als Homer sei. Sein Satz in der Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Poesie (1929/30): „Der Sieg der Demokratie ist hier wie in Mittelalter und Neuzeit das _____________ 32
In „Der Dichter und das Dichterische“ (Rede vom 30.3.1920), in: Rudolf Borchardt, Über den Dichter und das Dichterische. Drei Reden von 1920 und 1923 (1995), 83–115; hier: 111 spricht Borchardt von Goethes „Entschluß, dieses Volk (sc. das verlorene „ihn umgebende Volk“) sich dann selbst durch Gabe und Hingabe zu schaffen“, und ein solches Volk bestehe heute in den „wenigen“, „die als ein geistiger Begriff des Volkes“ betrachtet werden könnten.
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Ende der Poesie“33 bezeichnet die zeitverwerfende Stoßrichtung des restaurativen Übersetzungsunternehmens: antidemokratische, antiliberale Apotheose ursprünglicher Menschheit als eines sich in Gemeinschaft und Dichter heiligenden nationalen Volksganzen. Paul Friedländers wohlwollende Würdigung im zweiten Jahrgang (1926) des Gnomon enthält das fundamentale Mißverständnis, Borchardt habe eine „Homerische Kunstsprache“ schaffen wollen, „fern von jener Konvention, die […] Stolberg und Voß begründet“ hatten. Borchardts Pointe besteht gerade im Vordringen zu einer vorhomerischen Ursprache, indem er die Götterlieder von Homer, vom homerischen Hexameter selbst befreit und nicht nur von dessen deutscher Übersetzungskonvention. Sondern in heiligen Tümern || Hochangebetete bleibend Opfer genoss die Erhabene || Mit Kuhblick bannende Here34
ist die Übersetzung von: ἀλλ ἥ γ’ ἐν νηοῖσι πολυλλίστοισι μένουσα τέρπετο οἷς ἱεροῖσι βοῶπις πότνια Ἥρη
(Die aber blieb in ihren Tempeln, viel von Betern besuchten, und freute sich an den Opfern, die kuhäugige Herrin Here)
Das Attribut ‚viel in Gebeten erfleht‘ ist von den Tempeln auf die Göttin übergegangen. In der „Notiz“ heißt es, die Übersetzungen des Demeter- und des Apollonliedes seien „nach den eigenen Texten des Verfassers gearbeitet“. Wie Borchardt den Text geändert hat, wissen wir nicht. Da er bei seiner Auffassung der Metrik nicht an Daktylen und Spondeen gebunden war, ist es durchaus möglich, daß er zu πολύλλιστος (fem.) änderte. Warum werden die νηοί ‚heilige Tümer‘? Weil ‚Tempel‘ ein Lehnwort aus dem Lateinischen ist (templum) und dem Programm nach auch gerade Rom abzuscheiden war. Aber mehr noch, weil ‚Tempel‘ der scheinbar unangefochtene Bildungsbesitz der Deutschen war, wenn auch noch nicht so von Autopsie in Griechenland, Kleinasien, Sizilien, Unteritalien gesättigt wie heute, dafür aber einerseits eine ungeschieden klassisch-antike Architekturform, so römisch wie griechisch und darüber hinaus von Vitruv bis Palladio, von der Renaissance bis zum Klassizismus klassizistisch verfügbar. Borchardts Antiklassizismus gewinnt mit den „heiligen Tümern“ eine eigene intensive Lebendigkeit für das frühgriechische Gotteshaus zurück, und er nähert es zugleich mittelalterlichen Vorstellungen an, indem „tuom“ ja geradezu ‚Kirche‘ bedeutet. Die archaische Volksfrömmigkeit wird wieder gewonnen durch die Glaubensinnigkeit des deutschen Mittelalters. Das griechische Wort ναός, etymologisch mit ναίω, ‚wohnen‘ verbunden, steht als ‚Wohnung‘ des Gottes semantisch „tuom“ nahe, das von lat. domus, ‚Haus‘, mittellateinisch doma, von griech. δῶμα, _____________ 33
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Pindarische Gedichte (1929/30). Nachwort: „Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Poesie“ (73–153). Übersetzungen jetzt in: Übertragungen (1958), 97–147; „Nachwort“ in: Prosa II (1959), 131– 234; hier: 153. Apoll. 347 f.
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‚Haus‘, hergeleitet wird. Ähnliches gilt auch für „Hochangebetete“, das mittelalterlich-katholisch klingt, indem es an Epitheta für die Gottesmutter erinnert. Vergleichbar mit ‚heiligem Tum‘ ist die „Dingstatt“ als Eindeutschung von ἀγορή: „Und er entbot zu der Dingstatt || Die unabsehbaren Freien“ (Dem. 296: αὐτὰρ ὅ γ’ εἰς ἀγορὴν καλέσας πολυπείρονα λαόν). Die Agora, der Marktplatz als der Ort der Volksversammlung, wobei unter ‚Volk‘ (λαός) hier nur die Männer und natürlich nur die freien Männer zu verstehen sind, wird zur Thingstatt in der neuhochdeutschen Form „Dingstatt“, die fränkisches Mittelalter, nicht germanische Praxis, evoziert, denn althochdeutsch heißt es „dinc“. Befreiung von Rom und der klassizistischen Tradition geschieht auch, wenn βωμός nur ausnahmsweise mit „Altar“ übersetzt ist (z. B. Apoll. 495), meist aber als „Brandherd“, „Weihherd“ oder „Herd“ erscheint (z. B. Apoll. 490, 492, 508). Anderes transportiert „mit Kuhblick bannend“. Es ersetzt das durch Johannn Heinrich Voss vertraute „kuhäugig“ und macht es neu, verleiht ihm eine intensive göttlich-dämonische Aura.35 Ein analoger Fall ist „ein rauchaufsendendes Heiltum“ als Übersetzung von πίονα νηόν (Dem. 297). Wenn πίων, ‚fett‘, nicht bei Tieren oder Tierprodukten steht, bedeute es, sagen die Lexica, ‚reich‘, ‚wohlhabend‘, ‚üppig‘, ‚rich‘, ‚wealthy‘, ‚abounding‘, ‚plenteous‘, und so übersetzen die neueren Philologen denn „den reichen“ (Anton Weiher) oder „den prangenden Tempel“ (Karl Arno Pfeiff). „Reich“ ist blaß und abstrakt – es sei denn, unsere Vorstellung archaischer griechischer Tempel füllt den ‚Reichtum‘ mit farbiger Bildlichkeit; „prangend“ ist ein bloßes Übersetzungswort, das im Grunde nur noch wir Altphilologen kennen, aus unseren Lexica und Übersetzungen. „Rauchaufsendend“ macht πίων, ‚fett‘, religiös konkret und bildlich: der mit Fettdampf gesättigte Rauch, der von dem Brandopfer geschlachteter Tiere zum Himmel steigt. Borchardt denkt an die κνίση oder κνίση δημοῦ wie z. B. in Ilias 1,317: „Und der Fettdampf kam zum Himmel, rings herumwirbelnd im Rauch (Übersetzung von Wolfgang Schadewaldt): κνίση δ’οὐρανὸν ἵκεν ἑλισσομένη περὶ καπνῷ“. Im Apollonhymnus folgt bald nach πίονα νηόν (v. 52), das nun, an gleicher Versstelle, nämlich am Versende stehend, „ein rauchendes Haus“ heißt: „und Rauchduft stiege unendlich / Über Dir“ (v. 58 f.: κνίση … δημοῦ). Und auch θύος, ‚Brandopfer‘ ist ihm im Sinn, denn in Dem. 318 verdeutscht er Ἐλευσῖνος θυοέσσης als „Des rauchaufdunklen Eleusis“ und in v. 355 θυώδεος … νηοῦ als „ein rauchendes Stifthaus“. Die Vokabeln „Götter“ oder „Unsterbliche“, „Gott“ und „Göttin“ evozieren im Leser die griechischen Götter des ‚Klassischen Altertums‘, von der Renaissance über den Barock bis zum Klassizismus. Daher überträgt Borchardt θεός, θεοί, θεᾶ, δαίμων, ἀθάνατοι oder θεοῖ ἀθάνατοι immer wieder neu, wobei er zwar durchaus auch „Gott“, „Göttin“, „Götter“, „die Unsterblichen“, „die unsterblichen Götter“ wählt, aber oft Variationen einsetzt wie: „die Gottheit“, „die Heilige“, „die Heiligen“, _____________ 35
Thomas Poiss hat in seiner Responsion auf der Berliner Konferenz hierzu diese Lesefrucht mitgeteilt: „Hölderlin übersetzt βοῶπις (P. 3,91) ebenfalls erstaunlich: ‚stieranschauend‘. Der Philologe Zuntz rügt das als völlig verfehlt (Zuntz [1928], 26: ‚unmöglich‘), übersieht aber, daß bei Hölderlins Wort nicht ein Stier schauen muß (26: ‚wie ein Stier schauend‘), sondern daß Hölderlin das ‚stier, nämlich: bannend Anschauen‘ entdeckt hat.“
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„die Heilige Schar“, „ewige Geister“, „der Gottgeist“, „der Unsterblichen Geistersame“, „der Erhabne“/„die Erhabnen“. Hofmiller hat von Borchardts Pindar-Übertragung gesagt: „Um die Chorlyrik dieses ritterlichsten aller hellenischen Sänger herauszuholen, hat Borchardt tief hineingegriffen ins Geschmeide unserer älteren Sprache. Zeugnis dessen eine Anzahl Wörter, die Vorstellungen von Frühling, Rittertum und Mittelalter wachrufen“.36 Dieses Urteil läßt sich auf die Altionischen Götterlieder, insbesondere das Demeterlied, übertragen. Hier einige Illustrationen: „Burg“ (μέγαρα, Dem. 379; δώματα, Dem. 135), „Burgsippe“ (δῆμος, Apoll. 468), „Flurmark“ (ἀρούρη, Dem. 450. 471), „fürstlicher Gnaden“ (διοτρεφής, Dem. 184: „zeusgenährt“), „Gadem“ (μέγαρα, Dem. 115), „Heerbann“ (λαοί, Dem. 475), „Kien“ (δαΐδες, Dem. 48), „Landsburg“ (πτολίεθρον, Dem. 356; πόλις, Dem. 151), „Schaffrin“ (ταμίη, Dem. 104), „Veste“ (πτολίεθρον, Dem. 318), „Zinne“ (κρήδεμνα, Dem. 151). ‚Heilige Tümer‘ sind ein Archaismus. In einem Brief an Josef Hofmiller vom 9.2.191137 stellt Borchardt zum Archaismus zwar nicht des Übersetzers, sondern des Dichters „gewisse allgemeine Sätze“ auf, die sich aber weithin übertragen lassen. „Erste Regel: Jeder literarische […] Archaismus des Stiles als blossen Ausdrucksmittels widerspricht dem Postulate der künstlerischen Thätigkeit: schöpferisch bis ins letzte und minutiöseste Ausdrucksmittel hinein zu sein. […]. Zweite Regel: Der literarische […] Archaismus des Stiles als eines Darstellungsmittels, d. h. eines Mittels, eine bestimmte Denkform, Sehform, ein Weltbild darzustellen, ist dem Künstler dann unverwehrbar, wenn diese forma mentis oder figuratio mundi noch in einem direkt fortwirkenden und lebendig continuierlichen Verhältnisse zu seiner eigenen steht, im Sinne der Classicität oder der Vererbung, vor allem aber wenn er die seine gegen jene als degradiert zu empfinden Anlass hat. Diese Form des Archaismus heisst Restauration und widerspricht dem obigen Postulate der Künste darum nicht, weil sie auf der Basis jener historisch und classisch determinierten Seh- Denk- und Weltform mit deren Ausdrucksmitteln ganz so frei schafft wie die authentischen Geister denen sie historisch eignete, und alles Unerlernbare Unfindbare Unbelegund Bezeugbare38 genial und schlagend ergänzen wird, wo das Genie sich dieser Kunstformen bedient. […].“ Es ist kaum ein Zufall, daß die erste Regel das Wort „schöpferisch“, die zweite das Wort „Restauration“ enthält. Zu den Bereicherungen, die der Beitrag des Verfassers in der Responsion von Thomas Poiss erfahren hat, gehört, über das in den beiden Anmerkungen 30 und 33 Mitgeteilte hinaus, auch das folgende Zitat, das nun an den Schluß gestellt sei: „Bei allen Vorbehalten muß man Borchardts Schöpferische Restauration […] als radikale Form der Avantgarde ansehen, geboren aus der historischen Philologie. Das Avantgardistische dieses Rückgriffs liegt dabei im wirklich beispiellosen Durchdenken des _____________ 36 37 38
Aus Notizen des Nachlasses publiziert von Wuthenow (1955), 36. Briefe 1907–1913. Text (1995), 352–359; die Zitate auf den Seiten 353 f. So in der genannten Ausgabe; gemeint ist natürlich das ‚Unbezeugbare‘, das nach „Unbeleg-“ allenfalls in der Form ‚-bezeugbare‘ hätte wiedergegeben werden können. Ob das Versehen das Borchardts oder das des Herausgebers ist, weiß ich nicht.
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historischen Sprachmaterials, im Nichthinnehmen der herkömmlichen Ausdruckskonventionen. Für Borchardt als Übersetzer aber bedeutet es das Durchdringen sowohl des griechischen als auch des deutschen Sprachschatzes.“
Primärliteratur Borchardt, Rudolf, „Eranos-Brief“ (1923/24), in: Prosa I (2002), 286–326. Borchardt, Rudolf, Altionische Götterlieder/unter dem Namen Homers. Deutsch von R. B., München 1924. Jetzt in: Übertragungen (1958), 5–74 (vgl. 497 f.). Borchardt, Rudolf, Hartmann von Aue, Der Arme Heinrich. Besorgt von R. B., München 1925; „Nachwort“: 57–87. Text jetzt in: Übertragungen (1958), 339–389 (vgl. 509 f.); „Nachwort“, Prosa II (1959), 317–342. Borchardt, Rudolf, „Schöpferische Restauration“ (1927), in: Reden (1955), 230–253. Borchardt, Rudolf, „Die geistesgeschichtliche Bedeutung des neunzehnten Jahrhunderts“ (1927), in: Reden (1955), 324–344. Borchardt, Rudolf, „Der Dichter über sich selbst“ (1929), in: Prosa VI (1990), 199– 202. Borchardt, Rudolf, Pindarische Gedichte. Übersetzt von R. B. […], München 1929/30 (erschienen Herbst 1931). Nachwort: „Einleitung in das Verständnis der Pindarischen Poesie“ (73–153). Übersetzungen jetzt in: Übertragungen (1958), 97–147; „Nachwort“ in: Prosa II (1959), 131–234. Borchardt, Rudolf, „Walter Pater. Zu seinem hundertsten Geburtstage“ (Sonntagsblatt der Basler Nachrichten, 33. Jg., Nr. 33, 13.8.1939). Jetzt in: Prosa III (1960), 402– 422. Borchardt, Rudolf, „Grundriß zu Epilegomena zu Homeros und Homer“ (1944/45), Prosa II (1959), 7–108. Borchardt, Rudolf, Reden. (Gesammelte Werke in Einzelbänden). Hg. v. Marie Luise Borchardt unter Mitarb. v. R. A. Schröder und S. Rizzi, Stuttgart 1955. Borchardt, Rudolf, Übertragungen. (Gesammelte Werke in Einzelbänden). Hg. v. Marie Luise Borchardt unter Mitarb. v. Ernst Zinn, Stuttgart 1958. Borchardt, Rudolf, Prosa I. (Gesammelte Werke in Einzelbänden). Textkritisch revidierte, chronologisch geordnete und erweiterte Neuedition der Ausgabe von 1957. Hg. v. Gerhard Schuster, Stuttgart 2002. Borchardt, Rudolf, Prosa II. (Gesammelte Werke in Einzelbänden). Hg. v. Marie Luise Borchardt unter Mitarb. v. Ernst Zinn, Stuttgart 1959. Borchardt, Rudolf, Prosa III. (Gesammelte Werke in Einzelbänden). Hg. v. Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von Ernst Zinn, Stuttgart 1960. Borchardt, Rudolf, Prosa VI. (Gesammelte Werke in Einzelbänden). Hg. v. Marie Luise Borchardt †, Ulrich Ott und Gerhard Schuster unter Mitarb. v. Angelika Ott und unter Beratung von Ernst Zinn †, Stuttgart 1990.
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Borchardt, Rudolf, Briefe. 1907–1913. Text. Bearb. v. Gerhard Schuster, München 1995. Borchardt, Rudolf, Über den Dichter und das Dichterische. Drei Reden von 1920 und 1923. Aus dem Nachlaß herausgegeben und erläutert von Gerhard Neumann, Gerhard Schuster und Edith Zehm. Mit einer Dokumentation sämtlicher Reden Borchardts 1902–1933 von Gerhard Schuster. (Schriften der Rudolf Borchardt-Gesellschaft Bd. 4/5) München 1995. Borchardt, Rudolf, Rudolf Borchardt – Werner Jaeger, Briefe und Dokumente 1929–1933, hg. v. E. A. Schmidt, (Schriften der Rudolf Borchardt-Gesellschaft, Bd. 10), München 2007. Hofmannsthal, Hugo von, „Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation“ (Neue Rundschau 1927). Jetzt in: H. v. H., Prosa IV (1955), 390–413. Hofmannsthal, Hugo von, Prosa IV, Frankfurt am Main 1955. Wuthenow, Ralf Rainer (Hg.), Josef Hofmiller, Form ist alles. Aphorismen zu Literatur und Kunst, München 1955.
Sekundärliteratur Apel, Friedmar, Theorie und Praxis des Übersetzens bei Rudolf Borchardt. (Paderborner Universitätsreden, Nr. 19), Paderborn 1989. Apel, Friedmar, „Rudolf Borchardt und Edna St. Vincent Millay“, in: Osterkamp (1997), 45–55. Burkert, Walter, „Kynaithos, Polycrates, and the Homeric Hymn to Apollo“, in: Arktouros. Hellenic Studies presented to B. M. W. Knox, Berlin/New York 1979, 53– 62. Burkert, Walter, „The Making of Homer in the Sixth Century B. C. Rhapsodes versus Stesichoros“, in: Papers on the Amasis Painter and his World, Malibu (Cal.) 1987, 43–62. Friedländer, Paul, [Rez. zu:] Rudolf Borchardt, Altionische Götterlieder unter dem Namen Homers, in: Gnomon 2 (1926), 344–349. Gentili, Bruno, La metrica dei Greci, Messina/Florenz 1952. Gentili, Bruno/Lomiento, Liana, Metrica e ritmica: storia delle forme poetiche nella Grecia antica, Mailand 2003. Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, Leipzig 1860 (Nachdr. München 1984). Lexer, Matthias, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch, Bd. 2, Leipzig 1876 (Nachdr. Stuttgart 1992). Osterkamp, Ernst (Hg.), Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen, Berlin/New York 1997. Pfeiff, Karl Arno, Homerische Hymnen. Übertragung, Einführung und Erläuterungen von K. A. P. Hg. v. Gerd von der Gönna und Erika Simon. (Ad Fontes. Quellen europäischer Kultur. Bd. 8), Tübingen 2002. Poiss, Thomas, „Rudolf Borchardt und die universitäre Altphilologie (Friedrich Leo)“, in: Osterkamp (1997), 56–72.
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Geschmack, Einfühlung, Inspiration: Nicht-objektivierbare Größen in Übersetzungsreflexionen Nina Mindt (Berlin) „Treue und Schönheit sind die beiden Hauptforderungen, die man an jede poetische Übersetzung zu machen hat.“ (Goethe: Gespräch mit J. D. Gries, Januar 1815) Geschmack, Einfühlung und Inspiration: Notwendigerweise muss es bei einem Thema wie dem Übersetzen, das Bereiche der Sprachtheorie und Hermeneutik, Literaturtheorie und Ästhetik berührt, an einem gewissen Punkt zu Leerstellen des Regelhaften und „Rationalen“ bzw. des rational Darstellbaren kommen,1 freilich in verschiedenen Abstufungen. Doch die Frage bleibt, ob sich viele Übersetzungsreflexionen, zumal wenn es sich um die so genannte „Literarische Übersetzung“ handelt, nicht allzu schnell auf Kriterien zurückziehen, deren Überprüfung kaum verifizierbar ist. Das im vorliegenden Beitrag verwendete Material konzentriert sich vornehmlich auf Reflexionen zu metrisch gebundener Dichtung, weil dort am häufigsten auf „irrational“ anmutende Kriterien zurückgegriffen wird.2 Ihnen gemeinsam ist der Ausgangspunkt der lateinischen oder griechischen Literatur als ‚schöne‘, ‚gefühlte‘ oder ‚geschaute Antike‘. Bisweilen, etwa bei Ludwig von Heß (1766) oder, über 200 Jahre später, bei Manfred Fuhrmann (1992), scheint das Übersetzen von (lateinischer) Poesie gar von Grund auf nicht in fassbare Regeln gebracht werden zu können und wird daher von ihren Grundsätzen zum Übersetzen ausgenommen.3 Wie kann man produktiv mit solchen Größen umgehen? Es findet sich viel Topisches in Übersetzervorreden und Werkstattberichten, in Übersetzungskritiken und _____________ 1
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Zur Problematik der Subjektivität des Übersetzungsvorgangs und ihrer Darstellbarkeit vgl. Apel/Kopetzki (2003), 37: „Offenbar bewegt das Übersetzen sich in einem Spannungsfeld zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen einer Sprache. Individuelle, kreative Lösungen sind weder vorhersehbar, noch reproduzierbar, unsystematisch und nicht methodisch, denn die sprachliche Regel, die schöpferische Intuition zu stimmigen, plausiblen Übersetzungslösungen macht, existierte zuvor noch gar nicht, sondern wird durch den kreativen Einfall des übersetzenden Individuums allererst aufgestellt. Keine axiomatische oder von außen verifizierbare ‚Translationsregel‘ hat zu ihr geführt.“ Reflexionen zum Übersetzen, auch wenn sie nicht dezidiert das Problem von Gattungs- oder Autorspezifik ansprechen, beziehen sich meist auf das Übertragen eines bestimmten Textes oder einer bestimmten Art von Texten. Vgl. von Heß, Einleitung in die Uebersetzungskunst, mit einem Versuche aus des Tacitus Jahrbuechern (1766), 8, und Fuhrmann, Die gute Übersetzung (1992), 9.
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Rezensionen oder in Bemerkungen zum Übersetzen, und bisweilen wird dadurch an genauerem Hinsehen gespart oder eine dichterische Pose eingenommen. Auch bei scheinbar subjektiven Äußerungen kann man jedoch, wie sich zeigen wird, auf regulative Größen stoßen. Dieses Spannungsfeld zwischen harten und weicheren Kriterien in Übersetzungsreflexionen ist genauer zu untersuchen, und zwar auf zwei für die Übersetzung von Literatur zentralen Bereichen: Ästhetik und Hermeneutik. Die Grenzziehung zwischen Mitteilbarem und lediglich Umschreibbarem4 soll dabei überprüft werden. Eine historische Darstellung darf nicht allzu leichtfertig über diese zunächst kaum theoretisierbar erscheinenden Größen hinweggehen. Eine Untersuchung der genannten Begriffe kann, als literaturwissenschaftliche Rezeptionsforschung, interessante Rückkopplungseffekte zwischen Hermeneutik, Sprach-, Literatur- und (in diesem Fall) Antikeauffassung nachzeichnen. Zugleich muss man dabei auf die Schwierigkeiten einer Analyse im historischen Querschnitt Rücksicht nehmen: ‚Geschmack‘ etwa zeigt sich als bestimmende Kategorie in Aufklärungspoetiken und beeinflusst auch entsprechende Übersetzungsreflexionen. Diese Größe findet sich heute kaum mehr in poetologisch-ästhetischen Diskursen und daher auch kaum mehr in Bewertungen von Übersetzungsleistungen. Während Geschmack im Zuge normativer Aufklärungspoetiken als relativ klar bestimmbar verstanden werden konnte, erscheint der Begriff bei der Lektüre aus heutiger Sicht hingegen als recht weiches Kriterium, weil kein gesellschaftlich-sozialer Konsens darüber besteht. Der Wechsel der Perspektive vom Rezipienten zum Produzenten durch sich verändernde ästhetische Konzepte wird in einem weiteren Punkt in der Übersetzungsdiskussion ablesbar, wie etwa um 1800, wo rezeptionsästhetische Konzepte in der Tradition rhetorischer Literaturbetrachtung auf eine Auffassung treffen, die sich auf den einmaligen schöpferischen Akt im Dichter (oder dem Übersetzer, dem Dichter zweiten Grades) konzentriert. Damit müssen auch die Fragen der Übersetzbarkeit oder Unübersetzbarkeit und nach der Rolle des Übersetzers neu gestellt werden. Mit dem Fokus auf dem die Übersetzung produzierenden Subjekt rückt unter anderem dessen Verständnis und Verständnisprozess in den Vordergrund, so dass zu fragen ist, wie sich diese Verschiebung auf hermeneutische Grundeinstellungen auswirkt. Dies und Ähnliches muss mitbedacht werden, wenn zeitlich weit auseinander liegende Äußerungen zusammengebracht werden. Ausgangspunkt bildet die gegenwärtige Diskussion um die Rolle des Übersetzers: Rainer Kohlmayer, Professor für Interkulturelle Germanistik, Mitarbeiter im Göttinger Sonderforschungsbereich „Literarische Übersetzung in Deutschland“, damit Übersetzungsforscher, aber auch selbst Übersetzer (u. a. Molière), hat Selbstaussagen von sechs erfolgreichen Literaturübersetzern aus dem Jahre 1996 unter anderem auf deren übersetzerisches Ver_____________ 4
So umkreist auch Eco (2003) das Phänomen des literarischen Übersetzens anstatt handfester Regeln mit Beispielen für verschiedene Schwierigkeiten, die alle das Hauptproblem des „quasi“ in der Übertragung behandeln, das daher auch im Titel aufgeführt ist: Dire quasi la stessa cosa (dt. Titel: Quasi dasselbe mit anderen Worten [2006]). Beim Übersetzen müsse „verhandelt“ werden zwischen Original und Übertragen, zwischen Gewinnen und Verlusten, um möglichst nahe „quasi dasselbe“ zu erzeugen, vgl. Eco (2003), 276.
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halten hin untersucht.5 Vier von ihm beobachtete Elemente lauten: Subjektivität, Sympathie, Empathie und Ton/Atmosphäre. Kohlmayer beschließt seine Auswertung mit der sich aus praxisorientierter Perspektive ergebenden Frage, wie eine entsprechende Didaktik des Literaturübersetzens sinnvoll zu gestalten wäre.6 Eben diese Frage nach der Lehrbarkeit hängt unmittelbar mit dem Problem der Objektivierbarkeit zusammen. Den Schwerpunkt auf Leer- und Grenzstellen in Übersetzungsreflexionen zu legen, konkret Äußerungen verschiedener Zeiten zum Übersetzen antiker Texte daraufhin zu lesen, ist insofern reizvoll, als der bisherige Blick sowohl normativ-präskriptiver wie auch historisch-deskriptiver Ansätze in der allgemeinen Übersetzungswissenschaft und Übersetzungsforschung seit den 1960er Jahren vielfach primär an positiven, verifizierbaren Aussagen interessiert war, darum bemüht, mehr oder weniger konzise Konzepte des Übersetzers und dessen Reflexionen herauszuarbeiten. Andere Herangehensweisen wurden eher als vorwissenschaftlich eingeordnet7 oder wegen ihres vortheoretischen Status8 von vorneherein ausgeklammert. Ausnahmen der damaligen Forschung, die eine theoretische Untersuchung zum Übersetzen als Kunst versuchten, sind Levý (1963), Kloepfer (1967) oder Wuthenow (1969). Nur Kloepfer allerdings bezieht auch die Übersetzung antiker Literatur mit ein. Hugo Friedrich (1965), der den Geltungsbereich der stark linguistisch geprägten Übersetzungswissenschaft auf das „Dolmetschen“, so wie Schleiermacher es versteht,9 beschränkt, forderte, dass der Begriff der Übersetzungskunst literarästhetisch geschützt werden müsse.10 Mit Übersetzungskunst […] ist ein Vorgang gemeint, welcher der Literatur angehört. Literatur beginnt dort, wo die Sprache Kräfte aus sich entbindet, die sie zu bloßen Sachmitteilungen nicht benötigen würde, und die auch dann, wenn sie Zwecken dienen, die Zwecke überhöhen durch die Freiheit der Kunst, durch jene sich in sich selber bindende Freiheit, die sie den Zwecken, denen sie dient, gleichzeitig entrückt.11
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Vgl. Kohlmayer (2002). Als Grundlage dienten halbstündige Interviews mit Swetlana Geier (Dostojewski), Helmut Scheffel (nouveau-roman-Autoren und u. a. Roland Barthes), Ragne Maria Gschwend (u. a. Italo Svevo), Willi Zurbrüggen (lateinamerikanische Literatur), Reinhard Kaiser (englische und amerikanische Sachbücher und Literatur) und Hildegard Grosche (ungarische Literatur). Kohlmayer (2002), 338. Vgl. Koller (2004), 34. Vgl. Wilss (1977), 134. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 68. Damit stellt sich Friedrich deutlich in die traditionell philologisch-hermeneutische Tradition und verwendet nicht die Unterscheidung, die sich in der Übersetzungswissenschaft und im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hat und Dolmetschen für das mündliche Übersetzen verwendet. Friedrich (1965), 21. Friedrich (1965), 6.
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Zur Übersetzungskunst: ars zwischen Handwerk und literarisch-schöpferischer Leistung Das Übersetzen hat schon Plinius der Jüngere als nützliche Übung dargestellt, mit Hilfe derer man sich gedanklich-sprachliche Fertigkeiten erwerben könne: Utile in primis, et multi praecipiunt, vel ex Graeco in Latinum vel ex Latino vertere in Graecum. Quo genere exercitationis proprietas splendorque verborum, copia figurarum, vis explicandi, praeterea imitatione optimorum similia inveniendi facultas paratur; simul quae legentem fefellissent, transferentem fugere non possunt. Intelligentia ex hoc et iudicium acquiritur.12
An die Dimension der exercitatio knüpfen viele rhetorische Lehrbücher an und auch Poetiken, wie noch die von Breitinger, in der sich ein Kapitel „Von der Kunst der Übersetzung“ findet. Dort bezeichnet er das Übersetzen als eine „Übung […] wodurch der gute Geschmack in der Beredsamkeit am sichersten fortgepflanzt, und der Reichthum einer Sprache befördert werden kann.“13 Einerseits kommt der Aspekt der Bereicherung sowohl für den Übersetzer wie für die Zielsprache zur Geltung, der durchaus ein schöpferischer Prozess sein kann. Wichtiger an dieser Stelle ist aber etwas anderes: Der Begriff der Übung scheint bisweilen in gewissem Sinne Lehr- und Lernbarkeit zu implizieren, und sei es auch als poetische Fingerübung. So gab und gibt es Handbücher, die zum richtigen und guten Übersetzen anleiten wollen, und die Titel wie Die Kunst des Übersetzens tragen können, obgleich Kunst dort, bis zu einem gewissen Grad, ars oder techne, Handwerk, Technik und Know-how meinen kann. Paul Cauers Die Kunst des Übersetzens. Ein Hilfsbuch für den lateinischen und griechischen Unterricht aus dem Jahre 1894 (1914 bereits in der fünften Auflage erschienen) ist ein besonders erfolgreiches Beispiel. Trotz seiner dezidiert praktischen Zielsetzung schreibt er über die Begrenztheit der Aufgabe. Gegen eine Mechanisierung des Übersetzens und Erklärens in der Schule fordert er einerseits Beherrschung der Muttersprache, andererseits das Hineinleben in den Geist des Autors und von da aus Ausbildung des deutschen Ausdrucks. „Alles künstlerische Schaffen hat seine eigentliche Kraft auf dem Gebiete des Irrationalen; so auch das des Übersetzers.“14 Neben dem Hineinleben in den zu übersetzenden Autor wird hier überdeutlich das irrationale Moment des Übersetzens betont. Auch Carl Bardt kommt in seinem Handbuch von 1904 (1928 in dritter Auflage) darauf zu sprechen, trotz des Titels Zur Technik des Übersetzens lateinischer Prosa. Er schreibt: _____________ 12
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Plin., ep. 7, 9,2 f. („Vor allem ist es nützlich, und das schreiben viele vor, entweder aus dem Griechischen ins Lateinische oder aus dem Lateinischen ins Griechische zu übersetzen. Durch diese Art der Übung kann man sich Eigenart und Glanz der Worte, eine Menge an Redefiguren, Ausdruckskraft und vor allem durch Nachahmung der Klassiker Erfindungsgabe verschaffen. Was einen beim Lesen getäuscht hätte, kann einem, der übersetzt, nicht entgehen. Begründete Einsichten kann man daraus gewinnen.“, Übers. N. M.). Breitinger, Critische Dichtkunst und Fortsetzung der Critischen Dichtkunst (1740), 138. Cauer, Die Kunst des Übersetzens. Ein Hilfsbuch für den lateinischen und griechischen Unterricht (1894), Vorwort.
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Übersetzen ist eine Kunst, keine schaffende, wie die des Dichters oder Malers, aber eine nachbildende, wie die des Schauspielers und des ausführenden Musikers, und weil es eine Kunst ist, ist das Beste, das Feinste, das Höchste in ihr nicht lernbar. Aber die Kunst hat etwas zur Voraussetzung, was dem Handwerk vergleichbar ist […]. So gibt es auch für das Übersetzen etwas, was dem Handwerk gleicht, und es ist lehrbar, wie die Technik des Schauspielers und des Musikers […]. [E]ine vollendete Übersetzung wird durch Unterweisung nie zustande kommen […].15
Wenn bereits in Lehrwerken die letzte rational-objektiv mitteilbare Größe negiert wird, ist zu fragen, wie sich dieser Sachverhalt bei anders gelagerten Äußerungen verhält. Die Vorstellung vom Übersetzen als künstlerischem Akt hat Herder, der unter anderem selbst Einiges von Sappho und Orphische Hymnen übertragen hat, so formuliert: Für den Übersetzer reiche es nicht aus, ein guter Philologe zu sein, sondern er „muß selbst ein schöpferisches Genie seyn“16. Herder wiederum bietet die sprachphilosophischen Voraussetzungen der Romantik, wo Individualität der Sprachen und des Dichters, Historismus und Einmaligkeit eine deutliche Akzentsetzung für die Theorie des Übersetzens markieren. Sobald ein literarisches Werk einmalig ist, bedürfe es, so die sich damals durchsetzende Meinung, außergewöhnlicher Umstände zur Re-Realisierbarkeit – weshalb sich die Übersetzungsdiskussion hin zu einer um das künstlerische Schaffen bewegt. So ist beispielsweise Novalis’ Dichtungskonzeption quasi eine Poetik der Übersetzung – Übersetzung wird als Metapher für Kunst verwendet. Brentano schreibt: „Das Romantische selbst ist eine Übersetzung.“17 Das Übersetzen wird zu einem Schlüsselbegriff innerhalb der romantischen Ästhetik,18 die sich weit in die spätere Diskussion eingeschrieben hat. Übersetzer selbst greifen gerne zu Vergleichen zwischen Übersetzen und originalem Schreiben. Johannes Minckwitz beispielsweise (1844) weist in seiner Vorrede zu den von ihm übersetzten Werken des Sophokles, teils als Selbstnobilitierung, teils als Selbstverteidigung, auf die hohen Anforderungen hin – ein Zug, der sich nicht selten in übersetzerischen Eigenpositionierungen findet: Die Kunst zu übersetzen wird sich, unserer Meinung nach, ebenso wenig lehren lassen, als die Dichtkunst; sie fordern beide ein positives Talent, wenn sie mit Glück geübt werden und mehr als Mittelmäßiges hervorbringen sollen. Wem diese Behauptung neu seyn sollte, der möge nur selbst einen Versuch im Uebersetzen eines Dichters machen, um alsbald zu erproben, wie weit Produktivität oder darstellende Kraft, oder wie man es sonst nennen will, zu Gebote stehen müsse.19
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts, mit der Rückkehr zu Konzepten, die der Frühromantik nahe stehen oder ästhetische vates-Vorstellungen revitalisieren, zieht diese Dimension verstärkt in die Übersetzungsdiskussion – auch antiker Werke – ein. Zum _____________ 15 16 17 18 19
Bardt, Zur Technik des Übersetzens lateinischer Prosa (1904), 1 f. Herder, Ueber die neuere deutsche Literatur (1766/7), 178. Brentano, Godwi (1801), 262. Dazu vgl. Apel (1982), 89–136, Apel/Kopetzki (2003), 83–88, und Berman (1984). Minckwitz, [Vorrede] (1844), 519.
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Status des Übersetzens und seinem Verhältnis zu eigenständigem Dichten äußert sich etwa Richard Newald in seinem historischen Rückblick in die Übersetzungsgeschichte. Sein Aufsatz Von deutscher Übersetzerkunst aus dem Jahre 1936 ist geradezu eine Fundgrube sämtlicher weicher Kriterien für eine Übersetzung: Man könne „Übersetzerregeln“ noch so genau beobachten, die Sprache noch so meistern und über das handwerksmäßige Rüstzeug virtuos verfügen: [W]enn das Übersetzerorgan, das Stilempfinden für die Ausdrucksfähigkeiten und -möglichkeiten in der eigenen Sprache fehlt, geht die Seele verloren und das entstandene Produkt ist ein Tragelaph.20
Er führt weiter aus, die Art des Schöpferischen näher bestimmend: Die letzte Voraussetzung für den Übersetzer ist eben eine Form von Genialität, die der dichterischen naheliegt, aber bescheidener, einfühlender, weiblicher und entsagender ist.21
Nicht umsonst bedient er sich romantischer Metaphorik, wenn er kapituliert: Das sind nun freilich Fragen, deren völlige Klärung uns in Regionen führt, die mit dem Schleier des Bildes von Sais umhüllt sind, in das Geheimnis des künstlerischen Schaffens, des schöpferischen Genius […].22
Geschmack Der Begriff ‚Geschmack‘ fällt in übersetzungstheoretischen Zusammenhängen generell auf zwei Ebenen, die ihrerseits miteinander verknüpft sind: Geschmack wird ins Feld geführt, wenn es um übersetzerische Einzelfragen beim Übersetzungsprozess selbst geht, um Entscheidungen, bei denen der Übersetzer eine gewisse Qualität beweisen kann oder muss. Zum anderen wird – oder besser: wurde – Geschmack auch als Bewertungsmaßstab für die Übersetzung insgesamt verwendet. In Anforderungen an einen guten Übersetzer las man nicht selten etwa, wie in Lessings Rezension zu einer Übersetzung der aristotelischen Poetik: „Herr Curtius besitzt alle Eigenschaften, welche zu Unternehmung einer solchen Arbeit erfordert wurden; Kenntnis der Sprache, Kritik, Literatur und Geschmack.“23 Heinze (1767) schreibt im Vorwort zu seiner eigenen Cicero-Übersetzung: „so kann nichts weiter dazu gehören, als daß der Uebersetzer den Cicero verstehe, im Deutschen geuebt sey und Geschmack habe: und das alles durch seine Arbeit beweise.“24 Neben, wie es die _____________ 20
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Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 192 f. Ein Tragelaph ist ein Fabelwesen, ein Bockshirsch. Der Begriff ist von Goethe im Briefwechsel mit Schiller verwendet worden und wohl daher übernommen. Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 192 f. Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 197. Vgl. auch Herder, Ueber den Fleiß in mehreren Sprachen (1794), 4. Lessing, [Rez. zu] Aristoteles Dichtkunst ins Deutsche übersetzt, mit Anmerkungen und besondern Abhandlungen versehen von Michael Conrad Curtius (1753), 532. Heinze, Anhang (1767), 4.
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moderne Übersetzungswissenschaft ausdrückt, Kompetenzen in Ausgangs- und Zielsprache sowie Sachkompetenz – die Lessing und Heinze neben dem Kriterium des Verständnisses durchaus genannt haben – kommt also noch ein weiteres Moment hinzu. Im gesamten 18. Jahrhundert und um 1800 findet sich Geschmack nicht selten als zweites Kriterium in Rezensionen neben (Sprach-)Richtigkeit25 oder Treue, in etwa in der Häufigkeit, mit der man heutzutage dem Übersetzer ‚Kongenialität‘ zuspricht.26 Daran erkennt man Geschmack als bestimmende Kategorie in Aufklärungspoetiken und den Einfluss auf den übersetzungstheoretischen Diskurs. Wieland, bei dem Geschmack als soziale Kategorie im Sinne von ‚gutem Geschmack‘ freilich auch konkret ‚Anstand‘ meinen kann, schreibt: Mich dünkt, es lasse sich nichts Allgemeiners darüber [scil. über das Übersetzen] festsetzen, als daß man das ausländische Werk, es sei nun antik oder modern, so getreu nachzubilden suchen müsse, als es nur immer geschehen kann, ohne unsrer Sprache Gewalt oder dem Geist und Charakter des Autors selbst bei den Lesern Schaden zu thun. Denn auch hier gilt die Maxime: ‚Der Buchstabe tödtet, der Geist aber macht lebendig‘. Mit allen allgemeinen Regeln kommt es doch immer in Sachen des Geschmacks sowie in andern menschlichen Dingen bei der Anwendung auf ein feines Gefühl und richtiges Urtheil, und fast immer auf das nie genug einzuschärfende ein Wenig mehr oder minder an, welches oft den Unterschied zwischen Wahrheit und Caricatur, naiv und platt, zierlich oder geziert, sublim oder unsinnig u. s. w. ausmacht.27
Hier verwendet Wieland Geschmack als pars pro toto für Fragen ästhetischer Natur; ebenso hätte er stattdessen formulieren können, es komme in Sachen der Kunst auf dieses feine Gefühl an. Geschmack als bestimmende Kategorie ist, wie bereits angedeutet, späterhin durch andere Begriffe von der Oberfläche des ästhetischen Diskurses verdrängt worden und kommt vollends ab dem 20. Jahrhundert nur noch als Einzelrelikt in der Übersetzungsdiskussion vor. Eine ähnliche Größe jedoch wie das bei Wieland genannte „feine Gefühl“ in der Mitte (eine von ihm gern verwendete Anspielung auf das aristotelische μέσον) führt auch der bedeutende Gräzist und Übersetzungstheoretiker Wolfgang Schadewaldt ins Feld. Er spricht von einer „feine[n], schwer zu treffende[n] Mittellinie“.28 Schadewaldt ist eigentlich für seine ‚harte Theorie‘ bekannt, die drei konkrete Forderungen (nichts weglassen, nichts hinzufügen; Reinheit der Vorstellungen bewahren; Rei_____________ 25 26
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Vgl. beispielsweise Gedike, Lyrische Gedichte aus dem Lateinischen übersetzt (1801), 110: Der Übersetzung mangele es an „Geschmack und Richtigkeit“. Schadewaldt, Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (1963), 25, polemisiert unter Verwendung beider Begriffe gegen die communis opinio über die Arbeit des Literaturübersetzers. Der Übersetzer, so paraphrasiert Schadewaldt die Prämissen, die zum von ihm abgelehnten transponierenden Übersetzen führten, „darf beim poetischen Übersetzen kürzen, er darf hinzufügen, er darf die Vorstellungen, die Bilder ändern, wenn sie in der eigenen Sprache ungewöhnlich sind, und wenn er das alles mit Geschmack und Geschick tut und es kommt dabei eine gut lesbare, ansprechende deutsche Übersetzung heraus, dann, so heißt es, hat er nicht trocken, leblos, philologisch, ‚akademisch‘, dann hat er frisch, lebendig, kongenial übersetzt.“ Beide Größen würden immer wieder angeführt, das Ergebnis aber widerspreche seinen Vorstellungen. Wieland, An Herrn *** (1790), 288. Schadewaldt, Sophokles: König Ödipus (1955), 94.
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henfolge der Vorstellungen bewahren) und einen klaren Dualismus der Übersetzungsstrategien (dokumentarisches versus transponierendes Übersetzen) enthält.29 Doch auch seine Theorie hat notwendigerweise eine Grenze des Objektivierbaren: „als eine Art höchsten und umfassendsten Grundsatzes [gilt] der Takt“30, „das heißt: der Instinkt für das jeweils Angemessene (prepon) entscheidet.“31 An diesem Punkt kristallisiert sich geradezu die Schwierigkeit übersetzerischer Einzelentscheidungen. Schleiermacher beschreibt diese Problematik ebenfalls mit dem Bild der Linie und weist auch auf die dabei nie ganz auszuschließende Subjektivität hin: Dies sind die Entsagungen, die jener Übersetzer [scil. der von ihm präferierten Art des fremd belassenden Übersetzens] nothwendig übernehmen muß, dies die Gefahren, denen er sich aussetzt, wenn er in dem Bestreben den Ton der Sprache fremd zu halten nicht die feinste Linie beobachtet, und denen er auch so auf keinen Fall ganz entgeht, weil jeder sich diese Linie etwas anders zieht.32
Die Schwierigkeit in Übersetzungsentscheidungen wird hier mit dem Superlativ „feinste Linie“ noch unterstrichen.33 Gerade die Äußerungen von Friedrich Schleiermacher und Wolfgang Schadewaldt, die sich intensiv mit dem Problem des Übersetzens auseinandergesetzt haben und trotzdem nicht ohne einen gewissen Platzhalter für individuelle Übersetzungsentscheidungen auskommen, verweisen darauf, dass gänzlich objektive Kriterien allein den Übertragungsvorgang nicht zu beschreiben vermögen, auch wenn insbesondere Schadewaldts zahlreiche konkrete Vorgaben für das „dokumentarische Übersetzen“ von „hoher Dichtung“ die Grenze weit nach hinten verschoben haben.34 Um wieder zu Wieland zu kommen, kann Geschmack in konkreten übersetzerischen Fragen zu folgenden Entscheidungen führen: Nicht selten muß der Geschmack bestimmen, wie weit die Treue des Uebersetzers gehen darf, und wo es sogar eine Art von Pflicht gegen seinen Autor wird, sich von dessen Diction oder Construction zu entfernen – das, was er sagen wollte, bestimmter oder kürzer oder anständiger zu sagen als er es selbst gethan hat, oder was er in seiner Sprache mit drei Worten deutlich genug sagen konnte, in zwei- oder dreimal so vielen zu sagen, um besser verstanden zu werden u. s. w.35
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Vgl. etwa die kürzeste Fassung seiner übersetzungstheoretischen Vorstellungen in Schadewaldt, Griechisches Theater (1964), 494–500. Schadewaldt, Sophokles: König Ödipus (1955), 94. Schadewaldt, Griechisches Theater (1964), 494. Bemerkenswerterweise taucht gerade bei Schadewaldt, der strukturalistisch-rhetorische Sprachauffassungen für verkürzt hält, hier ein Zentralbegriff der Rhetorik (prepon bzw. aptum) auf. Schleiermacher, Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens (1813), 81. Auch Schleiermacher spricht vom „Kunstcharakter“ des Übersetzens: „bestimmtere Vorschriften [sind] hier nicht zu geben, weil in jedem einzelnen Fall die Aufgabe eine andere ist“, Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik (1838), 81. Die Darstellung seiner – allerdings sehr subjektiven – Sprach-, Literatur- und Antikeauffassung, die in einer besonderen ‚Übersetzungspoetik‘ mündet, kann in diesem Rahmen nicht erfolgen. Wieland, An Herrn *** (1790), 288 f.
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Geschmacksfragen legitimieren bei ihm Dezenz im Erotischen, Eingriffe in den sprachlich-stilistischen Bereich aufgrund von Sprachüblichkeit und erläuternde Zusätze. In den Vorbemerkungen An den Leser zu seiner Xenophon-Auswahl verlautbart Wieland Ähnliches. In Klammern fügt er ein: „wer ist in seinem Urtheil, zumal wo es aufs bloße Gefühl ankommt, unfehlbar?“36 Auch hier schafft sich der Übersetzer durch die Parenthese eine Hintertür für individuelle Entscheidungen: Die damals sozial bestimmte ästhetische Kategorie des Geschmacks dessen, was man sich erlauben darf, lässt also Raum für einen (scheinbar?) individuellen Anteil. Als Regulative des Übersetzens wirkt aber sehr wohl das Original. Wieland spricht vom „Individualcharakter“, von eben dem, „was Quintilian dicendi colorem et saporem sermonis nennt“37. Zu seiner Übersetzung der Cicero-Briefe führt er an: […] besonders wünsche ich einem Etwas, das sich nur wahrnehmen und fühlen, nicht beschreiben läßt, dem Eigenthümlichen des Geistes und der Schreibart Cicero’s in seinen Briefen, kurz, dem, was Einige seine Ciceronität nennen, so nahe zu kommen, als unsre Sprache es gestattet, und so weit meine Fähigkeit, sie zu erfühlen, zu errathen und zu ahnen, reichen mag.38
Eben diese Komponente, das Spezifikum oder das Charakteristische des jeweiligen Autors, wird häufig in Übersetzungsreflexionen als relevante Größe genannt. Auch der schon zitierte Breitinger weist deutlich auf die Schwierigkeiten des Übersetzens hin, woran man ersehen kann, dass er dann doch von einer Kunst und nicht nur von einem Handwerk handelt:39 Diese Arbeit eines Übersetzers ist indessen kein so leichtes Ding, als man sich gemeiniglich einbildet. Sie setzet voraus, daß erstlich einer einen feinen Geschmack habe, die vortrefflichen Grundschriften, welche in Ansehung, so wohl der Erfindung als des Ausdrucks einer solchen Mühe vor andern werth sind, zu erkennen und zu unterscheiden; denn diese Wahl lässt uns schon einigermaßen zum voraus ersehen, wie viel wir der Geschicklichkeit und Fähigkeit eines Übersetzers zutrauen können; hernach dass einer diejenige Sprache, aus welcher er übersetzen will, in seiner Gewalt habe, daneben eines aufgeräumten Kopfes sey, und mit dem ersten Urheber in genauer Verstandes-Bekanntschaft stehe […]. Das will sagen, ein Übersetzer müsse, bevor er an die Arbeit gehet, sich in demjenigen Zustande befinden, in welchem der ursprüngliche Verfasser gewesen war, da er sein Werck bey sich würcklich in das gehörige Geschicke gerichtet hatte, und es
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„Die zwei Hauptregeln, die ich immer zu beachten suche, sind: 1. Mich nie von den Worten und Redensarten, den Stellungen und Wendungen, dem Periodenbau und dem Rhythmus meines Autors (καδ δυναμιν) zu entfernen, als wo und soweit es mir entweder die Verschiedenheit der Sprachen oder mein letzter Zweck – von dem Sinn und Geist einer Stelle nichts oder doch so wenig als möglich bei meinen Lesern verloren gehen zu lassen – zur unumgänglichem Pflicht macht; aber auch 2. so oft dies Letztere der Fall ist oder mir zu sein scheint (denn wer ist in seinem Urtheil, zumal wo es aufs bloße Gefühl ankommt, unfehlbar?), mir nicht das geringste Bedenken daraus zu machen, wenn ich auch eine oder zwei Zeilen nöthig haben sollte, um das zu sagen, was der Grieche oder Römer mit zwei oder drei Worten gesagt hat.“ Wieland, An den Leser (1799), 4. Wieland, Vorbericht zu einer neuen Übersetzung von Lucian’s Panthea (1780), 339. Wieland, Vorrede (1808), 636 f. Vgl. Apel (1982), 39 f.
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Nina Mindt jezo an dem war, dass er durch einen anständigen Ausdruck die Einbildungskraft seiner Leser dessen theilhaftig machete.40
Schon die Auswahl des Originals ist also nach Breitinger eine Geschmacksfrage. Auch er nennt die Sprachkompetenz des Übersetzers als wichtige Voraussetzung, und ein „aufgeräumter Kopf“ ist wohl für die in Aufklärungspoetiken geforderte claritas unerlässlich. Breitinger spricht vom Dichter des zu übersetzenden Textes als „erstem Urheber“, womit der Übersetzer automatisch zum zweiten Urheber wird. Doch seine Überlegungen leiten über zu einem anderen Aspekt: Der Übersetzer müsse sich „in demjeinigen Zustande befinden“ wie der Verfasser – hier changiert Breitinger in seinen Forderungen zwischen Interpretation und Einfühlung.
Einfühlung ‚Einfühlung‘ hat Schleiermacher unter hermeneutischen Vorzeichen konsequent in sein Gebäude eingegliedert, in dem die „Divination“ ins Zentrum rückt. Die divinatorische Auslegung als Teil der psychologischen ist „die, welche, indem man sich selbst gleichsam in den andern verwandelt, das Individuelle unmittelbar aufzufassen versucht.“41 Insofern wird bei Schleiermacher, dem Begründer der modernen Hermeneutik, diesem Moment (auch für den Übersetzungsdiskurs) wieder eine gewisse Objektivierbarkeit gegeben – jedenfalls wird es nicht übergangen, sondern konsequent thematisiert. Bei Dilthey ist sie als „Nachfühlung“ präsent, die sich letztlich auf die Ähnlichkeit zwischen Autor und Ausleger gründet. Neben diesem hermeneutisch traditionellen Gebrauch kann „Einfühlung“ aber auch deutlich existenziell anthropologische Züge in den Übersetzungsdiskurs einbringen. Newald (1936) nennt dementsprechend als Motivation des Übersetzens Folgendes: Man übersetze „[a]us einem inneren Drang, einem Verständnis, das tiefer geht als das der vorhergehenden Generation, einem Gefühl geistiger Verwandtschaft und innerer Verbundenheit über Zeit und Raum hinweg.“42 Ähnliches, wenn auch deutlicher mit künstlerischem Impetus, lesen wir bei Rudolf Bayr, Verfasser von Übersetzungen und Nachdichtungen von Sophokles43 und griechischer Lyrik44 in den 1940er bis 60er Jahren. Er hat 1942 seine Dissertation Zur Problematik künstlerischen Übersetzens. Mit besonderer Berücksichtigung der Frage der Verwandlung griechischer Verse ins Deutsche vorgelegt. Dort nimmt er die bereits bekannte Unterteilung auf, indem er zwei Verfahrensweisen des Übersetzens unterscheidet: Übersetzen als Technik und Übersetzen als Kunst. Er möchte Voraussetzungen und Verfahren erforschen, die den Anforderungen für künstlerisches Übersetzen entsprechen. In diesem Zusammenhang _____________ 40 41 42 43 44
Breitinger, Critische Dichtkunst und Fortsetzung der Critischen Dichtkunst (1740), 142 f. Schleiermacher, Hermeneutik und Kritik (1838), 169. Newald, Von deutscher Übersetzerkunst (1936), 197 f. Antigone, Elektra, König Ödipus, Ödipus auf Kolonos. Bayr, [Nachwort zu] O Attika. Gesänge der Hellenen, Nachdichtungen (1948), 65 f.
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spricht er von „Transsubstantiation“45, von „existentielle[r] Kommunikation“ und „personale[r] Affinität“46. Die letzten beiden Begriffe gehören seiner Meinung nach zum „Grundsatz aller Übersetzungskunst“, die er als theoretisches Postulat formuliert als „sympathetisches Erlebnis von höchster Intensität, ein tat twam asi, ein Kongruenzerlebnis anschaulichster Art […].“ Daraus ergibt sich nach Bayr, dass das zu übersetzende Werk „jeweils ein angemessener wirksamer Anlass“ sei, sich selbst in der Rolle des Übersetzers in einem Kunstwerk neu zu ereignen. Demnach sind jedem Uebersetzer wirklich nur ein Dichter oder dessen existentielle Nachbarn gemäss.47
Die Beschränkung, nur jeweils einen Dichter oder seine „existentielle[n] Nachbarn“ übersetzen zu können, ist die konsequente Schlussfolgerung Bayrs in seiner Argumentation der übersetzerischen Neuschöpfung qua „Kongruenzerlebnis“. Ein Moment von Inspiration zieht damit ins Übersetzen ein.
Künstler – Philologe Um eine künstlerische Übersetzung zu schaffen, müsse man, so Bayr, ein „philologisch geschulte[r] oder beratene[r] Dichter“ sein – im übersetzungstheoretischen Diskurs entscheidet er sich mit Horst Rüdiger gegen Ulrich von Wilamowitz. Denn Rüdiger betont den künstlerischen Anteil der (durchaus auch philologischen) Arbeit: Das Ideal des Übersetzers wird also der philologisch geschulte oder beratene Dichter sein. Denn allein der Dichter vermag das Ideal der Treue in seiner Tiefe, das heißt in seiner Doppelsinnigkeit zu fassen. Das will sagen, daß ‚Treue‘ nicht nur Pflichten gegen das Original, sondern auch gegen die eigene Sprache miteinschließt. Dieser doppelten Treuepflicht gegen die Muttersprache und gegen den künstlerischen Charakter des fremden Sprachkunstwerkes vermag allein der Philologe zu genügen, der Künstler ist.48
Auch Bayr fordert vom „künstlerischen Übersetzer“ vollständiges Verständnis des Textes, darüber hinaus einen zeitgenössischen dichterischen Impetus: Denn er habe „ferner vollkommen die dichterischen Sprach- und Formmittel seiner eigenen Sprache nach dem letzten Stand ihrer Ausbildung zu berücksichtigen.“ Damit wird deutlich, dass Bayr Übersetzungen den Grad zeitgenössischer Dichtung zuerkennt. Als Ergebnis der Übersetzungsarbeit fordert er „ein lebensfähiges Gedicht“.49 _____________ 45 46 47 48 49
Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 7. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 11. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 11. Tat twam asi (Sanskrit) – „Das bist du.“ Vgl. Rüdiger, Zur Problematik des Übersetzens (1938), 184. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 10: „Vom künstlerischen Übersetzer muss als fachliche Vorbedingung ebenfalls verlangt werden dass er über zureichende technische Mittel verfügt die ein vollständiges Verständnis des Textes erlauben. Er hat ferner vollkommen die dichterischen Sprach- und Formmittel seiner eigenen Sprache nach dem letzten Stand ihrer Ausbildung zu berücksichtigen. Da die Arbeit ein lebensfähiges Gedicht erstehen lassen soll ist gegen Wilamowitz und mit Horst Rüdiger festzuhalten, dass hierfür nur der ‚philologisch geschulte oder beratene
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In diesem Zusammenhang ergibt sich für Bayr eine interessante Besonderheit für das Übersetzen antiker Dichtung, während es bei Wieland heißt, die Anforderungen an eine literarische Übersetzung für antike und moderne Werke eigentlich dieselben seien. Die „Lebensfähigkeit“ wird bei Bayr zu einem Kriterium für Übersetzbarkeit oder eben Unübersetzbarkeit. Denn das Verhältnis von griechischer Dichtung und Gegenwart behandelt er betont ahistorisch: Jedes fremde Gedicht das seiner Art nach nicht hier und jetzt gelebtes Leben sein kann scheidet als Motiv im engeren Sinne, als Beweggrund zum Verdeutschen, aus. […] Die Gegenwartshaltung wird sich in der Auswahl der zu übertragenden Werke äußern, bei der alle zeitcharakteristische ad-hoc-Dichtung wie etwa wohl Pindars Hymnen ausscheiden und auch in der sprachlichen Fügung wird diese Haltung entschieden zugunsten gültiger Gebilde fruchten.50
Erlebbarkeit und Lebendigkeit werden also zum Kriterium für die Übersetzungsauswahl. Die Gedanken der sympathetischen Beziehung zwischen Autor und Übersetzer scheinen in einiger Nähe zu Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff zu liegen: Eigentlich muß man doch verlangen, daß er [der Übersetzer] die fremde Sprache bis in die feinste Nuance nachempfinde und dem Dichter so nahe gekommen sei, daß er die Schwingungen von dessen Seele mit der seinen aufnehmen kann. Ob er daneben das Kunstvermögen besitzt, dies Verständnis in der Übersetzung wiederzugeben, ist eine Frage für sich. […] Er [der originale Dichter] soll zu Worte kommen, durch unsern Mund reden: ‚Die wahre Übersetzung ist Metempsychose.‘ […] Schon den Text zu verstehen, reicht das Lernen nicht hin, so nötig es ist, und wenn Übersetzen auch so etwas wie Dichten ist, muß vollends die Muse helfen.51
In der Einleitung zum Agamemnon schreibt er: „[D]as Verständnis von allem wahrhaft Großen wird nicht erkannt, sondern erlebt.“52 Das merkt man den Übersetzungen deutlich an. Andreas Poltermann hat im Vergleich des Agamemnon von Aischylos bei Jenisch, Humboldt und Wilamowitz auf den Punkt gebracht, dass die Kehrseite solcher Realitätsnähe des subjektiven Erlebens übersetzerische Willkür sei.53 Trotz der Wilamowitz’schen Forderung, dass nur der Philologe übersetzen solle (die keinesfalls überraschenderweise von Bayr abgelehnt wird), also mit Kenntnis und Verständnis,54 sind die Übertragungen Wilamowitz’ weit davon entfernt, etwas zu sein, was in der Übersetzungswissenschaft teilweise als „gelehrte Übersetzung“ kategorisiert wird, nämlich das Bemühen, die möglichst geringste Abweichung _____________ 50 51 52 53 54
Dichter‘ ermächtigt ist“ [sic]. Bayr zeigt sich als später Anhänger der Ästhetik der Jahrhundertwende. Zum Münchner Dichterkreis vgl. Kitzbichler und Horstmann in diesem Band. Bayr, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens (1942), 7 ff. Bei Bayr haben sich zahlreiche zeittypische – ästhetische wie politisch belegte – Begriffe eingeschrieben. Wilamowitz, Die Kunst der Übersetzung (1924), 155. Wilamowitz, [Vorwort zu] Aischylos: Agamemnon (1900), 14. Poltermann (1991), 173. Die hermeneutische Ebene wird von Wilamowitz im Zusammenhang des Übersetzens als conditio sine qua non sehr schnell übergangen: „[W]er ein Gedicht übersetzen will, muß es zunächst verstehen.“ Wilamowitz, Was ist übersetzen? (1891), 14.
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zwischen Original und Übersetzung zu bewerkstelligen.55 Bisweilen füllt Wilamowitz aufgrund seines Wissens über die griechische Literatur, seiner Interpretation und eben des Erlebnisses durchaus auch Überlieferungslücken durch eine literarische Übersetzung aus.56 Auch Wolfgang Schadewaldt, bei allen Unterschieden in seiner Übersetzungsstrategie zu der Wilamowitz’, macht eine ähnliche Verbindung zwischen Wissen/Interpretation und quasi persönlicher Nähe zwischen Übersetztem und Übersetzendem auf, die sich aus der eingehenden Beschäftigung mit den antiken Texten ergibt: Es ist ein umfassendes Verstehen und Vernehmen von Dasein zu Dasein, von Leben zu Leben. Man hat dafür die Bezeichnung ‚Einfühlung‘ gefunden. Es ist nicht bloß Verständnis-Vermittlung, sondern ein ganz umfassender Akt der Aneignung anderer menschlicher Daseinsart für das eigene Dasein.57
Schadewaldt hat die Dichter übersetzt, mit denen er sich auch interpretatorisch besonders auseinandergesetzt hat: Mein Bestreben war, dem Homer, der Sappho, dem Pindar, den Tragikern, denen seit dreißig Jahren meine Bemühungen als Interpret gegolten haben, nun auch so viel wie nur möglich unmittelbar an Vorstellungen für das deutsche Sprach- und Kulturbewußtsein abzugewinnen.58
Nun wolle er nach dem Nach-Denken auch das Nach-Sprechen angehen, um zu zeigen, dass er die Dichter auch „kann“.59 Für Schadewaldt gehörte das Übersetzen zum Kernbestand des philologischen Geschäfts. Rudolf Alexander Schröder stellt wiederum in seinem Vorwort zur Vergil- und Horazübersetzung klar: „Der Übersetzer selbst ist auch an diese Arbeit nicht als Archäologe oder Philologe sondern als Dichter herangegangen.“60 Speziell mit Blick auf die Antike, und zwar die frühe griechische, äußert er sich zu seiner Übersetzung der Ilias Homers (1943): _____________ 55 56
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Vgl. aber den Einwand von Kopetzki (1996), 210, die die literarische Übersetzung nicht kategoriell als gelehrte Übersetzung ausschließen will. Poltermann (1991), 173. Vgl. ebd.: „Bis hierher finden wir eine kommentierende Übersetzung, die sprachlich-ästhetisch realisiert, was in den Einleitungen oder in Interpretationen metasprachlich formuliert oder auch bloß gedacht ist. Darüber hinaus gibt es aber auch Fälle, in denen sich das ästhetische Gefühl des Übersetzers so übermächtig bemerkbar macht, daß von ihm sogar der im übrigen unumstrittene Textbestand gemodelt wird.“ Schadewaldt, Die Übersetzung im Zeitalter der Kommunikation (1965), 648. Schadewaldt, Antikes Drama auf dem Theater heute (1970), 657. Schadewaldt, Homer: Odyssee (1958), 326: „Dem Philologen mußte im übrigen an jener Nähe zum Wort Homers, jener unmittelbaren Vergewisserung, die sich noch nicht einstellt, wenn man dem Dichter nachdenkt, sondern erst, wenn man ihn nachzusprechen sucht, noch aus einem besonderen Grunde gelegen sein: hatte er sich seit Jahren mit dem Geschäft des Beurteilens des Dichters abgegeben, so war es wohl billig, nun einmal durch dies sein Nachsprechen des Dichters im deutschen Wortlaut die Probe abzulegen, wieweit er den Dichter etwa versteht, ihn ‚weiß‘, ihn ‚kann‘.“ Schröder, Nachwort des Übersetzers (1952), 505.
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Nina Mindt Die Übertragung eines Gedichtes aus einer Sprache in eine andere bietet ein zweifaches Problem. Man könnte es ein materielles und ein formales nennen, insofern seine eine Seite auf die möglichst wort- und sinngetreue Wiedergabe seines Inhaltes bezieht, die andre auf die gewählte oder übernommene Form. – Bei Gedichten so hohen Altertums wie das unsrige kommt ein Drittes hinzu, nämlich die Nötigung, sich mit dem Geist und den Gesinnungen einer Zeit auseinanderzusetzen, die der unsrigen fremd ist, und von der uns zudem anderweitige Nachricht fehlt. Damit ist eigentlich schon gesagt, daß ein näheres Eingehen gerade auf dies Problem sich insofern erübrigt, als es von vorneherein deutlich ist, daß die Lösung immer nur eine annähernde, dem Ahnungs- oder Einfühlungsvermögen des jeweiligen Interpreten anheimgegeben sein kann.61
Die Antike erscheint hier als ein Fall, der wegen der zeitlich bedingten Fremdheit und fehlender Gewissheit der Einfühlung besonders großen Raum gibt, ja geben muss. Diesen sympathetischen Akt loben Schröders Rezensenten dann auch. Stellvertretend sei aus einer Rezension zu Schröders Horaz-Übersetzung zitiert: Dieses Übersetzerwerk stellt in Wahrheit eine Geistesbegegnung dar, die Begegnung Schröders mit dem unsterblichen Genius des Römers, und beweist wieder einmal, daß Nachdichten kein erlernbares Handwerk, keine kluge Ausmünzung brachliegender schöpferischer Sprachbegabung ist, sondern eben ein Begegnen, schicksalhaft wie nur irgendeines in der Wirklichkeit. […] Es ist vielmehr die herrliche Überwölbung durch die Inspiration des deutschen Dichters, durch den Himmel unserer Sprache, die diese Eindeutschung zu einem Geschenk an die Nation gemacht hat. Das dichte Gefüge der lateinischen Sprache, das Quadrische ihres Satzbaus, scheint in der Tat die einzig entsprechende Form durch Schröders Nachdichtung gefunden zu haben.62
So wird aus der zeitlichen Ferne antiker Dichtung eine zusätzliche übersetzerische Motivation: Die Antike als geeignetes Exerzierfeld dichterischer Vorstellungskraft, der Inspiration, weil „harte“ hermeneutische Durchdringung aufgrund fehlender Fakten erschwert wird. Levý hält fest, dass die Übersetzung als Werk eine künstlerische Reproduktion sei, das Übersetzen als Vorgang ein originales Schaffen, die Übersetzung als Kunstgattung ein Grenzfall an der Scheide zwischen reproduzierender und original schöpferischer Kunst.63 Das Übersetzen antiker Dichtung schwankt – je nach Original und Übersetzer und dessen Blickwinkel – zwischen Reproduktion und Neuschöpfung, zwischen handwerklicher Arbeit oder Kunst, zwischen mehr oder weniger rationalem Akt oder empfundenem Erlebnis. Sie steht, wie andersprachige Dichtung auch, im Spannungsfeld zwischen klaren und obskuren ästhetischen und hermeneutischen Voraussetzungen. Die Faszination, die gerade von antiker Literatur ausgeht, die Vorstellungen, die in ihr und aus ihr heraus gelesen, haben sie immer wieder zum Exer-
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Schröder, Nachwort des Übersetzers (1952), 596. Diettrich, Quintus Horatius Flaccus und sein deutscher Nachdichter (1953), 52 f. Levý (1969), 65 f.
Geschmack, Einfühlung, Inspiration
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zierfeld des Übersetzens an der Grenze hermeneutischer Auslegung sowie künstlerisch-schöpferischer Nachbildung gemacht.64
Primärliteratur C. Plini Caecili Secundi epistularum libri novem, rec. Mauritius Schuster, 3. Auflage, Stuttgart 1992 (= Plin., ep.). Bayr, Rudolf, Zur Problematik künstlerischen Übersetzens. Mit besonderer Berücksichtigung der Frage der Verwandlung griechischer Verse in deutsche, Diss. Wien 1942. Bayr, Rudolf, [Nachwort zu] O Attika. Gesänge der Hellenen, Wien 1948, 65 f. Breitinger, Johann Jacob, Critische Dichtkunst und Fortsetzung der Critischen Dichtkunst (1740), Faks., mit e. Nachw. v. Wolfgang Bender, Stuttgart 1966. Brentano, Clemens, Godwi (1801), in: Werke, Bd. 2, hg. v. Friedrich Kemp, Darmstadt 1963. Diettrich, Fritz, „Quintus Horatius Flaccus und sein deutscher Nachdichter. Zu Rudolf Alexander Schröders 75. Geburtstag am 26. Januar 1953“, in: Deutsche Rundschau 79, 1 (1953), 52–55. Fuhrmann, Manfred, „Die gute Übersetzung. Was zeichnet sie aus, und gehört sie zum Pensum des altsprachlichen Unterrichts?“, in: Der altsprachliche Unterricht 35, 1 (1992), 4–20. Gedike, Friedrich, „[Rez. zu] Lyrische Gedichte, aus dem Lateinischen übersetzt. Ein Versuch für seine Zuhörer von Johann Adolph Nasser, Professor der Philosophie auf der Universität zu Kiel. Kiel, gedruckt von Mohr, 1795. 6 Bogen in kl. 8. auf Schreibepapier mit lateinischen Lettern“, in: Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Anh. 1–28, 5. Abt., 109–112. Heinze, Johann Michael, [Anhang zu] Marcus Tullius Cicero: XIV auserlesene Reden nebst einer Zugabe Livianischer Reden und einem Anhange dreyer Briefe, Lemgo 1767. Herder, Johann Gottfried, „Ueber die neuere deutsche Literatur“ (1766/67), in: Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Hildesheim 1968 (Repr. Berlin 1885), Bd. 1, 131–532. Herder, Johann Gottfried, „Ueber den Fleiß in mehreren Sprachen“ (1794), in: Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Hildesheim 1968 (Repr. Berlin 1885), Bd. 1, 1–6. Heß, Ludwig von, Einleitung in die Uebersetzungskunst, mit einem Versuche aus des Tacitus Jahrbuechern, Hamburg 1766. _____________ 64
Zu diesen Themenkomplexen und ihren Verbindungen innerhalb der Übersetzungstheorie vgl. Emilio Betti (1953), der aus der Sicht des Hermeneutikers u. a. die Positionen Schleiermachers, Humboldts, Boeckhs und Wilamowitz’ – also für die Übersetzungsdiskussion antiker Texte bedeutsamer Namen – prüft.
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Nina Mindt
Lessing, Gotthold Ephraim, „[Rez. zu] Aristoteles Dichtkunst ins Deutsche übersetzt, mit Anmerkungen und besondern Abhandlungen versehen von Michael Conrad Curtius, der Königl. deutschen Gesellschaft in Göttingen Mitgliede. Hannover verlegt Joh. Chr. Richter 1753“ (1753), in: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 2 (Werke 1751–1753), hg. v. Jürgen Stenzel, Frankfurt a. M. 1998, 532 f. Minckwitz, Johannes, „[Vorrede]“, in: Sophokles Werke. Fünftes Bändchen. Elektra, im Versmaß der Urschrift übersetzt von Dr. Johannes Minckwitz zu Leipzig, Stuttgart 1844, 519–525. Newald, Richard, „Von deutscher Übersetzungskunst“, in: Zeitschrift für Geistesgeschichte 2 (1936), 190–206. Rüdiger, Horst, „Zur Problematik des Übersetzens“, in: Neue Jahrbücher für Antike und deutsche Bildung 1 (1938), 179–190. Rüdiger, Horst, [Einleitung zu] Briefe des Altertums. Hrsg. und größtenteils neu verdeutscht von Horst Rüdiger, Leipzig 1941 (2. verb. Auflage München 1965). Rüdiger, Horst, „Über das Übersetzen von Dichtung“, in: Akzente 5 (1958), 174– 188. Schadewaldt, Wolfgang, „Zur Übersetzung“, in: Sophokles: König Ödipus, Frankfurt a. M. 1995, 90–95. Schadewaldt, Wolfgang, Homer: Die Odyssee. Übersetzt in deutsche Prosa von Wolfgang Schadewaldt, Hamburg 1958. Schadewaldt, Wolfgang, „Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung“, in: Das Problem der Übersetzung antiker Dichtung (Artemis-Symposium 1960), Zürich 1963, 22–41. Schadewaldt, Wolfgang, Griechisches Theater, Frankfurt a. M. 1964. Schadewaldt, Wolfgang, „Die Übersetzung im Zeitalter der Kommunikation“ (1965), in: Hellas und Hesperien, unter Mitarb. v. Klaus Bartels hg. v. Reinhard Thuro und Ernst Zinn, Zürich/Stuttgart 1970, Bd. 2, 680–688. Schadewaldt, Wolfgang, „Antikes Drama auf dem Theater heute“ (1970), in: Hellas und Hesperien (s. o.), Bd. 2, 650–671. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Hermeneutik und Kritik (1838), hg. v. Manfred Frank, Frankfurt a. M. 1977. Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, „Ueber die verschiedenen Methoden des Uebersetzens“ (1813), in: Kritische Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 11 (Akademievorträge), hg. v. Martin Rössler unter Mitw. v. Lars Emersleben, Berlin 2002, 67–93. Schröder, Rudolf Alexander, „Nachwort des Übersetzers“, in: Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 4 (= Homer), Berlin 1952, 591–637. Wieland, „Vorbericht zu einer neuen Übersetzung von Lucian’s Panthea“ (1780), in: Wieland’s Werke, Berlin 1879, Bd. 37 (= Zur Geschichte, Literatur und Kunst der Römer und Griechen), 338 ff. Wieland, Christoph Martin, „An Herrn***“ (1790), in: Wieland’s Werke, Berlin 1879, Bd. 36 (= Zur ausländischen Literatur), 288–293.
Geschmack, Einfühlung, Inspiration
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Wieland, Christoph Martin, „Vorrede“ [zu Ciceros Briefen] (1808), in: Wielands Werke, Berlin 1879, Bd. 37 (= Zur Geschichte, Literatur und Kunst der Römer und Griechen), 636 f. Wieland, Christoph Martin, „An den Leser“ [zu „Sokratische Gespräche aus Xenofons denkwürdigen Nachrichten von Sokrates“] in: Sokratische Denkwürdigkeiten: Xenophons „Denkwürdigkeiten“ und „Gastmahl“. In Christoph Martin Wielands Übersetzung mit seinen Erläuterungen und seinem „Versuch über das Xenofontische Gastmahl“. Eingel. mit einem Essay v. Jan Philipp Reemtsma, Frankfurt a. M. 1998, 1–5. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „Was ist übersetzen?“ (1891), in: Reden und Vorträge, Bd. 1, Berlin 1925, 1–36. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, Aischylos: Agamemnon, in: Griechische Tragödien, Bd. 2 = Orestie), Berlin 1900, 9–113. Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von, „Die Kunst der Übersetzung“ (1924), in: Kleine Schriften, hg. v. Akademien zu Berlin und Göttingen. Bd. 6, Berlin 1972, 154–157.
Sekundärliteratur Apel, Friedmar, Sprachbewegung. Eine historisch-poetologische Untersuchung zum Problem des Übersetzens, Heidelberg 1982. Apel, Friedmar/Kopetzki, Annette, Literarische Übersetzung, 2., vollständig neu bearbeitete Auflage, Stuttgart 2003. Berman, Antoine, L’épreuve de l’étranger. Culture et tradition dans l’Allemagne romantique. Herder, Goethe, Schlegel, Novalis, Humboldt, Schleiermacher, Hölderlin, Paris 1984. Betti, Emilio, „Probleme der Übersetzung und der nachbildenden Auslegung“, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27,4 (1953), 489–508. Eco, Umberto, Dire quasi la stessa cosa. Esperienze di traduzione, Milano 2003. Friedrich, Hugo, Zur Frage der Übersetzungskunst, Heidelberg 1965. Levý, Jiří, Die literarische Übersetzung. Theorie einer Kunstgattung, Frankfurt a. M./Bonn 1969 (zuerst 1963). Kloepfer, Rolf, Die Theorie der literarischen Übersetzung, München 1967. Kohlmayer, Rainer, „Die implizite Theorie erfolgreicher Literaturübersetzer. Eine Auswertung von Interviews“, in: Sprachwissenschaft auf dem Weg in das dritte Jahrtausend, hg. v. Reinhard Rapp, Frankfurt a. M. 2002, 331–339. Kopetzki, Annette, Beim Wort nehmen. Sprachtheoretische und ästhetische Probleme der literarischen Übersetzung, Stuttgart 1996. Poltermann, Andreas, „Deuten – Verstehen – Erleben. Stationen der ‚Agamemnon‘Übersetzung (D. Jenisch, W. v. Humboldt, U. v. Wilamowitz-Moellendorff)“, in: Begegnung mit dem „Fremden“: Grenzen – Traditionen – Vergleiche, hg. v. E. Iwasaki, München 1991, 159–176. Wuthenow, Ralf-Rainer, Das fremde Kunstwerk. Aspekte der literarischen Übersetzung, Göttingen 1969.
Hölderlins Pindar-Übersetzung. Voraussetzungen und Konsequenzen Thomas Poiss (Berlin) „Im Jahre 1910 hat Norbert v. Hellingrath, der 1916 vor Verdun gefallen ist, zum ersten Mal Hölderlins Pindar-Übertragungen aus den Handschriften herausgegeben. Dann folgte 1914 der erste Druck der späten Hymnen Hölderlins. Beides wirkte damals auf uns Studenten wie ein Erdbeben.“ Mit solch suggestivem Pathos beschreibt Martin Heidegger noch 19571 den ersten Eindruck der Wiederentdeckung Hölderlins zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und 90 Jahre später (und 50 Jahre nach Heidegger) läßt sich sagen, daß er – was die Dichtung betrifft – nur wenig übertrieben hat. Hölderlin ist im 20. Jahrhundert zum wichtigsten deutschen Dichter avanciert. Er wirkte unmittelbar auf George, Rilke, Benjamin, Heidegger, Celan und viele andere. Rudolf Borchardt stellte 1929 in einem Brief an Max Rychner fest: „Ich bin mit Hölderlin zum Jünglinge und zum Mann geworden“,2 und in der französischen Anthologie deutscher Dichtung der Edition de la Pléiade3 nimmt Hölderlin fast ein Drittel des Bandes ein. Das ist gewiß unproportioniert, aber in der Tendenz signifikant für den Rang, den Hölderlin im Laufe des 20. Jahrhunderts erhalten hat. Hölderlin hat zudem das Editionswesen auf ein neues Niveau gebracht, denn aus Friedrich Beissners Dissertation zu Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen (1933) und der darin festgestellten Unzuverlässigkeit der damals vorliegenden Editionen ging die Große Stuttgarter Ausgabe hervor. Was hat es nun mit Hölderlins Pindar-Übersetzung für eine Bewandtnis, die Heidegger zufolge all dies ausgelöst hat? Sie ist vielleicht nicht ganz so großartig, wie man erwarten könnte, da Hölderlins Übersetzung mit Fehlern behaftet ist, die sich nicht wegdeuten lassen. Andererseits kann aber eine erneute Betrachtung von Hölderlins Pindar zu einem spezifischen Begriff von Übersetzung führen, zu einer Form, die man „heuristische Übersetzung“ nennen sollte. Meine Reduktion hochfliegender Erwartungen beruht auf abwägenden Beobachtungen und hat nicht, wie man annehmen könnte, mit philologischer Mäkelei oder unbefugter Psychologie zu tun. Günther Zuntz, der erste Interpret der PindarÜbersetzung nach Hellingrath, listete gnadenlos Fehler auf und zählte sie dann auch _____________ 1 2 3
Heidegger (1957), 182. Borchardt, Briefe 1924–1930 (1995), 313. Anthologie bilingue de la poésie allemande, hg. v. Jean-Piere Lefebvre, Paris 1993.
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noch pedantisch: „von 89 Neubildungen [sc. von Wörtern, Th.P.] sind 42 falsch“,4 und meinte abschließend, daß die Übersetzung nicht zu Hölderlins Werken, sondern bloß in Hölderlins Biographie gehöre. Und Rudolf Borchardt diagnostizierte im schon zitierten Brief an Rychner mit der ihm eigenen Übertreibungsrhetorik: „Ich behaupte, dass die sogenannten Pindar-Übersetzungen, die er im Hirnzerfall der Dementia praecox gemalt hat, ein irrer und, wie bei Wahnsinnigen so oft, trockener und pedantischer Versuch der Interlinearversion gewesen sind, Zeile um Zeile seines schlechten Textes, verständnissuchend und ins Unverständige drehend, nachgeschrieben, Faden verlierend und sich in den Faden verwickelnd, ein tragischer und thränenerweckender Anblick des Zerfalls, den die Scham eher verschleiern wird als an den Tag zerren.“5 Man sieht, daß zumindest in den 1920er-Jahren bei aller Begeisterung für Hölderlin doch auch noch große Vorbehalte bestanden, und dies, obwohl bereits Hellingrath den „Kunstcharakter“ der Pindar-Übertragung unmißverständlich herausgestellt und in der „harten Fügung“ als ihrem zentralem Stilprinzip begründet hatte.6 Dieser Begriff wurde von Franz Dornseiff übernommen und hat sich durch ihn weiter verbreitet.7 Daß wir heute klarer sehen, verdanken wir der Tatsache, daß Hölderlins Übertragung Pindars „had the attention of the very ablest scholars since their publication by Hellingrath in 1910“. David Constantine, der dies treffend formuliert hat,8 gehört selbst zur Reihe dieser Gelehrten, die nach Günther Zuntz und Freidrich Beissner auch Maurice B. Benn, Bernhard Böschenstein, Albrecht Seifert, Dieter Bremer und einige andere umfaßt. Jüngst hat Charles Louth eine Monographie zu Hölderlins Übersetzungspoetik verfaßt, deren Pindarkapitel leider durch die Obsession getrübt wird, daß Hölderlin eine reine „word for word“-Übersetzung intendiert und geliefert habe. Martin Vöhler hat die diesem Urteil zugrunde liegende Teleologie ebenso knapp wie klug widerlegt.9 Auch Felix Christens Arbeit ist zwiespältig: Sie bietet die _____________ 4 5
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Zuntz (1928), 24. Borchardt, Briefe 1924–1930, (1995), 313 f.; auf Seite 312 behauptet Borchardt aber auch, „1898 in Berthold Litzmanns, des Hölderlin-Herausgebers, Seminar zu dessen Entsetzen durch eine Interpretation des Rhein“ derjenige gewesen zu sein, „der die wissenschaftliche Erforschung der damals für rein paranoisch gehaltenen Hymnen begründet hat, der den Plan der Herausgabe der Pindarübersetzungen lange gehegt und erst dann hat fallen lassen, als sich ihre methodisch evidente Unpublizierbarkeit erwiesen hat.“ Hellingrath, Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe (= Dissertation 1910), in: Hölderlin-Vermächtnis (21944), 19–95; 25: „Kunstcharakter der Pindarübertragungen“ lautet die Überschrift des ersten Kapitels; zur ‚harten Fügung‘ s. insbesondere 25–30. Dornseiff, Pindar (1921), 7: „dorische Quaderhaftigkeit und harte Fügung“ als Baumetapher vom Dorischen Tempel auf Pindars Stil übertragen. Vgl. Dornseiff, Pindars Stil (1921), 86 (unter direktem Verweis auf Hellingraths Dissertation als Quelle für die Wiederentdeckung dieses Begriffs). Constantine (1978), 825. Louth, (1998), 7; 104 („word for word“). Klare Kritik bei Vöhler (2005), 118 f. In Louths im übrigen vorzüglicher Arbeit wird auch der Ansatz von Bremer/Lehle zu Olympie 2,1 völlig mißverstanden: Louth (1998), 104 Anm. 3.
Hölderlins Pindarübersetzung
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– nach Zuntz – bislang genauesten Analysen der Pindar-Übersetzung im Blick auf Wortstellung und Syntax, leidet aber an eingeschränkter Griechisch-Kompetenz.10 In methodischer Hinsicht bietet wohl der Aufsatz von Dieter Bremer und Christiane Lehle den besten Einstieg, da dort im Rückgriff auf Hellingrath der „Kunstcharakter der Übersetzung“ betont und die dialektische Verschränkung der Übersetzung mit dem übrigen Werk vor, neben und nach der Pindar-Übersetzung am klarsten betont wird.11 Die beiden Autoren listen für die künftige Arbeit fünf Grund-Probleme auf, an denen auch die folgenden Ausführungen orientiert sein werden: „1 Datierung der P.Ü. / 2 Reinschriftfrage / 3 Zweck der P.Ü. / 4 Wechselwirkung zwischen P.Ü. und Dichtung / 5 Wechselwirkung zwischen P.Ü. und Dichtungstheorie“.12 Dementsprechend sollen nun im folgenden zunächst Datierung, Status und Gestalt der Pindar-Übersetzung erörtert werden, um anschließend in der notwendigen Kürze auf die Wechselwirkungen mit Dichtung und Dichtungstheorie Hölderlins einzugehen. Was die Chronologie betrifft, so scheint die Lage zunächst einfach: Hölderlin schrieb in zwei Phasen – vor und nach dem Roman Hyperion – nur Oden und dann auch Elegien. Die großen Gesänge wie etwa Der Rhein und Der Ister entstanden erst nach der Pindar-Übersetzung. Also – könnte man versucht sein zu schließen – hat diese Übersetzung die großen Gesänge ausgelöst oder zumindest mitbedingt. Das paßte zeitlich ganz gut, wenn man die Pindar-Übersetzung früh im Jahr 1800 ansetzt, doch steht dem die Tatsache entgegen, daß die Hymne Wie wenn am Feiertage meist schon auf 1799 oder zumindest vor Beginn der Großen Pindar-Übersetzung13 datiert wird. Und diese Hymne ist äußerlich die Pindars Dichtweise am nächsten kommende: Ihre erste Strophe hat dieselbe Silbenzahl wie Pindars 7. Olympie, die gleichfalls mit einem großen Vergleich beginnt.14 Bremer/Lehle betonen zu Recht, daß man sich also von jeder linearen Kausalität verabschieden und die Pindar-Übersetzung als den sichtbaren Teil einer wesentlich ausgedehnteren Beschäftigung Hölderlins mit Pindar ansehen sollte, die für uns im Dunkel bleibt und nur zu erschließen ist. So finden sich keine Spuren einer Übersetzung der 1. Nemee, und doch ist deren Mythos, Klein-Herakles als Schlangenwürger, in der Hymne Der Rhein auf den jungen Fluß und das Ringen mit seinen Ufern übertragen.15 Diese Annahme ist naheliegend, da Hölderlin bekanntlich schon in seinem zweiten Magister-Specimen (1790) Pindar als „Summum der Dichtkunst“ gelobt hat, und man kontinuierliches Interesse an jenem Dichter annehmen darf, der Epos und Drama an konziser Dichte _____________ 10
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Christen (2007), insbesondere 28–53 zu Wortstellung und Syntax (auch der Partikeln). – Nachgestelltes τε wird indes gegenüber ‚und‘ als Abweichung verbucht, und Rudolf Borchardt hat nie die Pindar-Ausgabe Bruno Snells benutzt (so Christen, 102), da diese erst fünf Jahre nach Borchardts Tod erschienen ist. Bremer/Lehle (1994), 71–111. Bremer/Lehle (1994), 79–94 (die Fünf-Punkte-Liste vereinigt die Überschriften einzelner Abschnitte dieser Passage; die Abkürzung P.Ü. = Pindarübersetzung so bei Bremer/Lehle). Schmidt, 1,656: Ende 1799/Anfang 1800; Sattler in FA 15,26 datiert auf Sommer 1800. Benn (1962), 111. Dönt (1982), 34–46.
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übertroffen habe16 – und an dem Hölderlin noch in späten Jahren, nach einem berühmten Wort Gernings, herum „zackerte“17. Als Terminus post quem ergibt sich aber für eine intensive Beschäftigung mit Pindar der April 1798, in dem Heynes Pindar-Ausgabe in zweiter Auflage erschien, an deren Kolometrie die vorliegende große Übersetzung minutiös ausgerichtet ist.18 Wie hängt dies mit der Frage nach dem Reinschriftcharakter zusammen? Hellingrath, Zuntz und Benn fassen die Übertragung als erste Niederschrift (mit tendenziellem Reinschriftcharakter) auf, Beissner als planvolle Reinschrift – und implizit auch Bremer/Lehle – ebenfalls als Reinschrift.19 Beides dürfte stimmen, ich halte – im Anschluß an Seifert und Sattler – den uns überlieferten Text für eine vorläufige Reinschrift, eine Zwischenstufe, die aus vorhergehenden Fassungen ins reine geschrieben, aber keineswegs abgeschlossen worden ist. Sie ist abgebrochen worden. Der „zügige Duktus“20, die seltenen Korrekturen und das offensichtliche Fehlen von Unterbrechungen im Prozeß des Schreibens selbst sprechen für eine Reinschrift, die aber nie systematisch durchgearbeitet worden ist. Der Text hat Lücken und bewußte Freilassungen von Papier, um Text nachzutragen.21 Es handelt sich also um eine transitorische Textgestalt, eine Reinschrift mit Lücken und zahlreichen Flüchtigkeitsfehlern. Ich würde sie im Gegensatz zu Sattler und auch Bremer möglichst früh ansetzen, da sie höchst uneinheitlich in ihrer Qualität ist und keine prinzipielle Tendenz erkennen läßt, wie man sie etwa nach den Anmerkungen zu König Ödipus und Antigonä erwarten würde, d. h. daß sie Kunstfehler im Original zurechtrückte, oder daß sie „die Mythe beweisbarer darstellen“ möchte, indem sie etwa in die Namen eingreift und Ch-/Kronos zu „Gott der Zeit“, Zeus zu „Vater der Menschen“ macht.22 Zeus heißt _____________ 16
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Schmidt 2,488: „Ich möchte beinahe sagen, sein Hymnus sei das Summum der Dichtkunst. Das Epos und Drama haben größern Umfang, aber eben das macht Pindars Hymnen so unerreichbar, ebendas fodert von dem Leser, in dessen Seele seine Gewalt isch offenbaren soll, soviel Kräfte und Anstrengung, daß er in dieser gedrängten Kürze die Darstellung des Epos und des Trauerspiels bereinigt hat.“ Brief Johann Isaak Gernings vom 11.7.1805 an Karl Ludwig von Knebel, StA 7,2,287: „Hölderlin, der immer halb verrückt ist, zackert auch am Pindar.“ Constantine (1978); Christen (2007), passim. Hellingrath (21944), 80; Zuntz (1928), 1 (Reinschrift nicht als Abschrift, doch basierend auf vorhergehender Textarbeit); Benn (1962), 29–37; Beissner (1933), 30; Seifert (1998), 25 f.; Sattler, FA 15,11 u. 26; Bremer/Lehle (1994), passim. Sattler, FA 15,26; Ein Faksimile der Übersetzung findet sich in FA 15,28–79. Beissner (1933), 26 hat auch darauf hingewiesen, daß eine Binnenchronologie erkennbar ist, denn in der 10. Olympie übersetzt Hölderlin Ol. 10,15 f. τράπε δὲ Κύκνεια μάχα καὶ ὑπέρβιον Ἡρακλέα· mit „der Schwäne Schlacht“ statt mit „Kampf mit (dem Aressohn) Kyknos“, in Ol. 2,82 Κύκνον τε θανάτῳ πόρεν richtig mit „den Kyknos auch dem Tode gab“. Zwar handelt es sich in letzterem Fall um den von Achill getöteten Sohn des Poseidon, aber man darf annehmen, daß Hölderlin beim Durchgehen des Textes der Kampf mit den Schwänen (sofern Hölderlin sie nicht für die Stymphalischen Vögel hielt?) wohl verdächtig geworden wäre. Ein weiteres Indiz für die Chronologie: der Eigenname Agesidamos aus Ol. 10/11 wird fälschlich für Ainesidamos in Ol. 2 eingesetzt (skeptisch Benn [1962], 33). So Hölderlins Programm in den Anmerkungen zur Antigonä, FA 16,415.
Hölderlins Pindarübersetzung
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Zeus oder meist Jupiter, wie es kommt – und nicht wie in dem späten Fragment (1804/5) einer Übersetzung der 1. Pythie, in der die noch in der Großen Pindar-Übersetzung so genannten „Pieriden“ (also Pierischen Musen) plötzlich zu „Geistergöttinen auf dem Pierion blasend“23 werden. Die Große Pindar-Übersetzung ist orientiert am Prinzip der Wörtlichkeit, bzw. der semantisch parallelen Zeichenfolge im Deutschen, von der nicht selten glücklich oder aber auch weniger glücklich abgewichen wird. Hölderlin hat zwar zunächst das „mechanische“ Prinzip eines linearen „Nachbaus“ des Pindarischen Textes umgesetzt, dieses Prinzip aber unter intensiver Arbeit an einzelnen Elementen der Darstellung auch abgewandelt und damit das Prinzip der „Wort-für-Wort“-Übersetzung entscheidend verlassen. Genau dafür möchte ich den Begriff „heuristische Übersetzung“ einführen, worin zugleich meine Antwort auf den Zweck der Übersetzung liegt. Gemeint ist damit eine Übersetzung, die für sich, d. h. ohne intendiertes Publikum,24 herauszufinden versucht, was in einem Text steht, wie er verfaßt ist und mit welchen Mitteln er – ausgehend von einem wörtlichen Nachbau (soweit dies überhaupt möglich ist) – übersetzt werden kann.25 Damit soll eine Betrachtung ermöglicht werden, die weder ins Positive verzeichnet wie Heidegger, noch gar in den pathologisierienden Jargon vieler Interpreten verfällt, die in der „Mechanik“ etwas Pathologisches sehen. Die Pindar-Übersetzung braucht keinen Psychiater, sondern bloß einen Philologen. Prüfstein jeder Pindar-Übersetzung ist die erste Zeile: Ol. 1,1 Ἄριστον μὲν ὕδωρ. Leider gibt es im Deutschen keine eindeutig beste Lösung für diese einfache Aufgabe: „Das Beste ist das Wasser“ heißt es schlicht, aber etwas schwerfällig bei Schadewaldt (Peiff und Dönt); bei Bremer etwas pedantisch „Am besten zwar ist Wasser“, bei Werner verkorkst „Höchst wertvoll zwar ist Wasser“, interpretierend (platonisierend) bei Hölscher (2002) „Höchstes Gut ist Wasser“, erfrischend und banal bei Dornseiff: „Köstlich ist das Wasser“; bei Gedike: „unter den Elementen gebüret dem Wasser der Preis“ – und bei Hölderlin? Leider fehlt in der Großen Pindar-Übersetzung die 1. Olympie – wahrscheinlich durch Ausfall einer Buch-Lage,26 aber als geplantes Motto für den Aufsatz „Über die verschiedenen Arten zu dichten“27 findet sich eine Notiz davon:28
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Sattler datiert die Fragmente der Übersetzung der 1. Pythie in FA 15,365 zwischen Herbst 1804 und Herbst 1805. Die Stelle: FA 15,369. Brehmer/Lehle (1994), 81 (unter Berufung auf Hellingrath). Ansätze dieser Deutung finden sich in der Literatur bei Benn (1962), 141: „a kind of stylistic exercise“; Constantine (1978), 829: „Hölderlin deliberately reduced his area of choice to a minimum. He wanted to see what would come of the strictest mechanicalness“; ähnlich Bremer/Lehle (1994). Sattler in FA 15,26: „es fehlen O 1 (mglw. mit den ersten sechs Blättern« von Lage I verloren) […]“ Sattler datiert diesen Text in FA 14,97 auf Spätsommer 1799. Ol. 1,1 ff., griechischer Text nach Heyne 21798 (= FA 15,22); Hölderlins Text nach FA 15,23.
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Thomas Poiss Ἄριστον μὲν ὕδωρ, ὁ δὲ Χρυσὸς αἰθόμενον πῦρ Ἅτε διαπρέπει νυκτὶ μεγάνορος ἔξοχα πλούτου Εἰ δ᾿ ἄεθλα γαρύεν Ἔλδεαι, φίλον ἦτορ, Μηκέθ᾿ ἁλίου σκόπει Ἄλλο θαλπνότερον Ἐν ἁμέρᾳ φαεννὸν ἄστρον Ἐρήμας δι᾿ αἰθέρος, […]
Das Erste ist wohl das Wasser; wie Gold Leuchtet das lodernde Feuer bei Nacht Die Gaabe des Pluto Doch kömst du, Siege zu singen Liebes Herz! So suchend kein ander Blühender leuchtend Gestirn Als die Sonne am Tage Im einsamen Aether
Man höre nur auf die erste Zeile „Das Erste ist wohl das Wasser“, wie das einräumende „wohl“ sofort schwebenden Klang und schwingenden Rhythmus erzeugt, und „Das Erste“ für ἄριστον ist eine genial der deutschen Sprache abgelauschte phono-mimetische Möglichkeit, um den Rang des Wassers als Ursprungselement erfahrbar zu machen und zugleich auch noch ἄριστον in eine autoreferentielle Pointe am Gedichtbeginn umzuwandeln. Besser geht es nicht. Leider ist dann der Rest des Fragments ziemlich mangelhaft übersetzt: Fehler auf Fehler – die Zuchtmeister können sich freuen.29 Und in diesem stilistischen Auf und Ab bewegt sich der gesamte Text der Großen Pindar-Übersetzung. Ihr überlieferter Teil beginnt mit der 2. Olympie, deren Übersetzung mit Abstand am intensivsten durchgearbeitet worden ist.30 Schon auf den ersten Blick wird klar, daß „Ihr Herrscher auf Harfen, ihr Hymnen!“ keine wörtliche Übersetzung von Ἀναξιφόρμιγγες ὕμνοι (Ol. 2,1) ist, aber auch nicht „die Herrschaftsstruktur der Poesie“31 verstärkt, sondern das Hapax legomenon Ἀναξιφόρμιγγες wird in alliterierenden Schmuck umgesetzt und in eine präzise semantische Abfolge aufgelöst. Das Wort „harfenbeherrschend“ wäre nach Klopstock und Voss keine besondere Kühnheit gewesen; der sonst recht biedere Gedike32 _____________ 29
30 31 32
Die für den Vergleich unverzichtbare Bedeutung „Reichtum“ des Wortes πλούτου wird durch den Namen des Unterweltgottes ersetzt, die Wortstämme ἐλδ - („hoffen, erwarten“) und ἐλθ- („kommen“) werden verwechselt, etc. Vgl. Bremer/Lehle (1994), Böschenstein (1994/5), Sensini (2001). Böschenstein (1994/5),52. Hölderlin besaß seine Übersetzung, benutzte sie aber offenbar nicht; s. Hellingrath (21944), 32 Anm. 2.
Hölderlins Pindarübersetzung
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wagt immerhin „Cithergebietende Hymnen“. Hölderlin wählte also ganz bewußt die genaue semantische Abfolge, und wie in der Interpretation der 14. Olympie deutlich werden wird, muß er tatsächlich auch so etwas wie das Prinzip der „funktionalen Satzperspektive“ beim Übersetzen Pindars gefunden haben. Bremer/Lehle gehen in ihrer stilistischen Analyse von der Stilisierung des Beginns der 2. Olympie aus und suchen nach weiteren Indizien für bewußte Gestaltung im Übersetzen. Wichtig ist ihr Hinweis, daß man auf die Übertragung Hölderlinscher Leitwörter wie „Geschick“ und „stiften“ aus seinem Dichten in die Übersetzung hinein achten muß, doch bei den konzeptionellen Übertragungen gehen Bremer/Lehle meines Erachtens etwas zu weit. Aus der Übersetzung von artikellosem αἰῶνα mit „eine Zeit“ deduzieren Bremer/Lehle eine Umakzentuierung von „antiker Eschatologie“ zu „neuzeitlicher Geschichtsutopie“33 – ich befürchte, daß sich dies nicht halten läßt, denn Hölderlin hat sich beim Übersetzen extrem zurückgehalten und sich gerade in der 2. Olympie die beste Stelle entgehen lassen. Ich meine Ol. 2,85 ἐς δὲ τὸ πὰν ἑρμανέων χατίζει, die man meist übersetzt mit „für das große Volk bedarf es der Deuter“. Hölderlin zaudert sichtlich an dieser Stelle, denn er hat korrigiert.34 Offenbar stand in Hölderlins abzuschreibender Skizze „Aber das All“ – eine angesichts der Hölderlinschen (und Empedokleisch-Heraklitischen) Konzepte von All-Einheit sich aufdrängende Übersetzung von ἐς δὲ τὸ πάν, doch dann blickte Hölderlin anscheinend in die Ausgabe von Heyne, in der nichts vom „Volk“ oder „Pöbel“ (Gedike) stand, sondern erstmals die erst in den letzten Jahren wieder vertretene Interpretation πάντως/„durchaus“.35 Hölderlin muß dieses Wort („durchaus“) nachträglich in der Zeile darüber eingesetzt haben (im Faksimile hängt das Zeilenende auch verdächtig) und dann noch das „bedarf“ ausgestrichen und in die nächste Zeile verlegt haben. Hölderlin verzichtet also zugunsten des farblosen „durchaus“ auf die für seine Dichtungskonzeption zentrale Übersetzung „aber das All“, d. h. der Zusammenhang der „Welt der Welten“ bedarf der „Deuter“. Um indes den „heuristischen“ Charakter der Übersetzung zu dokumentieren, mag folgende Beobachtung helfen. Ich stutzte im Umfeld dieses Satzes über die Übersetzung „Allberedsamkeit“ für παγγλωσσία, stutzte über die unvermittelt folgenden „Raaben“, blickte in den Pindartext – und entdeckte durch Hölderlin das Gekrähe im Original, das in keinem Kommentar erwähnt ist: κόρακες ὣς Ἄκραντα γαρυέτων. Genau solche Entdeckungen kann man mit Hölderlins Übersetzung machen, wenn man sie mikroskopisch liest. Was jetzt kommen müßte, wäre das Nachzeichnen eines großen Pindar-Gedichtes und seiner Übersetzung durch Hölderlin. Das ist – wie Albrecht Seiferts große Monographie zeigt – nicht in engem Rahmen durchzuführen. Ich habe es trotzdem an zwei Gedichten (3. und 8. Pythie) getestet, mich dann aber doch für die 14. Olympie als Exempel entschieden.36 _____________ 33 34 35 36
Bremer/Lehle (1994), 106. Faksimile in FA 15,31 (Blatt 39/10, links oben). Most, (1986b), 304–316; Verdenius, (1989), 79–82. Text nach Heyne, Pindari Carmina I ( 21798).
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Thomas Poiss Καφισίων ὑδάτων λαχοῖσαι αἵτε ναίετε καλλίπωλον ἕδραν, ὦ λιπαρᾶς ἀοίδιμοι βασίλειαι Χάριτες Ὀρχομενοῦ, Παλαιγόνων Μινυᾶν ἐπίσκοποι, Κλῦτ᾿, ἐπεὶ εὔχομαι· Σὺν γὰρ ὑμῖν τά <τε> τερπνὰ καὶ τὰ γλυκέα Γίνεται πάντα βροτοῖς· Εἰ σοφός, εἰ καλός, εἴ τις ἀγλαὸς ᾿Ανήρ. οὐδὲ γὰρ θεοὶ Σεμνᾶν Χαρίτων ἄτερ Κοιρανέοντι χοροὺς, Οὔτε δαῖτας· ἀλλὰ πάντων Ταμίαι ἔργων ἐν οὐρανῷ, Χρυσότοξον θέμεναι Πάρα Πύθιον Ἀπόλλωνα θρόνους, Ἀέναον σέβοντι πατρὸς Ὀλυμπίοιο τιμάν. Πότνι᾿ Ἀγλαΐα, φιλησίμολπέ Τ᾿ Εὐφροσύνα, θεῶν κρατίστου παῖδες, Ἐπάκοοι νῦν, Θαλία τε ἐρασίμολπε, ἰδοῖσα τόνδε Κῶμον ἐπ᾿ εὐμενεῖ τύχᾳ Κοῦφα βιβῶντα· Λυδῷ γὰρ Ἀσώπιχον ἐν τρόπῳ Ἐν μελέταις τ᾿ ἀείδων Μόλον, οὕνεκ᾿ Ὀλυμπιόνικος ἁ Μινύεια Σεῦ ἕκατι. μελαντειχέα νῦν δόμον Φερσεφόνας ἴθι, Ἀχοῖ, Πατρὶ κλυτὰν φέροισ᾿ ἀγγελίαν, Κλεόδαμον ὄφρ᾿ ἰδοῖσ᾿ υἱὸν εἴπῃς ὅτι οἱ νέαν Κόλποις παρ᾿ εὐδόξοις Πίσας Ἐστεφάνωσε κυδίμων ἀέθλων Πτεροῖσι χαίταν.
Kephisische Gewässer empfangend Die ihr bewohnet mit den schönen Füllen den Siz O des glänzenden ihr sängereichen königlichen Charitinnen Orchomenos Des altgestammten Minyä Aufseherinnen, Hört da ich bete. Mit euch dann das heitre und das süße Wird alles Sterblichen, Wenn weise, wenn schön, wenn einer edel ist Ein Mann. Noch denn die Götter
Hölderlins Pindarübersetzung
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Ohne die heiligen Charitinnen Beherrschen die Länder Oder die Mahle; sondern alle Ausrichtend die Werke im Himmel Bei ihm mit dem goldenen Bogen erwählend Bei Pythios Apollo die Thronen, Des unerschöpflichen heiligen sie des Vaters, Des olympischen Ehre. Herrliche Aglaia, gesängeliebende Euphrosyna, von Göttern des Mächtigsten Kinder Zuhörend nun, und Thalia, gesängebelustigt, sehend dieses Loblied, zu wohlgesinntem Glük Leicht wandelnd; lydisch nemlich Zum Asopichus in der Weise, In Sorgen der Sänger Geh ich, weil olympischsiegend Minyä Deinetwegen ist. Zum schwarzgemauerten nun zum Hauße Persephonens geh, Echo, Dem Vater die rühmliche bringend Die Botschaft, den Kleodamus daß du sehend Den Sohn sagest, daß er ihm die neue Im Schoose der wohlberühmten Pisa Gekrönt hat mit des herrlichen Kampfspiels Flügeln die Loke.37
Uvo Hölscher (1962, 44) hat Hölderlins Übersetzung unkommentiert in der von ihm betreuten Exempla-Classica-Auswahl abgedruckt, mit all ihren Vorzügen und gravierenden Fehlern. Man kann den Text ganz glatt lesen, schwebend im Ton, mit allen Schnitzern wie der Verwechslung von „Chören“ mit „Ländern“ (χορούς/χώρας), der falschen Zuordnung von ἀέναον (ἀενάου) zu Zeus-Vater statt zu „Ehre“. Doch zwei singuläre Stärken hat diese Übersetzung allemal: Durch die Bewahrung der Wurzel „Sehen“ in „Aufseherinnen“ und dem wiederholten Partizip „sehend“ wird der logische Konnex auch im Deutschen nachvollziehbar: Die Charitinnen als „Aufseherinnen“ insgesamt schauen immer auf die Stadt Minyä, die einzelnen Charitinnen „sehen“ jetzt auf dieses Lied wie Echo auf den Vater im Hades. Die Wortkonstanz der Übersetzung Hölderlins macht das Strukturprinzip hörbar, eine Technik, die auch für die Organisation der großen Hymnen wichtig ist.38 Im Schlußsatz hat Hölderlin die weite Sperrung von νέαν zu χαίταν im Original durch die Appositions-Spange: „die neue“/„die Loke“ nachgebildet und so den Fokus der ursprünglichen Satzperspektive nachgebaut: das war kühn im Griechischen, ist kühn im Deutschen, aber in beiden Sprachen sehr wohl verständlich. Mit _____________ 37 38
Text nach: Hölderlin, FA 15, 187/9 (= Hölscher [1962]); Kursivierungen von Th. P. Bremer/Lehle (1994), 106–109 zeigen dieses Verfahren kanpp und überzeugend für die 1. Pythie.
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Thomas Poiss
solchen syntaktischen (Satzperspektive) und semantischen Mitteln (Wortkonstanz), die durch seine „heuristische Übersetzung“ erworben wurde, konnte Hölderlin wie Pindar die Struktur seiner großen Gesänge gestalten. Aber auch dies ist nur ein Teil der Wahrheit, denn die sprachliche Schockwirkung auf Heidegger und seine Zeitgenossen wird dadurch nur zum Teil verständlich: Es muß diese freie Wortstellung und kühne Syntax der Pindar-Übersetzung gewesen sein, die so neuartig den Verständnisprozeß entautomatisierte, das deutsche Wortmaterial fremd erscheinen ließ und die syntaktischen Möglichkeiten der deutschen Sprache aufs äußerste anspannte. Zu den Rezeptionsbedingungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehörte im Gefolge Nietzsches die Entdeckung der Archaik39 – und das völlige Vergessenhaben des 18. Jahrhunderts. Denn was da eigentlich als „neu“ entdeckt wurde, gab es immer schon bei Klopstock. Entautomatisierung durch Sperrungen und Einschübe, syntaktische Inversionen, Partizipialstil – all dies kannte Hölderlin längst schon durch Klopstock. Hellingrath hat gleich zu Beginn seiner Dissertation darauf hingewiesen,40 aber dieser Hinweis ist in der Hölderlin-Philologie zu den Pindar-Übersetzungen immer wieder relativ schwach wahrgenommen worden, obwohl Gerhard Kurz in seinem stupend dichten Aufsatz zu Hölderlins poetischer Sprache die richtigen Spuren gelegt hat.41 Die Auswirkung der Arbeit an Pindar für Hölderlins Dichtungen stünde als nächster Punkt an: Maurice B. Benn hat viele Beispiele zur Wortwahl aufgelistet42 und auch zur Technik der Proömien. Albrecht Seifert hat in seiner epochalen Dissertation den Maßstab dafür hoch gelegt, was man alles berücksichtigen muß, um auch nur zwei von Hölderlins großen Gedichten in ihren Pindarbezügen zu erläutern. Ich selbst habe es für „Andenken“ und den „Rhein“ versucht,43 in den Kommentaren von Jochen Schmidts Gedichtausgabe findet man zahllose Belege und Martin Vöhler44 hat, wie ich leider erst bei der Vorbereitung entdeckte, im Aufsatz zum „Hervortreten des Dichters“ die vielleicht wichtigste Funktion Pindars für Hölderlin gezeigt: daß nämlich Pindar für Hölderlin jene Sprechhaltung(en) bereitstellte, aus denen er textintern die komplexen Langgedichte organisieren konnte: Exordialtechnik, Handlungsmuster (Dichter als Athlet, Reisender, Handwerker), Abbruchformeln und Gnomik als Angelpunkten und ähnliches. Martin Vöhlers Ansatz läßt sich zusammenfassen und ergänzen durch den Hinweis auf die zentrale, leider nicht in Hölderlins Übersetzung vorliegende Pindarstelle Ol. 13,49 ἐγὼ δὲ ἴδιος ἐν κοινῷ _____________ 39 40
41 42 43 44
Most (2001), 20–39. Hellingrath (21944), 28 Anm. 1 zitiert Klopstocks Gedicht Die Zukunft: „Himmlischer Ohr hört das Getön der bewegten / Sterne. Den Gang, den Seleno und Pleione / Donnern, kennt es, und freut, hinhörend, / Sich des geflügelten Halls // Wenn der Planet, fliehend, sich wälzt, und im Kreislauf / Eilet, und wenn, die im Glanze sich verbergen, / Um sich selber sich drehn, Sturmwinde / Rauschen am Meere dann her […].“ Kurz (1982/83), 34–53. Benn (1962), 147 f. Hölderlins „göttlichgebaut“ im Gesang Der Rhein, Vers 5 und Patmos, Vers 43 ist Übersetzung von Pindarischem θεόδματος (Ol. 3,7; Py. 9,10 f.). Poiss (1993), 187–246 und Poiss (1998), 275−295. Vöhler (2001/2), 50–68.
Hölderlins Pindarübersetzung
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σταλείς „ich als einzelner bestellt in der Gemeinde“ (Schadewaldt), was für Hölderlin geradezu den Schlüssel zur Rolle als Sprecher bei einem öffentlichen Festakt bereitstellte. Pindar stellte ein ideales Sprechermodell und eine vollständige literarischpoetische Kommunikationsstruktur bereit: Bei Pindar gibt es einen Auftraggeber als angesprochener (Gast-)Freund, die Polisgemeinde ist sein Publikum, die Jugend steht als Chor bereit – Pindar hatte alles das, was Hölderlin als Dichter in „dürftiger Zeit“ entbehren mußte und daher nur durch Fiktion evozieren konnte. Aber wie so oft im Zusammenhang mit Hölderlins Pindar-Bezug sind die entscheidenden Dinge, die wir aus den Gesängen erschließen können, durch die vorliegende Übersetzung nicht zu belegen. Ich glaube auch nicht, daß die vorliegende Pindar-Übersetzung mit den Kategorien der Böhlendorff-Briefe und der Anmerkungen zu König Oidipus und Antigonä45 wirklich ertragreich zu analysieren sind, da sie das dort aufgestellte Programm, am Fremden den rechten Gebrauch des Eigenen zu lernen, gleichsam unterlaufen hat: Der „rechte Gebrauch des Eigenen“ tritt in der Übersetzung nur sporadisch auf und gelingt keinesfalls systematisch. Ich will nun aber keiner Resignation das Wort reden, sondern einen unorthodoxen Vorschlag machen. Wenn wir einerseits mit der Großen Pindar-Übersetzung nur die sichtbaren und unvollkommenen Teile eines wesentlich größeren unsichtbaren Vorganges haben, wenn wir andererseits in den großen späten Hymnen das schöpferische Ergebnis dieses Prozesses unzweifelhaft vorliegen haben, – dann brauchen wir ein „missing link“. Ich schlage vor, die so genannten Pindar-Fragmente als ein solches anzusehen und nicht mehr als einen erratischen Block am Rande der Unverständlichkeit und des Wahnsinns zu betrachten. Es gibt zu diesen Texten die seltsamsten Theorien wie diejenige Dieter Sattlers, es handle sich – eine Wendung aus einer Rezension der Nachtgesänge von 1805 aufnehmend – um eine Art Kommentar wie aus der Göttinger Schule Heynes.46 Markus Fink und Albrecht Seifert datieren die Arbeit an den Pindar-Fragmenten, für die Hölderlin auf seine Stephanusausgabe des Pindar von 1560 zurückgriff, auf das Frühjahr 1804, Sattler eher auf 180547 – die großen Gesänge wie Am Quell der Donau, Die Wanderung, Rhein, Germanien, Andenken, Patmos und andere sind geschrieben, die Sophokles-Übersetzungen erscheinen gerade – aber so viel hat sich am PindarÜbersetzen nicht geändert, nimmt man das Pindar-Fragment 9 und Hölderlins Auslegung davon:48 οδάμαν δ᾿ ἐπεὶ Φῆρες δάεν ῥιπὰν μελιαδέος οἴνου, ἐσσυμένως ἀπὸ μὲν λευκὸν γάλα χερσὶ τράπεζαν ὤ-
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48
Zuletzt Bennholdt-Thomsen (2005), 181–199. Ich selbst habe mich dazu geäußert in: Poiss (1998). Sattler in FA 15,331. Ein Hinweis in Hölderlins Brief an Wilmans vom 2.4.1804 (StA 6,1,439, Z. 31 f.: „Ich freue mich, Ihnen nächstens etwas zu schiken, worauf ich jezt einen eigentlichen Wert seze.“); vgl. Seifert (1998), 14; Sattler FA 15,331. FA 15,362–364.
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Thomas Poiss θεον, αὐτόματοι δ᾿ ἐξ ἀργυρέων κεράτων πίνοντες ἐπλάζοντο.49
Das Belebende Die männerbezwingende, nachdem Gelernet die Centauren Die Gewalt Des honigsüßen Weines, plötzlich trieben Die weiße Milch mit Händen, den Tisch sie fort, von selbst, Und aus den silbernen Hörnern trinkend Bethörten sie sich. Der Begriff von den Centauren ist wohl der vom Geiste eines Stromes, so fern der Bahn und Gränze macht, mit Gewalt, auf der ursprünglich pfadlosen aufwärtswachsenden Erde. Sein Bild ist deswegen an Stellen der Natur, wo das Gestade reich an Felsen und Grotten ist, besonders an Orten, wo ursprünglich der Strom die Kette der Gebirge verlassen und ihre Richtung queer durchreißen mußte. Centauren sind deswegen auch ursprünglich Lehrer der Naturwissenschaft, weil sich aus jenem Gesichtspuncte die Natur am besten einsehen läßt. In solchen Gegenden mußt’ ursprünglich der Strom umirren, eh’ er sich eine Bahn riß. Dadurch bildeten sich, wie an Teichen, feuchte Wiesen und Höhlen in der Erde für säugende Thiere, und der Centauer war indessen wilder Hirte, dem Odyssäischen Cyklops gleich; die Gewässer suchten sehnend ihre Richtung. Jemehr sich aber von seinen beiden Ufern das troknere fester bildete, und Richtung gewann durch festwurzelnde Bäume, und Gesträuche und den Weinstok, destomehr mußt’ auch der Strom, der seine Bewegung von der Gestalt des Ufers annahm, Richtung gewinnen, bis er, von seinem Ursprung an gedrängt, an einer Stelle durchbrach, wo die Berge, die ihn einschlossen, am leichtesten zusammenhingen. So lernten die Centauren die Gewalt des honigsüßen Weins, sie nahmen von dem festgebildeten, bäumereichen Ufer Bewegung und Richtung an, und warfen die weiße Milch und den Tisch mit Händen weg, die gestaltete Welle verdrängte die Ruhe des Teichs, auch die Lebensart am Ufer veränderte sich, der Überfall des Waldes, mit den Stürmen und den sicheren Fürsten des Forsts regte das müßige Leben der Haide auf, das stagnirende Gewässer ward solang zurükgestoßen, vom jäheren Ufer, bis es Arme gewann, und so mit eigener Richtung, von selbst aus silbernen Hörnern trinkend, sich Bahn machte, eine Bestimmung annahm. Die Gesänge des Ossian besonders sind wahrhaftige Centaurengesänge, mit dem Stromgeist gesungen, und wie vom griechischen Chiron, der den Achill auch das Saitenspiel gelehrt.
Hölderlin übersetzt relativ nahe am Text, erkennt in den φῆρες die Kentauren aus der berühmten Lapithen-Hochzeits-Schlacht, – und übersieht, daß Stephanus in der _____________ 49
Frg. 166 Snell-Maehler; Text nach Stephanus, 1560 (abgedruckt in FA 15,362), der in der lateinischen Übersetzung das erste verstümmelte Wort lateinisch übersetzt mit „virorum domitricem“ und in den Konjekturen ergänzt zu <ἀνδρ>οδάμαν. – Hölderlins Übersetzung und Auslegung nach FA 15,363 f. Die Kursivierungen entsprechen Auszeichnungen im Original.
Hölderlins Pindarübersetzung
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Anmerkung die Lesart τράπεζαν zu τραπεζᾶν korrigiert hat (richtig wäre also, daß die Centauren die Milch von den Tischen stießen, nicht „den Tisch“); der Bezug von αὐτόματοι bzw. von „von selbst“ ist in Hölderlins Übersetzung falsch, wird aber in der Erläuterung richtig auf die Trinkenden bezogen.50 Und obwohl Hölderlin eigentlich zunächst nur übersetzt, können wir diesmal dem Verborgenen zusehen. Aus dem sich Berauschen, dem sich „Bethören“ der Kentauren – das, wie Böschenstein zeigt, eine dionysische Inspirationsweise und zugleich ein revolutionärer Akt ist51 – entspinnt Hölderlin eine Kulturentstehungslehre wie sie in der RheinHymne gestaltet vorliegt. Mit der Interpretation der Centauren als Flußgeistern verläßt Hölderlin zudem keineswegs die Grenzen der Rationalität und des zeitgenössischen Wissens, sondern (wie Fink sah) auch noch in Roschers Mythologischem Lexikon gelten sie als personifizierte Bergbäche.52 Natürlich betreibt Hölderlin damit Allegorese, aber ebenso schöpferisch, wie in der Rhein-Hymne die Schlangenwürgung durch den neugeborenen Herakles umgestaltet wird.53 Im Schlußpassus des Fragmentes wendet Hölderlin seine Deutung aber auch noch ins Poetologische. War zunächst aus Pindars fragmentarischer Vignette mit zechenden Kentauren eine Fluß- und Kulturentstehungslehre geworden, springt Hölderlin auf eine weitere Ebene, wenn er Ossians Gesänge dem noch mit keinem Wort erwähnten „Centaurengesang“ gleichsetzt, der „mit dem Stromgeist gesungen“ wird. Hölderlin hat also stillschweigend den Centaurenmythos nicht nur für die Kulturentstehung, sondern auch für den Gang des Dichters als passend empfunden. Dies ist eine Technik, die auch Pindar anwendet: Der Mythos gilt in gleicher Weise für den Helden wie für den Dichter, etwa in der 1. Nemee, wo es in Vers 33 f. heißt: „Ich halte mich bei großen Leistungen an Herakles“, wobei das „ich“ den Erzähler wie den zu preisenden Adressaten meint.54 Markus Fink hat daher aus diesem Text eine reflexive Hölderlinsche Poetik im Blick auf Pindar entsponnen, die trotz der stark mimetischen Sprachform nichts von ihrer Gültigkeit einbüßt: „Pindars Text ist eine Gebirgskette, innerhalb derer umherirrt, wer seine Bestimmung sucht. Mythologische Fäden spinnend […] und Einsichten über die Natur vermittelnd, bricht er da, wo der Begriff ‚Centauren‘ steht, aus dem Text aus, an dem er als an einem sich immer fester bildenden Ufer Richtung _____________ 50 51 52
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Hölderlin, FA 15,363, Zeile 14; s. Böschenstein (1995). Böschenstein (1994/5), 59 f. Fink (1982), 115 Anm. 4. Vgl. Wilhelm Heinrich Roscher, Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Leipzig 1884–1937; dort Bd. 2,1 (1890–94) s. v. ‚Kentauren‘, Sp. 1032–1087; der Abschnitt ‚Wesen und Charakter der Kentauren. Ihre ursprüngl. Bedeutung‘, in dem sie mit Wildbächen identifiziert werden, ebd. Sp. 1058–64. Der Rhein, V. 61–75 (Friedrich Hölderlin, hg. v. Jochen Schmidt 1,329f. = FA 15,630, vgl. 635): „Drum ist ein Jauchzen sein Wort. / Nicht liebt er, wie andere Kinder, / In Wickelbanden zu weinen; / Denn wo die Ufer zuerst / An die Seit ihm schleichen, die krummen, / Und durstig umwindend ihn, / Den Unbedachten, zu ziehn / Und wohl zu behüten begehren / Im eigenen Zahne, lachend / Zerreißt er die Schlangen und stürzt / Mit der Beut und wenn in der Eil’ / Ein größerer ihn nicht zähmt, / Ihn wachsen läßt, wie der Blitz, muß er / Die Erde spalten, und wie Bezauberte fliehn / Die Wälder ihm nach und zusammensinkend die Berge.“ Vgl. Poiss (1993), 170–186.
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gewinnt. Den Begriff gewaltsam herausgreifend und definierend, macht er ‚Bahn und Gränze‘. Am Ende wird der festgebildete Pindarische Text vom Gedankenfluß, der sich von ihm abgesetzt hat, in seiner Bedeutung belebt. Erst lernend (die Gewalt der honigsüßen Rede) wird er selber zum bahnbrechenden Gestalter, der mit dem Stromgeist singt.“55 Leider sagt uns Fink nicht, wer in diesem Passus das Textsubjekt „er“ ist, aber vermutlich ist dies wohlintendiert: Der Geist, der das Belebende ist, das im Übersetzen von Pindar auf Hölderlin überspringt, läßt sich nicht unmittelbar in der Übersetzung fassen – er geht durch sie hindurch. Und löst in manchen Lesern zwar nicht mehr wie bei Heidegger ein „Erdbeben“, so doch immer noch produktive Erhellung aus.
Primärliteratur Hölderlin-Werkausgaben: Schmidt: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, I–III, hg. v. Jochen Schmidt, Frankfurt a. M. 1992–1994. StA: Hölderlin, Sämtliche Werke. Große Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Friedrich Beissner, Stuttgart (v. a. Bd. V und VII). FA: Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, ‚Frankfurter Ausgabe‘, hg. v. Dieter E. Sattler, Frankfurt a. M. 1975 ff. (v. a. Bd. 15 „Pindar“, 1987). Pindar-Textausgaben: Pindari carmina cum lectionis varietate et ad notationibus iterum curavit Christian Gottlob Heyne, I–III, Göttingen 1798–1799. Pindari carmina cum fragmentis, vol. 1: Epinicia, hg. v. Bruno Snell/Herwig Maehler, Leipzig 81987, vol. 2: Fragmenta. Indices, hg. v. Herwig Maehler, Leipzig 1989. Pindar-Übersetzungen: Bremer: Pindar. Siegeslieder. Griechisch-deutsch, hg., übers. u. mit einer Einl. vers. v. Dieter Bremer, München 1992. Dornseiff: Pindar, übers. u. erl. v. Franz Dornseiff, Leipzig 1921 (Leipzig 21965). Dönt: Pindar, Oden. Griechisch/Deutsch, übers. u. hg. v. Eugen Dönt, Stuttgart 1986. Gedike: Pindars Olympische Siegeshymnen. Verdeutscht v. Friedrich Gedike, Berlin/Leipzig 1777. – Pythische Siegeshymnen, Berlin/Leipzig 1779. Hölscher (1962): Pindar. Siegeslieder. Deutsche Übertragungen, zusammengestellt v. Uvo Hölscher, Frankfurt a. M. 1962. Hölscher (2002): Pindar. Siegeslieder. Übers. v. Uvo Hölscher, hg. v. Thomas Poiss, München 2002. _____________ 55
Fink (1982), 122.
Hölderlins Pindarübersetzung
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Pfeiff: Pindar. Übertragung, Einführung und Erläuterungen v. K. A. Pfeiff, Tübingen 1997. Schadewaldt: Pindars Olympische Oden. Übers. u. hg. v. Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt a. M. 1972. Werner: Pindar. Siegesgesänge und Fragmente, Griechisch und deutsch hg. u. übers. v. Oskar Werner, München 1967.
Sekundärliteratur Adorno, Theodor Wiesengrund, „Parataxis. Zur späten Lyrik Hölderlins“, in: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1974, 447–491 (Original 1963 [Vortrag]/1964 [Publikation]). Beissner, Friedrich, Hölderlins Übersetzungen aus dem Griechischen, Stuttgart 21961 (11933). Bennholdt-Thomsen, Anke „‚Wir müssen die Mythe […] beweisbarer darstellen‘. Hölderlins moderne Rezeption der Antigone“, in: Martin Vöhler/Bernd Seidensticker (Hg.), Mythenkorrekturen, Berlin/New York 2005, 181–199. Benn, Maurice B., Hölderlin and Pindar, s’Gravenhage 1962. Borchardt, Rudolf, Briefe 1924–1930, Text, bearb. v. Gerhard Schuster, München 1995. Böschenstein, Bernhard, „Göttliche Instanz und irdische Antwort in Hölderlins drei Übersetzungsmodellen. Pindar: Hymnen – Sophokles – Pindar: Fragmente“, in: Hölderlin-Jahrbuch 29 (1994/5), 47–63. Böschenstein, Bernhard, „Le renversement du texte. Hölderlin interprète de Pindare“, in: Littérature 99 (1995), 53–61. Böschenstein, Bernhard, „Übersetzungen“, in: Hölderlin-Handbuch, hg. v. Johann Kreuzer u. a., Stuttgart/Weimar 2002, 270–289. Bremer, Dieter/Lehle, Christiane, „Zu Hölderlins Pindar-Übersetzung. Kritischer Rückblick und mögliche Perspektiven“, in: Neue Wege zu Hölderlin, hg. v. Uwe Beyer, Würzburg 1994, 71–111. Bremer, Dieter, „Hölderlin als Pindar-Übersetzer“, in: Hölderlin: Philosophie und Dichtung, hg. v. Valérie Lawitschka, Tübingen 2001, 157–173. Christen, Felix, Eine andere Sprache. Friedrich Hölderlins Große Pindar-Übertragung, Basel 2007. Constantine, David, „Hölderlin’s Pindar: The Language of Translation“, in: Modern Language Review 73 (1978), 825–834. Dönt, Eugen, „Pindar und Hölderlin: Nemee 1 und Der Rhein“, in: Wiener Studien 95 (1982), 34–46. Dornseiff, Franz, Pindars Stil, Berlin 1921. Fink, Markus, Pindarfragmente. Neun Hölderlin-Deutungen, Tübingen 1982. Gaier, Ulrich, Hölderlin. Eine Einführung, Tübingen/Basel 1993. Gelzer, Thomas, „Pindarverständnis und Pindarübersetzunng im deutschen Sprachbereich vom 16. bis zum 18. Jahrhundert“, in: Geschichte des Textverständnisses am
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Thomas Poiss
Beispiel von Pindar und Horaz, hg. v. Walther Killy, (Wolffenbütteler Forschungen; 12), München 1981, 81–115. Heidegger, Martin, Das Wesen der Sprache (1957), in: Unterwegs zur Sprache, Pfullingen 1959. Hellingrath, Norbert v., Hölderlin-Vermächtnis, München 21944 (11936; [19–95: Pindarübertragungen von Hölderlin. Prolegomena zu einer Erstausgabe = Dissertation 1910]). Henkel, Arthur, „‚Der deutsche Pindar‘ Zur Nachahmungsproblematik im 18. Jahrhundert“, in: Geschichte des Textverständnisses am Beispiel von Pindar und Horaz, hg. v. Walther Killy, (Wolffenbütteler Forschungen; 12), München 1981, 173–193. Kurz, Gerhard, „Hölderlins poetische Sprache“, in: Hölderlin-Jahrbuch 23 (1982/83), 34–53. Lempicki, Stanislaw, „Pindar im literarischen Urteil des 17. und 18. Jahrhunderts“, in: Eos 33 (1930/31), 419–474. Louth, Charles, Hölderlin and the Dynamics of Translation, Oxford 1998. Most, Glenn W., „Hölderlin and the Poetry of History“, in: The Germanic Review 61 (1986a), 154–167. Most, Glenn W., „Pindar, O. 2. 83–90“, in: Classical Quarterly 36 (1986b), 304–316. Most, Glenn W., „Die Entdeckung der Archaik. Von Ägina nach Naumburg“, in: Bernd Seidensticker/Martin Vöhler (Hg.), Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 2001, 20–39. Nägele, Reinhold, „Vatertext und Muttersprache. Pindar und das lyrische Subjekt in Hölderlins späterer Dichtung“, in: Le pauvre Holterling 7 (1984), 39–52. Pöggeler, Otto, „Übersetzung als Zwiesprache? Sophokles – Hölderlin – Heidegger“, in: Zwiesprache. Beiträge zur Theorie und Geschichte des Übersetzens, hg. v. Ulrich Stadler u. a., Stuttgart/Weimar 1996, 77–86. Poiss, Thomas, Momente der Einheit. Pindars Epinikion und Hölderlins „Andenken“, Beihefte zu den Wiener Studien 18, Wien 1993. Poiss, Thomas, „‚Deshalb sind uns die Griechen unentbehrlich‘. Eine Rede zum Griechischen in Hölderlins Rhein-Hymne“, in: Evangelos Konstantinou (Hg.), Die Rezeption der Antike und der deutsche Philhellenismus, Frankfurt a. M. u. a. 1998, 275−295. Seifert, Albrecht, Untersuchungen zu Hölderlins Pindarrezeption, (Münchner Germanistische Beiträge; 32), München 1982. Seifert, Albrecht, „Die Rheinhymne und ihr pindarisches Modell. Struktur und Konzeption in Hölderlins Aneignung“, in: Hölderlin-Jahrbuch 23 (1982/83), 79–133. Seifert, Albrecht, Hölderlin und Pindar, hg. v. Anke Bennholt-Thomsen, Eggingen 1998. Sensini, Francesca, „Hölderlin da Pindaro: Olimpica II“, in: Per un divano letterario. Sette serate die comparatistica, Pisa 2001, 17–51. Theunissen, Michael, Pindar. Menschenlos und Wende der Zeit, München 2000 (darin 925–989: „Heidegger, Hölderlin und die Griechen. Nachbemerkungen zu philosophischen und philosophisch-poetischen Rezeptionen“). Verdenius, Willem Jacob, „Pindar, O. 2. 83–6“, in: Mnemosyne 42 (1989), 79–82.
Hölderlins Pindarübersetzung
205
Vöhler, Martin, „Hölderlins Longin-Rezeption“, in: Hölderlin-Jahrbuch 28 (1992/3), 152–172. Vöhler, Martin, „Das Hervortreten des Dichters. Zur poetischen Struktur in Hölderlins Hymnik“, in: Hölderlin-Jahrbuch 32 (2001/2), 50–68. Vöhler, Martin, Pindarrezeptionen. Sechs Studien zum Wandel des Pindarverständnisses von Erasmus bis Herder, Heidelberg 2005. Volke, Werner, u. a. (Hg.), Hölderlin entdecken. Lesarten, Katalog zur Ausstellung „Hölderlin entdecken. Zur Rezeption seiner Dichtungen 1826–1993“, UB Tübingen 7.6.–2.7.1993, Tübingen 1993. Werner, Jürgen, „Zur Geschichte der deutschen Pindarübersetzung“, in: Antikerezeption, Antikeverhältnis, Antikebegegnung in Vergangenheit und Gegenwart, hg. v. Jürgen Dummer/Max Kunze, Stendal 1983, Bd. 2, 577–604. Zuntz, Günther, Über Hölderlins Pindar-Übersetzung, Diss. Marburg 1928.
Autorenverzeichnis Friedmar Apel, Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, Philosophie und Anglistik in Berlin und Bloomington/Ind., USA. Habilitation mit einer Arbeit zur Übersetzungsproblematik (Sprachbewegung, 1982). Gastprofessuren in Berlin, Atlanta/Ga., Siegen und Regensburg. Professur in Paderborn und seit 2000 an der Universität Bielefeld mit den Arbeitsfeldern Komparatistik, deutsche Literatur im europäischen Kontext, 19. und 20. Jahrhundert, Literaturtheorie und Übersetzungstheorie. Norbert Bachleitner, Studium der Germanistik und Anglistik in Wien. Seit 1997 Außerordentlicher Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft in Wien. Mitherausgeber der Zeitschrift Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Arbeitsschwerpunkte: Komparatistik, Geschichte der literarischen Übersetzung, moderner Roman, sozialgeschichtliche und systemtheoretische Literaturtheorie, Buchhandelsgeschichte. Manuel Baumbach, Studium der Anglistik, Klassischen Philologie und Philosophie in Innsbruck, Heidelberg und Cambridge. Promotion mit einer Arbeit über Lukian in Deutschland (2002). Seit 2005 Lehrstuhlvertretung Gräzistik an der Universität Zürich, mit den Arbeitsschwerpunkten hellenistische Dichtung, griechischer Roman, griechisches Epigramm, Zweite Sophistik, Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte. Roman Dilcher, Studium der Klassischen Philologie und Philosophie in Tübingen und Oxford. Lehrt Philosophie an der Universität Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: griechische Philosophie, Metaphysik, Transzendentalphilosophie, Phänomenologie, Ethik, Ästhetik und Hermeneutik. Martin Harbsmeier, Studium der Klassischen Philologie in Kopenhagen, Berlin und München. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klassische Philologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Mitglied des Sonderforschungsbereichs 644 „Transformationen der Antike“ (Unterprojekt „Schleiermachers Erläuterungen zu seiner Übersetzung“). Arbeitsfelder: antike Philosophie, Ästhetik und Dichtungstheorie. Gesa Horstmann, Studium der Biologie, Neueren deutschen Philologie, Vergleichenden Literaturwissenschaft und Kommunikationswissenschaft in Osnabrück und Berlin. Dissertation über Shakespeares Sonette in Deutschland. Seit 1995 Lehrtätigkeit an
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Autorenverzeichnis
der TU Berlin. Forschungsschwerpunkte: literarische Übersetzung, Lyriktheorie, Formen des Komischen, Literatur und bildende Kunst. Jörg Jantzen, Studium der Philosophie, Alten Geschichte und Germanistik, Professor an der Universität München. Herausgeber der historisch-kritischen Ausgabe von Schellings Schriften im Auftrag der Schelling-Kommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Ontologie, Transzendentalphilosophie, Logik und Naturphilosophie, die Philosophie der Vorsokratiker, Platons, Aristoteles’, hellenistische Philosophie und Descartes. Josefine Kitzbichler, Studium der Neueren deutschen Literatur, Gräzistik und Latinistik in Jena und Berlin. Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“, Teilprojekt „Übersetzung der Antike“. Arbeit an einer Dissertation über Johann Gustav Droysens Aristophanes-Übersetzung. Arbeitsschwerpunkte: deutsche Literatur des 19. Jahrhunderts, Übersetzungstheorie, Wissenschaftsgeschichte. Katja Lubitz, Studium der Gräzistik und Latinistik in Berlin. Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“, Teilprojekt „Übersetzung der Antike“. Arbeit an einer Dissertation zum Problem des Übersetzens obszöner Sprache am Beispiel der Komödien des Aristophanes. Nina Mindt, Studium der Latinistik und Germanistik in Berlin und Arezzo. Promotion mit einer Arbeit über Manfred Fuhrmann als Übersetzer. Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 644 „Transformationen der Antike“, Teilprojekt „Übersetzung der Antike“ und seit 2008 am Institut für Klassische Philologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: augusteische Poetik und deren Rezeption und Transformation, Übersetzungstheorie. Thomas Poiss, Studium der Klassischen und Mittellateinischen Philologie und der Allgemeinen Literaturwissenschaft in Wien und Konstanz. Promotion in Wien mit der Arbeit Momente der Einheit. Pindars Epinikion und Hölderlins Andenken. Seit 1994 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klassische Philologie der HumboldtUniversität zu Berlin. Mitglied des Sonderforschungsbereiches 644 „Transformationen der Antike“ (Unterprojekt „Der deutsche Pindar“) und des Exzellenzclusters TOPOI. Forschungsschwerpunkte: Antike und moderne Lyrik, antike Philosophie, Wissenschaftsgeschichte. Ernst A. Schmidt, Studium der Klassischen Philologie in Tübingen, München und Heidelberg. 1979 bis 2002 Professur für Lateinische Philologie in Tübingen. Herausgeber der Zeitschrift Antike und Abendland. Arbeitsschwerpunkte: lateinische Dichtung der augusteischen Zeit, aristotelische Tugendlehre, die Auseinandersetzung mit Antike und antiker Literatur im Werk Rudolf Borchardts.
Personenregister Ahlefeldt-Lützow, Elisa von 110 Apel, Friedmar 5, 17 ff., 66, 78, 101, 137 f., 153, 155, 168, 171, 187 Aristophanes 83, 85, 87, 101, 122 Aristoteles 2 f., 21, 43, 46, 56, 176, 186 Arnim, Achim von 21 Ast, Friedrich 18, 20, 26, 32, 37, 45, 47, 63 f., 76 f. Augustinus 52 Bahrdt, Karl Friedrich 106 f., 116 Bar-Hillel, Yehoshua 25, 27 Bärmann, Georg Nikolaus 105, 108 Barth, Carl 3, 14 Bayr, Rudolf 180 ff., 185 Beissner, Friedrich 189 f., 192, 202 f. Bekker, Immanuel 41, 45 Benjamin, Walter 75, 77, 189 Benn, Maurice B. 190 ff., 198, 203 Bentley, Richard 21 Bodenstedt, Friedrich 10, 136, 139 ff., 150 ff. Boeckh, August 21, 25, 30 ff., 34, 41 ff., 45, 63 f., 70 ff., 77, 158, 185 Böhme, Jakob 43 Borchardt, Rudolf 10 ff., 75, 77, 121, 131, 150, 152, 155 ff., 189 ff., 203 Bourdieu, Pierre 103 Breitinger, Johann Jacob 98, 174, 179 f., 185 Bremer, Dieter 190 ff., 195, 197, 202 f.
Brentano, Clemens 21, 175, 185 Brinckmann, Karl Gustav Freiherr von 31, 33 Brucker, Johann Jakob 36 Bürger, Gottfried August 128 ff. Carrière, Moritz 149, 152 Cauer, Paul 174 Celan, Paul 189 Cella, Johann Jakob 111 Cicero 8, 66 f., 77, 82 f., 87, 124, 176, 179, 185, 187 Clauren, Heinrich 107 Constantine, David 190, 193, 203 Cramer, Carl Gottlob 107 Dahn, Felix 140 f., 152 Delius, Nicolaus 144, 152 Demosthenes 87 Dilthey, Wilhelm 29, 41, 45 Dingelstedt, Franz von 10, 13, 135, 139, 143, 152 Donner, Johann Jakob Christian 63 f., 67, 70 ff., 76, 108 Dönt, Eugen 191, 193, 202 f. Dornseiff, Franz 190, 193, 202 f. Droysen, Johann Gustav 129 Eco, Umberto 172, 187 Ermatinger, Emil 130 f. Eschenburg, Johann Joachim 138 Euripides 10, 12, 14, 63, 68, 71 f., 76, 78, 87, 132 Fichte, Johann Gottlieb 43, 111 Fink, Markus 199, 201 ff. Friedrich, Hugo 173, 177 Friedrich Wilhelm IV. 72 Fritze, Franz 63 f., 71 f., 76 f.
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Personenregister
Fuhrmann, Manfred 97, 101, 171, 185 Fulda, Ludwig 150 ff. Fülleborn, Georg Gustav 43, 46 Garve, Christian 66, 77 Gedike, Friedrich 177, 185, 193 ff., 202 Geibel, Emanuel 121, 140 Gellius, Johann Gottfried 105 George, Stefan 9, 121, 150, 154, 189 Gervinus, Georg Gottfried 138, 153 Goethe, Johann Wolfgang von 2, 5, 14, 18 f., 21, 23, 44, 49 f., 57, 59 f., 63, 72, 74, 83, 85, 95, 97, 99 f., 112, 123 f., 126 ff., 130 f., 135 f., 147 ff., 154, 159, 161, 163, 171, 176, 187 Gottsched, Johann Christoph 97 f., 112 Grimm, Jacob 20, 155 f., 168 Gumbrecht, Hans Ulrich 26 f. Harris, James 21, 26 Hauff, Wilhelm 105 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 43, 63, 78 Heidegger, Martin 55, 59, 189, 193, 198, 202, 204 Heindorf, Ludwig Friedrich 32 ff., 46 Heinze, Johann Michael 176 f., 185 Hellingrath, Norbert von 189 ff., 198, 204 Heraklit 56, 58, 60, 195 Herder, Johann Gottfried VI, 17, 20, 54, 60, 129, 150, 157 f., 175, 185, 187, 205 Hermann, Karl Friedrich 42, 46 Herodot 8 f., 14 f., 55, 67 Herz, Henriette 30 Heß, Ludwig von 171, 185 Heyne, Christian Gottlob 192, 195, 199, 202 Heyse, Paul 68, 140, 143, 150, 152 ff.
Hölderlin, Friedrich 11, 13, 63 f., 68, 76 f., 165, 169, 187, 189 ff. Hölscher, Uvo 121, 132, 193, 197, 202 Homer VI, 10, 14, 17 ff., 23 f., 26 f., 63, 65, 67, 73, 124, 127 ff., 155 f., 159 ff., 167 f., 183, 186 Horaz 86 f., 97, 101 f., 124, 127 ff., 183 f., 204 Hottinger, Johann Jakob 105 ff., 116 Humboldt, Wilhelm von V f., 10 f., 83, 100, 124, 126, 129, 132, 184 f., 187 Hunziker, Rudolf 130 f. Immermann, Karl 110, 116 Iser, Wolfgang 81, 84, 101 Isokrates 87 Jacobi, Friedrich Heinrich Ritter von 43 Jaeger, Werner 41 Jauss, Hans Robert 81 f. Jean Paul (Johann Paul Friedrich Richter) 108 Johannes (Evangelist) 5, 49 ff., 56 ff. Kant, Immanuel 19, 35 f., 38, 43 f., 111 Kloepfer, Rolf 173 Klopstock, Friedrich Gottlieb 127 ff., 194, 198 Kohlmayer, Rainer 172 f. Kopetzki, Annette 171, 183 Kotzebue, August 107, 112 Kramer, von 111 Kurz, Gerhard 198 Lafontaine, August 107, 112 Laun, Friedrich 107 Lehle, Christiane 190 ff., 195, 197 Lessing, Gotthold Ephraim 19, 86, 105, 112, 136, 176 f. Levý, Jiří 5, 85, 173, 184 Litzmann, Berthold 190 Louth, Charles 190
Personenregister
Lukian 81 ff. Luther, Martin 8 f., 50 f., 54, 129, 156 Marggraff, Hermann 115 May, Sophie 109 Mendelssohn Bartholdy, Felix 70 f. Minckwitz, Johannes 63 f., 67, 175 Morgenstern, Karl Simon 36 Müller, Wilhelm 109 Newald, Richard 176, 180 Nicolai, Friedrich 106 f. Nietzsche, Friedrich 198 Novalis (Friedrich Leopold Freiherr von Hardenberg) 11, 137, 175 Oettinger, Anthony Gervin 25 Opitz, Martin 112, 129 Osiander, Christian Nathanael 108 Pauly, August 108 Pfeiff, Karl Arno 165 Philon von Alexandrien 58 Pindar 11, 13, 67, 160, 163 f., 166, 182 f., 189 ff. Platon 4 f., 29 ff., 56, 63, 66, 81, 84, 124, 193 Plessing, Friedrich Victor Lebrecht 36 Plinius 87, 174 Poltermann, Andreas 7, 9, 62, 75, 182 f. Prutz, Robert 114 f., 141 Quine, Willard van Orman 24 f. Reinhold, Karl Leonhard 37 Reiß, Katharina 61 Rilke, Rainer Maria 189 Rochlitz, Friedrich 63 Rousseau, Jean-Jacques 105 Rüdiger, Horst 181 Ruge, Arnold 63 f., 68 Rychner, Max 189 f. Sappho 158, 175, 183 Sattler, Dieter E. 191 ff., 199 Schadewaldt, Wolfgang III, 11, 121, 165, 177 f., 183, 193, 199
211
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 36 ff., 42 f. Schiller, Friedrich 83 ff., 121, 126, 129 ff., 135, 143, 147, 149, 176 Schilling, Gustav 107 Schlegel, August Wilhelm 10, 23 f., 38, 114, 135 ff., 143, 151 Schlegel, Friedrich 5, 17 ff., 29 ff., 38 ff., 66, 97, 137, 147 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst V f., 2 ff., 9 ff., 18, 21, 29 ff., 56, 61, 65 f., 84, 113 f., 124, 129, 136, 147, 173, 178, 180, 185 Schmidt, Jochen 191 f., 198, 201 Schöll, Adolf 63 f., 66 ff., 75 Schröder, Rudolf Alexander 183 f. Schwab, Gustav 107 Scott, Walter 107 ff. Seifert, Albrecht 190, 192, 195, 198 f. Shakespeare, William VI, 1, 10, 23, 69, 87, 129, 135 ff. Sokrates 56, 98 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 10, 63 ff., 75, 126, 129 Sophokles 63 ff., 70 ff., 76, 87, 114, 175, 180, 199 Spalding, Georg Ludwig 34 Staiger, Emil 130 Stallbaum, Johann Gottfried 41 f. Stolberg, Friedrich Leopold zu 42, 164 Strauß, Viktor 63 f. Süvern, Wilhelm 63 f. Tacitus 9, 67, 106, 158 Tafel, Gottlieb Lukas Friedrich 107 Tennemann, Wilhelm Gottlieb 31, 36 Teuffel, Wilhelm Siegmund 108 Thomas von Aquin 51 f. Tieck, Dorothea 110 Tieck, Ludwig 70, 72, 110, 135 f., 143
212
Personenregister
Tiedemann, Dieterich 35 Usener, Hermann 158, 162 Vermeer, Hans J. 61 Vöhler, Martin 190, 198 Voss, Johann Heinrich 10, 23 f., 64 f., 83, 98, 124, 126, 129, 138, 143, 161, 165, 194 Weil, Carl 108 Werner, Oskar 193 Wieland, Christoph Martin VI, 7, 23, 81, 83, 85 ff., 112, 129, 138, 177 ff., 182
Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 9 ff., 63 f., 72 ff., 119 ff., 161 f., 181 ff. Wilbrandt, Adolf 10, 63 f., 68 ff., 75 Wolf, Friedrich August VI, 11, 17 ff., 83, 85, 124, 127, 158 Wolff, Friedrich Carl 42 Wollheim da Fonseca, Anton Edmund 104 Xenophon 67, 87, 99, 179 Zeller, Eduard 31, 41 Zuntz, Günther 165, 189 ff.
Sachregister Allegorese 201 Allgemeines Landrecht 111 Antikebild/Antikeauffassung 7, 87, 92, 124 f., 131, 172 Apologetik, christliche 58 Archaik, archaisch, archaisieren, Archaismus 9 f., 12, 124, 155 f., 162 ff., 198 Ästhetik, ästhetisch 18 f., 26, 63 f., 74, 123, 131, 172 Athenäum 17, 19 f. Aufklärung 25, 37, 124 f., 127, 172 Auftraggeber 199 belles infidèles 114 Bildung 1, 7, 9, 18 ff., 23, 26, 63, 65, 67 ff., 73 ff., 123, 129 Buchmarkt 6, 67 f., 103 ff. Bühne, s. Theater Copyright 104 Dialektik 39 f., 42, 56 Dialog, platonischer 5, 35 ff., 41 f. Dialogtheorie 35, 42 Divination 180 Dolmetschen 44, 173 Einfühlung 13, 171, 180 f. Einheit von Form und Inhalt 9, 36 f., 147 Epideixis 22 Epigonalität 9, 127 ff. Erlebnis 157 f., 161 f. Esoterik (ungeschriebene Lehre Platons) 31, 35 f., 38 f., 41 f. Faust 5, 49 ff., 121, 128 Feld, literarisches 10 f., 103 f., 112, 114
Form 1, 8 f., 11 f., 23, 35 ff., 40 ff., 65, 71 f., 125 ff. Fragment 17 ff. Franckh (Verlag) 107 f. Fremdheit, das Fremde u. ä. 1 f., 4, 6, 18, 43 ff., 55, 69, 75, 81, 199 Frühidealismus 37 f. Frühromantik 4 f., 68, 136 f., 140, 151 Geist 18 ff., 24, 33, 37, 44, 49 ff., 66, 125 Genie 17 f., 98, 110, 148, 166, 175 f. Genius 108, 161, 176, 184 George-Kreis 9, 121, 150, 189 Geschmack 13, 75, 121, 171 f., 176 ff. Grammatik, grammatikalisch 18 f. Gymnasium, humanistisches 63, 67 „harte Fügung“ 190 Hermeneutik, hermeneutisch 2 ff., 17 ff., 30, 34, 37, 44, 53 ff., 65, 172, 180, 184 f. Hexameter 126, 128 f., 161 f., 164 historisch-kritische Methode 18, 20, 22, 31 f., 123 f. Historismus 119 f. Honorare 105 Idealismus 37, 131 Idee 11, 36 ff., 44 Indeterminacy 24 f. Inspiration 13, 171 Institutionalisierung 135, 139 f., 142 f. Interpretation 3, 11 f., 17 f., 20, 37, 50 ff., 123, 183 Intertextualität 85
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Sachregister
Ironie 39 Irrationalismus, irrational, 11, 13, 171, 174 Irrationalität der Sprachen 11, 84, 125 Judentum, hellenistisches 57 f. Kapital, symbolisches 104, 110, 112 Klassik/Klassiker, deutsche(r) 9, 20 f., 23 f., 74, 85, 128, 130 f., 135, 138, 141, 149, 151 Klassiker-Bibliotheken 141, 149, 151 Klassizismus, klassizistisch 10, 24, 70, 123 f., 131, 158, 160 f., 164 f. Kommunikationsstruktur 61, 199 Kongenialität 95, 107, 177 Kunst, künstlerisch 3 ff., 11 ff., 19, 30, 37 f., 41, 43, 119, 121, 181 ff. Kunstcharakter (der Übersetzung) 22, 30, 50, 190 f. Langenscheidt (Verlag) 64 ff. Lebendigkeit 10, 37 f., 68 ff., 131 Lesen, Leser 2, 20, 33, 37 f., 40 f., 43 ff., 51 f., 54, 62 ff., 81, 84 f., 96, 124 f., 131, 135, 141 f., 146 ff., 152, 192 Leserkonzept/Leserkreis/Leserprofil 5 ff., 12, 62, 64 f., 71, 75, 124 Literaturauffassung 10, 62 Logos, Begriff des 51 ff. Logosphilosophie, griechische 58 f. Lyrik (Definition nach 1850) 128, 130, 148 f. Metempsychose 125, 182 Metrik 70, 126, 162, 164 Metzler (Verlag) 108 mimetisch 10, 65, 71, 194, 201 Mimus 22 modern 62, 70 f., 124, 128 ff. Moderne, die 17, 19 f., 22, 88, 93 ff. Monumentalisierung 135, 138 f., 143, 149 Münchner Dichterkreis 10, 68, 139 ff., 149 f.
Nachbildung 18, 22, 44 f., 65, 125, 128 f. Nachfühlung 180 Naturphilosophie, ionische 56 Neues Testament 5, 49 ff., 56 ff. Neukantianismus 44 Neuplatonismus 36 Offenbarung 51, 58, 161 ff. Original I, 4 f., 9, 11 f., 23, 43, 49 f., 54 f., 59, 62, 82, 85 f., 119, 122, 125, 130 Paraphrase 3, 11, 44 f. Paratexte (Anmerkungen, Vorworte) 42, 63 f., 74, 85 ff., 90, 96, 99 f. Performanz 22 Philologe, Philologie, philologisch 5, 17 ff., 30, 33 f., 66, 73 f., 92, 121 ff., 130, 181 ff. Philosophie, – griechische 41, 43, 58 f. – kritische 36, 43 – platonische 31, 33, 35 f., 39, 42, 56 – praktische 36 Poetik 112, 172, 174 ff., 201 Publikationsreihen 66, 104, 107 Publikum 5 ff., 64, 66, 69 ff., 74 f., 104, 141 ff., 146 ff., 150, 152, 193, 199 Reichsches Mandat 111 Reinschrift 191 f. Renaissance 158, 160, 164 f. Rezeption, kreative 95 f. Rezeptionsästhetik 81, 83 f., 172 Rhetorik, rhetorisch 9, 21, 138, 145, 172, 174, 178 Rom 160, 164 f. Satzperspektive 195, 197 f. schöpferisch 1, 3, 11 ff., 131, 176, 199, 201 schöpferische Restauration 155, 157 ff., 162, 166 Schriftkritik 37 f. Schriftsteller, freier 105 ff.
Sachregister
Schumann (Verlag) 107 ff. Shakespeare-Gesellschaft 135, 139, 142 ff., 147 Sinn 20 f., 24, 33, 49 ff., 57, 125 ff. Sophistik, griechische 55 Sprechermodell 199 Sprechhaltung 198 Stil 11, 121 ff., 126 ff. Stoa 43, 58 Subjektivität, subjektiv 3 ff., 12 f., 17 ff., 23, 86, 171 ff., 178, 182 Sympathie, sympathetisch 173 συμφιλοσοφεῖν 32 Tempel 155 f., 160, 164 f. Theater 9, 68 ff., 75, 120, 129 Ton 43, 130 Travestie 121, 125 Übersetzen, – als Abbildung 23 ff., 82, 84, 98, 147 – als „Verpflanzen“ 2, 21, 44, 136 – dokumentarisches 178 – einbürgerndes 1, 128 ff., 135 ff., 138 f., 143 f. – freies 1, 7, 10, 12, 23, 69, 125 – gelehrtes 11, 42 – heuristisches 189, 193, 195, 198 – „im Versmaß der Urschrift“ 10, 12, 125 f., 129 f. – „in modernem Gewande“ 12, 125 ff. – literarisches 6 ff., 61, 75 – metrisches 71 f., 125 ff. – „nostrifizierendes“ 10, 139, 147, 149, 150 f. – popularisierendes 66, 139, 144, 146, 150 – „sinngemäßes“ 50 – transponierendes 177 f. – treues 1, 11, 69, 114, 125, 127 – verfremdendes 1 f., 124 f., 129, 138, 144 – „Wort für Wort“, „word for word“ 50, 190, 193
–
215
zielsprachenorientiertes 11, 81, 97, 99, 126, 128 Übersetzungsfabriken 61, 105 f. Übersetzungsfehler 50 Übersetzungsrecht 111 Ur-Poesie 158 „Ursprache“ 43 f. Vermittlung 6 f., 19, 58, 61, 65, 123, 131 Vernunftkritik 36 Verständnis 4, 21, 41, 53 ff., 62, 75, 122 f., 125, 131 Verstehen 2 ff., 17 ff., 41, 43, 61, 72, 127 Verwandtschaft, geistige 9, 123, 136 Vieweg (Verlag) 104 Vorsokratik 43 Weltliteratur 139 ff., 151 Wirkungsästhetik 19, 69, 81, 84 ff. Wortkonstanz 197 f. Wörtlichkeit 19, 193 f.