Pas
Zwei Deutsche im Urwald
Ernte Verlag Potsdam 1937
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Wenn Hunde mü...
139 downloads
1420 Views
495KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Pas
Zwei Deutsche im Urwald
Ernte Verlag Potsdam 1937
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Wenn Hunde müde sind Von Argentinien kamen wir damals, Wilm und ich. Wo der Weizen auf den Halmen verfaulte, die Lokomotiven mit Weizen geheizt wurden, der Bauer Feuer durch die Weizenfelder jagte und nachher Mais darauf pflanzte, weil der immerhin noch etwas Geld brachte. Wo die Armut neben dem Reichtum wohnte, der Ausländer Gringo hieß und nur zu der Arbeit herangezogen wurde, die dem Einheimischen zu schwer und zu dreckig war. Von dem gastfreiesten Lande, wo man für Geld und gute Worte alles haben konnte, und wo derjenige, der mittellos war, die rührende Freiheit genoß, Hungers zu sterben. Wir waren hungrig, müde und abgerissen, als wir nach der brasilianischen Seite übersetzten, und hatten nicht mehr zu verlieren, als jeder achtundzwanzig Jahre und beide zusammen fünfzig Centavos. Es war Nachmittag, als wir in dem kleinen Städtchen Porto Lucio ankamen. Das Nest ist eine einzige lange Straße, darin sich der Handel breit macht, und wo vor den Häusern Palmen und Platanen stehen. Es war Sonntag. In den Kneipen und Spelunken ging's hoch her. Das ganze internationale Gesindel schien sich heute hier getroffen zu haben. Unsere völlige Fremdheit, das bißchen Geld, die schäbige Kleidung, das lange Haar und die unrasierten Gesichter machten es unmöglich, irgendwo einzutreten. So schlugen wir den Weg zur Koloniezone ein. An schmucken Häusern und Häuschen kamen wir vorbei, die hübsch eingebettet waren zwischen dunkelgrünen Orangenbäumen, deren goldene Früchte uns entzückend anlachten. Wir schlugen uns den Bauch voll mit Orangen, und auch die Bergamotten mußten herhalten. Hin und wieder trafe n wir Reiter, auch wohl einen Tanzsaal, in dem eine Victrola zum Tanz aufspielte und das Jungvolk sich vergnügte. -2-
Die Alten saßen bei den Karten. Ein paar Geschäftshäuser passierten wir. Unter Schattenbäumen vergnügte sich das Volk mit Kegeln. Uns sahen sie verächtlich an. Wir waren eben Deutschländer, und von der Sorte zogen damals täglich etliche vorbei, fraßen sich recht und schlecht durch, arbeiteten auch wohl eine Zeitlang, um dann die Tippelei wieder fortzusetzen. Auf Deutschländer war man nicht gut zu sprechen. Das hörten wir von einem Alten, der vor seiner Hütte saß und den wir um einen Trunk Wasser baten. Es war kurz vor Abend, wir mußten uns nach einem Nachtquartier umsehen. Vor einem großen Hause, das hart an der Straße stand und keinen Vorgarten hatte, blieben wir stehen. Die Fenster und Türen waren offen und wir sahen einen großen Mann mit langen Schritten in dem geräumigen Zimmer auf und ab gehen. Da klatschten wir in die Hände. Der Mann kam zur Tür, musterte uns von oben bis unten und hieß uns eintreten. Mit einer Handbewegung deutete er auf eine an der Wand stehende Bank. Wir ließen uns darauf nieder. Derweilen ging er zu einem in der Mitte der Stube stehenden großen Tisch. Zwischen zwei Blumenvasen mit vertrockneten Sträußen stand eine dickbauchige Flasche. Daraus goß er sich ein großes Glas voll und stürzte es auf einen Zug herunter, setzte darauf seine Wanderung im Zimmer fort, hielt wieder vor dem Tisch still und schenkte wieder ein. Dann zu uns gewandt: »Wollt ihr auch einen trinken?« Ob wir wollen? Draußen ist's frisch gewesen. Wir haben uns warm gelaufen u'nd jetzt fröstelt's uns. Auch haben wir den ganzen Tag nichts anderes gegessen als Orangen und Bergamotten. Das uns gereichte Glas ist schnell leer. Ob wir noch einen wollen? Gewiß! Und dann setzt der Mann seine Rennerei wieder fort. Soviel aber wissen wir schon im voraus: übernachten können wir hier, auch ohne gefragt zu haben. In dem großen Zimmer hängen an -3-
den grau getünchten Wänden die europäischen Herrscher einträchtig nebeneinander, als wäre niemals ein langer blutiger Krieg gewesen. Dazwischen verstreut Päpste, Heilige, Familienbilder, Geschäftsreklamen, und dann prangt da noch ein großes Brautbild, umgeben vom Myrtenkranz. Ein halb Dutzend hölzerne Stühle, an den Wänden Bänke, das ist die ganze Zimmereinrichtung. »Ihr kommt wohl von Argentinien?« »Ja.« »Na, dann trinkt nochmal einen. Da drüben ist das Zeugs teuer, hier kostet's gar nichts.« Also trinken wir weiter. Und jetzt fängt der Schnaps an zu wirken. Die Wangen, glühen. Die Müdigkeit fällt ab, die Zigarre schmeckt wieder. Wenn der Mann nur mit seiner verrückten Rennerei aufhören möchte. Endlich steht er wieder vor der Flasche still, trinkt und gibt auch uns wieder zu trinken. Dann spuckt er ein paarmal kräftig aus, haut schallend auf den großen Tisch und ballert los: »Eine verdammte Schweinerei ist das. Drei Tage lumpen meine Knechte in dem verfluchten Drecknest herum. Und warum? Weil neue Mulattinnen angekommen sind! Da hilft kein Zureden, da hilft kein Radau, bei der Bande hilft überhaupt nichts! Da muß erst der letzte Milreis versoffen sein, bevor sie wieder zu gebrauchen sind. Und gerade jetzt muß mir das passieren! Jetzt, wo ich das gute Geschäft machen kann! Jetzt, wo Geld zu verdienen ist! Rasend könnte man werden!« Er hat sich förmlich in Wut geredet. Plötzlich schreit er uns an: »Könnt ihr arbeiten? Könnt ihr rüdem? Rudern in stockdunkler Nacht und ohne Geräusch zu machen? Heh! Könnt ihr das? Wollt ihr Geld verdienen? Geld, viel Geld! Heh?« Wir sind aufgesprungen und sprechen' gleichzeitig. »Ja, wir können arbeiten! Ja, wir können rudern! Ja, wir -4-
wollen Geld verdienen! Je mehr, je lieber!« Wir können alles. Wir müssen alles können. Weil uns die Not treibt. Weil uns nichts anderes übrigbleibt, weil wir gänzlich auf dem Hund sind. Ein volles Glas reicht uns der Schnapsbrenner. Doch weil wir nur noch ganz wenig daran nippen und es ihm dann zurückgeben, schlägt er sich lachend mit der flachen Hand vor die Stirn, wendet sich einer Nebentür zu, reißt sie auf und schreit laut hinaus: »Mutter, mach mal fix mit dem Nachtessen. Ich hab zwei Deutschländer angenommen, die helfen die Nacht den Schnaps rüberschaffen.« Kaum fünf Minuten später rufen sie schon zum Abendbrot. Sie müssen also wohl schon vorher mit dem Anrichten beschäftigt gewesen sein. Alles, was wahr ist: der Tisch ist gut bestellt. Es gibt Bratkartoffeln, ein halbes Huhn, Wurst, kaltes Schweinefleisch, Brot, Butter, Honig, Kaffee und sogar ein wenig Streuselkuchen. Einen solchen Tisch haben wir schon lange nicht mehr gesehe n. Herrgott, hauen wir ein! Von wegen Hunger! Hunger ist ganz was anderes. Was wir haben ist Kohldampf. Die anderen sind schon längst fertig, da verdrücken wir noch den Rest Kuchen. Eine Tasse heißen Kaffee hinterher und jetzt erst sind wir wieder auf dem Damm. Es dunkelt bereits stark, und die Tochter zündet die große Hängelampe an. Wie sie sich über den Tisch beugt und die schlanken Arme zur Lampe hebt, strafft sich das einfache Hauskleid und läßt deutlich die Körperformen sehen. Sie ist ein hübsches Mädchen, groß und schlank wie der Vater, Haar und Augen dunkel wie die Mutter, dazu eine leicht gebräunte Hautfarbe. Wie sie uns noch einmal Kaffee einschenkt, gibt mir Wilm einen sanften Stoß. Ein Gefühl der Sattheit überkommt uns, wir haben die Hände über den Bauch gefaltet, rauchen unsere Maisblattzigarren und -5-
denken: wenn man jetzt schlafen könnte, schlafen, lang und tief. Die angenommene Arbeit hätten wir beinahe vergessen. Der Schnapsbrenner langt aus dem Küchenschrank eine große Flasche hervor, gießt uns allen einen recht großen Schuß recht alten Schnaps in den Kaffee, nimmt dann die Flasche an die Lippen und zieht gehörig daran. Himmel! Kann der Mensch was vertragen! Während die Frauen abräumen, steckt er die große Stallateme an, dann gehen wir alle zusammen auf den Hof. Die Hunde werden gerufen. Sie werden jeder an eine lange Kette gelegt, und zwar so, daß einer den anderen nicht ganz erreichen kann. Auf einem holprigen Weg geht es zur nahen Brennerei, die dicht am Fluß liegt. Sechzehn mächtige volle Schnapsfässer liegen da und warten darauf, nach der anderen Seite verladen zu werden. Wir rollen vier Fässer zum Fluß und verstauen sie in einem starken Boot. Die Frauen, die uns geleuchtet haben, gehen jetzt zurück. Sie sind nur mitgegangen, damit wir den Weg zum Fluß kennenlernen. Von nun ab müssen wir uns mit einer kleinen Blendlaterne behelfen. Auf der anderen Seite gilt nur noch das Tastgefühl. Der Nebel verdichtet sich allmählich so sehr, daß wir keinen halben Meter weit sehen können. Wir nehmen unsere Plätze ein. Der Brenner hockt am Steuer. Ein scharfer, kurzer Pfiff. Und während das Knurren und Bellen unserer vier Hunde verstummt, vernehmen wir von drübenher ganz deutlich Hundegebell. Da stoßen wir ab, und mit dem Gehör sucht der Steuermann die Richtung. So sind wir in jener Nacht viermal hin und her gefahren, haben die Ruder tief eingetaucht und hart angezogen und dabei doch jedes Geräusch vermieden. Sechzehn schwere Fässer zum Fluß hinabrollen, das war uns ein leichtes, aber sechzehn schwere Fässer an einem steilen, steinigen und glitschigen Ufer -6-
hinaufrollen, das war unsäglich schwer. Die Haut ging von den Knien herunter. Die Hände waren zerschunden und bluteten. Wir gössen Schnaps drauf und töteten die Schmerzen. Wir schwitzten Schweißwolken. Der Nebel fraß sie. Der aufkommende Husten wurde mit Schnaps erstickt, und wenn der Nebel sich zu sehr auf Brust und Lungen legte: Schnaps her! Als der Morgen graute, war die schwere Arbeit getan. Wir gingen zur Küche hinauf und tranken Tee. Später riefen die Frauen zum Kaffee. Aber so gut auch diesmal der Tisch wieder gedeckt war, keinem schmeckte es so richtig, bis die dicke Flasche aus dem Küchenschrank kam. Da hauten wir kräftig ein. Auch die Frauen sahen müde und übemächtigtaus. Sie langten dem Brenner einen großen, gepreßten Speckgriebenpfannkuchen hin. Der nahm sein Ansteckmesser, zerhackte ihn in vier gleiche Teile und ging damit auf den Hof hinaus. Wir folgten. Da lagen die vier Hunde und regten sich kaum. Er koppelte einen nach dem anderen los, gab jedem sein Stück, und langsam verschwand ein Tier nach dem anderen damit in den Stall. Sie hatten es in dieser Nacht schwer gehabt. Hörten die Hunde auf der anderen Seite zu bellen auf, mußten die hier anfangen. Die Frauen schoben einen Knochen oder ein Stück Fleisch zwischen sie, und die sonst so guten Freunde fuhren wie Teufel aufeinander los, bellten, kläfften, was sie nur konnten. Ermüdeten sie, so wurde einem anderen von ihnen der Knochen zugeschoben, und dann bellten die anderen drei um so toller. Das ging so immer reihum die ganze Nacht hindurch. Ihre Erholung war, wenn wir auf der Hinfahrt waren, unsere Erholung, wenn wir auf der Rückfahrt waren. Als der Brenner uns das Lager anwies, hatte jeder von uns fünfzig Pesos in der Tasche, hatten wir beide uns in die Anna verliebt, waren Schmuggler geworden und hatten zum ersten Male in unserem Leben gesehen, wie das ist, wenn Hunde müde sind. -7-
Nur Lumpen sind bescheiden In einer einzigen Nacht und unter unsäglichen Mühen hatten wir uns jeder fünfzig Pesos verdient. Das war Geld. Vierundzwanzig Stunden ununterbrochener Schlaf, dann ein Bad im Uruguay, darauf ein kräftiges Frühstück, und unser Lebensmut stieg himmelhoch. Ein kurzer Abschied vom Schnapsbrenner, von seiner Frau und Tochter, der übliche Abschiedstrunk, dann wandern wir wieder dem Städtchen Porto Lucio zu. Dort gibt es einen Laden, in dem wir uns zuerst einmal völlig neu einkleiden. Danach noch eine Behandlung beim Barbier, und wir sind äußerlich tadellos hergerichtet. Ein gutes Mittagsmahl in einem kleinen Restaurant beschließt den halben Tag. Wir lernen dort einen ehemaligen Blechschmied kennen, der es inzwischen zum Apotheker, Zahnarzt, Arzt und Geburtshelfer gebracht hat. Während wir ihm Zahnbürsten und sonstigen Kram abkaufen, fragt er uns so nebenbei, was wir denn eigentlich seien. Ja, was sind wir? Zwei von den Vielzuvielen. Kontorknüppel, von denen drüben' die Welt voll ist, womit man die Straßen pflastern kann, die, wenn ein glücklicher Zufall es'nicht eines Tages besser meint, es nie zu einer selbständigen Stellung bringen. Wir sagen dem Manne dann auch, wo wir gearbeitet und wie wir unser erstes Geld verdient haben. Dem ist unser Brenner nicht unbekannt. »Bei Otto Müller seid ihr gewesen! Der hat schon manchem auf die Beine geholfen. Das ist noch eine Seele von einem Menschen! Warum fangt ihr denn da nicht für euch selbst an?« Als wir erwähnen, daß unser Geld bis auf einen kleinen Rest zusammengeschmolzen ist, lacht der »Doktor« laut auf und zerstreut unsere Bedenken: -8-
»Lieber Gott, wir haben doch alle hier einmal anfangen müssen, und nur Lumpen sind bescheiden.« Gegen Abend sind wir wieder beim Brenner. Der hat sich's in seiner großen Stube bequem gemacht und heißt uns eintreten. Wieder mustert er uns von oben bis unten, langt nach der Flasche, trinkt und gibt uns zu trinken; dann haut er uns auf die Schultern, daß wir einknicken: »Na, das freut mich, daß ihr das Geld nicht versoffen habt. Sauer genug verdient war's jal« Wieder reißt er die Nebentür auf und schreit hinaus nach Frau und Tochter. Die erscheinen bald und sind von dem neuen Anblick nicht gerade unangenehm berührt. Ein anfänglich schämliches Gefühl vergeht, als wir merken, daß Anna uns mit Wohlgefallen betrachtet. Natürlich können wir die Nacht über dableiben, und während die Frauen das Nachtessen richten, bringen wir unser Anliegen vor und auch, wem wir den Rat verdanken. Otto Müller wiegt den Kopf, langt wieder nach der Flasche und sagt dann, er wolle sich die Sache bis morgen mal beschlafen, und außerdem habe seine Frau da auch ein Wörtchen mitzusprechen. Am anderen Morgen waren wir bald handelseinig. Der erste Kredit wurde uns eingeräumt, und zwar so, daß wir immer eine Rechnung schuldig bleiben konnten, wenn die vorige bezahlt war. Ein Tabakbauer, der auch Rollentabak herstellte, räumte uns zu denselben Bedingungen den zweiten Kredit ein. Den hatte die gute Empfehlung Müllers erwirkt. Nun mußten noch in Argentinien Abnehmer gesucht werden. Auch die fanden wir. Das verdankten wir wieder dem »DoktorApotheker«, und für den schleppten wir wieder gewisse Medikamente hinüber, die hier billig und dort teuer waren. Schmuggeln war hier ein sehr ehrbares Handwerk. Die angesehensten Leute befaßten sich damit. Sogar die Obrigkeit. Eigentlich galt es nur, sich vor den Kollegen in acht zu nehmen und denen nicht ins Gehege zu kommen. Denn da hörte der -9-
Spaß auf. Das Menschenleben an der brasilianischargentinischen Grenze war sehr billig. Nächster Richter war der Revolver und im Recht immer, wer den anderen zuerst über den Haufen knallte. Sonst war das Handwerk ganz ungefährlich, wenn man mit der nötigen Vorsicht zu Werke ging. Aber Strapazen mußte man schon ertragen können, und Ausdauer mußte man auch haben. Wir hatten beides und kamen allmählich hoch. Müller hatte uns in seinem Schuppen ein Zimmer abgeteilt, dort war unser Standquartier und Lager. In einem Jahre wurde ein schönes Stück Geld zurückgelegt, und in einem Jahre sprachen wir geläufig spanisch und portugiesisch. Auch Land und Leute lernten wir zur Genüge kennen. Direkt und indirekt schmuggelten sie alle. »Wir würden ja in unserer Produktion ersticken, wenn wir darauf warten wollten, bis uns die Regierung eine Eisenbahn baut. Alles selbst verzehren? Nee, das geht beim besten Willen nicht. Und wovon denn Steuern und sonstige Abgaben zahlen? Wenn die drüben nicht wären, könnten wir hier getrost einpacken. Bei uns frißt ja die hohe Fracht den ganzen Verdienst auf. Die da drüben kaufen uns unseren Kram ab, wir ihnen den ihrigen, und wenn das dem Staat nicht paßt, so mag er gefälligst für eine Änderung sorgen.« Der das eines Sonntags sprach, war ein Alter, der schon an die dreißig Jahre am Uruguay wohnte, ein wohlhabender Kolonist und außerdem noch Kirchenvorsteher geworden war und ein sehr frommes Leben führte.
-10-
Ein Strich durch die Rechnung Wilm ist zu einem Nachbarmädchen gegangen, der Frieda, die er bei einem Tanzvergnügen kennengelernt hat. Draußen ist hellster Mondschein. Von den blühenden Orangenbäumen kommt betäubender Duft. Das Frühjahr ist um vier Wochen früher da, und alles treibt, grünt und blüht, daß es eine Pracht ist. Ich habe mir für heute abend vorgenommen, einmal nachzuprüfen, wie wir uns nach achtzehnmonatiger Arbeit eigentlich stehen. Wir haben unseren Handel vergrößert. Zu Schnaps, Tabak, Arznei und anderem Gut sind noch Seidenwaren gekommen, und auch einen Kraftwagen haben wir uns angeschafft. Es mag so um zehn Uhr herum sein, ich bin mit der Aufstellung gerade fertig, da kommt Wilm nach Hause. Er räkelt sich auf dem Bett herum, raucht und hat die Arme unter dem Kopf verschränkt. Das ist so seine Art. »Brauchst du noch lange, um rauszukriegen, daß wir gut verdient haben?« »Kannst ja selbst mal nachsehen.« »Warum?« »Na, du mußt doch nachprüfen, ob die Aufstellung stimmt.« »Wird schon stimmen. Aber das weiß ich schon so: langen tut's immer noch nicht.« »Langen? Zu was langen? Ich verstehe das nicht richtig.« Da setzt Wilm sich auf den Bettrand, sieht mich prüfend an und sagt dann ganz ruhig: »'s langt noch nicht zum Heiraten!« Ich bin sprachlos. »Na ja, du hast dich ja ganz schön an die Anna herangemacht. -11-
Aber heiraten! Heiraten tut die nun mal ein anderer. Hätte dir das ja schon früher sagen können. Aber du hast ja selbst zwei gesunde Augen im Kopfe, kannst ja selbst sehen, mit wem die's sonst noch hält.« »Halt's Maul! Du verdächtigst das Mädchen!« schreie ich. »Siehst du denn nicht, wie's der Pedro, der gelbe Mulatte, mit deiner sogenannten Braut treibt«, schreit er zurück. Wir stehen uns beide gegenüber. Ich packe Wilm bei den Schultern und schüttle ihn. Da nimmt er meine beiden Hände, preßt sie wie in einem Schraubstock, sieht mich ruhig und ernst an und drückt mich dann auf den Stuhl. »Vor allen Dinges: Ruhig Blut, alter Junge!« Doch ich kann nicht ruhig bleiben. »Kannst du das beweisen? Hast du das gesehen?« »Ja.« »Ich glaub es nicht, ich will es nicht glauben und ich kann es nicht glauben.« »So laß es bleiben«, sagt Wilm, reißt die Mütze vom Nagel und geht hinaus. Aufgeregt und mit unruhigen Schritten laufe ich im Zimmer umher. Mir wird die Luft knapp. Hier drinnen ist's mit einem Male wie zum Ersticken. Ich muß hinaus, und wie ich ins Freie trete, stoße ich auf Wilm. Er legt den Finger auf die Lippen und macht: »Pst. Sie muß gleich kommen. Eben hat sie die Lampe ausgelöscht.« Zwischen uns und dem Wohnhaus liegt der große Hof, der vom Mondschein hell überflutet ist. Gedeckt durch die großen Orangenbäume können wir alles übersehen, ohne selbst gesehen zu werden. »Soll ich die Lampe in unserem Zimmer auslöschen?« frage ich Wilm. »Nein, laß sie brennen, dann schöpft sie sicher keinen -12-
Verdacht«, erwidert er, Eine Tür knarrt, leise tritt Anna hervor, sieht sich vorsichtig nach allen Seiten um und gebt dann mit schnellen Schritten zur Brennerei. Wilm stößt mich an und fragt,, ob ich sie gesehen habe. Leise flüstere ich ihm zu, daß das Aufstehen ja auch einen natürlichen Grund haben könne. »Gut, wir können ja zehn Minuten warten. Ist sie dann noch nicht zurück, kommst du mit mir.« Sprach's und zog die Taschenuhr. Anna kam nicht. Da nahm Wilm mich bei der Hand. Jeder Schritt wurde mir schwer und das Herz hämmerte zum Platzen. Am liebsten hätte ich geschrien. Wilm merkte, wie mir zumute war, griff meine Hand fester und schüttelte mich etliche Male. Das half. Die Brennerei hatte eine Tenne und darüber war der Heuboden. Eine Treppe führte zu ihm hinauf. Wir verhielten den Atem und lauschten. Die da droben taten sich keinen Zwang an. Deutlich hörten wir Küssen und Kichern. Ein unterdrückter Schrei, dann Raschem im Stroh. Wir wußten genug und gingen. »Siehst blaß aus«, sagte Wilm, ging dann zu meinem Bett, nahm den unter dem Kopfkissen liegenden Revolver und verschloß ihn in seinem Koffer. »Nur, damit du keine Dummheiten machst. Bei sowas hilft kein Toben und Rasen. Komm, trink! So, trink noch einen! So, immer getrunken! Schläfst nachher um so besser!« Am anderen Morgen hatte Wilm den Kraftwagen schon fix und fertig beladen. Die ganze Nacht hindurch mußte er gearbeitet haben. Matt und abgespannt sah er aus. Mir ging's nicht besser. Da rief auch schon der Brenner zum Kaffeetrinken und fragte uns, was denn eigentlich los sei. Wilm schwindelte, er habe gestern abend erfahren, es sei ein neuer Zollaufseher unterwegs, und der Kerl sei mächtig scharf. Dicke Luft aber könne er nicht vertragen; darum wollten wir für eine Weile nach Santo -13-
Angelino verziehen. Da lachten alle, und die Frauen tischten extra auf. So 'ne Art Abschiedsessen. Sonst hatte es mir in dem Hause immer gut geschmeckt, heute wollte kein Bissen rutschen. Der Brenner merkte das. »Ja, ja, so 'ne ganze Nacht packen und aufladen, das macht schlapp. Mutter, lang doch mal die Flasche her!« Der Mulatte saß auch am Tisch. Es wurde mir schwer, dem Kerl nicht an die Gurgel zu fahren. Wilm gab mir einen Wink, dann gingen wir hinaus zu unserem Wagen. »Für dich wäre es ja besser gewesen, heute morgen Holz zu hacken. Das ist ein ausgezeichnetes Mittel gegen Ärger und Liebeskummer. Aber wenn ich bedenke, daß die Axt dem Mulatten an den Schädel fliegen könnte und die Anna schließlich auch nur noch mit einem halben Kopf rumlaufen würde, da ist's schon besser, wir fahren gleich ab.« Der Abschied war kurz. Draußen auf dem Kamp pfiff ein flotter Wind. Die Straßen waren gut trocken, und wir sausten nur so dahin. Noch am selben Tage verkauften wir unseren ganzen Warenbestand samt dem Auto. Abends beim Bier sagte Wilm: »Weißte, Fritz, das mit der Anna habe ich schon vor zwei Monaten gemerkt, und zwar rein zufällig, und ich dachte, du müßtest doch auch mal hinter ihre Schliche kommen. Na, ist auch so gut. Was willst du? Der Mulatte war verschlagen, und du warst blind. Der wußte, daß die Frucht reif war und gegessen werden wollte. Sei froh, daß du nicht die Schalen bekommen hast. Und greif nächstens schneller zu. Nicht jedes Mädchen wartet. Prost!« Wir stießen an und ich versoff meinen Liebeskummer zum zweitenmal.
-14-
Auch in Brasilien wird getippelt Den ganzen Uruguay entlang trifft man Menschen aller Nationen, es herrscht ein immerwährendes Kommen und Gehen. Abenteurer, Verbrecher, Glücksucher, Hochadel und tiefster Abschaum der Menschheit wälzt sich flußauf-, flußabwärts, jahraus, jahrein dahin. Keiner kümmert sich um den anderen, jeder muß sehen, wie er sich durchschlägt. Nur selten einer, der aus der Masse emporkommt, aus der Masse, die immer auf der Jagd nach dem Glück ist, die eines Tages irgendwo verkommt und irgendwo elend verendet. Jetzt fängt unsere Tippelfahrt an, zuerst zu dem Manne, bei dem wir damals nachts die sechzehn Fässer Schnaps abgeliefert hatten. Wir fragen ihn, was er dazu meine, wenn wir flußaufwärts gingen in Richtung Aguas Melados, einem Badeort, von dem in letzter Zeit viel gesprochen wurde. Er hält den Plan für sehr gut. Nur sollen wir den Fluß aufwärts fahren, die Wege seien zu schlecht. Schnell werden wir mit einem Fährmann einig. Bald wird Abschied genommen und dann rudern wir flußaufwärts. Immer wieder mußte ich an Anna denken. Nächstens verheiratete sie sich mit dem Mulatten. Sie mußte heiraten. Einen Mulatten! Pfui Teufel! Und ich spucke aus. Da langt Wilm nach der Flasche: »Trink mal einen, Fritz. Die Geschmäcker sind halt verschieden, und die Liebe fällt manchmal auf einen Misthaufen.« Der Uruguay in seinem Oberlauf ist nur bei Hochwasser schiffbar. Jetzt, im beginnenden Sommer, hat er niedrigen Wasserstand, -15-
und nur langsam geht die Reise vorwärts. Da sind Klippen und Felsen, die umfahren werden müssen. Da sind lange Gefälle. Nur dünn rieselt das Wasser darüber und das Boot kratzt förmlich über die Steine. Oft genug ziehen wir die Hosen aus und schieben das Boot. Lange Kanäle gibt es, die der Fluß in tausendjähriger Arbeit in das Gestein gefressen ha t. In ihnen preßt sich das Wasser mit Macht, und es kostet angestrengteste Arbeit, um durchzukommen. Dann kommen wieder Strecken, in denen der Fluß an den Ufern mehr Wasser führt als in der Mitte. Die Äste und Büsche hängen weit über die Ufer hinaus und stundenlang ziehen wir uns an ihnen vorwärts. Schön ist eine solche Wasserfahrt nicht, wohl aber furchtbar ermüdend. Hin und wieder wird ein Bad genommen, etwas gegessen, ein Schluck getrunken. Dann geht's wieder weiter. Allmählich wird's Abend. Wenn wir viel geschafft haben, sind es höchstens fünfundzwanzig Kilometer gewesen. Unser Begleiter ist auch hier überall bekannt. Wir legen an und kommen zu einem Brasilianer. Mit der bekannten Gastfreundschaft nimmt er uns auf. Tee und Zigarren werden gereicht. Bei dem Manne ist die Armut zu Hause. Arm seine Kleidung, ärmlich das Hausgerät. Nebenan muß wohldie Küche sein, denn die Teller klappern. Aber eingeladen werden wir nicht. Sie sind wohl auf drei Fresser nicht eingerichtet oder sie schämen sich, uns magere Kost vorzusetzen. Eine alte Tranfunzel beleuchtet kläglich das kleine Zimmer. Wir packen unsere Lebensmittel aus und laden den Hausherrn ein. Der zögert und ziert sich, aber dann langt er doch zu. Brot, Wurst, Käse hat er schon lange nicht mehr gegessen. Wir glauben ihm das auch ohne seine Beteuerung, denn der Mann futtert für zwei. Wenn er morgen früh nochmals so einhaut, sind wir bankerott! Nein, wir werden morgen früh nur Tee trinken und später erst draußen auf dem Fluß frühstücken. Unser Lager besteht aus ein paar dünnen Pelzen auf lehmgestampfter Erde. Gut, daß es Sommer ist, und gut, daß die Nächte kurz sind. -16-
Denn es ist unglaublich, wieviele Flöhe in solchen paar Pelzen wohnen können. Von Schlafen ist gar keine Rede. Lange vor Tag schon kommt der Hausherr mit dem Teekessel. Zweimal trinken wir den leer und dann wird Abschied genommen. Kaum graut der junge Tag, sitzen wir auch schon im Boot und rüdem. Wir fragen unseren Begleiter, wovon nun so ein Cabocio Waldbewohner - eigentlich lebt, woher die große Armut stemmt und warum die Familie sich nicht sehen ließ? Er erklärt, daß der Waldbewohner an und für sich Fremden gegenüber scheu und zurückhaltend sei. Die Familie aber sei sicher zu schlecht gekleidet gewesen und habe sich wohl geschämt. Hauptsächlich lebe der Cabocio von seiner Pflanzung. Das wenige Bargeld komme vom Rollentabak und vom Holz. Die Wälder stünden voller Nutzhölzer. Die würden gefällt, bei Hochwasser im Fluß zusammengebunden und dann als Flöße nach Argentinien geschafft. Der Verdienst sei sehr gering, nur die Holzhändler zögen den Nutzen daraus. Schweigend steht der massige Urwald. Leise wiegt ihn der Morgenwind. Die Grillen hören auf zu zirpen. Ein Vöglein setzt an. Erst ganz leise, allmählich lauter. Ein anderes antwortet. Als ob es frage: hast du gut geschlafen? Die ersten Sonnenstrahlen überfluten den Wald. Der junge Tag ist da. Ping, pang, ping, pang, hämmert der Waldschmied. Das ist ein lustiger Vogel und er versieht das Morgenläuten. Sein Freund, der Specht, fliegt von Baum zu Baum. Da sind noch Langschläfer, die noch nicht herauswollen. Von wegen noch Schlaf haben. Es ist noch jeden Morgen aufgestanden worden. Raus aus dem Nest da. Und wütend haut er mit seinem langen Schnabel auf die Rinde ein, daß die Splitter nur so fliegen. Alles krabbelt aus den Nestern, plustert sich und schweigt. Die Sabia-Amsel - auch brasilianische Nachtigall genannt - beginnt, singt und trillert, jubelt und schluchzt und setzt dann racks ab. Und nun ist für die anderen der Augenblick -17-
gekommen, ihr Morgenkonzert zu beginnen. Ein tausendstimmiger Jubelchor schwingt zum Himmel empor. Kaum steht die Sonne über dem Wald, ist auch der Gesang verrauscht. Die Papageien haben jetzt das Wort. Die spektakeln und radauen wie ausgelassene Straßenjungen. Der Bande ist nichts heilig. Sie stromern hier, sie strolchen da herum, verhauen und vertragen sich und halten nicht für eine Minute den Schnabel. Verdrießlich sehen die Affen sich dieses Volk an. Verdrießlich und mitleidig. Sie sind erhaben über derartige Albernheiten. Darum tragen sie auch ihr Gesicht in ernsten Falten, haben etwas Gesetztes an sich. Sie brummen und knurren, weil ihnen der Kampf ums Dasein schwerer fällt als den anderen. Sie stöhnen und ächzen, lassen die Köpfe hängen wie die Menschen. Möglich auch, daß sie denen das abgelauscht haben. »So«, sagt Wilm, »jetzt wird erst mal gebadet, dann die verdammten Flöhe aus dem Zeug geschüttelt und dann wird anständig gefrühstückt.« Mittags landen wir bei einem Deutschen, der bereits seit vier Jahren unter den Brasilianern wohnt. Bei dem ist die Sache schon anders. Wir bestellen ihm Gruße von Otto Müller, dem Brenner, und gleich füh- len wir uns wie zu Hause. Schwarze Bohnen gibt's, das tägliche Gericht des Kolonisten, geräucherte Schweinerippen, Mandioka und Reis. Der Hausherr läßt nicht nach, er fordert uns immer wieder auf zu essen. Wir danken, unser Hunger ist gestillt, es geht beim besten Willen nicht mehr. Natürlich müssen wir den ganzen Tag bei ihm bleiben. Deutscher Besuch ist hier selten, und dann will un- ser Gastgeber doeh auch wissen, was draußen in der Welt vorgeht. Gerne erzählen wir, und gern hört die kleine Familie zu. Unser Landsmann erklärt, wir könnten den Weg nach Aguas Melados auch zu Fuß gehen. Einen Tag von hier flußaufwärts.beginne schon die Koloniezo ne, und der erste -18-
Bewohner sei ebenfalls Deutscher. Die Wege könne man zwar nicht als Straßen bezeichnen, es seien vielmehr nur enge Pfade, die von einem Bewohner zum ändern führten. Verirren könne man sich nicht, denn es gehe immer nur den Fluß entlang. So entlohnten wir denn unseren Begleiter, und es wurde weiter zu Fuß getippelt. Einer geht hinter dem anderen her, so schmal sind die Pfade. Erzählungen verkürzen den Weg. Wir kehren nirgend ein, aber überall fragen wir, ob wir noch den richtigen Weg innehaben. Vier Tage liegen noch vor uns. Die wollen heruntergerissen sein. »Denk mal an, Wilm. In vier Jahren hat der Deut- sche sich ein Eigentum geschaffen. Zu Hause wäre er wohl nie so weit gekommen. Heute ist er sein eigener Herr und von niemandem mehr abhä ngig.« Da bleibt Wilm stehen: »Quatsch! Eigentümer ist der Landsmann vorläufig noch lange nicht. Er hat seinem Vorgänger nur die Rechte abgekauft. Billig war's ja. Mit den Jahren kommt die Vermessung. Weiß er denn, ob die Grenzen, die jeder sich nach Gutdünken gesteckt hat, mit der späteren Messung übereinstimmen? Weiß er denn, was der Staat später für einen Landpreis macht? Der kann hoch, der kann niedrig ausfallen. Nun richte dich mal so allmählich ein, wie der Landsmann das tut, und später läuft die Grenze womöglich durch deine Bude, durch dein urbar gemachtes Land. Dein Nachbar wird dir keine Entschädigung bezahlen, der Staat auch nicht. Er hat dich ja nicht gerufen. Du bist darauf gekrabbelt und mußt es nun nehmen, wie man es dir zumißt. Und wenn du mitten herausfällst, mußt du's auch zufrieden sein. Was hat denn der Mann von seinem Leben? Möchtest du unter solchem Volk wohnen? Das dir in nichts wesensverwandt ist? Wo schickt der Mann später seine Kinder zur Schule? Wie mag's seiner Frau wohl manchmal zumute sein? Nicht mal 'ne Zeitung hat er, weil er sonst jede Woche zwei Tage verlieren -19-
würde, bis er die herangeschleppt hat. Nee! Für so ein Leben danke ich. Och, du meinst, er lebe da ungestört und ohne Sorgen? Auch Quatsch!« »Aber die Freiheit, Wilm, die vergißt du.« »Na ja, die hat er, und die haben wir auch. Aber von der Freiheit kannste nicht leben. Und wenn der Mensch schon arbeiten muß, so braucht's doch nicht gerade als Bauer zu sein.« »Wohl, wohl, Wilm, aber wie weit sind wir gekommen?« »Daß wir's besser anfangen müssen, Fritz. Andere Leute sind auch schon koppheister gegangen. Da steht man entweder auf oder bleibt mit zerbrochenem Genick liegen. Na, wir sind ja nun mal hübsch nicht liegengeblieben, und das freut mich nicht wenig. Kannst überhaupt mal den Buddel rauslangen. Das viele Reden macht einen ja ganz heiser. Uff!« Nach einer längeren Ruhepause marschieren wir weiter. Der Pfad wird schlechter, der Boden steinig. Auch sind die Bewohner hier dünn gesät. Allmählich gelangen wir in emen dichten Wald. Die ausgetretenen Pferdespuren sind voller Schlamm und Wasser, und wir müssen nun auf die stehengebliebenen Kuppen springen. Das ermüdet sehr. Ein Reiter kommt uns entgegen. Von ihm erfahren wir, daß es zum ersten deutschen Bewohner etwa eine gute halbe Stunde sei. Da halten wir vor Freude, daß wir schon so nahe dem Hause sind, dem Manne unsere Flasche entgegen, und der zieht nicht schlecht. Schon längst hat sich am Horizont ein Gewitter gebildet, da heißt's eilen. Aber weiß der Himmel, wir laufen scho n über eine Stunde und immer noch ist nichts von einer Brennerei zu sehen. Verlaufen können wir uns doch nicht haben, es gibt doch nur diesen einen Pfad. Der erste Donner grollt und es fängt auch schon an zu dunkeln. -20-
Wir verdoppeln unsere Anstrengungen. Die Nacht kommt sehr schnell. Ein starker Sturm macht sich auf, schaurig ist's im stockdunklen Wald, wenn die Äste heulend niederkrachen, wenn man den Weg mehr stolpert als geht und nur der Blitz anzeigt, daß wir den Pfad immer noch unter uns haben. Ob der Mann sich einen dummen Scherz mit uns erlaubt hat? Ob er keine Ahnung hat, was eine starke halbe Stunde ist? Wir stolpern weiter. Stärker wird das Donnern, greller die Blitze, rasend pfeift der Wind, hinter uns schlägt ein Baum nieder, daß die Erde zittert. Die ersten schweren Regentropfen fallen. Wir verhalten einen Augenblick, weil wir einfach nicht mehr weiter können. Wir hören deutlich unsere Herzen schlagen. Wieder saust ein Blitz nieder, noch einer und wieder einer. Taghell ist's im Wald. Greifbar nahe liegt eine breite Straße vor uns. Links steht ein großer Schuppen. Mit wenigen Sätzen sind wir drinnen, und da rauscht auch schon der Regen nieder. Es gießt in Strömen. Man hört das Wasser förmlich durch die Straße fließen, und trotz der Dunkelheit sehen wir das rauschende Wasser Schaum bilden. Da! Hundegeknurr wird hinter uns laut, das in Bellen übergeht. Wir tasten im Dunkeln herum, fühlen eine Preßwalze. Gerade daß wir da noch hinaufklettern können, da bläfft's und kläfft's auch schon unter uns, daß es nur so eine Art hat. Jetzt erst besinnen wir uns auf unsere Streichhölzer. Ausgerechnet sechs Köter jaulen uns da unten an. Die haben sich höchstwahrscheinlich auch wohl des Wetters wegen hierher verzogen und nur der Donner hat sie uns nicht kommen hören lassen. Ein höllisches Gekeife hebt an. Wir rufen und schreien, denn irgendwer muß doch hier in der Nähe wohnen. Die Köter aber überbellen uns vollständig. Da geben wir's auf, zünden Zigaretten an, rauchen und harren der Dinge, die da kommen -21-
sollen. Ein Lichtschein fällt in den Schuppen. Von draußen wird den Hunden zugerufen. Vier Männer, die sich Mäntel umgeworfen haben, kommen mit einer Stalllateme anmarschiert. Drei von ihnen haben jeder einen gespannten Revolver in den Händen. Sie entdecken uns nicht gle ich. Erst auf unser Geschrei hin sehen sie, wie wir da oben hocken. Es kostet Mühe, die Hunde wegzutreiben, und wir können endlich den Männern erklären, wer wir sind und was uns hierher trieb, auch erzählen wir, daß wir vom Brenner Otto Müller aus Porto Lucio kommen. Nun dürfen wir herunter. Die Männer stecken die Waffen ein und wir gehen zum nahen Wohnhaus. Etwas mißtrauisch werden wir zwar gemustert. In später Abendstunde, ohne Gepäck und zu Fuß, das ist immer verdächtig. Zumal in dieser Zeit. Revolution ist ja im Land und viel Gesindel treibt sich auf den Straßen herum. Man macht uns gegenüber gar kein Hehl daraus, und niemand hat uns bis jetzt sitzen geheißen. Ein kleiner Junge betrachtet uns von vom und hinten, geht zu seiner Mutter und flüstert ihr etwas zu. Die winkt ihren Mann zu sich. »Ihr habt euch ja einen schönen Sitz ausgesucht. Eure Hosen sind ja ganz mit Fett beschmiert.« Da fahren auch schon unsere Hände an die Hosen und sind im Augenblick fettig und dreckig. Altes Fett, das gewiß schon seit Monaten auf den Walzen lag und sich mit Staub vermischt hatte, klebt an unseren Hosenböden. So können wir uns ja auch nicht setzen. Wir müssen nicht sehr intelligent ausgesehen haben, denn alles lacht herzhaft über uns. Da packt mich aber allmählich die Wut: »Zum Donnerwetter, wir hatten hier einen anderen Empfang erwartet. Otto Müller hat uns Sie ganz anders geschildert. Das mit den Hosen kann jedem anderen Christenmenschen auch passieren.« -22-
Der Hausherr stutzt: »Wie? Otto Müller? Was ist mit dem?« »Von dem kommen wir doch. Im Walzenhaus haben wir Ihnen das doch schon gesagt.« »Bei dem Lärm da drinnen hab ich das nur nicht verstanden! Also von dem kommt ihr? Jungs, nehmt die beiden mal in euer Zimmer und gebt ihnen andere Hosen! Guck mal an. Vom Compadre Otto! Das ist aber mal 'ne Freude. Na, macht schnell. Bin neugierig, wie's dem geht. Donnerwetter! und so viele Jahre waren wir Nachbarn gewesen. Na, macht schnell, Jungs!« Gab das eine Unterhaltung. Zuerst wollte die Frau wissen, wie es ihrem Patenkinde, der Anna, erginge. Das war nun nichts Erfreuliches, was sie da von Wilm zu hören bekam. Der Mann aber klopfte mit der Faust auf den Tisch und schrie zornig, bei ihm käme kein Neger und kein Mulatte ins Haus, noch weniger an den Tisch, und wenn seine Tochter... also wenn das vorkommen sollte, dann gäb's zwei Tote. Doch dann beruhigte er sich und das Gespräch nahm eine andere Richtung. Mittemacht war längst vorüber und immer noch ging die Unterhaltung weiter. Wilm gähnte, er steckte uns alle an, und bis wir in einem großen Bauernbett lagen, dauerte es nicht mehr lange. Wir schliefen bis in den hellen Morgen. Draußen auf der Leine hingen unsere Hosen, schön sauber gewaschen. Den Tag mußten wir bei der Familie bleiben, und man tat uns viel Gutes und Liebes an.
-23-
Als Knechte beim Kolonisten Wir hatten's gut getroffen. Unser Gastgeber fuhr nach Aguas Melados, dem in Schwung kommenden Badeort. Zwei Tagereisen waren es bis dahin. Schwer beladen war der mittelgroße Wagen. Sechs Esel und zwei Pferde hatten schwer zu ziehen. Der Weg war stellenweise so schlecht, daß wir in die Speichen greifen mußten. Ein andermal wurde ein Teil Fracht abgeladen, weil der Wagen in einem Dreckloch steckengeblieben war. Dann wieder schlug und stieß er dermaßen in den Steinen und Stumpen herum, daß Laufen leichter war als Fahren. Sie haben ein schweres Dasein, die Kolonisten in den neuen Siedlungsgebieten. Sie verkaufen ihre Produkte und nehmen dann auch gleich ihre Bedarfsartikel mit heim. Im Winter sind sie oft monatelang von jedem Verkehr abgeschnitten. Bäche und Flüsse schwellen zu Strömen an und hemmen jeden Verkehr. Schlimm ist dann der Cabocio dran. Er lebt ja nur von der Hand in den Mund, und im Winter darbt er und hungert sogar, wie die Tiere im Walde. Selten einer, der für längere Zeit Salz hat, dem nicht das Allemötigste fehlt. Für etwas mehr denn nichts arbeitet er dann bei den Kolonisten. Die kriegen von ihm den Mais gebrochen, ihr Zuckerrohr abgehauen und zahlen mit Lebensmitteln. Im Sommer aber ist die Not vorbei. Der frisch gebrannte Wald liefert bald grüne Maiskolben. Holz wird geschlagen, Tee gesammelt, das gibt etwas Geld und Kleidung für die Familie. Kinder bis zu zehn und mehr Jahren laufen meist nackt umher, und wenn,s hoch kommt, tragen sie ein bescheidenes Kittelchen. Wir waren uns darüber einig, jede Arbeit anzunehmen, um nur von der Straße zu kommen. Im Städtchen fanden wir nichts. Wohl wurde hier ein Buchhalter gesucht, dort ein Verkäufer. -24-
Aber Leute von der Straße, unbekannt und nur ausgestattet mit dem, was sie auf dem Le ibe tragen, dafür dankt jeder. Da gingen wir zu den Kolonisten. Endlich kamen wir bei einem Deutschrussen unter. Der war ein forscher Bauer, hatte seine Wirtschaft gut in Ordnung und arbeitete unermüdlich. Lange vor Tag zogen wir für dreißig Mastschweine Maiskolben ab. Mit der Lampe wurde aufgestanden, mit der Lampe wurde abends das Vieh gefüttert. Der Tag hatte sechzehn Stunden. Es war ein schweres Schuften bei nur ganz erbärmlichem Lohn und magerer Kost. Für unser bißchen Geld hatten wir das nötige Arbeitszeug gekauft. Das Essen wurde immer fettloser. Der Bauer machte alles zu Geld. Eier, Butter, Milch, Schweinefleisch, alles wurde verkauft. Alle Tage gab's schwarze Bohnen und ab und zu ein Stück Speck oder Trockenfleisch. Wir zwei wohnten in einem engen Verschlag, den man im Schuppen abgeteilt hatte, und auch das schmale Bett hatten wir gemeinsam. Die Weizenernte begann dieses Jahr früh, lohnte gut und brachte einen guten Preis. Das Ernten ist eine schwere Arbeit, denn Mäh- und Dreschmaschine gibt es hier noch nicht. Alles muß mit der Sichel geschnitten, mit dem Dreschflegel ausgedroschen werden. Der Schuppen, so groß er auch war, konnte fast den goldenen Segen nicht fassen. Doch dann kam der Käufer. Nur eine große Kiste Weizen blieb in der Ecke stehen. Wilm, der so seinen besonderen Riecher hatte, beschaute sich die Kiste genauer. Als Saatgut konnte der Weizen nicht gut dienen, weil das doch anders aulbewahrt wird. Also wozu der Weizen da in der Kiste? Und Wilm fährt mit seinen Armen tief hinein. Ich sehe zu und mache es dann gerade so. Da zieht Wilm eine große Wurst hervor, ich einen prallen Schinken. Die Weizenkiste war also die Vorratskammer und uns war endlich geholfen. Wir -25-
gingen zum Bauern, berichteten von unserer Entdeckung und verlangten eine bessere Verpflegung. Zögernd und widerwillig bequemte er sich endlich dazu. Von nun an litten wir keinen Hunger mehr und von jetzt ab nahmen wir auch wieder an Gewicht zu. Die Ernte war zu Ende, die Arbeit auch. Ob wir von jetzt an für die Kost arbeiten wollten? Nein, wir wollten nicht. Da zahlte man uns den Lohn aus, ach, es war wenig genug, und nun tippelten wir dem nahen Badeort Aguas Melados zu. »Ich lasse mir vom Badearzt eine vierwöchige Kur verordnen«, sagt Wilm. »Auf unser ehrliches Gesicht hin wird das weiter keine Schwierigkeiten haben.« Auf unser Gesicht hin würden wir vielleicht Erfolg haben, aber bestimmt nicht auf unsere Kleidung! Denn die war schäbig, abgerissen, ganz aus der Form. Bürsten und Klopfen machte sie auch nicht besser. Im Badestädtchen ging es lebhaft zu. Viel Verkehr auf den Straßen, die Damen waren schick und nach der neuesten Mode gekleidet. Wir fielen auf in unseren verblichenen Anzügen, vermieden die Hauptstraßen und gelangten zu dem uns bekannten Geschäftsmann. Da zogen wir dem alten Adam erst einmal neue Kleider an.
-26-
Knechte werden Gentlemen Im nahen Fluß wird gebadet und dann kriegt der Barbier Arbeit. Die Hände sehen ja nicht gerade schön aus, aber das macht nichts. In dem ersten Restaurant wird gegessen, getrunken und dann eine gute Zigarre geraucht. Nachher kommt die Promenade dran. In einem großen Hotel werden gegen zehn Uhr die Stühle weggeräumt. Ein ausgezeichnetes Orchester spielt zum Tanz auf. Klar, daß da mitgemacht wird. Große Zeremonien gibt's hier nicht. Wer hierherkommt, will ausspannen, sich erholen, ausleben, kurieren und möglichst nicht erkannt sein. Besonders beim Spiel, dem alle frönen, das alle in seinen Bann zieht. Und die Frauen wollen tanzen, ohne Zwang. Ganz gleich mit wem. Wenn der Tänzer nur ein flotter Kerl ist. Alles andere ist Nebensache. Das sieht man schon an den Bewegungen, hört's am Sprechen, das verrät das ausgelassene Lachen. Da fehlen eigentlich nur wir zwei. Überhaupt Wilm. Wenn der so breitbeinig im Saal steht, seinen Meter und zweiundachtzig in die Höhe reckt, können ihn die Frauen nicht übersehen. Und gut angezogen sind wir ja auch. Wozu lange fackeln? Mit der Erstbesten wird getanzt. Schieber ist Trumpf, Foxtrott und Tango. Den tanzen wir mit allen Schikanen, das einzige, was wir uns in Argentinien erworben haben! Wir sind sozusagen die ersten und letzten beim Tanz. Jetzt gibt's eine Damentour. Eine Schlanke kommt auf mich zu. Sie ist Deutschbrasilianerin. Wilm hat eine Brasilianerin am Arm. Wir besorgen uns einen Tisch und jetzt wird es erst nett. Seidene Kleider, seidene Strümpfe, der feine Duft eines guten Parfüms, gepflegte Hände und Teint. Alles längst entbehrt, strömt mit Gewalt auf uns ein, umnebelt die Sinne und weckt und regt den Mann in uns. -27-
Es ist heiß hier drinnen. Paare verlassen den Saal, ergehen sich draußen, fächeln sich. Wir laden unsere Damen ebenfalls ein. Langsam gleitet eine Hand zur ändern, streichelt zärtlich und drückt leise wieder. Im Hotelgarten stehen Bänke lauschig versteckt zwischen duftenden Blumenbeeten. Es wird jetzt früh Tag, denn wir haben Januar. Ein Bad wird genommen und alle Müdigkeit ist verschwunden. Unsere Kasse hat in der vergangenen Nacht einen gehörigen Knacks gekriegt. Noch eine solche Nacht - und wir sind blank. Ach was! Heute wird das ganze Nest um Anstellung abgekloppt. Wieder werden ein Verkäufer und ein Buchhalter gesucht. Wilm wird Verkäufer und ich bin gerade einen Tag zu spät gekommen, sonst wäre ich jetzt Buchhalter. Aber da erfahre ich, daß die Badeverwaltung Badewärter sucht. Die Revolution hat es so mit sich gebracht, daß vor einigen Tagen auch hier Leute angefordert wurden. Und richtig, ich werde angestellt. Schwere Arbeit auch hier und bei sehr geringem Lohn. Aber die reichlichen Trinkgelder machen alles wieder wett. Während Wilm seinen Kram an Weiße, Schwarze und Gelbe verkauft, schwer schuftet und wenig verdient, plage ich mich mit Männern herum, die teils wirklich, teils eingebildet krank sind. So mancher von diesen Herrschaften läßt mich fühlen, daß er reich und daß ich arm bin. Da ist einer, der quält mich ungemein mit seinen nicht vorhandenen Krankheiten, und nichts kann ich dem Kerl recht machen. Drüben lernte ich mal zum Zeitvertreib Massage. Die wird bei dem Manne angewandt. Der wird massiert, daß ihm die Schwarte kracht, und wenn meine Hand auf seinem fetten Rücken tanzt, dann schreit er förmlich und bittet um gut Wetter. Sogar den Hintern habe ich ihm vollgehauen. Erst wollte er aufbrausen. Aber merkwürdig, die Kur schlug an. Die energische Behandlung machte sein träges Blut schneller fließen. Er fühlte sich gesund, ihm hatte weiter nichts als Bewegung gefehlt. Seine Dankbarkeit bezahlte er mit klingender Münze. -28-
Vor dem Badewärter werden manche Menschen oft recht klein. Ob das die Nacktheit mit sich bringt? So mancher, der stolz und großspurig daherkommt, ist nackt ein Häufchen Elend. Es ist inzwischen März geworden. Die Badegäste ziehen ab und mit ihnen unsere beiden Damen. Jeden Sonntagnachmittag das ist unsere einzige Frei- zeit - haben wir mit ihnen verbracht, und fast wird uns der Abschied schwer. Das Städtchen fällt jetzt in seinen Winterschlaf. Heute habe ich meine Entlassung bekommen. Mit Lohn und Trinkgeldern bleibt mir so viel, daß ich ein halbes Jahr sorgenfrei leben kann. Um diese Zeit werden auch die Saisonverkänfer entlassen. Erst wird noch Bilanz gemacht, dann beginnt das große Hinausfliegen. Wilm stand auch auf der schwarzen Liste. Doch er hat seine Kündigung erst gar nicht abgewartet: Jeden Morgen kommt Lehmann, der Milchmann, mit seiner Tochter ins Städtchen gefahren. Während der Alte auf dem Wägelchen sitzt und dem Mädchen die Flaschen zureicht, die sie dann den Kunden bringt, muß dem jungen Ding eines Tages das Pech geschehen, auszurutschen, und beide Flaschen sind entzwei. Schon ist Wilm hinter der Tonbank hervor, will dem Mädel zwei andere Flaschen geben, da steigt der alte Graubart vom Wagen herunter, um das Kind zu schlagen. Wilm sieht, wie sie zittert und bebt. Er hält dem Alten die Flaschen hin. Der nimmt sie, verstaut sie ganz ruhig in seinem Wagenkasten, kommt zurück und will nun doch noch anfangen, das Kind zu prügeln. Wilm wird dies zu dumm. Er reißt den Mann zurück, doch dieser, durch den Zwischenfall gereizt, brüllt Wilm an: Ob er der Vater sei? Oder ihm vorschreiben wolle, was er zu tun und zu lassen habe? Hinter seinen Ladentisch solle er sich scheren und nicht in anderer Leute Angelegenheiten die Nase stecken. Weiter kommt er nicht. Wilm faßt ihn am Kragen, schüttelt ihn und hält ihm eine Standpauke: »Wegen zwei dämlicher Flaschen schlägt man kein Kind. So was kann jedem passieren. Und das Mädel schlagen Sie mir nicht mehr, sonst...« -29-
weiter kam er nicht. Das Mädchen sieht ihn so bittend an. Da gibt er dem Alten noch einen Schubbs und wendet sich dem Mädchen zu, das noch immer weinend und schluchzend am Wagen steht. Inzwischen klettert der Vater wieder auf seinen Wagen, ergreift die Peitsche und gibt Wilm, der sich noch mit dem Kind beschäftigt, einen Hieb über den Schädel, gerade als die Kinder, die sich angesam- melt haben, Wilm zurufen: »Paß auf, Wilm, er ha ut!« Blitzschnell wirft Wilm sich herum, reißt dem Alten die Peitsche aus der Hand und dann schlägt er furchtbar auf ihn ein. Wären nicht die anderen Angestellten hinzugekommen, hätte der Chef nicht selbst eingegriffen, Wilm würde den Alten umgebracht haben. Das Flehen des Kindes: »Schlag doch den Papa nicht tot, schlag doch den Papa nicht tot«, bringt ihn vollends zur Besinnung. Augenblicks hört er auf und, das Mädchen anblickend, legt er die große Hand auf ihren blonden Scheitel und sagt: »Weil du es bist.« Schrecklich ist der Alte zugerichtet. Er blutet an Gesicht und Händen. Sie schleppen ihn in den Laden hinein und waschen ihn ab. Schnaps wird ihm eingeflößt, und er kommt langsam wieder hoch. Die Polizei kommt auch, zieht aber bald wieder ab. Wenn sogar die Schüler sagen, der Alte habe zuerst geschlagen, dann muß er auch die Folgen tragen. Und wie dann noch herauskommt, daß der ganze Streit um zwei simple Flaschen ging, und daß dafür ein kaum den Kinderschuhen entwachsenes Mädel gezüchtigt werden sollte, da sehen auch die ändern Leute, die da zusammengelaufen sind, den Alten verächtlich an. Sie haben den Mann auf seinen Wagen gepackt und der ist dann abgefahren. In den ersten vier Wochen hat ihn kein Mensch mehr im Städtchen gesehen. Im Laden aber gibt's noch ein Nachspiel. Mit großen Schritten geht der Chef auf und ab. Das ist ja eine wunderbare Gelegenheit, einen überflüssigen Angestellten loszuwerden. -30-
»Sehn Se Wilm! Das war alles Unsinn, was Se da getan haben. Zwischen Vater und Kind soll sich nie ein Dritter stecken. Überhaupt Sie nicht. Wer, denken Sie, hat jetzt den Schaden? Den habe ich. Sie nicht. Dieser Lehmann ist ein sehr guter Kunde, und den bin ich durch Sie losgeworden. Wer ersetzt mir den Schaden, jetzt, in dieser Zeit, wo alle Geschäfte schlecht gehen? Wo man kaum so viel verdient, um zur Not die Angestellten zu bezahlen. Das haben Sie wohl gar nicht bedacht?« Da schlägt Wilm auf den Verkaufstisch, daß es kracht: »Ich denke mir gar nichts! Höchstens, daß Sie ein ganz großer Schlappschwanz sind. Meine Entlassung will ich haben!« Die ward ihm, und er war der einzige Angestellte in dem Städtchen Aguas Melados, der seine Kündigung nicht abgewartet hatte. Mittags kam er zu mir. Da saßen wir, wie schon so oft, und blickten in die unsichere Zukunft. »Wir können es anfangen, wie wir wollen, Fritz, schief geht's immer. Aber freuen tut's mich doch, wie ich meinem Chef auvorkam. Das war echt gentlemanlike, und nun komm. Du kennst doch die Verse von Wilhelm Busch: Wer Sorgen hat, hat auch Likör. Wollen einen schmettern gehen. Vielleicht kommt uns dabei ein gescheiter Gedanke.«
-31-
Gelegenheit macht Schulmeister Wilm hat Arbeit gefunden als Anstreicher in dem großen Hotel, denn das ganze Nest ist jetzt dabei, sich für die kommende Saison einzurichten. Äußerst gemütlich geht's bei der Arbeit zu. Man hat drei Monate geschuftet, Tag und Nacht, jetzt bedarf man selbst der Erholung. Ich bin bei den Italienern als Schulmeister untergekommen, habe ein Amt, welches viel Ärger und Verdruß und wenig Verdienst mit sich bringt. Wollen wir aber nicht das sauer verdiente Geld bald loswerden, müssen wir eben ergreifen, was sich gerade bietet und - wählerisch sind wir nicht. Während des Winters besuchen die Kinder die Schule, den Sommer über brauchen die Bauern sie zur Arbeit. Ein wenig Lesen, Schreiben, Rechnen, dann etwas Religionsunterricht, das ist genug. Meist sind die Kinder zwischen zwölf und vierzehn Jahre alt. Sie müssen sehr früh zur Arbeit heran. Sie erziehen sich sozusagen selbst, indem das größere Kind das kleinere betreut, wenn draußen Vater und Mutter arbeiten. Lang ist bei den Italienern der Tag, kurz die Nacht. Aber sie bringen es auch zu etwas, und wenn sie so um die Vierzig herum sind, dann haben sie's geschafft, können der Zukunft ruhig und sorgenlos entgegensehen. Bei diesen Leuten amte ich nun, während Wilm pinselt, schöne Wandsprüche malt und Wanzen umbringt. Die gibt es in jedem Hotel, in jedem Haus, denn alle Baulichkeiten sind ja nur aus Holz errichtet. Da setzt sich die Wanze mit Vorliebe fest und ihre Anhänglichkeit ist ebenso groß wie ihr Gestank. Der Frühling ist mit Sturm, Hagel und Regen eingezogen, und jetzt kommt der Sommer. Nur wenige Schüler habe ich noch und die werden nächstens auch zu Hause bleiben. Wenn's doch nur schon Dezember wäre. Wenn ic h doch nur schon mein -32-
Schulgeld hätte! Der Italiener ist ein schlechter Zahler, und wie viele unnütze Gänge habe ich des Honorars wegen schon machen müssen. Aber wenn auch ein Teil des Geldes als verloren gerechnet werden muß, eines habe ich doch profitiert: schön rund und voll bin ich geworden! Im Winter können die Bauern ihre Produkte nicht verkaufen, müssen alles selbst verzehren, und, weiß Gott!, ich habe ihnen nach besten Kräften dabei geholfen. Wenn die Badezeit angeht, wird das Bäuchlein wieder verschwinden. Dem Oberbadewärter haben wir einen ganzen Monatslohn versprochen, unsere Stellen sind also gesichert. Wilm macht diesmal nämlich auch mit. Wir hätten ja wohl auch im Handel unterkommen können. Es ist aber hier damit genau so bestellt wie drüben. Wer mit dreißig Jahren noch keine feste Position erobert hat, der gehört zum alten Eisen und kann einpacken, weil ein um zehn Jahre Jüngerer genau dieselbe Arbeit leistet, nur bei geringerem Gehalt.
-33-
Zweite Saison im Badeort Der Hochsommer ist da und mit ihm die Badegäste. Es sind viel mehr als im vergangenen Jahre. Im Städtchen herrscht reges Leben. Das Geld rollt, da hellen sich auch die mißmutigsten Gesichter auf. Die Bauern verkaufen ihre Butter, Milch, Eier, Käse, Obst und Fleisch, schuften schwer bei magerem Futter und kriegen fahle Gesichter. Eine Stunde vor Tag wird bei uns aufgestanden und Tee getrunken. Das ist die schönste Stunde des Tages. In Nebel getaucht steht der wuchtige Wald. Die wunderbare Stille wird nur von dem Zirpen der Grillen unterbrochen. Hier und da quakt ein Frosch, ein Spätling, der wohl in der Nacht nicht zu Worte kam. Dann schweigt auch er. Er weiß genau, daß diese Stunde der Sabia gehört. Tut tut, tut tut, als ob sie ihre Stimme prüfen will. Sie singt den jungen Tag herbei. Während sie singt, sendet ihr der Wald seine Düfte als Dank. Die Grillen sind verstummt. Leise heben sich die Nebel, der Himmel ist in ein Rosenmeer getaucht. Golden steigt die Sonne empor und überstrahlt den Wald. Das ist das Signal zu einem tausendstimmigen Konzert. Der ganze Wald lebt, singt, jauchzt, jubelt, trillert. Nur die Sabia ist stille geworden. In diesen betäubenden Jubel fällt plötzlich ein Schuß. Noch einer. Arme Sabia, du hast zum letztenmal gesungen. Ein Kurgast betreibt diesen Sport. Warte, Freundchen, dich behandle ich schon nochmal in der Massage! Einen wunderbaren Anblick gewähren die jetzt sichtbar werdenden Weinberge. Wie grüne dicke Pinselstriche heben sich die Reben von der braunen Erde ab. Der Wein gedeiht hier sehr gut. Sonderbar! Die Deutschen verlegen sich gar nicht auf den Weinbau, überlassen das Feld den Italienern. Und diese sparsamen Italiener trinken Mate und verkaufen den Wein. -34-
Die Glocke läutet und ruft uns zur Arbeit. Die ersten Badegäste kommen. Es sind um diese frühe Stunde durchweg ältere Leute. Das junge Volk kommt erst um neun, zehn Uhr, weil es die halbe Nacht durchschwärmt. Ach, diese Nächte, sie sind dunkel und verschwiegen. Diese Nächte machen auch unserer Mulattin (Köchin) viel zu schaffen. Sie ist so unlustig und träge, ihr breiter, stets zum Lachen geneigter Mund ist streng geschlossen. Was sie nur hat? Da erscheint eines Tages eine alte Bugerin (Indianerin) in der Küche, braut, kocht und stampft ihre Krauter, sie tut geheimnisvoll, sagt, sie müsse unsere Köchin ablösen, diese sei krank. Nach vier Tagen erscheint dann die Köchin wieder, sieht zwar etwas mitgenommen aus, geht aber ihrer Beschäftigung wieder nach und ist auch sonst guter Dinge. Der Hotelier tritt in die Küche, klopft ihr auf die Schulter. Sie nickt, sie weiß schon, was er sagen will. Sie ist auch eine ausgezeichnete Köchin. Auch für jene Krankheit, die man nicht gern nennt und die der Brasilianer so harmlos findet, die er geradezu als Kennzeichen der Männlichkeit betrachtet, auch für diese Krankheit hat die Bugerin Heilmittel. Sie hat eine ausgebreitete Kundschaft und wird bald ihre Holzhütte mit einem Steinhaus vertauschen. Obschon sie weder lesen noch schreiben kann, ist sie doch sehr geschäftstüchtig. Sie weiß ganz genau, daß die Kurgäste sich von alten Sünden kurieren, um neue zu begehen. Sie weiß dies auszunutzen. Sie kennt alle Krauter des Waldes, gute und giftige, und sie kennt deren Wirkung. Wilm hat sich schon ganz schön eingearbeitet. Er kann ebenso gut massieren wie ich, hat aber bedeutend mehr Kraft und wird nicht so schnell müde. Er übernimmt die anstrengenden Fälle. Für die Frauen sind weibliche Angestellte da. Wir stehen zueinander auf du und du, aber weiter geht unsere Bekanntschaft nicht, die Arbeit läßt uns nicht zur Besinnung kommen. Nur -35-
sonntags wird getanzt, getrunken, gewettet und geflirtet. Wir sind aber diesmal etwas vorsichtig mit dem Geldausgeben, wir haben Erfahrungen gesammelt. Wer uns so im Hotel sieht und uns nicht kennt, könnte uns für Kapitalisten halten. Unsere Kleidung ist nach dem letzten Schnitt, die Wäsche auch, Schuhe ließen wir uns von der Hauptstadt kommen, und die Hände sind gepflegt. Der Brasilianer schätzt das Äußere vor allem und läßt es nie einen Gutgekleideten fühlen, wenn er einer anderen sozialen Schicht angehört. So vergehen die Sommermonate im Nu und der große Abschub setzt ein. Lebt wohl, ihr seidenen Strümpfe, Röcke, gepflegtes Haar, ihr schlanken Beine und molligen Arme. Lebt wohl, denn Seele habt ihr keine. Lebt wohl auch, ihr Waldfeste und Picknicks, wo man wieder Mensch unter Menschen war. Und auch ihr Schul- und Kirchenfeste, bei denen die Kurgäste geschröpft werden und die Einwohner sich einen himmelhohen Brand ansaufen. Lebt alle wohl! Wir haben Geld verdient. Wir sind aus dem Dreck heraus und freuen uns herzlich, daß wir das ohne fremde Hilfe fertigbrachten, hier, wo nur jeder an sich selbst denkt, jeder für sich selbst sorgt und sich den Teufel darum kümmert, wie es seinen Mitmenschen ergeht. Revolution ist wieder im Lande, und wir wollen nach den alten Kolonien. Die werden selten in Mitleidenschaft gezogen.
-36-
Der Überfall Irgend etwas stimmt nicht. Der Telegraph funktioniert schon seit zwei Tagen nicht mehr und auch der Postwagen ist nicht gekommen. Ungeduldig warten die paar Badegäste und wir auch, denn es soll ja nach einer rein deutschen Kolonie gehen, wo die deutsche Einwanderung vor ungefähr hundert Jahren begann. Endlich wieder deutsch sprechen und singen. Denn was hier an Deutschtum ist, ist nicht der Rede wert, und die Jugend spricht mit Vorliebe die hiesige Sprache, und wenn schon mal deutsch geredet wird, dann ist es ein Kauderwelsch vom Hunsrück, gemischt mit pommerschem Plattdeutsch. Zwanzig Soldaten werden abgeschickt. Nach weiteren zwei Tagen wissen wir endlich, was los ist. Von den Revolutio nären wurden sie abgefangen, niedergehauen, die Gefangenen kamen ans Messer, und nur den zwei Mann da, die jämmerlich genug aussehen, ist es gelungen, sich hierher zu Fuß durchzuschlagen. Da guckt einer den ändern an. Zehn Soldaten sind noch hier. Was ist das schon? An Waffen fehlt's auch. Zur Not können fünfundzwanzig Gewehre zusammengetrommelt werden. Die Revolutionäre sollen mindestens vierhundert Mann stark sein. Da ist gar nichts groß zu überlegen. Am nächsten Morgen ist die gesamte Ortsobrigkeit verschwunden. Um die Archive in Sicherheit zu bringen! Die Geschäftsleute verpacken ihre Waren in Kisten und Kasten und verbergen sie so gut es geht. In den Hotels machen sie es ebenso. Wer Vieh hat, schafft es noch schnell auf die andere Seite des Flusses. Unsere Koffer sind an ein ganz sicheres Versteck gebracht worden und wir selbst gehen im schäbigsten Zeug herum, wohnen beim Hotelier und helfen ihm so gut wie möglich. Die -37-
leidige Parteipolitik hat auch hier ihre Anhänger. Man weiß so ungefähr, wer rot, wer weiß eingestellt ist. Weiß ist jetzt die Regierungspartei. Am Abend werden beider Parteien Chancen abgewogen, die Meinungen platzen hart aufeinander. Das ganze Städtchen nimmt daran teil und erst lange nach Mitternacht geht man schlafen. Als wenn's die Revolutionäre gewußt hätten, was am Abend vorher hier besprochen wurde, erscheinen sie beim ersten Morgengrauen. Vereinzelte Schreckschüsse fallen, ein wildes Gerenne und Jagen beginnt, die wichtigsten Punkte werden besetzt, die kleine Wache wird im Schlaf überrumpelt und sitzt schon hinter Schloß und Riegel. Als dann die Sonne aufgeht, weht auch schon die rote Fahne von verschiedenen Gebäuden. Der Sieg war leicht und ohne einen Tropfen Blut zu vergießen errungen worden. Arme Bauern! Euch geht's jetzt an den Kragen. Pferde, Sättel, Kleidung, Waffen, Geld, alles werdet ihr hergeben müssen. Und wieviel Jungs da wieder gepreßt werden, das werdet ihr auch noch gewahr werden. Not, Elend, Sorge, Angst, Verrat, sie werden groß über euch herkommen. Dauert der Rummel la nge, werden die Hotels nicht neu angestrichen. Wozu auch? Die Einquartierung da bringt sowieso Wanzen mit, und die werden sich mit den schon vorhandenen bald anfreunden. Bunt geht's im Städtchen zu. Die Revolutionäre räumen die Geschäfte aus. Alles können sie gebrauchen. Da laufen Leute mit drei Hüten auf dem Kopf herum. Die haben gleich für die Familie mitgesorgt. Andere haben doppelte Anzüge an, wohl des kommenden Winters wegen. Mäntel, Pelze, Schuhe, Stiefel, Sattelzeuge, Messer, alles das wird weggeschleppt und draußen auf offener Straße verhandelt gegen Sachen, die der eine zuviel, der andere zuwenig hat. Da ist einer, der sich splitternackt auszieht, die alten Lumpen in Brand steckt und sich dann neu einkleidet. Zwei, drei Stunden geht das so. Kein Kaufmann, kein Handwerker, kein Schlächter, kein Bäcker, dem die Bude nicht -38-
ratzekahl leer geplündert wurde. Sogar das Handwerkszeug ging mit. Einer bindet auf seinem Sattel eine Handnähmaschine fest. Was hat den Leuten nun ihr Verpacken und Verstecken genützt? Wenn einem das Messer an die Gurgel gesetzt wird, dann gibt man schon das Versteck an. Die Revolutionäre haben auch hier ihre Anhänger. Deutlich kann man sehen, wer die sind, und man wird sich das für später merken. Steppdecken gehen auch mit. Da sitzen drei Mann auf einer Decke und zählen Geld. Nach den Gesichtern zu urteilen, muß der Raub sich gelohnt haben. Allmählich kommt so etwas wie Ordnung in die Horde. Die Führer schreien und gestikulieren. Wir verstehen soviel, daß sie der Mannschaft verbieten, Schnaps zu trinken. Unnützes Beginnen. Die Kerls ziehen weiter an ihren vollen Flaschen. Jetzt werden Kühe, die auf der Straße frei herumlaufen, eingefangen. Einer schwingt den Lasso, pfeifend saust er durch die Luft, schlägt sich um die Hörner, das Tier springt an und reißt den Mann ein paar Schritte mit. Da stürzt auch schon ein anderer hinter dem Rind her, blitzschnell schneidet er ihm die Fersen durch und das Tier knickt auf die Hinterhand zusammen. Während die einen die Kuh abfeilen, schichten die anderen Holz zusammen, das sie aus den Häusern holen oder von den Zäunen abreißen. Fünf mächtige Feuer lodern auf und ebensoviele Tiere werden geschlachtet. Mit Axt und Handbeil schlagen sie das Fleisch auseinander. In unglaublich kurzer Zeit steckt das noch warme Fleisch an den Spießen, die über glühende Kohlen gehalten werden. Andere wieder haben Salz in Wasser aufgelöst und bestreichen damit das bratende Fleisch, das immer am Spieß gedreht wird. In den Hotels müssen sie auch ran. Die Führer, und das ist hier jeder achte, zehnte Mann, wollen Beef essen. Bier und Wein wollen sie trinken. Schnell soll alles gehen. Sonst kracht's. Und zur Bestätigung schießen sie ein paarmal in Boden, Wände und Dach. Da kommen auch schon Soldaten angelaufen. -39-
Hoppla! Die sehen, wie die da bei Wein und Bier sitzen, und greifen mit zu. Soldaten! Nur das rote Band um den Arm oder um den Hut, das ist ihre ganze Uniformierung! Und das säuft und frißt hier drinnen und da draußen, schluckt das halbrohe Fleisch, eingetaucht in Farinamehl, herunter, und in weniger denn einer Stunde ist die ganze Bande satt. Das Saufen aber geht weiter und um die elfte Stunde liegen die Kerls auf dem Gras, unter den Schattenbäumen herum. Andere stehen an den Zäunen und erbrechen sich. Die Bevölkerung wagt sich herbei. Sie nimmt von dem restlichen Fleisch ihr Teil und kommt wenigstens in etwas auf ihre Kosten. So etwa denkt wohl auch der Gerber, der da mit seinen Gesellen die Häute wegschleppt. Und derweilen rülpsen die Kerle weiter. Sinnlos, wie sie gesoffen und gefressen haben, wirft's jetzt der Magen hinaus. Nur die Hunde sind mit dem Lauf der Dinge zufrieden. Sie fressen und schlucken, und ihre Weichen runden sich. Wir gehen zur Badeanstalt. Auf den Bänken dorthin liegen betrunkene Soldaten herum. Einem nimmt Wilm den Revolver weg. An einem Baum, ganz nahe der Badeanstalt, steht ein funkelnagelneuer Drilling. Auch der geht mit und wird unter einem Gebüsch versteckt. Noch zwei andere Revolver gehen denselben Weg und ein neuer Säbel, der mitten im Weg liegt, ebenfalls. Am Gefängnis kommen wir vorbei. Da hocken die zwölf Vaterlandsverteidiger. Die Kerls sehen zum Weinen aus. Man hat sie bis aufs Hemd ausgezogen, ihre Uniform verbrannt - das zeigt der große Aschenhaufen - und eingesperrt, und dann hat man sie vergessen. Wilm holt schnell eine Brechstange herbei und ich stehe derweilen Schmiere. Da kommt er auch schon angerannt. Vome dürfen wir nicht anfangen, wir könnten gesehen werden, aber an der Hinterwand muß es gehen. Es kostet Mühe, aber dann kriegen wir doch ein dickes Brett los -40-
und die Gefangenen schlüpfen heraus. Der Unteroffizier ist auch dabei. Wir machen einen Bogen und gehen mit ihnen zur Glasfabrik. Hier können sie sich mal fürs erste auf halten. In der Badeanstalt hängen noch von jedem Angestellten Hosen und andere Kleidungsstücke herum, die zum Mitnehmen zu schlecht waren. Mit denen kommen wir angeschleppt, und nun sehen die zwölfe schon etwas menschlicher aus. Etwas bedeppert ist ja der Unteroffizier, und dabei hat er noch grade die beste Hose von mir gekriegt. Er will sich wohl dafür erkenntlich zeigen, klopft mir auf die Schulter und sagt: »Voce tambem e homem. - Sie sind auch ein ganzer Mann.« Aber was machen wir jetzt mit den Leuten? Wären's deutsche Soldaten, würde man mit denen einen Handstreic h begehen. Doch so verzichten wir darauf, lassen sie zurück und gehen ins Städtchen, um zu schauen, was dort los ist. Um drei Uhr nachmittags fängt die Gesellschaft an, allmählich nüchtern zu werden. Was an Kraftwagen und Fuhrwerk aufzutreiben ist, wird herangeholt. Schwer bepackt ziehen sie ab, in ihrem Dusel haben sie sogar vergessen, die roten Fahnen mitzunehmen. Es ist Vollmond und darum wollen sie die Nacht benutzen, um bei Tagesgrauen auf dem Kamp zu sein. Von der Einwohnerschaft ist diesmal keiner mitgenommen worden. Nur zum Rauben und Stehlen waren sie gekommen. Leute hatten sie übergenug und Pferde auch. Am nächsten Morgen ist die Behörde wieder da. Festlicher Empfang wird ihr nicht bereitet! Acht Tage später kommt die Regierungstruppe. Zweihundert gut ausgerüstete Soldaten, die nach zwei Tagen durch ein Hilfskorps verstärkt werden. Der Coronel hält auf stramme Zucht. Jeden Tag muß exerziert werden und auch an den Maschinengewehren wird geübt. Die zwölf Soldaten sind wieder neu eingekleidet. Der -41-
Unteroffizier hat einen gehörigen Rüffel gekriegt. Der zuckt nachher die Achseln und sagt bloß: »Paciencia! - Nur die Ruhe!« Die Kaufleute holen aus den Verstecken den Rest hervor, das ist wenig genug. Doch die ersten Reisenden sind da und verkaufen flott. Bald werden die Waren eintreffen, werden gesalzene Preise haben, und bald wird der Schaden wettgemacht sein. Die Handwerker werden es genau so machen, der Bauer muß es bezahlen. Die Hoteliers sind jetzt schon einig, daß sie für die nächste Saison aufschlagen müssen. Allein die Hunde sind zufrieden. Für Tage haben sie Knochen und Fleisch vergraben, und fressen, daß sie stinken. Der Coronel hat vier Anhänger der Gegenpartei vor sich stehen. Die sind geliefert und kommen ans Messer. Einer von ihnen ist dem Coronel bekannt, er bittet ihn, ob er denn nicht mit ihm eine Ausnahme machen wolle. »Doch«, sagt der Coronel, »doch, die drei kriegen die Hälse abgeschnitten und du wirst erschossen.«
-42-
Badewärter werden Offiziere Wir wissen wirklich nicht, was wir anfangen sollen. Fort möchten wir und doch auch wieder nicht, denn die Gerüchte jagen sich nur so. Das ganze Land soll in Aufruhr sein. Da ist es ja schon ganz egal, wo einer steckt. Hier können wir uns wenigstens durchschlagen, an einem fremden Platz wird das jetzt schwerhalten. Der Coronel löst unsere Bedenken auf sehr einfache Weise. Wie wir da vor ihm stehen, fragt er kurz und bündig, ob wir drüben Soldaten gewesen seien. »Jawohl.« »Dann könnt ihr sofort als Sergeanten eintreten.« Was nützt uns unser Sträuben. »hr seid Badewärter, also Staatsangestellte. Der Staat aber verlangt jetzt, daß ihm jeder beispringt, so oder so. Die mit der Regierung halten, werden von ihr nicht vergessen werden. Ihr z. B. bekommt eure feste Anstellung und habt das ganze Jahr zu tun. Sergeanten werdet ihr, weil ihr die Kerls aus dem Gefängnis befreit habt. Das hat mir gefallen. Laßt euch sofort die Uniformen anmessen. Nachmittags drei Uhr antreten. Kehrt.« Der Schneider muß einige kleine Änderungen vornehmen und zur bestimmten Stunde wird angetreten. Der Coronel heftet uns die drei Streifen auf den Ärmel, der Unteroffizier gibt uns ein halb Dutzend Instruktionen und - fertig sind wir. Pferde und was dazu gehört fehlen. Wir werden uns das selbst besorgen müssen, wie es hierzulande Brauch ist. Mit den nötigen Requisitionsscheinen versehen, kommen wir zu den uns bekannten Leuten. Aber die kennen das, sie weigern sich, den Schein anzunehmen. Sie wissen, daß der Schein trügt, daß die Regierung nicht zahlt. Weiß man überhaupt, ob diese Regierung nicht gestürzt wird? Von der nachfolgenden werden die Schulden nicht übernommen. -43-
Wir können keine Pferde bekommen, ohne sie gewaltsam wegzunehmen. Wir nehmen sie, wo wir sie finden, man nimmt nun doch nach einigem Zögern den Schein an, weil wir versprechen, die Pferde wieder abzuliefern, wenn wir mit heiler Haut davonkommen. »Jetzt gehe ich zu Lehmann.«, sagt Wilm. »Seine klapperdürre Mähre kann ich zwar nicht gebrauchen, aber ich will ihm zur Strafe einen gehörigen Schreck einjagen.« Lehmann sitzt vor der Tü r, seine Frau schenkt ihm den Tee ein. Wilms Anliegen wird mit Schimpfworten abgewiesen, aber Wilm besteht auf seiem Schein, er will das Pferd haben. Die Frau weint und bittet, er möge ihnen doch nicht die Existenz nehmen, womit sollen sie denn den Milchwagen fortschaffen? Wilm gibt nach. »Nun, wenn ich auf das Pferd verzichte, dann mußt du mir zwei Pelze geben, die brauche ich auch noch zur Ausrüstung. Wieder sträubt sich Lehmann, aber dann geht seine Frau ins Haus und kommt mit den Pelzen an. Während Wilm sie in Empfang nimmt, kehrt die Tochter, das Mariechen, von einem Ausgang zurück. Sie sieht die Pelze, sieht die Mutter weinen. »Herr Wilm«, bittet sie, »Herr Wilm, die Pelze bringen Sie uns doch zurück, die brauchen wir so notwendig!« Wilm schweigt. Er hatte sich die kleine Rache so recht befriedigend vorgestellt, nun ist ihm die Sache verleidet. Das bittende Mädchen, ihre angstvollen Augen, nein, das kann er nicht ertragen. Auch seinen Gang zum Geschäftsmann, dem er beim Hinauswurf zuvorkam, unterläßt er. Der kommt uns aber schon entgegen. »Meine Herren, hier haben Sie ein paar neue Pelze, ich hatte sie eigens für mich aus Argentinien geschmuggelt; nehmen Sie die. Sie werden sie gut gebrauchen können.« Ja, sie wissen alle nur zu gut, wenn sie die Sachen nicht freiwillig herausrücken, kommt der Coronel mit seinen Soldaten, und der fackelt nicht lange. Wir haben nun alles hübsch beisammen, aber Wilm ist nachdenklich und schweigsam. Um diese Stille zu unterbrechen, -44-
sage ich: »Hast du auch gesehen, Wilm, wie das Mädel sich herausgemacht hat?« »Ja, und hast du auch gesehen, daß ich sie verdammt gut leiden kann? Fritz, das mußt du mir versprechen: falls mir etwas zustößt, lieferst du dem Mariechen die Pelze ab.« Ich gebe ihm die Hand darauf. Am anderen Morgen wird früh aufgebrochen und abends haben wir den Kamp erreicht. Die Roten machen sich mächtig mausig. Im ganzen Lande rumort es. Heute hier, morgen da, fallen sie in die Kolonien und Städtchen ein. Sogar die zweitgrößte Stadt in. Rio Grande do Sul - Pelotas - fällt ihnen in die Hände. Es wird bitter kalt, und Mann und Pferd leiden Mangel an allem. Die Campanha dampft von Blut und Rauch. Riesige schwarze Brandwolken verdecken den Himmel, weil das Gras des Kamps in Flammen aufgegangen ist. Durchhackte Drahtzäune, brennende Häuser, verlassene Hütten, verendetes und gemordetes Vieh, Aasgeier sonder Zahl, Menschenkadaver, Kreuze, roh zusammengezimmert, und ein fürchterlicher Gestank von verwesenden Tier- und Menschenleibem zeichnen den Weg, den die Revolutionäre geno mmen. Nie und nimmer holen wir die ein. Schlapp hängen wir in den Sätteln. Die Pferde sind abgeritten und dürr. Das magere Kampgras wächst nur sehr spärlich. Neue Pferde sind nicht aufzutreiben. Die da vor uns treiben der Grenze zu und haben ganze Arbeit gemacht, tauschen das geraubte Vieh gegen Waffen und Munition, und dann kann's von neuem losgehen. Da drüben ist alles zu haben. Sogar Kanonen. Mit feindlichen Streifkorps stoßen wir zusammen. Sie werden überwältigt. Zum Halse heraus hängt uns das ewige Fle ischessen. Wir gäben was drum, wieder einmal ein Stück Brot zu kriegen. In keinem Geschäft - die hier auf dem Kamp weit auseinander -45-
liegen - finden wir irgend etwas zu essen, es sei denn eine Konserve, die der Gegner vergessen bat zu stehlen. Bei den Fazendeiros sieht's auch mager aus und unsere Proviantversorgung stockt schon lange. Wir kommen durch eine Gegend, wo die Revolutionsgreuel deutlich sichtbar werden. Hunde scharren vergrabene Leichen aus. Da und dort schaut aus einem Grab ein Arm oder ein Bein heraus. Hier hat's viele Tote gegeben, man hat sich nicht die Zeit genommen, sie richtig zu beerdigen. Wenn wir doch wenigstens einen Schnaps hätten. Der Tabak wird auch knapp. Der Coronel spricht schon seit Tagen kein Wort mehr. Ein schwerer Druck legt sich auf alles und alle. Soviel wissen wir: in den nächsten Tagen ist ein schwerer Zusammenstoß zu erwarten. Neue Truppen kommen. Sie sollen dem Feinde die Grenze sperren, und dann wird er eingekesselt. Wenn's doch nur schon so weit wäre, damit das ewige Einerlei ein Ende hätte. An der Straße steht ein großes Geschäftshaus offen. Zwei Mädchen tollen draußen herum. Als wir eintreten, sehen wir eine junge Frau auf einem Stuhl sitzen, stumm und apathisch. Sie sieht uns geistesabwesend an. Schrecklich ist solch ein Anblick. Fürchterlich ist hier gehaust worden, wild und wirr liegt alles durcheinander. Was nicht mitgenommen wurde, das wurde zerstört. Die kleinen Mädels kommen angesprungen und schmiegen sich an die Mutter. Sie streichelt sie mit müden Händen. Langsam fängt die Frau an zu sprechen: Vorgestern seien die Roten durchgekommen. Ein Offizier habe sich eine Dose Marmelade geben lassen und habe mit dem Säbel Würfel herausgestochen. Diese Würfel steckte er auf die Säbelspitze; und ihr Mann, der hinter dem Ladentisch stand, mußte sie schlucken. Als er nicht mehr essen konnte, stieß ihm der Offizier den Säbel durch den Hals. Ihrem Schwager hätten sie den Hals durchschnitten. Auch er läge hinter dem Ladentisch. -46-
Nun wußten wir uns den Geruch zu erklären. Dann sagt die Frau, in der Küche lägen auch noch zwei Leichen. Das seien die Knechte. Wir schaufelten mit den Soldaten im Garten ein großes Loch und legten die vier Leichen hinein. Ein Faß Kalk, das wir fanden, wurde darübergeschüttet. Dann wurde das Grab zugeschaufelt und ein einfaches Holzkreuz aus Zaunlatten daraufgesetzt. Die Frau hat alles mit angesehen, aber nicht einen Laut von sich gegeben. Rein unheimlich ist's uns da geworden, und erst als wir weggehen, schreit sie auf, wirft sich aufs Grab und weint herzbrechend. Die zwei kleinen Mädelchen schauen verständnislos zu. Wir nehmen sie mit uns und bald tollen sie draußen wieder umher. Wir führen die Vorhut. Der Coronel hat uns eingeholt. Er ist ungehalten, uns noch hier zu finden. Wir klären ihn auf, und da kommt auch schon die junge Frau. Der Coronel sagt ihr einige tröstende Worte. Die Frau bedauert, uns nichts bieten zu können. Vielleicht wäre uns mit einem Schnaps gedient? Im Keller läge ein ganzes Faß. Im Nu sind die Feldflaschen gefüllt, auch der Coronel beteiligt sich dran. Der Befehl zum Abmarsch ertönt, die Nacht wird durchmarschiert. Zwei Stunden Reiten, zwei Stunden Laufen, und gegen Tag wird damit gerechnet, auf die Nachhut des Gegners zu stoßen. Der Schnaps hat uns wieder ein wenig aufgerappelt, und die Nacht haben wir uns durch Plaudern verkürzt. Die Soldaten erzählen, sie hätten schon ganz andere Dinge erlebt, und der Coronel könne ein Buch schreiben, das von der ersten bis zur letzten Seite voller Revolutionsgreuel wäre. Eine Streifpatrouille bringt zwei Gefangene. Der Coronel läßt sie gar nicht erst zu Worte kommen. »Ans Messer!« Der Schreiber, der den Alten schon lange kennt, erzählt allerhand aus dessen Leben. Gefackelt hat der nie, sich -47-
gefürchtet auch nie. Als der Tag graut, kommen wir mit der Nachhut des Feindes in Fühlung. Der Kampf dauert bis hoch in den Mittag hinein, dann ziehen die Roten ab. Dreißig Tote lassen sie zurück und ebenso viele Verwundete. Das macht nach hiesiger Rechnung sechzig Tote. Die bleiben liegen, wo sie liegen. Bei uns gab's sechs Tote und viele Leichtverwundete, ich selbst habe einen Streifschuß am Arm abgekriegt. Wir begraben die Leute, so gut es geht. Die Truppe, die zu uns stoßen wollte, hat sich verspätet, und der Feind setzt ungehindert über die Grenze. Dort wird er entwaffnet, kauft nachher Waffen und Pferde wieder zurück, und eines Tages ist er wieder irgendwo aufgetaucht, gibt's Wiederholung. Das ist der Grund, weshalb Revolutionen hier nie niedergeschlagen werden können. Die lange Grenze, der große Raum ohne Volk, die Hilfe vom Ausland verhindern das. In einer größeren Kampstadt wird Winterquartier gemacht. Hurra! Endlich werden wir wieder Menschen, werden uns richtig waschen und kämmen, werden sauberes Zeug auf den Leib kriegen und dann auch unsere Pferde pflegen können. Hier und da wird's wohl auch nochmal krachen, doch wird schon davon gesprochen, daß Friedensverhandlungen im Gange seien, und zum kommenden Frühjahr wäre der Rummel erstmal wieder zu Ende. Unser Quartier ist gut. Es ist ein leerstehendes Haus, in dem wir uns eingerichtet haben und wo wir auf unseren Sattelzeugen schlafen. In einer nahen Wirtschaft essen wir und in der freien Zeit wird gebummelt. Unterleutnants sind wir auch schon geworden. Das gibt mehr Geld. In den Kampstädten kann man das leicht loswerden. Alles ist hier sehr teuer. Das macht die weite Entfernung von den Koloniezentren, die hohen Frachten, der viele Zwischenhandel. Im Umkreis der Kampstädte wird fast gar nichts gepflanzt. Der Boden ist auch meist ungeeignet dazu. Ständen nicht hie und da verstreut kleine Wäldchen wie Inseln -48-
in dem großen Grasmeer, wäre es überhaupt ein trostloser Anblick, die Kampanha, auch Pampa genannt. Doch in und an jedem Haus der Stadt haben die Bewohner Blumen. Schattenbäume fehlen nirgends. In den ersten Morgen-, in den späten Abendstunden sitzen fast vor jeder Tür die Bewohner, wenn's nicht gar zu kalt ist. Das hat etwas Anheimelndes an sich, und oft haben wir uns dazwischen gesetzt und Tee trinkend, rauchend, plaudernd die Zeit verbracht. Bis wir dann allmählich durch den Unteroffizier erfuhren, daß man uns lieber auf den Rücken sehe als ins Gesicht. Ausländer sollten sich um die Politik ihres eigenen Landes kümmern. Das hier ginge nur den Einheimischen an und sonst niemanden. Recht hatten die Leute. Aber waren wir aus freiem Antrieb in den Rummel gekommen? Oder hieß das vielleicht: Zum Arbeiten seid ihr Kerls gut genug, und was darüber geht, das kümmert euch nicht, das besorgen wir selbst und ihr macht den Zuschauer? Von da ab verkehrten wir denn nur noch in den Kinos, und in der übrigen Zeit wurde viel gelesen. Manchmal auch hatten wir Grenzritte, dann waren die Truppenteile wochenlang unterwegs. Die Pferde hatten sich prächtig erholt, der Frühling zog ins Land, das Gras sproß und kräftiges Futter wuchs, und gerade da kam der Friede. Alle atmeten auf. Nur die Politikaster, die Parteihengste, die Sensationspresse, denen paßte der Kram nicht. Die hätten gerne gesehen, wenn die Abmurkserei noch länger gedauert hätte. Wir werden abgelohnt. Man bedarf der Hilfstruppen nicht mehr. Der Coronel ruft uns in sein Zimmer. »Ihr seid als Sergeanten eingetreten, geht als Leutnants ab. Offizielle Ernennung erfolgt schriftlich.« Wir stutzen und bedanken uns. »Für das Begräbnis damals. Hat mir sehr gefallen von euch.« Wieder werden die Hacken zusammengerissen. Ein kurzer Händedruck. Draußen sind wir. Der alte Haudegen hat sich doch noch menschliches Fühlen bewahrt. Wir hatten den Vorfall wahrhaftig schon ganz vergessen. -49-
Und nun geht's zurück nach Aguas Melados. Wie die Pferde jetzt ausgreifen. Tagelang sind wir unterwegs und kommen dann ins Städtchen. Es ist kurz nach Mittag. Wilm schmeißt seine Pelze herunter und legt die anderen, die der Hotelier ihm aufbewahrt hat, auf den Sattel. Dann geht's zu Lehmann. Wieder hockt der vor der Tür, und wieder kommt das Mariechen, und diesmal glänzen die schönen Blauaugen und das ganze Mädel strahlt förmlich vor Freude. Da reicht ihr Wilm die Pelze und bringt kein Wort hervor, auch dann nicht, als Mariechen ihn lange verwundert anschaut und fragt, warum er denn gar nichts sage? Er legt nur seine Hand auf ihren Blondscheitel und preßt die Worte heraus: »Weil du es bist«, sitzt auf und jagt davon.
-50-
Das ist der Urwald Kein Dichter hat ihn je besungen. Was er beim Anblick dieser Urgewalt empfand, vermochten seine Worte nicht auszudrücken. Schwer lastete auf ihm die eigene Nichtigkeit. Kein Maler bannte ihn je auf die Leinwand. Die unermeßliche Größe, die Wucht, die von diesem Koloß ausgeht, lahmte seine Hand. Und wenn der Sturm durch den Urwald rast, wenn sein hoch aufbrausender Sang die Himmel stürmen will - wo ist der Tonkünstler, der dieses alte ewig neue Lied festhielt? O Menschlein! Beim Anblick des Urwaldes erschauerst du, fühlst deine Winzigkeit, wirst erst deiner Schwäche bewußt, und Verzage n kommt dich an. Doch wo dem Künstler die Worte fehlen, die Sprache versagt, wo die Palette eingepackt wird und das Notenpapier dazu, wo menschlichem Ausdrucksvermögen die Kraft versagt, da tritt ein schlichter Mensch das Wagnis an, und dieser einfache und anspruchslose Mensch heißt Kolonist. Der ringt mit dem Urwald und besiegt ihn unter unsäglichen Mühen und Entsagungen, erobert ihn und macht ihn sich dienstbar. Alles, was du hierzulande siehst, ist von ihm. Er ist's, der den Weg geebnet hat, auf dem wir anderen schreiten. Er legte den Grund zu einer Kultur, die wir anderen ausbauen sollen, und er ist der Jungbrunnen des Deutschtums hierzulande, woraus die Städte immerdar schöpfen. Gottvertrauend und erdverbunden schuf er das große Werk und ist doch dabei einfach und schlicht geblieben. In einem Urwald hausen wir jetzt. Nicht als Kolonisten, sondern als Köche. Jawohl! Als Köche! Der Badeort Aguas Melados, zukunftsreich und berühmt durch seine heißen Heilquellen, liegt zweihundert Kilometer von der nächsten Eisenbahnstation entfernt. Das ist ein unhaltbarer Zustand, und darum soll eine Zweigbahn gebaut werden. Eine -51-
Ingenieurkommission kam und ließ sich im Hotel nieder, wo wir uns herum- drückten. Zwei Köche fehlten. Wir meldeten uns und wurden angenommen. Ob wir was von der Kochkunst verstünden? Bewahre! Aber zwei Wochen Unterricht und eine ganze Reihe Rezepte, die wir von den Hotelköchen bekommen - bis die Kommission ihren ganzen Bedarf zusammen hat, sind wir eben Köche. Anfang Oktober ziehen wir, zwanzig Mann stark, in den Wald. Zelte, Lebensmittel und was wir sonst noch brauchen, wird auf Esel verladen. Die Ingenieure reiten und wir andern gehen zu Fuß. Ein älterer Buger - Indianer - übernimmt die Führung. Er ist im Wald groß geworden und kennt sozusagen jeden Baum, spricht sehr gut Portugiesisch, hat als Holzflößer sich ziemlich in der Welt umgesehen. Chico heißt er. Unser Lager ist vorläufig am Waldrand. Hier beginnt die Vermessung und unsere Kocherei. Chico, der das Mädchen für alles darstellt, hat in unglaub- lich kurzer Zeit einen Rancho Nothütte - für die Küche hergestellt. Ohne Axt, ohne Handbeil, nur mit dem Facao, dem Waldmesser, haut er armdicke Stämme nieder, sticht die Erde auf, gräbt Steine aus. Die Stämme setzen wir als Pfosten ein, unterdes hat Chico im Walde Taquara Bambusrohr - abgehauen, spaltet es auf, flicht es zu Matten und diese ergeben die Wände. Wir sehen zu und dann wird's nachgemacht, aber so schnell wie dem Buger gelingt es uns nicht. Für das Dach werden Riesenfarnkräuter verwendet. Die decken schnell und sind undurchlässig gegen Regen. Zum Verbinden der Pfosten und Wände werden Cipos, Schlingpflanzen, genommen, die fest, stark und so schmiegsam sind wie dünne Seile. Kein Nagel ist nötig, und doch steht die Hütte fest da. Dann werden noch große schwere Feldsteine herangerollt, Quereisen darüber gelegt, und die Küche ist fertig. Einen Schornstein brauchen wir nicht. Der Küchenschrank ist eine große Kiste, deren Deckel die Küchentür bildet. Eine andere Kiste dient als Anrichtetisch, und die Börter, die wir zur -52-
Aufbewahrung des Kücheninventars noch gebrauchen, werden wieder aus gespleißter Taquara hergestellt. Kaum drei Stunden hat die ganze Arbeit gedauert. Es wird für zwei Abteilungen gekocht. Die Ingenieure bekommen einen reichliche n Tisch, für Abwechslung sorgen die Konserven. Die Arbeiter kriegen schwarze Bohnen, Reis, Farinmehl und Dörrfleisch. Brot backen wir in der glühenden Asche und als Backformen dienen uns grüne Bananenblätter. Auch das hat Chico, der allerdings kein Brotesser ist, uns gelehrt. Seine liebste Mahlzeit ist ein recht fetter Engerling, den er sich aus verfaultem Holz klaubt, an einen kleinen Holzspieß steckt und am Feuer röstet. Uns wurde zuerst immer übel, wenn er mit einem solchen Viech ankam. Jetzt machen wir uns nichts mehr daraus. Im Urwald herrscht eine eigene Zeiteinteilung. Längst vor Tag trinkt man Tee. Kaum graut der Tag, geht es in den Wald. Der Kaffee, das Mittagessen wird nachgetragen. Chico, der kleine gebückte gelbliche Kerl, hat diese Arbeit unter sich. Pausen werden während der Arbeit fast gar nicht gemacht. Aber Punkt ein Uhr sind alle im Lager, und dann erfolgt die Hauptmahlzeit. Der Rest des Tages wird mit Teetrinken, Rauchen, Lesen und Lügen verbracht. So geht ein Tag um den anderen dahin, und nur sonntags ist etwas Abwechslung in dem Einerlei. Die Ingenieure reiten dann zum Städtchen. Die Mannschaft kriegt oder macht Besuch, dudelt auf der Ziehharmonika. Zwei Gitarren haben wir auch und manchmal kommt auch die Mundfummel dran. Natürlich wird auch Karten gespielt. Aber Schnaps ist streng verboten. Wer beim Trinken erwischt wird, fliegt raus. Ausnahme gilt nur für den Chefingenieur. Der ist ein Deutscher, kann aber kein Wort Deutsch mehr. In ganz jungen Jahren kam er herüber, verlor die Eltern, wurde bei einem brasilianischen Feldmesser untergebracht, lernte das Handwerk von der Pike auf und kam dann durch seine vermögende Frau in Fühlung mit den höheren -53-
Kreisen. Heute nimmt er eine sehr einflußreiche Stellung bei der Regierung ein. Kann der Mann, der den größten Teil seines Lebens im Walde verbracht hat, Alkohol vertragen, alle Achtung! Man muß sich wundem, wo er die Kräfte hernimmt, seine Arbeit zu verrichten. Er ist der erste und letzte im Lager, sitzt bis in die tiefe Nacht über seinen Zeichnungen. Wehe den jungen Kerls, die einen Bummel gemacht haben. Aber gerecht ist der Chefingenieur. Pünktlich wird der Lohn gezahlt. Wir verdienen sehr gut, wenn auch nicht so viel wie als Badewärter. Jetzt lernen wird den Urwald kennen. Mittendrin stecken wir, denn das Lager ist schon zweimal verlegt worden. Es ist Sonntag, die Mannschaft ist abgefuttert, die Gitarren schweigen und ein Teil der Leute ruht schon. Wir sitzen noch vor unserer Küche. Plötzlich hören wir aus der Nähe ein eigenartiges Tönen, etwa als ob eine Mutter ihr Kindchen in den Schlaf summt. Diese Töne sind uns ganz fremd, haben so gar nichts Zusammenhängendes und sind doch weich und einschmeichelnd. Wir gehen den Tönen nach und finden Chico an einen Baum gelehnt. In den Händen hält er eine halbkreisförmig gebogene Rute, über deren beide Enden eine Faser gespannt ist. Mit dem Mund hält er das eine Ende des Halbbogens, die linke Hand hält das andere, mit der Rechten aber, darin sein Ansteckmesser sitzt, streicht er zart und behutsam über die Faser. Wir wollen das neue Instrument auch einmal versuchen, doch es ist vergebens. Kein Ton kommt heraus, es sei denn ein Wimmern. Zum Singen war Chico aber nie zu bewegen, wir konnten anstellen, was wir wollten. Langsam nähern wir uns dem Uruguay. Der hier schon so dichte Wald wird fast undurchdringlich; der Buger macht uns auf das viele Edelholz, auf die Zedern, Louros und wie die Bäume alle heißen, aufmerksam. Sie stellen einen riesigen Wert dar. Argentinien ist ein guter Abnehmer für diese Hölzer. Auch ist das Land ziemlich eben und fast steinfrei. Aber ungeheure -54-
Mühe kostet es, wenn einer sich da durchr schaffen will. Nur mit dem Facao können die Schlingpflanzen, die Dornen, das Lichtrohr niedergehauen werden, sonst bleibt man schon nach den ersten Schritten stecken. Und auch so hat man zerrissene Hände, zerrissenes Zeug. Jetzt begreifen wir, warum die Arbeit so langsam vorwärts geht. Schritt für Schritt will erobert sein und das Geländesuchen erfordert viel Zeit. Wenn alles stockt, auch die Ingenieure nicht mehr weiter können, dann findet Chico noch immer Rat und Ausweg. Er fühlt sozusagen, wo die richtige Linie gelegt werden muß. Wo keiner ohne Waldmesser durchkommt, da schlüpft er durch, barfuß, ohne sich zu ritzen und ohne daß ein Ästchen knackt. Was wir Fingerspitzengefühl nennen, das muß er in den Füßen haben. Zum ersten Male wird im Wald eine größere Fläche freigelegt. Es geht auf Weihnachten zu und im Januar, Februar kommen die schweren Stürme. Da ist es gut, wenn das Lager weithin frei steht, um zu verhindern, daß die etwa stürzenden Bäume und Äste die Hütten zusammenschlagen. Damit die Arbeit schneller von- statten geht, hat man die Knechte von einem hart am Uruguay wohnenden Brasilianer mit herangeholt. Die Äxte schallen und knallen nur so und mit Donnerkrachen schlagen die Bäume und Äste auf. Der Boden schüttert förmlich davon. Mit dem Fällen der Bäume allein ist es nicht getan. Die Äste müssen abgehauen werden und werden auf Haufen geschichtet. Es darf ja nicht gebrannt werden im Wald. Um diese Jahreszeit ist alles pulvertrocken. Ein einziger Funken, der in das trockene Laub springt - und der ganze Wald geht in Flammen auf, an Löschen ist da gar nicht zu denken. Acht Tage haben fünfundzwanzig Mann gearbeitet, es sind ungefähr zwei Hektar Land freigemacht worden. Hier steht das neue Lager. Ein paar große schattige Bäume sind stehengeblieben, sonst wüßten wir nicht, wo unterschlüpfen in dieser fürchterlichen Hitze. Selten regt sich ein Lüftchen und der Schweiß rieselt nur so an uns herunter. Wohl ist es dicht zum -55-
nahen Bach, wohl laufen wir mehrere Male tagsüber dahin und baden, aber Erfrischung bringt das nicht. Die kommt nur in den ersten Morgenstunden, und da sind wir alle überbeschäftigt. Der Uruguay liegt in der Nähe. Auch er hat schon wenig Wasser. Das ist die Zeit, in der der Fischfang lohnt. Nachts machen sich die Arbeiter auf und angeln. Chico angelt nicht, er hat seine eigene Methode. Es gibt im Wald einen Cipo, den schneidet er in zentimeterlange Stücke, fährt damit zu einer stillstehenden Lache in dem großen Fluß und verstreut sie dort. Es dauert kaum zehn Minuten, dann schwimmen eine ganze Menge Fische bauchaufwärts an der Oberfläche. Sie sind betäubt, werden ins Boot geworfen, nach einer halben Stunde leben sie wieder auf. So gibt es jetzt häufig Fische und auch Früchte. Der ganze Wald steht voll davon. Nur kennen wir sie nicht, Chico aber riecht und wittert sie schon von weitem, er, der auch im Dunkeln sieht und dort ganz behende durchläuft und schlüpft, wo wir stolpern und liegenbleiben. Auch Gemüse fehlt uns nicht mehr. Chico erklettert die Fahnen und entblättert sie. Das Herz dieser Palmen gibt ein äußerst zartes Gemüse und ist eine Delikatesse für Feinschmecker. Kräuter können ebenfalls für den Tisch verwendet werden. Jetzt liefern wir auch richtige Suppe. Einige Rehe, Waldhühner und Waldtauben haben wir erlegt. Fast nie fällt ein Schuß. Schlingen besorgen das Geschäft viel besser und einfacher. Um diese Zeit ist die Moskitoplage fürchterlich. Den ganzen Tag, die ganze Nacht schwelt faules Holz, kringelt in der Luft der bläuliche Rauch, der die Lungen angreift, das Atmen erschwert und das elende Viehzeug doch nicht ganz vertreibt. Manchmal kommt einen das Verlangen an, den ganzen Busch in Brand zu stecken, damit der Teufel alle diese Plagegeister hole und die Schlangen noch dazu. Die kommen sogar bis zur Küche. Selten wird einer von ihnen gebissen, denn alles reibt sich die Füße mit wildem Knoblauch ein. Der stinkt abscheulich, das können die Schlangen nicht vertragen. Wird aber doch jemand -56-
gebissen, dann braut Chico aus Kräutern und Cipos einen Trank zusammen und der Verletzte ist nach dessen Genuß bald wieder auf den Beinen. Die Ingenieure haben zwar Gegengifte bei sich, kommen aber nie dazu sie anzuwenden. Das Volk hält mehr auf Chicos Heilweise.Wir fragen eines Tages den Chefingenieur, was wohl aus Chico geworden wäre, wenn er eine richtige Ausbildung erhalten hätte. Intelligenz sei ihm doch nicht abzusprechen. »Ein Lump wäre er geworden, wie die ändern es geworden sind, bei denen man ähnliche Versuche unternommen hat. Sowie solch ein Kerl etwas kann, will er nicht mehr arbeiten, dünkt sich was Besseres, und wenn er dann noch an den Schnaps gerät, ist der Schuft erst recht fertig. Kultur wird nicht in einem Menschenalter erworben.« Zwischen unserem Lager und der Behausung des Brasilianers liegt ein kiemer Fluß. In einer Stunde können wir dort sein, mit dem Boot allerdings. Eines Sonntags ziehen wir zu Fuß und zu Wasser dorthin. Wohnt der Mann prachtvoll! Ein mächtiges Haus aus gerissenem Holz steht da. Die Stallungen, die Schuppen sind aus dem selben Material. Ein riesiger Obstgarten umgibt das Ganze. Das blüht und duftet herrlich. Sogar eine Weinlaube ist da. Groß ist auch die Schnapsbrennerei. Fünfundvierzig Jahre haust der Mann schon hier, der heute ein starker Siebziger ist, aber noch so rüstig dasteht wie ein junger Kerl. Ausgezeichnet werden wir aufgenommen und bewirtet. Der Chefingenieur und der Alte sind schnell gut Freund geworden, und es ist schwer festzustellen, wer, von beiden trinkfester ist. Während die beiden drinnen weiter bechern, hocken wir draußen unter den Schattenbäumen und lassen uns den Trunk ebenfalls gut schmecken. In dem Hause wohnen mehrere Familien. Das Volk hier draußen, mit dem wir uns auch bald anfreunden, sind Söhne und Schwiegersöhne des Alten. Lauter große Männer, die ein hartes Leben gewohnt sind, die ihr Leben mit Holzfällen, Schnapsschmuggeln und Pflanzen verbringen, nebenbei Vieh -57-
züchten und auch eine große Schweinemästerei haben. In mächtigen Schüsseln kommt das Essen auf den Tisch. Es gibt Reis mit Hühnerfleisch, so reichlich, daß jeder übersatt werden kann. Viel Federlesens wird im Wald nicht gemacht, man ißt mit dem Messer, und wenn's nicht anders geht, werden die Fleischstücke in die Hand genommen, abgenagt und unter den Tisch geworfen. Die Hunde wollen auch leben, und heute geht es ihnen gut. Nachher gibt es wieder Wein. Der ist stark und steigt langsam zu Kopf. Die beiden Alten drinnen sprechen auch schon lauter, und nach und nach schreien sie sich an. Die beiden werden doch nicht Streit bekommen? Auch die Hausbewohner stehen auf, rücken ihre Gürtel zurecht, damit der Revolver gleich zur Hand ist. Von den Trauen, die wir bis dahin nicht gesehen haben, erscheinen einige an den Türen und Laden, verschwinden aber gleich wieder. Der Radau läßt für einen Augenblick nach, dann werden die Tische unter den Schattenbäumen zusammengetragen, alles nimmt wieder Platz und trinkt, doch schön sind die beiden wieder aneinander. »Sie sind in dreißig Jahren nun schon der dritte, der hier die Gegend aufnimmt. Was, das wissen Sie nicht? Warten Sie mal, mein Junge kann die Papiere holen.« In einer Blechkassette liegt eine Menge vergilbter Papiere; der Brasilianer sucht lange darin herum und reicht dann dem Chefingenieur ein Papier nach dem ändern. Auch zwei Visitenkarten kommen zum Vorschein. Der Chefingenieur langt einem von seinen Ingenieuren ein Schriftstück hin, der soll das laut vorlesen. Da steht nun, daß der Brasilianer zweimal bei den vorhergehenden Vermessungen geholfen hat, die Leute beköstigt und für diese Hilfe das Stück Land zwischen den beiden Flüssen Fortaleza und Rio Negro als Entschädigung erhalten hat. Das Papier ist amtlich gesiegelt und gestempelt, und das Stück Land, darauf der Brasilianer wohnt, ist ein kle ines Fürstentum. Der Chefingenieur ist baff. Nichts, rein gar nichts hat er -58-
davon gewußt, daß hier schon zweimal exploriert wurde. Aber die beiden Visitenkarten sprechen für sich. »Was haben denn die zwei hier eigentlich getrieben? Da unten ist doch keine Karte, keine Aufnahme zu finden gewesen.« »Was die gemacht haben? Die Straße nach Aguas Melados haben sie gebaut, die Straße, die aber mein Werk ist und wofür sie das Geld einsteckten. Hundert Leute hatte ich zusammengetrommelt, und gearbeitet ist damals worden, daß es ein Staat war. Aber Geld gab's nicht. Bloß Gutscheine, und die nahm zuletzt kein Mensch mehr an. Die Geschäftsleute auf dem Kamp wurden aufsässig, die Arbeiter auch, und ich war meines Lebens nicht mehr sicher. Wie oft bin ich bei der Regierung gewesen und vorstellig geworden. Man verwies mich an diese beiden Herren. Die wieder wollten kein Geld bekommen haben, und so zog sich die Sache immer mehr in die Länge, bis ich erfuhr, daß am Ersten eines jeden Monats der Zahlmeister die Strecke abfuhr, um den Eisenbahnern die fälligen Löhne auszuzahlen. Darauf baute ich meinen Plan, trommelte also meine Leute zusammen, hielt den Zug an und nahm dem Zahlmeister soviel Geld ab, als die Regierung mir schuldete. Dann ging die Arbeit wieder weiter, und die Straße wurde fertig. Die Regierung schuldet mir noch heute ein schönes Stück Geld. Sei es. Wer heute die Straße fährt, der mag wissen, daß ich sie gebaut habe, und wenn der Badeort heute solchen Aufschwung nimmt - ein gut Teil habe ich dazu beigetragen. Wissen Sie, was die zwei Helden hier im Wald gemacht haben? Ein paar Linien haben sie aufgeschlagen. Als sie aber die vielen Nutzhölzer sahen, ließen sie die Bäume fällen. Die Regierung wußte nichts davon, durfte aber den Arbeitern die Löhne zahlen. Die haben sie dann auch noch unterschlagen, das Geld für die Hölzer hübsch eingesteckt und gelebt wie die Fürsten. Mit vorgehaltenem Revolver habe ich sie damals gezwungen, mir das Papier zu besorgen, das mich zum Eigentümer dieses Landes machte, und bin ihnen in der Hauptstadt nicht eher von -59-
der Pelle gegangen, bis ich's in Händen hatte. Wie die zwei sich aus der Affäre gezogen haben, ist mir egal. Hier aber auf meinem Eigentum wird nichts gemessen, wird nichts gemacht, ehe nicht die jetzige Regierung die Gültigkeit des Besitzes ausdrücklich bestätigt. Der Weg über mein Eigentum geht nur über meine Leiche und die meiner Leute.« Die letzten Worte hatte er laut herausgeschrien und zur Bekräftigung mit der Faust auf den Tisch gehauen. Dann reichte er dem Chefingenieur die Hand: »Sie können nichts dafür, was die anderen ausgefressen haben. Aber wissen sollen Sie, woran Sie sind.« Da hat der Chefingenieur lange an seinem grauen Schnurrbart gedreht, stumm in die Luft geguckt und aus der Pfeife dicke Wolken geblasen, ist dann plötzlich aufgestanden, hat dem Alten auf die Schulter geklopft und ihn eingeladen, mit nach der Hauptstadt zu fahren. Die Papiere solle er mitnehmen und die Sache werde in acht Tagen abgemacht und endgültig erledigt sein. Das ist dann auch geschehen. Wir sind noch oft bei dem Brasilianer gewesen und wurden immer gut aufgenommen. Der Mann ist ordentlich verjüngt, seit er seine Grenzen gesichert weiß; noch bei Lebzeiten kann er seinen Kindern ihr Land zuteilen und dann getrost die Augen schließen. Der Winter kam und die Arbeit war fertig. Fast ein Jahr hatten wir im Wald gelebt und freuten uns nun doch, wieder unter Menschen zu kommen, wieder Frauen zu sehen, einmal anständig angezogen zu sein und zu erfahren, was da draußen in der Welt vorging. Fast ein ganzes Jahr mitten im Urwald, kein Feiertag, keine Zerstreuung. Wir wissen gar nicht, wie wir das ausgehalten haben. Die Arbeit hat uns das vergessen lassen, sie ließ uns gar nicht zur Besinnung kommen. Wenn uns aber in den schwülen Sommernächten der Schlaf floh, unser und der ändern Schweißgeruch unerträglich wurde, kein Lüftchen sich regte, da -60-
fragten wir uns manchmal, ob dieses Leben überhaupt noch wert sei, gelebt zu werden. Ob nicht der einfachste Tagelöhner in der Stadt besser daran sei als wir? Und wenn dann manchmal die schweren Gewitter niedergingen, der Wald das Wasser nicht aufnehmen konnte, Bäche und Flüsse über die Ufer hinausgingen, wenn es blitzte und krachte, die Erde bebte, dann ward's uns unheimlich, und wir fühlten, wie wir hier Gewalten schutzlos preisgegeben waren, gegen die es kein Aufbäumen gab. Da ist denn auch wohl ein Stoßgebet aus gepreßtem Herzen zum Himmel gestiegen, nicht alte Katechismusweisheit, sondern: »Herr, ich bin fertig. Nun mach du es!« Wilm meinte eines Tages: »Hast du hier was von Romantik im Wald gemerkt? Nicht? Na, ich auch nicht. Aber das Land diesseits des kleinen Flusses sei sehr gut, sagt Chico, und ich habe mir von dem Chefingenieur vier Kolonien ausschreiben lassen. Zwei für mich, zwei für dich. Kannst nachher das Papier mal lesen. Wer es zu was bringen will, muß hart sein, hier und anderswo auch. Je weniger Phantasterei einer im Kopfe hat, je besser. Aber freuen tue ich mich mächtig aufs Städtchen. Du doch auch? Wollen mal ein paar Tage flott leben, und dann wird sich schon was finden. Geld haben wir ja auch verdient, das ist die Hauptsache. Da kommen schon die Esel, Fritz. Jetzt heißt's aufladen!«
-61-
Auftakt Was zu erwarten war, traf ein. Von hier und von den alten Kolonien strömen die Kolonisten herbei, um ihren Landhunger zu stillen. Es macht nichts, daß das Land noch nicht vermessen ist. Die Grenzen steckt sich eben jeder selbst ab. Nur wir haben das nicht nötig, wir haben unsere Grenzen ja schwarz auf weiß verbrieft. Das gibt Leben in dem Wald. Zuerst ziehen die Brasilianer hinein. Die hauen schnell ein Stück herunter, bauen einen Rancho darauf und verkaufen ihr Eigentum an Kolonisten, die dann wenigstens einen Unterschlupf haben. Chico macht es ebenso. Zweimal hat er gut verdient und setzt jetzt zum drittenmal ein. Aber Geld behält er keines. Weiber und Schnaps fressen alles auf. Beim Trunk ist er äußerst ungenießbar, das Messer sitzt ihm dann locker, und das ist eine sehr gefährliche Waffe in seiner Hand. Jeder geht ihm da gern aus dem Wege, wir auch. Erst wenn er gänzlich blank ist, seinen Rausch ausgeschlafen hat, ist er wieder der alte Chico. Es ist Volk von allen Rassen, das zugeströmt kommt, und es ist auch viel armes Volk dabei. Das rechnet damit, später beim Bahnbau beschäftigt zu werden und hierdurch und durch Straßenarbeit die Landschulden zu bezahlen. Vorläufig halten sie sich über Wasser durch Landschlagen bei anderen. Die nächste Mühle ist sechs Stunden, die Schneidemühle acht Stunden entfernt. Uns schwebt so etwas vor von einem kleinen Geschäft anfangen, eine Mahlmühle bauen. Aber von guten Bekannten wird uns geraten, mindestens noch ein Jahr zu warten, bis richtig zu sehen sei, wie die Kolonie sich entwickle. Wir sind inzwischen auch in der Hauptstadt gewesen. Wirklich schön war es da und sogar eine deutsche Theatertruppe -62-
trat auf. Das nötige Arbeitsgerät haben wir mitgebracht, und allein dadurch machte sich die Reise bezahlt, denn der Zwischenhandel verteuert die Waren außerordentlich. Chico hat für uns eine geräumige Nothütte gebaut und hilft uns beim Waldschlagen. Mehrmals wird uns eine schöne Abfindungssumme für das Land geboten. Doch wir wollen die Kolonie erst einigermaßen einrichten, dann steigt sie im Wert. Auch Brasilianer hauen für uns. Das Frühjahr ist da. Aber jetzt geht die Arbeit nicht so flott wie damals, als der große Lagerplatz niedergelegt wurde und fünfundzwanzig Äxte nur so knallten und schallten. Hier muß der Wald für andere Zwecke niedergelegt werden. Hier soll nachher gepflanzt werden. Stumm und majestätisch steht der Koloß da. Mit der schweren Waldsichel wird das Unterholz niedergeschlagen. Das ist eine mühselige Arbeit, die nur schrittweise vorwärtsgeht. Das ist nicht die stürmende Feldschlacht, das ist Abknabberungskrieg, der den Feind langsam beschleicht, ihn untergräbt und zum Angriff reif macht. Der Wald - das ist unser Feind. Er muß fallen, damit wir stehen können. Er muß fallen, damit wahr werde das Wort: Raum für alle hat die Erde. Und er muß sterben, auf daß wir leben können. Er aber weiß das und wehrt sich. Seine Dornen zerreißen uns Hände und Füße, sie umklammern uns wie Stacheldraht. Aus dem muffigen Urwaldhumus steigen ekelerregende Dünste auf. Scharen kleiner Stechfliegen überfallen uns und bringen die Haut zur Entzündung, schwere Eiterbeulen bilden sich und die Augen beginnen zu eitern durch einen Blütenstaub, den der Wind uns entgegentreibt. Die Schlangen werden mobil, die Sandflöhe, die die Nägel von den Zehen abfaulen lassen. Ein riesiger Baum wird an seiner Spitze von Schlingpflanzen umklammert. Unten ist er schon abgehauen, steht locker und kann doch nicht fallen, bis plötzlich der Wind ansetzt, dem Baum eine andere als die berechnete Richtung gibt und zwei -63-
Mann erschlägt. Gestern haben wir sie begraben. Magere, abgehärmte Gesichter waren am Grabe zu sehen, und es ist nicht viel Wesens von dem Begräbnis gemacht worden. Wohl jeder wird so im stillen gedacht haben: Wann kommst du dran? Erbittert wird der Kampf von beiden Seiten fortgesetzt. Es geht um die Entthronung eines Riesenkönigs. Er flieht nicht, er steht und fällt wie die Garden Napoleons. Monatelang, ohne Unterbrechung, mit Entbehrungen und Erbitterung wird so gerungen, dann ist in die große Linie ein Keil getrieben. Die Front wird aufgerollt. Jetzt schallen die Äxte, die Waldsicheln kriegen Ruhe. Die Festung fällt, die Brückenköpfe purzeln nur so. Mit weithin hörbarem Dröhnen brechen sie zusammen und ihr Sturz wird von unserem Jauchzen begleitet. Ein Siegergefühl weitet die Brust. Wir haben's geschafft! Die wenigen anderen, die noch im Rückstand sind, hauen jetzt auch darauf los, was das Zeug hält, sie spornen sich gegenseitig an, aus den ausgepumpten Körpern wird noch das Letzte herausgeholt. Sie sind so mitgenommen, daß sie nicht einmal mehr schwitzen, sind nur noch Haut und Knochen. Aber auch sie tragen jetzt die Köpfe höher: auch sie haben gesiegt! Jetzt schmeckt ein kühler Schnaps gut, jetzt kommt wieder ein Gespräch in Gang, jetzt rutschen auch die schwärzen Bohnen wieder, jetzt schmeckt überhaupt alles wieder besser. Jeder hat eine Atempause, jeder kann seinen lahmgewordenen Knochen wieder ein wenig aufhelfen. Es sieht in der neuen Siedlung aus wie in einem Zigeunerlager. Kein einziges Haus. Nur Hütten. Die sind manchmal so klein, daß wir uns wundem, wie ein Dutzend Menschen drinnen wohnen kann. Aber es ge ht, weil es eben gehen muß. Wenn erst der Wald gebrannt, der Mais in die Erde gesenkt ist, dann, ja dann wird ein Haus gebaut, und es wird besser werden. Die Hausfrau bekommt eine Küche und auch ein Hühnerstall wird entstehen. Und dann? Ach, es fehlt ja an allem. Hier entsteht ja eine neue Welt. Wenn schon der liebe Gott sechs Tage dazu brauchte, eine Welt zu schaffen - der -64-
Mensch muß sich damit trösten, daß er kein Gott ist. Eine herrliche warme Witterung haben wir. Dabei bläst der Wind und trocknet den geschlagenen Wald aus. Wenn er so weiter bläst, kann schnell gebrannt werden. Schon werden am stehenden Wald trockenes Laub, verdorrte Äste weggeräumt, denn das Feuer darf nicht übergreifen, wenn nicht ein großes Unglück entstehen soll. Bald ist es so weit. Schon früh am Morgen hat Chico sich den Himmel angesehen. Chico ist verläßlicher als ein Barometer. Der Wind kommt von der Waldseite. Das Brennen kann also mittags beginnen. Die heißen Sonnenstrahlen prallen senkrecht auf Bäume und Äste und machen das Holz pulvertrocken. Das Feuer greift schnell um sich. Auch die Nächbarschaft trifft ihre Vorkehrungen. Die ersten Flammen lodern auf. Prasselnd und knatternd springen sie weiter. Wie schwere Maschinengewehre rattert es. Das Lichtrohr, das zum Teil noch mit Wasser gefüllt ist, platzt durch die rasende Hitze auf. Riesige Rauchwolken bilden sich und zwischendurch lodern die Flammen auf. Noch ist der Boden nicht richtig erhitzt. Der muß die Hitze widerstrahlen, erst dann erreicht das Feuer seinen Höhepunkt. Eine gute halbe Stunde dauert es noch bis dahin. Als sich der dichte Rauch verzieht, lodert vor uns ein riesiges Feuermeer. Die Flammen schlagen weit über den Wald hinaus. Wenn der Wind hineinbläst, sehen wir, wie die noch halbgrünen Äste und Stämme sich biegen und winden in diesem Feuerwerk. Bangen und Zagen überkommt uns. Schlägt der Wind plötzlich um, dann rast die Glut in den Wald hinein. Chico lächelt. Ein etwas mitleidiges Lächeln, das besagen will: Hätte ich euch dann zum Brennen geraten? Da schwinden unsere Bedenken. Nur in mir zuckt blitzschnell der Gedanke auf: Wie haben wir auf die Argentinier geschimpft, als die ihren Weizen verbrannten, wie die Brasilianer ihren Kaffee - und was machen wir? Was jagen wir da für kostbares Holz in die Luft, das jetzt niemandem zu Nutz und Frommen ist? Wilm scheint meine -65-
Gedanken zu erraten: »Was willst du, Fritz? Wir schlagen hier eine Welt in Trümmer und bauen eine neue darauf auf. Von den Trümmern aber werden wir noch manches gebrauchen können.« Den ganzen Tag und die nächste Nacht hat das Feuer noch Nahrung. Prachtvoll und erhaben ist der Anblick bei Nacht und Neros Rom fällt uns unwillkürlich ein. Jetzt setzt ein leiser Regen ein, der sich in der folgenden Nacht verstärkt. Ein riesiges Meer grauer Rauchschwaden legt sich auf die Brandflächen, auf den Wald, auf den Boden. Der kühlt schnell ab. Einige Tage später klappern überall die Handpflanzmaschinen und tagelang wird Mais in die junge Erde gestampft. Es kommt noch ein zweiter, ausgiebiger Regen, und der Boden weicht richtig durch. Acht Tage dauert es dann, bis die ersten grünen Maisblättchen hervorsprießen. Wunderschön heben sie sich von der schwarzgrauen Asche, den verkohlten Stämmen ab. Da läuft jeder Kolonist durch seine Pflanzung, klettert über und auf die Stämme, besieht die Pracht, und wieder schwellt ein Siegergefühl die Brust. Ich hab's geschafft! Tief zieht er die Luft ein, schaut wohl auch nach oben und kehrt dann heim. Die abgerackerte Frau, die Kinder, sie kriegen seit langem das erste liebe Wort zu hören, nach all der Plackerei und Schinderei. Oh, nicht umsonst ist grün die Farbe der Hoffnung. Chico aber sagt, für einen Monat wären wir die Moskitos los, das habe der Rauch bewirkt.
-66-
Brasilianische Urwaldgemeinschaft Abwechselnd reiten wir zum Städtchen, um dort das Lebensnotwendigste zu holen, und das ist nicht wenig. Wir haben immer noch Arbeiter, lassen immer noch Wald. schlagen und mit der Trumpsäge Bretter schneiden. Wo ein passender Baum im Maisfeld liegt, wird das Gerüst errichtet. Ein Mann oben, ein Mann unten ziehen an der Säge hin und her, daß man abends meint, Hände und Arme brächen einem ab. Nach vierzehn Tagen sind wir es gewohnt und da lohnt die Arbeit sich schon sehr gut. Eine Woche kocht Wilm, die andere Woche ich, währenddessen muß der jeweilige Koch im Garten arbeiten. Das ist eine verdammte Arbeit, die Stubbenräumerei. Aber wir haben es uns nun mal in den Kopf gesetzt: es muß ein schöner Garten werden, eine Weinlaube soll auch noch dazukommen. Die ersten Pfirsiche stehen schon im Boden, die ersten Orangenbäumchen auch und noch eine ganze Menge anderer Pflanzen. Oh, es wird was mit unserem Garten! Wieviel Päckchen Gemüsesamen sind schon den Weg alles Irdischen gegangen. Den meisten Schaden machen uns die Ameisen. Selbst nachts muß man die Viecher verfolgen mit Feuer, kochendem Wasser und Gift. Heute schneidet Chico mit Wilm und ich reite ins Städtchen. Immer noch besitzen wir die beiden Pferde von der Revolutionszeit her und immer noch warten die Besitzer darauf, daß sie ihnen von der Regierung bezahlt werden. Geht uns zwar nichts an, aber wir haben versprochen, die Pferde zurückzugeben, man möge sie uns nur noch einige Zeit überlassen. Ich muß mich gut anstrengen, wenn ich in einem Tage zurück sein will. Da haben die Nachbarn noch soundso viel mitzubringen, das beruht nämlich bei uns alles auf -67-
Gegenseitigkeit. Hinter mit trabt das Packpferd. Alle Besorgungen sind erledigt, hier und da habe ich einen Bekannten gesprochen und will eben aufbrechen, als ich Mariechen treffe, die gerade ins Städtchen hineinreitet. Na, die Freude ist beiderseits groß. Warum wir uns denn gar nicht mehr sehen ließen? Zuviel Arbeit und außerdem stünden wir uns ja nicht gut mit dem alten Lehmann. Der Vater sei schlimm, sagt das Mädchen, und es kämen fast gar keine Leute zu ihnen. Aber ich solle doch dem Wilm einen recht schönen Gruß ausrichten. Dann noch ein paar Worte hin und her und jeder zieht seinen Weg. Also da hat's gefangen und Wilm wird sich freuen! In der letzten Zeit sind wir überhaupt etwas wortkarg geworden. Die Müdigkeit mag wohl auch daran schuld gewesen sein. Ich habe noch einen ganzen Packen neuere deutsche Zeitungen aufgegabelt, die liefern uns schon Gesprächsstoff. Auch was Trinkbares steckt in dem großen Quersack und Seife für unsere Waschfrau. Sie ist eine Kolonistin, die sich mit der Wäsche ein wenig Geld extra verdient. Es ist schon ziemlich spät, als ich ankomme. Chico nimmt das Packpferd und liefert den Kolonisten ihre Bestellungen ab. Wilm hilft mir beim Absattem. »Was Neues im Dorf?« »Große Neuigkeit sogar, Wilm!« »Was ist es denn?« »Kannst ja mal raten.« Und Wilm rät und rät, aber doch immer falsch. Da halte ich ihm die Flasche hin. »Trink mal erst einen und dann sage ich's dir. Du könntest sonst am Ende schlapp machen!« »Es ist doch wohl nicht wieder Revolution im Gange?« -68-
»Viel schlimmer, Wilm, viel schlimmer!« »Na, Mensch, dann mal endlich raus damit, was ist es denn?« »Das Mariechen hat dich schönstens grüßen lassen!« »Ist das wahr, Fritz?« »Wahr und wahrhaftig, Wilm.« »Na, dann lang den Buddel noch mal her!« Während ich meine Bohnen und das Dörrfleisch herunterschaffe, fragt Wilm viel und oft. Der ganze lange Kerl will wissen, wie das Mariechen ausgesehen habe, ob sie noch so blaß sei, ob sie noch etwas gewachsen und ob sie noch so schlank sei, ob sie - und ich muß ein bißchen schwindeln, damit er endlich Ruhe gibt. Ernste Liebe zu dem schlichten Mädchen hat den Wilm erfaßt, und nun weiß ich auch, warum er in den Wald zog, warum der Garten sein muß und weshalb Wilm danach strebt, das Haus so schnell wie möglich unter Dach und Fach zu bringen. »So ein Duckmäuser.« »Was hast du da eben gesagt?« »Daß du ein großer Duckmäuser bist. Mir kannst du schon sagen, wie es mit dir steht.« Da streckt Wilm lang die Arme über den Tisch und sagt bloß: »Die oder keine, Fritz.« Ich lache laut auf: »Wilm, du hast schon so allerhand Kilo Liebe hinter dir.« »Mag sein; aber das sage ich dir: die oder keine!« Die Zeitungen bringen viel Neues, aber Wilm kümmert das wenig, der spinnt in seiner knappen freien Zeit vor sich hin, und wie es dann Sonntag wird, hat er sich gut angezogen und ist zum Städtchen geritten. Ich gönne ihm das Vergnügen von ganzem Herzen und werde für den heutigen Tag die Nachbarschaft aufsuchen. Da gibt es auch immer was zu hören. Zwölf neue Siedler sind es, aber alles schon Hiergeborene. Schlichte Menschen, die hierherkamen, um für sich und die Ihren bessere -69-
Lebensbedingungen zu finden und den Kindern einstens etwas hinterlassen zu können. Leute, die an schwere Arbeit gewöhnt sind und an das Leben keine großen Ansprüche stellen. Für die erste Zeit kommen wieder Italiener her. Nothütten stehen schon da und auch Wald haben sie schon geschlagen, gebrannt und gepflanzt. Dann sind noch Brasilianer ausgekauft worden. Die machen nächstens Platz, rücken ein Stück weiter und andere setzen sich an ihre Stelle. Auch Neudeutsche wollen nächstens kommen. Im Städtchen sitzt ein kinderloses Ehepaar; die sind aus einer Großstadt, dort hat es ihnen aber nicht behagt und sie wollen im Wald ihr Eigenleben führen. Das hat mir Wilm erzählt, als er heimkehrte. So langsam kommt er denn auch damit raus, wieviel Glück er heute gehabt habe. Gerade als er zu Lehmann will, kommt ihm auch schon Mariechen auf halbem Wege entgegen. Sie wollte zu einer Freundin, und diese Freundin muß halt warten, bis die beiden einig geworden sind. Aber dann haben sie bei der Freundin gesessen, und als Mariechen am halben Nachmittag nach Hause mußte, da sei er fortgeritten. Mich lasse sie auch bestens grüßen. Ich sehe es dem Wilm an, wie glücklich er ist. Seine Freude steckt an. Wir greifen forsch zu, die Bretter fliegen nur so. Noch eine Woche, dann langt es für ein Haus und eine Küche. Nachher müssen sie mindestens zwei Monate zum Trocknen haben, sonst verziehen sie sich zu sehr. Es ist gut, daß wir fertig geworden sind. Mit unheimlicher Schnelligkeit sprießt das Unkraut aus dem Boden, treiben die abgebrannten Stubben Blätter, ranken die Dornen an dem Mais empor, verflechten sich die Schlinggewächse mit der Pflanzung. Alles andere muß jetzt stehen- und liege nbleiben. Mit der Hacke, mit dem Facao wird das Unkraut vernichtet. Zu fünfen arbeiten wir auf einem acht Hektar großen Land, und wenn wir hinten aufhören, fängt dieselbe Arbeit vorne wieder an. Dreimal muß das Land überholt werden, dann ist das Unkraut zurückgedämmt. Furchtbar ist der Urwald, noch im Tode rächt -70-
er sich. Wohl heißt es, ein toter Feind könne keinen Schaden mehr anrichten. Hier ist es anders. Der tote Wald wird uns auf viele Jahre seine Rache fühlen lassen, er wird uns den Sieg schwer werden lassen und unsere besten Jahre auffressen. Den Nachbarn geht es nicht um ein Haar besser. Hier hilft sich alles gegenseitig. Heute helfen wir hier, morgen da, und so fort, bis das Unkraut vertilgt ist. Geschlagene zwei Monate sind darüber vergangen, die Ta ge sind fürchterlich heiß und lang und Weihnachten rückt heran. Soll das eine Feier geben! In all den Jahren haben wir keine Ostern, Pfingsten, Weihnachten mehr erlebt. Verflixt noch mal, das soll jetzt anders werden. Weihnachten geht es nach dem Städtchen. Zwar steht ein Weihnachtsbaum in der Kapelle, und schön geschmückt ist er auch. Aber die Hitze nimmt uns alle Andacht, die Weihnachtslieder kimgen nicht wie drüben. Es fehlt der Schnee, es fehlt die Kälte, es fehlt die Stimmung und die Heimat, es fehlt alles, und uns ist das Weinen näher als das Lachen - und wir haben uns doch so sehr auf dieses Fest gefreut. Niemand, der uns etwas schenkt, und wenn es eine Zigarette wäre. Ja, und wenn es zehnmal die Kirche war, ich habe doch drinnen zu Wilm gesagt, daß ich mir heute einen ansaufe. »Ich auch«, sagt der zurück. Die Feier ist aus, die Menschen verlassen die Kapelle. Die Schulkinder tragen Tüten in den Händen mit Süßigkeiten und Näschereien. Da reckt Wilm sich in die Höhe, gibt mir einen Stoß und wir stellen uns vor die Tür. Das Mariechen kommt, gibt jedem die Hand und wünscht uns frohe Feiertage. Ihr Bruder begrüßt uns ebenfalls. Wir laden die beiden zu einem Glase Bier ein und sie nehmen an. Der Alte ist, Gott sei Dank, nicht da. Wir sitzen nun auf der halbdunklen Veranda des Hotels und schauen zu, wie die da drinnen sich gegenseitig beschenken, -71-
gratulieren, wie Freude und Ausgelassenheit herrscht. Kein gescheites Gespräch kommt bei uns auf. Wilms Gesicht arbeitet und zuckt erbärmlich, und ich weiß auch nicht, was ich mit mir anfangen soll. Bis Wilm plötzlich verschwindet und mit einem großen Paket zurückkommt. Jesses! Der hat die Bonbons, Kuchen und Süßigkeiten gleich kiloweise eingekauft! Die schenkt er dem Mariechen und wir beide bekommen feine Zigaretten. Stumm sitzt Mariechen da, leise stammelt sie ihr »Danke schön«. Dann nestelt sie aus ihrem Haar eine Rose, legt sie auf ihr seidenes Taschentüchelchen und reicht es Wilm herüber. Ich erbitte mir die Rose, die sie am Kleid trägt. »Junge, Fritz, jetzt erst ist es auch für uns Weihnachten. Prost, Fritz. Stoß an!« Und dann nimmt er das Mariechen um den Hals und küßt es mitten auf den Mund. Entzückend sieht sie aus in ihrer Verschämtheit. Der Bruder stutzt. »Prost, Schwager, sollst leben, und das Maul hältste zu Hause! Stoß an!« Nachher wird noch eine ordentliche Weihnachtsfutterei abgehalten. Dann wird es Zeit für Mariechen und ihren Bruder, nach Hause zu gehen. »Fritz! Der Hotelier soll ein halb Dutzend Buddeln Schnaps fertigmachen. Die im Wald sollen auch was haben!« Die Zeit ist schnell vergangen. Wir führen unsere Pferde und gehen zwei zu zwei. Hier an der Querstraße muß endlich geschieden sein. Auf dem Heimwege hat Wilm gesungen und gepfiffen. Es ist längst Tag, als wir nach Hause kommen. Schlafen lohnt nicht mehr. Wir nehmen unsere Buddeln mit, und nun geht es von einem Bewohner zum anderen. Die freuen sich. Überall gibt es Kuchen, Süßigkeiten, auch haben alle einen Festbraten. Es ist ja auf dem Kamp geschlachtet worden. Für uns hat Chico Fleisch geholt. -72-
Auch dieser Feiertag ist schnell vergangen, und ehe die Sonne sinkt, sind die Flaschen leer, die Mundharmonika ist müde und die Mädel sind's auch. Sie haben sich tüchtig im Tanz gedreht und hocken jetzt draußen auf den Stubben und Klötzen. Am nächsten Tag kommt der Städter, kauft ohne Feilschen einem Brasilianer seine Rechte ab und sucht jetzt jemanden, der ihm schnell ein Haus bauen kann. Der Mann muß viel Geld haben. Auch unsere Bretter möchte er haben. Wilm aber sträubt sich und aus dem Geschäft wird nichts. Doch in drei Wochen haben die Kolonisten dem Manne Haus, Küche und Stall hingestellt. Zum Einzug hat er uns alle eingeladen. Das ist das erste Wohnhaus in dieser Gegend, das nach etwas aussieht. Einen großen Spießbraten gibt es zu verzehren, auch an Trinkbarem fehlt es nicht. Außerdem hat der Mann, Gruber heißt er, eine wunderbare Victrola und herrliche Platten! Das Jungvolk räumt den Hof auf, mit zusammengebundenen Ruten wird gekehrt, die noch vorstehenden Wurzeln und Spitzen werden mit der Axt weggehaue n, Holzpantinen und Pantoffeln fliegen auf die Seite und barfuß wird flott getanzt. So arm sie sind, so froh sind sie. Es wird gesungen, deutsche Lieder erklingen im brasilianischen Urwald. Auch die Brasilianer lassen sich hören. Fast graut der Tag, da ist die Einweihung des Hauses vorüber. In den Feldern scharren und kratzen die Hühner, die jungen Schweine tummeln sich im grünen Mais. Schaden können sie der Pflanzung nicht. Im Boden stecken so viele Würmer, wächst so viel Grünzeug, daß das Vieh ohne jede Pflege aufwächst. Schön ist es hier geworden. Der hohe Mais setzt die Kolben an. Der hohe Mais bedeckt und überragt die Stämme und Äste. Ein einziges großes grünes Meer, wogt es leise im Wind. Die wilden Bienen summen, Schmetterlinge sonder Zahl flattern bunt daher und aus dem Wald kommen liebliche Düfte. Schön ist es hier geworden und für Stunden vergißt jeder seine Mühe und Plage. Aber zum Stillestehen ist keine Zeit. Hier entsteht eine neue Welt, hier ist der Besiegte -73-
noch lange nicht restlos niedergerungen. Riesige Papageienschwärme, die dem Untergang entkommen sind, überfallen uns aus dem Hinterhalt. Den ganzen Tag schießen wir und können sie nur mühsam vertreiben. Aus sicherem Versteck brechen die Wildschweine hervor, verwüsten die mühselig angelegten Pflanzungen, zerreißen die Hunde und verschwinden blitzschnell. Das sind die Hunnen. Aber auch sie werden erlegt. Gürteltiere, Ameisenbären, Rehe, alles macht mobil gegen uns. Da kommt zuletzt auch noch der Tiger. Jetzt holen wir unsem Drilling hervor und als Jagdtrophäe hängt sein Fell in unserer Hütte. Wir helfen uns auch mit Pulver und Schrot, mit Sägen und Äxten, mit Arbeit und Lebensmitteln und sogar mit Blechplatten. Die Kinder müssen damit lärmen und trommeln, was das Zeug hält, müssen hin und her rennen, müssen die Vögel, das Wild uns entgegentreiben, das wir erbarmungslos abschießen. Wir schwimmen in Fleisch. Bald wird Fastnacht sein. Masken wird niemand nötig haben, buntgescheckt ist unsere Kleidung von den vielen Flicken. Und wenn noch etwas zur Vervollständigung des Kostüms fehlt, nehmen wir die bunten Vogelfedern und die verschiedenfarbigen Felle. Das erste Jahr ist herum. Dreißig Familien zählt die Siedlung. Weitere werden nachkommen. Der Mais ist reif. Die größte Not ist überstanden. Wer Mais ha t, hat alles.
-74-
Kolonisten untereinander Wir nennen sie die Rentner, das kinderlose Ehepaar Gruber. Er mag so an die Fünfzig sein, sie ist höchstens fünfunddreißig Jahre alt. Gruber hat jahrelang in der Hauptstadt eine größere mechanische Werksteine geleitet, hat gut verdient und ist für hiesige Verhältnisse aus dem Dreck raus. Seine einzige Arbeit sind die Blumen und das Gemüse. Frau Gruber betreut die Hühner und die Obstbäume. Die kleine Pflanzung lassen sie von den Nachbarn in Ordnung halten und bezahlen gut dafür. Ihr Haus haben sie sehr nett eingerichtet. Hübsche Stühle und Tische sind aus dem Städtchen gekommen, an den Wänden hängen geschmackvolle Bilder. Grubers sind die einzigen, die Betten aus Eisen haben, und auch die einzigen, die dem Gast einen Aschenbecher vorsetzen. Auch eine große Bücherei ist da. Zeitungen bekommen sie wöchentlich zweimal. Ein junger Kolonistensohn besorgt sie. Für diese und sonstige Gänge schafft Gruber ein Pferd an. Wir und andere besuchen ihn oft. Gesprächig ist der Mann nic ht, die Frau dafür sehr. Sie ist quecksilbrig und wir stehen bald mit beiden auf gutem Fuß. Etwas wie Neid beschleicht uns jedesmal, wenn wir die schön getünchten Wände sehen, die Sauberkeit, die Ordnung, die gepflegten Gartenwege, wo auch nicht ein Stubben mehr steht. Daran gemessen fühlen wir, wieviel uns noch zu tun übrigbleibt, wieviel Arbeit und Geld es noch kosten wird, bis wir einst soweit sind. Dann hauen wir wieder in die Arbeit hinein, und mit Erbitterung wird's geschafft. Wilms Haus steht schon im Gerüst. Jetzt beilen wir die Schindeln, eine langwierige Arbeit, aber die Nachbarn kommen uns zu Hilfe. In einem Monat wird es fertig sein und der Vogel hat's Nest gerichtet. Wilm aber besteht darauf, daß ich das gleiche Haus auf meinem Land bauen soll. Wenn der Winter zu -75-
Ende ist, sollen also zwei Häuser unweit voneinander stehen. Was ist da sonst noch alles zu schaffen! Gruber ließ sich einen breiten Weg zum Uruguay bauen. Er nimmt dort täglich sein Bad. Wir sind die ewige Durchschlüpferei im Walde satt, wir schätzen auch das Wasser und schlagen also auch unseren Weg zum Fluß breiter. Dann ist noch der Weg zum Kamp. Drei geschlagene Stunden braucht jeder, bis er den hinter sich hat. Würden wir ihn verlegen, könnten wir die Strecke um die halbe Zeit verkürzen. Und so stehen denn eines Tages über dreißig Mann da, und vierzehn Tage dauert es, bis die Straße verlegt ist. Sie ist so breit, daß sie auch für Fuhrwerke fahrbar ist. Im Winter hat der deutsche Bauer Kühe, hier aber wird gearbeitet im Sommer und im Winter. Hier gibt es keinen Stillstand. Gebaut muß werden und immer wieder gebaut. Der Winter steht vor der Tür. »Fritz«, sagt Wilm, als er eines Sonntagmorgens mit kleinen Palmbäumchen angeschleppt kommt, die er vor seinem Hause anpflanzen will, »Fritz, wir schaffen es nicht mit deinem Hausbau. Bei mir soll noch Küche und Schuppen gebaut werden. Nein, ich kann es mir überlegen, wie ich will, wir schaffen es nicht, und wir müssen's doch schaffen. Da ist hinten am Fluß ein Kolonist, der hat eine sehr große Familie, hat Pferde und sogar eine Milchkuh. Aber Mais hat er keinen. Ich verhandle dem Manne Mais auf Bretter. Was meinst du?« »Mir ist es recht. Mais haben wir ja genug und guten Preis hat er auch.« In wenigen Tagen stehen sechs Mann an der Säge, wir dazu gibt acht. Auch die Schindeln werden gegen Mais vergeben. Doch dann muß haltgemacht werden mit dem Maistausch, sonst kommen wir zu kurz. Wir aber haben, als der Frühling kommt, unsere Räume, Schuppen, Küchen, Hühnerställe fertig. In den ganzen Linien sind neue Wohnungen nur so aus dem Boden gestampft und das -76-
Zigeunerlager hat einen anderen Anstrich bekommen. Jetzt ist auch noch ein deutscher Tischler mitsamt Familie zugewandert. Nette Leute übrigens, der Mann hat den Feldzug als Lazarettgehilfe mitgemacht. Der Tischler macht uns unsere Möbel, die Arbeit geht ihm flott von der Hand, obwohl er bisher nie anders als an der Maschine gearbeitet hat. Das Zedernholz verarbeitet sich nicht so schwer, es ist sogar weicher als jedes andere Holz. Chico hat ein Boot aus Zedernholz gebaut, die andern Kolonisten haben es ihm abgesehen, und nun hat jeder sein eigenes Wasserfahrzeug. Von uns will Chico überhaupt nicht mehr weg. Wir sollen ihm Nahrung und Kleidung geben, hier und da etwas Taschengeld, einen Schnaps, Tabak, damit ist er zufrieden. Wir haben uns ebenfalls so an ihn gewöhnt, daß er uns fast unentbehrlich ist. Den ganzen Mais bricht er, schleppt ihn in selbstgeflochtenen Körben heim, und die Pferde versorgt er ausgezeichnet. Vier Kinder sind hier schon geboren worden. Die Frauen haben sich gegenseitig in ihrer schweren Stunde unterstützt, und es ist alles gut gegangen. Wieder schallen die Äxte, wieder wird der Wald niedergelegt. Dieses Frühjahr wird ein großer Keil in die festgeschlossene Linie getrieben, die Kolo nisten helfen sich gegenseitig aus. Viel wird gearbeitet werden, denn überall wird vom Bahnbau gesprochen, der dieses Jahr beginnen soll. Lehmann hat Land gekauft und wohnt nun unweit von uns. Wieder ein Brasilianer weniger, ein Deutscher mehr. Uns allerdings wär's lieber, wenn der Kerl dort wäre, wo der Pfeffer wächst. Aber Wilm ist doch froh, weil er sich öfters mit Mariechen treffen kann. Noch mehr verschönert er sein Eigentum. Die Stubben vor dem Haus hat er weggehauen und gebrannt und im Garten sieht es schön aus. Sonntagsarbeit! Die Zaunlatten sind gestrichen, das Haus innen und außen getüncht, Wandbilder hängen auch schon da. Bald wird der Brunnen fertig sein, bald auch die Viehställe. Ein -77-
mächtiges Kleestück ist in vollem Wachsen. Chico hat einen sehr praktischen Kochherd aus Steinen gebaut. Nur die Kochplatte fehlt noch. Auf meinem Land wird jetzt der Wald geschlagen. Merkwürdig! Wir arbeiten dieses Jahr noch mehr als im vergangenen. Die bessere Kost spricht da wohl mit, die Arbeit greift uns nicht mehr so an. Und da muß nun gerade bei mir so ein armer Brasilianer unter einen Baum kommen. Das linke Unterbein ist zerschmettert und baumelt nur so. Wir schleppen ihn auf einer primitiven Bahre zu Wilms Haus und wissen nicht, was mit dem Mann anfangen. Im Städtchen ist kein Arzt, nur ein Apotheker, der auch nicht helfen kann. Der nächste Arzt wohnt mindestens vierzehn Reitstunden weg. Bis der käme, wäre der Mann längst hin. Selbst Chico kann hier nicht helfen. Der Tischler, der das Fenster einsetzt, beschaut das zerschmetterte Bein und sagt, es müsse sofort abgenommen werden, sonst gäbe es Brand, und der Mann müsse jämmerlich verenden. »Im Lazarett habe ich so was oft gesehen, aber hier fehlt's ja an allem. Keine Instrumente, kein Chloroform, keine Watte, keine Gaze.« Da sage ich: »Säge ist doch Säge. Geht es denn nicht mit einer Spannsäge?« »Das hält der Mann nicht aus bei voller Besinnung.« Da ruft Wilm, man solle schnell Schnaps holen, der betäube auch. Chico springt durcli die Linie und bringt zwei Flaschen. In der Zwischenzeit hat der Tischler draußen die kleine Spannsäge haarscharf gefeilt, die Messer geschliffen, und nun ruft er uns heraus. »Trinkt tüchtig Schnaps, aber besauft euch nicht, denn ihr müßt den Mann nachher festhalten. Dem Kranken aber gießt soviel wie möglich ein. Je voller er ist, desto schneller geht's.« Nachbarsfrauen haben Kinderwindeln, Nabelbändchen und altes Linnen als Verbandzeug gebracht. Der Brasilianer döst nur so vor sich hin. Sie legen ihn auf den -78-
Tisch, legen ihm ein Kopfkissen unter, binden ihn mit einem langen Lasso fest, daß er sich kaum rühren kann, und dann stellt der Tischler jeden von uns an seinen Platz. Ich halte eine Holzschüssel mit Salzwasser bereit, das Verbandzeug liegt daneben, und ein Blechkanister, von dem der Deckel entfernt wurde, ist aufgestellt. Der Tischler nimmt das Messer zur Hand. Blitzschnell löst er das Fleisch vom Knochen, bindet die Adern ab, und während der Ärmste sich bäumt und schreit, schreit, daß ihm der Schaum vorm Munde steht und die harten Männer wachsgelb werden, hat er auch schon ein Stück Holz unter das Bein geschoben, und ich muß ihm die Säge hinlangen. »Festhalten, nicht loslassen, immer festhalten, nicht schlapp werden, gleich ist's vorbei, Courage, Kerls«, so schreit der Tischler, während die Säge durch den Knochen fährt. Klatsch! Das Bein liegt mitsamt dem Knie in dem Kanister. Und dann verbindet der Tischler den Mann, der längst in eine gnädige Ohnmacht gefallen ist. Wir sind alle erledigt. Erst als die Schnapsflasche kreist, drehen wir wieder bei. Jetzt trinkt auch der Tischler einen großen Schluck. Er ist mit seiner Arbeit fertig. Sechs Wochen hat der Brasilianer bei uns gelegen und Chico war sein Pfleger. Dann stand er auf, und mit der Krücke, die der Tischler ihm gemacht hat, humpelt er jetzt in unserer Pflanzung umher. »Wir werden den Onkel wohl auch bei uns behalten müssen. Was meinst du, Fritz?« »Wo soll er denn sonst auch wohl hin? Sein Futter wird er schon verdienen, Wilm.« Und er verdiente mehr als das. Er zog den Mais ab, fütterte das Vieh, besorgte das Wasser, kochte und wusch und ersetzte vollständig die Hausfrau. Als ihm dann später der Tischler einen Stelzfuß baute, arbeitete er wieder wie jeder andere auch, und alle Teile waren's zufrieden. Besonders Chico, der nun einen -79-
Kameraden hatte, mit dem er schwatzen konnte, wie ihm der Schnabel gewachsen war. Wieder wird der Wald in die Luft gejagt, und dieses Jahr hat sich die Anbaufläche bei allen gehörig vergrößert. Nun ist bei niemandem mehr Mangel an Lebensmitteln. Im Gegenteil! Die ersten Produkte werden verkauft, und die Neuankömmlinge finden alles, was sie benötigen. Auch eine Mahlmühle ist schon im Gang. Eine Schneidemühle wird nächstens errichtet und ein unternehmungslustiger Kaufmann will ein kleines Geschäft eröffnen. Einen Schmied erwartet die Kolonie auch in den nächsten Tagen. Langeweile kommt nirgends auf. Fast jeden Tag jagt eine Neuigkeit die andere. Jeden Tag geschieht etwas. Verhauen haben sich die Bauern auch schon. Doch das wird nicht lange nachgetragen. »Du vergibst mir, ich vergebe dir.« Damit ist es gut und abgetan. Man ist zu sehr aufeinander angewiesen. Da taugt Feindschaft zu gar nichts. Auch die erste Trauung haben wir schon gehabt. »Wie ist es, Wilm, willst du nicht auch bald loslegen?« »Sonntag will ich zu dem Kerl hin. Mal sehen, was der für Augen macht. Gehaßt ist der Mensch in seiner Nachbarschaft wie die Pest. Es gibt aber auch keinen, der freiwillig mit ihm zu tun haben mag. Damit du es weißt, er ist der zweite Mann der Frau und die Kinder sind seine Stiefkinder. Die Frau hat ihn eben genommen, weil er etwas Geld besaß und sie so ihre Landschulden bezahlen konnte. Schuften muß der Kerl allerdings furchtbar. Das ist auch seine einzige gute Seite. Wo der Mann nur die Kräfte hernimmt. Na, Sonntag wird's wohl einen Tanz geben.« Und so war es denn auch. Als Wilm zurückkam, ließ er den Kopf hängen. »Das Mädel müsse erst mal seine Windeln verdienen, sei überhaupt noch viel zu jung. Eben über siebzehn Jahre. Vor achtzehn Jahren solle kein Mädchen heiraten. Nein, -80-
er gäbe seine Einwilligung nicht. Überhaupt einem Menschen, der ihn einmal fast halbtot geschlagen habe, dem wolle er zeigen, daß er das nie vergessen werde.« Dann stand er auf und ließ Wilm im Zimmer stehen. Die Frau sei schon vorher weggegangen. Wie ein verängstigtes Tier habe sie dagesessen und keinen Laut von sich gegeben. Aber als er weggegangen sei, da habe er hinter der Wand lautes Schluchzen gehört, und das sei wohl das Mariechen gewesen. Mühe hätte es ihn gekostet, da wegzugehen, wo er am liebsten die Wand eingeschlagen, das Mädel getröstet und dem Alten das Leder versohlt hätte. Aber in einem fremden Hause, das sei solche Sache. Schließlich käme er da noch ins Kittchen. Das sei so was, jetzt, wo die Arbeit so drängte. Da nahm ich Wilm beim Arm und wir gingen zu Grubers, ließen uns die schönsten Platten vorspielen, gingen dann zum Tischler, bezahlten da unsere Rechnung, und als wir nach Hause kamen, wurde nach langer Zeit mal wieder Kasse gemacht. Die hatte ihren Knacks weg, obwohl wir kein Geld unnötig ausgegeben hatten. Wir konnten rechnen, wie wir wollten, uns blieb nicht viel übrig, und bis zur nächsten Ernte war es noch weit. Zwar lagen schon Schweine auf zur Mast, zwar wurde dieses Jahr die Pflanzung um das Dreifache vergrößert, und sie versprach ausgezeichnet zu werden, aber bis dahin waren wir eben auch glattweg blank. Es wird bald Zeit, daß der Bahnbau losgeht. Wieviel Holz, das jetzt nutzlos herumliegt, könnte für Eisenbahnschwellen verwendet werden. Wilm läßt das alles kalt, er schaut vergrämt drein und sagt nur so nebenbei: »Wir haben schon in ganz anderen Schwierigkeiten gesteckt. Das eine weiß ich: Gibt mir der Alte das Mädel nicht, dann reiße ich mit ihr aus und lasse mich beim erstbesten Schreiber trauen.« Am nächsten Tage geht ein argentinischer Holzhändler von Haus zu Haus und kommt auch zu uns. Hoppla! Die Hölzer kriegen also auch ohne Bahnbau Wert. Ist das ein Leben jetzt im -81-
Wald. An die hundert Äxte sind in Arbeit. Riesige Ochsen schleppen die schweren Klötze zum Fluß und dort werden sie zu Flößen gebunden. Geld läuft durch die Linien. Der ärmste Brasilianer hat Geld in der Tasohe und das Geschäft vergrößert sich schnell. Immer mehr Neubauten entstehen und nächstens wollen wir sogar eine Schule bauen. Die Jugend ist sonst auf dem besten Wege, zu verwildern. Ein Tanzsaal ist auch schon eingeweiht. Bunt geht es da zu, und die Kerle verwamsen sich, daß es nur so eine Art hat. Wenn dann noch die Holzfäller kommen, ist der Radau fertig. Polizei war schon mehrmals hier. Was will die gegen dieses Volk machen! Denen sitzt das Messer und der Revolver locker. Jemanden über den Haufen schießen oder niederstechen, ist denen eine Kleinigkeit. Das Boot stehlen und auf die andere Seite übersetzen, ebenfalls. Nachher kann die Polizei lange den Verbrecher suchen. Tagtäglich setzt es etwas ab, und wir verlangen sehnlichst nach der Zeit zurück, wo hier alles friedlich und still war. Aber Geld wird verdient. Jedes Ei, jedes Kilo Schmalz, Butter, Speck und Fleisch geht weg wie warme Semmehl. Chico und der Brasilianer haben vollauf zu tun mit Brotbacken. Geld wird verdient, und unsere Kasse schwillt!
-82-
Deutschbrasilianisches Schulwesen im Urwald Von der Schule wurde schon lange gesprochen, denn die Jungen und Mädel wachsen heran und verwildern. So kommen denn eines Sonntags die Familienväter zusammen in der Venda Geschäftshaus - und beratschlagen, was zu tun sei. Zuerst muß ein Stück Land besorgt werden. Das ist allen klar, groß genug für eine Familie muß es auch sein, denn der Kolonielehrer muß Pflanzland haben. Mit ledigen Lehrern hat man sowieso nichts im Sinn. Das hätte schon in der alten Kolonie nicht gut getan und so will man's in der neuen gar nicht erst anfangen. Also wird man außer der Schule auch noch Haus, Küche und was sonst dazugehört bauen müssen. Wer aber übernimmt den Bau? Wer führt ihn? Sie beraten lange hin und her, um dann den Tischler zu wählen. Den kennen sie alle und von dem weiß man, daß er in seiner Art genau ist, weil er etwas versteht. Der Tischler soll den Plan machen und am nächsten Sonntag wird die Gemeinde wieder zusammenkommen. Ja, das war ein famoses Gebäude, das er entworfen hatte. Aber dann kam die Kostenrechnung, und die war nicht gering. Die Kolonisten stutzten, das war zuviel für sie. Warum das Gebäude überhaupt so groß sein müsse? Der Tischler sagte, damit es auch zu gleicher Zeit als Kirche dienen könne. Schon war der Krach fertig. Die Gemeinde besteht aus mehreren Konfessionen, Katholiken, Protestanten und Sektierern, die einer nordamerikanischen Glaubensbewegung angehören. Deren Pastor ist zufällig anwesend. Ein junges Bürschchen, das schon seit Wochen bei Lehmann wohnt und dort auch Gottesdienste abhält. Seine Gemeinde ist noch sehr klein und seinen Sitz hat er -83-
sehr weit von hier. Man begreift nicht so recht, daß er sich wegen der paar Leute hierher bemüht. Er ist aber einmal da und den Zutritt ins Geschäftshaus kann ihm niemand verwehren. Lehmann steht neben ihm. Ein alter Kolonist bittet ums Wort. »Schule ist Schule und sonst gar nichts. Wer eine Kirche haben will, der soll sich eine bauen.« »Bravo«, schreien einige Auslandsdeutsche. Ein anderer Kolonist erklärt, wenn in der Schule keine Religion gelehrt werde, schicke er seine Kinder nicht hin. »Bravo«, schreien etliche Kolonisten. Ein dritter Kolonist fragt, wie denn Religion gelehrt werden solle, wenn drei Glaubensrichtungen vorhanden seien? Da schweigt alles. Der alte Kolonist steht nochmals auf: In seiner Heimat sei es so gewesen, daß der Lehrer nur Lehrer war. Wenn die Vorbereitungszeit kam, dann gingen die Schüler zweimal wöchentlich zu ihrem Pfarrer. Der unterrichtete sie, und alles war in Ordnung. Das ließe sich hier wohl auch durchführen. Ein deutscher Sozialdemokrat bemerkte: »Religion ist Privatsache. Meine Kinder lernen den Quatsch nicht mit. Ich glaube an solch Blech überhaupt nicht und die Gören sollen den Schädel erst gar nicht damit vollgepfropft kriegen. Sonst schicke ich meine Kinder nicht.« »Dann bist du ja gerade so wie meine Kuh, die glaubt auch nichts«, ruft einer aus der Menge. Jetzt lacht alles. Da steht wieder einer auf und meint, das wäre doch alles nur müßiges Gerede: erst müsse der Bau beschlossen werden, dann kämen die Satzungen heran. Wenn die durchberaten wären, dann könne auch noch über sonstiges gesprochen werden. Aber der kommt schlecht an. »Ist das so? Erst soll die Schule gebaut werden, sollen wir Arbeit und Geld dranhängen, und nachher müssen wir's nehmen, wie's der Vorstand beschließt. Ich will überhaupt mal wissen, ob der Lehrer ein Katholik oder -84-
ein Protestant wird! Zu einem Protestanten schicke ich meine Kinder nicht.« Das ist das Signal. Die Männer springen auf, stehen sich kampfbereit gegenüber. Einer schreit: »Was hast du gesagt? Ein Protestant hat dir für einen ganzen Monat Obdach gegeben, als du mit deiner Familie angewandert kamst. Hat dir was gefehlt? Hat meine Frau nicht deiner Frau bei der Geburt geholfen? Haben meine Mädchen ihr nicht die Wäsche gewaschen? Haben sie dir nicht die Küche geführt? Sind wir nicht schon fast zwei Jahre Nachbarn? Sind wir nicht bis jetzt gut miteina nder ausgekommen? Halt's Maul! Unterbrich mich nicht! Und du Hundsfott willst uns Protestanten verachten? Spuckst in den Napf, daraus du gefressen hast? Du Lump hast keine Nachbarschaft mehr mit mir. Geh an meiner Tür vorbei! Tust mir einen großen Gefallen!« Und dann spuckt er dem ändern vor die Füße. Einen Augenblick herrscht Stille, dann räuspert sich der junge Pfarrer. »Verehrte Anwesende! Der beste Streit taugt nichts, und um dem Streit aus dem Wege zu gehen, möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen. Wie ich sehe, kommen Sie so niemals zu einem endgültigen Entschluß. Dafür sind die Meinungen zu sehr gespalten, die Gemüter zu erregt. Fragen dieser Art müssen mit der größten Ruhe und Überlegung erledigt werden. Nur so kann Gedeihliches zustande kommen; bei allem, was dauernden Bestand haben soll, ist das so gewesen, und es wird auch hier so sein.« Dann schlägt er andachtsvoll die Augen nach oben, faltet fromm die Hände und will fortfahren, da ruft Wilm ihm zu: »Na, Sie Gottesstreiter, denn man raus mit der Sprache, wie Sie die verfahrene Karre aus dem Dreck ziehen wollen.« Lehmann springt für den Pfarrer ein und belfert los: »Dich kümmert so was überhaupt nicht, verstehst du? Schaffe du dir erst mal eine Familie an, und dann stelle dich hier -85-
zwischen Leute, die einen Bart im Gesicht haben!« Wilm prustet vor Lachen: »Sagen Sie das mal Ihrem Pfarrer, der hat ein Gesicht wie ein Spanferkel. Und die Familie schaffe ich mir sofort an, wenn ich mir das Mariechen nächstens hole.« Das ist ein Radau! Einer versteht des andern Wort nicht mehr. Lehmann setzt öfter an, kommt aber nicht zu Wort. Dem Pfarrer ergeht es geradeso. »Wer hat denn hier überhaupt das Wort zu führen? Sind wir nicht in einem öffentlichen Lokal? Wenn ihr Versammlungen abhalten wollt, in denen man ums Wort bitten muß, dann wählt gefälligst erst einen Vorstand!« Ein anderer Ausländer ruft das. »Ich schlage Lehmann als Präsident vor«, schreit Wilm. Jetzt lachen sie alle. Lehmann aber zittert vor Wut, und der junge Pfarrer redet beruhigend auf ihn ein. Der alte Kolonist, der zuerst gesprochen, meldet sich wieder: »Wir sind einer auf den ändern angewiesen und bis jetzt ist die Kolonie gut dabei gefahren, und Zank und Streit hat's wenig gegeben, und wenn's mal vorkam, hat einer dem ändern verziehen und nichts nachgetragen, weil wir Menschen alle Fehler haben. Die Einigkeit hat der Kolonie vorwärts geholfen und sie soll auch weiter dazu helfen. Jeder soll zu seiner Religion halten, aber auch die des anderen achten. Dann gibt es nie Streit. Auch diese Schule wird nicht religionslos. Das Vaterunser wird wohl jedes Kind beten können, ohne daß sein Seelenheil daran Schaden nimmt! In jedem Schulbuch stehen so viele Gebete und Sprüche, die von allen Kindern gelernt werden können. Die Schule selbst aber soll nur Schule sein. Wo soll das hinführen, wenn heute dieser, morgen jener Geistliche Gottesdienste darin abhält. Das gibt nur Verdruß, und den wollen wir von Anfang an ausschalten. Kirche ist eben Kirche, Schule ist Schule. Kommt einmal ein Geistlicher, kann er genug Raum anderswo bekommen. Heute fehlt es ja nicht mehr an Räumlichkeiten. Oder werden nicht schon lange die Andachten -86-
bei Königs jeden Sonntag abgehalten? Hält der junge Pfarrer bei Lehmanns nicht auch seine Gottesdienste? Fangen wir also zuerst mit dem an, was am meisten not tut, und wenn das in Ordnung gebracht ist, dann geht es einen Schritt weiter. Aber immer werden wir uns gegenseitig helfen. Denn das gehört sich nun einmal so! Wie ist es nun? Fangen wir mit der Schule an oder nicht?« »Da möchte ich doch noch einige Worte sprechen, wenn es erlaubt ist«, sagt der junge Pfarrer. Niemand widerspricht, denn alle lassen sich die Worte des alten Kolonisten durch den Kopf gehen. »Ich bin von meiner Synode beauftragt, Ihnen mitzuteilen, daß sie den Schulbau übernimmt und ihn fix und fertig hinstellt, wenn es der Gemeinde an Geld fehlen sollte. Sie knüpft daran nur die Bedingung, daß der Unterricht von mir geleitet wird und die Schule gleichzeitig als Kirche dient, worin jeden Sonntag Gottesdienst stattfindet. Wenn Sie diesen Vorschlag annehmen, sind Sie aller Sorgen ledig und ist der Schuljugend geholfen. Für das erste Schuljahr sind Sie zahlungsfrei. Nur die Schulbücher haben Sie zu kaufen.« »Das sind dann doch wohl Schulbücher, wie Sie Ihre Schulen führen?« »Ja, natürlich.« »Und die Aufsicht führt dann wohl auch Ihre Synode?« »Das ist doch wohlselbstverständlich.« »Schulvorstände gibt's demnach nicht?« »Nein.« Dieses Frage- und Antwortspiel geht zwischen dem alten Kolonisten und dem Pfarrer. »Dann wollen wir uns. die Sache gar nicht lange überlegen. Die Schule bleibt Schule, und bestimmen tun wir darin! In der Kirche mögen das die Pfarrer tun. Wie ist es, Männer? Fangen -87-
wir nächstens an oder nicht? Ist es schon so weit, daß man uns eine Schule bauen muß? Kriegen wir so was nicht mehr selbst fertig? Sind wir Bettler, denen man etwas schenken muß? Soll es in den alten Kolonien heißen, wir wären schon dahin gekommen, daß unsere Kinder wild aufwüchsen? Wenn eine Familie hierherzieht, soll sie ihre Kinder dort lassen, weil sie hier verkommen? Wir müssen die Schule bauen, damit immer mehr Einwanderer kommen, und wir müssen die Schule bauen, damit wir die Kolonie heben, damit wir uns sehen lassen können und uns nicht zu schämen brauchen. Und wir ehren uns selbst, wenn wir so schnell wie möglich damit anfangen. Wer hilft mit?« Da hat Wilm einen Hunderter auf den Tisch geworfen und gesagt. Ledigen sei es doch wohl auch erlaubt, teilzunehmen am Schulbau. Der alte Kolonist drückt ihm froh die Hand. Schon lege auch ich einen Hund erter daneben, und das wirkt ansteckend. Einer der Männer schreibt Namen und Geld auf und schnell ist ein großer Betrag zusammen. Es gibt Leute, bei denen das Bargeld knapp ist, und die wollen auch gern mithalten. Sie sollen Holz und Arbeit liefern. Der Tischler aber erbietet sich, einen ganzen Monat unentgeltlich zu schaffen. Etwas wie Begeisterung überkommt die Männer. Nur Lehmann und der Pfarrer halten sich abseits. Schnell ist jetzt eine Baukommission gewählt, schnell ist der Bauplan mit einigen kleinen Abänderungen angenommen, ist der Anfangstag bestimmt, werden die Erdarbeiten vergeben, und als dann alles erledigt ist, da wird ein Krug Bier getrunken. Der alte Kolonist aber holt sich die zwei Streithähne, den Katholiken und den Protestanten, vor, legt beider Hände ineinander und sagt schlicht: »Da vergibt einer dem ändern und macht jeder einen dicken Strich unter das Vorgefallene. Kommt und trinkt eines miteinander!« Nachher wurde es dann noch ganz lustig. Es wurde gesungen und auch Lehmann taute langsam auf. Wilm schob sich zu ihm -88-
hin und trank ihm zu. Erst wollte er nicht Bescheid tun, aber als Wilm sich breitbeinig vor ihm aufpflanzte und ihn anäugte, da trank er, und sagte auch kein Sterbenswörtchen, als Wilm ihm derb auf die Schulter klopfte und ihn Schwiegervater nannte. Zwei Monate später war die Schule fertig und mit einer schlichten Feier eingeweiht. Die restlichen Schulden wurden schnell durch Sammlungen eingebracht. Schmuck stand das Gebäude da und war eine Zierde für den Ort. Jetzt konnte ein Lehrer kommen.
-89-
Vom Doktor, Lehrer und sonstigen Eine neue Querstraße ist gebaut worden, und leider ist Lehmann uns nun ganz nahegerückt. Läge nicht das kleine Stück Wald dazwischen, könnten wir ihm in die Bude gucken. Aber auch so treffen sich Wilm und Mariechen. Sie entwickelt sich prächtig, wird voller und ist doch von einer Zartheit, die gar nicht zu einem Kolonistenmädel paßt. Aber so schön sie nun auch wird, so einfach bleibt sie. Mir ist's manchmal, als wenn sie in eine andere Umgebung gehöre als hierhin, wo Arbeit und Sorge ihre Hütte haben. In der letzten Zeit geht sie etwas schwermütig einher. Ausgelassen war Mariechen ja nie und ein stiller wehmütiger Zug war ihr stets eigen. Ob das die lange Wartezeit macht? Nun, die wird auch vorübergehen. Bei Lehmann gibt es oft Spektakel. Dem können die Leute nie genug arbeiten, dem ist der Tag nie lang genug. Jüngst war die eine Tochter zu Besuch, aber nur für einige Tage. Sie hat sich mehr bei den Nachbarn aufgehalten als zu Hause und ist schnell wieder abgereist.Diese Tochter, ein ganz nettes Frauenzimmer, ist Näherin geworden und ging sehr gut gekleidet. Fast kamen wir uns ihr gegenüber schäbig vor. Was ist aus unseren Anzügen geworden! Sie kommen allmählich aus der Mode und wer hält sie uns instand? Dieses verdammte Junggesellenleben verludert uns zwei Kerle ganz und gar, mitunter laufen wir einen ganzen Monat unrasiert herum. Im Walde legt sich niemand einen Zwang auf. Wozu auch? Wir kennen uns ja zu genau, da gilt eben der Mann und nicht die Kleidung. Bei den Frauen ist es nicht viel anders. Ein einfaches Waschkleid, eine Schürze darüber, sonntags statt barfuß ein Paar Lederpantoffel an den Füßen. Das Barfußgehen haben wir bald gelernt, wir laufen heute ebenso sicher über Stämme, Stock und Stein wie die anderen Kolonisten auch. Bei der Jagd ist das von -90-
großem Vorteil, man kommt schneller vorwärts. Beim Klettern in die Bäume aber erst recht. Der Mais drängt zur Reife und wir sind wieder sehr von Wild geplagt. Diesmal sind neben den Wildschweinen die Affen die größten Schädlinge. Wieder knallt es den ganzen Tag. Schrecklich ist es anzusehen, wenn ein Affe abgeschossen wird, von Ast zu Ast taumelt und zu Boden fällt. Ist er gleich tot, geht's noch. Lebt er aber noch, dann jammert und klagt er und drückt die Hände auf die Schußwunde, er nimmt menschliches Wesen an, und man gibt ihm schnell den Gnadenschuß. Chico und der Brasilianer feilen die Tiere ab und essen sie. Für die ist das ein Hochgenuß. Wir halten uns an die Wildschweine, die ein ausgezeichnetes Fleisch liefern, das man auch räuchern kann. An Fischen fehlt es uns ebenfalls nicht. Doch überlassen wir den Fang den beiden. Sie hocken die halbe Nacht am Fluß, lassen sich von dem schwelenden Dunst einräuchem, kommen aber immer mit einigen strammen Bengeln an. Köstlich schmecken diese Fische, wenn sie zwischen glühend gemachte Steine gelegt werden und in ihrem eigenen Fett braten. Das ist was für Feinschmecker, auch für unseren neuen Doktor, der sich beim Tischler einquartiert hat und oft zu uns kommt. Ein sonderbarer Mensch! Dürr und hager, fast ohne Brust und dabei zwei Meter hoch. Er hängt vornüber, trägt eine große Intelligenzbrille und hat stets einen mächtigen Stock bei sich. Die langen Beine stecken in Wickelgamaschen und lassen die Hagerkeit noch deutlicher erscheinen. Wie die Beine, so die Arme, und an den langen, sehr schmalen Händen sitzen Spinnenfinger. Das Gesicht ist auch lang und fast ausdruckslos, die kräftige Baßstimme ist das einzige, was dem langen Mann Männliches verleiht. Doch hat ihn jeder gern. Er macht meistens den Zuhörer. Wenn er einmal etwas sagt, dann ist es wenig, aber wertvoll und trifft immer den Nagel auf den Kopf. Er hat noch nicht viel zu tun, das kümmert ihn aber nicht. Er wird wohl nicht dringend auf baldigen Erwerb -91-
angewiesen sein. Bei Grubers verkehrt er sehr viel, bringt neue Platten mit und manchmal auch die Geige. Er spielt sie wunderbar, und er kann mit seinem Spiel die Menschen zu Tränen rühren. Einen Gesangverein hat er auch schon gegründet. Was allen auffällt: er trinkt keinen Alkohol und raucht äußerst mäßig. Um die Vierzig herum muß er sein. Die Linien haben wieder vollauf Gesprächsstoff. Warum sich der Doktor eigentlich hier niederlasse? Im Städtchen hätte er doch ein ganz anderes Leben und verdienen könne er dort auch viel mehr. »Kannst ihn ja mal danach fragen«, sagt der also Angeredete, »dann weißt du es ganz genau.« Auf die Frage hat dann der Doktor geantwortet: »Um Ihnen Ihre kranke Leber zu kurieren, bin ich hier.« Dem Neugierigen blieb die Spucke weg, dann dämmerte es ihm so langsam, daß der lange Kerl von Doktor doch etwas mehr verstünde als er, und er ging zu ihm und ließ sich heilen. Da war dann noch Herr Schönwald. Ein ehemaliger Oberbuchhalter aus Berlin. Der murkste in seinem Grünkohl, züchtete Kaninchen, die ihm die Nachbarshunde fraßen, verlegte sich auf Spargelkultur, die schlecht gedieh, und als er dann endlich damit Erfolg hatte und den Spargel ins Städtchen brachte - kannte kein Mensch das Zeug. Nicht mal die Badegäste. So mußte Herr Schönwald den ganzen Spargel allein aufessen und wurde noch runder, als er ohnehin schon war. Darauf machte er noch einen Versuch mit Konserven und dann war sein Geld alle. Herr Schönwald hatte eben seine letzte Hose gegen das Licht gehalten, sah, daß sie schon recht fadenscheinig war und daß er bald gar keine ungeflickte Hose mehr haben würde. Das geschah zur selben Zeit, als seine Frau die Brennschere entzweibrach, den Zwicker verlor, und seineTochter fand, daß der Nachbarssohn eigentlich gar nicht so uneben sei und sie sich das mal überlegen wolle. Denn wenn man so an die Dreiundzwanzig kommt... -92-
Zu dieser Zeit also wurden die Schulvorstände einig. Herrn Schönwald, der ihre Korrespondenz erledigte, die Ausgabenliste beim Schulbau, dem Geschäftsmann, dem Müller, dem Schmied die Bücher geführt hatte und eine wunderschöne Handschrift besaß, als Lehrer anzustellen. Das geschah zur selben Zeit, als Lehmann seine Frau mit der Waldsichel totschlagen wollte und sie zur Nachbarschaft floh, dort eine ganze Woche blieb und nur mit Mühe und Not zur Heimkehr zu bewegen war. Auch der Sohn war der Mutter nachgegangen, kam aber nicht mehr zurück, sondern verdingte sich als Knecht. Zwei Tage vor Frau Lehmanns Rückkehr kam Mariechen zu Wilm gelaufen, weinte und zitterte und flehte Wilm an, er solle sie doch nicht anrühren, er solle sie lieber totschlagen, und redete zuletzt ganz irr. Wilm holte mich herein. Wir legten das Mädchen aufs Bett, standen dann dabei und wußten nicht, was mit dem armen Ding anfangen. Sie weinte und schluchzte unaufhörlich, der zarte Körper flog nur so. Unheimlich ist es uns da geworden. Schließlich hat Wilm seinen Gaul geholt und den Doktor herbeigeschleppt. Das hat lange gedauert, denn der kann ja nicht reiten, weil er kein passendes Pferd findet. Er hat dem Mariechen einige Tropfen eingeflößt und gemeint, da wäre eine schwere Gemütsstörung im Gange. Als es Tag ward, ist Mariechen wieder zum Bewußtsein gekommen, hat uns verwundert angesehen und will dann mit einem Male fort, nur fort. Wilm und ich mögen auf sie einreden, wie wir wollen, sie will eben fort. Je weiter, je lieber. Dann schreit sie plötzlich auf, wir möchten ihr doch helfen, daß sie nicht mehr zu dem Stiefvater zurück müsse. Der Doktor macht ein sehr bedenkliches Gesicht und läßt durch mich die Mutter herbeiho len. Da beruhigt sich Mariechen und wir lassen Mutter und Tochter allein. Später hat unser Doktor das Mädchen mit sich genommen, sie wird fürs erste beim Tischler wohnen, der eine sehr nette Frau hat. Wilm aber kann sich nicht halten, er -93-
will zu Lehmann. Irgend etwas muß er anstellen, und wie ich ihn kenne, bestimmt nichts Gutes. Da gehen wir schon besser zu zweit. Lehmann hackt Holz und schaut uns verdutzt an. Wilm nimmt ihm kurzerhand die Axt weg und drückt ihn auf den Hauklotz nieder. »So, da bleibst du sitzen und rührst dich nicht. Mariechen ist heute nacht zu mir gelaufen und jetzt wohnt sie beim Tischler. Wie lange sie dort bleibt, weiß ich nicht. Aber das eine weiß ich: hierher kommt sie nicht zurück. Wenn der Doktor sie gesund kriegt, lasse ich mich mit ihr trauen, ob es dir paßt oder nicht. Und das merk dir, kommst du mir quer, bist du dagegen, legst mir Schwierigkeiten in den Weg, dann hast du die längste Zeit gelebt! Hast du verstanden? Dann richte dich danach. Und nun mal aufgestanden und das Zeug und die Papiere des Mädchens herausgelangt!« Gar nicht gesträubt hat sich der Alte und wir ziehen mit einem kleinen Bündel ab. Das hat Wilm ihr dann noch am selben Tage. gebracht. Beim Doktor hat er sich auch noch erkundigt und der sagte, Gefahr bestünde nicht, das Mädchen müsse nur einige Zeit Erholung und Ruhe haben, damit die Nerven wieder in Ordnung kämen. Sie habe sich über etwas sehr aufgeregt. »Wer weiß«, sagte Wilm zu mir, »wie das arme Ding Tag und Nacht hat schuften müssen, weil zwei Menschen weniger im Hause waren und die Arbeit doch geschafft werden mußte. Fein wird er nicht mit ihr umgesprungen sein. Aber jetzt hat sie es gut.« Tischlers sind kinderlos und die Frau päppelt Mariechen wie ein kleines Kind. Der Doktor gibt ihr seine Tränkchen und danach bekommt sie mächtigen Appetit und futtert sich schön heraus. Wilm erzählt uns das alles, denn zweimal wöchentlich geht er hin. Er ist jetzt wieder der frühere Wilm, der lacht und schimpft und drauflos arbeitet, daß die Schv/arte knackt. Wir stecken ja -94-
alle noch zu sehr im Anfang. In den drei Jahren ist vieles geleistet worden, und dennoch, wieviel bleibt jedem noch zu tun. Das ist der Segen der Arbeit, daß man gar nicht zur Besinnung kommt und keine dummen Pläne macht. Die Linie hat wieder einmal neuen Gesprächsstoff und die Zeitung wird überflüssig. Sie hat den neuen Schulmeister zuerst gehörig durchgehechelt und seine Lehrmethode unter die Lupe genommen, die so ganz und gar nicht zu dem Althergebrachten paßt. Doch dann haben der Geschäftsmann und die Handwerker aufgemuckt, der Doktor hat die Schule inspiziert und für sehr gut befunden. Der Doktor hat jetzt schon ein sehr gewichtiges Wort mitzusprechen, er wird als tüchtiger Mann respektiert. Neulich haben sie ihn nach dem Kamp geholt. Weil er immer noch kein passendes Pferd gefunden hatte und darum nicht reiten kann, spannten sie den Wagen an und fuhren wie toll drauflos, denn es ging auf Tod und Leben. Die Frau eines großen Viehzüchters war von einem Stier auf die Hörner genommen und aufgespießt worden. Der Doktor nahm den Tischler als Assistenten mit und die zwei arbeiteten stundenlang. Dann blieb der Doktor mehrere Tage da, bis die Krisis vorbei war. Dem Manne berechnete er nur einen ganz mäßigen Preis. Aber der wollte nichts umsonst haben und schenkte dem Doktor als Zeichen seiner Dankbarkeit ein Rennpferd. Ein Halbblut von einer Höhe, wie es der Doktor schon lange gesucht hatte. Die Kranken strömen jetzt von weit und breit herbei, der Tischler ist zum Apotheker avanciert, seine Frau zur Krankenschwester und Mariechen hilft mit. Der Geschäftsmann aber baut ein Krankenhaus und nun wird wieder Geld verdient. Alle Produkte werden besser bezahlt und der Doktor ist sozusagen der erste Mann im Dorf, der Tischler der zweite. Der hat seine komplett eingerichtete Werkstelle zu verkaufen. Bei Lehmanns ist der junge Pfarrer wieder eingekehrt. Zuerst hatte er ziemlich Zulauf, das nächste Mal schon weniger, und als -95-
er zum dritten Male kam, predigte er nur noch vor Lehmann allein, denn dessen Frau war wieder fortgegangen. Das muß dem Gottesmann wohl zu einsam gewesen sein, denn von da ab kam er nicht mehr. Zu gleicher Zeit geschah das Unglück mit Herrn Gruber. Der war unheilbar krank und auch das Leben im Walde konnte ihm nicht mehr helfen; er wurde so dick, daß er nur noch ein wandelnder Fettklumpen war, konnte sich kaum noch bewegen, und es verwunderte uns alle, wie er es fertigbrachte, sein Gewehr zu laden und sich zu erschießen. Das war zur selben Zeit, als der Doktor endlich reiten konnte, ohne mit den Füßen den Boden zu berühren, und als der Gesangverein zum ersten Male öffentlich auftrat, viel Beifall und neue Mitglieder bekam. Damals hat der Doktor Wilm auf die Seite genommen und ihm gesagt, sein Mariechen sei jetzt gesund, er solle nur aufpassen, daß ihr Aufregung erspart werde, denn sie habe ein sehr schwaches Herz, gehöre eigentlich nicht auf die Kolonie, sondern an einen Ort, wo Behaglichkeit und Schönheit zu Hause seien. Wilm hat ihm in die Hand versprochen, daß er Mariechen das alles verschaffen wolle, und die Victrola von Grubers habe er deswegen schon gekauft. Gut solle Mariechen es bei ihm haben und zart wolle er mit ihr umgehen. Das Mädchen ist ungewollt dazugekommen, hat wohl die letzten Worte gehört, hat Wilm um den Hals genommen und das blonde Köpfchen vertrauend an seine breite Brust gelegt. »Gut sollst du's bei mir haben. Mariechen.« Vierzehn Tage später waren sie ein Paar. Trauzeugen waren der Doktor, der Tischler und ich, und die Feier verlief sehr schlicht und still, so wie es Mariechen gewünscht hatte.
-96-
Herr Wiebusch Auf einem schönen Esel kam er angeritten und ein mit schwerem Ranzen beladenes Packpferd zog er hinter sich her. Sie kannten ihn fast alle, den Herrn Wiebusch. An die fünfzehn Jahre durchzog er nun schon die alten und die neuen Kolonien, den Kamp, und verkaufte seine eigenen und fremden Medizinen, Pflaster, Salben und was die leidende Menschheit sonst braucht. Da waren wenige Häuser, in denen er nicht einkehrte, und es gab genug Gegenden, wo nur er verkaufte und kein anderer Konkurrent hochkam. Als armer Drogist war er von drüben ausgewandert, dachte hier Reichtümer auf der Straße zu finden und war sehr enttäuscht, als dann alles so ganz anders kam. Mehrere Jahre hatte er sich als Knecht, gewissermaßen als Mädchen für alles, herumgedrückt, und landete schließlich in einer größeren Apotheke. Dort erlernte er die Landessprache und sah, woran es den Kolonisten fehlte. Ärzte gab es nur wenige, Apotheker fast gar keine. Da nahm der Gedanke, den Kolonisten eine Hausapotheke zu besorgen, immer festere Formen an, und eines Tages war er so weit, einen neuen Lebensabschnitt einzuleiten. Das Geschäft ging gut, weil es etwas ganz Neues war für die Kolonien. Was den Apothekern fehlte, führte er noch besonders mit sich. Es gab einen Extraschlager: Schlangengift. Das brauchte jedes Haus und das hatte schon oft ausgezeichnete Dienste getan. Für die Frauenwelt führte er noch besondere Artikel, und die waren sehr gesucht. Herr Wiebusch verdiente jahrelang Geld wie Heu und hätte sich längst eine große Apotheke zulegen oder eine Klinik einrichten und einen Arzt als Teilhaber nehmen können, doch er hatte sich mit den Jahren so an das Wanderleben gewöhnt, daß ihm nur noch draußen wohl war. Bis er dann eines Tages mal -97-
unglücklich unter seinen Esel zu liegen kam. Von der Zeit an beschäftigte ihn der Gedanke, sich ansässig zu machen. Seine vierzig Jahre mochten da wohl auch mitsprechen. So war er denn nun auch in unsere Kolonie gekommen, verkaufte Haus für Haus seine Waren, frischte alte Bekanntschaften auf, biederte sich mit allen an, und als vierzehn Tage vorbei waren, hatte er Frau Grubers Grundstück erworben und stand mit dem Geschäftsmann in Verhandlungen. Der jedoch verlangte einen unverschämten Preis. Da kaufte Wiebusch alle Ecken und Kreuzungen, an denen mit den Jahren der Verkehr stark werden würde, auf. Nun ward der Geschäftsmann gefügig und schlug los. Nach einem Monat war Herr Wiebusch selbst Geschäftsmann geworden, hatte des Lehrers Schönwald Tochter hinter die Tonbank gesteckt und für die gröberen Arbeiten Lehmanns Jungen gedungen. Das Krankenhaus hatten Tischlers übernommen und hatten Leute hineingesetzt, die die Küche besorgten. In seiner freien Zeit griff der Tischler wieder zu Hobel und Säge, verschönerte, verbesserte und vergrößerte das ganze Gebäude, umgab es mit einer breiten Veranda, und nun sah das Haus schon einladender aus. Die Schattenbäume würden bald groß sein, denn Platanen wachsen sehr schnell. Auch Blumenbeete wurden angelegt, dem Tischler schwebte so etwas wie ein Sanatorium vor. Die Kolonie aber strebt mächtig vorwärts. Immer noch blüht der Holzhandel und bringt viel Geld. Die Produkte steigen gewaltig im Preise, der Zuzug neuer Einwanderer hält ungebrochen an. Nur vom Bahnbau hört man nichts mehr. Dafür beginnt jetzt auf der anderen Seite des Uruguay eine großzügige Privatkolonisation. Land- und Produktenpreise werden noch mehr in die Höhe gehen. Auch zu uns kommen Kolonisten und wollen kaufen. Manchmal schwanken wir. Aber uns ist die Erde hier allmählich Heimat geworden. Zuviel Arbeit und Schweiß klebt an dieser Scholle, und anderwärts werden wir auch arbeiten müssen, da ist -98-
es schon gleich, wo man ist. Aber viel Veränderung gibt's. In kurzer Zeit wechseln die Besitztümer drei- bis viermal. Man sieht viele fremde Gesichter. Auch von den Neudeutschen zieht ein halbes Dutzend auf die andere Seite. Sie haben durchweg gut verkauft, können für das erworbene Geld drüben mehrere Kolonien Land kriegen, auszahlen und doch noch Geld übrigbehalten. So mancher von den hier ansässigen Kolonisten hat so günstig verkauft, daß er seinen Kindern Land geben kann. Wohl erwartet ihn drüben wieder ein schwerer Anfang, aber die Kinder sind versorgt, und das ist ihm die Hauptsache. Bei uns aber ist es jetzt schön. Endlich eine Frau im Hause! Die Küche blinkt nur so. Ein prächtiger neuer Kochherd steht auch da. Aus Holzbetten wurden eiserne. Chico und der Brasilianer haben unsere alten Bettstellen geerbt und sind nicht wenig stolz drauf. Wir essen zu dritt bei Wilm. Die beiden Hausgenossen kochen sich ihre Mahlzeiten in meinem Hause. Das paßt ihnen besser, sie brauchen sich dann keinen Zwang aufzuerlegen, essen, was ihnen schmeckt, und essen mit den Fingern. In allen Ecken stehen Blumen. Wilm hat Blumentöpfe aus Holz gebaut. Auf der Veranda ist ein wahrer Blumengarten und die Fenster haben sogar Gardinen. Auch unsere Wäsche erhält einen neuen Anstrich, ebenso unsere Anzüge. Nachts schlafe ich im eigenen Hause. Die zwei sollen ihre Flitterwochen ungestört verleben. Wilm ist ein ganz anderer geworden. Ein großes Kind ist er, wenn er so mit Mariechen herumtollt. Neulich, als ich zum Essen herübergehe, trägt er das Frauchen auf den Armen durch die Küche. Sie hat in der einen Hand den großen Löffel, in der anderen die Fleischschüssel, und es sieht zu putzig aus, wie sie da oben schwebt und sich ängstigt, daß der schöne Braten auf den Boden fällt. Ich habe ihr beides abgenommen. Ja, Wilm ist ein ganz anderer geworden. Auf seinem Gesicht -99-
liegt der Abglanz reinsten Glückes, und auch Mariechen ist fast nicht wiederzuerkennen, so aufgelebt ist sie. Nur der schwermütige Zug in ihrem Wesen überkommt sie oft, dann sitzt sie ganz still da oder steht plötzlich auf, macht sich irgend etwas zu schaffen, als ob sie über etwas hinwegkommen müsse. Aber rührig ist sie. Wir sehen es an der Hühnerzucht, an den Ferkeln, an den Kühen, am Garten. Das hat alles einen ganz anderen Schick gekriegt in den sechs Wochen, die sie nun schon hier ist. Der Doktor auf seinem hohen Gaul besucht uns öfter. Zum Geigenspiel kommt er selten mehr, er ist zu sehr mit Arbeit überhäuft. Den Gesangverein hat er längst dem Lehrer übergeben. Dem geht es gut. Sein Eigentum wurde er für einen guten Preis los, seine Schulden auch. Die Familie pflanzt jetzt auf dem Schulland. Seine Tochter aber hat dem Kolonistensohn den Laufpaß gegeben und wird nächstens Herrn Wiebusch heiraten. Sie stichelt zu Hause an ihrer Aussteuer, die soll großartig werden, die Linien erzählen sich Wunderdinge davon. Herr Wiebusch aber versteht seinen Kram. Ein schöner Mann ist er gerade nicht, etwas Schleichendes, Lauerndes ist ihm eigen. Eine besondere Art, Leute auszufragen, hat er obendrein auch noch. Aber immer freundlich und die verkörperte Zuvorkommenheit. Da geht kein Kind, ohne eine Kleinigkeit mitzubekommen, kein Kolonistensohn, dem er nic ht etwas beisteckt, kein Kolonist, der nicht ein Schnäpschen extra eingeschenkt bekommt. Für seine Hochzeit hat er zwei große Mastochsen im Stall stehen und die ganze Bevölkerung ist zu diesem Tage eingeladen. Die Medikamentenabteilung hat er aufgegeben. Der Doktor und der Tischler haben ihm klargemacht, daß sie diese Konkurrenz nicht dulden, und Wiebusch war vernünftig genug, einzusehen, daß ein Streit mit den beiden ihm nur Schaden bringt. Wiebusch hat mit Hilfe der Kolonisten die Wege in guten Zustand ge bracht und zieht selbst den größten Vorteil daraus, -100-
denn seine zwei Fuhren sind stets unterwegs. Auch das Städtchen vergrößert sich zusehends. Im Winter hat es nun auch schon Kurgäste. Was der Kolonie eigentlich noch fehlt, das sind Kirchen. Die Geistliche n drängen darauf, daß ein Anfang gemacht werde. Bei Wiebusch ist Versammlung und viel Volk ist da. So viel ist sicher: heute steht die Kolonie anders da als vor drei Jahren, und was damals eine Unmöglichkeit war, das ist heute eine Kleinigkeit. Über den Kirchenbau selbst ist man sich schnell einig, über den Bauplatz nicht. Da zieht der eine nach links, der andere nach rechts. Bis Wiebusch, der bis dahin nur zugehört hat, eingreift. Er stellt rechts und links seiner Venda die Bauplätze für Kirchen und Friedhöfe zur Verfügung und liefert außerdem sämtliche Nägel, die beim Bau benötigt werden. Alle anderen Baumaterialien will er zum Einkaufspreis abgeben. Dann wird noch ausgelost, welcher Kirchbau zuerst angefangen wird, und das trifft den der katholischen Kirche. Schriftlich wird festgelegt, wie der eine Teil dem ändern zu helfen hat. Der Bauplan wird vom Tischler gutgeheißen, die Vorstände werden gewählt, die Versammlung beschließt ihre Arbeit, ohne daß auch nur der geringste Wortwechsel stattfindet. Wiebusch schmunzelt. Hier entsteht mit der Zeit ein Zentrum und er sitzt mitten darin. Da kann man sich's schön was kosten lassen. Als er dann seine Hochzeit hielt, gab es ein Fest, wie es die Kolonie noch nicht erlebt hatte. Die Schulmädchen streuten Blumen, die Jungens Jagten Raketen in die Luft. Der Gesangverein ließ sich hören, der Lehrer hielt eine Rede, in der er den Schwiegersohn, die Tochter, sich selbst und uns alle, die wir herumstanden, lobte. Doch als er gar nicht zu Ende kommen wollte, spielte die Musikkapelle einen Tusch, und alle schrien Hurra, er selbst am lautesten. Seiner Frau aber flüsterte er zu, er wünsche nur, die zweite Tochter käme auch so gut unter. Wiebusch, so nobel er auch war, ging später von Gruppe zu Gruppe, von Tisch zu Tisch, drückte jedem die Hand, sah nach, -101-
ob es auch an nichts fehle, und seine junge Frau tat das gleiche. Mit jeder Frau, mit jedem Mädchen tanzte Wiebusch eine Tour, und bis zum nächsten Morgen hatte er drei Anzüge durchgeschwitzt. Seine Frau flog ebenfalls von einem Arm zum ändern, richtig abgerackert haben sich die beiden. Aber das muß man, wenn man sich bei der Kundschaft beliebt machen will. Herrgott, war das ein Betrieb in dem großen Lagerhaus, das zum Tanzsaal ausgeräumt war. Unheimlich wurde gegessen und getrunken, und am grauen Morgen herrschte ein solcher Katzenjammer, daß nicht ein Kunde ins Geschäft kam. Das neugebackene Ehepaar war so abgekämpft, daß es vor Müdigkeit ganz vergaß, daß sie doch nun Mann und Frau waren. Der Angestellte schlief auf der Tonbank, die Kinder gingen zum erstenmal nach Hause, ohne Unterricht gekriegt zu haben, weil der Lehrer nicht wach wurde. In der Küche war kein Feuer, Chico und der Brasilianer lagen im Graben und unweit davon Lehmann, die ließen heute Gott einen guten Mann sein. Am Tage drauf aber schrieb Wiebusch nach der Hauptstadt, bestellte große Posten Eisen, Nägel, Glas, Farbe und sonstige Bauartikel und verlangte doppelte Rechnungen. Eine für ihn, eine für die Baukommis- sion. Dann wurden die Preise der Verkaufsartikel ein nettes Stück erhöht, und bald darauf hatte Herr Wiebusch die Unkosten wieder heraus, hatten die Hochzeitsgäste, ohne etwas zu merken, alles selbst bezahlt. Einige Zeit danach machte Wiebusch Geld flüssig, kaufte auf der anderen Seite eine große Anzahl Kolonien, die sehr günstig liegen, zahlte sie aus und spekulierte ein wenig damit. Denn die da drüben erhalten mehr Zuzug. Das sind Gesellschaften, die garantierte Besitztitel ausstellen, gleich für gute Straßen, Schulen und Kirchen sorgen, die auch für die erste Zeit große Einwandererhäuser zur Verfügung halten. Eine riesige Reklame wird gemacht, die Agenten bereisen die alten Kolonien und gehen von Haus zu Haus. Der Bahnbau soll ja nun doch beginnen, dann sollen die drüben auch angeschlossen werden. -102-
Es ist, als ob ein Auswanderungsfieber über den Kolonistenstand gekommen wäre. Dort unten ausgepflanztes Land und dazu sündhaft teuer, und hier oben Urwaldboden, jung und fruchtbar und spottbillig. Das zieht gewaltig. Was gilt Mühe, was Entbehrung! Die Alten haben es auch nicht leicht gehabt. Mögen die Jungen zugreifen und sich eine eigene Existenz gründen. Sie brauchen ja nur gesunde Knochen und den Willen zur Arbeit. Allein mit dem Nutzholz können sie ihre Schulden bezahlen. Etwas Geld für den Anfang hat wohl jeder, und wenn nicht, so gehe er an die Straßenarbeit. Die wird verhältnismäßig gut bezahlt. Doch mit diesen glänzenden Zeiten beginnt zugleich ein großes Übel. Die Spielwut kommt auf. Im Tanzsaal, im Geschäft, das auch sonntags offen ist, rollt das Geld. In den Wohnhäusern trifft man die Männer sonntags nur noch wenig an. Sie hocken bei den Karten und bei der Flasche. Junge Kerle, die noch Schulden genug haben, sind auch darunter. Die Holzfäller ebenfalls. Ohne Krach geht es selten ab. Der Doktor hat keine Ruhe und der Tischler hat schon mehrmals einen verbinden müssen. Die Tage werden kürzer und nun hat jeder mehr Zeit übrig. Nächtelang wird gespielt, große Summen werden verloren und gewonnen. In mancher Familie geht es schon knapper her. Aus dem Spieler wird oft ein Säufer. Herr Wiebusch aber häuft in seinem Geldschrank Schuldscheine, Wechsel und Dokumente. Wenn es so weit ist, zieht er das Land ein. Er weiß, wie man es machen muß, und selten ist einer, der sich ihm entziehen kann. Mit dem Holzunternehmer hat er ein Abkommen getroffen. Die Arbeiter werden von jetzt ab durch Wiebusch ausbezahlt und sind also gezwungen, bei ihm zu kaufen. Wem es nicht paßt, der kann gehen, ein anderer tritt an seine Stelle. Aber Wiebusch weiß, wie er mit dem Volk umzugehen hat. Nichts sehen, nichts hören, was da gesprochen, geschimpft und -103-
geflucht wird. Immer freundlich, immer zuvorkommend, und wenn es dicke Luft gibt, wenn er die Kerls gar zu schlimm bemogelt hat, dann - verschwindet er und seine Frau tritt an. Vor Frauen aber hat der Brasilianer unbedingten Respekt, pariert aufs Wort, schweigt. Wenn ihm dann die Frau noch ein großes Glas Schnaps mit Zucker vermischt anrührt, hat er seinen Ärger bald vergessen, und danach taucht Herr Wiebusch wieder auf. Er hat große Pläne. Wenn er hier genug verdient hat, wird er eines Tages in der Hauptstadt ein Importhaus errichten. Aber erst muß er viel Geld haben. Das hier alles langt noch nicht, das muß. sich noch mindestens zweimal verdoppeln. Dann erst wird er das Gefühl seiner niedrigen Herkunft loswerden, dann wird die Armut, die bei seinen Eltern zu Hause war, endlich aus seiner Vorstellung verschwinden. Er hat eine grenzenlose Angst vor der Armut. Er weiß, daß Geld eine Macht ist und Ansehen bringt. Und nach Macht und Ansehen verlangt es ihn. Sein ganzes Leben verfolgt ihn dieser Gedanke. Er will, wenn er es so weit gebracht hat, wieder nach Europa fahren. Die Eltern, die Verwandten, die Schulkameraden, die Lehrer, sie alle sollen ihn anstaunen und merken und fühlen, wer Alfred Wiebusch ist. Die Ungeduld, dahin zu kommen, spornt den Mann zu immer größeren Anstrengungen an. Auf der anderen Seite des Flusses will er ein Filialgeschäft eröffnen, und wenn es sich lohnt sogar zwei. Fürs erste hält das hart, denn er findet nicht gerade die passenden Leute. Die sollen arbeitsam, ehrlich und zuverlässig sein. Am liebsten nähme er Kolonistensöhne. Und während er da drüben schon bauen läßt, lernt er zwei junge Leute in seinem Geschäft an. Die Schwester des einen bekommt in der Küche Unterricht und geht nachher mit hinüber. Da drüben ist riesig Geld zu verdienen. Die Leute haben ja nichts abzusetzen in den ersten zwei Jahren und müssen alles kaufen, was sie in den Mund stecken. Das alles wird durch seine Hände gehen. Schon baut er eine große Barke, läßt sich von den -104-
Siedlungsgesellschaften das Monopol geben, und von da ab setzt niemand mehr mit Lebensmitteln über den Fluß. Niemand darf mehr mit Lebensrnitteln handeln, wenn er nicht die schweren Steuern für diesen Handel bezahlt. Auch eine Schneidemühle läßt Wiebusch bauen. Wir haben so unsere eigenen Gedanken. In wenigen Monaten stampft dieser Mensch aus dem Boden, wozu andere Jahre brauchen. Rollen nicht auch schon die Kugeln auf der Kegelbahn? Auch da wird hoch gespielt. Wiebusch unterstützt das Spiel. Für die Jugend hat er eine eigene Bahn herrichten lassen. Da wird die Kugel mit einem Stock gestoßen. Stoßbahn heißt dieses Kegelspiel. Glücksspieler tauchen auf. Wiebusch nimmt sie auf, vermietet ihnen Tische und Stühle und zieht sehr viel Geld ein. Ob einer verliert, ob einer gewinnt, immer fällt für Wiebusch etwas ab. Er kennt weder Ruhe noch Erholung, ebensowenig wie seine Frau. Sie ist von seinem Eifer angesteckt. Sie billigt seine Pläne. Auch sie will zur Stadt und dort eine Rolle spielen. Wiebusch betreibt nächstens auf der anderen Seite auch noch Holzhandel und wegen des Teehandels feilschen sie schon seit Tagen. Der Doktor, der abends für einen Augenblick hinübergeht, wohl auch ein Glas Tee mittrinkt, sagt zu Herrn Wiebusch, er wäre bald kaputt, wenn er noch lange so weiter schufte. »Ach wo«, lacht Wiebusch, »in zwei Jahren, dann habe ich's geschafft, Herr Doktor, und wenn die Maschine nicht richtig funktionieren sollte, dann weiß ich ja, wer mir die wieder tadellos in Ordnung bringt!« Das war an dem Tage, da der Schulmeister kündigte. Die ganze Gemeinde staunte, aber es war schon so. Die Geschäfte waren bei Wiebusch in der kurzen Zeit derartig ausgedehnt worden, daß es ohne einen ständigen Buchhalter nicht mehr ging. Und jetzt erst war der frühere Oberbuchhalter wieder -105-
richtig in seinem Element.
-106-
Eine Liebe bewährt sich Wir müssen beim Nachbarn Gegendienste leisten und Bretter schneiden. Einen Monat werden wir damit zu tun haben. Derweilen können die zwei den Mais brechen, sie können das besser als wir, können schneller über Bäume und Stämme hinweg, sind auch eigentlich lieber dort beschäftigt, wie ihnen denn auch die Axt besser liegt als die Hacke. Wir haben eine Ruhepause und saugen unseren Tee. Vier Sägen sind im Gange und acht Mann hoch hocken wir um den Teekessel. Es würde zu lange dauern, wenn nur ein Cuia ausgehöhlter, kleiner, harter Kürbis, der sich nach oben verengt und in den das Saugrohr gesteckt wird - kreiste, so gehen denn zwei herum. Der heiße Tee erfrischt und weckt die müden Kräfte. Es ist wohl kein Haus zu finden, wo man die Cuia nicht antrifft. Wir hätten den Leuten die Arbeit ja bezahlen können, an Geld hätte es uns zur Zeit nicht gefehlt. Aber eines Tages wird die Landkommission kommen, wird das Land vermessen, und dann heißt es zahlen. Immer gut, wenn man dann Geld zur Hand hat. Der alte Kolonist, der damals die vernünftigen Worte sprach und dazu beitrug, daß die Schule zustande kam, ist auch bei uns. Auch er ist unserer Ansicht. Die anderen aber nicht. Was denn das Land groß kosten könne? Straßen, Wege seien doch von den Kolonisten ganz allein gebaut worden! Überhaupt! Die alten Kolonisten um Aguas Melados herum hätten doch auch das Land für einen Spottpreis bekommen und hätten es doch viel leichter mit dem Absatz, mit allem. Der alte Kolonist aber sagt: »Hat einer von euch schon mal drüber nachgedacht, wer uns eigentlich hierher gerufen hat? Wir sind ungerufen auf dies Land gegangen und haben niemanden um Erlaubnis gefragt. Nein hat niemand zu uns gesagt. Ja aber -107-
auch nicht. Und was den Preis anlangt, da sage ich nur so viel, den macht die Regierung, und die wird schon sehen, daß sie nicht zu kurz kommt. Die ganzen Jahre hat keiner von uns auch nur ein Hundertreisstück Steuern bezahlt, das werden wir schon nachholen müssen, und nicht zu knapp. Das war früher, vor langen Jahren, da unten auch nicht anders, und sie schlugen die Steuern ganz hübsch aufs Land, und ohne daß das jemand merkte. Wie oft ist uns von der Behörde gesagt worden, wir dürften nur Zedernholz für den eigenen Bedarf schlagen und erst dann, wenn das Land bezahlt ist, könnten wir mit dem übrigen Holz machen, was wir wollten. Wer hat sich daran gekehrt? Zieht einer jetzt von seinem Land weg, wird später ein anderer davon heruntergejagt, weil er nicht zahlen kann; was wird das Land groß wert sein, wenn das kostbarste Holz weggehauen ist? Oder kauft ihr Land, das kein Edelholz mehr hat? Es wäre überhaupt Zeit, daß mit dem Abholzen aufgehört wird. Man muß auch mal an die Zukunft denken und nicht alles auf einmal haben wollen. Bei mir ist schon lange Schluß damit gemacht worden und andere werden es wohl ebenso machen müssen, sonst können wir später mit der Brille das Holz suchen, das jetzt alle Tage weniger und später einmal sehr teuer wird. Teurer als heute Jedenfalls. Geht mir also weg mit billigem Landpreis. Auf der anderen Seite schlagen sie auch schon gehörig auf, das wird die Regierung doch längst wissen und sich danach richten, wenn es erst so weit ist. Ihr seid junge Kerls. Spart jetzt! Im Alter hält das schwer. Das Jungvolk geht umher, als wenn es in der Stadt aufgewachsen wäre. Nichts ist mehr gut genug. Alles muß vom Feinsten sein, und wenn es noch ein Jahr so weitergeht, dann kann man einen Kolonisten nicht mehr vom Städter unterscheiden. Tragen die Mädels nicht auc h schon seidene Strümpfe, Stöckelschuhe, einen Bubikopf, und legen sie nicht auch schon Puder auf? Paßt sich das überhaupt für Kolonisten? Und dann das Spiel! Da sitzen bei Wiebusch Kolonisten tagelang, nächtelang, und lassen sich von Professionsspielem -108-
übers Ohr hauen. Einem haben sie neulich zwei contos de reis gestohlen, der Mann hätte das Geld wahrhaftig gut für was anderes brauchen können. Ich bin kein Spielverderber, ich will aber nur hoffen, daß die Geschichte hier auf die Dauer gut geht. Soviel aber sage ich nochmals: Jungs, spart!« Es ist mit einem Male still unter uns geworden. Der Alte hat Ansehen, er steht sich sehr gut und jeder kennt ihn als rechtschaffenen Mann, der auch in seinem Hause auf Zucht und Ordnung hält. Man fühlt, daß er meint, was er sagt. Die Sägen fressen sich in das Holz hinein und die Arbeit geht flott, weil einer hinter dem ändern nicht zurückstehen will. Da ist vor kurzem ein junger Deutscher dahergeschneit, ein Kriegszeitfrüchtchen, das ohne Vater und Mutter aufgewachsen ist. Der Bengel steckt voller Einfälle, ist frech wie Sott, und wir müssen oft hellauf lachen über seine Schnoddrigkeiten. Zum zweiten Male wird jetzt haltgemacht und wieder kreist die Mate-Cuia. Der junge Kerl erzählt Witze, und so was wird ja immer gern gehört, wenn ein Trupp Mannsvolk beieinander hockt. In der Pikade ist jüngst Hochzeit gefeiert worden, die eine dringende Notwendigkeit war. Das ist nun durchaus nichts Seltenes in den Kolonien. Es wird dann eben geheiratet und der Fall ist erledigt. »Doch janz klar. Wer wird denn die Katze im Sack koofen? So doof is doch wohl keener. Dat hat ja der Wilm ooch nich jetan.« Weiter kommt er nicht, da hat Wilm ihn schon am Hals. Aber nun springen auch wir anderen zu und machen den Bengel los. »Na, wat willste denn von mir? Dat kann doch een Blinder mit dem Krückstock fühlen, dat das nich von sechs Wochen her is, hat doch ooch nischt zu sagen. Uffrejen brauchst du dir deswegen nich und mir schlagen noch lange nich.« Wilm wird kreidebleich, sein Blick geht in die Runde und -109-
bleibt zuletzt an mir haften. Als wenn er uns von den Augen ablesen wollte, was wir wissen, was wir denken, so stiert er uns an. Die anderen, die etwas höhnisch gelacht haben, werden plötzlich ernst. Sie fühlen, daß da etwas nicht stimmt, und auch der Bengel Wechsel die Farbe, wie er den großen starken Mann jetzt so hilflos sieht. Blitzschnell ist das alles gegangen und eine unheimliche Stille herrscht. Da löst sich bei Wilm die Erstarrung. Stracks dreht er sich um und läuft mit großen Schritten nach Hause. Ich ihm nach. Es sind fünfzehn Minuten bis dahin. Unheimlich arbeitet es in ihm und die Luft geht stoßweise. Dann bleibt er plötzlich stehen: »Fritz, hast du etwas an Mariechen bemerkt, hast du ihr etwas angesehen? Sollten denn andere Leute mehr wissen als der eigene Mann?« Er schüttelt mich. »Sprich doch Mensch! Ich werde sonst verrückt. Mariechen schwanger und ich weiß nichts und sehe nichts, und ein Lausejunge sagt es mir!« Grell lacht er auf und eilt weiter. Bald müssen wir da sein, und da greife ich seine Hand. »Wilm, wenn man eine Frau alle Tage sieht, dann bemerkt man die Veränderung nicht so bald. Manche Frauen verstehen sich auch danach zu kleiden. Vergiß auch nicht, daß nicht jede Frau, und nun gar solche junge, sich über ihren Zustand im klaren ist. Eines Tages wird sie dir schon sagen, was los ist, und ich gratuliere dir schon im voraus.« Wilm hört das wohl, sagt aber nichts und rennt seinem Hause zu. »Wilm, beherrsch dich, wenn du mit ihr sprichst, sonst kann Unheil entstehen, sie ist ja so zart.« Ich gehe zum Waschtrog, kann aber in die offene Küche hineinsehen. Mariechen hantiert am Herd, und als sie Wilm die Stiegen heraufkommen hört, wendet sie sich ihm zu. Er bleibt -110-
auf der halben Treppe stehen und schaut sie lange an, springt dann die letzten drei Stufen mit einem Satz empor, steht dicht vor Mariechen, die nicht weiß, was das alles zu bedeuten hat und ganz entgeistert zu ihm emporsieht. Dann fragt er hart und laut: »Von wem bist du schwanger?« Schwer fällt sie auf den Stuhl, verbirgt ihr Gesicht in beide Hände. Er reißt ihr die Hände weg, zerrt sie hoch. »Ich will wissen, von wem du schwanger bist.« Wieder sinkt sie auf den Stuhl und sagt dann ganz leise: »Der Vater. Schlag mich tot. Ich kann nichts dafür.« Da stehe ich auch schon zwischen den beiden. Furchtbar ist Wilms Gesicht verzerrt, leise schluchzt Mariechen. Ganz erbärmlich wird mir's. Wenn ich auch schon an allerlei gedacht habe, das wäre mir im Traum nicht eingefallen. Wilm sagt kein Wort, holt aus dem Schlafzimmer den Revolver und geht dann ins Vorderzimmer. Aha! Ich weiß, was jetzt kommt. Lehmann hat die längste Zeit gelebt. Und wenn ich mich jetzt auch noch so anstrenge, einholen kann ich Wilm nicht mehr. Und doch laufe ich, was Beine und Lunge hergeben wollen. In den Fahrweg einbiegend, der zu Lehmanns Haus führt, sehe ich, wie Wilm schon den Staketenzaun erreicht hat. Von dem reißt er eine Latte los und schlägt damit den Hund zusammen, der ihn nicht durch das Tor lassen will. Dem zweiten Köter ergeht es ebenso. Da bin ich schon bei Wilm und reiße ihm den Revolver aus dem Gürtel. Wilm lacht laut auf, als er den Griff von hinten verspürt und der Revolver nicht mehr da ist. Die kleine Treppe nimmt er mit einem Satz, die Küchentür tritt er ein, geht auf den Tisch zu, und ohne ein Wort zu sagen, greift er Lehmann der hinter dem Tisch sitzt, an die Gurgel und zieht ihn über den Tisch. Der liegt schon am Boden, die Zunge hängt ihm weit zum Halse heraus. Wilm aber schreitend brüllt: »Hund, heute mußt du verrecken. In meiner Faust mußt du -111-
verrecken. Verrecken mußt du Hund!« Und dann schlägt er wieder mit der linken Hand auf das Gesicht ein und schreit und schreit. Ich bin nicht schwach, aber gegen den komme ich nicht auf. Er ist rasend, er ist verrückt geworden, vor Kummer und Schmerz und nun wohl auch von dem Blut, das fließt. Was mache ich nur? Der bringt den Mann ja wahr und wahrhaftig um. Neben dem Herd liegen breite schwere Holzscheite. Es geht jetzt nicht anders, Wilm, so weh es mir selbst tut. Nur so wird noch größeres Unheil vermieden, ich schmettere von der Seite das Holzscheit auf seinen rechten Unterarm. Da löst sich die Hand und langsam steht er auf, besieht sich den Ohnmächtigen, gibt ihm einen schweren Tritt, sieht dann zu mir herüber, erblickt ein Scheit in meiner Hand und wendet sich der Tür zu. Draußen, unweit des Hauses, liegt ein großer Stoß gespaltenes Brennholz. Dahin geht Wilm und setzt sich nieder. Er sieht nicht die vielen Leute, die zusammenstehen, er stiert nur zu Boden, sieht auch nicht, wie seine Hand blutet. Die Holzsäger müssen wohl etwas geahnt haben, als Wilm weglief. Sie sind uns nachgegangen und haben sich hinter den Büschen verborgen, als wir ihnen entgegenkamen und zu Lehmann liefen. Der Bengel wird wohl erzählt haben, was beim Teetrinken passiert ist, und da hat sich die Nachbarschaft auf den Weg gemacht. Ich frage, ob niemand Frau Lehmann gesehen habe. Die sei zu Mariechen gelaufen. Da sage ich den Männern, sie machten in die Küche gehen und nach Lehmann sehen. Ich habe ein Handtuch am Brunnen gefunden, naß gemacht und Wilm die Hand und das Gelenk abgewaschen. Gebrochen und zerschlagen ist nichts. Nur furchtbar geschwollen. Wilm schaut teilnahmslos zu. Das ganze Gesicht nimmt einen völlig fremden Ausdruck an, als wenn der Mann um zwanzig -112-
Jahre gealtert wäre. Auch kleiner kommt er mir plötzlich vor. Da faßt mich die Angst und ich schüttle ihn an den Schultern. »Wilm, Wilm, Herrgott, so sprich doch mal, schau doch mal auf. Wilm, hörst du denn nicht?« - Da schaut er auf, sieht mich lange an mit glasigen Augen und sagt dann tonlos: »Schlag ihn ganz kaputt, bring mir Wasser.« Er will sich zurechtrücken, versucht aufzustehen, sackt aber zusammen und liegt am Boden. Während die drinnen sich um Lehmann bemühen, arbeiten wir hier zu Viert an Wilm. Sie haben Schnaps aufgetrieben und beide Ohnmächtige kriegen welchen eingeflößt. Wir holen einen Strohsack herbei und legen Wilm darauf. »Der blutet ja!« Wir reißen die Hose herunter und sehen eine tiefe Stichwunde in dem linken Oberschenkel. Das Blut fließt am Bein herunter und am Boden steht eine große Lache. In meiner Aufregung habe ich das gar nicht gesehen, und jetzt wünsche ich doch fast, er hätte den Hund kaputt geschlagen. Zwei Halstücher werden schnell ausgewaschen, dann kommt Schnaps darauf und das Bein wird verbunden. Mit Hilfe mehrerer Männer schleppen wir Wilm zu mir. Vor Wilms Haus steht viel Volk und auch des Doktors Pferd. Gut, daß Wilm das wenigstens nicht sieht. Nun liegt er aschfahl auf meinem Bett. Chico und der Brasilianer müssen ihn betreuen. Der Doktor und Frau Lehmann sind in Mariechens Schlafzimmer. Nur leise Stimmen kommen von dort her. Hoffentlich wird es nicht so schlimm drinnen stehen. Aber es dauert Stunden und die Weiber erzählen sich Schauerdinge, die geschehen könnten, wenn eine Frau in der Schwangerschaft Aufregung erleide. Auch hier wissen sie schon, daß Lehmanns Leben an einem Faden hängt. Da geht die Tür auf, der Doktor tritt heraus, sieht mich und geht mit mir auf den Hof. »Was ist mit Mariechen, Herr -113-
Doktor?« »Nicht viel. Wenn sie die Nacht übersteht, dann habe ich ein wenig Hoffnung. Eine schwere Frühgeburt hat sie hinter sich.« Verflucht! Hier kommt wohl alles Unglück auf einmal zusammen, und ich sage dem Doktor, was mit Wilm geschehen ist. Der geht gleich mit und untersucht ihn. Der Stich ist bis auf den Knochen gegangen. Der Doktor hat aber bald die Wunde gereinigt und eine Einspritzung gegen Blutvergiftung kann gegen Abend die Frau Tischler machen, die bei Mariechen die Nachtwache hält. Aber dann flucht der Doktor fürchterlich, als er hört, wie die ganze Schweinerei zusammenhängt, und er bedauert, daß Wilm den Kerl nicht umgebracht hat. Geht aber doch hin und flickt Lehmann zusammen. Zart ist er jedoch nicht mit ihm umgegangen. Wilm hat seine Einspritzung bekommen, Frau Lehmann ist zu Hause und pflegt ihren Mann, Mariechen aber liegt immer noch in Ohnmacht und das Fieber steigt. Da sitze ich denn einen Augenblick bei ihr und laufe dann wieder zu Wilm. Der schläft. Chico soll mich rufen, wenn er wach wird. Dann erzählt mir die Frau Tischler, wie alles gekommen ist. Mariechen habe sich ihr damals anvertraut. Der junge Pastor hatte bei Lehmanns zwei Flaschen Wein stehenlassen. Die mußte Mariechen damals, als die Mutter fortgelaufen war, eines Abends kochen, der Stiefvater hatte Nelken, Zimt und Zucker hineingetan, und Mariechen mußte ihm Bescheid tun. Sie war dann betrunken geworden. Weiter wußte sie nichts. Als sie aufwachte und zur Besinnung kam, sah sie den Stiefvater neben sich. Entsetzt ist sie da zu Wilm geflohen. Sie, die Frau Tischler, habe dem Mariechen geraten zu schweigen. Wenn sie aber geahnt hätte, welche Folgen dieser Vorfall haben würde, dann hätte sie dem Mädchen einen anderen Rat gegeben. Da kam Chico und rief mich. Wilm sitzt im Bett. »Was ist, Fritz?« Verdammt! Es ist etwas Schreckliches, sagen zu müssen, was -114-
man am liebsten verschweigen möchte und was doch gesagt werden muß. Ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Wilm merkt mir das an. »Erzähle alles, Fritz! Nur alles herausgesagt. Was ich wissen soll, höre ich lieber von dir, als daß ich's auf Umwegen erfahre.« Bitter schwer ist es mir geworden. Aber nun weiß er auch alles. Ich fasse seine Hand. Ich ziehe alle Register, ich führe alles an, was man in solchen Fällen anbringen kann. Ich rede nur, um zu reden, weil ich sein Schweigen nicht ertragen kann. Ich fühle, wie seine Hand zuckt. Das halten meine Nerven nicht aus dieser baumlange Kerl, diese Kraftnatur, Wilm, der vor keiner Gefahr zurückschreckt, der alles, aber auch alles mit einem Fluch oder Scherz abtut. Er scheint es selbst zu fühlen, er entreißt mir seine Hand und kehrt sich der Wand zu. Ich schleiche mich hinaus. Jetzt, Wüm, mußt du mit dir allein fertig werden. Ich gehe in die Pflanzung, ich muß ja nun Wilms Stück mitbetreuen; doch wie ich mich auch bemühe, sachgemäße Anordnungen zu treffen, ich sehe nichts, meine Gedanken sind weg. Ich setze mich auf einen Baumstumpf, zünde die Pfeife an, doch sie will nicht schmecken. Ich umgehe noch einmal den Acker und sehe mich' in Wilms Haus um. Das Vieh haben die Nachbarn versorgt und werden es so lange in ihre Ställe nehmen, bis Wilms Haus wieder bewohnt ist, was ja hoffentlich bald der Fall sein wird. Wie ich zurückkomme, sitzt Wilm aufrecht im Bett und hat den Hemdärmel hochgekrempelt. Der ganze Arm ist grün und blau. »Hast gar nicht schlecht zugeschlagen, Fritz«, versucht er zu lächeln. »Ach ja, Wilm, verzeih. Ich mache dir einen Umschlag, du sollst sehen, der heilt bald.« »Ja«, sagt er, »der heilt bald, aber das andere, das heilt nicht.« -115-
Verflucht, nun fängt er schon wieder an, wie ein eigensinniger Kranker will er sich in seinen Schmerz verbohren. Wenn er aufstünde und alles kurz und klein schlüge, wär's mir lieber als diese Wehleidigkeit. Dann wüßte ich doch: jetzt tobt er sich aus. »Wird schon wieder werden, Wilm, erst mußt du gesund sein.« »Arm und Bein werden schon wieder heilen, aber da drinnen« - er zeigt auf seine Brust - »da drinnen ist etwas kaputt gegangen, das wird nicht heilen.« Er wird wieder weich. Herrgott, wenn ich doch die rechten Worte fände. »Fritz«, sagt er, »setz dich daher, ich muß dir etwas sagen, ich wollte schon immer mit dir sprechen und konnte es doch nicht über die Lippen bringen. Nur die paar ersten Wochen waren Glückswochen, nachher wurde mir Mariechen fremd. Ich sah oft an ihren Augen, daß sie geweint hatte, ich versuchte sie auszufragen, riet auf allerlei, aber sie hatte nur ein Kopfschütteln. Einen Tag stieß sie mich zurück, den ändern preßte sie sich voll Zärtlichkeit an mich. Zuletzt dachte ich, daß ihre große Jugend schuld sei und machte mir schon Vorwürfe. Ich hätte ja auch noch warten können. An diesen Ausgang habe ich nie gedacht. Wie sollte ich auch! Wie war ich stolz auf mein Mariechen! Und nun... Hätte mich der Lehmann erstochen, dann läge alles hinter mir, dann...« er wird wieder rührselig. »Wilm«, sage ich, »glaubst du an Vergeltung?« »Wieso Vergeltung?« »Ich habe einmal gelesen, daß wir alle Tränen, die um uns geweint werden, auch wieder mit Tränen aufwiegen müssen.« »Quatsch, Fritz, jetzt spinnst du.« Nun gefällt er mir schon besser. »Hat denn von all den Frauen, die durch dein Leben gegangen sind, keine um dich geweint? Nicht eine einzige?« »Mag schon sein«, sagt er und wird nachdenklich. Aber dann -116-
begehrt er auf: »Habe ich denn einer die Ehe versprochen? Wollten sie mich, wollte ich sie heiraten? Aber Mariechen habe ich geheiratet. Das ist etwas ganz anderes, wenn zwei Menschen sich fürs ganze Leben verbinden, als eine flüchtige Bekanntschaft, auch wenn sie alles hergibt.« »Trotzdem. Sieh, Wilm, du denkst immer nur an dich. Was aber kann das arme Ding dafür, daß es so gekommen ist. Hat sie nicht zuerst Schutz und Hilfe bei dir gesucht, bei dir zuerst? Was hätte sie dir denn schon sagen können, sie, die selber nicht recht wußte, was mit ihr geschehen war? Und denke dir ihre Angst, wie sie die Veränderung in ihrem Körper bemerkte, stelle dir das doch einmal vor: immer die Furcht, einmal muß es doch offenbar werden, dann... Ach, Wilm, ihr seid beide zu bedauern. Mariechen aber am meisten. Kannst du Rauchen vertragen?« »Klar, Mensch, du willst mich wohl in Watte wickeln!« Die kleinen Rauchwölkchen steigen hoch. Wilm sieht ihnen nach. Eine lange Pause... Endlich sagt er: »Fritz, würdest du hier wohl alles aufgeben können und mit mir kommen?« Ich überlege eine Weile. »Wenn es sein muß.« »Dann los! Es muß sein. Ich kann hier nicht länger bleiben. Ich will, ich muß weg.« »Und Mariechen? Glaubst du vielleicht, du kannst sie so abtun, wie du eine Fliege von der Wand streifst?« Er gibt keine Antwort. Ich hole die Schnapsflasche. Seit der Doktor hier wohnt, haben wir uns den Schnaps etwas entzogen, aber jetzt wird er zum Heumittel. Er wirkt besser als die Spritze und Wilm schlummert ein. Auf mich wirkt der Alkohol umgekehrt, ich kann keinen Schlaf finden. Ich wälze mich im Bett, ich mache Armbewegungen, ich zähle. Umsonst, die Gedanken durchwirbeln mein Hirn, lassen mich nicht los. Wie, wenn er -117-
nun seine Zelte abbricht und sich wieder aufs Wandern begibt, wieder nach unbekannten Zielen? Will denn das Abenteurerblut nie zur Ruhe kommen? Wenn er nun fort ist, was soll ich denn hier? Ich kann ihn doch nicht allein ziehen lassen, ich muß doch mit. Wie muß es ihn gepackt haben, ihn, der soviel Freude an seinem Besitz hatte, dem keine Arbeit zu schwer wurde für sein Haus, seinen Garten, seine Pflanzung - und nun dieses traurige Ende. Vielleicht ist das letzte Wort doch noch nicht gesprochen. Ich stehe auf. Der Tag graut schon. Bei Tischlers ist noch Licht. Ich höre Stimmen. Ganz deutlich unterscheide ich die des Doktors. »Fürs erste muß sie schlafen, sorgen Sie dafür, daß sie nicht gestört wird. Ich hoffe, daß wir sie durchkriegen.« Beruhigt atme ich auf. Daß doch ein Unglück nie allein kommt. Wilms Worte fallen mir ein: ,Wir können anfangen, was wir wollen, immer geht es schief.' Hier ist es ohne unser Wollen und Zutun schief gegangen. Fürs Holzsägen habe ich Ersatz besorgt, ich kann jetzt die fragenden Blicke der Leute nicht ertragen. Ich arbeite mit dem Brasilianer und Chico in der Roca. Ich bin aber nur halb bei der Arbeit, hin und wieder muß ich nach Wilm sehen, er mag den Brasilianer nicht um sich haben und ich kann den nicht gut entbehren. Frau Gruber hat sich schon mehrere Male nach Wilm erkundigt. Wenn ich sie bitten würde? Sie nimmt an, sie wird für Wilm sorgen, für ihn und auch für mich kochen. Die frühere Freude an der Arbeit will sich aber nicht einstellen, es ist alles so unsicher. Abends sitze ich bei Wilm, rauche, erzähle die täglichen Begebenheiten, erwähne aber nicht Mariechen, auch er spricht nicht von ihr. Am Sonntagmorgen sage ich beiläufig, daß ich am Nachmittag Mariechen besuchen wolle. Ich hoffe, daß ich von ihm einen Gruß oder eine sonstige Nachricht ausrichten soll. Beim Abschied meint er: »Kannst es ihr ja einmal sagen.« »Was denn?« -118-
»Nun, daß ich weg will.« Ach so! Also doch. Mariechen liegt blaß und still. Das einzige, was an ihr lebt, sind die Augen. Ihre Hände sind so wächsern, so dünn, sie hält sie gefaltet über der Decke. Sie will sich aufrichten, doch das geht nicht. Sie nimmt meine Hand, hält sie lange fest, über ihre Wangen rollen zwei große Tränen. Jetzt mache ich, daß ich wegkomme. Ich laufe durch die Roca, breche den Mais, der zum größten Teil schon im Schuppen liegt, sehe nochmals nach Wilms Vieh, um mich dann wieder an sein Bett zu setzen. Ich sehe ihm an, daß er auf etwas wartet, er will aber nicht fragen. Ich lasse ihn zappeln. Er zaudert noch ein wenig. »Mensch, Fritz, du warst doch bei Mariechen. Was hat sie denn gesagt?« »Daß sie nicht von hier weg will, ihr Gewissen sei rein, das einzige Vergehen, das sie begangen, sei, daß sie es dir verschwiegen habe. Wenn du sie nicht mehr haben wolltest, müsse sie ihr Unglück allein tragen.« »Von nicht haben wollen kann doch gar keine Rede sein«, sagt er etwas kleinlaut, und damit ist diese Angelegenheit vorläufig erledigt.
-119-
Hochkonjunktur In der alten Kolonie war eine große Trockenheit und stellenweise herrscht Not an Lebensmitteln. Bei uns dagegen gab es eine Vollemte. Riesig ziehen die Preise an und wir schwimmen im Geld. Die Schneidemühle arbeitet Tag und Nacht. Drei Schmiede werden mit der Arbeit nicht fertig. Kein Kolonist, der nicht seinen Wagen hat. Die Tischlerei ist längst in andere Hände übergegangen und arbeitet mit Dampfbetrieb. Auch hier häuft sich die Arbeit und der Mann kann nicht genug schaffen. Fremde Handwerker kommen. Sie tischlern bei den Kolonisten die Wohnungen aus. Es wird noch immer gebaut. Die katholische Kirche geht ihrer Vollendung entgegen. Fast die ganze Arbeit wird von Fremden geleistet. Der Kolonist verdient ja in der Pflanzung mehr, als wenn er selbst am Bau mithelfen würde. Ist das jetzt hier eine Unruhe, ein Kommen und Gehen. Die Löhne steigen, Knechte werden rar. Man muß behutsam mit ihnen umgehen, sonst hat man sie gesehen. Ein Glück, daß wir den Brasilianer und Chico haben. Wir würden sonst nicht fertig. Wieder ist Pflanzzeit und jede Stunde muß ausgenutzt werden. In dem früheren Gruberschen Hause hat Wiebusch eine Filiale eröffnet. Sie geht flott, weil eine Querstraße angelegt wurde, die vom Kamp direkt nach dem Fluß führt. Von dort ist man gleich mitten drin in den neuen Ansiedlungen auf der anderen Seite. Die drüben bekommen immer mehr Zuzug. Die Landpreise steigen ungeheuer und es setzt eine Spekulationswut sondergleichen ein. Auch wir hätten schon längst verkaufen können. Durch die neue Straße, durch das in der Nähe liegende Geschäft stieg unser Land mächtig an Wert. Aber wir wollen nicht. Bauen vielmehr unser Land noch mehr aus, und dieses Jahr wird zum erstenmal -120-
der Pflug angesetzt. Das ist fast noch schwerer als Wald hauen. Jetzt erst sieht man, welch gewaltige Wurzeln die früheren Urwaldriesen haben. Mit Äxten werden sie zerschlagen, auf Haufen geworfen und verbrannt. Einen wunderbaren Anblick gewähren in der dunklen Nacht die leuchtenden brennenden Holzhaufen und Stubben. Wilm läuft nachts die Ro ca ab und schürt das Feuer nach. Er geht ganz in der Arbeit auf, seit Mariechen beim Doktor liegt und nur sehr langsam wieder gesund wird. Einmal reitet er hin, ein andermal ich. Aber nur auf ein paar Minuten. Jede Erregung muß ihr ferngehalten werden. Lehmann hat sich überraschend schnell erholt. Frau Gruber aber ist im Hotel Büfettdame geworden, die Rolle liegt ihr sehr gut. Den Schulmeister haben sie schon mehrmals gewechselt. Augenblicklich steht die Bude leer. Der Doktor hat noch ein Mädchen angelernt, weil er die Arbeit nicht bewältigen kann, und die Frau Tischler ist Mariechen fast eine Mutter geworden und ihr Mann ein Vater. Die Lehmann aber erzählt jedem, was für einen Schweinehund von Mann sie hat, wegen dem habe auch ihre ältere Tochter das Haus verlassen müssen. Sie bedauert nur, daß Wilm den Kerl nicht umgebracht hat. ich sei schuld daran. Lehmann ist übrigens sehr klein geworden, man sieht ihn nur selten. Herr Wiebusch bringt sich nächstens noch um vor lauter Arbeit und Neugründungen. Eine Backsteinbrennerei hat er nun auch schon und einen großen Tanzsaal. Sein Geschäft vergrößert sich zusehends. Ständig sind vier große Fuhrwerke unterwegs, und wenn die Witterung sich ändert und die Wege etwas ausgebessert sind, legt er sich einen starken Kraftwagen zu. Geht das jetzt wieder einsilbig bei uns zu! Und dann das Essen, die Betten, die Wäsche! Die ganzen Buden riechen muffig, alles sieht verwahrlost aus. Im Garten müßte schon längst Hand angelegt werden. Aber wir kommen nicht dazu, obwohl wir auch sonntags bis Mittag arbeiten. Die Victrola steht -121-
vereinsamt da, keiner von uns denkt an Musik. Ein dumpfer Druck lastet auf uns. Doch sprechen wir nie davon. Jetzt heißt's erst recht: arbeiten und nicht verzweifeln. Dieses Jahr soll noch eine Weide eingericht et werden, damit das Vieh ins Freie kann. Es vermehrt sich, wir werden am Stall anbauen müssen. Holz, Pfähle, Draht, das liegt alles schon längst bereit. Aber wir kommen nicht zu dieser so notwendigen Arbeit. Den anderen Kolonisten geht es nicht besser. Sie stecken bis über den Kopf in der Frühjahrsarbeit. Das Frühjahr ist diesmal rauh und regnerisch und es gibt Fehltage. Dann werden die Ställe ausgeräumt, die Häuser in Ordnung gebracht, und einmal haben wir sogar sonntags die Fenster geputzt. Daß uns Mariechen fehlt, scheint jetzt auch Wilm zu merken. Hier und da läßt er ein Wort darüber fallen. Eigentlich bin ich froh, daß sie beim Doktor ist. So heilt Wilms Wunde um so schneller. Das Bein war in vierzehn Tagen schon in Ordnung. Aber das da drinnen dauert länger, und dann mache ich mir manchmal so meine Gedanken, wie das nun nachher werden soll. Sie ist doch seine Frau und er ihr Mann. Bei der Kirchweih hat's großes Hallo gegeben. Da kam das Volk von weit her. Die Böller krachten und es wurde ein schönes Stück Geld in die Luft gejagt. Die Kirche war so voll, daß viele Menschen draußen stehenbleiben mußten. Wie dann die Feier vorbei war, hielt der Intendant eine lange Rede, lobte die Kolonisten wegen ihrer Strebsamkeit und Ausdauer und gab der Kolonie ihren Namen. Sie heißt heute Sao Irao zu Ehren des Heiligen, der auch der Schutzpatron der Kirche ist. Zwei Festtage haben die Einwohner und Gäste noch zusammengehalten, dann ging das Leben wieder im gewohnten Gleise. Die da drüben hatten einen großen Schub Deutschrussen bekommen, Volk, das dem Bolschewismus aus dem Wege gegangen war und sich unter unsäglichen Mühen nach Japan oder China durchgeschlagen hatte. So wurde wenigstens erzählt. -122-
Sie kamen denn auch in ganzen Trupps zu uns herüber. Was war da drüben in Deutschland für diese Leute gesammelt worden! Das aber boten sie hier für ein Spottgeld feil, verhandelten es gegen Schweine, Rindvieh, Hühner und noch mehr. Es dauerte nicht lange, da liefen hier die Frauen mit seidenen Mänteln herum, die Hüte nach der letzten Mode, sie trugen halb- und ganzseidene Kleider und liefen in Stöckelschuhen herum, daß es zum Lachen war. Für sechs Monate bekamen die Neulinge Lebensrnittel, gestellt. Sogar Zucker. Die Bohnen schmeckten ihnen nicht, sie verkauften sie wieder. Deutsche Nägel, Schrotund Mehlmühlen, Äxte und Beile, die ihnen die Mildtätigkeit geschenkt hatte, wurden hier für ein Spottgeld losgeschlagen. Schnaps saufen sie wie Wasser. Die Kerle liegen mitunter in den Straßen herum, voll wie eine Haubitze. Zank und Streit sind bei ihnen zu Hause. Sind das überhaupt noch Deutsche? Wenn sie sich etwas besonders Wichtiges zu sagen haben, legen sie die deutsche Sprache ab und sprechen russisch. Sie singen mit Vorliebe russische Lieder, tanzen russische Tänze, und wenn sie voll sind, umarmen und küssen sie sich, daß es einen anwidert. Ach, und dann ihr Rußland! Wäre nur eine Brücke über den Ozean, sie liefen dahin. Der Wald erdrückt sie. Sie finden sich in ihm nicht zurecht. Sie arbeiten nur wenige Tage in der Woche. Sie kommen von der Wolga, von der Ebene, von der Steppe, die meilenweit Aussicht hat, und hier sehen sie kaum bis zum Nachbarhaus. Ihnen fällt es schwer, sehr schwer, sich hier einzuleben. Und dabei haben sie einen so guten Anfang. Liebesgaben in Waren und Geld stehen ihnen zur Verfügung. Eine Genossenschaft soll für sie errichtet werden, eine Mahlund Schneidemühle dazu. Doch zufrieden sind sie nicht, und ihr dummes Gejammere nimmt kein Ende. Heute können sie kein Maisbrot essen, morgen ist ihnen die Suppe zu mager, am dritten Tag gibt's sonst was. Kurzerhand haben wir die vier Kerle, die wenig bei uns arbeiteten, aber gut verdienten, zum Teufel gejagt. Mögen sie sehen, wo sie unterkommen. -123-
Revolution gegen die Landdirektion haben sie auch schon angezettelt. Es ist ihnen aber schlecht bekommen. Militär wurde herangezogen. Da wurden sie zahm. Der deutsche Konsul war schon oft bei ihnen. Sie scheinen seine Lieblinge zu sein, denn hierher kommt er nicht. Auch gut. Aber hier sitzt so mancher Frontsoldat, der beide Eiserne Kreuze trägt. Die haben sich ihr Teil gedacht über diesen Herrn Generalkonsul, haben die Zähne zusammengebissen und sind auch ohne ihn fertig geworden. Spaßig wäre es, wenn nun noch der Bahnbau käme. Kein Mensch glaubt mehr daran, auch Wiebusch nicht, der doch gut unterrichtet ist, sonst hätte er sich sicher nicht den großen Kraftwagen zugelegt. Aber vorläufig hat es noch nichts zu bedeuten, daß wir so weit von den Absatzzentren sitzen. Vorläufig wird hier noch alles verkauft und gut bezahlt. Wenn aber die drüben erst so weit sind, daß sie sich selbst versorgen, und die Bahn bis dahin nicht läuft, dann sind wir hier glattweg aufgeschmissen. Wir wissen manchmal selbst nicht, wie wir es machen sollen. Wieder könnten wir sehr gut verkaufen und Wilm scheint Lust zu haben. Ich reite zu Mariechen und frage, was sie dazu sagt. Nein, sie möchte bleiben, aber wenn Wüm es verlangt, geht sie natürlich mit. Wilm wundert sich, er ist der Ansicht, daß der Ort, wo sie so schwer gelitten hat, ihr doch nicht am Herzen liegen könne. Mariechen erholt sich übrigens gut. Die Wangen kriegen wieder Farbe, der Körper wird runder, der Schritt ist schon sicherer und sie spricht auch wieder wie sonst. Der wehmütige Zug aber im Gesicht, der ist geblieben. Und verdammt, ich kann mir nicht helfen: er steht ihr gut. Noch einen Monat, dann wird sie wieder bei uns sein. Bis dahin kommen auch die Staatspräsidenten von Rio Grande do Sul und Santa Catharina im Städtchen zusammen, der Bahnbau wird endlich beschlossen. So wird es denn tatsächlich Ernst damit. Große Vorbereitungen sind schon im Gange. Die Kolonisten werden ein wenig einexerziert, sie sollen hoch zu Roß dem hiesigen -124-
Präsidenten entgegenreiten, ihn begleiten und Spalier bilden. Die Schulkinder lernen die Nationalhymne und sonstige patriotische Gesänge und Gedichte. Der neue Schulmeister gibt sich die größte Mühe, damit er sich nicht blamiert, er muß auch noch zwei großen Kolonistenmädels beibringen, wie sie die Blumensträuße zu überreichen haben, wie sie zu knicksen und was sie zu sage n haben. Am schwersten aber hat er es mit Herrn Wiebusch, der jetzt nur noch der Großunternehmer heißt, dem allein die Entwicklung der Kolonie zu verdanken sei. Dem muß der Schulmeister alle Abende die Rede einbläuen, die er auf dem Festbankett zu halten hat, und zwar als zweiter Redner. Erster ist der Intendant. Und Herr Wiebusch kommt auch noch neben den Präsidenten zu sitzen, seine Frau neben der Präsidentin. Frack und seidenes Kleid sind schon aus der Hauptstadt angekommen. Wenn Wiebusch allein ist, probiert er vor dem Spiegel den Zylinder. Die Gäule werden jetzt schon gepflegt und das Sattelzeug hergerichtet. Im Städtchen ist schon alles telegrafisch bestellt. Auch wir haben Order bekommen, in Uniform zu erscheinen. Der Schneider wird sehen müssen, wie er die in Ordnung bringt. So rühren sich alle Hände. Triumphbogen werden gebaut. Ein Maler pinselt die schönsten Verse drauf. In den Geschäften wird Fahnentuch hundertmeterweise gekauft. Die Schulkinder kriegen gleich zwei Fähnchen mit den brasilianischen und riograndenser Farben. Und dann kam der große Tag. Es klappte alles und das Wetter war wunderbar. Der Präsident ist ein kleiner untersetzter Mann, und der von der ändern Seite ist auch nicht groß. Er sprach Deutsch und unterhielt sich mit den Kolonisten lang und ausführlich. Beim Bankett wurde Wiebusch richtig seine Rede los und bekam viel Schmeichelhaftes zu hören wegen seines tadellosen Portugiesisch. Dem Schulmeister aber brachte das einen pikfeinen Anzug ein. Frau Wiebusch wurde von der Präsidentin umarmt. Die Musikkapelle aus der Kolonie legte -125-
sich gehörig ins Zeug und durfte dafür die halbe Nacht die Tanzmusik stellen. Dafür erntete sie Beifall und Geld und trank zum ersten Male im Leben Sekt. Der floß in Strömen und auch wir kamen nicht zu kurz. Und als dann die Festlichkeiten vorbei waren, war der Bahnbau gesichert, und der Präsident sagte zu den Schulkindern, die Spalier bildeten: »Ihr könnt euch auf mein Wort verlassen. In wenigen Monaten habt ihr hier eine Eisenbahn.« Da schrie alles Hurra! Zwei Tage später aber wird in der Kolonie der Grundstein zur evangelischen Kirche gelegt. Der Schulmeister steht heute ganz anders da in seiner neuen Kluft, und Herr Wiebusch wird sein Beschützer. Die Kolonistenmädels tragen die Nasen hoch. Der Präsident hat ihnen die Hand gegeben und sich bei ihnen bedankt wie bei den Schulkindern. Herr Wiebusch fährt nach der Hauptstadt und sichert sich die Verproviantierung der Eisenbahner. Frau Gruber erntet viel Anerkennung für die herrliche Tafeldekoration. So sind eigentlich alle zufrieden und aufgeräumt und wir sind's auch. Denn Sonntag kommt Mariechen heim.
-126-
Antwort an Herrn Frühauf In diesen Tagen erhielt Wilm aus der Heimat den Brief eines jungen Deutschen, der sich nach den Aussichten drüben erkundigte und fragte, ob es ratsam sei, auszuwandern. Da setzte sich Wilm hin und schrieb folgende Antwort: Sehr geehrter Herr! Auf Ihr gefl. Schreiben vom 15. Juni, das ich erst heute erhielt, beeile ich mich, Ihnen zu antworten. In den alten Kolonien von Rio Grande do Sul und Santa Catharina sind die Ländereien bereits sehr teuer. Dies ist bedingt durch die vieljährige Bewirtschaftung und durch die nahen Absatzzentren und letzten Endes durch die hohen Produktenpreise, die immer noch die Tendenz haben, zu steigen. Sie haben es mit sich gebracht, daß die Landpreise in den Neusiedlungen ebenfalls stark anzogen, billiges Land sozusagen ein rarer Artikel geworden ist. In den alten Kolonien ist an Auslandsdeutschtum nur sehr wenig zu finden. Meistens sind es Vertreter freier Berufe, Ärzte, Zahnärzte, Lehrer, Geistliche, Kaufleute, Handwerker und Handelsangestellte, hier und da alte deutschbürtige Kolonisten, die man aber getrost zum Deutschbrasilianertum zählen kann. Mit dem Deutschtum, wie wir es auffassen und verstehen, hat das Deutschbrasilianertum nur die Sprache, Schule, Kirche und das Gesangvereinswesen gemein, geht aber sonst seinen eigenen Gang. Die Deutschbrasilianer sind eben hier verwurzelt, hier ist ihr Geburtsland und hier sind ihre Interessen. Deutschland kennen sie fast nur vom Hörensagen, aus den Zeitungen und Kalendern, Die kurze Schulzeit, die schwere Arbeit, die jahrelange Vernachlässigung durch Deutschland haben das so mit sich gebracht. Wenn das Deutsche Reich heute mehr Werbetätigkeit entfaltet, so ist das anzuerkennen, doch reichen -127-
kaum fünfzig Jahre aus, den Schaden gutzumachen. Sehr unangenehm berührte es, daß die Städte stets mit Schulmaterial bedacht wurden und größere Geldzuwendungen bekamen, während die Kolonie fast immer leer ausging, und das, obwohl eigentlich sie die wirkliche Trägerin deutscher Kultur war und ist. Wer sich in den alten Kolonien niederlassen will, muß schon ein ziemliches Kapital haben und außerdem auch von Hause aus Bauer sein. Mit Geld und gutem Willen allein ist es nicht getan. Ich rate jedem Bauer, der drüben sein bescheidenes Auskommen hat, nicht auszuwandern, zumal wenn er schon in reiferen Jahren ist. Er wird hier auf vieles verzichten müssen, was ihm in Deutschland lieb und unentbehrlich war. Besonders gilt das für die Frauen, die hier im allgemeinen schwerer zu arbeiten haben als die Männer. Radio, Kino, Bauernvereine, Lesezirkel, Theatergruppen, Schützen- und Gesangvereine und sonstige gesellige Zusammenschlüsse sind nur sehr wenig vorhanden. Der Krieg hat auch in dieser Beziehung großen Schaden angerichtet und der herrschende Nativismus ebenfalls. Für die Jugend besteht nur der Tanzsaal. Turn- und Wandervereine sind unbekannte Dinge. Mehr geistiges und geselliges Leben herrscht in den neuen Kolonien. Sie erhalten fortwährend neues Blut aus Deutschland und die sogenannten Deutschländer sind hier das belebende Element. Deutsche und Deutschbrasilianer ergänzen sich hier gegenseitig. Der erstere lernt die hierzulande angewendete Arbeitsweise, der zweite profitiert geistig. Über das Leben und Treiben der Neusiedler sind kilometerlange Artikel geschrieben worden. Ihren Zweck haben sie nicht erfüllt. Wer wissen will, ob er zum Kolonisten taugt, der besorge sich eine Axt und einen Baumstamm von mindestens fünfzig Zentimeter Durchmesser. Den haue er durch in soundso viele Stücke und arbeite täglich mindestens zehn bis zwölf Stunden. Und wenn er nach einer Woche schwerster Arbeit die Nase noch nicht voll hat, dann soll er getrost nach -128-
hier auswandern. Denn das ist für viele Jahre seine hauptsächlichste Arbeit. Er esse einen Monat hindurch täglich ein und dieselbe Kost, ver- zichte auf alle Annehmlichkeiten des Lebens, wohne in einer primitiven Bude, in der Küche, Wohnzimmer, Schlafraum zusammengefaßt sind und alles so eng und klein ist, daß man sich kaum rühren kann - und wenn er glaubt, diesen Zustand ertragen zu können, dann komme er getrost herüber. Wenn einer dann dieses Hundeleben drei, vier Jahre mitgemacht hat, die letzte deutsche Hose, der letzte deutsche Schuh verschlissen ist, dann ist er akklimatisiert und hat Aussicht, es zu etwas zu bringen. Und er merke sich, daß der Anfang zur neuen Existenz erhungert werden muß. Auch hier gilt das Sprichwort: Der erste schuftet sich zu Tod, der zweite leidet auch noch Not, der dritte, der hat Brot. Es bleibt wenig Zeit übrig, die Landessprache zu erlernen, die Kinder erhalten nur einen ganz mittelmäßigen Unterricht und der Einwanderer ist um hundert Jahre kulturell zurück. Er erfährt von allen Vorkommnissen in der großen Welt wenig und steht ihnen fremd und verständnislos gegenüber. Er schafft sich ja eine neue Welt und darin geht er auf, denn nur sie erhält ihn. Wenn der Einwanderer eines Tages endlich schuldenfrei dasteht und sich sagen kann, dies hier ist klein, aber mein, dann ist er meist abgearbeitet und verbraucht, genießt nicht mehr die Früchte seines Fleißes, ist schon zufrieden, wenn er seine Kinder versorgt sieht, und Wehmut beschleicht ihn, wenn er sieht, wie eben diese Kinder und Kindeskinder sich ihm allmählich entfremden. Er schließt die Augen und ein Stück Heldentum wird zu Grabe getragen. So verläuft das Schicksal der Einwanderer im brasilianischen Urwald. Ihr Leben ist sehr hart und entbehrungsreich, und von Glück kann der sagen, den Krankheiten nicht heimsuchen. Sie fragen, wie es mit der Anstellung im Handel sei? Kenntnis -129-
der Landessprache ist unbedingt erforderlich. Auch hier überwiegt das Angebot die Nachfrage. Fortbildungsschulen, Abendkurse haben dafür gesorgt. Gesetze regeln auch hier, wie viel Einheimische, wieviel Ausländer in Groß- und Kleinbetrieben angestellt werden dürfen. Um als Kaufmann selbständig zu werden, bedarf es guter Verbindungen und Kapitalien. Deutsche und andere fremde Großunternehmen haben Filialbetriebe hierher verlegt, um so den hohen Abgaben zu entgehen. Sie geben natürlich ihren Landsleuten bei Besetzung offener Stellen den Vorzug, sind aber dabei an gesetzliche Bestimmungen gebunden. Manchem ist es gelungen, aus dem Nichts sich emporzuarbeiten. Das sind aber Ausnahmefälle und man nehme sich die nicht zum Vorbild. Man glaube auch ja nicht, in abgelegenen oder noch erst wenig erschlossenen Gegenden warte man auf den Ausländer. Der ist nur willkommen, wenn er viel Geld hat und das bietet, was nicht alltäglich ist. Auch die reiche Brasilianerin, die schon lange auf den Ausländer wartet, gehört ins Reich der Fabel, und wollte jemand daraufhin eine Existenz gründen, würde er bestimmt vor die Hunde gehen, abgesehen davon, daß er immer der Ausländer bliebe, nicht nur der eigenen Frau, sondern auch den Kindern gegenüber. Wer in Deutschland so leben wollte, wie er es hier muß wenn er nicht mit Glücksgütern gesegnet ist -, wer dort auch nur ein ganz bescheidenes Auskommen hat, der sollte sich das Auswandern lang und reiflich überlegen, ehe er den schweren Schritt tut. Und merken soll er sich, daß er hier nie als gleichberechtigt angesehen wird, vielmehr stets Bürger zweiter Klasse ist und seine verbrieften Rechte nur auf dem Papier stehen... Wilm Köhler
-130-
Wenn die Orangen blühen Vor vier Jahren stand hier noch der geschlossene Urwald. Heute ist er nur noch der Hintergrund für die vorne grünende Pracht. Das Frühjahr setzt mit Macht ein. Wie ein riesiger Brautkranz, aus dem die weißen Blüten lugen, umblühen und umduften die Orangenbäume Häuser und Gehöfte. Das treibt und grünt, das singt und tiriliert, und der fast meterhohe Mais wiegt sich in der linden Luft. Gnädig verdeckt der junge Mais die verkohlten Stämme und Äste. Wie warnende, zum Himmel erhobene Finger stehen hier und da vereinsamte trockene Baumstämme in dem grünen Blättermeer, Zeugen einer untergegangenen Welt. Die die Axt verschonte, weil man dem Feuer vertraute. Arme Greise, die den Donner und Blitz anflehen, er möge sich ihrer erbarmen. Arme Greise, die sich nicht mehr in dieser neuen Welt zurechtfinden. Die schlafen und ruhen wollen. Vielleicht hat der Sturm Mitleid mit ihnen. Die Erde hat endlich ihren Frieden mit dem Menschen geschlossen. Sie ist wie ein Weib, sie will nicht umschmeichelt, nicht umbuhlt sein, sie will von starkem Arm erobert und gewonnen werden. Dann gibt sie willig und demütig ihren Leib hin. Halte mich in Liebe und Ehre, und ich werde dich beglücken und reich machen. Ist das jetzt nett bei uns. Blumen auf dem Tisch! Wie lange haben wir das nicht mehr gehabt! Nicht mehr mit dem Messer essen! Keine Hühnerknochen mehr in die Hand nehmen und abnagen. Hübsch manierlich zu Tisch sitzen, wie sich das für Europäer ziemt. Mariechen hat das alles bei Tischlers wieder gelernt, nun gehen wir bei ihr in die Schule. Doch gut, daß sie endlich wieder da ist. Sie ist jetzt wirklich hübsch und fraulich geworden. Unsere Wohnungen haben wieder einen ganz anderen Schmiß -131-
gekriegt. Das blitzt und blinkt, und jetzt arbeiten wir auch noch besser. Der Garten, die Hühner und der sonstige Kleinkram - das ist nun einmal nichts für Männer. Nur Wilm gefällt mir nicht so richtig. Als wenn ihn immer noch etwas drückte. Die Zeit wird wohl der beste Arzt sein. Seine frühere Ausgelassenheit ist ganz verschwunden. Dieser Tage ist des Doktors Frau angekommen. Jetzt wissen wir auch, warum der Duckmäuser drei Wochen nach der Hauptstadt verreist war! Trauen hat er sich lassen. Schön ist seine Frau nicht, aber 1,70 Meter hoch und gerade so dürr wie der Doktor. Sie ist auch Doktor. Den hat sie in der Schweiz gebaut. Und in Afrika ist sie auch schon gewesen. Im Scherz erzählte sie uns neulich, ihre langen Beine und großen Füße wären ihr dort sehr nützlich gewesen, sie habe nie schlapp gemacht. Aber herrlich singen kann die Frau. Wenn der Doktor dann noch auf der Geige begleitet, vergißt man alles um sich herum. Ihr Piano kommt nächstens. Wie lange haben wir keine gute Musik mehr gehört. Wir sehnen uns direkt danach. Die Frau Doktor ist zuerst enttäuscht von der Kolonie. »Wenn ich mir die Palmen und Orangenbäume wegdenke und an Stelle des Mais stünde Weizen, dann wäre ja ein Stück Deutschland hier.« Vor wenigen Tagen haben wir die Frau Doktor zu dem Brasilianer geführt, der jenseits des Flusses wohnt. Der hatte einen späten Waldschlag brennen. An die zwölf Hektar. Und als das Feuer aufloderte, sahen wir sie erbleichen. Wie sie sich dann allmählich von dem Schrecken erholt hatte, führten wir sie zu einer nahen Anhöhe. Wunderbar grausig fraß das Feuer um sich und raste dann über die Fläche dahin. Wieder krümmten und bogen sich Stämme und Äste in den furchtbaren Gluten. Der Himmel wurde dunkel, die Salven der Taquaras prasselten, eine Welt stürzte zusammen. -132-
Dann sind wir mit ihr einmal zu den Italienern gegangen. Die haben zur Feier des Tages mit dem Wein nicht gekargt. Und gesungen haben die Kerls, als ob ihr Seelenheil davon abhinge. Das Jüngelchen war an dem Tage auch zufällig anwesend. »Det die Italieners so gut singen können, det is ooch keen Wunder. Wo se doch de jungen Singvögel totschießen und ufffressen, det muß doch uff de Stimme abfärben.« Wir haben alle lachen müssen. Der Lümmel hat eben Humor und Frechheit, und ernstlich böse kann man ihm nicht sein. Wiebusch will ihn nächstens hinter den Ladentisch stellen. Bei dem ist übrigens immer noch Hochbetrieb. Was er anfaßt, gelingt ihm. Ingenieure sind neulich auch wieder hier gewesen. Der Bahnbau ist um mehrere Monate verschoben worden. Es soll wieder etwas kriseln. Die Roten sind wieder am Wühlen. Das erzählt uns Wiebusch bei einem Glas Bier. Dann sind vor einigen Tagen fünf deutschbrasilianische Familien mit Sack und Pack zugewandert. Die haben in der alten Kolonie ihr Land verloren. Einer ist dabei, der war über dreißig Jahre ansässig. Die Leute hatten ihr Land in gutem Glauben gekauft, besaßen ihre rechtmäßigen Landpapiere, bezahlten seit Jahr und Tag ihre Steuern, und dann meldete sich eines Tages irgendein Erbe des früheren Landbesitzers mit einem Anspruch, fand einen willigen Winkeladvokaten und einen noch gefälligeren Landmesser. Jahrelang wurde um das Eigentum gestritten. Die Bauern verloren schließlich, und hätten sie ihr Land behalten wollen, so wären sie gezwungen gewesen, den unerhört hohen Preis zu bezahlen. Das war für sie unmöglich. Sie veräußerten, was zu veräußern war, und jetzt fangen sie wieder von vorne an. Die Geschichte gibt mir zu denken, und ich frage Wilm einmal, ob es nicht doch bald an der Zeit sei, daß auch hier endlich die Vermessung käme. Wenn man da unten nach sechzig, siebzig Jahren immer noch Landquestionen hat, wie mag es dann wohl später hier zugehen? Nein, wenigstens wir wollen Sicherheit haben und reisen nach der Hauptstadt ab. -133-
Eine ganze Woche dauert es, bis wir endlich unsere gerichtlichen Papiere haben. Von nun an aber müssen wir Steuern zahlen. Macht nichts. Sie sind gering und außerdem bestätigen sie uns unser Eigentum. Die Frau Doktor hat sich unsem Chico mal näher betrachtet und kann sich nicht genug darüber wundern, daß der die Arbeit der Freiheit vorzieht. Als wenn der Wilde im Walde nicht Hunger litte. Jeden Tag muß er sich um sein bißchen Futter plagen und mühen wie wir auch. Sein Leben ist sehr hart. Chico hat das begriffen, wenn er sich auch hier und da für einige Tage im Walde herumdrückt. Er schätzt sein regelmäßiges Essen, sein Bett und dann auch Mariechen. Ihr ist er auf Leben und Tod ergeben. Schade, daß sie seine Leckerbissen, die fetten gelben Engerlinge, nicht mag. Heute hatte er ein ganzes Dutzend gebracht. Die Kohlen glühen schon im Backofen - nun, wir wünschen ihm guten Appetit!
-134-
Sturmzeichen Kern, der alte Kolonist, der in Schul- und Kirchenfragen dann immer noch eine glückliche Lösung findet, wenn andere nicht mehr ein noch aus wissen, sitzt bei uns und saugt Tee. Von unserer Reise nach der Hauptstadt hat er gehört und unsere Besitztitel hat er vor sich liegen. Lange liest er darin. »Wenn wir anderen doch auch erst mal so weit wären. So hockt man eigentlich da wie der Vogel auf dem Ast. Käme jetzt die Vermessung, so wüßte jeder, woran er wäre, und das Land würde bald bezahlt sein. Jetzt verwichsen die Kerls ihr Geld in lauter dummem Zeug. Wenn dann eines Tages die Produktenpreise fallen, ist das Elend da. Vor vierzig Jahren ist das schon mal so gewesen wie jetzt. Die Kolonie schwamm in Geld und die Landpreise stiegen unheimlich. Dann kam der Rückschlag und es krachte allerorten. Ich habe so das Gefühl, als wenn es diesmal nicht anders ginge. Wie wäre es, wenn wir den Wiebusch zur Regierung schickten? Der ist doch dort gut angesehen und wird eher etwas erreichen als wir Kolonisten. Er muß doch auch ein Interesse daran haben, daß sein Eigentum garantiert ist.« Wiebusch hat angenommen und ist nach vierzehn Tagen wieder hier. Die Raketen haben nur so geknattert und das Bier ist geflossen, als wenn es nichts kostete. Herr Wiebusch hat viel erreicht. Kein Kolonist verliert Land. Sollte aber bei der Messung jemand herausfallen, so bekommt er ein doppelt so großes Stück anderwärts zugewiesen. Der Landpreis wird so bemessen sein, daß ihn jeder zahlen kann. Der Staatspräsident hat ihm das persönlich versprochen. Auch die Bahn würde gebaut, nur würde es noch einige Zeit dauern. Eine große Neuigkeit habe er noch besonders aufzutischen. Für den kommenden Winter kaufe er schon Eisenbahnschwellen, -135-
bezahle sie bar und zu den höchsten Tagespreisen. Wenn die Kolonie bisher schon Geld verdient habe, so sei das gar nic hts, gemessen an dem, was jetzt komme. Alles, aber auch rein alles könne zu Geld gemacht werden. Kein Stück Nutzholz würde von jetzt an wertlos im Land herumliegen. Dann rief er seinen neuen Angestellten, das Jüngelchen Max, herbei. Der trug Hammer und Nägel. Wiebusch aber wickelte aus einem großen Paket ein blankes Messingschild, und das wurde nun vorne an der Tür angebracht. Darauf stand: Agentur der Landschaftsbank. Donnerwetter! Eine Bankagentur in dieser abgelegenen Gegend. Das sollte die alte Kolonie einmal nachmachen in so kurzer Zeit. Jetzt wurde erst recht gezecht. Als die Stimmung immer höher stieg, legte Wiebusch los: »Kolonisten! Wir gehen mit unserer Zeit. Wir streben mit Macht vorwärts, und die Zeit hilft uns. Die Zeit hilft jedem, der seine Ze it versteht und sich danach einstellt. Noch ein, zwei Jahre, und die Worte Armut, Entbehrung, Schulden können wir streichen. Geld soll und will benutzt werden. Geld hat jeder. Hat man das Geld bisher mit schwerer Arbeit verdient, bringt dieses Geld, wenn es zu Hause in Kisten und Kasten versteckt liegt, keinen Nutzen. Meine Bank hilft da. Sie gibt zehn Prozent Zinsen. So verdient Geld wieder Geld. Und nur der versteht seine Zeit nicht, der diese gute Gelegenheit nicht benutzt. Legt euer Geld bei der Bank an. Wenn dann die Vermessung kommt, hebt ihr es ab und bezahlt damit eure Landschulden. Wer aber Geld gebraucht, dem kann auch geholfen werden. Denn die Bank nimmt nicht nur, nein, sie gibt auch Geld. Von Banken müssen wir lernen, wie es gemacht wird, um leicht zu Wohlstand zu kommen. Hoch die Landschaftsbank, die uns den Weg weisen will!« Das gab an jenem Freitag eine fürchterliche Sauferei. In letzter Stunde mußte noch ein junges Rind geschlachtet werden. Über einem mächtigen Feuer bräunte der Spießbraten, und erst als der verzehrt war, ernüchterte die Gesellschaft allmählich. -136-
Wenige Tage darauf kamen schon die ersten Spareinlagen. Der Oberbuchhalter legte sich den jungen Lehmann als Gehilfen zu und Max wurde wohlbestallter Verkäufer. Die Rolle war für ihn wie geschaffen. Von weither kommen jetzt schon die Holzarbeiter. Sie beschlagen in den grünen Maisfeldem die Stämme zu Eisenbahnschwellen. Nach der Ernte werden die dann zu Wiebusch gefahren. Für die Kolonie ist das wiederum ein großer Vorteil. Der Kolonist bekommt sozusagen sein Land gesäubert und aufgeräumt und verdient viel Geld, ohne eine Hand zu rühren. Da ist nicht einer, der sich die gute Gelegenheit entgehen läßt. Bei uns arbeiten sechs Mann. Dreißig Schwellen stellen die jeden Tag fertig. Weitere sechs Mann schlagen ein großes Waldstück nieder. Auch dort sollen zuerst Schwellen herausgebeilt werden. Nachher wird Feuer durchgejagt. Sonntagsruhe halten die Arbeiter nicht. Ihre Sache! Sie wohnen in Nothütten, direkt bei den Arbeitsstätten und kochen selbst. Unglaublich hoch werden jetzt die Preise für Lebensmittel. Sie werden aus den Häusern weggeholt. Mit der Kolonie geht es riesig vorwärts. Die ersten Backsteinhäuser entstehen. Wiebusch baut alles massiv um. Auch die Bankabteilung hat schon ihren eigenen Raum. Tischlers sind sich nicht ganz im klaren, ob sie das Krankenhaus umbauen sollen. Die Schulgemeinde hat sehr viel Lehrmaterial angeschafft und kann sich damit sehen lassen. Frau Gruber, die jetzt in dem Städtchen nichts zu tun hat, wohnt beim Doktor und ist bei ihm in Behandlung. Sehr nervös soll sie sein. Frau Wiebusch aber ist in anderen Umständen und man kriegt sie nicht mehr zu sehen. Eine Frau aber muß im Geschäft sein. Da ist Wiebusch kurzerhand zu Frau Gruber gegangen und hat ihr gegen sehr hohen Lohn den Verkäuferinnenposten angeboten. Oh, die hat gleich zugeschlagen, und sie und Max kriegen, in ganz kurzer Zeit die Ladenhüter an den Mann. Die Bevölkerung treibt einen nie gesehenen Luxus. Bei der -137-
Einweihung der evangelischen Kirche trat dies so recht hervor. Da ging alles in Seide und die Näherinnen hatten Tag und Nacht zu tun. Die Schneider auch. Man fragte nicht mehr nach den Preisen. Das Bier wurde verschüttet, daß der halbe Tanzsaal schwamm. Drei Tage und Nächte wurde durchgejubelt, und dann war endlich Schluß. Verdroschen haben sie sich auch. Der Doktor hat jetzt mehrere Verletzte in Behandlung. Wenn das hier so weitergeht, wird der Bierbrauer seinen Betrieb wohl vergrößern müssen. Chico und der Brasilianer haben uns heute gesteckt, unter den Holzarbeitern ginge das Gerücht um, die Revolution bräche bald aus. An den Eisenbahnbrücken ständen schon Wachen. Auch Hilfstruppen würden wieder aufgerufen. Wiebusch hat ebenfalls von der Hauptstadt vertrauliche Mitteilungen bekommen. Er deckt sich bis unters Dach ein. Seine Fuhren sind Tag und Nacht unterwegs und rollen die Waren heran. Vierzehn Tage der Aufregung gehen so dahin. Von den Holzarbeitern, den Holzschleppern, hat schon ein großer Teil die Arbeit niedergelegt. Die kennen den Rummel und machen sich dünn. Dafür taucht allerhand Gesindel auf, das niemand kennt. Möglicherweise sind es Kundschafter der Roten, die den besten Platz zum Einfallen aussuchen. Im Städtchen liegt bereits eine starke Brigadeabteilung. Uns allen ist nicht ganz wohl zumut. Bei Wiebusch wird beraten, was im Falle eines Überfalls zu tun sei. So viel Köpfe, so viel Sinne. Da kommen zwei Soldaten angesprengt und fragen nach Wüm und mir. Wir hätten uns sofort beim Kommando im Städtchen zu melden. Der Doktor stellt uns sein Auto zur Verfügung. Richtig! Da ist ja unser Coronel. Gar nicht verändert hat er sich. Mit kurzen Worten erklärt er uns die Lage, und die ist nicht rosig. Der Staat kann die Kolonie nicht schützen. Selbstschutzvereine sollen wir gründen und unsere eigenen Führer wählen. Diesmal ginge es ums Ganze, und beide Parteien holten zum entscheidenden Schlage aus. Ob wir genügend Gewehre und Munition hätten? -138-
Wir verneinen. Mit dreißig Mausergewehren hilft er uns aus. Mehrere Kisten Munition gehen ebenfalls mit. In der Kolonie gibt's eine heillose Aufregung. Der Teufel wird an die Wand gemalt. Wiebusch sieht schon seine Waren verloren und sein Eigentum in Flammen aufgehen. Andere wollen alles stehen und liegen lassen und nach den alten Kolonien fliehen. Lehmann steckt mit seinem Gejammere auch noch den letzten Mann an. Man versteht sein eigenes Wort nicht mehr. Ruhig und besonnen steht dagegen der alte Kolonist Kern da. Neben ihm Franz Sägemeister. Der ist erst vor zwei Jahren zugewandert, brachte etwas Geld von drüben mit, und weil er von Haus aus Bauer war, hat er sich überraschend schnell eingelebt und ist noch schneller vorwärts gekommen. Er und drei andere Bayern, die bei ihm stehen, waren an der Westfront. Mitleidig sehen sie Lehmann zu, wie der seine letzten Revolutio nserlebnisse anbringt. Wilm geht auf die Gruppe zu und zeigt seinen Ausweis vor, worin ihn der Coronel zum Platzkommandanten ernennt. Und dann zu Lehmann: »Augenblicklich das Maul gehalten! Keinen Mucks mehr! Sonst lasse ich dich sofort draußen an einen Pfosten binden und durchhauen.« Dann springt er auf einen der Spieltische und brüllt in die Menge hinein: »Für zwei Stunden ist jeder Ausschank von Getränken verboten! Die Gläser ausgetrunken! Aber sofort!« Wiebusch putzt eigenhändig die Tonbank ab. Endlich kommt Ruhe in die Menge. Wilm verliest das Schriftstück, gibt es dann dem Buchhalter und der übersetzt es. Weit über zweihundert junge und alte Männer sind beisammen. Der Buchhalter sitzt an einem Tisch und hat Papier und Tinte vor sich. Die Namen aller wehrfähigen Männer über achtzehn Jahre werden aufgeschrieben und jeder bekommt eine Nummer. Dann erfolgt die Gruppeneinteilung und die Ernennung der Gruppenführer. Wem Waffen fehlen, werden sie zugeteilt. Wiebuschs Jagdgewehre und Revolver sind im Nu verteilt. Etliche Kolonisten weigern sich mitzuhelfen. Sie werden mit -139-
gespanntem Revolver eines Besseren belehrt. Als Gesetz gilt: Wer nicht mittut, hat keine Nachbarschaft mehr. Niemand darf ihn grüßen, niemand darf ihm Hilfe leisten. Kein Arzt, keine Hebamme darf zu ihm. Im Geschäft darf er nicht bedient werden. Sogar die Mahlmühle bleibt für ihn gesperrt. Seinen Kindern bleibt die Schule verschlossen und die Kirche ebenfalls. Er ist geächtet. Das zieht und macht einen gewaltigen Eindruck. Noch am selben Abend wird der Wachtpostendienst eingerichtet. In wenigen Tagen sind an allen Kreuzwegen Schützengräben aufgeworfen. An anderen gefährdeten Einbruchstellen wird der Wald niedergelegt oder mit Stacheldraht durchzogen. Alarmsignale werden eingeübt und mal bei Tag, mal bei Nacht ausprobiert. Es klappt alles ziemlich gut. Die gemeinsame Not, die uns bevorsteht, läßt die Menschen schnell begreifen. Vierzehn Tage vergehen so. Wir sind bis dahin nicht ein einziges Mal belästigt worden. Wir wissen nur, daß auf dem Kamp eine Bande haust, die an Verwegenheit ihresgleichen sucht. Dann, daß eine größere Schlacht geschlagen wurde und beide Teile sich den Sieg zuschreiben. Chico ist ein famoser Kundschafter. Er hat neulich einen Posten vor Überrumpelung bewahrt. Als Dank hat man ihm ein silbernes Ansteckmesser geschenkt. Er ist nicht wenig stolz darauf. Der Brasilianer hilft bei uns zu Hause, und abends lädt er die Hülsen. Zwei Holzarbeiter, die in Abwesenheit der Männer die Frauen zu überfallen gedachten, wurden kurzerhand erschossen. Die ganze Gesellschaft ist überdies entwaffnet worden. Ein Kolonist, der beim ersten Alarmsignal nicht pünktlich zur Stelle war, erhielt einen scharfen Verweis. Beim zweiten Mal wurde er angebunden und durchgeprügelt. Das half. Jetzt ist er die verkörperte Pünktlichkeit. Aber furchtbar ermüdend ist dieses Aufder-StraßeHerumliegen, während zu Hause die Arbeit nach uns schreit. Noch sind die Nächte ziemlich frisch und wir schon zu sehr an -140-
unsere Betten gewöhnt. Wilm wäre neulich um ein Haar erschossen worden. Er ritt die Posten ab. Von weitem rief er den Leuten das Losungswort zu. Der Wind ist in jener Nacht stark gegangen und so hat die Wache sein Rufen nicht gehört und schoß los. Der Schreck ist beiderseits sehr groß gewesen. Auch eine gute Milchkuh hat dran glauben müssen. Die ist aus der Weide ausgebrochen und in den Wald geraten. Die Wache hat das Blasen und Schnauben gehört, konnte sich aber keinen Vers draus machen und knallte in den Busch hinein. Morgens fanden sie dann die Bescherung. An dem Tage gab's eben Spießbraten. Auf der Wache lernen wir uns alle richtig kennen, und das hat auch sein Gutes. Not und Sorge schweißen die Menschen besser zusammen als Wohlleben und Wohlstand. Es ist jetzt fast wieder so wie in den ersten Jahren. Wir sind wieder aufeinander angewiesen und das Zusammengehörigkeitsgefühl schafft so manchen unliebsamen Vorfall wieder aus der Welt. Gelogen wird natürlich auch. Die Brasilianer sind darin Meister. Da erzählt einer, wie er einmal mit einem einzigen starken Schrotschuß neunundneunzig Tauben geschossen habe. »Heb! Warum hast du nicht gleich hundert geschossen?« »Glaubst du vielleicht, ich wollte wegen einer Taube zum Lügner werden?« Ein anderer war in Malto Grosso gewesen und hatte da eine Schlange gesehen, die ungeloge n hundert Meter lang war. Sein Pferd wäre förmlich mit ihm davongeflogen. Der Nachbar, der sich die Geschichte ein wenig bedenkt, sagt, er kenne den Staat Malto Grosso sehr gut, und da habe er mit seinen Genossen einst einen Baum angetroffen, der sei so dick gewesen, daß fünfzig Mann ihn nur mit Mühe hätten umspannen können. Volle acht Tage hätten sie an dem Bengel herumgehauen, dann wäre er endlich umgefallen. »Ja«, sagt da der andere, »warum habt ihr denn den Baum -141-
nicht stehenlassen?« »Na, Mensch, der mußte doch auf deine Schlange fallen. Anders hätten wir die nie und nimmer kaputt gekriegt.« Ein alter Italiener ist auch bei der Wache. Mehr als Gesellschaft, mit seinen siebzig Jahren braucht er nicht mehr mitzumachen. Auf die Geistlichkeit ist er nicht gut zu sprechen. In seiner Heimat gab's vor Jahren einen Pater, der war ein findiger Kopf. Eines Tages wird in der Kirche eingebrochen und viel wertvolles Kirchengerät verschwindet. Sonntags besieht er sich seine Gemeinde etwas genauer als sonst und hat auc h schon seinen Verdacht auf einen recht übel beleumdeten Mann gerichtet, der direkt vor der Kanzel sitzt. Nach der Predigt bringt er denn auch den Kirchenraub zur Sprache. In schwarzen Farben schildert er die Strafen, die den Missetäter in der Hölle erwarten, und er rät ihm, Buße zu tun und das geraubte Gut herauszugeben. Wenn das nicht augenblicks geschehe, würde er den Täter der ganzen Gemeinde sofort kenntlich machen. Tiefe Stille. Der Pater zeigt der Gemeinde eine kleine Hühnerfeder und sagt dann mit la uter Stimme: »Auf wen diese Feder sich hinlegt, das ist der Dieb.« Dann läßt er sie fallen. Das Ding senkt sich langsam nieder, und alles verfolgt mit gespannter Miene, wohin es wohl strebt. Da nähert es sich schon bedenklich dem Missetäter. Doch der bläst die Backen voll auf und pustet die Feder zum Nachbarn, dabei brummend: »Wird hier so gespielt, oh, dann rück' man ein Ende weiter.« Doch da sagt ein Brasilianer, er kenne die Geschichte etwas anders. Der Pater habe gesagt, derjenige sei der Dieb, der eine Feder in der Nase habe, und daraufhin wäre sich die ganze Gemeinde an die Nase gefahren. Max, der zu unserer Gruppe gehört, legt nun auch los »In Berlin hat sich eener mal so eenen anjeroocht, det er mit seinem Hausschlüssel an nem Laternenpfahl rumfummelt. Mit eenmal schreit er: ,Det is doch nu hier ne Spitzbubenbande. Hamse mir doch det Loch aus'in Hausschlüssel jestohlen!'« -142-
»Mensch, Max, das Ding war gut, und ich hab alle Aussicht, ein alter Mann zu werden. Meine Schwiegermutter ist mit zweiundneunzig Jahren gestorben. Da sieht man doch, was gesundes Blut macht, und so was vererbt sich.« Der Bayer sprach's. Bums. Bei der Nebenwache hat's gekracht. Stille. Dann folgen wieder vereinzelte Schüsse, und schon gehen auch die Alarmraketen hoch. Das heißt: höchs te Bereitschaft. In der ganzen Kolonie gehen die Signale weiter. Das Feuer bei der Nebenwache verstärkt sich. Der Morgen beginnt zu grauen. Wilm kommt angeprescht, was das Zeug hält. »Zwanzig Mann nach der Nebenwache. Die ist schwer bedrängt. Ruhig Blut und keine Munition verschwenden. Jeder Schuß muß sitzen. Fritz, du bleibst hier auf deinem Posten. In einer Stunde ist Verstärkung da.« Weg ist er und überholt die zwanzig Mann. Die Nebenwache liegt kaum zweitausend Meter von uns entfernt. Wir können ganz deutlich hören, wie die Angreifer schreien und schießen. Am liebsten wären auch wir den Unsem zu Hilfe gekommen. Aber Befehl ist Befehl. Das Feuer verstärkt sich. Fast möchte man annehmen, die Roten hätten ein Maschmengewehr in Arbeit. Unheimlich knattert das da vor uns. Gott sei Dank wird es langsam hell! Da kommt ein Reiter angejagt. Wir sollen sofort zu Hilfe kommen, die Roten kämen in Massen. Die Wache wolle sich in den Mais zurückziehen und wir sollen den Roten in den Rücken fallen. Wir rennen, was wir können. Man riecht Pulverdampf. Hier draußen ist es schon ganz hell, im Walde herrscht Halbdunkel. Die Wache setzt mit langen Sätzen in den Mais an der Straße. Da drücken wir uns an den Waldrand und warten. Die Angreifer müssen doch nachrücken. Tiefer drücken wir uns in den Wald. Verlassen und leer liegt die Straße. Mit einemmal stürzen die Kerle mit Gebrüll aus dem Wald auf das nahe Maisfeld zu. Jetzt haben wir die Bande. Von zwei Seiten werden sie unter Feuer genommen. Sie werden -143-
verwirrt und wissen nicht, wohin sie sich wenden sollen. Das ist unser Vorteil, unbarmherzig schießen wir hinein. Die Kerls purzeln nur so. Im Nu sind sie in den Wald zurück und von dort erfolgt wieder ein rasendes Feuer, Es kommt bis zu uns hinüber und wir müssen zurück. Plötzlich steht Chico mitten unter uns. Wilm hat ihn geschickt. Wir sollen uns noch weiter zurückziehen. Vom Zentrum her käme bald weitere Verstärkung. Von drei Seiten wird dann angegriffen. Hauptsache wäre, soviel wie möglich Munition sparen, damit die anderen denken, wir wären bald damit zu Ende. Das war ganz richtig gerechnet. Je weniger wir schießen, desto mehr die Roten. Die müssen wahrscheinlich viel Schüsse übrig haben. Jetzt ist die Sonne heraus, jetzt kommt auch die Verstärkung heran und schrittweise dringen wir nun im Wald vor. Es dauert fast zwei Stunden, bis wir eine verlassene Waldstraße erreichen, wo die Roten sich festgeklammert haben. Sie leisten jedoch nur noch schwachen Widerstand, und als es Mittag ist, sind sie fertig. Was nicht fliehen konnte, liegt tot oder verwundet da. Ja, und jetzt? Was machen wir mit dem Volk? Ein Brasilianer reißt sein Messer heraus und schneidet, ehe es jemand verhindern kann, einem Verwundeten den Hals ab. Nein, das geht nun doch nicht. Aber da begehrt der Brasilianer auf: Das Gesindel sei nichts anderes wert. Eine arbeitsame Bevölkerung überfallen und ausrauben, und mit solchen Banditen nachher Mitleid haben, das sei so was. Wir hatten Mühe, den Mann vom zweiten Mord abzuhalten. Wilm befiehlt, die Leichen einzuscharren und die Verwundeten auf Wiebuschs Fuhrwerken nach dem Städtchen zu schaffen. Mögen sie zusehen, was sie mit ihnen anfangen. Elf Tote sind in einer halben Stunde unter der Erde. Dreißig Verwundete werden nach Aguas Melados gefahren. Der Brasilianer begreift unsere Gutmütigkeit immer noch nicht. Er kann und kann sich nicht damit abfinden, daß wir nicht einsehen, welche Lumperei es ist, -144-
wenn eine solche Bande auf unsere Kosten Revolutionen anzettelt. Unser Doktor hat vier Männer zu verbinden. Gefährlich verwundet ist keiner von ihnen. Da kommt Lehmann angehumpelt. Der Doktor untersucht das Bein und kann nichts finden. Er sagt dem Mann auf den Kopf zu, daß er simuliert. Wieder müssen wir den Brasilianer davon abhalten, daß er dem feigen Kerl nicht auch ans Leder ge ht. Wilm aber sagt nur: »Von jetzt an hab ich dich unter den Augen. Drückst du dich, schieß ich dich über den Haufen!« Er hat's nicht nötig gehabt. Drei Tage später wagten die Roten wieder einen Angriff. Lehmann stand hinter einem Baum gedeckt. Wilm und noch zwei andere hatten ihn im Visier. Da wußte er, was geschehen würde, und tat seine Pflicht und Schuldigkeit wie jeder andere. Mittags versuchten die Roten den Einbruch. Um drei Uhr nachmittags warf Lehmann die Arme hoch. Eine Viertelstunde später war alles zu Ende. Er wurde am nächsten Tag auf dem Friedhof begraben. Der Lehrer hat ihm eine schöne Rede gehalten, uns war das wurschtegal. Auch was mit den acht Gefangenen geschah, die Franz Sägemeister mit zwei Kameraden einfing und höchst eigenhändig im Städtchen einlieferte. Der Uruguay ist ja verschwiegen. Aber von da an hatten wir Ruhe. Und von da an war Wilm wieder ein anderer. In einer vertrauten Stunde erzählte er mir, wie es seit Monaten immer wie ein dumpfer Druck auf ihm gelastet habe. Wie er nachts oft im Traum Lehmann gesehen habe. Dann habe er vor Wut aufgeschrien und das Mariechen tagelang gemieden. Jetzt aber sei das alles verschwunden. Und damit ich es wisse: sie sei schwanger! Da habe ich ihm nur die Hand drücken und mich freuen können. Andere Eheleute raufen sich zusammen, die zwei hier haben sich zusammengelitten. Es geht halt kurios zu, und wer weiß, was mich noch in der Ehe erwartet. Aber schön ist es jetzt bei uns. So recht traulich nach der letzten schweren Zeit. Und ein ganz anderer Zug ist in das Volk gekommen. Sie tragen den Kopf hoch und sind doch nicht -145-
hochmütig. Für Gemeinschaftszwecke sind sie schon besser zu haben. Auch das nachbarliche Verhältnis ist jetzt sehr gut. Herr Wiebusch hat seine Waffen wieder zurückerhalten. Die Roten ließen ja genug Repetiergewehre auf dem Kampfplatz. Die Revolution zieht immer mehr der Kampanha zu. Auch melden die Zeitungen von Friedensverhandlungen. Aber die Badegäste sind dieses Jahr nicht sehr zahlreich. Also muß doch noch dicke Luft sein.
-146-
Vier abgeschnittene Ohren als Zeugen Die fünf besitzlosen Kolonisten haben fünf Brasilianer herausgekauft. Jetzt ist wieder eine Familie hier zugewandert. Die kommt von der Hochebene von Santa Catharina. Über zwanzig Jahre haben die Leute dort gewohnt und sind gut vorwärts gekommen. Dann tat sich dort eine neue Sekte auf, und wer nicht zu ihr hielt, wurde drangsaliert. Dabei ist es aber nicht geblieben. Die Bewegung wuchs und wurde heimlich und offen von Politikern unterstützt. Angesehene Geschäftsleute, große Viehzüchter, alles mögliche Volk strömte den neuen Propheten zu. Wunder geschahen und das unwissende Volk hing mit einem Fanatismus sondergleichen der neuen Lehre an. Eine Monarchie wollten sie errichten und eine Staatsreligion. Der Weltuntergang wurde vorausgesagt und nur die Anhänger würden verschont bleiben. Wo früher Ordnung und Friede war, war jetzt der Teufel los. Es kam zu Mord, Brand und Totschlag, und Militär mußte herangezogen werden. Das wurde schwer geschlagen, weil es sich in den Wäldern nicht zurechtfand. Neue Truppen mit Kanonen und Maschinengewehren rückten an. Nur mit sehr großen Verlusten und unter furchtbaren Anstrengungen säuberten sie allmählich die Wälder von den sogenannten Fanatikern. Die zogen sich in die tiefste Wildnis zurück. Von dort aus überfielen sie die Siedlungen, raubten und plünderten sie regelrecht aus und verschwanden wieder. Es gab viele Tote auf beiden Seiten, doch jetzt kümmerte sich kein Mensch mehr um die ganze Angelegenheit. Mochten die Kolonisten sehen, wie sie fertig wurden. Für die begann jetzt eine schwere Leidenszeit. Abwandern? Im Stich lassen, was in jahrelanger mühsamer Arbeit aufgebaut war? Niemand wollte bleiben, niemand wollte abwandern, jeder hing an seiner Scholle. Sie versahen sich noch besser mit -147-
Waffen und Munition. Ihre Arbeitsweise war eine ganz außergewöhnliche. Soundsoviele Männer standen Wache, während die anderen das Land bestellten. Einmal verloren die Kolonisten, ein andermal die Fanatiker, die sich zuletzt als eine ganz gewöhnliche Spitzbubenbande entpuppten. Da halfen keine Vorstellungen bei der Behörde, keine Bittgesuche beim Staat. Immer hieß es nur: Helft euch selbst. Und es erging den Kolonisten so, wie es ihnen schon immer ergangen ist: sie standen einsam und verlassen da und waren auf Selbsthilfe angewiesen. Nur wenn die Steuern fällig waren, wenn ein Wahltag kam, entsann man sich ihrer. Dann regnete es Versprechungen und die Kolonisten wurden gelobt und umschmeichelt, sie bekamen Spießbraten und alles war in schönster Ordnung. Bis der Wahlrummel vorbei war. Dann war's dieselbe Leier und die neuen Männer verfuhren genau so, wie es die vorigen auch getan hatten. Sie wimmelten die unbequemen Mahner ab und alles blieb beim alten. Mutlosigkeit befiel die Bevölkerung. Bis eines Tages doch einer die Courage aufbrachte und eine Versammlung einberief. Lang und breit wurde da beraten und schließlich beschlossen, die Räuberbande auszuheben. Tagelang waren die Kolonisten unterwegs und an einem größeren Fluß stießen sie dann mit dem Ge sindel zusammen. Dem kamen die Geländekenntnisse zustatten und es wehrte sich aufs äußerste. Was nützte es, daß der Feind schwere Verluste hatte, daß man sein Lager zerstörte und in Flammen aufgehen ließ! Vier tote Kolonisten und zehn Schwerverwundete zwangen zur Umkehr und aus dem Sieg wurde zuletzt doch eine Niederlage. Das gab ein großes Jammern in der Kolonie, und der Anführer traute sich nicht mehr, eine zweite Strafexpedition anzuregen. Wieder werden Wachen ausgestellt, wieder arbeiten die anderen. Aber das ist zuletzt ein unerträglicher Zustand und auch Waldmenschen kriegen es mit der Nervosität zu tun. Da haben denn der Anführer und zwei Mann es auf eigene Faust -148-
versucht, den Hauptbanditen umzubringen. Das ist ein ganz verwegener junger Bursche, der aus dem Norden stammt und von dort wegen verschiedener Mordtaten geflohen war. Sie nennen ihn Bahiano und der Volksmund sagt, er habe sich dem Teufel verschrieben. Menschenblut soll er auch trinken. Eine ganze Legende webt sich um Bahiano. Den wollen die drei also nun zur Strecke bringen. Als Jäger ziehen sie los. Der gerade anwesende Geistliche gibt ihnen das Abendmahl mit auf den Weg. Einen ganzen Monat sind sie unterwegs gewesen, haben auch zwei Mann erschossen. Aber der Bahiano ist ihnen entwischt und sie konnten es anstellen wie sie wollten - sie bekamen ihn nie vor den Lauf, und wie es einem von ihnen dann doch einmal glückte, da versagte der Schuß. Der Kerl mußte doch wohl mit dem Teufel sein Abkommen haben! Denn das Gewehr hatte noch niemals versagt. Dann war da aber noch eine ältere Frau und mit der war nicht zu spaßen. Die war Witwe, arbeitete wie ein Mann und hatte ihre Wirtschaft gut in Ordnung. Eines Tages läßt sie ihren Gaul satteln und reitet schnurstracks zum Verwaltungssitz. Zwei Tage ist sie ganz allein über den Kamp und durch die Wälder geritten, dann bindet sie ihr Pferd vor des Intendanten Haus an und verlangt ihn zu sprechen. Es ist gerade um die Mittagszeit. Da ist auch ein Intendant nicht gern gestört. Doch die Alte fackelt nicht. Barsch ruft sie einem Soldaten zu, sie sei zwei Tage unterwegs und wolle sofort vorgelassen werden. Der arme Schwarze weist darauf hin, daß jetzt nicht Amtsstunde sei. Da nimmt sie ihn auch schon beim Ärmel, schiebt ihn beiseite und steht mittendrin in der guten Stube. Im Eßzimmer müssen sie wohl den Radau gehört haben. Eine Tür öffnet sich und ein kleiner untersetzter Mann tritt heraus. »Sie sind der Intendant?« Der kleine Mann nickt zustimmend. »Ein schöner Intendant sind Sie! Schön sprechen können Sie, überhaupt vor der Wahl! Wozu sind Sie überhaupt Intendant? Nur um die Steuern einzuziehen? Denken Sie -149-
vielleicht, wir Kolonisten hätten sonst nichts zu tun, als hinter Spitzbuben herzujagen? Das geht nun schon Jahre so, und wenn das so bleibt, dann gibt es in der Kolonie überhaupt keine Männer mehr. Was? Was sagen Sie da? Sie hätten keine Soldaten? Lassen Sie sich doch welche kommen! In der Hauptstadt lungern die doch bloß den ganzen Tag herum und stehlen dem lieben Gott die Zeit weg. Nein, ich will es Ihnen sagen: Sie lassen keine Soldaten kommen, damit die Regierung denken soll, hier oben sei alles in schönster Ordnung. Lieb Kind wollen Sie sich machen, und dann wollen Sie fürs nächste Mal wieder als Intendant aufgestellt sein. Dann dürfen wir wieder unsere Stimme dazu geben. Aber husten werden wir Ihnen was. Lassen Sie sich ja nicht mehr in der Kolonie sehen! Dreckig geht es Ihnen da. Mit Mist werden Sie beschmissen!« Unterdes kommt die Frau des Intendanten heraus. Die ist auch nicht von Pappe. Sie will Ruhe in ihrer Wohnung haben. Ob das Anstand sei, hier so loszupoltem? Der Intendant sei nur Intendant während seiner Amtsstunden, hier aber sei er der Hausherr. Fortscheren solle sie sich, nicht friedliche Menschen während der Mahlzeit stören. »Was? Bei der Mahlzeit stören? Wir haben tagelang ohne Essen und Schlafen im Wald kampiert, weil die Banditen uns von Haus und Hof vertrieben. Hätte Ihr Mann uns Hilfe geschickt, wären wir anders daran gewesen. Doch davon wird gar nicht gesprochen! Wir sind ja nur Kolonisten und haben das Maul zu halten! Ich halt's aber nicht. Ich gehe auf die Straße und schreie es da heraus, wie man mit uns umspringt. Und Sie, Sie taugen gar nichts! Wenn mit Ihnen was los wäre, hätten Sie nicht den Waschlappen da zum Mann genommen!« Dann spuckt sie vor den beiden aus und geht zur Tür hinaus. Viel Volk hat sich draußen schon angesammelt. Das ist doch mal eine Abwechslung in dem kleinen Nest, wo sonst nichts die Ruhe stört! Und hier bringt die Frau noch ihren Rest an. Man muß wissen, daß der Brasilianer vor Frauen einen unbedingten -150-
Respekt hat, und man muß auch wissen, daß selbst in dem kleinsten Nest mindestens zwei Parteien sich befehden. Schon steuert ein kleiner Winkeladvokat auf die Frau zu. Er verspricht ihr unentgeltlichen Rechtsbeistand. Er wirft sich als der Helfer der Armen und Bedrängten auf. Doch sein Gegner, ein anderer Winkeladvokat, fährt ihm dazwischen. Es ist ein Fressen für die Menge, wie die zwei Maulhelden miteinander umspringen. Schon bilden sich Gruppen für und wider. Wenig fehlt und sie fahren sich an die Gurgeln. Dann kommt der Intendant. Er lädt die Alte ein, mit zum Amt zu gehen. Alles folgt. Auch herrscht die Sitte, daß jeder Unbeteiligte freien Zutritt hat. Der Raum erweist sich als viel zu klein. Drinnen und draußen wird gesprochen, geschrie n und gelärmt, und manchmal versteht man sein eigenes Wort nicht mehr. Die Frau hat sich allmählich beruhigt und der Intendant versichert ihr hoch und heilig, für baldige Änderung der Verhältnisse zu sorgen. In einem nahen Gasthaus wird sie beköstigt und das Pferd wird versorgt. Alles auf Kosten der Intendanz. Am ändern Morgen ist dann die Frau heimwärts geritten. Der Intendant aber ließ durch einen Mittelsmann den größten und berüchtigtsten Banditen auf der Hochebene wissen, er schenke ihm alle Morde und sonstige Verbrechen, wenn er den Bahiano um die Ecke schaffe, und außerdem würde er ihm dann noch zu einer einträglichen Stellung verhelfen. Darüber vergingen sechs Wochen. Da kamen eines Tages zwei Soldaten in die Kolonie geritten und fragten nach der Witwe. Die war bald gefunden. Wie sie dann ihre Pferde gefüttert, selbst auch gegessen hatten und ihren Tee saugten, wickelte der eine Soldat aus einem Quersack ein großes Salzfaß heraus und reichte es der Frau. Die war etwas verwundert und wußte nicht, was damit anfangen. Der Soldat erklärte ihr, die beiden Banditen wären vor acht Tagen in einer Kneipe aneinander geraten und hätten so lange gefochten, bis sie beide liegengeblieben wären. Dem -151-
Intendanten wäre das natürlich gleich gemeldet worden, und zum Beweis, daß er sein Wort gehalten habe, schicke er der Frau hier in dem Salzfaß die vier Ohren! Jetzt hatte die Kolonie eine Neuigkeit, und alles, was Beine hatte, beschaute sich die vier Ohren. Jahrelang hat dann noch das Glas auf dem großen Kleiderschrank gestanden, und als die Frau starb, hat der jetzt hierhergezogene Kolonist das Glas an sich genommen. Ziemlich zusammengeschrumpft sind sie ja, die Ohren, und schmutziggelb sehen sie auch aus. Aber sie zeugen von einer Zeit, die noch gar nicht lange zurückliegt, und sie zeugen von einer Frau, die mehr Mut hatte als ein Dutzend Männer, und sie zeugen davon, daß der Kolonist bei den Behörden wenig oder gar kein Entgegenkommen findet, daß er als Bürger zweiter Klasse behandelt wird und nur Selbsthilfe ihm verbriefte und verbürgte Rechte und Geltung verschafft.
-152-
Ein Fünfzehnjähriger erlegt den Tiger Zwei Kolonisten verloren ihre schönsten Fohlen, andere büßten ihre Jagdhunde ein. Die Holzarbeiter bekamen ihre Waffen wieder, sonst wären sie allesamt abgezogen. Ganze Trupps durchsuchen die Pflanzungen und Wälder. Den Spuren nach muß es sich um einen ganz großen Tiger handeln. Frauen, die am Bach wuschen, wollen ihn gesehen haben und sind auf und davon gelaufen. Menschenleben sind bisher nicht zu beklagen. Die Neger aber gehen für kein Geld abends auf die Straßen, denn Neger soll der Tiger mit Vorliebe fressen, und so kann man ihre Angst verstehen. Viel Wildschweine werden abgeschossen. Der Mais reift heran und nun brechen sie in die Pflanzungen ein und hausen fürchterlich. Wer eine weit abgelegene Pflanzung hat, kann was erleben. In wenigen Stunden hat das Viehzeug alles um und um gerissen, und was nicht gefressen ist, ist vernichtet. Wo aber die Wildschweine sind, da ist auch der Tiger in der Nähe. Schweine frißt er überhaupt sehr gerne. Die Jäger kehren immer verdrießlicher zurück. Immer nur die Spuren finden sie, und wenn die Hunde dann dem Tiger direkt auf der Spur sind, läßt ihr wildes Bellen plötzlich nach, geht in Winseln über, und mit eingekniffenem Schwanz kommen sie zurück. Auf dem Kamp soll ein Brasilianer wohnen, der als Tigerjäger weit und breit berühmt ist. Zu dem wird geschickt. Leider ist der Mann verreist. Mit seinen Jagdhunden können wir auch nichts anfangen, sie hören nur auf seine Stimme. Da sind wir wieder so weit wie vordem. Im Städtchen sind Bewohner, die haben Fangeisen. Wir borgen uns die und stellen sie auf. Einen Tag später sind Hunde darin hängengeblieben. Als man die Kadaver herausholen will, verliert ein Mann zwei Finger. Da geben wir's -153-
auf. Eine Woche lang ist Ruhe, dann kommt Wilms schönstes Rind an die Reihe. Selten habe ich Wilm so wütend gesehen; es hat ihn aber auch eine heillose Mühe gekostet, das Tier aufzupäppeln. Nächtelang liegen wir am Waldrand versteckt. Eine Ziege wurde dort angebunden, sie soll den Tiger anlocken. Prächtig sind diese Dezembemächte. Die Sterne funkeln und glitzern. Man könnte getrost bei dieser Helle die Zeitung lesen. Nur die Moskitos! Fürchterlich stechen sie, und dabei darf weder geraucht noch Feuer gemacht werden. Wir geben es bald auf und die Ziege bleibt am Leben. Die Kinder des Nachbarn sind froh, als sie das Tierchen wieder haben. Möglich auch, daß der Tiger jetzt auf die andere Seite des Flusses gesetzt ist. Leute von dort wollen Spuren gesehen haben. Langsam legt sich die Aufregung und alles geht wieder seinen gewohnten Gang. Nur bei Lehmanns ist eine Veränderung eingetreten. Die älteste Tochter ist heimgekehrt und hat eine Nähstube eingerichtet. Zu tun hat sie mehr als genug. Die Kolonisten und ihre Frauen verdienen in der Pflanzung mehr, als wenn sie ihr Zeug selbst nähen. Käthe, die Näherin und Schwester von Mariechen, kommt öfter zu uns. Sehr gesprächig ist sie nicht, aber sie hat ein sehr gutes Benehmen. Wilm meint, sie sei eine Frau für mich und ich solle nicht warten, bis ein anderer sie mir wegschnappt. Über das Heiraten habe ich aber so meine eigenen Gedanken, und wenn man die Dreißig gehörig überschritten hat, eilt es einem nicht mehr so sehr. Langweilig sind jetzt die Sonntage. Der Doktor ist mit seiner Frau vier Wochen verreist, und immer in der Bude hocken ist auch nichts. Der Schulmeister spielt am liebsten Karten mit dem Buchhalter und das übrige Volk macht es ebenso. Wilm und Mariechen wollen sich doch alleine haben, ich merke gut, daß ich da überflüssig bin. Und die sonstigen Kolonistenmädchen? Ganz nette Dinger sind da drunter, aber von einer schrecklichen Unbelesenheit. Und immer wieder vom alltäglichen Quark und -154-
Tratsch hören, das macht mich ganz kaputt. Schrecklich muß es sein, wenn einer so ein Mädchen zur Frau hat, die ihm nichts anderes bieten kann als das Bett. Oder wo der Mann gar der Frau Unterricht geben muß, Mann und Schulmeister in einer Person ist. Brr! Da nehme ich schon lieber mein Gewehr und streife durch die Fluren. Oder gehe mit Chico zum Fluß. Schon lange war ich nicht mehr in dem verlassenen Waldweg, wo das Grab der beim Angriff gefallenen Revolutionäre liegt. Ihre Genossen haben nach Monaten dort ein schlichtes Holzkreuz errichtet. Jetzt hört man hier und da, an der Stelle solle es spuken. Am Tage aber gibt's ja keine Gespenster, ich gehe weiter; doch wie ich in den Waldweg einbiege, fällt nebenbei ein Schuß. Ich bleibe stehen. Nichts rührt sich, doch nehme ich Deckung hinter einem großen Baumstamm. Man kann nie wissen, wer sic h hier herumtreibt. Aber Stimmengewirr höre ich, wenn auch nur undeutlich. Und deutsch wird da auch gesprochen. Ich gehe dem Geräusch nach. Fast wäre mir ein zehnjähriger Knirps gegen den Bauch gelaufen. Beide stutzen wir. Ich frage den Jungen, wo er hinwo lle; er entgegnet, er müsse schnell Vaters Kugelgewehr holen. Sein Bruder Antonio habe zwischen dem Laubdach eine Tigerkatze gesehen und darauf geschossen. Das Tier sei heruntergefallen und schlage jetzt wie verrückt um sich. Antonio wolle nicht noch einen Schrotschuß geben, denn das Fell sei gar zu schön. Ich zeige dem Jungen meinen Drilling und nun springt er voraus. Da steht Antonio und unweit davon gräbt und kratzt ein Tiger in dem Laubwerk herum. Dumpf stöhnt er auf und immer noch dreht er sich in der Runde und kommt aus dem Kreisen nicht heraus. Dem sind zweifellos die Schrote in die Augen geflogen. Ich will anlegen. Da reißt mir Antonio das Gewehr nieder. Ach so! Er will ihm ja den Gnadenschuß geben. Schnell unterweise ich ihn. Mit bewundernswerter Ruhe legt der junge Kerl an, zittert nicht ein bißchen. Bis er den günstigen Augenblick abpaßt und mit einem Herzschuß den Tiger langstreckt. Richtig! Der erste -155-
Schuß hatte das Tier blind gemacht. Am nächsten Sonntag war eine regelrechte Prozession nach jener Straße und Antonio Neubauer war der Held des Tages. Das Fell des Tigers aber war ihm für kein Geld feil. Mit fünfzehn Jahren den ersten Tiger - da soll ihm einer kommen.
-156-
Wohin mit dem Geld? Da ist auch nicht ein Kolonist, der nicht Geld auf die hohe Kante legt oder es im Strohsack versteckt. Wäre doch nur der Landpreis endlich bekannt, da wüßte man doch, wie und wo man das Geld hinbringen könne. Der Hotelier, bei dem wir wieder mal nach langer Zeit einkehren und über Angelegenheiten der Kolonie sprechen, weiß uns einen Rat. Wir sollen das Geld bei der Bundeskollektorie anlegen. Die zahle zwar wenig Zinsen, sei dafür aber sicher. Banken, das sei so ein eigen Ding. Man sähe wohl die schöne Fassade, auch den monatlichen Ausweis, aber wie mit dem Gelde gewirtschaftet würde, das wüßten nur die Eingeweihten. Der Unterschied der Zinsen ist allerdings sehr groß. Hier fünf - dort zehn und sogar mehr Prozente. Trotzdem! Ich bin zur Hauptstadt gefahren und habe dort das Geld hinterlegt. Das hat dem Wiebusch ganz und gar nicht gepaßt, richtig falsch ist er geworden. Doch ich habe ihm vorgeschwindelt, unsere Besitztitel wären nur dann absolut garantiert, wenn wir einen entsprechenden Betrag hinterlegten. Den hätten wir jetzt endlich zusammen und nun wären wir fein heraus. Da hat er andere Saiten aufgezogen und war die Liebenswürdigkeit selbst. Schon stand eine Flasche Bier auf dem Tisch. »Wissense, Fritz, die Geschäfte! Ich sage Ihnen, die wachsen einem übem Kopf. Das ist jetzt drüben ein Umsatz, Sie glauben es nicht. Ich kann gar nicht genug heranschaffen. Tag und Nacht geht das hier und dort, und immer muß man alles selbst nachsehen. Das wird fast zuviel für mich, ich komme ja um meine Nachtruhe. Der Doktor sagt, ich soll meine Nerven schonen. Der hat gut reden! Auf wen kann ich mich denn verlassen? Nein, ich muß selbst dabei sein. Ich hab neulich gesehen, wie es ist, wenn ich dabei fehle. Na, nun ist ja die Frau -157-
schon wieder auf und der Junge wird ein Prachtkerl.« Da muß ich denn wohl gratulieren. Wieder holt Wiebusch eine Flasche Bier. »Warum läßt sich denn Wilm so wenig sehen?« »Weil er jetzt auch schlecht weg kann. Bei dem schwärmen nächstens auch die Bienen, wie die Kolonisten zu sagen pflegen.« Wiebusch lacht und sagt, ab nächster Woche nehme er Eisenbahnschwellen an. Dann würde es erst recht Hochbetrieb geben und zum kommenden Winter ginge der Bahnbau wirklich los. Ein hoher Angestellter habe ihn das vertraulich wissen lassen. Die Bankagentur habe sich ausgezeichnet entwickelt, und wenn es so weiterginge, würde aus der Agentur bald eine Filiale und er Unterdirektor. Ich gratuliere ihm nochmals und die dritte Flasche kommt dran. Aber als ich Wilm von dieser Unterhaltung erzählte, meinte er nur, er traue dem Mann nicht. »Was machen wir aber nun mit Wiebusch, wenn wir die Schwellen abliefern? Der wird doch sicher von uns erwarten, daß wir einen Teil des Geldes bei ihm stehen lassen oder dafür einkaufen.« »Was wir benötigen, kaufen wir hier in der Filiale oder bei ihm. Und das übrige Geld legen wir in Land hier oder dort drüben an. Wenn das auch nicht wahr ist - Wiebusch kann doch nichts dagegen sagen, er muß sogar noch ruhig sein. So dumm ist der Mann schließlich nicht, daß er nicht merkt, wie wir ihm mißtrauen. Und so dumm ist er auch nicht, das gleich an die große Glocke zu hängen, denn das könnte auch noch andere Leute abschrecken. Du stehst dich doch gut mit Frau Gruber. Klopf da mal auf den Busch, wie es in dem Geschäft eigentlich zugeht. Es ist doch ganz unmöglich, daß der Mann in so kurzer Zeit soviel verdient hat, um heute schuldenfrei dazustehen. Höchstens, daß er beim Großhandel unbeschränkten Kredit hat. Es ist mir schon längst aufgefallen, daß er seine Ländereien -158-
drüben fast ohne Verdienst losschlägt und daß er sogar schon eine Filiale verkauft hat. Gewiß! Der Käufer deckt sich immer noch bei ihm ein, aber wenn er eines Tages seine eigenen Wege geht, kann's Wiebusch auch nicht hindern. Er hat ja auch viel zu hohe Preise! Wieviele Kolonisten reiten heute schon ins Städtchen und kaufen dort ein. Das weißt du doch geradesogut wie ich und Wiebusch auch. Die Leute sind aus dem Dreck raus und gehen zu anderen Kaufleuten, ob das dem Wiebusch paßt oder nicht. Wenn die Holzarbeiter nächstens abziehen, ist die Hochkonjunktur wohl vorbei.« Sie war es nicht. Die Backsteinbrennerei ging glänzend. Die Handwerker besaßen alle bereits massive Wohnungen. Die Kolonisten gebrauchten auch viele Backsteine für Backöfen, Brunnen usw. Die da drüben konnten ebenfalls nicht genug Steine kriegen. Die Direktoren wollten massive Wohn- und Verwaltungsgebäude haben und im Städtchen setzte auch eine rege Bautätigkeit ein. Fuhrleute von auswärts fanden viele und lohnende Frachten. Da kam eines Tages bei Wiebusch eine komplette moderne Einrichtung für Käsefabrikation an. Jetzt wußten alle, warum er das große Nebengebäude bei dem Tanzsaal gebaut hatte. Ein Monteur stellte das ganze Werk zusammen, und als dann der Motor angelassen wurde und alle die Räder und Rädchen schnurrten, und als die Kolonisten zum ersten Male künstliches Eis sahen, da war nur eine Stimme: Ja, der Wiebusch, das ist ein Mann, wie so bald kein zweiter mehr zu finden ist! Da hielt Wiebusch eine kleine Ansprache: »Kolonisten! Ihr seid meine Freunde und ich bin euer Freund und Berater. Die Einrichtung hier wird der Kolonie ungeahnten Verdienst bringen. Käse ist sehr teuer in den Städten und außerdem sehr rar. Teilweise wird er sogar noch vom Ausland eingeführt. Das wird jetzt anders werden. Ich habe einen tüchtigen Fachmann kontraktlich verpflichtet und habe so die Gewähr, einen erstklassigen Käse auf den Markt zu bringen. Wer Geld -159-
verdienen will, der besorge sich jetzt Milchkühe. Der ganze Kamp ist voll davon! Futter und Stallung habt ihr alle. Pflanzt Klee und sonstiges Grünfutter, soviel ihr nur könnt. Mit der Milch werdet ihr fast alle Unkosten der Haushaltung bestreiten können, denn ich bezahle sehr gut. Im Sommer werde ich die Badegäste beliefern, im Winter verwende ich die Milch zur Käsefabrikation, und wenn es irgend möglich ist, dann entsteht hier auch noch eine Butterfabrik. Aber der Mensch lebt nicht nur zum Arbeiten, er will auch sein Vergnügen haben. Der Monteur hier installiert auch noch ein Radio. Die letzten Neuigkeiten der ganzen Welt sind in wenigen Tagen hier zu hören, und nun kommt noch eine Überraschung für euch: In längstens vierzehn Tagen wird bei mir eine Rennbahn eröffnet. Wer gute Pferde hat, kann sie hier laufen lassen!« Das mit der Rennbahn hat am besten gefallen. Reiten können sie alle und wetten und spielen auch. Und mit Bravo und Händeklatschen wird Wiebusch gedankt. »Der Mann stellt doch alles an«, sagen die einen, »er übernimmt sich«, die ändern. Aber darin sind sich alle einig, daß er ein Unternehmer ist, der vor nichts zurückschreckt, und dem alles, aber auch alles gelingt. Selbst der Doktor kriegt so etwas wie Respekt vor ihm. Dabei ist Wiebusch immer bescheiden und zurückhaltend. Ist das ein Leben in seinem Geschäft! Eine Unmenge Schwellen werden täglich angefahren und aufgestapelt zu hohen Bergen. Für den Erlös wird eingekauft, doch viel Geld bleibt stehen. Die Kunden bekommen ein Büchelchen, und wenn sie abends zusammen sind, zeigen sie sich gegenseitig ihre Guthaben bei Wiebusch. Früher bekam man den Oberbuchhalter im Geschäft oft zu sehen. Das ist jetzt eine Seltenheit geworden. Sein Büro wird noch mehr vergrößert, hat Schalter und Kasse und eine Schreibmaschine klappert auch schon darin. Der Tischler hat ihm einen großen Geldschrank aus Holz gebaut. Der ist einem richtigen eisernen Geldschrank so ähnlich, daß nur ein Kenner die Imitation herausfinden würde. Zu dritt arbeiten sie in dem -160-
großen Raum, und das geht manchmal bis in die Nacht hinein. Die Schwellen liegen kaum vierzehn Tage da, da werden sie auch schon zur zweihundert Kilometer entfernten Station gefahren. Ja, was ist denn das? Oh, sehr einfach! Herr Wiebusch hat mit der Eisenbahn einen sehr günstigen Vertrag abgeschlossen und verdient trotz der hohen Frachtspesen noch Geld. Die Holzarbeiter bleiben also fürs erste doch noch hier und die Äxte schallen lustig durch die Linien. Brasilianer treiben fast täglich Milchvieh durch die Siedlung und machen gute Geschäfte. Doch die Kolonisten sind manchmal aus Rand und Band, denn das Vieh ist sehr wild und erst nach längerer Zeit gewöhnt es sich an Stall und Stallfutter. Ohne daß ein Kalb ansaugt, gibt die Kampkuh überhaupt keine Milch. Darüber vergehen mehrere Monate und dann geht es allmählich. Der Winter hat eigentlich die Tiere erst zahm gemacht. Auf der Weide ist nur spärlich Futter, da finden sie den Stall bald allein und das Futter beginnt ihnen zu schmecken. Mit den Pferden ist es dasselbe. Jetzt arbeitet auch schon die Käserei, obwohl eigentlich für eine so starke Bevölkerung wenig Milch kommt. Im Sommer wird das schon besser werden. »Ich arbeite auf lange Sicht«, sagt Wiebusch. Mit dem Radio hat er sich verhauen. Die Kolonisten haben nicht viel Interesse für das, was draußen in der Welt vorgeht, und die neuen Tanzweisen sind auch nicht nach ihrem Geschmack. Portugiesisch in dieser Form verstehen sie nicht, und so hat Wiebusch denn den Apparat eige ntlich nur für seinen eigenen Gebrauch. Wir aber sitzen oft bis in die tiefe Nacht dabei. Für uns ist das eine Erholung und für die anderen Deutschen ebenfalls. Doch sonntags ist auf der Rennbahn großer Betrieb. Von weither kommt das Volk. Selbst bei Regenwetter wird geritten und meist um hohe Summen gewettet. Eine Rennbahn im -161-
europäischen Sinne ist das nun nicht. Da sind zwei schnurgerade Linien, die ungefähr dreihundert Meter lang sind, worin je ein Pferd läuft. Oben halten die Reiter auf den ungesattelten Pferden, deren Rücken der Bahn zugekehrt sind. Sie wenden die Tiere und lassen sie anspringen. Kommen sie gleichmäßig an, so schreit der Schiedsrichter »los« - und dahin brausen die beiden, jeder in seiner Bahn. Unten entscheidet der zweite Richter, wer gewonnen hat. Die ganze Kunst dieses Rennens besteht darin, daß ein Reiter dem ändern das Pferd aufgeregt und müde macht und sein eigenes soviel wie möglich schont. Stundenlang geht das manchmal oben an der Bahn mit Hin- und Herwenden und steigert die Wettlust und Ungeduld bis zur Siedehitze. Selten ein Rennen ohne Krach. Aber das ist nun einmal hier so der Brauch, und nur in ganz großen Städten gibt es Rennbahnen nach europäischem Muster. Aber Wiebusch macht glänzende Geschäfte. Wenn auch die Wurstfabrik noch nicht errichtet ist, Wurst wird dennoch sehr viel bei ihm hergestellt. Ein deutscher Fleischer besorgt das, der ist im Nebenamt auch noch Bäcker. Es ist spaßig mit unseren Kolonisten. Sie verkaufen ihre lebenden Schweine und nehmen aus dem Geschäft Wurst mit nach Hause. Sie verkaufen ihre Milch und für den Erlös trinken sie Bier und Schnaps. Der Bierbrauer tut gut daran, größer zu bauen. Er hat auch mehr als genug zu tun. Alkoholfreie Getränke für Frauen und Kinder stellt er außerdem noch her. Bei Wilm ist ein schönes Bübchen angekommen. Der große Kerl ist rein aus dem Häuschen, Mariechen aber ist selig. Sie weiß und fühlt, daß Wilm ihr nun ganz gehört, und sie sieht völlig verklärt aus in ihrer Mutterschaft. Manchmal beneide ich Wilm um seine Frau. »Nimm doch die Käthe, dann hast du die Schwester!« Ich weiß nicht. Aber die Käthe ist nicht das Mariechen. Sie hat so gar nichts von ihrer Schwester. Das Mariechen! Während ihrer Schwangerschaft wußte sie sich so zu kleiden, daß man ihren Zustand fast nicht sah. Bei den anderen Kolonistenfrauen ist das manchmal direkt scheußlich. -162-
Kaum, daß sie sich eine Schürze vorbinden. Die Schulkinder unterhalten sich ganz ungeniert über etwa bevorstehenden Familienzuwachs, die Klapperstorchgeschichte bringt denen niemand bei. Sie sehen ja auch täglich beim Vieh die natürlichen Vorgänge. Kürzlich wurde ein Pärchen zwangsweise getraut, er war sechzehn und das Mädel vierzehn Jahre alt. Da glaubte denn der Friedensrichter, er müsse den beiden eine ordentliche Strafpredigt halten. Doch auf seine Vorhaltungen entgegnete das Mädchen nur: »Ich konnte doch nichts dafür. Er hat mir doch halt kei' Ruh gegeben, und da hab ich ihm sein Wille geloß.« Und der Junge: »Ich sag bloß, das ist Natur.« Da hat's dem Friedensrichter die Stimme ve rschlagen und er hat schnell das Pärchen getraut. Die zwei Schwiegerväter aber haben auf dem Heimweg gesagt: Wir haben ja Land genug. Die zwei sind jung und können schaffen. Wieder ist die Maisernte gut ausgefallen und alle Schuppen sind gestopft voll. Aus nahmsweise ist der Winter sehr trocken, und wer nur irgend kann, vergrößert seine Weide. Axt und Säge, Pflug und Hacke bekommen viel Arbeit. Wieder wird das Holz auf Haufen geschichtet und verbrannt. Wir haben fast dreißig Hektar Land frei und die Hälfte davon ist schon Pflugland. Kleestücke werden angelegt. Das ist eine langwierige Arbeit, denn jede Wurzel muß ausgegraben, jeder Baumstamm herausgeschleppt werden. Wieder laufen wir nachts das ganze Gelände ab und legen Feuer nach. Das glüht und sprüht überall, und weil das den Kindern gefällt, hilft auch das kleinste mit. Die Felder kriegen jetzt ein ganz anderes Aussehen. Allmählich verschwinden die Bäume und Stämme. Wochenlang werden die Schwellen weggefahren, wochenlang wird Brennholz für den Backofen und die Küche gesägt und gehackt. Die Tischler arbeiten bei uns. Wir lassen die Wände verdoppeln und mit Leisten abdichten. Der Brunnen ist ausgemauert worden. Ein Wasch- und ein Schlachthaus werden gebaut. Die Stallungen werden vergrößert und abgedichtet, damit das Vieh im Winter -163-
warm steht, und der Garten hat Maschendraht bekommen. Über hundert zweijährige Obstbäumchen haben wir kommen lassen und alle sind gut angegangen. Die Ameisen haben diesen Winter den Rest gekriegt. Manchmal arbeiteten wir mit acht Mann wochenlang, das hat uns fast das ganze Geld gefressen. Aber dafür ist bei uns auch was zu sehen. Wenn die neue Pumpe kommt, kriegt die Küche Wasserleitung, und bis dahin ist auch das Badehaus fertig. Noch fehlt das alles bei mir. Aber Wilm geht vor. Und wenn man uns fragt, wozu dieser Aufwand, dann sagen wir nur: So legen wir unser Geld an.
-164-
Doch willst du nicht mein Bruder sein... Trockener Winter, nasses Frühjahr - lautet eine alte Bauernregel hierzulande. Wie sind wir alle froh, im vergangenen Winter so geschuftet zu haben. Das kommt uns jetzt zugute. Trotzdem ist niemand müßig, Axt und Säge haben auch an Regentagen immer Arbeit. Sobald aber die Sonne herauskommt, ist alles auf den Feldern, denn die Frühpflanzung hat den Vorzug. Besonders gilt dies für Mais. Der schießt dann langsam in die Höhe, wurzelt fester und widersteht Winden, Stürmen und Trockenheiten besser als zur Spätzeit. Fast alle Kolonisten haben diesen Winter Kampschweine gekauft und zur Mast aufgelegt. Die Brasilianer auf dem Kamp pflanzen nur das Allernotwendigste und ihre Schweine wachsen wild auf. Jeden Tag bekommen sie einen Maiskolben, damit sie sich nicht ganz entfremden. Ihre Jungen ziehen sie in den kleinen Wäldern, in den Sümpfen auf. Es kostet Mühe, die Tiere einzufangen, und wenn die Kolonisten nicht ganz starke Ställe haben, so reißen sie die nieder. Sao Paulo kauft seit einiger Zeit viel lebende Schweine und zahlt sehr gut. Täglich befördert der Kraftwagen fünfundzwanzig Stück zur Station. Die Käsefabrik kommt auch allmählich besser vorwärts. Das erste Grünfutter ist schon da und so hebt sich die Milcherzeugung. Aber der Holz- und Schwellenhandel hat gänzlich aufgehört. Auch auf der anderen Seite ist's damit vorbei. Es ist ein Glück für jene Leute, daß sie noch immer regen Zuzug erhalten, sie würden sonst in ihrem Mais ersticken. Der Doktor sitzt bei uns. Viel reden war nie seine Art. Ganz unvermittelt fragt er, ob wir Geld nötig hätten. Er habe mehrere Contos de reis liegen und für Banken habe er nun mal nichts übrig. Ich verweise ihn an Wiebusch. Da schüttelt er nur den Kopf. Warum er denn gerade zu uns komme? Trocken entgegnet -165-
er, es fehle an meiner Wohnung doch noch allerhand, wenn die so werden solle wie Wilms. Auch hätten die Handwerker jetzt weniger zu tun, die Tage würden länger, da könne mehr geleistet werden. Wir sollten uns den Vorschlag einmal überlegen, Zinsen berechne er sowieso nicht. Wir haben jetzt Mitte August. Schön wäre es ja, wenn zu Weihnachten endlich alles gebaut wäre, was wir geplant haben. Aber die Löhne sind hoch, das Baumaterial teuer und - wir haben bisher nie Schulden gehabt. Wilm errät meine Gedanken. »Fritz, zugegriffen! Zwei Ställe Schweine liegen voll. In zwei Monaten sind sie verkauft. Dann werden wenig Schulden übrig bleiben.« Da schlage ich zu. Während wir in der Pflanzung arbeiten, hämmert's, klopft's und sägt's bei mir. Ein neuer Kochherd ist angekommen und im neuen großen Küchenschrank glänzt das neue Geschirr. »Wer wird nun wohl seine Frau werden? Er geht doch nirgends auf die Freierei!« Die Nachbarn beginnen Rätselraten. Ich auch. Wenn das Nest fertig ist, wird wohl auch eine Hausfrau her müssen. Mariechen kann doch nicht immer zwei Häuser in Ordnung halten, der kleine Bubi macht ihr allerhand Arbeit. Nachts brüllt er oft und so laut, daß man's bei mir hören kann. Der Doktor hat sich das Kerlchen angesehen. Ihm fehle nichts, er sei nur schrecklich verwöhnt und müsse eine ganze Nacht durchschreien und, wenn auch das noch nicht hülfe, eine gehörige Tracht hintendrauf kriegen. Prompt hat Wilm das besorgt. Aber da hat Mariechen jämmerlich geheult. Doch Wilm blieb hart. Zwei Tage hat das Paar miteinander gemault. Dann war drüben nachts die schönste Ruhe, und jetzt leben die zwei wieder wie die Turteltauben und der Bubi gedeiht prächtig. Bei den Nachbarn aber ist Wilm als Rabenvater verschrien! Die Deutschen halten ihre Kinder entschieden besser zur Zucht und Ordnung an als die Deutschbrasilianer. Bei denen wachsen die Kinder fast wild auf, und der Schulmeister hat seine liebe Not mit ihnen. Fast wäre er jüngst geflogen. Er hatte einen -166-
Schüler gehörig gestraft. Dessen Vater kam nachmittags an, mit einer schweren Reitpeitsche in der Hand. Der Lehrer wohnt bei Wiebusch und dort ging denn auch der Krach los. Er hat nicht lange gedauert. Franz Sägemeister war da, der griff ein. Im Nu entwand er dem Kolonisten die Peitsche, warf sie zu Boden und den Mann daneben. Dann sagte er diesem allerhand schöne Dinge über Kindererziehung und der Vortrag endete damit, daß eigentlich der Vater eine Tracht Prügel verdient hätte. Wiebusch hat dann mit ein paar Flaschen Bier die Sache wieder eingerenkt und der Lehrer hat jetzt das Recht zum Strafen. Das hat geholfen. Die Schüler ziehen auf der Straße hübsch ihre Hüte und bieten die Zeit. Das wird von allen Bewohnern angenehm empfunden. Die Frau Doktor aber gibt den Mädchen wöchentlich einmal Handarbeitsstunde und ihr Mann erteilt Turnunterricht. Singen können die Kinder schon sehr gut und für Weihnachten üben sie ein kleines Theaterstück ein. Auch die großen Jungen und Mädchen werden mit herangezogen. Mit denen hält es fast noch schwerer als mit den Kleinen. Sie können nur mangelhaft lesen und müssen Aussprache und Betonung eingetrichtert kriegen. Ein acht- oder neunjähriger deutscher Schuljunge würde hier die ganze erwachsene Jugend mit seinen Kenntnissen beschämen. Die Witterung bessert sich täglich. Die Straßen sind belebt, die ersten Badegäste sind da. Jeden Morgen fährt der Milchmann ins Städtchen. In tadellosen Patentflaschen mit Aluminiumverschluß bekommt der Kunde seine Milch. Wiebusch hat da eine sehr gute Idee gehabt, und seine Kundschaft vergrößert sich schnell. Pasteurisierte Milch. Die Kleinhändler mußten bald einpacken. Schon soll für die Saison ein neuer Kraftwagen zweimal täglich die Lieferung besorgen. Auch die Wurstmacherei blüht. Saftige Schinken gehen großartig ab. Bei Wiebusch sitzt jetzt eine Kommission, die die Wähler einschreibt. Das ist ein äußerst langweiliges Verfahren und die Kolonisten schwitzen beim Schreiben mehr als beim -167-
Arbeiten. Stundenlang malen sie, bis fünf Linien vollgeschrieben sind. Mancher kriegt wie ein kleines Kind die Hand geführt. Die Brasilianer sind taktvoll genug, über die Unbeholfenheit hinwegzusehen. Im übrigen - je länger es dauert, desto länger werden sie bezahlt. Jedem wird klar gemacht, wählen sei Pflicht, und wer es nicht mit der Regierung halte, der habe den Schaden. Die Kolonisten kennen das Lied schon auswendig. Hier spricht noch besonders mit, daß sie mehr als andere von der Regierung abhängig sind. Sie sind ja noch keine wirklichen Landbesitzer, und wer etwa nicht mittun will, der bekommt das unverblümt unter die Nase gerieben. Mit dem Alter wird es nicht genau genommen. Achtzehnjährige kommen genau so in die Wahllisten wie Analphabeten. Die Opposition arbeitet ebenfalls stramm. Ihr Vertreter ist ein junger Mann, blaß und von kränklichem Aussehen. Er ist deutscher Abstammung und spricht sehr gut und eindrucksvoll. Für heute nachmittag hat er eine öffentliche Versammlung einberufen. Gestopft voll ist der große Saal, denn politische Reden wurden noch nie gehalten und da treibt die Neugierde jeden her. Ganz leise und förmlich nach Worten ringend beginnt der junge Mann seine Rede. Bis er allmählich aus sich herausgeht und warm wird. Da wird die Stimme stark. »Seit Erklärung der Republik ist unser Land nur ein Spielball der Politiker gewesen. Nicht für das Land haben sie gestrebt, sondern für ihre Taschen. Was der eine aufgestellt hat, hat der andere umgeworfen. Nicht einen einzigen großen Gedanken haben diese Politikaster geboren. Die Rechte der Bevölkerung wurden mit Füßen getreten. An die Stelle des Rechts trat die Gewalt und die gebar die Korruption. Jeder Politiker ist käuflich, und wer nicht mitspielt, der wird um die Ecke geschafft. Im Parlament bekämpft man sich auf Tod und Leben, hinterher trinkt man gemeinsam Champagner. Ein Skandalprozeß jagt den ändern. Um Beamter zu sein, bedarf es keiner Kenntnisse, gute Protektion genügt vollständig. Mit den -168-
Stellen wird Schacher getrieben. Es gibt Beamte, die drei, vier Stellen bekleiden. Sie halten sich einen Sekretär, der ihnen die Arbeit besorgt. Sie selbst aber sitzen im Klub oder im Ausland. Im Ausland gondeln auch unsere Kommissionen zu Studienzwecken herum und verpulvern das Geld. Wenn sie zurückkommen, haben sie vor lauter Banketts nichts gelernt. Haben sie aber mal etwas gelernt, so können sie's bei uns nicht anwenden. Unsere Finanzen sind auf dem Hund. Das weiß jedes Kind, nur die Regierung nicht. Die läßt sich einen englischen Finanztechniker kommen, damit der feststellt, daß der Geldschrank groß und leer ist. Brasilien ist das Land der Analphabeten. Früher war das Rußland. Wir haben viermal mehr weibliche als männliche Lehrer. Warum? Weil diesen Töchtern einflußreicher Leute die Examina leicht gemacht werden und sie sich dann ihre Aussteuer verdienen. In den anderen Ländern gilt der Offizier etwas. Bei uns nicht. Er ist ein Gehaltsempfänger und im Nebenamt Politiker, wie fast alle Intellektuellen. Wir können uns indessen rühmen, mehr Marschälle zu haben als die ganze übrige Welt zusammen! Und wir können uns ferner rühmen, daß wir unsere Offiziere am besten bezahlen und diese dafür den wenigsten Dienst tun. Das ist auch der Grund, weshalb alles sich diesem Beruf zuwendet. Unsere Universitäten sind überfüllt. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, alle diese Studierten unterzubringen. Der Staat ist demnach immer wieder gezwungen, neue Stellen zu schaffen, und er schafft sie auf Kosten einer ganzen Nation. Wie er auch eine Nationalindustrie schuf, die nur durch Schutzzölle am Leben erhalten wird. In der Tagespresse kann jeder lesen, daß die Einfuhrzölle ausländischer Waren dem Staat mehr einbringen würden, als die gesamte Nationalindustrie an Steuern. Und trotzdem dieser Protektionismus. Warum wohl? Weil die Besitzer im Parlament sitzen, nur ihren eigenen Vorteil im Auge haben, ganz gleich, ob darüber eine ganze Nation verelendet. -169-
Mit der nationalen Schiffahrt ist's ebenso. Seit Jahren arbeitet die mit riesiger Unterbilanz. Der Staat muß immer wieder mit enormen Summen beispringen, die wir bezahlen. Kaum eine Staatsbahn, die mit Verdienst arbeitet. Die Ausländer aber wirtschaften doch große Verdienste aus ihren Bahnen heraus. Warum? Sie arbeiten mehr und haben weniger Angestellte und Protektion gibt es bei ihnen nicht. Andere Länder rufen die Einwanderer, um ihre brachliegenden Ländereien zu bearbeiten. Damit Handel und Wandel neue Erwerbsmöglichkeiten erschlossen werden. Wir verfahren genau umgekehrt. Warum? Wir lassen die Ländereien liegen, gestatten den Cabocios darin nach Gutdünken zu hausen. Die aber sind verpflichtet, bei Revolutionen dem Staat Gefolgschaft zu leisten. Auf diese Art und Weise nehmen die Revolutionen nie ein Ende und entwickelt sich das Land nur langsam. Sie haben da immer die Trostworte zur Hand, Brasilien sei noch ein junges Land. Oh, dummes Geschwätz! Wie alt ist denn eigentlich Nordamerika? Wie weit sind die heute und wie weit sind wir? Wenige Menschen in einem Riesenreich, das von der Vorsehung mit allem bedacht wurde, was den Menschen reich und glücklich machen kann. Mit Gold und Silber, mit Kohlen und Erz, mit Petroleum, mit allem, worum uns eine ganze Welt beneidet, das aber brach liegt und schon lange der Erschließung harrt. Warum wohl? Ja, warum? Weil wir nicht mehr Herr in unserem eigenen Lande sind. Schwere Kämpfe hat uns unsere Unabhängigkeit gekostet, und als wir sie endlich errungen hatten, da wußten wir nichts besseres, als in die Knechtschaft des ausländischen Großkapitals zu gehen. Also darum sind wir heute so weit, daß wir kaum ein noch aus wissen. Mit einer Anleihe der anderen abhelfen und immer tiefer in Schulden geraten. Fast bis zur Unerträglichkeit wurde die Steuerschraube angezogen. Jeder Stand sucht die Lasten auf den anderen abzuwälzen. Da ist nirgends mehr ein Zusammengehen. Wenig fehlt, und man steht sich feindlich gegenüber. Die -170-
Straßen verfallen, die Wege auch. Aber in Regierungskreisen jagt eine Festlichkeit die andere. Die Staatsbeamten haben ihre Ferien, ihre Pensionen. Die Eisenbahner ihre neunstündige Arbeitszeit, die Handelsangestellten auch. Sie haben sich zusammengeschlossen und ihre Rechte erkämpft. Ihr aber, Kolonisten, die ihr am meisten zur Entwicklung des Landes beigetragen habt, ihr habt gar nichts erreicht, es sei denn euer Eigentum, und das ist auch noch in Frage gestellt. Was hie r ist, das ist euer Werk. Laßt euch doch nicht dumm machen mit schönen Phrasen vom gastfreien Lande, das euch herzlich aufgenommen. Wer profitiert denn eigentlich mehr? Ihr oder der Staat? Dem doch auf viele Jahre eine weitere und sichere Einnahmequelle erschlossen wurde. Was hat er als Gegenleistung getan? Wer baute die Wege? Wer die Kirchen und Schulen? Wer unterhält sie? Doch nur ihr! Wenn der Staat gerecht wäre, so würde er euch beispringen und euch einen billigen Landpreis machen. Das tut er aber nicht. Aus sicherer Quelle weiß ich das. Dafür, daß ihr ihm während der letzten Revolution geholfen habt, wird euch auch nicht eine einzige Vergünstigung zuteil. Im Gegenteil! Die Kolonie wird mit noch höheren Abgaben belastet. Ihr werdet vom nächsten Jahre ab dem Kamp helfen müssen durch Mehrsteuern, damit der auf billige Art zu Gefrierfleischanstalten kommt. Das Projekt liegt schon vor und wird glattweg genehmigt werden. Warum? Weil die Großviehzüchter ihren Einfluß im Parlament geltend machen, weil Großviehzüchter Abgeordnete sind. Laßt euch auch nichts vormachen, daß hier nächstens die Eisenbahn gebaut wird. Das sind Lügen. Jawohl! Lügen sind das! Vor fünf Jahren wird nicht angefangen damit. Das pfeifen übrigens in der Hauptstadt die Spatzen von den Dächern. Warum? Weil eine andere längst versprochene Bahn zuerst gebaut wird. Die SantaRosa-Bahn. Die Landkonzessionäre sind Regierungsleute und haben mehr Einfluß und ältere Rechte. Sie gehen vor und dann kommt ihr vielleicht an die Reihe. Ich weiß, es ist euch -171-
unangenehm, was ich euch sage. Aber es ist die Wahrheit und die war noch niemals nach jedermanns Geschmack. Ich predige keine Revolution, ich bin kein Umstürzler, ich appelliere nicht an die brutalen Instinkte des Menschen. Ich appelliere einzig und allein an die Vernunft. Soll Brasilien das werden, was es schon längst sein müßte, so muß in erster Linie der Bauern- und Arbeiterstand gefördert werden, muß die einseitige Bevorzugung von Handel und Industrie aufhören, muß das Beamtentum wieder zur Ehr- und Arbeitsamkeit geführt werden, haben die politischen Verfolgungen aufzuhören, wäre Kazikentum abzuschaffen, hat der Wahlschwindel zu verschwinden, soll der Bürger nach Pflicht und Gewissen seine Stimme abgeben. Das ist noch ein weiter Weg bis dahin. Aber er muß beschritten werden, weil es keinen ändern Weg gibt, der zur wirtschaftlichen und geistigen Erneuerung unseres so schönen Landes führt. Ich habe gesprochen.« Leicht sich verneigend nimmt der junge Mann auf seinem Stuhl Platz. Es ist sehr still im Saal. Die Worte sind für die Kolonisten neu. Bisher haben sie nur immer Reden von der anderen Seite gehört, und die gleichen sich wie ein Ei dem ändern. Was so mancher von ihnen im stillen gedacht, das wurde von dem jungen Mann öffentlich ausgesprochen. Der hat das Kind beim Namen genannt. Keine Bahn, Gefrierfleischanstalten für den Kamp, Mehrsteuern, teures Land - das ist zuviel auf einmal! Verflucht und zugenäht. Wenn das alles wahr ist, dann sitzt man ja hübsch im Dreck drin. Schon wenden sich etliche an Wiebusch, andere an die Wahlkommission, und wieder andere umstehen den jungen Redner. Ruhig und klar gibt der auf alle Fragen Auskunft, holt aus seiner Aktenmappe Zeitungsausschnitte und sonstige Papiere hervor und verteilt sie. Da steht auch in einem Artikel, daß nächstens ein Spezial Vertreter der Regierung käme, um den Landpreis zu regeln. Es ist der General, der damals den -172-
Präsidenten begleitete, als der mit seinem Kollegen von der anderen Seite hier zusammentraf. Dem Wiebusch setzen die Kolonisten hart zu. Er habe doch so oft gesagt, bald ginge der Bahnbau los. Von einem Fremden müßten sie nun das Gegenteil erfahren. Wiebusch lächelt überlegen und fragt, ob ihn denn jemand für so verrückt halte, daß er auf nichts und wieder nichts hin immer mehr Unternehmungen gründe? Ob denn nicht jeder Politiker nur zu seinen Gunsten spreche? Der junge Mann sei von der Opposition. Eines Tages würde man ihm einen Knochen geben und dann würde er ins Regierungshorn blasen. So hätten sie's bisher alle gemacht. Aus der Wahlkommission ist nichts herauszukriegen. Die zuckt die Achseln, versteht kein Deutsch, weiß also nicht, was der da geredet hat. Das Volk ist unruhig geworden. Wir Deutschen stehen zusammen, sind aber auch nicht klüger als die anderen. »Wie wär's«, sagt Wilm, »wenn wir den Oppositionisten heute zu mir nähmen und besprächen die ganze Angelegenheit nochmals.« Damit sind alle einverstanden. Der Doktor wird ihn heute abend mitbringen in seinem Wagen. Das also wäre erledigt und nun wird Bier getrunken. Ein Stimmengewirr herrscht, daß man sein eigenes Wort nicht mehr verstehen kann. Der Doktor hat eine Kiste Bier mit aufgeladen. Wir sitzen nun bei Wilm und unterhalten uns. Die Stube ist für die zwölf Mann fast zu klein. Der junge Mann ist Schriftsteller und hat sich in den deutschen und landessprachigen Blättern schon einen Namen gemacht. Politisch verfolgt wurde er schon oft und Mordanschläge hat er auch schon erlebt. Doch hat er auch seine treuen Freunde. Er ist sehr gut unterrichtet und bemerkt nebenbei, daß er von Bauern abstamme. Wiebusch sei ein Hochstapler und gehe gegebenenfalls über Leichen. An den Schwellen habe er sehr viel Geld verloren und der übrige Holzhandel habe ihm auch keinen Verdienst eingebracht. Er decke eben immer ein Loch zu und reiße dafür ein größeres auf. -173-
Firmen, bei denen er tief in der Kreide sitze, hätten ihn wieder an andere empfohlen, damit sie den Schaden nicht allein trügen. Das geschehe alles in der größten Heimlichkeit. Wiebusch wäre, wenn man den Bahnbau gleich begonnen hätte, unbedingt reich geworden, und daraufhin habe er ja auch den unbeschränkten Kredit gekriegt. Das sei jetzt vorbei. Die Bank nähme auch kein gutes Ende. Es werde da unten über das Geschäftsgebaren viel gesprochen und nichts Gutes. Wenn die Bauern gescheit wären, zögen sie ihr Geld beizeiten zurück. Aber das bringe einer diesen rückständigen Leuten bei. Hätten sie Verstand, besäßen sie doch längst ihre Raiffeisenkassen. Nur durch Schaden würden sie klug. »Glauben Sie, ich verspräche mir irgendeine politische Einstellung der Kolonisten. Bewahre! Darüber müssen noch Jahre vergehen. Nur die Not wird die Leute reif machen. Sie hängen zu sehr an ihrem Eigentum, das ihre Welt ist; aber für das, was jetzt eine ganze Welt bewegt, dafür fehlt ihnen jedes Verständnis. Verstehen sie doch noch nicht einmal ihre eigenen Belange. Sie denken in Distrikten, in Bezirken. Aber in Staaten und Kontinenten können sie nicht denken. Sie sind noch auf lange Jahre dazu verurteilt, die Arbeitsbienen abzugeben. Vielleicht, daß dann einer aus ihrer Mitte entsteht, in ihrer Sprache spricht, und daß sie dem Gefolgschaft leisten. Wie hierzulande die Dinge liegen, kann ich Ihnen nur raten: Gehen Sie mit der Regierung oder bleiben Sie zu Hause. Vor Belästigungen sind Sie dann bewahrt. Arbeiter und Angestellte aber, die schon geistig reger sind, die werden den Umsturz bringen. Warum ich nun doch zu den Kolonisten gehe? Sie sollen wenigstens etwas aufgerüttelt werden. Dann stehen sie später nicht ganz unvorbereitet da vor einer neuen Zeit. Ich liebe den Kolonisten, weil ich seine Nöte und Sorgen kenne. Meine Eltern waren auch Bauern. Blut läßt sich nun einmal nicht verleugnen. Wenn Sie etwas Gesundes schaffen wollen, dann gründen Sie Bauernvereine. Betreiben Sie erst Wirtschaftspolitik -174-
und mit den Jahren auch andere Politik, damit das Deutschbrasilianertum Einfluß auf den Gang der Staatsmaschine gewinnt. In den alten Kolonien ist das zum Teil schon der Fall: Aber das ist noch viel zu wenig. Dieser Gedanke muß Gemeingut aller Kolonisten werden. Erst dann wird in jeder Hinsicht für die Kolonie eine Zeit der Blüte und Ernte beginnen!« Es war längst Mitternacht vorbei und die Hähne mahnten zum Aufbrach. Die restlichen Flaschen wurden noch schnell geleert, dann nahm der Doktor den jungen Mann wieder mit sich. Der sollte sich einige Tage bei ihm erholen. Viel hatten wir alle in jener Nacht gehört und gelernt und hatten jetzt ein neues Ziel vor Augen: Aufklärung. Zwei Monate später begannen die Wahlen. Nur in den Städten eroberte die Opposition mehrere Sitze, die Kolonie ging mit der Regierung. Wer etwa aufmuckte, der wurde auf die Seite genommen und eingeschüchtert. Die Kolonisten bekamen bei der Wahl ihren Spießbraten und das nötige Bier und damit war die Wahlaktion vorbei. Unten wird man dann buchen: Spießbraten und Bier £ = entsprechende Stimmenzahl. Für die kommende Woche wird der General erwartet. Herr Wiebusch wird die Kolonie vertreten, Der Schneider bügelt den Frack neu auf und der Zylinder wird wieder probiert. Frau Wiebusch bestellte ein neues Kleid in der Stadt. Die Kolonisten werden wieder einexerziert und wir werden mit ihnen und den Schulkindern Spalier bilden. Frau Gruber aber übernimmt wieder die Tafeldekoration und die Ehrenjungfrauen drillt sie schon seit acht Tagen!
-175-
Verrat Der Empfang ist glänzend verlaufen. Der General ist entzückt. Er ist die Liebenswürdigkeit selbst und bedankt sich bei allen. Die Ehrenjungfrauen trinken mit ihm Champagner und die Schulkinder bekommen Süßigkeiten in Hülle und Fülle. Für die Kolonisten gibt's Spießbraten, Wein und Bier. Herr Wiebusch läßt beim Bankett seine Rede los und erntet großen Beifall. Da freut sich der Lehrer auf den nächsten neuen Anzug. Auch der General spricht. Mit lobenden Worten feiert er die Kolonisten. Sie seien die wirklichen Kulturpioniere. Alles schreit Hurra und die Musik bläst einen Tusch. Getanzt wird nachher auch noch. Die Badegäste, die Bevölkerung, alles nimmt daran teil. Und ganz gemütlich geht es zu. Der General, Wiebusch und noch ein paar Herren vom Gefolge sitzen in einem Nebenzimmer und Frau Gruber macht die Aufwartung. Die Herren trinken, rauchen, erzählen die letzten Vorkommnisse aus der Hauptstadt und dann geht das Thema allmählich auf die Landpreisfrage über. »Ich habe mich aufrichtig gefreut, als ich heute hierher kam. Die schönen Pferde, die hübschen Sattelzeuge - wie gut sitzen die Kolonisten zu Pferde. Sauber angezogen und glänzende Reitstiefel. Nein, wirklich, die Kolonie muß sich ja gewaltig entwickelt haben. Der Präsident wird sich sehr freuen. Er hat mich beauftragt, die Landpreisfrage zu regeln, und zwar so, daß Staat und Kolonist nicht zu kurz kommen. Die Landkommission ist vorerst um ihre Meinung befragt worden. In Anbetracht der in Santa Catharina geltenden Preise und angesichts der Tatsache, daß man hier vor dem Uruguay wohnt, der Fluß also weder ein Verkehrshindernis ist noch Unkosten verursacht und auch keinen Zeitverlust bringt, hält die Landkommission einen Preis von sechs Contos de Reis pro Kolonie für angemessen.« -176-
Rein geschäftsmäßig hat der General das von einem Blatt heruntergelesen und schaut jetzt zu Wiebusch hinüber, dessen Antwort erwartend. »Gewiß, Exzellenz! Dankbar, sehr dankbar bin ich Ihnen für das soeben Mitgeteilte. Die Kolonisten haben ja lange genug auf die Preisregelung gedrungen, nun ist sie endlich da. Nicht nur die Kolonie, die ganze Umgegend hier ist prächtig vorwärts gekommen. Gewiß, es gibt genug junge Anfänger, die noch Schulden haben. Die haben noch ein langes Leben vor sich und können ja schließlich Geld aufnehmen. Der größte Teil der Bevölkerung aber ist sehr wohl in der Lage, den angesetzten Preis zu bezahlen. Zumal, wenn man bedenkt, daß schon fast fünf Jahre gar keine Steuern erhoben wurden. Die Vermessung müßte allerdings auch gleich vor sich gehen.« »Die beginnt in längstens einem Monat.« »Danke sehr, Exzellenz. Hunderte und aber Hunderte Kolonien können dann noch besiedelt werden, und der Aufschwung wird noch mehr gefördert. Das ist ja gerade der Grund, warum so viele Kolonisten über den Uruguay ziehen: sie wollen ihre Besitztitel haben. Das wird denn nun hier bald der Fall sein. Werden sich meine Leute freuen, wenn sie die freudige Botschaft hören. Nochmals, Exzellenz, danke ich Ihnen innigst im Namen der Bevölkerung.« Wiebusch steht auf und macht dem General eine tiefe Verbeugung. Der umarmt Wiebusch und drückt ihn auf seinen Sitz nieder. Dann klingelt er und Frau Gruber erscheint. Sie hat sich im Nebenzimmer aufgehalten und jedes Wort dieser Unterredung gehört. Diensteifrig nimmt sie jetzt die Wünsche des Generals entgegen. Sekt will er haben. Zwei Kühler stehen bald da und die Herren plaudern jetzt von etwas anderem. Witze werden erzählt und so langsam wird man angeheitert. Da sagt einer der Begleitung, die von der Landkommission seien doch rechte Esel. Die hätten ihm gesagt, wie die Kolonisten hier schachern und Juden würden, bis sie den Landpreis mindestens um die Hälfte heruntergehandelt hätten. Ihre Entbehrungen, ihre -177-
Armut würden sie ins Feld führen und allerhand Ausflüchte machen, um so billig wie möglich zu ihrem Besitz zu kommen. Was habe es da schon immer für Schwierigkeiten gegeben! Proteste und Bittschriften habe es geregnet und darum hätten sie sich hier auch schon auf allerlei gefaßt gemacht. Das sei ja nun wider Erwarten alles anders und besser gegangen und Herr Wiebusch habe ihnen eine schwere Sorge und viel Scherereien abgenommen. Wieder steht Wiebusch auf, dankt und dienert. Dann werden die Gläser geleert, und der General verabschiedet sich. Es ist weit über Mitternacht. Ein Rundgang durch den Saal, ein Nicken hier, ein Händedruck dort, und dann zieht er sich auf sein Zimmer zurück. Morgen kann er abreisen, denn seine Mission ist erfüllt und der Präsident wird zufrieden sein. Hier unten im Saale aber geht der Tanz lustig weiter. Frau Gruber ist jetzt dienstfrei und kommt an unseren Tisch. »Wenn ihr eine wichtige, für euch sehr wichtige Nachricht hören wollt, dann sage ich's euch. Aber erst muß jeder mit mir tanzen.« Wir lächeln nur dazu. »Also dann nicht. Aber nachher beklagt euch nicht!« Hallo, das ist ernsthaft. Als sie aufstehen will, nehme ich sie an der Hand und sie bleibt sitzen. »Vorausgesetzt, daß es kein dummer Spaß ist, tanze ich mit dir, solange das Fest hier dauert.« Da trinkt sie ihr Glas leer, überzeugt sich erst, ob Wiebusch schon fortgefahren ist und dann erzählt sie uns ausführlich, was da im Zimmer verhandelt wurde, wie Wiebusch die ganze Kolonie verriet, wo er doch mit Leichtigkeit ihr größter Wohltäter hätte werden können. Wir müssen wohl kreidebleich geworden sein, denn nun starrt Frau Gruber uns entsetzt an. Herrgott! Haben wir Schulden gekriegt! Das hinterlegte Geld reicht höchstens für das halbe Land. Nein, Frau Gruber, ich kann nicht tanzen. -178-
Warum nur? Wir zermartern uns den Kopf, was wir machen sollen. Warten bis morgen früh und dem General sagen, wir seien elend betrogen worden? Der wird uns für verrückt erklären. Wiebusch zur Rede stellen, und der wird sagen, er habe im Auftrage der Kolonie und nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Die Kolonisten aufrütteln? Die werden schimpfen und toben über den hohen Preis, werden das Geld borgen oder die Karre laufen lassen wie sie will. Da reiten wir los. Unheimlich lang ist uns der Weg geworden. Es ist schon Tag, als wir heimkommen, und immer noch fragen wir uns: Warum nur? Warum nur gab dieser Halunke seine Zustimmung, wo er doch hundertmal hätte nein sagen müssen? Wenn aber Frau Gruber uns getäuscht hat? Doch das ist nicht möglich. Ich kenne sie gut, in solchen Angelegenheiten wird sie keinen Spaß machen. Mariechen hat eine feine Witterung, sie merkt gleich, daß etwas nicht stimmt. Wilm hat noch zu allem Unglück keine Bonbons mitgebracht, das passiert ihm sonst nie. Der Tee schmeckt heute gar nicht. »Mariechen! Lang doch mal die Schnapsflasche her, mir ist ganz elend zumut!« Wilm nimmt einen gehörigen Schluck, ich auc h. So. Wilm steht auf und streichelt das Bübchen. »Zwischen Mann und Frau soll es keine Geheimnisse geben. Bist du stark. Mariechen? Dann setz dich zu mir. Wissen mußt du's ja doch. Wir haben über Nacht Schulden gekriegt.« Mariechen lächelt nur und sagt: »Dann werden wir sie auch schon wieder los werden. Wir sind ja jung und gesund und können arbeiten.« Da nimmt Wilm sein Weib um den Hals. »Na, Mariechen, -179-
wenn du die Courage nicht verlierst, dann kann's nicht schief gehen. Was meinste, Fritz? Heute machen wir blauen Montag. Erst mal einige Stunden pennen, dann gehen wir zu Wiebusch und das weitere wird sich finden.« Bei Wiebusch stehen die Leute in Gruppen und reden und schreien. Der Schnaps wird bierglasweise getrunken. Gestern das schöne Fest und heute diese gottverfluchte Nachricht. Dem General hätte man alle Knochen kaputt schlagen sollen. Wie der so schön mit dem Volk getan hat. Keine Ahnung hat der gehabt, wie sauer der Kolonist sein Geld verdienen muß. Wofür der sich mit seiner Familie ein volles Jahr abquält, das verdient der General in einem Monat. So ein Mann ist überhaupt gar nicht geeignet. Landpreise zu bestimmen. Und der Wiebusch erst! Von dem hätte auch jeder ganz was anderes erwartet. Wiebusch lief von einer Gruppe zur anderen, beteuerte hoch und heilig, er hätte sich die Seele aus dem Leibe geredet, wäre fast auf die Knie gefallen, habe Sekt spendiert, und es hätte doch alles nichts geholfen. Die Regierung habe den Preis festgesetzt und schuld daran seien die Kolonisten selbst. Warum hätten sie fortwährend auf die Regelung gedrängt? Jetzt sei sie da und nun wäre natürlich der Teufel los. Ob vielleicht einer glaube, ihm mache es Spaß, seine Ländereien so teuer bezahlen zu müssen? Warum ihm denn keiner gestern abend zu Hilfe gekommen sei? Da sei alles vor Sonnenuntergang hübsch nach Hause geritten, und er habe sich die halbe Nacht um die Ohren schlagen können und kriege dafür heute die Ohren vollgebrummt. Könne er dafür, wenn der General meinte, die Kolonisten machten den Eindruck, als ob sie im Gelde schwömmen, die Töchter gingen gekleidet wie Damen. Dann rede einer mal von Geldknappheit. Glaubt ihr denn, die wüßten nicht ganz genau, wie wir uns hier stehen? Und dann die Landdirektoren drüben, denen waren wir doch schon lange ein Dorn im Auge. Jetzt haben die's endlich erreicht. Jetzt können ihre Agenten endlich sagen: Seht den Unterschied. Bei uns kostet das Land genau die Hälfte weniger! -180-
Bedankt euch bei denen, die uns das eingebrockt haben, bei denen, die euch immer wieder aufstachelten, daß die Vermessung endlich kommen solle. Die schon in der Hauptstadt Geld dafür deponiert haben, damit sie dem Staat zeigen können, wie es hier Geld regnet und wir es gar nicht schnell genug loswerden können. Hämisch lächelnd äugt er bei diesen Worten zu uns herüber. Ach nein. Wiebusch. Wir tun dir den Gefallen nicht, eine Keilerei anzufangen. Du hast dich ja ganz nett herausgewickelt und gleich zwei Blitzableiter gefunden. Aber wir werden der Sache eine etwas andere Wendung geben. Und Kern, der alte würdige Kolonist, wird uns wohl beistehen. Da sagt Wilm: »Warum laßt ihr denn eigentlich die Köpfe hängen? Trinken wir lieber Bier. Ein Dutzend Buddeln gebe ich zum besten. Mein Junge kann nämlich schon Papa sagen!« Da lachen sie alle und gehen mit. »So schlimm, wie ihr die ganze Sache anseht, ist sie denn doch nicht. Erstens wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird, und zweitens muß doch erst das Land vermessen werden, und dann kommen erst die Zahlungen an die Reihe. Die Landmesser aber werden bald sehen, daß das meiste Nutzholz vom Land herunter ist und die Regierung wird das auch schnell genug gewahr werden. Wenn das auch zehnmal verboten war - wir drehen das eben so, daß das Holz für die Schwellen verarbeitet ist, und Wiebusch wird gerne bestätigen, wieviel da durch seine Hand ging. Nehmen wir außerdem getrost an, wir würden verklagt und verurteilt, so wird man doch seine liebe Not haben, uns allesamt ins Loch zu stecken, gefüttert müßten wir dann ja auch noch werden. Und wenn wir dann noch anführen, daß wir uns nur der Eisenbahn wegen hier ansiedelten, daß ein Präsident sein Wort dafür verpfändete und es nicht hielt, so können wir doch wohl noch eine Ermäßigung des Landpreises durchsetzen. Denn mit der Bahn steht und fällt hier die ganze Gegend. Also bloß keine Bange haben und fest drauflos gearbeitet. Wenn es aber an Geld -181-
fehlen sollte, ei, wozu haben wir denn eigentlich hier eine Bankfiliale?« Wiebusch steht hinter dem Schenktisch. Ich biete ihm ein Glas Bier an und mit süßsaurer Miene tut er uns Bescheid. »Nicht wahr, Herr Wiebusch, die Bank streckt uns doch Geld vor?« »Gewiß gibt die Bank Geld her. Aber nur unter der Bedingung, daß das Land gesetzlich registriertes Eigentum ist und zwei Bürgen mit ihrem Eigentum haften.« »Was sagst du da? Was für eine Bürgschaft gibt uns denn deine Bank ?« Der alte Kern wird richtiggehend wild. »Um unser Geld hier hinzulegen, dazu sind wir gut genug, aber wenn wir welches brauchen, dann werden große Umstände gemacht. Hat denn überhaupt einer von uns registriertes Land? Kein Wort ist jemals darüber gefallen. Du hast gesagt, die Bank nimmt nicht nur Geld, sie leiht auch Geld aus. Jawohl! So hast du's gesagt und wir haben dir geglaubt.« Dicht drängen sich die Menschen und sehen gespannt auf Wiebusch. Diesmal lächeln wir ihn höhnisch an und sehen, wie ihm die Haut zu eng wird. Da schreit Kern: »Mein Geld will ich haben.« »Und ich!« »Und ich!« So schreit's jetzt wild durcheinander. Der Oberbuchhalter kommt herbeigelaufen. Der Schweiß perlt ihm von der Stime. »Meine Herren! Aber meine Herren! Beruhigen Sie sich doch! Sie bekommen ja Ihr Geld. Ich werde sofort die Namen aufschreiben!« »Zu was Namen aufschreiben? Kennst du uns schon nicht mehr? Raus mit dem Geld! Die Bank nimmt und gibt Geld. Her damit!« »Aber meine Herren! Beruhigen Sie sich doch. Das Geld muß -182-
doch erst gekündigt werden. Sie haben doch sechsmonatige Kündigung.« »Was? Wer hat uns das gesagt? Kein Wort ist davon gesprochen worden. Wiebusch hat mir noch vor wenigen Tagen gesagt, als ich Geld zur Bank brachte, ich könne es jeden Tag auch wieder abholen. Wo ist der Wiebusch? Er soll mir sagen, ob das wahr ist oder nicht!« Da geht der Oberbuchhalter auf die Suche und wir warten vergeblich auf beide. Da rattert durch die Weide das Auto. Ach so! Die beiden fahren zum Städtchen und holen die Behörde. Das wird ja heute noch nett hier. Um zwei Uhr kommt denn auch richtig ein großer Kraftwagen mit Soldaten an. Ein Unteroffizier führt sie. Sie besetzen die Ein- und Ausgänge und fordern die Kolonisten zur Ruhe auf. Die lachen bloß. Sie werden doch wohl noch ihr Bier trinken dürfen und das Sprechen sei wohl auch nicht verboten? Ob es ein Verbrechen sei, sein Geld zu fordern? Aber jetzt macht sich Wiebusch mausig. Den ganzen Morgen habe er sich die Anpöbelei gefallen lassen, aber jetzt habe er sie endlich satt. Jeder bekäme jein Geld, und zwar in der festgesetzten Zeit. Wer da nicht mit einverstanden sei, der möge die Bank verklagen. Er sei nur der Vertreter und habe als solcher keine Verantwortung, das solle sich jeder nur gehörig merken. Er habe immer für die Kolonie gesorgt und auf solche Art würde ihm nun gedankt. Ob er schon jemand aufgefordert habe, seine Schulden bei ihm zu bezahlen? Heute auf Knall und Fall verlange die Kolonie ihr Geld. Das sei eine abgekartete Sache und ins Werk gesetzt, um ihm zu schaden. Aber er vergelte jetzt Gleiches mit Gleichem und fordere nun auch die Kolonie auf, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Drei Tage gebe er seinen Schuldnern Zeit, später lasse er das Geld gerichtlich eintreiben. Da wurde es allmählich ruhig in dem großen Raum. Einer sieht den ändern an und denkt sich sein Teil. Nur wir Deutschen und der alte Kern stehen immer noch am Schenktisch. Auf all -183-
diesen Ärger muß getrunken werden. Der Doktor und der Tischler kommen ebenfalls, die haben auf dem Kamp zu tun gehabt. Sie erfahren durch uns, was hier los ist. Der Saal und das Geschäft leeren sich schnell. Wiebusch geht mit langen Schritten hinter dem Ladentisch hin und her und schnauft. Plötzlich bleibt er vor unserer Gruppe stehen: »Habe ich das verdient? Bin ich ein Betrüger? Muß man sowas gegen mich ins Werk setzen? Der Großhandel, die Regierungskreise ehren und achten mich, zeichnen mich aus. Ich habe nie Wert darauf gelegt, mir lag mehr am Vertrauen und an der Liebe der Kolonisten, für die ich mich aufgeopfert habe. Da soll mir einer Schlechtes nachsagen, den will ich sehen.« »Und du bestätigst mir jetzt auf der Stelle, ob du mir nicht vor einigen Tagen gesagt hast, ich könnte mein Geld jederzeit abheben?« Kern hat das laut geschrien und seine Augen flammen. Einen Augenblick zögert Wiebusch, dann sagt er fest und bestimmt: »Nein, das habe ich nicht gesagt. Das kann ich nicht gesagt haben, weil es gegen die Satzungen verstößt. Dein Bankbuch hätte dir das schon sagen müssen, da sind ja die Satzunge n drin.« »Und dann sage ich dir, daß du ein ganz großer Lügner und Lump und kein Mann von Wort bist!« »Das mir in meinem Hause zu sagen! Kannst du das beweisen? Wenn du nicht so alt wärest, ließe ich dich heute noch einsperren!« Da sagt der Doktor: »Herr Wiebusch, Sie werden das hübsch bleiben lassen. Sie haben das dem alten Kern gesagt, und zwar in meiner und Herrn Tischlers Gegenwart. Nicht wahr, Herr Tischler?« Der nickt etwas verdutzt ja. Wiebusch reißt weit die Augen auf und schaut entgeistert den Doktor und uns andere an. Unheimlich sieht der Mann aus. Er lallt noch ein paar Worte und -184-
bricht zusammen. Die Angestellten kommen herbei, heben ihn auf und tragen ihn ins Schlafzimmer. Der Doktor untersucht den Kranken, weinend steht Frau Wiebusch daneben. »Gefahr ist nicht vorhanden. Ihr Mann ist mit seinen Nerven fertig und benötigt absolute Ruhe. Weiter gar nichts.« Wir sind dann zum Doktor herübergegangen. Der sagt dem alten Kern, er habe ihm mit einer Lüge beispringen müssen, es wäre nicht anders gegangen. Er wisse, daß Kern die Wahrheit sage, und nur so sei vermieden worden, daß Wiebusch einen alten ehrlichen Mann zum Lügner stempelte. Die Soldaten ziehen wieder ab. Sie wissen schließlich auch nicht, was sie anfangen sollen. Der Doktor aber findet schließlich die Lösung von Wiebuschs Verhalten. Der Mann steht so schlecht, daß nur der hohe Landpreis ihn noch retten kann. Die Schuldner werden ihm ihr Eigentum, auch wenn sie noch nicht tatsächliche Besitzer sind, verschreiben müssen, und dann hat Wiebusch seinen Gläubigern gegenüber ja einen guten Ausweis. Die werden ihm weiter Kredit einräumen und nehmen sicher auch das Land in Zahlung, wofür Wiebusch keinen geringen Preis ansetzen wird. So schafft er sich den Strick vom Halse und halst ihn den Kolonisten auf. Ganz gleich, ob da einer um Haus und Hof kommt. Der Mann geht nötigenfalls über Leichen. Uns kommen die Worte des Schriftstellers wieder in den Sinn, und wir erkennen jetzt, wie gut der Mann orientiert war. Wo nur jetzt das Geld hernehmen? In einigen Monaten beginnen die Zahlungen. Der Mais, das Haupterzeugnis, hatte wohl einen guten Preis, zog man aber die Frachtspesen ab, blieb nicht viel Verdienst. Die Schweinezucht gedieh gut und brachte Geld. Aber um damit das Land auszuzahlen, vergingen Jahre, zumal die meisten Kolonisten zwei Kolonien hatten. Die Milchwirtschaft brachte auch nicht genügend Verdienst. Nein, es sieht nicht rosig aus in der Kolonie und dabei steht Weihnachten vor der Tür. Schlimm sind die meisten Deutschen -185-
dran. Sie haben sich wohnlich eingerichtet und da ist das ganze Geld draufgegangen. Im Geschäft hängen sie auch tief in der Kreide. Der große Kredit hat sie zu unnötigen Ausgaben verleitet und jetzt ist Kopfweh da. Geld aufnehmen? Nur zu sehr hohen Zinsen und wo? In jener Nacht hat wo hl niemand gut geschlafen. Am nächsten Tag gibt's wieder eine Überraschung. Wiebusch hat den Milchpreis bedeutend heruntergesetzt. Auf Gnade und Ungnade ist man ihm ausgeliefert. Da stehen nun die vielen Kühe. Sie von heute auf morgen abschaffen, geht auch nicht. Die Kartoffelernte fällt gut aus. Man bringt die Kartoffeln selbst zum Städtchen und verdient so mehr. Wiebusch, dem es nicht verborgen bleibt, daß man an seiner Tür vorbeigeht, holt aus zum Gegenschlag. Ein Advokat, begleitet von zwei Soldaten, reitet zu Wiebüschs Schuldnern und die müssen ein Dokument unterzeichnen. Mancher protestiert dagegen. Man ruft ihn vor die Behörde, da wird ihm klargemacht, daß man dem auch Sicherheiten geben müsse, der einem gut genug zum Borgen sei. Andere wieder wollen nicht soviel schuldig sein, wie da angegeben ist. Ihnen wird gesagt. Wiebusch führe seine Bücher in der gesetzlich vorgeschriebenen Form und man hätte sich vorher um den Stand der Rechnungen kümmern sollen. Da wurde eben unterschrieben, denn die zwei Soldaten, die der Advokat zu seiner persönlichen Sicherheit verlangte, verfehlten nirgends ihren Eindruck. Alles das ging schnell vor sich, und jetzt erst wissen wir, wie tief unsere Kolonie in Schulden steckt. Es hat nichts genützt, daß man den Kolonisten riet, sie sollten die Unterschrift verweigern. Als die ersten den Namen hinsetzten, sind die anderen hinterher gekommen. Wiebusch aber sagt jedem, der es hören will, er habe nur zu dieser Maßnahme greifen müssen, um zu zeigen, daß er auch anders könne. Aber Kolonisten um ihr Land bringen? Da würde er sich ja selbst schädigen, verlöre er ja Kunden. Überhaupt sollten die Kolonisten das nur ja nicht als einen Druck ansehen. -186-
Er sei ein kranker Mann, müsse damit rechnen, eines Tages am Schlag zu sterben, und da sei es seine Pflicht, beizeiten alles in Ordnung zu bringen. Frau und Kind wären ihm, wie jedem Kolonisten, auch ans Herz gewachsen. Das hat ihm die Kolonisten wieder nähergebracht, und sie vergäßen schnell, was sie vorher bedrückt hatte. Zu Weihnachten ist dann poch das Schulfest abgehalten worden. Der Christbaum hat wunderhübsch gestrahlt und der Lehrer hatte das Krippenspiel ausgezeichnet eingeübt. Wie die Kinder dann die Weihnachtslieder sangen, ist es uns allen weich ums Herz geworden, und wir dachten der Kindertage und deutscher Weihnacht. Am zweiten Festtag war im Tanzsaal eine Theateraufführung, so recht nach dem Herzen der Kolonisten. Ein richtiges Rührstück! Beim Tanz wurde dann der letzte Rest Kummer und Sorge vergessen und heruntergespült und am anderen Tage kamen die Landmesser. Einer von ihnen hat seinerzeit die Bahnlinie vermessen, der kommt jeden Sonntag zu uns und bringt auch Kollegen mit. Denen haben wir die ganze Landgeschichte erzählt und auch, daß wir bereits vor Jahren Geld hinterlegt haben. Sie raten uns, an den alten Chefingenieur zu schreiben, der würde es wohl ermöglichen, daß wir das Land zu den damals geltenden Satzungen bekämen. Beim Schreiben hat uns der Landmesser noch geholfen, einige Worte hinzugefügt, und nach einem Monat schon ha tten wir die günstige Nachricht in Händen, daß unser Gesuch bewilligt worden sei. Das haben wir aber begossen! Der letzte Stall Schweine wurde verkauft und der Doktor hat nur noch ein Conto de Reis zu kriegen. In längstens einem halben Jahre wird das getilgt sein. Dann sind wir zwar ohne Geld, es fehlt uns aber auch nichts mehr. Meine Wohnung ist nun vollständig fertig und es sieht darin genau so aus wie bei Wilm. Nur die Frau fehlt noch. Donnerwetter! Ich bin schon über sechsunddreißig Jahre hinaus. Da wird's Zeit. Mariechen meint, ich solle doch endlich mit der -187-
Käthe Ernst machen. Leicht gesagt! Das Mädchen ist fleißig, hat ein hübsches Aussehen, besitzt auch etwas Geld und ist beliebt und angesehen. Weihnachten habe ich viel mit ihr getanzt, aber wann bin ich nicht geworden. Liebe? Das ist etwas ganz anderes. Die habe ich einmal erlebt, und sie ist mir nicht gut bekommen, und doch denke ich noch daran. Weiß Gott! Ich fühle mich mehr zu Frau Gruber hingezogen.
-188-
Die Krise ist da Das Biertrinken hat nachgelassen, dafür kommt jetzt der Schnaps dran, und da geht's den drei Brennern besser. Die Produkte fallen immer mehr im Preis. Bei Wiebusch ist nur noch wenig zu tun, Max wurde schon entlassen. Aber die Milch hat wieder Wert gekriegt. Der Käse wird nach der Hauptstadt versandt und findet flotten Abgang. Schweine sind immer noch gesucht. Aber wer hat jetzt fette Schweine? Damit ist nur zum kommenden Winter zu rechnen, jetzt aber haben wir März. Bohnen, Kleeheu und sonstige Erzeugnisse lohnen kaum die Arbeit. Im nächsten Frühjahr will man hier mit Reis anfangen. Es gibt eine Art, den nennen sie Bergreis, der soll sehr widerstandsfähig gegen Dürre sein. Auch Tabak soll angebaut werden. Die Landmesser haben schon tüchtig gearbeitet. Bis jetzt war mehr Land da, als besiedelt wurde, und noch ist kein Bewohner um sein Eigentum gekommen. Das ist wenigstens ein Trost. Wiebusch hat jeden Kredit gesperrt. Seine Filialen auch. Der ganze Handel geht im Tauschverkehr. Mächtig leer ist es in den Geschäften geworden. Der Kraftwagen und das Auto stehen schon lange still. Nur die Fuhren rollen noch. Wir haben es auch schon versucht, unsere Produkte nach der Eisenbahnlinie zu fahren, aber wir haben Geld dabei zugesetzt. Nun werden wir die Schweinezucht noch größer betreiben. Überall werden die Viecher gepflegt und gehätschelt wie sonst die Kinder. Frau Gruber hat sich bei der Witwe Lehmann einquartiert. Aber die Schneiderinnen haben jetzt, wie die übrigen Handwerker auch, wenig zu tun. Schon bieten etliche Handwerker ihr Eigentum feil. Doch wer kauft jetzt in einer so entlegenen Gegend? Die auf der ändern Seite sind noch -189-
schlechter dran. Die haben noch die hohen Überfahrtgebühren zu zahlen und außerdem die zwischenstaatlichen Ein- und Ausfuhrsteuem. Wir wissen nicht, wie die dort durchkommen. Das ist ein dämlicher Zustand, in Produkten zu ersticken, sie nicht loswerden zu können oder beim Verkauf fast nichts dafür zu erhalten. Weg sind die Glücksritter bei Wiebusch. Das Kartenspiel wird nur noch in den Häusern geübt. Selten rollen die Kugeln auf der Kegelbahn und nur die Rennbahn ist noch gut besucht. Hat man kein bares Geld, verwettet man Vieh, Produkte, Waffen und sonst alles mögliche. Selbst die Schule verliert Schüler, und die Kirchen sind fast leer. In den Familien gibt es oft Krach. Das junge Volk war das Geldausgeben schon so gewöhnt, daß es meinte, es ginge nicht ohnedem. Jetzt fällt's schwer, ohne Geld auszukommen. Die seidenen Kleider werden gefärbt und umgearbeitet. Für neue langt es nicht mehr. Aber gut genährt ist die ganze Gesellschaft, Hühner und Eier können ja sowieso nicht verkauft werden. Der evangelische Pfarrer hat neulich gepredigt: Wen der Herr lieb hat, den züchtigt er. Vordem aber predigte er: Gott hat das Werk eurer Hände gesegnet. Der Mann hat für jede Gelegenheit immer den richtigen Spruch! Nächstens wird er dann wohl sagen: Ihr werdet noch durch viel Trübsal hindurch müssen. Das sagt Sägemeister höhnisch. Der ist Freigeist und hat mit dem Pfarrer öfter Wortgefechte. Kürzlich war der bei ihm zu Tisch. Der Pfarrer hat den Hausherrn angesehen und der erwiderte den Blick. Bis dann Sägemeister sagte: »Ja, was nun, Herr Pfarrer? Wer von uns beiden soll denn das Tischgebet sprechen?« Da hat denn der Pfarrer das Komm, Herr Jesus gesprochen und nachher hat ihm Sägemeister derb auf die Schulter geklopft: »Sehen Sie, Herr Pfarrer, das gefällt mir! Ein kurzes Gebet und eine lange Wurst, so hab ich's gerne!« Nach dem Essen aber fragte der Pfarrer, warum Sägemeister sich so selten in der Kirche sehen lasse, während doch die übrige Familie stets vollzählig da sei. »Ja, das ist so. Ich bin -190-
viele Jahre als Koch auf einem Lloyddampfer gefahren, hauptsächlich auf der Ostasienlinie. Wenn da sonntags irgendwo angelegt wurde, durfte die katholische Mannschaft stets an Land gehen, um ihren Kirchenpflichten zu genügen. Das machten die natürlich in der Kneipe ab. Die Evangelischen aber mußten schön an Bord bleiben. Klar, daß ich da schnell katholisch wurde, war doch ein großer Vorteil dabei. In meiner Jugend habe ich das schon gemerkt. Wir Lehrjungs mußten damals sonntags die Kühe und Kälber zusammentreiben, die der Schlächtermeister in der Woche aufgekauft hatte. Es ist kein Pfarrer gekommen, der sich unser angenommen hätte. Es hat keiner gefragt, warum die Lehrjungs in der Kirche fehlten. Und die Sonntagsruhe ist uns auch nicht durch die Pfarrer geworden, die haben wir uns später als Gesellen erkämpft. Die Herren Pfarrer haben sonntags genau so ihren Braten, ihr Brot haben wollen, wie die anderen Menschen auch. Wie war's denn hier? Erst als eine Kirche dastand, kamen Sie. Bis dahin konnten wir sehen, wie wir fertig wurden. Und ohne einen vorher bestimmten Preis kamen Sie auch nicht. Na, lassen wir's gut sein. Es ist alles Geschäft und die Pfarrer sind halt auch nur Menschen.« Von da an ging der Pfarrer nicht mehr zu ihm hin. Bei uns war er auch schon und hat den Bubi getauft. Hat uns erzählt, daß er eine große Familie habe und manchmal nicht wisse, was später aus den Kindern werden solle. Zum Studieren lange es einfach nicht. Da hat Wilm ihm noch fünf Milreis extra gegeben. Der Max drückt sich jetzt bei uns herum. Arbeiten kann der Kerl. Aber wir können wahrhaftig keinen Lohn ausgeben. Wir haben ihm darum angeboten, er solle sich in der Pflanzzeit ein Stück Mais pflanzen und nachher mehrere Schweine mästen. Das hat er angenommen und hilft uns nun bei der Arbeit. Wir reinigen jetzt die Pflanzungen nochmals von Unkraut und nachher soll ein Schuppen für Tabak gebaut werden. -191-
Zimmerleute kann sich niemand mehr halten, jeder ist sein eigener Handwerker geworden. Im Städtchen hat's zwei Konkurse gegeben und bei Wiebusch waren auch schon die Geschäftsreisenden und wollten Geld haben. Er muß doch wieder einen Ausweg gefunden haben, denn neue Waren sind angekommen. Noch zwei Monate, dann bekommen die Kolonisten ihr Geld von der Bank ausgezahlt. Aber es schwirren auch schon Gerüchte, die Bank stände sehr schlecht. Es wird überhaupt viel gemunkelt. Auch von Revolution. Die Zeitungen bringen wenig. Neues. Der Unterhaltungsteil interessiert uns fast mehr als der ganze Spektakel in der Welt. Es ist fast so: die kümmern sich nicht um uns und wir uns nicht um sie. Selbst das Radio hören wir nicht mehr. Aber alle zerbrechen wir uns den Kopf darüber, wie lange Wiebusch sich wohl halten mag. Wenn der zusammenkracht, wird das Elend in der Kolonie groß und ein Drittel der Bevölkerung sitzt auf der Straße. Um dieses Thema dreht sich eben alles. Die verrücktesten Vorschläge werden laut: der Staat müsse gezwungen werden, die Bahn zu bauen. Die Kolonisten würden die Erdarbeiten übernehmen und so ihre Schulden abtragen. Sie würden auch Schwellen liefern. Der Staat benötige also gar kein Geld. Es ist dann tatsächlich ein solcher Vorschlag auf Papier gebracht worden. Aber Antwort kam nie. Max, der sonst immer voller Einfälle und Witze steckt, wird auch schweigsamer. Wenn wir ihn manchmal necken, dann sagt er nur: »Ihr sitzt alle in Kindsnöten, aber wer euch daraus hilft das bin ich. Ich habe Pläne, aber noch ist's zu früh. Wenn es so weit ist, werdet ihr schon gewahr werden, was ich für ein Kerl bin.« Wir sehen uns den Max an, so sprach der zwar sonst nie. Aber was mag er schon für Pläne haben!
-192-
Der Zusammenbruch Bei Wiebusch machen sie Bilanz. Ein ganzes Dutzend fremder Gesichter ist plötzlich aufgetaucht. Advokaten, Sachverständige, Konkursverwalter. Die arbeiten täglich höchstens vier Stunden und lassen's sich sonst gut gehen. Da werden Picknicks veranstaltet, Vögel geschossen und den Sonntag und Montag verbringt die Gesellschaft im Städtchen. Einen ganzen Monat geht das so, dann reisen sie alle wieder ab. Es ist gekommen, wie es der Doktor gesagt hat: Wiebusch will mit Ländereien zahlen und wenn die Gläubiger das nicht annehmen, beantragt er die gerichtliche Liquidierung. Für die Gläubiger wird dann so gut wie nichts übrigbleiben. Das wissen die auch und werden daher wohl oder übel auf den Vorschlag eingehen müssen. Die Kolonisten schulden dann Wiebuschs Gläubigern und kommen vom Regen in die Traufe. Aber ihnen ist alles gleichgültig geworden. Sie bringen ihr Zuckerrohr zu den Schnapsbrennem und lassen es dort um die Hälfte verarbeiten. Unheimlich viel Schnaps wird getrunken. Als wenn die Menschen sich betäuben, vergessen wollten. Krach gibt es täglich und wegen jedem Dreck. Ausreißen möchte man manchmal. Wohl liegen die Mastställe voller Schweine. Doch. der Schmalzpreis sinkt nun auch. Sao Paulo wird Selbstversorger. Mit dem Kaffee geht es schon seit Jahren bergabwärts. Sie haben Überproduktion. Verbrennen und versenken die Kaffeebohnen. Alle Tage kommen Menschen hier durch und suchen Arbeit. Für die Kost bieten sie sich an. Von ihnen erfahren wir, wie groß die Not in den Industriezentren ist, wie dort der Hunger schon an die Türen pocht. Und dabei wissen wir nicht, was wir mit unserem Überfluß anfangen sollen. Die Käsefabrik wird geschlossen. Wiebusch hatte sie auf -193-
ein Jahr Ziel gekauft. Seine erste Anzahlung hatte er verloren, weil er seinem Kontrakt nicht nachgekommen war. Jetzt will eine Italienergruppe den Betrieb übernehmen. Fürs erste aber können wir unsere Milch selbst trinken. Das bißchen Bargeld, das die Milch brachte, ist nun auch dahin. Bald sind die Ländereien vermessen. Über fünfhundert Kolonien umfaßt der Komplex. Der Staat würde also, wenn die Ländereien bezahlt sind, über dreitausend Contos de Reis einnehmen. Ein riesiges Stück Geld, und dabei hätte man das Land um den halben Preis haben können. Bald kommt der Tag, an dem die Bankguthaben fällig werden. Mit Schmerzen warten die Kolonisten auf ihr Geld. Es ist ein sonderbarer Zustand. Wir haben alles, was man zum Leben braucht. Aber mit dem ersten Kilo Kaffee, Zucker, mit dem ersten Meter Zeug empfindet schon jeder das Fehlen des Geldes. Alle Preise für die Waren im Geschäft sind unerhört gestiegen, und was wir zu verkaufen haben, ist wenig mehr wert als gar nichts. Nicht einmal alle Artikel der Kolonieerzeugnisse werden in Zahlung genommen. Die großen Familien verbrauchen aber viel Zeug. Da wird jetzt ein Flicken auf den anderen gesetzt. Mehl- und Salzsäcke werden zu Kleidung umgearbeitet. Es ist wieder wie im ersten Jahr. Buntscheckig läuft die Bevölkerung umher, und wer etwa fremd durch diese Gegend kommt, könnte meinen, wir hätten alle Tage Fastnacht. Immer noch kommen Arbeitslose. Da baten neulich zwei Deutsche um Nachtlager bei uns. Sie kamen von Argentinien und waren ziemlich abgerissen. Im Schuppen stehen zwei Betten stets für Besucher fertig. Das ist Sitte auf der Kolonie: niemandem wird ein Nachtlager verweigert, selbst dem Neger nicht. Die zwei also bleiben, und da sie sehr müde sind, haben sie sich bald hingelegt. Am ändern Morgen kommt nur der Jüngere zum Teetrinken und sagt auf unsere Nachfrage, der Kollege möge keinen Tee. Als der aber auch noch nicht zum Kaffee erscheint, gehe ich in den Schuppen. Im Halbdunkel sehe -194-
ich den Mann auf dem Bett sitzen und sic h mit einem Schuh herumquälen, den er nicht ankriegen kann. Ein fürchterlicher Gestank herrscht hier, wie von faulendem Fleisch. Da werfe ich die Holzläden auf, daß Licht hereinkommt. Ein Schrecken durchfährt mich. Der ganze nackte Fuß ist eine einzige Wunde, die Nägel fehlen an den Zehen. Sofort laufe ich zurück, hole eine große Holzschüssel mit Wasser, bringe Seife und Wilm trägt das Lysolglas. Wir lassen den Mann den anderen Schuh ausziehen, dieselbe Geschichte. Auch dieser Fuß wund und vereitert. Er badet die Füße und wir lassen ihn sitzen. Zeit soll er sich nehmen, wir werden ihm nachher Lappen bringen. Darüber sind wir uns einig: so können wir den Mann nicht weiterschicken, er muß sich erst bei uns erholen. Der andere junge Mann aber zieht vergnügt weiter, er ist froh, den unbequemen und langsamen Tippelbruder auf so gute Art losgeworden zu sein. Vierzehn Tage später fängt der Mann das Gehen an, unsere großen Pantoffeln schleppt er an den Füßen. Ungeheißen pumpt er Wasser, hackt Holz, sammelt Futter, zieht Maiskolben ab und hilft Mariechen, die sich jetzt schonen muß, weil sie sich in gesegneten Umständen befindet, wie so viele andere Frauen auch. Mögen die Zeiten noch so schlecht sein, der Kindersegen stockt deswegen nicht. Mariechen macht uns eines Tages auch darauf aufmerksam, daß wir dem Manne doch einmal Wäsche und Zeug zum Wechseln geben müßten. Merkwürdig, daß wir selbst nicht daran gedacht haben. Tippeln ist uns doch nichts Fremdes. Mariechen wirft das Zeug in den Waschtrog. Als sie dann die Jacke vornimmt, fühlt sie einen harten Gegenstand darin. Es ist eine dicke Brieftasche, die nun patschnaß geworden ist. Wir öffnen sie schnell und breiten die darin enthaltenen Papiere auf dem Tisch aus, damit sie trocknen und die Schrift nicht noch mehr verwischt. Dann holt Wilm den Mann. Der ist verdutzt und wir erklären ihm mit wenigen Worten, seine Nachlässigkeit sei schuld daran, daß die Brieftasche ins Wasser gefallen sei. Ihm -195-
ist das furchtbar peinlich. Die Papiere lauten auf Dr. ing. Franz Hollacher. So auf den Hund gekommen zu sein! Wir aber geben unserem Doktor einen Wink, der nimmt sich des Kollegen von der anderen Fakultät an, heilt ihn völlig aus, und heute ist der Dr. Hollacher wieder in einer guten Stellung bei einer deutschen Großfirma. Einen ehrlichen Spitzbuben hatten wir auch schon. Ein Brasilianer, der uns schon längere Zeit Geld schuldete, hatte uns eine alte Stute in Zahlung gegeben. Das Tier lief Tag und Nacht im Wald, den Stall kannte es nicht. Da kommt eines Tages ein junger Deutscher änge wandert. Die Verschmitztheit guckt dem Bengel aus den Augen, flott erzählen kann er auch. Weil Regenwetter ist, hält er sich eine ganze Woche auf. Dann hellt sich der Himmel auf, und weil er am nächsten Morgen schon in der Frühe fort will, verabschiedet er sich abends von uns. Es mag so um zehn Uhr morgens sein, als wir jemand auf unser Haus zureiten sehen - siehe da, unser Deutscher! Auf unserer Stute! Den Sattel kennen wir doch auch, der lag im Schuppen, er war uns auch einmal von einem Schuldner in Zahlung gegeben worden. »Sie können mich einsperren lassen.« »Ja, du lieber Himmel, wie kommen Sie denn zu dem Pferd?« Da erzählt er, er sei nachts aufgestanden, habe das Tier eingefangen und gesattelt. Aber das Pferd sei nur Schritt für Schritt gegangen, und so sei es schon Tag gewesen, als er auf den Kamp gekommen sei. Er habe dann die Richtung nach der Eisenbahnlinie eingeschlagen und sei an einer Mühle vorbeigekommen. Da sei das Biest an der Mühle stehengeblieben und keinen Schritt weitergegangen. Der Müller aber kannte das Tier und fragte ihn, ob er bei uns wohne oder gar ein Verwandter sei. Da habe er gemerkt, daß er nicht weit käme und sei umgekehrt. Jetzt könnten wir mit ihm machen, was wir wollten. Das war denn zuerst mal: alles hübsch an seinen Platz bringen. Und dann erklärten wir ihm, warum das -196-
Tier nicht weitergegangen wäre. Die Nachbarschaft hatte sich vor einiger Zeit die Stute von uns als Packpferd geborgt und dafür die Verpflichtung übernommen, unser Mehl mitzubringen. Das Tier kannte also keinen anderen Weg. So! Und nun solle er seiner Wege ziehen! Der Wiebusch ist doch ein gerissener Kerl; wie er es fertiggebracht hat, weiß niemand, aber die Käserei arbeitet wieder voll und ganz. Seine Gläubiger haben ihm ein Jahr zinslose Stundung gewährt. Aber seine Kunden drückt er furchtbar im Preis; weigert sich einer, droht Wiebusch mit Landentziehung. Die Kolonisten haben sechs Monate Zeit von der Regierung bekommen, ihre Landschulden zu bereinigen. Zwei Contos de Reis müssen sofort bezahlt werden, der Rest in kurzen Terminen bei zwölfprozentiger Verzinsung. Wir durchschauen Wiebusch. Er treibt ein, was nur an Produkten und Vieh einzutreiben ist, verkauft sogar mit Verlust und wird eines Tages verduften. In den nächsten Tagen soll er die Bankguthaben auszahlen. Die Kolonisten werden schon unruhig, denn die festgesetzte Zeit ist zweimal verlängert worden. Wie nun, wenn Wiebusch das Geld einsteckt und auf und davongeht? Wie mancher bangt jetzt um sein Erspartes. O verflucht! Es ist etwas Schönes um das Geld und zu gleicher Zeit etwas Gotterbärmliches. Max aber lächelt nur zu unseren Sorgen. »Für euer Gejammere kann sich keener wat koofen, hier hilft bloß die Tat, und det werde ick besorjen.« »Na, denn mal raus mit der Sprache, du neuer Heiland. Welchen Rettungsplan hast du denn?« »Ihr sollt schon sehen. Ihr sollt mir nur zur gegebenen Zeit euer Pferd und zwee Säcke borjen, weiter brauch ick nischt.« Was mag er wohl vorhaben? Dieses Jahr sind wir vom Nebel stark belästigt, selbst am -197-
Tage zieht er nicht ab. Die Felder sind patschnaß und mancher holt sich da einen Rheumatismus, den er im Leben nicht wieder los wird. In den Häusern ist es feucht und klamm, ein dumpfer und muffiger Geruch liegt in den Stuben. Schimmel bildet sich an den Wänden, kein Lüftchen regt sich, an Durchzug ist nicht zu denken. Auch jetzt laufen die Leute noch barfuß, und der Doktor meint, dies sei die Ursache der vielen Frauenkrankheiten. Den ganzen Tag hat es geregnet, ein eisiger, schwerer Regen, der sich lähmend auf Brust und Schultern legt. Wir ziehen Mais ab, auf der Roca können wir nichts anfangen. In der Dunkelheit kommt Max und bittet um das Pferd und zwei Säcke. Jetzt sind wir aber gespannt. »Nun sag doch bloß. Menschenskind, was du vorhast!« Er hüllt sich in Schweigen. Wir geben ihm Pfe rd und Säcke, aber etwas sonderbar ist uns dabei zumut. Am Ende sehen wir unser Pferd nicht wieder, doch das trauen wir dem Max wiederum nicht recht zu. Wo sollte er denn auch hin? »In zwei Stunden bin ich zurück«, sagt er noch beim Wegreiten, dann ist er verschwunden. Recht unbehaglich fühlen wir uns, wir können jetzt nicht schlafen und so ziehen wir weiter Mais ab und ergehen uns in Vermutungen. Zuletzt schweigen wir. Zwei Stunden sind längst vergangen, doch von Max ist nichts zu sehen. Endlich hören wir ein Patschen, wie wenn Pferdefüße aus einem Sumpfloch gezogen werden, und dann dauert es auch nicht lange und Max klopft ans Fenster. »Hier, erst mal die Säcke mit anjefaßt!« »Was ist denn in den Säcken?« »Die Bücher von Wiebusch, die habe ick jeklaut.« »Die Bücher von Wiebusch?« »Ja, ja. Helft mir nur schnell, die Säcke nach dem Backhaus schleppen, ick muß mit dem Pferd noch bis an den Fluß, damit man die Spuren nicht findet. Auf dem Rückweg binde ick dem -198-
Gaul Lumpen um die Hufe.« Wir sind sprachlos. Das soll die Rettung sein? Was nun machen? Wir stehen ratlos bei den Säcken. Nach einer Weile kommt Max zurück, stellt das Pferd ein und meint: »Na, wat steht ihr denn hier und haltet Maulaffen feil? Hättet schon längst das Feuer im Backofen anlegen sollen.« »Ja, aber Max!« »Wat heeßt det nu, ,ja, aber Max?' Ick habe doch jesagt, ick rette die Kolonie, und nu soll noch eener sagen: wir sind dem Wiebusch wat schuldig.« Im Nu hat er Feuer angelegt, ein Buch nach dem ändern fliegt hinein, Holz und Papier brennen um die Wette, die Säcke steckt er in einen Waschzuber. »Wenn es nun aber rauskommt, Max, was dann?« »Kommt nix raus. Hier, zweihundert Milreis habe ick auch noch jeklaut, damit det Janze nach 'nem richtigen Einbruch aussieht. Der Regen vertilgt die Spuren. Ein Glück, det ick so jut Bescheid wußte, det war wahrhaftig nich leicht, ein Stuhl fiel um, und wenn die Hunde nich meine Stimme jekannt hätten, war det Janze doch noch schief jegangen. Bloß eens ärjert mir: dat ick mir nich als Held uff spielen kann und dat Maul halten muß. Aber et is nu jut so, und seid jetzt so freundlich und schenkt mir eenen Schnaps in, hättet ooch von selbst daran denken können!« Das Feuer ist verglüht, Max ist müde und legt sich zum Schlafen nieder. Es dauert nicht lange, da hören wir ihn schnarchen. Er verschläft jetzt sein Heldentum, er macht sich keine Gedanken. Wir warten mit Sehnsucht auf den jungen Tag, um die Pferdespuren zu besichtigen. Doch der Regen hat alles verwischt, man sieht nur die Wasserlöcher, aber nichts mehr von Hufen. Das ist nun ein Ausweg, an den niemand gedacht hat. Wenn -199-
die Kolonisten nur diesen Wink verstehen. Um zehn Uhr kommt Chico mit den Milchkannen zurück und erzählt uns von dem Einbruch. Ein Knecht sei schon zum Städtchen gesprengt, um die Behörde zu holen. Wiebusch sei zusammengebrochen und der Doktor habe ihm Einspritzungen gegeben. Es seien schon viele Leute auf dem Wege. Nachmittags gehen wir dann auch hin. War da ein Volk zusammen. Der Oberbuchhalter jammert und zetert, daß die ganzen Geschäftsbücher zum Teufel seien. Das sehe ja aus, als wenn Wiebusch die beiseite geschafft hätte. Er habe darum schon um einen Detektiv und Polizeihund telegraphiert. Auch ein Advokat solle mitkommen. Alle Schuldscheine müßten jetzt wieder neu gemacht werden. Da wurde die Menge neugieriger und spitzte noch mehr die Ohren. Und jeder sagte sich: Dann bin ich nichts schuldig. Kern steht auch bei uns. »Wie ist das nun mit dem Geld? Wird das heute ausbezahlt oder nicht?« Der Oberbuchhalter will sich drücken. Sie halten ihn fest. Er sagt. Wiebusch hätte das Geld des schlechten Wetters wegen nicht holen können von der Station und jetzt läge er ja auch noch krank danieder. Da lassen wir ihn wieder los. Bis einer der Deutschen sagt, er sei doch der Prokurist, er könne das geradesogut besorgen und zur Station fahren. Der Mann wird leichenblaß, macht Ausflüchte, er könne doch seinen Schwiegersohn nicht sich selbst überlassen. »Dafür sind ja seine Frau und der Doktor da. Sie wollen bloß nicht fahren. Wir werden hier nur hingehalten. Wer Schulden hat, dem geht's hier schlecht, wer aber Geld zu kriegen hat, der kann warten. Ich hab lang genug gewartet und will mein Geld haben, weil ich's brauche wie jeder andere auch.« So spricht Kern und das ist das Signal. Ein Spektakel sondergleichen geht los. Da bricht der Oberbuchhalter zusammen. Der Doktor springt ihm bei, öffnet die Weste, ruft Leute, die ihm den schweren Mann herübertragen. Dort. nimmt er den Kranken vor. Der kommt schnell zu sich. Der Doktor fordert ihn mit ruhigen Worten auf, -200-
ihm zu sagen, wie es eigentlich um die Bankgelder stehe. Weinend gesteht er, daß Wiebusch die schon vor Monaten flüssig gemacht und damit einen Teil seiner Gläubiger befriedigt habe. Da geht der Doktor hinüber in Wiebuschs Zimmer. »Herr Wiebusch, ich weiß alles. Ihr Schwiegervater hat mir alles erzählt. Fliehen Sie, ehe Sie totgeschlagen werden.« Dann kommt er zu uns, sagt, daß der Wiebusch mit seinen Nerven vollständig kaputt sei und daß es mit dem Manne bestimmt kein gutes Ende nähme. Nebenan kracht ein Schuß. Wir sehen uns verdutzt an. Eine Frau schreit gellend auf. Es ist Frau Wiebusch. Während Mutter und Tochter bei Wiebuschs Leiche weinen, fluchen und schimpfen im Geschäft die Kolonisten, als sie gewahr werden, daß sie so schmählich betrogen sind und nun keiner mehr was hat. Kern aber faßt sich zuerst: »Gezweifelt habe ich schon immer. Nun ist es Wahrheit geworden. Gott hat mir bisher geholfen und wird auch weiter helfen.« Dann gingen wir alle fort. Am anderen Tage gab es zwei Beerdigungen. Ein Kolonist hatte sich aus Gram über den Verlust des Geldes erhängt.
-201-
Not kennt kein Gebot Da war die Behörde mit ihren Soldaten und wußte nicht, wo sie anfangen sollte. So steckte sie denn zwei Tschechen ein, die sich hier seit einigen Monaten herumgetrieben hatten. Die konnten jedoch ihr Alibi nachweisen. Trotzdem verwies man sie aus der Gegend. Ein Polizeihund trat in Tätigkeit, fand indessen keine Spuren; ein Detektiv hatte auch keinen Erfolg. Aber dann kamen die Advokaten! Die ließen nicht so leicht locker. Sie drohten, fluchten, wollten die Leute zur Unterzeichnung von Schriftstücken zwingen, und als das nicht zog, versprachen sie dem einen gänzliche Streichung seiner Schulden, wenn er den Nachbarn verriete. Doch die Kolonisten gingen nicht auf den Leim. Sie wußten von nichts. Der eine hatte sich das Geld schon lange von einem Verwandten geborgt, der andere hatte mit Schweinen bezahlt, der dritte mit seinem Erbteil und so weiter. Man verlangte Ausweise, Quittungen. Das sei auf der Kolonie nicht üblich. Dafür seien ja die Geschäftsbücher da. Die Advokaten verlangten Anerkennung der Schuld, die Kolonisten Beweise für ihre Schuld. Vierzehn Tage vergingen und man war noch genau so weit wie zuvor. Die eine wie die andere Partei hielt zusammen, zuletzt gewann die Kolonie, und nun begann die Bilanz. Die ergab wenig, der Oberbuchhalter wurde mit der Liquidierung betraut. Die Käserei ging an die Italienergruppe über. Bald darauf war Gottesdienst in beiden Kirchen. Selten sind die so voller Menschen gewesen und wohl selten wurde dem Herrgott so inbrünstig gedankt für die Errettung aus großer Not, obwohl er doch gar nichts mit der Sache zu tun hatte. Max lachte sich ins Fäustchen. »Wenn ich da oben ankomme, sagt der Herrgott sicher: Max, det haste fern jefingert, und ick werde -202-
dir man ooch dafür deine Rechnung streichen.« Die zwei Gräber sind eingesegnet worden, und so konnte die Witwe Wiebusch in der großen Todesanzeige anbringen, wie ihr innigstgeliebter Mann ein so großes Leichengefolge bekommen habe, was von der Liebe und Verehrung und Anhänglichkeit der Bevölkerung zeuge, für die er in uneigennütziger Weise sich aufgeopfert habe. Einem Toten soll man nichts Übles nachsagen. So hat denn jeder die Anzeige durchgelesen und sich sein Teil dabei gedacht. Die Italiener aber sind noch habgieriger als Wiebusch. Haben sie nicht den Milchpreis sofort heruntergesetzt! Zwar zahlen sie pünktlich in bar aus, aber wir kommen ganz und gar nicht auf unsere Kosten. Die Kolonie wird zusammengetrommelt und wir beschließen, keine Milch mehr zu liefern. Wer doch liefert, wird windelweich geprügelt, und in vierzehn Tagen haben wir gewonnen. Da geht ein Aufatmen durch das Volk. Das Selbstvertrauen kehrt wieder, und nun kommt eine zweite Versammlung. Die Landpreisfrage wird aufgerollt. Da sind nur wenige, die die erste Anzahlung leisten können. Und wovon die zweite zahlen? Eine Bittschrift wird aufgesetzt und es werden ganz genau alle Gründe aufgeführt, wie und warum die Kolonie in so tiefe Verschuldung hineingeraten ist. Das Gesuch wird abschlägig beschieden. Sofort gründen wir einen Bauernverein. Eine Kommission wird gewählt, die soll zum neuen Staatspräsidenten. Wilm, ich, der alte Kem und ein Brasilianer werden auf die Reise geschickt. Uns ist nicht rosig zumute, vor allem dem alten Kern nicht. Wir kennen ihn, den Zitatenfranz., Er sagt, die deutsche Sprache sei so reich an Sprichwörtern und Denksprüchen, daß man alle Lebensvorgänge in ihnen ausdrücken könne, und er bringt sie denn auch immer an. Hier aber können ihm seine Sprichwörter nichts nützen, der Brasilianer würde den Sinn gar nicht verstehen, selbst dann nicht, wenn er der deutschen Sprache mächtig wäre. Kern spricht leider nur ein erbärmliches -203-
Portugiesisch. Im Palast wartet eine große Anzahl Menschen. Uns wird gesagt, wir müßten mindestens noch vierzehn Tage warten, bis wir an die Reihe kämen. Vierzehn Tage! Da langt ja unser Geld nicht. Wenn wir den Chefingenieur aufsuchten? Der ist nicht zu Hause, der steckt im Wald. Aber äußerst liebenswürdig unterhält seine Frau sich mit uns. Da kriegen wir wieder Courage. Ob sie uns denn nicht behilflich sein könne? Wir schildern ihr die Lage noch schwärzer, als sie ohnehin schon ist. Wir erzählen ihr von dem einjährigen Aufenthalt ihres Mannes bei uns im Wald, und daß wir seine Köche gewesen seien. Da gleitet ein gütiges Lächeln über das weiche Gesicht und sie setzt sich an ihren Schreibtisch. Lange schreibt sie, und der Brief ist für ihren Sohn, den Staatssekretär. Da küssen wir ihr dankbar die Hand. Jetzt sind wir auf gutem Wege. Der alte Kern aber schüttelt ihr die Hand und sagt in seinem schönsten Portugiesisch Dankeschön. Auch beim Staatssekretär heißt's warten. Auch hier viele Menschen. Der junge Offizier, der empfängt, nimmt zwar den Brief, aber das ist auch alles. Da mache ich ihn darauf aufmerksam, von wem der Brief kommt. Flugs geht er nun ins Arbeitszimmer. Kaum eine halbe Stunde später werden wir vorgelassen. Einige einleitende Worte und dann erklärt uns der noch sehr junge Doktor, er würde uns noch heute wissen lassen, wann wir empfangen würden. Das Mittagsmahl hat uns geschmeckt, und wir haben uns einige Flaschen Wein als Vorschuß auf den Erfolg geleistet. Es muß ja gut gehen, wenn eine Mutter für uns spricht. Gegen Abend erscheint eine Ordonnanz im Hotel. Punkt halb zehn hätten wir morgen früh anzutreten. Wir legen besondere Sorgfalt auf unsere Kleidung und flanieren durch die Straßen. Kern sieht zum ersten Male ein Kino. Der Brasilianer aber, der die Stadt gut kennt, verschwindet in einem Seitengäßchen und sucht etwas für die Nacht. Wir haben abgemacht, daß er morgen der Sprecher sein -204-
soll. Er als Brasilianer kann das besser als wir Deutsche. Und da stehen wir denn vor dem General, der als Advokat anfing, sich in die Politik stürzte, die Uniform anzog, zum General aufstieg und jetzt Präsident ist. Sie sagen, er sei ein Spieler und fröne allen möglichen Leidenschaften - was kümmert uns das. Von ihm hängt unser Wohl und Wehe ab. Wer uns hilft, ist unser Mann. Kurz ist die Begrüßung. Der Brasilianer legt los. Wie der Preis über alle Maßen hoch sei, wie ihn niemand zahlen könne und wie die Kolonisten revoltoso seien. »Was?« braust da der Präsident auf. »Was? Revoltoso? Ich werde die Brigade schicken, die Revolution zu ersticken!« Wilm greift ein und sagt, der Brasilianer habe wohl nur ein unpassendes Wort gebraucht und habe sagen wollen, die Kolonisten seien ungehalten und fühlten sich bedrückt. Da beruhigt er sich und unterhält sich mit Wilm. Der zeigt sein Offizierspatent vor, und ich das meine auch. Wohlwollend gibt er sie uns zurück, steckt sich dann eine Maisblattzigarre an und pafft. Da bleibt sein Auge auf dem alten Kern haften, und er redet ihn an. Der Ärmste zittert und kriegt nur mühsam die Worte heraus. Wir springen ihm bei. Der Präsident scheint einen Narren an dem alten Mann gefressen zu haben, reicht ihm auch eine Zigarre, gibt ihm Feuer und heißt uns nun Platz nehmen. In den großen Sesseln hocken wir und hören uns die Unterhaltung der beiden an. Kern aber hat seine Schüchternheit überwunden. Verdammt nochmal! Wenn man mit dem Präsidenten zusammen Zigarren raucht, dann hat's keine Not. Kern schildert nun in seinen wenigen portugiesischen Brocken, wie es in der Kolonie eigentlich aussehe. Hier und da greifen wir mit einem fehlenden Wort ein. Dann nickt uns der Präsident zu und Kern fährt fort. Mehrmals schon ist der Adjutant eingetreten. Der Präsident bedeutet ihm, man möge warten. Fast eine Stunde ist vergangen, da steht er auf. Morgen um dieselbe Zeit hätten wir wieder zu erscheinen. Bis dahin sei die Angelegenheit endgültig erledigt, -205-
und in einer Form, daß die Kolonie zufrieden sein werde. Den alten Kern umarmt er, uns gibt er die Hand. Wir sind draußen. Wieder die große Menge der Wartenden. Über wieviel Not und Elend da wohl verhandelt wird? Wieviel Stellen Jäger, Profitgeier, Menschen allen Schlages sich hier zusammenfinden. Wann kommt da ein Präsident eigentlich zur Arbeit? In der nächsten Stehbierhalle wird ein Schoppen getrunken und wir freuen uns von Herzen, daß wir den Kern bei uns haben. Der hat doch eigentlich die Hauptrolle gespielt. Aber Kern ist ein bescheidener und einfacher Mensch. Wenn ein gutes Ergebnis herauskommt, wird er eine Dankesmesse lesen lassen, und morgen früh wird er in der Josephskirche Gott anflehen, er möge seinen Segen geben. Wir sind mit ihm gegangen und haben ihm zugeschaut, wie er mit gefalteten Händen zur Kommunionbank gegangen ist und dort die Sakramente empfangen hat, und wir beneiden ihn um sein Gottvertrauen. Aufrecht schreitet er durch die Straßen. Und dann stehen wir wieder vor dem Präsidenten.. Der überreicht uns ein Schriftstück. Jährlich haben die Kolonisten sechshundert Milreis zu zahlen, und zwar zinsenfrei, bis die Schuld in zehn Jahren abgetragen ist. Für die gleiche Zeit ist die Kolonie auch steuerfrei. Da perlen dem alten Kern die Tränen über die Wangen, und er umarmt den Präsidenten. Der ist auch gerührt und klopft Kern den Rücken. Dankesworte, und wir sind entlassen. Wie oft haben wir an jenem Tage das Schriftstück durchgelesen. Wie oft haben wir nachgerechnet, was uns das Land nun eigentlich kostet. Oh! Wir haben gut abgeschnitten. Und wieder und wieder drücken wir dem Alten die Hand. Der aber sagt nur bescheiden: »Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten, und du sollst mich preisen, spricht der Herr.« -206-
Und wieder blühen die Orangen Der schlimme Winter ist nun endlich vorbei. Wie froh sind die Frauen! Sie hocken alle an den Bächen und waschen. Die einen stehen bis an die Knie in dem noch sehr frischen Wasser, andere liegen auf den Knien und scheuem, reiben, klopfen auf dem Zeug herum, daß es nur so schallt. Mit einem großen schweren Holzknüppel wird die Wäsche verdroschen. Deswegen blüht auch in Brasilien die Knopfindustrie großartig! Waschund Wringmaschine haben nur der Doktor und Wilm. In den Häusern wird tagelang aufgewaschen. Da vergeht endlich der muffige Geruch. Jeder Bewohner hat seine Kleidungsstücke auf dem Draht hängen. Das flattert auf den Drähten, Hecken und Zäunen, ein jedes Haus sieht einem geflaggten Schiff ähnlich. Bei uns ist es auch nicht anders. Da ist die Lehmann mit ihrer Garde,Käthe und Frau Gruber, angerückt gekommen, und die drei leisten ganze Arbeit. Wir Männer müssen Wasser schleppen, es ist unglaublich, was die zwei Häuser schlucken. Äußerst ungemütlich ist das drei Tage lang. Der Teufel ist los, wenn man auch nur mit Schlappen durchs Haus geht. Mariechen sieht sich das alles mit an. Sie ist erst vor wenigen Tagen aufgestanden. Ein kleines liebes. Mädchen kam an. Das ist so niedlich, und man hört es kaum schreien. Aber der Bubi! Das ist ein Kerlchen, der schäumt über vor Leben. Wir nehmen ihn überall hin mit. Am liebsten ist er auf dem Feld, tollt, johlt, schreit, schläft ein, wacht wieder auf, und dann geht's von frischem los. Die zwei, Chico und der Brasilianer, verwöhnen den kleinen Kerl noch ganz. Die Bäume stehen voller Blüten. Wie jubelt es in den Ästen, in den Lüften. Morgens und abends singt die Sabia ihr Lied und das sind unsere schönsten Stunden. Im Hause sind Käfige mit -207-
Kanarienvögeln. Wenn die anheben, schallt es durch alle Räume. Die jungen Schweine tummeln sich im Kleestück. Leer sind jetzt die Mastställe. Schuldenfrei sind wir auch, haben sogar noch etwas Bargeld übrig behalten. Die erste Anzahlung haben die Kolonisten bereits geleistet. Mancher mußte seine beste Milchkuh verkaufen. Schmuckstücke, sogar Trauringe wurden zu Geld gemacht. Aber als der Zahltag kam, fehlte nicht einer. Gesungen und gepfiffen wird von morgens bis abends. Und wenn einer nachts von seinem Mädel heimkommt, kann man schon von weitem hören, wer es ist. Es gibt hier jetzt verhältnismäßig viele Trauungen. Die Alten behalten das junge Paar für ein, zwei Jahre im Hause. Die können dann für sich pflanzen, etwas Vieh, Schweine, Hühner züchten, und später fangen sie für sich alleine an. Mitgift kennt man nicht, es sei denn Bett, Küchengeschirr, Pferd und Sattel. So haben die Alten ja auch angefangen. Wenn das mit dem Kindersegen so weitergeht, muß bald noch eine zweite Schule errichtet werden. Beim Doktor ist viel zu tun. Von weither kommen die Kranken. Er hat einen ausgezeichneten Ruf als Kröpf- und Bruchoperateur, diese Leiden sind sehr häufig hier. Zudem ist er mäßig in seinen Preisen. Durch die Kranken kommt wiederum Geld ins Dorf. Eier, Butter, Hühner, Gemüse, Kartoffeln werden viel verbraucht. Es ist ja nicht der Kranke allein, er bringt meist mehrere Verwandte mit, und die müssen auch beköstigt werden. Krankenschwestern gibt es nur in den größeren Städten. Der Oberbuchhalter hat sich mit seinem Schicksal ausgesöhnt. Er steht jetzt hinter dem Ladentisch, ist Verkäufer, Buchhalter, Korrespondent, Postagent und Schriftführer der Kirchen und des Gesangvereins. Die Bankfiliale ist erledigt und die Bank zusammengebrochen. Soeben hat wieder eine Großbank ihre -208-
Schalter geschlossen, Riesensummen wurden verloren. Viele Kolonisten in den alten Kolonien gingen ihrer sauer erworbenen Spargroschen verlustig. Der Staat hat indessen eingegriffen und übernimmt die Auszahlung von vierzig Prozent. Jetzt kommt wieder Bewegung hier oben in die neuen Kolonien. Ersparnisse werden in Land angelegt. Da kriegen sie auf der Drübenseite auch wieder Lebensmut. Nur noch ein einziges Geschäft besteht dort. Die Krise war so groß, daß die Siedlungsgesellschaft ihren Verpflichtungen nicht mehr nachkommen konnte, und da erschoß sich der Direktor. Um den Mann war es wirklich schade, der hatte für seine Leute gelebt und gestrebt. Er hinterließ für seine Familie herzlich wenig. Frau und Tochter hatten unentgeltlich den Schulunterricht geleitet. Jetzt waren sie auf Verdienst angewiesen, und der war karg genug. Ihnen galt Liebe und Anhänglichkeit mehr als Geld und Gut und die Kolonisten bewahren ihnen ein dankbares Gedenken. Alle Hoffnung wird jetzt auf den Tabak gesetzt und auf die Schweinezucht. Das sind Artikel, die die hohe Fracht ertragen und einigermaßen Verdienst abwerfen. Es ist keine angenehme Arbeit mit dem Tabak. Die jungen Pflänzchen auf den Beeten sind sehr empfindlich und nur bei Regenwetter können sie gerupft und ausgepflanzt werden. Da läuft die ganze Familie mit Säcken behangen durch das Land und steckt die zarten Dinger in die schon vorbereiteten Pflanzlöcher. Mit dem Fuß wird dann die Erde angetreten. Nur wenn die Sonne in den ersten Tagen nicht brennt, gehen die Pflänzchen an. Oft muß die Arbeit mehrmals wiederholt werden, und wer das einige Tage hintereinander gemacht hat, kann vor Kreuzschmerzen nicht mehr gerade stehen. Doch das kleinste Kind kann bei dieser Arbeit schon mithelfen. Hat die Pflanze aber erst Wurzel gefaßt, ist es gut. Weder Sonne, Dürre noch Regen können ihr dann etwas anhaben, und wunderschön sieht ein solches Tabakfeld nach einigen Monaten aus. Dunkelgrün stehen die Stauden, die um Weihnachten ihre volle Höhe erreicht haben, weit über einen -209-
Meter. Aber der Tabak hat auch seine Feinde. Das sind grüne Raupen, die abgelesen und mit den Fingern zerdrückt werden müssen. Bei Tag und Nacht muß das Feld abgelaufen werden. Die Pflanzen haben einen klebrigen Stoff an den Blättern, der sich an die Kleidung hängt. Man wird so dreckig und klebrig, daß man hängen bliebe, wenn man an die Wand geworfen würde. Dann setzen sich zwischen Hauptblättem Nebentriebe an. Die müssen ebenso wie die Blüten entfernt werden. Da niemand unter zehntausend Stöcke pflanzt, geht der ganze Vormittag nur für den Tabak drauf. Und dann wieder blinken die Hacken in der heißen Sonne, das Unkraut muß vertilgt werden. Während des Hackens werfen wir mit den Füßen das Kraut durcheinander und scharren wie die Hühner. Auch hier müssen die kleinen Kinder schon tüchtig mithelfen. Ehe sie das Abc lernen, können sie arbeiten, verdienen schon ihr Brot. Max hat drei Schweine im Stall liegen. Weihnachten will er die verkaufen. Einen neuen Anzug hat er sich auch schon bestellt. Wir können ihm jetzt etwas Lohn geben. Er ist groß geworden und hat Kräfte wie ein junges Pferd. Er arbeitet wie jeder andere und mit Geschick. Auffällig ist, daß er so oft zu Lehmanns geht und da seine Berliner Witze anbringt. Ob er an der Käthe Gefallen findet? Die ist doch fünf Jahre älter als er. Und die zwei Witwen? Nein, da muß ich im stillen lachen. Zu Weihnachten soll es seit langem mal wieder öffentliche Tanzmusik geben. Diesmal soll keine Polizei zur Aufrechferhaltung der Ordnung nötig werden, eine Kommission ist ernannt, die für die nötige Ordnung sorgen wird. Mariechen bekommt ein neues Kleid. Sie ist wirklich schön, sie blüht bei jedem Kind mehr auf und ist noch fraulicher geworden. Der Doktor sagte neulich zu Wilm: »Menschenskind, Sie haben die schönste Frau der Kolonie.« Das hat Mariechen aber abgewehrt: »Und ich habe den schönsten Mann. Und so stark und gut is t er. Ich habe das Glückslos gezogen.« Dann ist sie über und über -210-
rot geworden und in die Küche gelaufen. Ja, Wilm hat wirklich eine schöne Frau, und, was ich noch mehr an ihr schätze, sie ist eine verständige Frau und eine liebende Mutter. Das Mädelchen futtert sich gut heraus, macht wenig Arbeit und scheint ganz und gar der Mutter nachzuarten. Wilm aber ist ein großer Kindernarr. In der Deutschländer-Ecke haben sie neulich einen mächtigen Krach gehabt. Sägemeister ist zwar schon lange verheiratet, hat aber nur zwei Kinder, dagegen ist bei Kinkel, dem Sozialdemokraten, der genau so alt ist wie Sägemeister, bereits das zehnte Kind angekommen. Frau Sägemeister hat bei der Nachbarin Hilfe geleistet, aber ihre eigene Wirtschaft leidet natürlich darunter, und darin ist ihr Mann sehr empfindlich. Eine ganze Woche ist seine Frau nun schon drüben bei Kinkels, das ist doch zuviel verlangt vom Nachbarn. Er nimmt sich den Kinkel vor und gibt ihm zu verstehen, daß er sich nun allein behelfen müsse, die älteren Kinder könnten ihm doch auch gut zur Hand gehen. Ein Wort gibt das andere, die politische Gesinnung muß herhalten, die Wutausbrüche steigern sich, und Frau Doktor, die gerade des Weges kommt, hört Sägemeister noch schreien: »Also das ist dein Frauen-, dein Kinderparadies, du setzt nur darum Kinder in die Welt, damit du ein faules Leben führen kannst! Sind denn die Kinder für die Eltern da oder umgekehrt? Ist das deine ganze Weisheit, dann pack nur ein mit deiner sozialen Frage. Nachbarschaft beruht auf Gegenseitigkeit. Wann wärest du mir jemals beigesprungen? Ein Faulpelz, ein Drecksack bist du.« Frau Doktor tritt zu den Streitenden, legt ihre Hand auf Sägemeisters Arm und sagt vorwurfsvoll: »Ihr wollt Deutsche sein? Deutsche miteinander im Streit? Ja, gibt's denn das? Und ausgerechnet Weihnachten, wo wir uns bemühen, das Krippenspiel so schön wie möglich zu gestalten, wo die Spieler mit Lust und Liebe bei der Sache sind. Frau Tischler backt für die Kinder, Frau Gruber schmückt die Kirche. Der Lehrer opfert -211-
einen halben Monatslohn, wir wollen den Gesang leiten. Und da wollt ihr in Streit und Hader leben? Los, vertragt euch!« Frau Doktor flößt ihnen einen gewaltigen Respekt ein, mit ihrem Manne darf man's auch nicht verderben. Mit süßsaurer Miene reichen sich die beiden Streithähne die Hände, aber eine richtige Versöhnung ist das nicht. Die erfolgte erst am Heiligen Abend. Da war Stimmung in dem großen Saal. Hübsch ausgeschmückt war die Bühne, das Krippenspiel gefiel jung und alt und die Doktorsleute begleiteten mit Klavier und Violine. Wie dann zuletzt das »Ave Maria« von Gounod und »Wenn Jesus spricht« von Haydn gespielt und von der Frau Doktor gesungen wurde, da ist Sägemeister zu Kinkel gegangen, und stumm haben sie sich die Hände gedrückt. Und am zweiten Feiertag hat dann Sägemeister zum Pfarrer gesagt: »Sie, Herr Pfarrer, wenn's das hier in Ihrer Kirch spielen, was Se da im Saal spielt hab'n, nachher bin i immer da.« Abends war Tanz und der Saal gestopft voll. Die prachtvolle Witterung und die guten Emteaussichten machen das Volk heiter. Große und kleine Kinder sind mitgenommen worden. In einem Zimmer stehen mehrere Betten, dahinein legen die Frauen ihre kleinen Schreihälse. Wenn eins anfängt zu schreien, stimmen die anderen mit ein. Das ist ein immerwährendes Hinund Herlaufen der Mütter, das eine Kind kriegt die Brust, das andere die Flasche, das dritte wird mit in den Saal genommen. Wird die Mutter zum Tanzen aufgefordert, nimmt die Nachbarin das Kindchen auf den Schoß, und das geht so abwechselnd die ganze Nacht. Es geht lustig und manierlich zu, und es hat schon sein Gutes, wenn weniger Bier getrunken wird. Schnaps gibt es sowieso nicht heute abend. Dafür aber Wein, der sehr billig ist. Als die Köpfe dann doch allmählich benebelt werden und der erste Krakehl da ist, treten die Sänger an. Einige lustige Lieder und alles geht vergnügt weiter. Deutschländer geben fröhliche Gedichte zum besten. Die sind derb und drastisch und jeder -212-
kann die Pointe greifen. Die Schulkinder führen einen Reigen auf. Nachher kommen auch noch turnerische Freiübungen dran. Die gefallen dem Oberbuchhalter zu gut und er gibt den Kindern als Belohnung eimerweise Wein mit Wasser und Zucker vermischt. Die ganz alten Tänze kommen zwischendurch an die Reihe. Da riskiert der alte Kern auch noch einige Touren. Max aber ist unermüdlich. Keinen Tanz läßt er aus und fast jedesmal tanzt er mit der Käthe. Wilm holt sich die Frau Doktor. Das gibt Aufsehen. Da werde ich sie auch holen, wenn sie auch einen Kopf größer ist als ich. Das gibt noch mehr Aufsehen. Und dann gehen die Bauern aus sich heraus und unsere Doktorsche fliegt von einem Arm in den ändern! Sie wird richtig ausgelassen und steckt die. ganze Bande an. Jetzt wird es erst gemütlich. Auch der Doktor grient vergnügt. Der Oberbuchhalter und ein Knecht beladen die ganze Tonbank voll Bier - Stiftung vom Doktor! Ob sie den hochleben lassen! Und derweil der alte Kern mit der Frau Doktor durch den Saal spaziert - er weiß, daß sich das so gehört - Max mit der Witwe Lehmann herumschwenkt, Wilm Frau Tischler im Arm hat und ich das Mariechen, haben Sägemeister und Kinkel zur Abwechslung die Frauen ausgetauscht. Alles Harmonie! Ein Trompetenstoß. Kaffeepause. Die dauert eine gute halbe Stunde. Scherzworte fliegen hin und her und Max und Käthe werden durchgeheche lt. Aber die Antworten von dem! Hat der Kerl göttliche Frechheiten auf Lager! Der verhaut die anderen mit dem Maul, wir platzen fast vor Lachen. Neue Paare kommen. Wer fertig ist, macht Platz. Die Musik spielt auch schon wieder. Da steht Max plötzlich bei uns: »Ihr beede könnt mir jratuliem. Käthe und ick sind eenig jeworden. Det is nu meine Braut. Nee, nee, ick weeß schon, wat du sagen willst, Wilm. Is nich! Vonwejen dat ick jünger bin und so. Wo steht'n det jeschrieben, dat der Mann nu jrade älter sein muß? Und dat ick noch 'n bisken jrün bin, hat nischt zu sagen, so wat wächst sich aus. Meester! Langen se mal so'n paar -213-
Flammenwerfer her, ick muß mit mein' Schwager und Fritz een schmoren!« Wie ein Lauffeuer geht's durch den Saal, eine Verlobung auf dem Tanzboden hatte man hier noch nicht erlebt. Die Lehmann strahlt und schüttelt den beiden die Hände. Wilm ruft mich auf die Seite: »Läßt du dir denn das gefallen von dem Bengel? Nun hat er die Käthe.« »Laß ihn. Die zwei passen besser zusammen.« Bei so einer Gelegenheit gibt's doch unbedingt was zu trinken, und Max sagt ganz unverfroren: »Schwiegermutter! Da zeigste mal die Leute, wat ne Harke is und wie du et zu schätzen weißt, dat du nochmal nen Deutschländer in de Familje kriegst, läßt ne Kiste Bier uffstellen, und die ziehste mir dann später von der Erbschaft ab.« Das hat sie auch wirklich getan, das heißt sie ließ die Kiste Bier kommen und bezahlte sie am nächsten Tag. Ja, am nächsten Tag! Da ging es wieder feste an die Arbeit. Die Schulkinder haben Ferien und helfen nun die reifen Tabakblätter auf Schnüre ziehen. Für Monate wird das ihre Arbeit sein, während die Erwachsenen den Tabak aus den Feldern holen. Und wenn auch die Tage lang sind, es wird doch noch abends bei der Lampe gearbeitet und manches Kind schläft bei seiner Arbeit ein. Die Schuppen füllen sich und erweisen sich als zu klein. In den Vieh- und Schweineställen, im Haus, ja sogar im Schlafzimmer, überall wird Tabak aufgehängt. Es ist sehr ungemütlich überall, und das Atmen wird erschwert durch die Ausdünstungen des Tabaks. Bis dann Ostern kommt, Pfingsten, da endlich kann der Tabak abgebunden, auf Haufen gesetzt und fermentiert werden. Das Einpressen geht schnell und wir fahren unseren Tabak selbst zur Station. Darüber vergeht der Winter. Die Straßen sind aufgeweicht, nur langsam geht die Fahrt. Für Hin- und Rückfahrt brauchen wir durchschnittlich acht Tage. Die Nächte auf dem blanken -214-
Kamp sind abscheulich. Große Feuer werden angezündet, wir liegen darum herum, etwa dreißig Mann mit ihren Hunden. Es ist auch ein Hundeleben. Aber nur dadurch, daß wir selbst die Fracht verdienen, bleibt uns Geld übrig. Geld und immer wieder Geld muß her. Außer den Landschulden ist noch viel zu bezahlen. Jeder will das Joch so schnell wie möglich vom Halse haben. Aber es geht langsam. Rom ist auch nicht an einem Tage erbaut worden. Wir aber erzählen, wie groß die Not in der übrigen Welt und besonders in Deutschland sei, und wie es uns, an deren Elend gemessen, noch glänzend gehe. Hier verhungere doch niemand. Da schweigen sie. Nein, verhungern tut hier niemand, und wenn einer schon mal Hunger leidet, dann nur für kurze Zeit. Endlich ist der Winter vorbei. Wir liegen nicht mehr auf der Straße, der Tabak ist bezahlt und die diesjährige Rente längst vor dem festgesetzten Termin beglichen. Aber wie weit sind wir in der Winterarbeit zurück. Die muß jetzt nachgeholt werden. Ach, der Kolonist kennt kein Ausruhen, und wenn die versäumte Zeit eingeholt werden soll, dann muß schon geschuftet werden. Ein Glück, daß wir unsere Hausge nossen immer noch haben. Mit zwei Pflügen wird angesetzt. Sechs Wochen rastlose Arbeit, dann ist das Schwerste hinter uns. Braugerste wird zu Versuchszwecken eingeführt, weil der Weizen hier versagte. Die Sojabohne kommt. Die soll ein guter Ausfuhrartikel sein. Immer wieder muß gebaut werden. Die Schneidemühlen stehen schon lange still, die Spaltsäge ist wieder hervorgeholt. Die Frauen schelten, ihr Haus sei kein Tabakschuppen. Wer seinen Frieden haben will, verdrückt sich aufs Feld und arbeitet unverdrossen. Da kommt der Frühling! Die Gesichter hellen sich wieder auf. Schon treiben die Pfirsiche ihre ersten Blüten. Die Nebel lagern nur noch für einige Stunden. Es wird ein gutes Frühjahr werden, denn der Winter war streng, kalt und naß. Max aber lacht: »Kinders! Zu bauen brauch ich nich. Die Olle is ja fein einjerichtet und füm Tabak langt der halbe Schuppen. -215-
Nu wer ick die Käthe heiraten, damit se endlich ooch mal an'n Mann kommt, und ihr zwee seid wohl so jut und macht die Trauzeujen. Und wenn dat Mariechen een bisken mithelfen tut, denn sag ick von heit ab Schwäjerin zu ihr. Wie is et, Schwäjerin? Sagste ja?« Die nickt lachend. Verdammt! Da sind sie nun alle unter die Haube gekommen, und die sich verkracht haben, sind wieder einig geworden. Bald zwei Jahre steht mein Haus fix und fertig und es gehört nur noch die Frau hinein. Wieder blühen die Orangen und dieses Jahr werden sie reiche Früchte tragen. Auch die Weinlauben stehen prächtig da. Ein eigenes Glas Wein! Das muß doch schmecken. Aber allein? Verdammt! Ich muß mir das jetzt ernstlich überlegen.
-216-
Ausklang Wie lange sind wir schon hier in der Kolonie? Fast sieben Jahre! Und die Zeit in Argentinien, in Aguas Melados dazugerechnet - über zehn Jahre im Lande! Wo ist die Zeit geblieben, wie schnell fliegt sie dahin und wie alt wird man! An den Kindern sieht man das - die kleinen Steppkes von früher laufen heute schon mit der Zigarre herum. An den Frauen, die hier schnell altem, weil sie fast nichts vom Leben haben als Arbeit und immer wieder Arbeit. Die bei schwerster Arbeit ein Kind unter dem Herzen, ein anderes an der Hand haben und ein drittes noch zwischendurch auf den Schoß nehmen. Selten die Frau, die nicht den ganzen Nachmittag im Feld steht und arbeitet wie ein Mann; selten die Kolonistenfrau, die nachts ruhig schläft und nicht dem Säugling die Brust reicht. Während drüben die Frauen von vierzig Jahren beinahe noch mädchenhaft wirken, sehen sie hier aus wie ihre eigene Großmutter. Und während der Mann noch in seinen besten Jahren steht, ist die Frau gealtert und ihre Gesundheit ist untergraben. Es ist ein schweres Leben, das sie führt, und sie empfindet es nur darum selbst nicht so sehr, weil sie es nicht anders kennt. Ihren Nachbarinnen geht's ja um kein Haar besser. Wenn dann nach langen schweren Jahren endlich die Existenz gesichert ist, dann geht die Sorge um das Fortkommen der Kinder an. Das elterliche Land ist durch die Bearbeitung teuer geworden, das kann nur einer übernehmen, wenn die übrigen Geschwister bescheiden in ihren Ansprüchen sind, und wenn er sich verpflichtet, die Eltern bis an ihr Ende zu verpflegen. Eine kleine Familie aber kann das nicht bestreiten, mit Knechten arbeiten lohnt auch nicht. Da fängt einer schon besser klein an. Selten auch, daß das, was von den Eltern begonnen wurde, von den Kindern ausgebaut wird. Man kann günstig verkaufen -217-
losgeschlagen! Für das erhaltene Geld bekommt man in den neuen Kolonien viel Land, kann jetzt schon den Kindern eine Scholle geben. Das ist's! Hast du Land, dann hast du eine Heimat und bist geborge n; und wenn du noch so arm dran bist: du liegst nicht auf der Straße und brauchst nicht Hunger zu leiden. Das Gefühl, ein eigenes Dach überm Kopf zu haben, wiegt alles auf, was du sonst entbehren mußt. In Kolonistenkreisen gilt darum auch nur der, der ein Eigentum hat. Sägemeister, dem das Wohl und Wehe der Kolonie sehr am Herzen liegt, verurteilt es, daß die Kolonistenkinder der Arbeit halber die Schule versäumen. Wer aber den Sachverhalt genau kennt, weiß, ohne deshalb damit einverstanden zu sein, daß die Hilfe der Kinder unentbehrlich ist. Wenn die Bohnenernte kommt, sollen die Ferien einsetzen. Da können die Kleinen zu Hause helfen. Hat man drüben nicht auch Kartoffelferien? Da werden die Kinder auch nicht geschont. Morgens müssen die Kleinen früh heraus, man braucht ihre Hilfe beim Viehfüttem, mittags und abends ebenfalls. Hier fehlt es nie an Arbeit, aber auch nie. Ihre Kindheit vergeht wie die ihrer Eltern. Eine frohe, ungebundene Jugendzeit, an die die deutschen Kinder sich ihr Leben lang erinnern, gibt es hier nicht. So lernen die Kinder die Härten des Lebens früh kennen, deshalb kann sie aber auch in späteren Jahren so leicht nichts entmutigen. Deswegen sind ihnen aber auch Schulfragen nur von geringer Bedeutung. Sie stehen ihnen fast fremd gegenüber. Wozu soviel Schule? Gesunde Knochen sind das Notwendigste. Sie lesen wenig, sie schreiben gar nicht. Gelegentlich macht einer einen Besuch in den alten Kolonien, dann werden Größe und Neuigkeiten mündlich ausgetauscht. Wer aber Zeitungen liest, schaut erst auf die Familienanzeigen, dann auf die Nachrichten aus dem Staate, hin und wieder lesen sie die Rubrik untenn Strich. Politik des In- und Auslandes, Wirtschafts- und kulturelle Fragen werden so gut wie gar nicht verstandeh und -218-
interessieren nicht. In den alten Kolonien geht es schon etwas besser damit. Dort ist auch die Zustellung der Zeitungen regelmäßig. Dort werden die Kolonistensöhne auch schon Handwerker und Handelsangestellte, dazu ist geistige Regsamkeit nötig. Der Doktor besorgte von drüben eine Jugendbücherei, es war ein Fehlschlag. Da sitzt er nun bei uns und ist sehr enttäuscht. Er hatte gehofft, den Kindern würden die Märchen gut gefallen, aber die lagen den Kindern nicht. Sie haben zu früh ihre Kindheit verloren, ihre Phantasie ist verkümmert, ihre geistige Entwicklung wurde nicht angeregt. »Das ist nun ganz gleich, ob dies und das die Ursache ist - meine beiden Kinder sollen nicht verkaffem«, sagt Sägemeister. »So viel habe ich gesehen, die Schulfeste haben den Alten Freude gemacht. Wir werden also mehr Feste feiern müssen, mehr Freude unter das Volk bringen. Nur keinen Schreck! Wenn jeder mit einer Kleinigkeit hilft, dann geht das schon. Weihnachten ist es ja auch gegangen. Außerdem können wir ja auch mal die Badegäste einladen und schröpfen, der Zweck heiligt die Mittel. Wer wird denn sein Kind gern an zweiter Stelle sehen? Die Jungen werden so lange maulen, bis die Alten froh sind, sie loszuwerden. Wenn sie dann Zeit finden, um Vorträge und Verse zu lernen, damit sie sich beim öffentlichen Auftreten nicht blamieren, dann muß sich auch Zeit finden für ihre sonstigen Schulaufgaben. Es sollte überhaupt von Zeit zu Zeit ein Vortrag über Schulfragen gehalten werden.« Der alte Kern, der sich auch am Gespräch beteiligt, erzählt noch, daß man sich in der alten Kolonie an den preußischen Kultusminister gewendet hätte, um Schulmaterial zu erhalten, aber nie eine Antwort erhalten habe. »Ja«, sagt Wilm, »hier heißt es: Friß, Vogel, oder stirb.« »Man kann es auch anders ausdrücken«, sagt Kern darauf: »Hilf dir selbst, so hilft dir Gott.« Der Doktor wurde nach dem Kamp gerufen, dort war eine -219-
Frau von einer giftigen Schlange gebissen worden. Alle Gegengifte, die jeder Kolonist im Hause hat, versagten. Auch der Doktor war machtlos, er war zu spät gerufen. Uns er Chico hörte von dem Fall,.. ritt schleunigst zu einem Curandeiro einem alten Brasilianer, der Sympathiekuren anwandte -, und erhielt von diesem eine Flasche mit einer braunen Flüssigkeit, wovon er der Kranken etwas einflößte. Die Frau, die furchtbar gerast hatte und der der Schaum vorm Mund stand, wurde von Stund an ruhig und genas in einigen Tagen. Wir befragten den Doktor wegen dieser Heilung. »Was soll ich als Wissenschaftler dazu sagen? Kennen Sie Hamlet? Nun, es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt.« Ja, an dem Ausspruch ist was dran. Wir wissen auch bei anderen Gelegenheiten oft nicht, warum wir dies und das gerade so und nicht anders machen. Ich ziehe die Bilanz meines Lebens. Seit ich Deutschland verließ, ist mir das Glück auch nicht sonderlich hold gewesen, oder erkennen wir unser Glück hier nicht, hier, wo wir unbeabsichtigt und ungewollt seßhaft geworden sind? Es hat lange gedauert, bis Wilm und ich innewurden, daß wir Arbeiter, Bauern sind. Noch stehen wir im besten Mannesalter, können schaffen und mitwirken zum Besten der Kolonie. Wenn wir auch Bürger dieses Landes sind, unser Herz ist deutsch, wir werden Sorge tragen, daß auch im Herzen der Kinder das Deutschtum nicht untergeht. Ich habe mich nun endlich entschlossen, Frau Gruber in mein Haus zu nehmen. Sie hantiert in der Küche. Wie nett ihr das Hauskleid steht, wie frisch sie aussieht. Spricht man nicht immer von einer Vernunftehe? Kann nicht eine Vernunftliebe daraus werden? Die ist dann vielleicht dauerhafter als jene himmelhohe Liebe, die ich drüben zu Grabe trug. Man muß den Willen zum Glück haben. Änne Gruber hat ihn, -220-
und ich will alles daransetzen, diesen Willen zu stärken und zu pflegen. Das walte Gott.
-221-