Morus Markard Einführung in die Kritische Psychologie
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Deutsche Originalausgabe ©Argument Verlag 2009 Glashüttenstraße 28, 20357 Harnburg Telefon 040/4018000- Fax 040/40180020 www.argument.de Umschlagbild: Christoph Krämer, Tänzer Satz: Iris Konopik Druck: Totems. c., Inowrodaw. Printed in Poland Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier ISBN 978-3-88619-335-6 Vierte Auflage 2011
Morus Markard
Einführung in die Kritische Psychologie
Für Christiane (conditio sine qua non) und Nora und all die Studierenden, von denen ich in der Lehre gelernt habe
Dank für Lektorat und Kritik an Dagmar Hübner, Christina Kaindl, Arn Thorben Sauer und Gisela Ulmann
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Inhalt
l. Einleitung 1.1 Was meint »kritische Wissenschaft«? . ............................... 1.2 Klaus Holzkamps Vorstellung von (kritischer) Wissenschaft. . . . . . . . . . .
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2. Die Bedeutung der Studentenbewegung und ihrer \Vissenschaftskritik für die Entwicklung der Kritischen 22 Psychologie 2.1 Zum gesellschaftlichen Hintergrund der Wissenschaftskritik der Studentenbewegung . ............................................. 22 2.2 Kann, darf, muss Wissenschaft »wertfrei« sein?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2.3 Erkenntnisoptimismus: Humanisierung als Implikat der Psychologie oder »psychologischer Gesetzmäßigkeiten« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2.4 Psychologie als zu »zerschlagende« Herrschaftswissenschaft. . . . . . . . . . . 29 2.5 Perspektive einer kritischen Psychologie?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 3. Holzkamps Analyse und Kritik des experimentell orientierten psychologischen Mainstream 3.1 Klaus Holzkamps wissenschaftliche Entwicklung .................... 3.2 Kritik der experimentellen Mainstream-Psychologie ................. 3.2.1 Das Subjekt-Objekt- bzw. Subjekt-Subjekt-Verhältnis im psychologischen Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2 Von Organismen und (Versuchs-)Personen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2.1 Die Norm- Versuchsperson ..................................... 3.2.2.2 Das »abstrakt-isolierte Individuum« und das Verhältnis von Konkretem und Abstraktem ....................................... 3.2.3 Der Ansatz der »Sozialpsychologie des Experiments« . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4 Struktur des psychologischen Experiments. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.5 Welche Relevanz besitzt das Experiment? . ......................... 3.2.6 Wie sind »psychologische Gesetzesaussagen« zu fassen? ............. 3.2.6.1 »Gesetze« oder »spontane Tendenzen«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6.2 Kann es in der Kritischen Psychologie psychologische Experimente geben? . ................................................. 3.2.7 Vorläufige Alternativen oder Vorschläge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.8 Veränderung der Arbeitsbedingungen an der FU Berlin als dem institutionellen Rahmen für die Entwicklung der Kritischen Psychologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
4. Zwischenschritt I: Objektivität, Interessen, Parteilichkeit: Allgemeine Begründungsfragen der Psychologiekritik als 64 Wissenschaftskritik 4.0 Darstellungsprobleme- oder: Warum »Zwischenschritte«? ........... 64 4.1 Die Frage nach Standpunkt und Perspektive wissenschaftlicher (Psychologie- )Kritik; Mythos »Alltag« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 4.2 Zum Verhältnis von persönlicher »Parteinahme« und wissenschaftlicher »Parteilichkeit«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4.3 Zum Verhältnis von wissenschaftlicher Objektivität und Parteilichkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 4.3.1 Gesellschaftliche Ursprünge neuzeitlicher Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . 72 4.3.1.1 Die Bedeutung der Naturwissenschaft für die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft ... ....................................... 72 4.3.1.2 Empirische Sozialwissenschaften und die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft . ......................................... 72 4.3.2 Wissenschaftliche Objektivität und gesellschaftliche Interessen . ...... 74 4.3.3 Zur historischen Relativität des Objektivitätsbegriffs- gegen Relativismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 4.3.4 Interessenwidersprüche bei Natur- und Sozialwissenschaften. . . . . . . . 76 5. Zwischenschritt Il: Bezugspunkte und Grenzen der Psychologiekritik 5.1 Alltag(skonzepte) als Bezugspunkt und Maßstab der Kritik? Das Beispiel »Begabung« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 »Erfahrung<< als Bezugspunkt und Maßstab der Kritik?. .............. 5.2.1 Erfahrung als unmittelbarer und authentischer Selbst- und Weltbezug. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 »Erfahrung« in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Die Grenzen des alltäglichen und experimentellen Erfahrungsbezuges. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Resümee der Grenzen der bisherigen Kritikentfaltung. . . . . . . . . . . . . . . .
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6. Von der Kritik der Psychologie zur Kritischen Psychologie 92 6.1 Ausgangssituation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 6.2 Die Auseinandersetzung um das »historische Herangehen«: das Verhältnis von gegenstands- oder wissenschaftsbezogener Analyse ..... 93 6.3 Primat der gegenstandsbezogenen Analyse im »historischen Herangehen« der Kritischen Psychologie ............................... 98 6.4 Das allgemeine Programm und der psychologische Sinn der historischen Rekonstruktion des Psychischen: Gewinnung und Analyse psychologischer Begriffe . ...................................... 99
Inhalt
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6.4.1 Zum Verhältnis von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 6.4.2 Zum Verhältnis von Begriffen und Geschichte .................... 101 6.4.3 Interdisziplinäre Bezüge des historischen Herangehensund der Sinn von »Kategorien« . .......................................... 103
7. Das Verfahren der kritisch-psychologischen Kategorialanalyse 7.1 Darstellungsquellen und die Bedeutung des historischen Paradigmas in der Psychologie für die Kritische Psychologie. . . . . . . . . . . . . 7.2 Zum Verhältnis von »Vorbegriffen« und Kategorien und die Geschichtlichkeif des Gegenwärtigen . ................................. 7.3 Das »Psychische« als Grundkategorie . ............................. 7.3.1 Charakteristika vor-psychischen »Lebens« ........................ 7.3.2 Funktional-historische Analyse und Entwicklungswiderspruch . . . . . 7.4 Sensibilität als »Grundform« des Psychischen und Probleme des historischen Herangehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Die fünf Schritte der funktional-historischen Analyse des Umschlags von Quantität in Qualität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Dimensionen der Differenzierung der Grundform des Psychischen . ... 7.6.1 Orientierung/Bedeutungsstrukturen ............................. 7.6.2 Emotionalität/Bedarfsstrukturen . ............................... 7.6.3 Kommunikation/Sozialstrukturen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit und gesellschaftliche Natur des Menschen 8.1 Vorbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit ...................... 8.2.1 Ausgangsdimension »Modifikabilität« ........................... 8.2.2 Modifikabilitäts-förderliche Umweltbedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.3 Erster qualitativer Sprung und ein neues Verhältnis von Festgelegtheit und Modifikabilität; Artspezifik vs. abstrakter Organismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4 Zweiter qualitativer Sprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.4.1 »Subsidiäre« Lernfähigkeit . ................................... 8.2.4.2 »Autarke« Lernfähigkeit, Angst, Wertung, Antizipation . . . . . . . . . . 8.2.4.3 Wechsel zur Dominanz individueller Lern- und Entwicklungsfähigkeit. .............................................. 8.3 Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen . .......... 8.3.1 Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhalt
8.3.2 Ausgangsdimension: Manipulationsfähigkeit mit »Mitteln« und individualisierte Sozialkontakte .. ................................ 129 8.3.3 Veränderung der Umweltbedingungen der Primaten .............. 130 8.3.4 Der erste qualitative Sprung zur Menschwerdung: Zweck-Mittel-Verkehrung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 8.3.5 Zweiter qualitativer Sprung: soziale Werkzeugherstellung und Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen . . . . . . . . . . 134 8.3.6 Psychische Implikationen der gesellschaftlichen Natur des Menschen . .......................................................... 137 8.3.6.1 Differenzierung von Bedeutungen und Bedarfszuständen ........ 138 8.3.6.2 Differenzierung von Kognition, Emotion, Motivation . ........... 140 8.4 Warum »gesellschaftliche Natur« des Menschen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
9. Gesamtgesellschaftlich vermittelte Existenz des Menschen und das Verhältnis von Psychologie und Gesellschaftstheorie 144 9.1 Vorbemerkung über die Grenze der funktional-historischen Methode und die Notwendigkeit eines neuen Interpretationsrahmens .... 144 9.2 »Gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit« menschlicher Existenz . . . . . . 147 9.3 »Position« und »Lebenslage« als Vermittlungsebenen des Mensch- Welt-Zusammenhangs ...................................... 150 9.4 Exkurs: »Gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit« und konkrete gesellschaftlich-historische Verhältnisse ............................... 152 9.4.1 Kapitalismus/Kapitalismen als analytischer Bezugspunkt. . . . . . . . . . 152 9.4.2 Probleme allgemeiner Bestimmungen der menschlichen Spezifik des Psychischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 9.5 »Möglichkeitsbeziehung« und» Verhalten-zu« . ...................... 157 9.6 Anpassung und Widerstand als allgemeine Dimensionen menschlicher Existenz: Subjektivität, »doppelte Möglichkeit« und Freiheit ............................................................ 158 9.7 Weitere psychische Implikationen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz . ................................. 160 9.7.1 Von der Individual- zur Subjektwissenschaft.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 9.7.1.1 Bedeutungsstrukturen und Handlungsmöglichkeiten ............ 161 9.7.1.2 Zum Verhältnis von Handlungsfähigkeit, Arbeit und Bedürfnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 9.7.1.3 Kritische Psychologie als Subjektwissenschaft ................... 166 9.7.2 Differenzierungen des Zentralkonzeptes »Handlungsfähigkeit«. . . . . 166 9.7.3 Bedingungen -Bedeutungen - Prämissen - Gründesubjektive Funktionalität: Der transdisziplinäre Charakter subjektwissenschaftlicher Forschung . ................................. 170
Inhalt
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10. Methodelogisches Intermezzo: Ebenen und Reichweite 174 der Kategorialanalyse 10.1 Verschiedene Ebenen der Kategorialanalyse in der Kritischen Psychologie......................................................... 174 10.2 Zum Verhältnis von Kategorien und Theorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 11. »Restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« 11.1 Methodologische Vorbemerkung zur Frage des begrifflichen Status »restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit« .......... 11.2 Das erste Niveau individualwissenschaftlicher Kategorienbildung: Bedeutungsanalyse (auf der Grundlage gesellschaftstheoretischer Bestimmungen) . ............................ 11.3 Das zweite Niveau individualwissenschaftlicher Kategorienbildung: Prämissen-Gründe-Zusammenhänge und subjektive Funktionalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.3.1 »lntersubjektivität« und »lnstrumentalverhältnisse«: Die subjektive Funktionalität des Verzichts aufVerfügungserweiterung. . . 11.3.1.1 Absage an das »Irrationalitäts«-Konzept. ...................... 11.3.1.2 Handlungsrisiken und (kollektive) Subjektivität. ............... 11.3.1.3 Partial- vs. Allgemeininteresse: restriktive Handlungsfähigkeit als Teilhabe an der Macht der Herrschenden ........................... 11.3.1.4 »Selbstfeindschaft« .......................................... 11.3.1.5 Das »Apriori«, dass der Mensch sich nicht bewusst schaden kann, und die subjektwissenschaftliche Fassung des Unbewussten ........ 11.3.1.6 Zur Fundierung des Begriffspaars« restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit«: Probleme der Veranschaulichung .. .... 11.4 Differenzierung des zweiten Niveaus individualwissenschaftlicher Kategorienbildung: Kognition und Emotion/Motivation ................ 11.4.1 Kognition als Aspekt restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit: Deuten vs. Begreifen .. ........................... 11.4.2 Exkurs: Deuten und Alltagsversstand (Gramsci) und das Problem des Politischen (in der psychologischen Praxis) ................ 11.4.3 Emotion und Motivation als Aspekt restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit: Innerlichkeit und innerer Zwang vs. verallgemeinerte Emotionalität und Motivation. . . . . . . . . . . . . . 11.4.3.1 Emotion ................................................... 11.4.3.2 Motivation . ................................................
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Inhalt
12. Entwicklung, Erziehung, Lernen: der Weg vom Säugling zum handlungsfähigen Erwachsenen 12.1 Vorbemerkung zur kategorialen Bestimmung der Individualentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2 Kategoriale Entwicklungsbestimmungen . ......................... 12.2.1 Signallernen, Sozialintentionalität, Bedeutungsverallgemeinerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.2.2 Vorformen restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit in der kindlichen Lebenswelt . ..................... 12.2.3 Der Prozesstyp der Unmittelbarkeitsüberschreitung: Ausweitung des kindlichen Erfahrungs- und Einflussbereichs . ........... 12.2.4 Erziehung: »Vorbereitung auf die Welt« ......................... 12.2.5 Erziehung vom Standpunkt der Erwachsenen und vom Standpunkt der Kinder .............................................. 12.2.6 Erziehung oder solidarisches Zusammenleben?. .................. 12.3 Die eigene Kindheit in der Erwachsenenperspektive: Privileg der Psychoanalyse? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4 Lernen als Aspekt restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit ................................................. 12.4.1 »Lebenslanges Lernen« als Menschenmöglichkeit und in neoliberaler Besetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4.2 Subjektive Lernproblematiken, »Lehr-Lernen« und »expansiv« vs. »defensiv« begründetes Lernen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.4.3 Bedeutungsanalyse konkreter Lernverhältnisse . .................. 12.4.4 Zur Bedeutung des Lehrens . ................................... 12.4.4.2 Lernen vom Standpunkt des Subjekts und die Lernsituation .....
222 222 225 225 230 234 235 237 243 244 250 250 252 256 258 261
13. Methodische Konsequenzen einer Psychologie 263 vom Standpunkt des Subjekts 13.1 Resümee der methodischen Aspekte der bisherigen Darstellung: Gegenstandsadäquatheit als das zentrale Methodenkriterium der Kritischen Psychologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 13.2 Zum Verhältnis historisch-empirischer und aktual-empirischer Forschung oder die kategoriale Grundlegung des SubjektivitätsObjektivitäts-Problems in der Psychologie ............................. 266 13.3 Methodologische Rahmenbestimmungen subjektwissenschaftlicher Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268 13.3.1 Intersubjektivität und Objektivierung . ......................... 268 13.3.2 Exkurs: Verborgene Prämissen-Gründe-Zusammenhänge (»Begründungsmuster«) in experimental-statistisch formulierten Hypothesen ........................................................ 270
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13.3.3 Prinzip der Partizipation der Betroffenen (»Mitforscher«-Konzept) ............................................ 13.3.4 Forschungsprinzipien und Forschungspraxis: Alles oder nichts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.5 Subjektwissenschaftliche Forschung als Einheit von Erkennen und Verändern (Handlungsforschung): »kontrolliert-exemplarische Praxis« und die »Entwicklungsfigur« ................................. 13.3.5.1 Entwicklung und Konzept der Entwicklungsfigur . .............. 13.3.5.2 Erste Instanz der Entwicklungsfigur: Problemkonstellation ...... 13.3.5.3 Zweite Instanz der Entwicklungsfigur und Datenfunktionen und -modalitäten: Reformulierung des Problems als PrämissenGründe-Zusammenhang . ........................................... 13.3.5.4 Dritte Instanz der Entwicklungsfigur: Alternative Prämissenakzentuierung und praktische Erprobung . ................... 13.3.5.5 Vierte Instanz der Entwicklungsfigur: Auswertung der veränderten Praxis und das Konzept der Stagnationsfigur. . . . . . . . . . . . . . . 13.4 Geltungs- und Verallgemeinerungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4.1 Vorbemerkung. ............................................... 13.4.2 Zur subjektwissenschaftlichen Gegenstandslosigkeit messtheoretischer Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4.3 Der Universalistische Verallgemeinerungstyp (Fallibilismus). ...... 13.4.4 Der historisch-aggregative Verallgemeinerungstyp (repräsentative Erhebung) . .......................................... 13.4.5 Subjektwissenschaftliche Verallgemeinerung als historischstruktureller Verallgemeinerungstyp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.4.5.1 Möglichkeitsverallgemeinerung ............................... 13.4.5.2 Analytische Induktion und Grounded Theory im Verhältnis zur Möglichkeitsverallgemeinerung . .................................. 13.5 Die Bedeutung der (Gewinnung der) Fragestellung fiir die Forschung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.6 Der Zusammenhang von Kritik und Weiterentwicklung. . . . . . . . . . . . 13.6.1 Reinterpretation . ............................................. 13.6.2 Ein Leitfaden zur Reinterpretation .............................
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274 277
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Literaturverzeichnis ................................................ 304
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Es ist mir egal, was die Leute von mir denken. Mir ist aber nicht egal, was ich selbst von mir denke.
Clint Eastwood
1. Einleitung
1.1 Was meint »kritische Wissenschaft«?
Die kritische Psychologie gibt es eigentlich nicht. Vielmehr gibt es eine Vielzahl von Arbeitsrichtungen, Schulen, Ansätzen in der Psychologie, die sich »kritisch« nennen bzw. so bezeichnet werden (vgl. auch Billig 2006); sie reichen, um einige Beispiele anzuführen, von gemeindepsychologischen über psychoanalytische, kulturpsychologische, feministische bis zu >poststrukturalistischen< Richtungen. Ihr kleinster gerneinsamer Nenner besteht darin, sich nicht dem experimentell-statistisch orientierten Mainstream der Psychologie zuzurechnen oder ihm zugeschlagen zu werden und sich mit irgendeinem Aspekt des gesellschaftlichen Status quo auseinanderzusetzen. Der kritisierte Mainstream der Psychologie hat allerdings einen rnethodologischen Paten, der ebenfalls das Beiwort, »kritisch« im Namen führt, den Kritischen Rationalismus nämlich, der, salopp formuliert, grundsätzlich alle Aussagen kritisiert, die nicht nach einem bestimmten methodischen Regelwerk einer empirischen Prüfung zu unterziehen und damit nicht experimentell widerlegbar sind. Außerdem kann sich auch der psychologische Mainstream durchaus kritisch mit gesellschaftlich vorfindliehen Problernen befassen, wie klassische Experimente zum Autoritätsgehorsam (Milgrarn 1973), zur Konformität (Asch 1951) oder zur Verantwortungsdiffusion (Latane & Darley 1970) zeigen: Milgrarns weltberühmte Studien waren inspiriert durch den deutschen Faschismus und die Kritik an US-Brutalitäten in Vietnarn,Asch wollte die Mechanismen der Anpassung durch psychischen Gruppendruck aufzeigen, und die Forschung zur Verantwortungsdiffusion nahm ihren Ausgang von dem spektakulären Fall, dass 1964 in New York vor den Augen von 38 aus dem Fenster schauenden Menschen eine junge Frau ermordet wurde, ohne dass jemand ein- oder zumindest zum Telefon gegriffen hätte (Aronson 1972, 65; Aronson et al. 2004, XIV, 29f, 33, 422f). Weder der Terminus »Kritik« scheint also trennscharf zu sein noch die Wortverbindung von Kritik und Psychologie - und kritische Intentionen lassen sich auch in Ansätzen und Untersuchungen aufweisen, die »Kritik« nicht im Namen führen. Damit besteht für uns, wenn wir klären wollen, was »Kritische Psychologie« bedeutet, nicht nur das Problem, dass einerseits sich viele unterschied-
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Einführung in die Kritische Psychologie
liehe Ansätze in der Psychologie als »kritisch« bzw. »critical« sehen und bezeichnen, sondern auch, dass Ansätze und einzelne Untersuchungen, die sich nicht eigens als »kritisch« bezeichnen, gleichwohl Kritik üben. Das gibt uns Anlass, die Frage zu stellen, ob nicht recht eigentlich jede wissenschaftliche Psychologie, allgemeiner: jedwedes Bemühen, das den Namen »Wissenschaft« verdient, kritisch ist, sein muss. Und dies ist in der Tat so: Wissenschaft ist insofern immer schon kritisch, als sich die jeweiligen Ansätze, Autorinnen und Autoren in Auseinandersetzung mit anderen Ansätzen, also kritisch gegenüber anderen Ansätzen und Autorinnen und Autoren, legitimieren. So ist- um einige Beispiele aus der Psychologie(geschichte) anzuführen- die Psychoanalyse kritisch gegenüber dem Behaviorismus (und natürlich umgekehrt), systemische Ansätze (in der Therapie) kritisieren individuumszentrierte, die Gestaltpsychologie entwickelte sich in Kritik der assoziationistischen Psychologie, neuro-psychologische Erklärungen liegen im Streit mit sozio-psychologischen, was etwa die Erklärung oder das Verstehen von »Hyperaktivität« und »Aufmerksamkeitsdefizit« angeht, und die erwähnten Studien Milgrams stellen mit der Betonung situativer Aspekte des Autoritätsgehorsams eine alternative Erklärung dar zur Theorie der autoritären Persönlichkeit, die persönliche Dispositionen betont (Adorno 1973). Generelllegitimieren sich viele experimentelle Untersuchungen mit der Kritik an vorherigen experimentellen Studien (wenn etwa auf der Basis der Dissonanztheorie lerntheoretischen Vorhersagen widersprechende Hypothesen aufgestellt und geprüft werden), die Literatur zur kritischen Einschränkung des Geltungsbereichs experimentell geprüfter theoretischer Aussagen durch Zusatzvariablen ist Legion (Markard 1984), ebenso die alternative Interpretation experimenteller Befunde etwa im Rahmen der »Sozialpsychologie des Experiments« (Bungard 1984) oder der »Management Impression Theory« (Mummendey 2002). Die - beliebig zu verlängernde - Reihe dieser Beispiele für gegenseitige Kritik umfassender Orientierungen wie weniger weit reichender Theorien macht anschaulich, dass »Kritik« -wie es in der »Europäischen Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften« heißt (Röttgers 1990, 889)- für Wissenschaft geradezu ein Verpflichtungsbegriff, die Vorstellung unkritischer Wissenschaft ein Oxymoron, also in sich widersprüchlich, ist. Nicht nur das: W.F. Haug (2006, 8) hat hervorgehoben, dass »Kritik« auch im außerwissenschaftlichen Bereich allgegenwärtig, geradezu ein Allerweltsbegriff (geworden) ist - aber auch ein »stachelloser Gemeinplatz«. Haug bezieht sich dabei auch auf das »Historische Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland« (Bd. 3, 1982). Darin heißt es im Stichwort »Kritik« (auch hier von K. Röttgers verfasst), der Begriff der Kritik sei »inhaltlich bagatellisiert und politisch depotenziert worden. Und dass man sich allgemein kritisch nennt, hindert nicht, dass radikale Kritik wie eh und je ebenso allgemein suspekt erscheint.« (Zit. nach Haug, a.a.O., 171)
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Wenn das Beiwort »kritisch« im Terminus »Kritische Psychologie« nicht trivial sein soll, so muss »kritisch« hier eine spezifische Bedeutung besitzen, und diese besteht in der Verbindung von Wissenschafts- und Gesellschaftskritik (Markard 2000a). Aber bringt uns das wirklich weiter, wenn wir das oben Gesagte bedenken, dass selbst die Mainstream-Psychologie gesellschaftliche Probleme aufgreift und kritisiert? Holen wir uns Rat bei Max Horkheimer, bei einer Passage, in der er darlegt, was er unter »kritischer Wissenschaft« oder »kritischem Denken« versteht: Dieses »ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Missstände abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft. Wenngleich es aus der gesellschaftlichen Struktur hervorgeht, so ist es doch weder seiner bewussten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, dass irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere. Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind ihm vielmehr selbst verdächtig und keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat. Während es zum Individuüm in der Regel hinzugehört, dass es [... ] seine Befriedigung und seine Ehre darin findet, die mit seinem Platz in der Gesellschaft verknüpften Aufgaben nach Kräften zu lösen und bei aller energischen Kritik, die etwa im Einzelnen angebracht sein sollte, tüchtig das Seine zu tun, ermangelt jenes kritische Verhalten durchaus des Vertrauens in die Richtschnur, die das gesellschaftliche Leben, wie es sich nun einmal vollzieht,jedem an die Hand gibt.« (1937, 180f) Wie in einem Brennglas, scheint mir, werden hier verschiedene Facetten kritischen Denkens gebündelt, auf den Punkt gebracht. Gehen wir deshalb diese Facetten kurz durch: ( 1) Kritisches Denken »ist nicht nur darauf gerichtet, irgendwelche Missstände
abzustellen, diese erscheinen ihm vielmehr als notwendig mit der ganzen Einrichtung des Gesellschaftsbaus verknüpft«. Als »Missstände« dürften z.B. Gewalttätigkeiten unter Schülerinnen und Schülern oder gegen Menschen nicht »weißer« Hautfarbe ebenso gelten wie die Vernachlässigung von Kindern. Die (scheinbar) einfachste und nächstliegende »Lösung« wäre, diese Missstände den beobachtbaren Akteuren (»Schlägern«, »Rassisten«, »Rabenmüttern« bzw. Vätern) unmittelbar anzulasten und gegen diese dann Maßnahmen zu ergreifen; das mag im einzelnen Fall auch unvermeidlich sein - die Frage ist aber, inwieweit damit die entsprechenden Missstände tatsächlich abzustellen sind oder sich immer wieder reproduzieren. Horkheimers Problemfassung geht dabei nicht in die Richtung, bei den Einzelnen entsprechende Handlungsdispositionen zu diagnostizieren, sondern etwa folgende Frage zu stellen: Hat die physische Gewalt unter Schülerinnen und Schülern etwas
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mit jener strukturellen Gewalt zu tun, die darin liegt, dass die Schule auch- ein Selektionsinstrument bei der Vergabe von Lebenschancen ist, und hat diese Selektionsfunktion mit jenem Konkurrenzmechanismus zu tun, der unsere Gesellschaft beherrscht, damit, dass entsprechende Existenzängste sich in Gewalttaten artikulieren? Ist Konkurrenz nicht ein Prinzip, das das Ruinieren anderer impliziert? Sind die Taten von »Rassisten« - auch -Ausdruck gesellschaftlicher Zustände, in denen Menschen vor allem unter dem Aspekt ihrer ökonomischen Verwertbarkeit beurteilt werden, in denen sie nach Herkunft und Hautfarbe klassifiziert und unterschiedlich behandelt werden, in denen »Würde« durchaus an tastbar, eher also ein Konjunktiv als unhintergehbares Prinzip ist? Ist Kindesvernachlässigung - allein - Problem von Eltern oder auch Ausdruck von eingeschränkten Lebensperspektiven, verheerenden Wohnsituationen, unzureichenden gesellschaftlichen Angeboten für Kinder etc. Diese Frage zu stellen, bedeutet nicht, sie einfach mit »ja« zu beantworten, wohl aber eine grundsätzliche Skepsis gegenüber der illusionären Vorstellung, die erwähnten Missstände seien einfach abzustellen, ohne ihrer Eingebettetheit in der gesellschaftlichen Struktur nachzugehen. Das heißt nicht, dass im Rahmen dieser gesellschaftlichen Struktur »nichts zu machen« sei, wohl aber, dass ohne deren Einbeziehung die Grundlage der Missstände unangetastet bleibt. (2) Kritisches Denken ist »weder seiner bewussten Absicht noch seiner objektiven Bedeutung nach darauf bezogen, dass irgend etwas in dieser Struktur besser funktioniere«. Dies lässt sich auf der Grundlage des bisher Gesagten so verdeutlichen: Diese Aussage bezieht sich nicht darauf, dass überhaupt nichts besser funktionieren soll, sondern zielt in Intentionen und Geltung auf Sachverhalte, an denen sich ein funktional relevanter Zusammenhang zur gesellschaftlichen Struktur aufweisen lässt. Es geht also nicht darum, dass das Tropfen eines Wasserhahns nicht abgestellt oder eine defekte Toilettenspülung nicht repariert werden sollte, sondern es geht um Sachverhalte, bei denen ein Eingriff zur Missstandsbehebung gleichzeitig, wenn nicht gar in erster Linie, eine Stabilisierung der- problematisierten - gesellschaftlichen Struktur mit sich bringt, insoweit deren wesentlicher oder konstituierender Bezug zum Problem ausgeblendet wird. Um hier auf eines der Beispiele aus (1) zurückzukommen: Wenn es Schulpsychologinnen und -psychologen gelingen sollte, die Zahl gewalttätiger Ausschreitungen zu vermindern, ist dies natürlich für die Opfer dieser Ausschreitungen ein Vorteil. Die mit Horkheimer aufzuwerfende Frage ist dann aber: Wie stabil ist der Erfolg, wenn Gewalttätigkeiten Ausdruck der skizzierten strukturellen Gewalt sind? Und: Falls die Gewalttätigkeiten einen unartikulierten Widerstand zum Ausdruck bringen, wird dann mit der Überwindung oder der Brechung dieses Widerstands die strukturelle Gewalt der Selektionsfunktion der
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Schule nur befestigt, reibungsloser gemacht? Würde es nicht eher darum gehen, dazu beizutragen, unartikulierten Widerstand gesellschaftlich so zu artikulieren, dass er sich nicht in Gewaltakten gegen Mitschülerinnen und Mitschüler richtet, sondern die in der Schule bestehenden Selektions- und Konkurrenzverhältnisse thematisiert? In eben diesem Sinne ist >kritisches Denken< nicht auf reibungsloses Funktionieren aus, sondern darauf, den Reibungen auf den Grund zu gehen. (3) »Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produkti-
ven, Wertvollen, wie sie in dieser Ordnung gelten, sind {dem kritischen Denken, M.M.] {. .. ]verdächtig«. Lässt sich meine Argumentation hier einfach fortführen? Ist nicht das Zurückdrängen (rassistischer) Gewalt oder von Verwahrlosung/Vernachlässigung gut, nützlich, zweckmäßig, wertvoll- egal wer das fordert, egal ob Gewaltverzicht und Fürsorge »in dieser Ordnung« gelten? Sind Gewaltverzicht und Fürsorge nicht sozusagen »Werte«, gegenüber denen nicht ernsthaft Opposition oder Kritik angemeldet werden kann? Was sollte dann also daran »verdächtig« sein? Verdächtig ist in den bisher beispielhaft angeführten Fällen und Konstellationen, dass bzw. wenn die Propagierung dieser »Werte« die für verschiedene Menschen unterschiedlichen gesellschaftlichen und materiellen Realisierungsbedingungen ausblendet, wenn bspw. dem Habenichts oder der überforderten Mutter empfohlen wird, »Frustrationstoleranz« zu entwickeln, wenn der Aussicht, dass, wer arbeiten wolle, das auch könne, die schreiende Diskrepanz zwischen den Zahlen offener Arbeitsstellen und »Jobsuchenden« im Wege steht. Aber es geht in Horkheimers Passage nicht um solche Diskrepanzen, deren Thematisierung durchaus in der Linie unserer bisherigen Argumentation liegt, es geht um mehr: Darum, dass es »Kategorien des Besseren ... « gibt, die durchaus nicht >Oppositionsfrei<, sondern zu >hinterfragen< sind. Das möge wieder ein Beispiel veranschaulichen: Welchen Interessen und Zielen psychologische Ausbildung und Praxis nützen sollen, was produktiv und wertvoll ist, ist in einem programmatisch gemeinten Band über Psychologie an Fachhochschulen (Günther l999a) schon gar keine Frage mehr, sondern in der normativen Kraft des Faktischen schon beantwortet: »Wer am Marktgeschehen teilnehmen will, muss etwas für den Geschäftspartner Verwertbares anbieten.« (Günther l999b, 25) Diese »Geschäftspartner« sind (natürlich nicht als solche bezeichnete) Kapitalisten, deren Meinungen zu Studiengängen in Umfragen erhoben werden (Müller & Kaune 1999, 138). Dabei kristallisiert sich heraus: Perspektive der Argumentation ist die Erhöhung praktischer Tüchtigkeit in einer widerspruchs- und klassenlos erscheinenden Gesellschaft. Eine ausbildungsrelevante Fragestellung lautet dementsprechend in diesem Rahmen des Wertvollen und Nützlichen, wie es in dieser Ordnung gilt: »Wie organisiert sich Frau Müller selber, um den gestellten Aufgaben-
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umfang in der vorgegeben Zeit effizient und erfolgreich zu bewältigen?« (Weßling 1999, 72) Diese Frage sei ein Beispiel für die- von der Psychologie und deren Verhaltenstrainings zu leistende- »Förderung sozialer Handlungskompetenz« (73). Kritischem Denken muss der hier sich vollziehenden Begriffsverschiebung nachgehen, sie thematisieren und kann dann feststellen: In der Situation, in der Frau Müller sich zu bewähren hat, geht es gar nicht um soziale Handlungskompetenz, sondern um ein individuelles Bestehen in fremdbestimmt-asozialen Verhältnissen in im Übrigen gewerkschaftsfrei konzipierten Zonen. (4) Für das kritische Denken sind die geltenden »Kategorien des Besseren,
Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen [. .. ] keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat.« Ist der Umstand, dass die oben erwähnte Frau Müller einen bestimmten Aufgabenumfang in einer bestimmten Zeit zu bewältigen hat, ein wissenschaftliches oder ein außerwissenschaftliches Thema? Sieht man darin ein außerwissenschaftliches Thema, besteht dessen wissenschaftlicher bzw. psychologischer Aspekt allein darin, mit welchen Mitteln man Frau Müller dazu befähigen kann, einen bestimmten AuEgabenumfang in einer bestimmten Zeit zu bewältigen. Dann hätte Wissenschaft - Psychologie - nur damit zu tun zu klären, wie bestimmte Ziele erreicht werden können, nicht aber damit, ob diese Ziele erreicht werden sollen, ob (und ggf. für wen) es sinnvoll ist, diese Ziele zu erreichen. Ist diese Trennung von Wissenschaft und Gesellschaft sinnvoll? Ich will, weil ich im nächsten Kapitel ausführlich darauf zurück kommen werde, diese - für die Entstehung der Kritischen Psychologie wesentliche - Frage hier nicht weiter verfolgen, sondern zunächst nur die Bilanz vortragen, die Horkheimer aus seiner Bestimmung kritischer Wissenschaft zieht: Für »Subjekte kritischen Verhaltens« gelte: »diese Welt ist nicht die ihre, sondern die des Kapitals« (a.a.O., 181). Wenn man mit Jameson (1996, 175) der Auffassung ist, dass der Marxismus »die Wissenschaft von den inhärenten Widersprüchen des Kapitalismus« ist, dann legt Horkheimers Bilanz die Fassung der Bedeutung von »kritisch« als »marxistisch« nahe. Eben dies meint auch Haug. Wenn Kritik kein »stachelloser Gemeinplatz« sein soll, ist die Frage zu stellen, »wer wen oder was kritisiert, und dies von welchem Standpunkt aus. Der anstößige Name Marx gibt dem Begriff der Kritik seinen Stachel und seine Verheißung zurück, wenn es gelingt, den Impuls, für den dieser Name steht, aus seiner konstantinischen Wende', der ersten Staatswerdung des marxistischen Sozialismus, zurückzugewinnen.« (2006, 8) >>Konstantinische Wende« spielt auf den Beginn der staatlichen Duldung. Privilegienmg, Inanspruchnahme des Christentums durch den römischen Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert an.
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1.2 Klaus Holzkamps Vorstellung von (kritischer) Wissenschaft Und in eben diesem Sinne ist die Kritische Psychologie, wie sie von Klaus Holzkamp und in dessen Arbeitszusammenhang entwickelt wurde, als »marxistisch«, als marxistische Perspektive auf den Zusammenhang von Psychologie- und Gesellschaftskritik, zu verstehen. (Das große »K« ist hierbei übrigens nichts weiter als eine Kennzeichnung der hier verhandelten Vari-
ante kritischer Psychologie.) Meine Einführung in die Kritische Psychologie will dementsprechend nachvollziehbar machen, wie aus einer Kritik der vorfindliehen Psychologie die Kritische Psychologie in Richtung auf eine marxistische Subjektwissenschaft entwickelt wurde, und was dies theoretisch, methodisch und für die außerakademische Praxis bedeutet. An der Ausarbeitung der Kritischen Psychologie waren viele beteiligt; gleichwohl stellt das Werk Klaus Holzkamps den zentralen Bezugspunkt dieses Ansatzes dar. Wenn ich mich deswegen in dieser Einführung auf seine Arbeiten konzentrieren werde, werde ich gleichzeitig deutlich zu machen versuchen, dass ohne die von anderen stammenden Arbeiten aus seinem Arbeitszusammenhang (dem ich selber seit Mitte der 70er Jahre angehörte), die Entwicklung der Kritischen Psychologie nicht möglich gewesen wäre. Gleichzeitig möchte ich Differenzierungen und Differenzen, die sich dabei ergeben haben, darstellen; auch offene Fragen und Probleme. Eine Gefahr, die eine »Einführung in ... «mit sich bringt, ist die »Kanonisierung«. Kanonisierung aber ist hinderlich und gefährlich für kritisches Denken, das sich im immer neuen Widerspruch, im Widersprechen, im Zuwiderhandeln bewähren muss (statt in Widersprüchen modische Flexibilität zu beweisen). 2 Der Ausdruck »Einführung in ... «vermittelt immer den Eindruck einer gewissen Abgeschlossenheit, des Festen, des sicher Gewussten, des Handhabbaren, des Festsetzens von eigentlich Bewegendem und sich Bewegendem. Oft hat Klaus Holzkamp ausdrücklich auf die Bedeutung hingewiesen, die der Dialog und die Auseinandersetzung mit den Studierenden für die Entwicklung beider Seiten hatte. Auf der anderen Seite aber ist es kaum zu übersehen, dass viele Studierende, die sich mit der Kritischen Psychologie auseinandersetzen oder unter Bezug auf sie- etwa in Studien-Praktika- arbeiten wollen, diese dialogischen Möglichkeiten nicht (mehr) haben, dass ihnen grundlegende Kenntnisse der Geschichte und des Erkenntnis- und Problembestandes der Kri2 Billig (2006) diskutiert dieses Problem für in den akademischen Betrieb integrierte, Marktmechanismen reproduzierende »kritische<< (critical) Ausbildungsgänge (vor allem in Großbritannien) mit Studiengebi.ihren, modularem Studienaufbauund Pri.ifungsordnungen. Was er nicht diskutiert, ist, welche inhaltlichen Spezifika der »Kritik<< die Integration und Kanonisierung, deren mangelnde Reflexion durch die Repräsentanten der kritischen Ansätze er vermisst, überhaupt erst ermöglichten.
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tischen Psychologie kaum zugänglich sind, und dass sie deswegen an einer Einführung interessiert sind. Jedenfalls lassen es sowohl die Entwicklung der Kritischen Psychologie wie ihre geringe Repräsentanz an Hochschulen als sinnvoll, wenn nicht erforderlich, erscheinen, Geschichte und Denkweisen der Kritischen Psychologie (auch) in einer »Einführung« zu vermitteln. Um dabei der Tendenz zur Kanonisierung entgegen zu wirken, werde ich mich bemühen, jene Haltung zu >transportieren<, die in Holzkamps »emphatischer« (1983b, 164) Bestimmung von Wissenschaft allgemein, also nicht allein kritischer Wissenschaft, zum Ausdruck kommt. Danach ist Wissenschaft »ein prinzipielles Gegen-den-Strom-Schwimmen, dabei vor allem auch gegen den Strom der eigenen Vorurteile, und in der bürgerlichen Gesellschaft zudem gegen die eigene Tendenz zum Sich-Korrumpieren-Lassen und Klein-Beigeben gegenüber den herrschenden Kräften, denen die Erkenntnisse gegen den Strich gehen, die ihren Herrschaftsanspruch gefährden könnten. Demnach ist Wissenschaft quasi als solche Kritik und Selbstkritik: Aber nicht die konkurrenzbestimmte profilierungssüchtige Kritik vieler bürgerlicher Intellektueller, sondern eine Kritik zur Durchsetzung des menschlichen Erkenntnisfortschritts im Interesse aller Menschen gegen die bornierten Interessen der Herrschenden an der Fortdauer menschlicher Fremdbestimmung und Unmündigkeit.« (A.a.O., 163f.)
Die Notwendigkeit, die Bedingungen, die gesellschaftlichen und institutionellen Umstände der eigenen Arbeit und des eigenen Denkens mit zu reflektieren, macht Kritik zu einer Art Daueraufgabe, und zwar genau dann, wenn man sich selber bzw. die eigenen Ansprüche an Einsicht und Handeln nicht aufgeben will. Es sind dabei zwei Momente, die Holzkamp hervorhebt: die Bereitschaft zu Veränderung und Selbstkritik und eine Resistenz gegenüber jener Flexibilität, die zur Grundausstattung (»Schlüsselkompetenz«) bürgerlicher Anpassung und Wendigkeit gehört. Schon sein Sich-Einlassen auf die Wissenschaftskritik der Studentenbewegung, mit der Holzkamp sich als gerade etablierter Wissenschaftler konfrontiert sah (und die ich im folgenden Kapitel nachzeichnen will), zeugt davon, wie er beide Momente verband. Vielleicht ist es überhaupt zum besseren Verständnis seines Werkes günstig, wenn ich vor dessen Rekonstruktion einige Bemerkungen zur Arbeitsweise Klaus Holzkamps mache (vgl. Markard 1997). Sicher war Holzkamp ein streitbarer Wissenschaftler. Er suchte zwar Kontroversen nicht, wich ihnen aber auch nicht aus. Er argumentierte nicht nur wissenschaftlich, sondern auch politisch- nicht, weil er ein durch und durch politischer Mensch gewesen wäre - er sah dazu nur keine Alternative, weil er den gesellschaftlichen Konsequenzen seiner wissenschaftlichen Überlegungen nicht ausweichen wollte. Er verfolgte ihm wichtige Fragestellungen unabhängig von Theoriemoden, und er ließ sich dabei nicht von
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ursprünglich gemachten Zeitplanungen unter Druck setzen, eine Haltung, die mit wissenschaftsexternen Forschungs- und Zeitplanungen denkbar schlecht kompatibel ist. In all diesen Dingen war er ein Gelehrter alten Stils. Ihm gingen die von Adorno kritisierten »Händlerqualitäten« ab, die Fähigkeiten eines Wissenschaftlertyps, der sich »unentbehrlich« macht durch »Kenntnis aller Kanäle und Abzugslöcher der Macht«, ihre »geheimsten Urteilssprüche« errät und von deren »behänder Kommunikation« lebt (Adorno 1951, 24). Er arbeitete alleine, brauchte Ruhe und Einsamkeit, diskutierte aber Probleme, Hypothesen und Resultate in verschiedenen- darunter (s.o.) studentischenArbeitszusammenhängen. Seiner Vorstellung von wissenschaftlicher Gemeinschaft war die Betriebsamkeit der scientific community fremd, deren Produktion vom Takt der Tagungen und vom Kalender der Kongresse gesteuert wird, und die den Wert von Forschung an der Höhe fristgerecht eingeworbener und ausgegebener Drittmittel misst. Studierende fasste er nicht als Objekte eines kanonisierten Lehr- und Prüfungswesens und -wissens. Vielmehr begriff er sie als mitdenkende, querdenkende, vorausdenkende, jedenfalls als Subjekte. So war ihm auch bewusst, dass eine sachfremde Hierarchie im Widerspruch zu einer Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden und einer damit verbundenen Diskussions-, Streit- und Lernkultur steht. Es ist nicht nur die Kritische Psychologie, die in ihren konzeptuellen und methodischen Vorstellungen in Spannung zur Mainstream-Psychologie steht, auch die wissenschaftliche Haltung ihres Begründers war gelebte Kritik am Wissenschaftsbetrieb. 1992 gefragt, ob und wie es wohl mit der Kritischen Psychologie weitergehe, meinte Klaus Holzkamp, im - universitär institutionalisierten (!) »Jammerfach Psychologie« gebe es (wie übrigens auch für die freudsche Psychoanalyse, auf die ich nicht in einem eigenen Kapitel, aber in verschiedenen Zusammenhängen eingehen werde) »für uns keine richtige Perspektive«. Aber es werde wohl- interdisziplinär- immer Leute geben, die sich auf die Kritische Psychologie »als Arbeitsrichtung [ ... ] beziehen und da weiterarbeiten« (1996a, 580). Dazu will meine Einführung einen Beitrag leisten.
2. Die Bedeutung der Studentenbewegung und ihrer Wissenschaftskritik für die Entwicklung der Kritischen Psychologie
2.1 Zum gesellschaftlichen Hintergrund der Wissenschaftskritik der Studentenbewegung Die Herausbildung und Entwicklung der Kritischen Psychologie ist von der Wissenschaftskritik der Studentenbewegung nicht zu trennen, in der die Frage nach der Funktion der Wissenschaften eine wesentliche Rolle spielte. Noch in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts repräsentierten die Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland ein Feld institutioneller Bedingungen, das die Reflexion von Wissenschaft auf ihre gesellschaftlichen Aufgaben, Funktionen und Wirkungen hin nicht gerade beförderte. Diese Haltung, die mit dem Terminus »Elfenbeinturm«-Mentalität diskreditiert und verspottet wurde, verlor allerdings in dem Maße an unbefragter Selbstverständlichkeit, in dem offenkundig wurde, dass Wissenschaft (auch) ein Produktivfaktor ist, dass »Bildungsreserven« mobilisiert werden mussten, dass also die Gesellschaft eine gewisse Planung, eine quantitative Ausweitung und qualitative Veränderung im Forschungs-, Wissenschafts- und Bildungssektor brauchte. Symptomatisch für die seinerzeitige Situation ist der sog. Sputnikschock: Im Kampf um die Eroberung des Weltraums hatte die Sowjetunion die erste Etappe gewonnen, als sie am 4. Oktober 1957 den ersten Erdsatelliten der Geschichte (»Sputnik 1«) in eine Erdumlaufbahn brachte und am 3. November desselben Jahres gleich einen zweiten (»Sputnik 2«) folgen ließ, sogar mit einem Lebewesen, einer Hündin namens Laika (die allerdings wegen Sauerstoffmangels nach 5 Tagen verendete) an Bord. Erst am 2. Februar 1958 folgte dann ein US-amerikanischer Satellit (»Explorer 1«). Am 12. September 1959 war es die sowjetische .Sonde »Lunik 2«, die als erste den Mond traf; auch die ersten Bilder von der Rückseite des Mondes, die am 4. Oktober 1959 übermittelt wurden, stammten von einer sowjetischen Sonde. Danach wechselten sich die Erfolge ab, wobei allerdings mit ihrer im Fernsehen live übertragenen Mondlandung am 20. Juli 1969 die USA einen ausgesprochen prestigeträchtigen Knüller landeten. Die Erfolge der Sowjetunion in der Systemkonkurrenz trugen dazu bei, die Gleichsetzung des bundesdeutschen Bildungssystems mit einer »Bildungskatastrophe« (Picht 1964) und damit die Reformbedürftigkeit dieses Bildungssystems ins allgemeine Bewusstsein zu rufen (zumal mit dem Bau der »Mauer« der Zufluss von in der DDR Qualifizierten in den »Westen« versiegte). Insofern waren die Studentenbewegung und ihre zeitweiligen
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Erfolge auch Ausdruck einer gesellschaftlichen Notwendigkeit, in deren Realisierung sich dann allerdings gegensätzliche - technokratische und emanzipatorische- Konzepte gegenüber standen (vgl. Bultmann & Weitkamp 1999). Eine der zentralen Frage war (und ist) die, ob das Verhältnis von Wissenschaft und ihrer gesellschaftlichen Inanspruchnahme demokratisch zu organisieren ist oder nicht. Zunächst sah es in den Hochschulen nicht so aus, dass solche Fragen - zumindest öffentlich und systematisch - diskutiert wurden. Begünstigt wurde dies dadurch, dass faktisch nur der Nachwuchs des mehr oder weniger gehobenen Bürgertums und Bildungsbürgertums studierte. Die »Intelligenz« als eine auch für die gesellschaftliche Produktion zahlenmäßig bedeutsame Schicht existierte noch kaum. Zu studieren war gleichbedeutend mit besten Berufsaussichten. Es gab sehr viel weniger Studierende als heute, Mitbestimmung an den Hochschulen war faktisch ein Fremdwort, Institute wurden von den Direktoren wie Duodez-Fürstentümer verwaltet, Zwischenfragen in Vorlesungen galten fast als Körperverletzung, das allmählich aufkommende »Hinterfragen« von in Lehrveranstaltungen vorgetragenen Lehrmeinungen wurde allemal als Provokation aufgefasst (und musste entsprechend so gemeint sein - mit dann auch durchaus mobilisierendem Effekt): Vorlesungskritik als Form des Widerstandes gegen die »Untertanenfabrik« (Leibfried 1967). Die hier begründete Tradition der Auseinandersetzung mit der Lehre an den Hochschulen wäre im Übrigen nach wie vor die Alternative zu dem, was derzeit als »Evaluation der Lehre« fungiert, sei es in infantilen »Prüf den Prof«-(Internet- )Rankings, sei es in fragebogenförmigen Umfragen, die Fachbereiche zum Semesterende veranstalten, und an denen teilzunehmen z.T. damit erzwungen wird, dass die Scheinvergabe an die Teilnahme an der Evaluation gekoppelt ist. Diese Art der »Evaluation« ist bloß ein (herrschaftsförmiges) Surrogat für Reformen und inhaltliche Auseinandersetzungen. Sie ersetzt nämlich Mitbestimmung und praktisches Eingreifen durch Stimmungs- und Meinungsumfragen (die wiederum auch zur Gehaltsregulation der Lehrenden funktionalisiert werden können); Wissenschafts- und Lehrkritik verkommt auf diese Weise zu einer Art lehrbezogener Trenderhebung und Wellnessberatung und zu Popularitätsindizes. Die im »Elfenbeinturm« beflissen gepflegte strikte Trennung von Wissenschaft und Gesellschaft/Politik wurde von konservativer Seite damit legitimiert, dass die >Nazizeit< ja zu Genüge gezeigt habe, wohin es führe, wenn die Wissenschaft politisiert, sozusagen unter politisches Kuratel gestellt werde. Gerade aus der Erfahrung des deutschen Faschismus und dessen Überwältigung der deutschen Universitäten sei die Konsequenz zu ziehen, Wissenschaft und Politik, Wissenschaft und gesellschaftliche Ansprüche strikt zu trennen. Was bei dieser Argumentation allerdings verloren ging (und was dann auch entsprechend gegen diese Argumentation eingewendet wurde),
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war Folgendes: Man kann diese Entwicklung genau umgekehrt sehen: gerade weil die Hochschulen der Weimarer Republik - formal - politisch so abstinent sich gaben, herrschte dort ein Konservatismus, in dessen Klima die Nazis an den Hochschulen vielfach leichtes Spiel hatten (vgl. Kiel2000; Brunkhorst 2002; für Psychologie: Graumann 1985). In dieser Gegenargumentation ist mitgedacht, dass das Fehlen politischgesellschaftlicher Reflexion nicht auch das Fehlen von Politik bzw. politischgesellschaftlichem Einfluss bedeutet, sondern nur dessen Unbemerktbleiben oder Verschweigen. Was also als »Elfenbeinturm«, als Isoliertheit der Hochschule von Politik und Gesellschaft, in Erscheinung tritt, ist eher eine illusionäre Selbstbespiegelung von Hochschul-Akteuren bzw. eine Verkennung seitens der Betrachter von außen. Anders formuliert: Was als Isoliertheit der Hochschule von Politik und Gesellschaft in Erscheinung tritt, ist in Wirklichkeit nur die mehr oder weniger unauffällige Übereinstimmung mit dem gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Status quo, also mit der >herrschenden Meinung<. Insofern ist es für das Verständnis der Wissenschaftskritik der Studentenbewegung (und damit der Herausbildung der Kritischen Psychologie) wichtig zu sehen, dass in dieser Zeit der gesellschaftliche Konsens über die Ordnung der Dinge erodierte. Diese Erosion reichte von neuen Formen des Zusammenwohnens (»Wohngemeinschaften«) über das Aufbrechen einer kruden wie prüden Sexualmoral bis hin -und das war das eigentlich Gefährliche - zur Infragestellung der politisch-moralischen Unangefochtenheit der westlichen Front in der Ost-West-Systemkonfrontation; prominentestes Beispiel ist die Kritik des Vietnamkrieges, in dessen Verlauf immer mehr Menschen Zweifel über die hehren Ziele der USA zu hegen begannen, Zweifel daran, ob der damals kommandoführende General Westmoreland dort tatsächlich die Freiheit verteidigte (oder nicht doch eigentlich more westland erobern wollte, wie seinerzeit gekalauert wurde). Hinzu kam, dass mit einer wirtschaftlichen Rezession, die 1967 ihren Tiefpunkt erreichte, der Glaube an die Unaufhaltsamkeit und Endlosigkeit des wirtschaftlichen Aufschwungs (»Wirtschaftswunder«) zu bröckeln begann, und die Bundesrepublik mit Streiks konfrontiert wurde, deren Ausmaß signalisierte, dass es >nicht einfach so weitergehen< konnte wie bis dahin. Mit der Großen Koalition unter dem CDU-Kanzler Kiesinger war das dahin bestehende Regierungsmonopol von CDU bzw. CDU und FDP schon gebrochen worden; 1969 kam dann die sozialliberale Koalition unter dem SPD-Kanzler Brandt an die Regierung. In den Hochschulen brach sich die Erosion des gesellschaftlichen Konsenses Bahn u.a. mit der Aufdeckung skandalöser Beispiele der Verflechtung von Wissenschaft und Technik mit gesellschaftlicher Repression und internationaler Ausbeutung (etwa Baritz 1960): Ein für die Psychologie bedeutsames Beispiel ist hier neben der Optimierung von Motivations-
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Strategien zur Produktivitätserhöhung (vgl. Holzkamp-Osterkamp 1975, 14ff) die sog. counterinsurgency-Forschung (vgl. Streiffeier 1975, 24ff), also sozialwissenschaftliche Forschung mit dem Ziel, das Ausbrechen von Revolten gegen neokoloniale Ausbeutung in Ländern der dritten Welt zu verhindern, ohne bzw. statt die Bedingungen grundlegend zu ändern, oder da, wo solche Revolten nicht mehr zu verhindern waren, sie niederzuschlagen, zu isolieren, zu kanalisieren etc. Das betrifft natürlich auch den Einsatz von Naturwissenschaften (etwa chemische und biologische Kriegsführung) in solchen Zusammenhängen. Es liegt auf der Hand, dass derartige Kritik mit dem Erstehen und Erstarken von Befreiungsbewegungen in der sog. »Dritten Welt« verbunden, ohne diese kaum denkbar war. 2.2 Kann, darf, muss Wissenschaft »wertfrei« sein? Damit bin ich nach dieser knappen Skizze der gesellschaftlichen Situation der Bundesrepublik zu Beginn der Studentenbewegung wieder bei der Problemstellung angekommen: Für kritisches Denken sind, wie in der Einleitung wiedergegeben, die geltenden »Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen [... ] keineswegs außerwissenschaftliche Voraussetzungen, mit denen es nichts zu schaffen hat« (Horkheimer 1937, 180f). Diese Feststellung richtet sich gegen die- im Sinne Horkheimers »traditionelle«- Auffassung, dass Wissenschaft »wertfrei« sei, keine Werturteile enthalte bzw. enthalten dürfe, nur mit von gesellschaftlichen Strukturen zu trennenden Fakten sich zu befassen habe. Die Auseinandersetzung darüber macht den Kern des »Positivismusstreits« (Adorno et al. 1969) aus, der in der (deutschen) Soziologie ausgetragen wurde und der seinen Ausgang von zwei gegensätzlichen Beiträgen K. Poppers und T.W. Adornos zum Thema »Logik der Sozialwissenschaften« nahm, die auf einer Arbeitstagung der deutschen Gesellschaft für Soziologie im Jahre 1961 gehalten und diskutiert wurden. In der (Berliner) Psychologie wurde die- im Sinne Horkheimers- »traditionelle« Position z.B. von Hans Hörmann, Ordinarius an der FU Berlin, vertreten (alle Zitate seines Vortrages im Wintersemester 1962/63 nach der Dokumentation in Holzkamp [1972c]). Die Psychologie, so Hörmann, könne selber keine Ziele setzen, sondern nur Wege zur Erreichung anderweitig durch »Religion«, »Moral«, »Ideologie« (213 [217])- gesetzter Ziele aufweisen. Wenn also eine derartige außerwissenschaftliche Instanz bspw. »hohe Leistung als gut und damit erstrebenswert erklärt, dann kann die Psychologie Auskunft geben über die Zusammenhänge dieses Leistungsstrebens mit dem Gefüge der übrigen Persönlichkeitseigenschaften, über den Einfluss von Erfolg und Misserfolg auf diese Motivationsstruktur, über den Einfluss
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bestimmter frühkindlicher Erfahrungen auf die Entwicklung dieses Strebens. Das heißt, aus den Erkenntnissen der Psychologie kann- bestenfalls- abgeleitet werden, was man tun muss, um in einem Menschen ein hohes Leistungsstreben zu erzeugen. Aber die Psychologie sagt niemals, ob man in einem Menschen ein hohes Leistungsstreben erzeugen soll.« (Ebd.) Gleichwohl, so Hörmann, befalle einen ein gewisses Unbehagen, wenn die Psychologie nur Wege, nicht aber Ziele zeigen könne, wenn sie etwa den Weg zu einem glücklichen Leben liefern könne, nicht aber sagen könne, was Glück sei. Und er stellt die Frage: »Bricht die Psychologie nicht zu früh ab? Oder anders gefragt: Was richtet die praktisch-technische Anweisung auf das Ziel aus? Was stellt die Klammer zwischen Psychologie und Gesellschaft mit dem für sie konstitutiven [sie!] Wertsystem? Welches ist das Gelenk, in dem Psychologie und Gesellschaft ineinandergreifen? {. .. ] Es ist der Psychologe. In ihm artikuliert sich die wichtigste Beziehung zwischen Psychologie und Gesellschaft. [... ] Mit dieser Ortsbestimmung des Psychologenbürden wir diesem freilich eine schwere Last auf. Wir verweigern ihm den Elfenbeinturm der reinen Wissenschaft, wir verweigern ihm aber auch das fragund sorglose Dasein eines bloßen Handlungsgehilfen der Gesellschaft.« (Ebd.) Der dergestalt als »Klammer« zwischen Psychologie und Gesellschaft fungierende Psychologe müsse »Wachsam« sein gegenüber seinen verschiedenen Auftraggebern, aber auch gegen sich selbst. »Wir sehen den Psychologen nicht als den Vertreter einer Wissenschaft, sondern als den Vertreter einer Gesellschaft, unserer Gesellschaft, weil das Wissen der Psychologie auf Gesellschaft sich bezieht und in die Gesellschaft wirkt«, und weil das »Ethos«,· auf das der Psychologe sich beziehe, stets »gesellschaftsbezogen« sei. »Welchem Ethos er sich verpflichtet fühlen soll, das kann ihm die Psychologie nicht sagen.« Sie stelle aber hohe Anforderungen an ihn, u.a. »zu wissen, wie leicht zu lenken der Mensch ist, und dennoch der Freiheit zu dienen« (ebd.). Nach der von Hörmann vorgetragenen Auffassung ist das Verhältnis zwischen Gesellschaft bzw. Politik und Psychologie gleichsam äußerlich, es besteht kein inhaltlicher Zusammenhang zwischen der Psychologie und ihren Fragen und Antworten mit der Verfasstheit der Gesellschaft. Die Psychologie wird als ein wertfreies Instrument angesehen, das seine gesellschaftliche Funktion erst mit den Anwenderinnen und Anwendern bzw. mit deren Charakter erhält. Welche Funktion die Inhalte der Psychologie für die Gesellschaft bzw. die Betroffenen haben, ist keine Frage der Psychologie als Erkenntnissystem, sondern abhängig davon, wer die Psychologie wie anwendet. Die Psychologie wird so gedacht wie ein Messer, das in der Hand der Köchin oder des Kochs positiv, in der Hand der Mörderin oder des Mörders negativ zu bewerten ist. (Die Kritik dieser Argumentationsfigur, mit der die Funktion der Psychologie auf die Person der Psychologinnen und Psychologen reduziert, also personalisiert wird, war auch einer der
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Ausgangspunkte kritisch-psychologischer Praxisforschung; vgl. Markard & Holzkamp, 1989) Nach Klaus Holzkamps Einschätzung (1972c, 213 [217]) brachten die Ausführungen Hörmanns »das Gesellschafts- und Wissenschaftsverständnis der allermeisten Psychologen in der BRD präzise« zum Ausdruck. Bevor ich mich nun weiter mit diesem Gesellschafts- und Wissenschaftsverständnis auseinandersetze, möchte ich zeigen, welche (anfängliche) Bedeutung es auch bei Studierenden hatte, die im Zuge der Studentenbewegung das Fach »Psychologie« reflektierten - wobei diese Auffassung nach meiner Erfahrung auch heute nach wie vor einflussreich ist. 2.3 Erkenntnisoptimismus: Humanisierung als Implikat der Psychologie oder »psychologischer Gesetzmäßigkeiten« In einem »Krofdorfer Manifest«, das am 23. Juni 1968 auf einem Verbandstag der studentischen Fachschaften Psychologie verabschiedet wurde, heißt es: >>Wir sind so vermessen, den Psychologen eine wichtige Rolle in der Gesellschaft zuzuweisen. [ ... ] Die Psychologie befasst sich mit dem Verhalten des Menschen. Die Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens erlaubt es dem Psychologen, aufzuzeigen, wie die Gesellschaft verändert werden muss, um ihren Mitgliedern optimale Entfaltungsmöglichkeiten zu sichern. Sie befähigt die Psychologen andererseits, Individuen so zu verändern, dass sie auch in einer unterdrückenden Gesellschaft in der Lage sind, sich von sozialen Zwängen zu befreien und somit die Gesellschaft selbst freimachen zu können. Die Psychologie ist also eine Wissenschaft, die in besonderer Weise zur Verwirklichung der im Artikel2 GG [Grundgesetz, M.M.] erhobenen Forderung beitragen kann!« (Zit. nach Mattes 1985, 292) Artikel 2 des Grundgesetzes lautet: >>(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.« Wie verhält sich die Position des studentischen Krofdorfer Manifestes zu der Position Hörmanns? In beiden Fällen gibt es keinen inhaltlichen, systematischen Zusammenhang zwischen der Psychologie als Erkenntnissystem bzw. zwischen psychologischen Konzepten wie >>Leistung«, >>Intelligenz«, >>Begabung«, »Motivation« und der Verfasstheit der Gesellschaft. In beiden Fällen auch sind es zuvörderst, wenn nicht allein, die Psychologinnen und Psychologen, in deren Hand es liegt, welche gesellschaftliche Funktion die Psychologie bzw. welche Funktion sie für die betroffenen Individuen hat.
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Schwieriger allerdings wird es bei der Argumentation bezüglich der Zielsetzung, mit der Psychologie betrieben wird oder werden soll. Hier legt das Krofdorfer Manifest nämlich nahe, dass, wenn Psychologinnen und Psychologen ihre »Kenntnis der Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens« nutzen, sie damit auch wissen, wie Gesellschaft und Individuen zur »optimalen« Entfaltung letzterer zu verändern sind, anders formuliert, dass die Psychologinnen und Psychologen dann, wenn sie dies nicht tun, entweder keine oder zu wenig Ahnung von den »Gesetzmäßigkeiten menschlichen Verhaltens« haben oder deren Kenntnis hintergehen. Voraussetzung dieser Argumentation ist allerdings, dass die Psychologie inhaltlich nicht umstritten ist, dass sie nicht in verschiedenen, miteinander ggf. nicht kompatiblen Schulen (etwa Psychoanalyse vs. Behaviorismus) existiert. Danach ist dieauf diese Weise völlig abstrakt gedachte - Psychologie quasi automatisch emanzipatorisch, sind ihre Erkenntnisse zwangsläufig kritisch gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen, die menschliche Entwicklung behindern. Es ist dieses Absehen von den unterschiedlichen Ansätzen in der Psychologie, die es dem Krofdorfer Manifest ermöglicht, das Fach als inhaltlich ungesellschaftlich und gleichzeitig als kritisch-emanzipatorisch zu denken - auf der Basis einer naiven, wenn man so will: erkenntnisoptimistischen Annahme. Diese Vorstellung ist der von Hörmann repräsentierten Position allerdings nicht eigen: Hier sind unterschiedliche - insgesamt wertneutrale - Kenntnisse und Methoden der Psychologie für durchaus unterschiedliche Ziele zu funktionalisieren, und zwar über die Zwecke, die Psychologinnen und Psychologen aus eigenem Antrieb oder von anderen beauftragt verfolgen. Dass das Krofdorfer Manifest die Psychologie als Wissenschaft nicht »wertneutral« (sondern per se emanzipatorisch) fasst, liegt also daran, dass es die Ebene, auf der die Frage der Wertneutralität strittig werden kann, erst gar nicht realisiert: die Ebene der Umstrittenheit unterschiedlicher bis gegensätzlicher Theorien, Ansätze, Schulen (wie etwa der Streit zwischen Psychoanalyse und Verhaltenstheorie, wie ein Symptom aufzufassen sei: als Manifestation unbewusster und unbearbeiteter frühkindlicher Konflikte oder als Ausdruck eines Lernprozesses). So kann das Krofdorfer Manifest völlig unbefangen »den Menschen« als Objekt (der Bemühungen) von in psychologischen Gesetzmäßigkeiten bewanderten Psychologinnen und Psychologen auffassen- ganz im Sinne des experimentellen Schemas übrigens, auf das ich noch mehrfach zurückkommen werde. Der Effekt dieser Position ist aber unter dem hier wesentlichen Gesichtspunkt der Funktion der Psychologie derselbe wie der der Wertneutralität Wissenschaft und Erkenntnis werden als mit gesellschaftlichen Verhältnissen nicht vermittelt gedacht. Aber: Rede ich denn nicht selber auch von der Psychologie und ihrer Funktion, von der Kritik an der Funktion der Psychologie? Ja, soweit ich damit befasst bin, die auf die Psychologie bezogene Funktionsanalyse der
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Studentenbewegung in ihren (bis heute} relevanten Argumentationen zu rekonstruieren. Danach wird sich zeigen, dass die Kritik an dieser abstrakten Rede von der Psychologie ein wesentliches Moment der Entwicklung der Kritischen Psychologie war, die sich mit dem differenziellen Erkenntnisgehalt unterschiedlicher psychologischer Ansätze befassen musste. Ich bitte also bis dahin um etwas Geduld (vgl. die Kap. 5 und 6}. 2.4 Psychologie als zu »zerschlagende(( Herrschaftswissenschaft Psychologie wurde aber auch als Herrschaftswissenschaft charakterisiert und kritisiert. In der Darstellung dieser Position kann ich an die in Kap. 2.1 skizzierte Kritik an der Verflechtung von Wissenschaft und Technik mit gesellschaftlicher Repression und internationaler Ausbeutung anknüpfen. Diese Kritik wurde im September 1968 auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychologie geltend gemacht, als Studierende dort ein Symposion mit dem Thema »Psychologie und politisches Verhalten« »umfunktionierten«, wie man derlei zu nennen pflegte, indem sie das Podium besetzten und 27 Thesen zu Psychologie vortrugen. Darin hieß es u.a.: »Die Psychologie gehört zum Corpus derer, die über die schlechten Verhältnisse räsonieren, sie nicht abschaffen. Psychologie entwickelt sich zum Machtinstmment über Hilflose und Kinder.[ ... ] Jede der heutigen Wissenschaften perpetuiert [verewigt, M.M.] irrationale Herrschaftsformen. Die Abschaffung der Herrschaft muss sofort Thema der Psychologie sein. [ ... ] Psychologische Theorien werden daraufhin überprüft, ob sie nicht nur rattentauglich, sondern gesellschaftlich relevant sind. [ ... ] Die Möglichkeit, Theorien anachronistisch beizubehalten, verschanzt sich hinter dem Wertfreiheitsschild.<< Nicht »Erleben und Verhalten<< seien Gegenstand der Psychologie, sondern »die Manipulation des Menschen durch den Menschen, [ ... ] die Perpetuiemng von Ideologie<<. Es gehe um eine Gesellschaft, in der Psychologie überflüssig sei: »Jede Aktion, die eher zur Abschaffung der Psychologie führt als zu ihrer Restauration, ist historisch wahr. [... ] Kriterium für historische Wahrheit wäre das Ausbleiben des Bedarfs der Gesellschaft, Psychologen verfügbar zu haben, wenn diese sich einige Zeit der Gesellschaft verweigert hätten.<< (Zit. nach Holzkamp 1972c, 218ff [222ff]) Diese Passagen sind - wie generell die 27 Thesen - insofern uneinheitlich, als sie zwischen inhaltlicher Auseinandersetzung mit der Psychologie (etwa bezüglich der Forderung, Theorien auf ihre Relevanz zu überprüfen) und deren mehr oder weniger pauschaler Ablehnung changieren. Diese Tendenz setzte sich wenig später bei einem »Kongress kritischer und oppositioneller Psychologen« in Hannover durch, deren Mehrheit am 16. Mai 1969 eine Resolution verabschiedete, die folgendes Fazit zog: >>Alle psychologischen Ansätze erweisen sich als unpolitisches Gewurstel. Wo Psychologen politische Praxis betreiben (z.B. in Betriebsbasisgruppen, in der Schüler- und Lehrlingsagitation), agitierten sie nicht als Psychologen: Denn die
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Psychologie ist traditionell und perspektivisch eine Wissenschaft, die systembedingte Konflikte zu eliminieren oder zu integrieren sucht (das gilt auch für die Psychologie in der DDR). Die Psychologie war und ist immer ein Instrument der Herrschenden. Sie ist folglich nur als Wissen über das Herrschaftssystem brauchbar. Die konkrete Alternative zum Traum von der Umfunktionierung der Psychologie zum Instrument des Klassenkampfes ist ihre Zerschlagung. Unsere praktischen Aufgaben müssen nun sein: 1. Das vorhandene psychologische Wissen als Wissen über das System einführen! (z.B. Analysierung und Vervielfältigung von Intelligenztests und deren Aufhebung als Machtinstrument.) 2. Die Zersetzung der Psychologie (z.B. in den Instituten). 3. Entwicklung einer Offensivstrategie an allen Punkten, wo die Psychologie im Verwertungsprozess relevant wird! Es gibt keine >kritische< oder >oppositionelle< Psychologie! D. h. es gibt keine revolutionäre Psychologie! ZERSCHLAGT DIE PSYCHOLOGIE!« (vgl. Holzkamp 1972c, 222 [225]) Es ist - ca. 40 Jahre später - vielleicht einfach, derartige Positionen zu belächeln. Aber: Hat die Forderung »Zerschlagt die Psychologie«, diese radikale Funktionskritik- unbeschadet ihrer etwas martialischen Formulierung nicht Einiges für sich? Läuft nicht z.B. die Persönlichkeitspsychologie darauf hinaus, Menschen zu klassifizieren und nach gesellschaftlichen Erwünschtheiten zu sortieren, oder ist die Intelligenzdiagnostik nicht Mittel z.B. der Schülerselektion? Haben nicht Wissenschaftler wie Basaglia der Psychologie »Befriedungsverbrechen« vorgeworfen, wie es im Titel eines von Basaglia und anderen geschriebenen Sammelbandes heißt (Basaglia & Basaglia-Ongaro 1975)? Waren nicht massive Kämpfe zur Verbesserung der Lage von Psychoseerfahrenen und Psychiatriebetroffenen erforderlich (PsychiatrieEnquete 1976; Wulff 1978, 1994, 2001 )? Ist nicht die Idee, Intelligenztests zu vervielfältigen, um sie zu unterlaufen, durchaus in den »Testknacker«Publikationen aufgegriffen worden (vgl. etwa aktueller: Rieb & Wagenpfeil 2003, hier allerdings nicht mit dem Ziel, die Psychologie zu desavouieren, sondern Einzelne zu befähigen, sich in den Tests durchzusetzen)? 2.5 Perspektive einer kritischen Psychologie? Nur einen Tag ließ eine Gegenresolution auf sich warten, die im Kern die Möglichkeit und Notwendigkeit einer »kritischen Psychologie« behauptete, »nicht als einen bloßen Reflex auf die herrschende, am logischen Positivismus ausgerichtete Psychologie, sondern einen Teil der Sozialwissenschaften, der seine Rechtfertigung aus dem emanzipatorischen Anspruch der kritischen Theorie erhält und der schlechten Wirklichkeit die Möglichkeit eines befreiten Daseins entgegenhält und dieses vorbereitet« (a.a.O., 224). Ähnlich argumentierte eine Gruppe von Studierenden aus Basis- und Institutsgruppen in einem »Heidelberger Papier«, in dem der Psychologiekritik folgende Aufgaben gestellt werden:
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>>a) Analyse der Geschichte der Psychologie: Dabei ist die Psychologie aufzufassen als Vorstellung, die sich die Menschen (bzw. der geistig produzierende Teil) von sich selbst im Laufe der Geschichte gemacht haben. Es ist zu fragen: Wie sind diese Vorstellungen des Menschen von sich selbst aus der jeweiligen historischen Situation zu erklären? b) Analyse der >wissenschaftlichen Psychologie< als Bestandteil der kapitalistischen Gesellschaft: Die Begriffe und Theorien der Psychologie müssen als diejenigen einer Klassengesellschaft analysiert werden [... ]. c) Analyse der Funktion der Tätigkeit von Psychologen in der kapitalistischen Gesellschaft: die Institutionen, in denen der Psychologe arbeitet (z.B. Schule), müssen analysiert werden; ob dieser der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsverhältnisse dient oder den Kampf gegen sie unterstützen kann. Mit dieser Aufgabenstellung ist auch zugleich der Begriff >Kritik< erläutert worden, wie er im marxistischen Sinne nur verstanden werden kann: es geht nicht darum, eine andere Meinung zu haben oder immanent wissenschaftliche Ergebnisse durch andere zu >kritisieren<; sondern es geht darum, die psychologische Forschung als historisches Produkt und als Element der gesellschaftlichen Totalität zu untersuchen.« (Zit. nach Mattes 1985, 302)
Diese Auffassung ist für unsere weitere Argumentation auch deshalb interessant, weil sie die Dimension des Geschichtlichen - auf neue Weise in die Diskussion bringt. Zwar ist auch die Position >>Psychologie ist bloß Herrschaftswissenschaft« in gewisser Weise geschichtlich, weil ja Herrschaft und die Wissenschaft >>Psychologie« auf eine historische Epoche bezogen und inhaltlich verbunden werden. Nur: Die Sache scheint abgeschlossen und keine offene Forschungsfrage mehr zu sein. Die >>Heidelberger« Argumentation dagegen ist insofern offen, als erstens Psychologie und Gesellschaft in einen noch genauer zu bestimmenden inhaltlichen Zusammenhang zu bringen sind, zweitens die Psychologie als Wissenschaft auch zu außerwissenschaftlichen Vorstellungen von menschlicher Subjektivität ins Verhältnis gesetzt werden soll, drittens die Psychologie bzw. die Arbeit der Psycheloginnen und Psychologen den >>Kampf« gegen die »kapitalistischen Produktionsverhältnisse« unterstützen sollen. Viertens (und vor allem) aber wird ein Kritikbegriff angedeutet, der den Standpunkt der Kritik ebenso histo-
risiert wie deren Gegenstand. Die Frage ist allerdings, ob und wie dieser Standpunkt der Kritik entfaltet werden kann. Damit bin ich, nachdem ich die Wissenschafts- bzw. Psychologiekritik der Studentenbewegung in einigen prägnanten Positionen und Gegenpositionen markiert habe, an einem Wendepunkt meiner Darstellung angelangt. Es geht jetzt nämlich darum darzustellen, wie sich in diesem Feld der Auseinandersetzungen die Kritische Psychologie herausbildete. Dazu ist es zunächst erforderlich, jenen Mainstream der Psychologie, an dem sich Kritik entzündete, etwas zu skizzieren und später auch Problerndebatten im Fach selber einzubeziehen, an denen deutlich wird, dass es - unbeschadet der kritisch-psychologischen Kritik, eben auch Nebenströme oder -strörnun-
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gen gibt, die, wie angekündigt, die Rede von der Psychologie als zu pauschal und deswegen als problematisch erscheinen lassen. Ein prominentes Beispiel dafür sind die Psychoanalyse bzw. psychoanalytische Richtungen, auf die- jenseits allgemeiner Funktionskritik der Psychologie- in der Studentenbewegung teilweise positiv Bezug genommen wurde (vgl. l\fartes 1985, 294f). Schon an diesem Umstand lässt sich aber auch absehen, dass eine Kritische Psychologie einer differenziellen Erkenntniskritik bedarf, d.h., dass sie zwischen verschiedenen Ansätzen unterscheiden können muss, dass sie Kriterien für diese Unterscheidungen braucht, zumindest wenn sich auch die Aufgabe stellt, einen potenziellen Erkenntnisgehalt verschiedener Ansätze in Betracht zu ziehen (und daraus zu lernen). Ich werde diese Fragestellungen und Entwicklungen im Zusanmenhang mit der frühen Werkentwicklung von Klaus Holzkamp zum "~ritischen Psychologen« diskutieren. Dies schließt wiederum ein, des.se:: institutionelle und persönliche Situation im Zuge der bislang geschilderte:: Geschehnisse und Entwicklungen mit einzubeziehen.
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3. Holzkamps Analyse und Kritik des experimentell orientierten psychologischen Mainstream 3.1 Klaus Holzkamps wissenschaftliche Entwicklung Klaus Holzkamp wurde mit der Psychologie- und Wissenschaftskritik der Studentenbewegung konfrontiert, als er schon als Ordinarius am Psychologischen Institut der FU Berlin arbeitete. 1927 geboren, immatrikulierte er sich im Sommersemester 1949 an der FU im Fach Psychologie. Das psychologische Institut der FU war im Wintersemester 1948/49 von Oswald Kroh gegründet worden, so dass Klaus Holzkamp diesem Institut fast von den dessen Beginn an zugehörte. Sein Diplom machte er 1954; zwei Jahre später wurde er, vorher schon als studentische Hilfskraft beschäftigt, wissenschaftlicher Mitarbeiter. Er befasste sich theoretisch und experimentell mit Ausdruckspsychologie. Auf diesem Gebiet wurde er dann auch 1957 promoviert. Der Titel seiner Dissertation lautete »Ausdrucksverstehen im Erlebensaspekt. Eine experimentelle Untersuchung«. Die Einleitung und der erste Hauptteil dieser Untersuchung erschienen 1956 leicht verändert unter dem Titel »Ausdrucksverstehen als Phänomen, Funktion und Leistung« im »Jahrbuch für Psychologie und Psychotherapie« (1956), das dem 1955 verstorbenen Oswald Kroh gewidmet war. Seit 1954 (bis 1957) war Holzkamp- mit Kripal Singh Sodhi und Rudolf Bergius - im Rahmen einer Auftragsforschung an Erhebungen über nationale Vorurteile beteiligt, hatte aber auch schon damit begonnen, sich (anderen Aspekten) der sozialen Kognition, speziell der Akzentuierung bei sozialer Wahrnehmung zu widmen (in Zusammenarbeit u.a. mit Peter Keiler und Erich Perlwitz). Nachdem er von 1957 an Lehrveranstaltungen über Tiefenund Ausdruckspsychologie und über Methoden abgehalten hatte, wurde er 1967 schließlich Nachfolger Sodhis, d.h. Ordinarius im Fach »Sozialpsychologie«, um dann in der Nachfolge Hans Aeblis auch das Fach »Pädagogische Psychologie« zu vertreten (vgl. Holzkamp 1972c, 207f [212f]; Rösgen 2003). Was bis dahin in seinen inhaltlichen Arbeiten eher mitgelaufen war, wurde für Holzkamp zunehmend bedeutsam: die Beschäftigung mit wissenschaftstheoretischen und methodologischen Grundlagenproblemen der Psychologie. Aus dieser Phase stammen seine beiden Monographien »Wissenschaft als Handlung« und »Theorie und Experiment in der Psychologie«, an denen er von 1959 bzw. 1962 arbeitete. Mit »Theorie und Experiment in der Psychologie« habilitierte er sich 1963; die Arbeit erschien 1964 als Buch. »Wissenschaft als Handlung« wurde, obwohl früher abgeschlossen, erst 1968 publiziert. In beiden Arbeiten ging es um eine Methodenexplikation und -kritik des Experimentierens (vgl. auch Keiler 1987; Maiers & Markard 1987b, 14ff),
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allerdings dezidiert nicht mit dem Ziel, die »generelle Möglichkeit und Berechtigung des Experimentierens in der Psychologie [... ] in Zweifel zu stellen«, wie dies »vom >Rande< des Faches aus« (1964, 4) geschehe, sondern aus der Überzeugung heraus, dass »das Experiment in der grundwissenschaftlichen Psychologie ein voll legitimes, (jedenfalls der Möglichkeit nach) fruchtbares, ja unersetzliches methodisches Mittel« darstelle (ebd.). Seine Kritik entstand für ihn vielmehr aus gewissen Vagheiten experimenteller Bemühungen Anderer und dem Unvermögen, diese Vagheiten bei eigenem Experimentieren mit Hilfe der überkommenen wissenschaftsmethodischen Anschauungen zu vermeiden (a.a.O., V). Für beide Arbeiten zentral war das Problem, dass es keine klaren Beurteilungskriterien dafür gebe, welche Aussagekraft die in einer experimentellen Anordnung erzielten empirischen Resultate für die theoretische Aussage (Hypothese) hätten bzw. wie die bei Wiederholungen der Experimente ja immer wieder vorkommenden Abweichungen in den Resultaten in ihrem Erkenntnisgehalt zu beurteilen seien. In beiden Arbeiten wurde- konstruktivistisch (vgl. Keiler, a.a.O.; Maiers & Markard, a.a.O.; Holzkamp 1972c, 277ff [280ff]) - der Handlungsaspekt in wissenschaftlicher Erkenntnis hervorgehoben und damit die (auch mit dem Falsifikationsprinzip nicht überwundene) Vorstellung der bloßen Erfahrungsgeleitetheit wissenschaftlicher Erkenntnis kritisiert. Dagegen müsse wissenschaftliche Erkenntnisgewinnung als wissenschaftliches Handeln zur Realisierung von Theorien begriffen werden: »Das Experimentieren ist für uns gekennzeichnet durch eine besondere Art des Realisationsbemühens, und zwar den Versuch, die einer Allgemeinaussage entsprechenden realen Gegebenheiten durch veränderndes Eingreifen in die Realität herzustellen.« (Holzkamp 1968, 253; Herv. entf., M.M.; vgl. auch Holzkamp 1964, 24) Während nun in »Wissenschaft als Handlung« dieses herstellende Realisieren mit vielen erkenntnistheoretischen Bezügen detailliert expliziert wurde, zentrierte sich »Theorie und Experiment« auf das (auch in »Wissenschaft als Handlung« schon diskutierte) Problem der »Repräsentanz«: »Wir spezifizieren nun unsere Problemstellung durch die Feststellung, dass die Beziehung zwischen >theoretischen Sätzen< und >experimentellen Sätzen< im Mittelpunkt dieser Abhandlung steht.« (Holzkamp 1964, 30, Herv. entf., M.M.) In Holzkamps Gesamtargumentation ist die »Repräsentanz« das dritte Kriterium zur Beurteilung des Erkenntniswerts experimenteller Arbeiten: Die beiden anderen Kriterien betreffen den Bestätigungsgrad empirischer Hypothesen und deren Integration in übergeordnete Theorien. Das »Repräsentanz«-Problem bezieht sich also auf die Frage, inwieweit experimentelle Sätze theoretische Sätze repräsentieren: »Während im TS [theoretischen Satz, M.M.] gemäß den Verknüpfungsprinzipien der zugehörigen Theorie Aussagen über >theoretische Realität< enthalten sind, ist der >experimentelle Satz< als unmittelbar sprachlicher Ausdruck des-
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sen zu verstehen, was bei experimentellen Handlungen >tatsächlich gemacht< werden und was >dabei herauskommen< soll. >Experimentelle Sätze< dürfen prinzipiell nichts anderes enthalten als Angaben über durchzuführende experimentelle Operationen und Behauptungen über zu gewinnende experimentelle Befunde, also, wie wir uns ausdrücken, Annahmen über >Handlungs-EreignisRelationen<.« (A.a.O., 28, Herv. entf., M.M.; vgl. auch 1968, 266) Das Kernproblem der »Repräsentanz« besteht nun darin, dass theoretische Sätze sich nicht einfach in experimentelle Sätze umwandeln lassen, sondern dass sie »weder in einer noch in der anderen Richtung aufeinander rückführbar« sind (a.a.O., 270). Das bedeutet, dass gegenüber einem theoretischen Satz viele unterschiedliche experimentelle Sätze existieren können. Nehmen wir als einfachen theoretischen Satz die Frustrations-Aggressions-Hypothese: Wer frustriert wird, reagiert aggressiv. Diesem theoretischen Satz können viele experimentelle Sätze zugeordnet werden - anders formuliert, der theoretische Satz kann unterschiedlich operationalisiert werden: Frustration etwa als achtloses Zerreißen von Listen mit schriftlichen Kopfrechenergebnissen der Versuchspersonen durch eine Versuchsleiterin oder als Organisierung von Misserfolgen bei Aufgabenlösungen; Aggression kann als Zahl oder Intensität der den Mitversuchspersonen verabreichten Elektroschocks oder als Negativität der Bewertung anderer operationalisiert werden. Andersherum kann dieselbe Operationalisierung (derselbe experimentelle Satz) für unterschiedliche theoretische Sätze stehen. So kann die Organisierung von Misserfolgen auch die Operationalisierung von Hilflosigkeit sein und die Negativität in der Bewertung anderer kann die Operationalisierung dessen sein, dass man sich selber dadurch aufwertet (etwa im Sinne der Theorie der sozialen Identität, vgl. dazu Mummendey & Otten 2002, 99ff). Diese Uneindeutigkeit zwischen theoretischem und experimentellem Satz ist übrigens eine Ursache dafür, dass experimentelle Befunde >alternativ< interpretiert werden können: Nehmen wir an, dass jemand sich einstellungswidrig verhält, bspw. also etwas isst, was er eklig findet, und danach sagt: So eklig ist das eigentlich gar nicht. Diese Aussage ist einerseits dissonanztheoretisch zu interpretieren: Der Widerspruch zwischen Einstellung und Verhalten wird dadurch aufgelöst, dass sich die Einstellung in Richtung realen Verhaltens verändert. Sie kann aber auch im Sinne der Impression Management Theory interpretiert werden: Die Versuchsperson will den Eindruck erwecken, als habe es ihr doch nicht so schlecht geschmeckt. An experimentellen Forschungsbeispiel der dissonanztheoretisch inspirierten »Einstellungsänderung durch einstellungskonträres Verhalten« hat Abele (1980) gezeigt, wie »für gleiche und ähnliche Befunde alternative Erklärungsansätze« (36), bspw. seitens der »impression management«-Theorie (41), gegeben wurden. Experimentelle Sätze und damit auch die entsprechenden Befunde sind also theoretisch mehrdeutig, und Holzkamps Bemühen ging darum, dies bei vorfindliehen Experimenten nachzuweisen bzw. Kriterien für eine möglichst hohe Repräsentanz experimenteller für theoretische Sätze zu gewin-
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nen. Wie Peter Keiler (1987, 124) berichtet, lobte- der berühmte Experimentator- Wolfgang Köhler in einem Brief vom 27. August 1965 an Klaus Holzkamp dessen »Theorie und Experiment«: »Ihr Buch sollten alle Psychologen als eine Aufforderung zur Selbstbesinnung und als Einführung in diese Kunst studieren. Es scheint mir auf diesem Gebiet eine alleinstehende Leistung darzustellen. [ ... ] Was ich mir nun wünschen möchte, ist vor allem, dass Sie bald ein praktisches Beispiel von allen diesen Dingen vorlegen, etwa in der Anwendung aufWahrnehmungsfragen [in denen Holzkamp Köhler selber kritisiert hatte
, M.M., worauf Köhler in dem Brief allerdings nicht eingeht], wie Sie sie selbst behandeln, ohne dass dabei die von Ihnen erwähnten Fehler auftreten.« Keiler sieht Köhlers Reaktion als symptomatisch an (ebd.): Die Kritik zu goutieren und so lange zu »suspendieren«, wie Holzkamp keine praktische Lösung parat hat und vorführt. Das Problem ist aber, dass diese Lösung, wie Holzkamp im Nachwort zur zweiten Auflage von» Theorie und Experiment« (1981, 276f) rückblickend selber darlegt, nicht gelingen konnte und kann: »Die Grenzen und Schwächen des Buches treten da zutage, wo versucht wird, selbst eine positive Lösung des Repräsentanz-Problems zu erarbeiten, oder, zugespitzter: darin, dass eine solche Lösung innerhalb des überkommenen experimentellen Variablen-Schemas überhaupt für möglich gehalten wird. [Das liege letztlich an der] »konstruktivistischen Wissenschaftstheorie, auf der es [das Buch, M.M.] basiert. Diese ist ein Beispiel dafür, wieweit man kommt, und wo man stehen bleibt, wenn man einerseits sieht, dass menschliche Erkenntnis nicht kontemplativ, sondern nur im Zusammenhang aktiver Einwirkung auf die Realität gewinnbar ist, aber andererseits den handelnden Forscher nur als isoliertes Individuum gegenüber einer bisher unberührten Wirklichkeit in den Blick bekommt: d.h. wenn man nicht begreift, dass Erkenntnis ein Aspekt der gegenständlichen Naturaneignung durch gesellschaftliche Arbeit im historischen Prozess ist, so dass das Individuum immer schon auf eine durch menschliche Arbeit vorgängig >erkennbar< gemachte Natur trifft usw.« Dass eine Lösung fehlt, ermäßigt aber keineswegs die Kritik, die dann nämlich entweder zur Folge hat, trotz des (von Holzkamp zur Verfügung gestellten) Wissens um die Probleme >im alten Trott< weiter zu machen und die »Diskrepanz zwischen der Eingeschworenheit auf einen engen, pseudoexakten Kanon statistischer Prüfmethodik einerseits und der Oberflächlichkeit und Ungenauigkeit bei der begrifflichen Fassung dessen, was da eigentlich untersucht werden soll« (Holzkamp 1981, 276), auszuhalten bzw. zu ignorieren- oder sich um einen anderen Erkenntnisansatz zu bemühen. Den letzteren Weg schlug, auch unter dem Eindruck der Studentenbewegung, Holzkamp ein. Ich habe diese >vor-kritisch-psychologische< Episode skizziert, weil sie zeigt, dass Holzkamps Entwicklung weg von der überkommenen hin zur Kritischen Psychologie Ausdruck sowohl der von ihm thematisierten imma-
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nenten Probleme >seiner< experimentellen Psychologie als auch seiner Rezeption der Psychologie- und Funktionskritik der Studentenbewegung war. Und es soll sich im Laufe dieser Einführung zeigen, dass das von Holzkamp als >>Repräsentanzproblem« behandelte Theorie-Empirie-Problem (als eine der drei Problemebenen bei der Beurteilung experimenteller Studien) auch für seine weitere Arbeit, in denen er die Kritische Psychologie entwickelte, wesentlich war: • erstens bei der historisch-empirischen Gewinnung von psychologischen Grundbegriffen (»Kategorien«) zurüberwindungvon deren Beliebigkeit, also bei der Frage, ob es eine über bloße Setzungen und Definitionen hinausgehende Möglichkeit gibt, zu psychologischen Begriffen zu kommen (vgl. Kap. 6ff). Der Umstand, dass diese begrifflichen Probleme nicht durch methodische Verbesserungen zu lösen seien, hat Holzkamp schon in den vorbereitenden Arbeiten zur Kritischen Psychologie betont (l970a, 13 [19]; zur Notwendigkeit einer historischen Empirie-Ebene vgl. 1970b, 120ff [128ff]; 1972c, 258 (261]); • zweitens beim Nachweis, dass >offiziell< als Bedingungs-Ereignis-Relationen ausgegebene Variablen-Zusammenhänge in Wirklichkeit verborgene Prämissen-Gründe-Zusammenhänge (»Begründungsmuster«) enthalten, dass also zwischen dem Wenn- und dem Dann-Teil einer Hypothese/ Theorie ein Sinnzusammenhang besteht, der die Voraussetzung der statistischen Prüfbarkeit von Theorien, dass es sich um ein zufallsvariables Geschehen handele, außer Kraft setzt (vgl. Kap. 13.3.2); • drittens bei der Qualifizierung subjektwissenschaftlicher Forschung als Handlungsforschung (»kontrolliert-exemplarische Praxis«) zusammen mit Menschen, die nicht auf den Status einer Versuchsperson reduziert werden, sondern sich zu Mitforscherinnen und Mitforschern qualifizieren (vgl. Kap. 13.3). Die weitere Entwicklung der grundlagentheoretischen Überlegungen Klaus Holzkamps fand nun im Kontext der Studentenbewegung statt und wurde einerseits von dieser zunehmend beeinflusst, andererseits wurden seine Arbeiten von vielen Studierenden intensiv rezipiert. Dass und wie Holzkamp seine eigene Kritik der experimentellen Psychologie so ernst nahm, dass er nach grundsätzlichen Alternativen zu suchen begann, ist wohl ohne die Psychologie-, Wissenschafts- und Gesellschaftskritik der Studentenbewegung schwer vorstellbar. Inhaltlich nicht, aber auch persönlich nicht. Denn radikal Erkenntnis über kollegiale Anerkennung zu setzen, den schon erworbenen Ruf in der scientific community aufs Spiel zu setzen und zu riskieren, nicht zuvörderst danach zu fragen, ob, was man macht, (noch) »anschlussfähig« (vulgo: salonfähig) ist, all das ist sicher eher möglich, wenn man feststellen kann, dass die Resultate eigener Bemühungen auf fruchtbaren Boden fallen: Dass. Holzkamps Erkenntnisse jenseits der scientific community als relevant wahrgenommen wurden, dass sie Teil der
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theoretischen Reflexion und Entwicklung einer emanzipatorisch orientierten sozialen Bewegung wurden, ließ ihn die später zunehmende antiplurale Ignoranz gegenüber seinen Arbeiten durch die Fachkollegen und -kolleginnen sicher leichter bewältigen. 3.2 Kritik der experimentellen Mainstream-Psychologie
3.2.1 Das Subjekt-Objekt- bzw. Subjekt-Subjekt-Verhiiltnis im psychologischen Experiment Die erste Arbeit, mit der Holzkamp in der Studentenbewegung Furore machte, war sein Aufsatz »Zum Problem der Relevanz psychologischer Forschung für die Praxis« (1970a), dessen Grundlage ein Vortrag vom Oktober 1968 war, der vor seiner Publikation schon als hektographiertes »Relevanzpapier<< kursierte. Er basiert auf der Experimentalkritik von »Wissenschaft als Handlung« und »Theorie und Experiment in der Psychologie« und thematisiert nach und neben den skizzierten formal-methodologischen Kriterien eine neue - inhaltliche - Ebene, den Grad der »äußeren Relevanz«, d.h. den Grad der »Bedeutsamkeit, die Wichtigkeit der theoretischen Ansätze [ ... ] nach inhaltlichen Gesichtspunkten, mit Bezug auf Forschungsinteressen« (a.a.O., 12 [18]). Es geht dabei nicht nur um das Kriterium der >externen Validität<, also darum, inwieweit experimentelle Resultate auch außerexperimentell Geltung besitzen, sondern darum, welche inhaltliche Bedeutung eine derartige Geltung, so sie denn gegeben ist, besitzt. Holzkamp geht von für ihn schon vorfindliehen Diagnosen aus, wonach die methodische Präzisierung der experimentellen Forschung mit einer Desintegration und Trivialität der Ergebnisse einhergegangen sei. Es handele sich um eine »Unzahl von kleinen und kleinsten Einzeluntersuchungen, [ ... ] wobei allmählich kein Mensch mehr imstande ist, dieses Aggregat zu überschauen, zu ordnen und einen einheitlichen Sinn darin zu entdecken« (10). Er hält diesen Zusammenhang von methodischer Präzisierung und inhaltlicher Desintegration/Trivialität nicht für zufällig, sondern für systematisch: Die Psychologie orientiere sich methodisch an der Physik und hoffe auf einen Erfolg, wie ihn diese Wissenschaft habe, übersehe dabei aber, dass im Unterschied zur »Dihgwelt« als dem Gegenstand der Physik der Gegenstand der Psychologie nicht »hochgradig passiv, ahistorisch und mit konsistenten Ergebnissen manipulierbar<< sei ( 13). Der »entscheidende Unterschied« bestehe darin: »Während die Subjekt-Objekt-Beziehung in der Physik den Charakter einer ontisch gegründeten, notwendigen und irreversiblen Zuordnung hat, sind in der Psychologie sowohl der Forscher wie auch sein potenzieller Forschungsgegenstand menschliche Subjekte, d.h. Individuen, die sich selbst gegeben sind und denen Welt gegeben ist und die zu sich selbst und der Welt aktiv und reflek-
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tiert Stellung nehmen können. Die Beziehung zwischen dem Forscher und der Vp. als seinem Forschungsgegenstand ist nirgendwo ontisch gegründet, sondern hat lediglich den Charakter einer durch Verabredung entstandenen passageren Rollenkonstellation, die jederzeit aufhebbar, ja reversibel ist.« (A.a.O., 14f) Was hier von Holzkamp mit wenigen Strichen skizziert wird, nimmt auf der Ebene der uns allen gegebenen Erfahrung wesentliche Bestimmungen menschlicher Subjektivität und damit verbundener methodologischer Konsequenzen für die Psychologie vorweg, die später in der Entwicklung der Kritischen Psychologie historisch-systematisch begründet, entfaltet und auf die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft hin konkretisiert werden. Aus den wiedergegebenen Voraussetzungen folgt für Holzkamp schon 1970, dass die >>Ausgangsbedingungen, die zu bestimmten vorhersagbaren Effekten führen sollen, in der Physik und in der Psychologie grundsätzlich verschieden sind. Während die Ausgangsbedingungen in der Physik direkte, durch handwerklichtechnische Realisationsakte entstandene Beschaffenheiten des Gegenstandes selber darstellen, haben die entsprechenden Ausgangsbedingungen in der Psychologie prinzipiell indirekten Charakter. Diese Bedingungen sind entweder verbale oder nichtverbale Handlungsanreize oder Handlungsanweisungen für die Versuchssubjekte oder der objektivierte Niederschlag von Einstellungen, Sichtweisen etc. dieser Subjekte. Die Reaktionen der Versuchssubjekte selbst sind mithin nicht etwa die direkte Folge der Ausgangsbedingungen, sondern sollen lediglich die jeweils spezielle Selbst- und Weltsicht der Versuchssubjekte den Absichten des Experimentators gemäß modifizieren. Die Reaktionen als solche sind unmittelbar bedingt nur durch diese Selbst- und Weitsicht, wobei derartige Sichtweisen dem Experimentator niemals direkt gegeben sein können. Daraus geht hervor, dass die in der Psychologie hergestellten Ausgangsbedingungen [ ... ]kaum geeignet sind, als einheitsstiftendes Moment für die psychologische Theorie zu dienen, weil sie gar nicht die eigentlichen Bedingungen für das Zustandekommen der Reaktionen der Vpn. sind. Diese Bedingungen liegen vielmehr in verborgenen Sichtweisen und Stellungnahmen der Vpn. selbst.« (A.a.O., 15)
3.2.2 Von Organismen und (Versuchs- )Personen 3.2.2.1 Die Norm- Versuchsperson Auch in seinem 1969 entstandenen Aufsatz »Verborgene anthropologische Voraussetzungen der allgemeinen Psychologie« (l972b) hat sich Holzkamp mit dem Subjekt-Objekt-Problem in der experimentellen Psychologie befasst, wobei er seine Formulierung der >>anthropologischen Voraussetzungen« kritisch spezifiziert: >>Bei kritisch akzentuiertem anthropologischem Fragen soll nicht zuvörderst eine eigene anthropologische Konzeption aufgebaut werden. Es geht hier vielmehr darum, Wissensbereiche und Denkansätze, in denen vordergründig kei-
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nerlei anthropologische Aussagen enthalten zu sein scheinen, daraufhin zu analysieren, wieweit sie dennoch unbefragt auf bestimmten Annahmen über die Eigenart, das Wesen, die Natur des Menschen basieren<< (36 [42]). Dieser Frage nähert er sich zunächst über das Versuchsleiter-Versuchsperson-Verhältnis, an dem er erneut hervorhebt, dass es »Ergebnis einer sozialen Rollenzuweisung oder Rollenübernahme<< ist (a.a.O., 39 [45], Herv. entf., M.M.), mit der die Umkehrbarkeit und Gleichberechtigung einer dialogischen Beziehung aufgegeben wird (a.a.O., 41 [47]). Die Rollenverabredung besteht, so Holzkamp, darin, »dass die Vp. im Experiment nur bestimmte Äußerungen tun, andere aber unterlassen soll<< (a.a.O., 42 [48], Herv. entf., M.M.). Verbunden damit ist das Einverständnis der Vp, sich »der Lebenslage auszusetzen«, die der Versuchsleiter (Vl) vorbereitet hat. Über die »Instruktion<< wird die Vp über das unterrichtet, was von ihr erwartet wird (a.a.O., 50 [56]). Die experimentelle Forschung geht, resümiert Holzkamp, »von der Idee einer Art >Norm-Versuchsperson<« (a.a.O., 52 [58]) aus: »Die Norm-Versuchsperson ist eine gedachte Person, die sich im Experiment absolut >verabredungsgemäß< verhält, die also sowohl in ihren verborgenen Aktivitäten wie in ihren sichtbaren Äußerungen das und nur das tut, was der Experimentator >in sie hineingelegt< hat. Der Zweck der experimentellen Planung und der Datenauswertung ist hier in dem Maße als erfüllt zu betrachten, als man all das, was eine jeweils reale Vp. von der gedachten, idealen Norm-Vp. unterscheidet, ausgeschaltet oder bedingungsanalytisch isoliert hat.<< (Ebd., Herv. z.T. entf., M.M.) Die Norm-Vp ist ein gedachtes Individuum, das »Umweltbedingungen ausgesetzt ist, die es nicht selbst geschaffen hat, deren Eigenart und Zustandekommen es nicht- oder nicht voll- durchschauen kann und die es als unveränderbar vorgegeben hinnimmt« (a.a.O., 52.f). Die Reaktionen dieses Individuums sind durch die Anfangsbedingungen »Vollständig determiniert«, einerlei, ob diese Reaktionen als direkt ausgelöst oder durch innere Variablen vermittelt gedacht werden (a.a.O., 53). Die damit aber natürlich nicht aus der Welt zu schaffende konkrete gesellschaftlich-historische Lage des Menschen soll »als >Fehler-Varianz< ausgeschaltet bzw. neutralisiert« werden (54). Wenn man diese Situation der Vp mit dem allerdings auch nur gedachten freien Dialog mündiger Bürger, die ihre Lebensverhältnisse aktiv gestalten, vergleicht, ergibt sich: Die »experimentelle Anordnung ist für die Norm-Vp. sozusagen >schicksalhaft< vorgegebene, undurchschaubare, fremde >Quasi-
Natur«<. Weiter ist die Norm-Vp »nicht ein Mensch in jeweils besonderer, gesellschaftlich-historischer Lage, dessen Selbst- und Weltsicht durch diese Lage bedingt ist, sondern ein ahistorisches Individuum« (ebd.). Aus diesem Befund zieht Holzkamp folgende Konsequenz:
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»Wenn man nun Lebewesen, die eine Geschichte haben, die- der Möglichkeit nach- auf reflektierte Weise Subjekte dieser Geschichte sein können, die- ebenfalls der Möglichkeit nach- sich bewusst eine ihren Bedürfnissen gemäße, nicht entfremdete Welt schaffen können und die schließlich in freiem, symmetrischen Dialog vernünftig ihre Interessen vertreten können, als >Menschen< bezeichnet, wenn man andererseits Lebewesen, die in einer fremden, naturhaften Umgebung stehen, die keine >Geschichte< haben, die auf bestimmte Stimuli lediglich mit festgelegten begrenzten Verhaltensweisen reagieren können, >Organismen< nennen will, so kann man feststellen, dass im Konzept der Norm-Vp. restriktive Bestimmungen enthalten sind, durch welche Individuen, die in der außerexperimentellen Realität sich- der Möglichkeit nach- wie >Menschen< verhalten können, im Experiment dazu gebracht werden sollen, sich wie >Organismen< zu verhalten.<< (A.a.O., 54f [61]) Es ist nach Holzkamp dieser >>quasiorganismische<< Charakter<< der Norm-Vp, an dem sich die - verborgenen - anthropologischen Voraussetzungen der Mainstream-Psychologie offen legen lassen. Wieso >>verborgen< Weil der Umstand, dass zwischen VI und Vp die beschriebene Verabredung besteht, nicht systematisch reflektiert, sondern »abgedrängt und unterschlagen« werde. Dadurch erfolge nämlich eine >>Gleichsetzung von >Mensch< und >Organismus<; das Konzept der >Norm-Vp.< gewinnt damit anthropologische Dignität<< (a.a.O., 55 [62]). Ihr falle der >>wirkliche, sinnliche, geschichtliche Mensch, der Produkt seiner gesellschaftlichen Arbeit ist«, zum Opfer (a.a.O., 58 [65]). Folge ist nicht nur eine Verkennung menschlicher Existenz, sondern auch die Reduktion der Gesellschaft auf eine bloße Umwelt: »Die >Umwelt< des Menschen ist hier nicht im Geschichtsprozess gewordene und der Möglichkeit nach vernünftig gestaltete Welt, sondern die Umwelt wird als naturhaft vorgegeben, vom Subjekt unveränderbar und vernünftiger Beeinflussung nicht zugänglich betrachtet, ist also als >Zweite Natur< im Sinne von Marx, als dem Menschen entfremdete, ihm wie die Natur >äußerliche< gesellschaftliche Wirklichkeit zu verstehen.« (Ebd., Herv. entf., M.M.) Wenig später hat Holzkamp sein Konzept »>Freier Dialog< als Leitvorstellung zur kontrastierenden Kennzeichnung der Verhaltensrestriktionen von Versuchspersonen in psychologischen Experimenten<< problematisiert, weil es als eine >>idealistische Konstruktion« verstanden werden könne (1972c, 237 [241]), wonach die Gesellschaftlichkeit menschlicher Existenz im Wesentlichen im Gespräch besteht (und Herrschaft die des besseren Arguments ist), eine idealistische Vorstellung, die in >>narrativen<< Konzepten weiter lebt. Gleichwohl bleibt m.E. der Verweis auf die menschliche Möglichkeit des >>Dialogs<<, wie sehr seine >>Freiheit<< kontrafaktisch und durch materielle Herrschaftsverhältnisse verzerrt oder unterdrückt sein mag, eine überzeugende Veranschaulichung der spezifischen >>Verhaltensrestriktionen von Versuchspersonen in psychologischen Experimenten<<.
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3.2.2.2 Das »abstrakt-isolierte Individuum« und das Verhältnis von Konkretem und Abstraktem
Die Norm-Vp zeichnet sich dadurch aus, dass sie von ihren sonstigen Alltags-, sozialen und gesellschaftlichen Bezügen praktisch isoliert wird und so gedacht werden muss, und dass theoretisch von diesen Bezügen abgesehen oder abstrahiert wird. Insofern ist die Norm-Vp Ausdruck einer gedanklichen Konstruktion oder Denkform, die Marx ( 1945, 6) als >>abstrakt-isoliertmenschliches Individuum« charakterisiert hat. Das abstrakt-isolierte Individuum ist deswegen eine Denkform, weil »konkrete, lebendige Menschen« (Holzkamp 1970b, 101 [108]) immer in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen leben, die historisch unterschiedliche Formen annehmen. So ist die >Gesellschaftsform< »Kapitalismus« eine andere als der mittelalterliche »Feudalismus«, und die Arten und Weisen, wie die Gesellschaft in Klassen und Schichten unterteilt ist, wie die Menschen arbeiten und wie sie miteinander umgehen, sind entsprechend verschieden. Wenn man von diesen gesellschaftlichen Formen absieht, muss das »zum abstrakt-isolierten menschlichen Individuum als bloßem Gedankending führen« (ebd.). Dass dies in unserer Gesellschaft besonders naheliegt, ergibt sich daraus, dass hier die Menschen vielfältig in Konkurrenz gesetzt und >auf sich selbst< gestellt sind, solidarisches Verhalten gegen diese Tendenzen durchgesetzt werden muss. (Ich werde darauf mehrfach zurückkommen.) Die Denkform des abstraktisolierten Individuums, die in der Norm-Vp ihren besonderen Ausdruck findet, ist aber generell charakteristisch für eine Psychologie, die »das Einzelindividuum unbefragt für das >Konkrete< bestimmt und demgegenüber Konzeptionen wie >Gesellschaft< als Resultat der generalisierenden Abstraktion ansieht, die an den Verhaltensweisen >konkreter< Einzelindividuen ansetzt, so das >Gesellschaft< als etwas bloß Gedachtes erscheint, das im Verhalten von Einzelindividuen seine einzige konkrete Grundlage hat<< (a.a.O., 100 [108]).
Damit werden also auch verfestigte gesellschaftliche Strukturen und Zwänge, also Macht- und Herrschaftsverhältnisse, entweder in ihrer Eigenheit völlig vernachlässigt oder nur so in Rechnung gestellt, als würden sie sich durch ein verändertes Verhalten der Einzelnen schon auflösen. Holzkamp bezieht diese Analyse auf die gesamte >>bestehende Psychologie<< (ebd.). Es ist aber- mindestens heute - in Frage zu stellen bzw. je konkret zu untersuchen, ob das in dieser Allgemeinheit zutrifft. Dabei ist etwa an den Ansatz der >>Gemeindepsychologie<< zu denken, der gesellschaftliche Bedingungen und Bezüge psychischen Leidens oder Wohlergehens untersucht (vgl. Zurek 1991; Zaumseil 1997; Hermann 2000; Keupp 2007), oder an ein Konzept wie >>Empowerment<<, mit dem thematisiert wird, wie Menschen sich >einmischen< können (Vossebrecher & Jeschke 2007).
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Schon 1962 haben Krech et al. in ihrem sozialpsychologischen Lehrbuch betont, dass das isolierte Individuum eine »Fiktion« sei (1962, 7f); hier geht es aber weniger um gesellschaftliche Strukturen und Herrschaftsverhältnisse als um interpersonelle Situationen. Soweit nun die Bedeutung gesellschaftlicher Strukturen für das Leben der Menschen berücksichtigt wird, wird deutlich, »dass das Einzelindividuum keineswegs eine schlichte, >konkrete< Vorfindlichkeit darstellt, sondern dass das Konzept des Einzelindividuums vielmehr außerordentlich abstrakt, nämlich Ergebnis der Abstraktion von der konkreten historisch-gesellschaftlichen Lage des Menschen ist« (Holzkamp 1970b, 100 [108]). Diese Denkform der »Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit« (ebd.) lässt sich an einem einfachen Beispiel veranschaulichen: der Diagnose >mangelnder Konzentrationsfähigkeit< eines Schülers. Die Fixierung des Blicks auf diesen Schüler und seine vermeintliche >Eigenschaft< verstellt den Blick darauf, dass zu dem konzentrationsschwachen Schüler womöglich ein didaktikschwacher Lehrer gehört, der seinerseits wiederum seinen Stoff stur >durchzieht<, weil er sich unter dem Druck von Lehrplänen sieht, deren Zustandekommen sich Einflüssen verdankt ... usw. usf. Die Konzentrationsstörung, die im Gewande phänomenaler, sozusagen praller, Konkretheiterscheint und sich in der Wiederholung zur >Eigenschaft< verdichtet, ist in Wirklichkeit abstrakt, und zwar deswegen, weil dabei - von den skizzierten gesellschaftlichen Vermittlungen des Phänomens abgesehen, auf Latein: davon »abstrahiert« wird. Damit werden also Konkretheit und Abstraktheit verkehrt. Was als so konkret erscheint, ist in Wirklichkeit abstrakt. 3.2.3 Der Ansatz der »Sozialpsychologie des Experiments«
Unabhängig von Holzkamps Analysen des Experiments und ihm seinerzeit noch nicht bekannt, war in den USA die Forschungsrichtung der »Sozialpsychologie des Experiments« entstanden (Orne 1962; vgl. auch Bungard 1980, 1984; Maschewsky 1977, 164ff; Markard 1984, 142ff; Mertens 1975). In seiner für diese Forschungsrichtung grundlegenden Arbeit stellte Martin T. Orne (a.a.O., 187), ähnlich wie Holzkamp, fest, dass die Vp kein passive respander sei, sondern dass im Vordergrund stehen müsse, was die Vp tue und denke. Für Orne ist dabei die - für den Symbolischen Interaktionismus (vgl. Markard 1984, 114ff, 172ff) grundlegende- anthropologische Annahme zentral, dass Menschen immer und überall nach Bedeutungen handeln, diese aushandeln und stiften, was eben für die experimentelle Situation bedeute, dass die Vpn auch dort nach dem Sinn handelten, den sie dieser Situation verliehen (Orne 1962, 192); sie machten sich sozusagen ihren Reim auf diese Situation. Die experimentelle Situation enthalte für die Vpn »demand characteristics« (»Aufforderungscharakter« im Sinne Lewins), Hinweisreize, die sie für ihre Sinngebung verwendeten.
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Diese Hinweisreize und die damit verbundenen Hypothesenbildungen, Sinnstiftungen und Bedeutungsverleihungen durch die Vp beziehen sich auf die Person des Versuchsleiters/der Versuchsleiterin (VI), Voruntersuchungen, die Instruktion, die Einrichtung des Raums, die Gerätschaften, die experimentelle Prozedur selber, also auf all das, worauf sich die Vpn einen Reim machen (müssen). So wurden etwa bezüglich des Vl die von diesem direkt ausgehenden Einflüsse diskutiert, aber auch Einflüsse, die durch die Erwartungen des VI erzeugt werden. Beispiele für direkte Einflüsse sind bio-soziale (Geschlecht, Aussehen, Erscheinung) oder psycho-soziale (wie >Intelligenz<, >Wärme<, autoritäres/nicht autoritäres Auftreten). Der Einfluss der VI-Erwartungen betrifft das, was wir self-fulfilling prophecy nennen, über Variation der Instruktion, verbale (»hm«) und nonverbale Reaktionen (wie Lächeln oder Intensivierung von Blickkontakten) auf das Verhalten der Vpn, wenn diese sich erwartungsgemäß verhalten. Erwartungen sind auch auf der Seite der Vpn in Rechnung zu stellen, die sich etwa aus Campusgerüchten speisen können und die Sinnstiftungen beeinflussen können; eine Frage ist auch, inwieweit die Teilnahme freiwillig ist, was natürlich mit der Teilnahme- und Durchführungsmotivation interagieren kann. Unter beiden Aspekten ist zu bedenken, dass ein großer Teil der Vpn aus Studierenden besteht. Wottawa (1988) teilt dazu Folgendes (119f) mit: »Hat sich der Psychologe nach sorgfältigem Überlegen der Fragestellung und nach Prüfung der Frage, ob die erforderlichen experimentellen Bedingungen den Versuchspersonen zugemutet werden können [etwa Elektroschocks, Konformitätsdruck, M.M.], zu einem Laborexperiment entschlossen, steht er meist vor einer Reihe praktischer Schwierigkeiten. Das ihm zunächst auffallende Problem ist die Beschaffung von Versuchspersonen. [... ] Das Beschaffen von Versuchspersonen ist manches Mal außerordentlich schwierig. Man erwartet ja von einer Versuchsperson, dass sie sich in eine meist nicht sehr angenehme, zumindest anstrengende Situation begibt und für einen gewissen Zeitraum den Anweisungen des Versuchsleiters folgt. Für einen >normalen< Menschen besteht an sich keinerlei Grund, unter solchen Voraussetzungen ohne entsprechende Gratifikation an einem psychologischen Experiment teilzunehmen. Entsprechende Bezahlung kann jedoch in der Regel aufgrund des Mangels an Geld nicht erfolgen. Aus diesem Grund werden als Versuchspersonen vorwiegend Schüler und Studenten, insbesondere Psychologiestudenten verwendet. Viele Studienordnungen an psychologischen Instituten sehen die Teilnahme der Studenten an Experimenten verpflichtend vor, was dazu geführt hat, dass ein großer Teil der auf Universitätsboden durchgeführten psychologischen Experimente mit Psychologiestudenten gemacht wurde. [... ] Im amerikanischen Raum wird in der Psychologie gerne mit Versuchstieren gearbeitet, in der deutschsprachigen Psychologie bestehen leider nur
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an wenigen Universitäten die dafür erforderlichen Forschungseinrichtungen. Versuchstiere haben gegenüber Versuchspersonen natürlich erhebliche Vorteile. Sie sind bei entsprechender Züchtung leicht verfügbar, können in nahezu beliebiger Zahl mit relativ geringen Kosten beschafft werden. Diese Vorteile habe zu einer sehr intensiven Verwendung billiger Versuchstiere, insbesondere der Ratte, geführt. Man kann etwas überspitzt sagen, dass über die Psychologie der Ratte in der psychologischen Forschung wesentlich mehr bekannt ist als über die Psychologie des Menschen, mit Ausnahme der Psychologiestudenten.<<
Man könnte - durchaus nicht überspitzt - auch sagen, dass es zu den Obszönitäten des Psychologiestudiums gehört, dass die dieses Fach Studierenden gezwungen werden, an Experimenten teilzunehmen (»Vp-Schein<<), was mit dem Recht auf (informationelle) Selbstbestimmung kaum in Übereinklang zu bringen sein dürfte. Neben Erwartungen bezüglich des Experiments und der Frage der Freiwilligkeit sind für die Diskussion der Aktivitäten der Vpn vor allem so genannte Vp-Rollen bzw. -motive wichtig geworden, also (Motive für) Verhaltens- und Einstellungsmuster, an denen sich Vpn idealtypisch orientieren: 1. das good subject (sucht nach Hinweisen, um mit dem VI zu kooperieren und zur Realisierung der vermuteten Hypothese beizutragen); das glatte Gegenteil davon ist 2. die negativistische Vp, die nach Hinweisen auf die Ziele des VI sucht, um sie zu unterlaufen bzw. sich gegenteilig zu verhalten; 3. die bewertungsängstliche Vp, die vor allem anderen gut abschneiden will; 4. das faithful subject, die, wenn man so will, bewusste Vp, die dezidiert Hinweise ignoriert, also bewusst ein Rollenverständnis zu realisieren versucht, als wäre sie, im Sinne Holzkamps, einem bewusstlosen Gegenstand der Physik gleichzusetzen. Diese Versuchspersonenrollen sind- bis eben auf das faithful subject- in kritischer Absicht formulierte Abweichungen von der Idee der >Norm-Versuchsperson<, von der die experimentelle Forschung ausgehen muss (s.o.). Diese gedankliche Konstruktion erfülltja-kontrafaktisch-jene Merkmale, die Holzkamp dem Objekt in der physikalischen Forschung zuschrieb (s.o., 1970a, 14f [20f]). Nun zeigt natürlich alleine der Umstand, dass in Experimenten den Vpn sog. coverstories erzählt werden, in denen diese über die wahre mit dem Experiment verfolgte Absicht getäuscht werden sollen, dass natürlich auch Experimentatorinnen und Experimentatoren nicht der Vorstellung erliegen, die Vpn seien wirklich »passive responders« oder tatsächlich den Gegenständen der Physik gleichartig. Die Frage ist vielmehr, ob man meint, zu Forschungszwecken so tun zu können, als ob das so wäre, und was dieser Umgang mit den Vpn für die Forschungsresultate bedeutet. Insofern ist auch der Ansatz der Sozialpsychologie des Experiments einmal in die Richtung zu interpretieren, grundsätzlich das psychologische Experi-
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ment in Frage zu stellen 3 oder es dahin gehend zu entwickeln, dass mit spezifischen Kontrollen die dargelegten Probleme minimiert oder gelöst werden können. Dazu gehören etwa Untersuchungen, in denen in der Instruktion bestimme Vp-Motive >salient< gemacht, also speziell hervorgerufen werden (Meta-Experimente), um deren Einfluss besser erfassen und dann eben durch entsprechende Vorkehrungen kontrollieren zu können, oder Untersuchungen mit experimentellen Nachfragen dazu, welche Hypothesen die Vpn entwickelten. Soweit diese Richtung eingeschlagen wurde, ereilten die Sozialpsychologie des Experiments dieselben Probleme, von denen sie ihren Ausgang nahm: Da ja davon auszugehen ist, dass auch bei MetaExperimenten und experimentellen Nachfragen die Vpn wieder spezifische Hypothesen entwickeln, befindet man sich in einer Endlosschleife, einem »infiniten Regress«, in dem die Vpn als Igel die VI als Hasen nach Belieben vorführen können (Markard 1984, 152ff). (Weitere Probleme, die sich bei den Forschungen zur Sozialpsychologie des Experiments ergeben haben, listet Bungard [ 1984, 30f]f auf; ich will dem hier nicht weiter nachgehen.) Die Sozialpsychologie des Experiments ist aber nicht nur mit dem gezeigten- spezifischen- Problem des infiniten Regresses belastet. Die Sozialpsychologie des Experiments ist methodisch eine experimentelle Psychologie des psychologischen Experiments. Sie hat also selber mit all den Problemen des Experiments zu tun, die daraus resultieren, dass Subjekte so behandelten werden, als wären sie Objekte. 3.2.4 Struktur des psychologischen Experiments
Wie am Frustrations-Aggressions-Beispiel gezeigt, muss bei einem Experiment der theoretische Satz in einen experimentellen Satz gebracht, also in Variablen operationalisiert werden. Dabei muss gewährleistet werden, dass die vom VI eingeführten Ausgangsbedingungen (unabhängige Variablen) zur »Determination der Effekte als abhängigen Variablen führen« (1970a, 20 [26]). Dies ist, wie Holzkamp herausgearbeitet hat, mit »strukturellen Zügen« des Experiments verbunden: 1. Zerlegung/Isolierung/Parzellierung, 2. Reduzierung, 3. Labilisierung. Im Einzelnen: 1. Zerlegung/Isolierung/Parzellierung: Die interessierende Thematik (»Lernen«,» Vorurteil<<) muss als Variable operationalisiert werden (beim Lernen etwa Paarassoziationen, beim Vorurteil etwa affektive Einstellungsfragebogendaten und verhaltensbezogene Daten). Die unabhängigen Variablen
3 Diese Debatte betrifft nicht Experimente, in denen- im Kontext der Psychologie- i.e.S. naturwissenschaftliche (physiologische) Sachverhalte thematisiert, werden (etwa der Einfluss der Läsion dopaminerger Neurone im Striatum auf das sequentielle Lernen bei Ratten, vgl. Eckart 2009), bzw. bei denen subjektiv sinnvermittelte Zusammenhänge keine Rolle spielen. Wo derartige Zusammenhänge ausgeschlossen werden können, dürfte es sich um »Grenzfälle psychologischer Theorienbildung« handeln (Holzkamp 1986a, 44; vgl. hier auch Kap. 13.2.2).
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müssen >>zerlegt und isoliert« (ebd., Herv. M.M.) werden, damit allein der den Forscher interessierende Aspekt den experimentellen Effekt bedingen kann. Isoliert werden muss die Thematik bzw. die Variable vom Lebenszusammenhang, in dem sie sonst vorkommt, und zerlegt werden muss die unabhängige Variable, damit die Beziehung zur abhängigen eindeutig bestimmbar ist. Wenn nun die Hypothese nicht >bestätigt< wird, geben Experimentator/inn/en nicht ohne weiteres auf, sondern überlegen, wie die Hypothese durch Berücksichtigung weiterer Variablen doch gerettet werden kann. So könnte man die - naive - Hypothese formulieren, dass eine >rassistische< Einstellung auch >rassistisches< Verhalten zur Folge hat (so genannte Einstellungs-Verhaltens- Konsistenz; vgl. Markard 1984, lOOff; zur aktuellen Modell-Diskussion dieses Dauerbrenners der Sozialpsychologie: etwa Frey et al. 2001 und die einschlägigen Lehrbücher). Also: (Deutsche) Menschen, die - ausweislich ihrer Fragebogenitems - ein >rassistisches< Verhältnis zu Türken haben (Türken sind »faul«, »dreckig«), verhalten sich auch negativ gegenüber Türken (bzw. machen einschlägige Aussagen über Verhaltensabsichten). Hier taucht natürlich die Frage auf, was das heißen soll: Dem eigenen Kind verbieten, mit Türken zu spielen, in der U-Bahn lieber stehen als sich neben mutmaßliche Türken setzen, türkische Musik scheußlich finden, Türken verprügeln, nicht neben Türken wohnen wollen, einen Türken nicht als Schwiegersohn haben wollen? Einige weitere hier auftauchende Fragen sind, ob >Persönlichkeitsfaktoren< (eine gewisse Höflichkeit) das Verhalten beeinflussen, ob es Zeugen bei der Verhaltens-Umsetzung gibt etc. Ich will dies nicht im Einzelnen diskutieren, sondern nur verdeutlichen, was die Herbeiziehung weiterer Variablen bedeuten kann. So wäre etwa zu formulieren: Eine Einstellungsänderung führt dann zu einer Verhaltensänderung, wenn die Vp bestimmte Persönlichkeitseigenschaften hat, bestimmte andere aber nicht, wenn sie Möglichkeiten dazu hat, das Verhalten ausdrücken zu können, Wege weiß, das zu tun, an der Sache interessiert oder von ihr betroffen ist, in der betreffenden Frage urteilssicher ist, ihre Auffassung auch öffentlich vor Zeugen geäußert hat, bestimmte andere Personen aber nicht anwesend sind. Das heißt: Die ursprünglich einfach gedachte Beziehung muss in einen Wust von Variablen »zerlegt« werden, oder, wie Holzkamp resümierend formuliert: »Man könnte hier also von einer methodengeforderten, immer weiter zu treibenden ParzelEerung der Ausgangsbedingungen sprechen.« (1970a, 20 [26]) Was hier passiert, ist, dass der alltägliche Lebenszusammenhang auf zunächst eine» Variable« reduziert wird. Wenn sich an den Befunden aber zeigt, dass dies aber nicht funktioniert, werden zusätzliche Variablen eingeführt, die aber auch in ihrer Kombination den komplexen Lebenszusammenhang nicht ersetzen können (vgl. meine Analyse des Einstellungsbegriffs und der Einstellungsforschung, 1984). Es handelt sich um den untauglichen Versuch, den methodisch »>wegabstrahierte[n]< komplexen Lebenszusammenhang
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quasi nachträglich wieder als Komplizierung in die Hypothesenbildung bzw. -prüfung (einzuführen)«. Im Korsett variablenpsychologischen Experimentierens erfolge dies aber »in einer Weise, durch welche die historische Einmaligkeit der jeweiligen Lebenssituation prinzipiell nicht erreichbar ist« (1986, 13). So untersuchten Jahoda et al. (1933) in ihrer klassischen Studie »Die Arbeitslosen von Marienthal«, wie die plötzlich arbeitslosgewordenen Bewohnerinnen und Bewohner dieses Ortes mit diesem Problem umgingen, wie sie ihre Erfahrungen verarbeiteten. Sie beobachteten veränderte Gehgeschwindigkeiten, analysierten Weihnachtswunschzettel der Kinder, stellten fest, wie die Bibliothek genutzt wurde, hielten sich bei sozialen Zusammenkünften auf; sie versuchten >Haltungstypen< (Ungebrochene, Resignierte, Verzweifelte, Apathische) herauszuarbeiten etc. Am Beispiel der Entwicklung der Arbeitslosigkeitsforschung zeigte Holzkamp (a.a.O.) nun auf, wie sich diese Forschung mit der Durchsetzung der variablenpsychologischen Methodologie von der sozialwissenschaftlich orientierten Analyse konkreter historisch-geographischer Einheiten in Richtung auf eine individuumszentrierte und variablenpsychologisch formierte Wirkungsforschung bewegte, in deren Verlauf u.a. historisch-konkrete Arbeitslosigkeit und deren Erfahrung und Beschreibung zu einer Variante der Variable »Stress« abstrahiert wurde, die dann wiederum auf zuvor ausgeblendete Lebenszusammenhänge angewendet werden soll. 2. Die Reduzierung ist ein weiterer Aspekt des schon Geschilderten: Der Experimentator muss, da es ihm um eine Realisierung des reinen Wirkens von Bedingungen geht, versuchen Störfaktoren »weitgehend auszuschalten oder zum mindesten zu neutralisieren. Das bedeutet, dass in der experimentellen Realität das komplexe Bedingungsgefüge, das normalerweise die Selbst- und Weltsicht der Versuchsperson und damit ihre Reaktionen beeinflusst, so weit wie möglich zu reduzieren ist.« (Holzkamp 1970a, 20 [26])
3. Labilisierung: Voraussetzung der Argumentation Holzkamps ist, dass im psychologischen Experiment die Bedingungen die Effekte nicht direkt bewirken, also die unabhängigen Variablen nicht direkt auf die abhängigen wirken, sondern vermittelt über die Welt- und Selbstsicht der Vpn. Dazu kommt, wie gesagt, dass das Verhältnis zwischen VI und Vp ein spezielles ist: Vorübergehend begibt sich die Vp in diese Situation, verabredungsgemäß nur instruktionsgemäß zu handeln, was aber nie ganz sicher ist - und außerdem kann die Vp nicht total von ihrer Welt- und Selbstsicht absehen. Daraus folgt: »Wenn man sich vergegenwärtigt, dass- gemäß dem [... ) Subjektcharakter des Gegenstands der psychologischen Forschung der angestrebte experimentelle Effekt häufig selbst dann nicht erreichbar sein wird, wenn man die genannte Parzeliierung und Reduktion so weit wie möglich vorangetrieben hat, weil trotzdem immer noch durch die objektiven Bedingungen nicht kontrollier-
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bare, in der Welt- und Selbstsicht des Forschungssubjekts liegende Faktoren die Befunde beeinflussen, so wird verständlich, dass der psychologisch Forschende häufig noch einen anderen methodischen Kunstgriff anwendet. Gemeint ist die Labilisienmg der Reizsituation, in die die Vp. gestellt ist. Das soll heißen, dass der Vp. oft möglichst weitgehend alle Informationen, die ihr Wahrnehmungsfeld stabilisieren können, vorenthalten werden. Sofern dies gelingt, reagiert die Vp. ohne Einführung der experimentellen Variablen rein zufällig. Wenn nun die experimentelle Variable als einzige stabilisierende Funktion hinzukommt, so muss die Vp. nach dieser Information sozusagen wie nach einem Strohhalm greifen, damit sie aus dem durch die Labilisierung bedingten Zustand der Verunsicherung herausfindet« (20f. [26f], Herv. M.M.). Dies führe dann- zumindest solange sich die Vp an die Vereinbarung hält und nicht, wie in der Sozialpsychologie des Experiments thematisiert, (partielle) Einsichten in das Ziel des Experiments zu destruktiven oder Selbstdarstellungszwecken benutzt - zur faktischen Durchsetzung experimenteller Effekte. Als Beispiel mögen hier Sherifs {1935) Untersuchungen zum autokinetischen Phänomen dienen: Für eine Vp, die in einem völlig dunklen Raum mit einem einige Meter entfernten Lichtpunkt konfrontiert ist, scheint sich dieser Lichtpunkt zu bewegen (>>autokinetischer Effekt«); Grundlage dafür sind unwillkürliche Augenbewegungen. Die Vpn sollten nun- im Versuch alleine-das Ausmaß der von ihnen wahrgenommenen Bewegungen schätzen, wobei sie in mehreren Durchgängen persönliche >Normen< entwickelten, die sich interpersonal unterschieden. Wenn nun Personen mit unterschiedlichen personalen Normen zu einer Gruppe zusammengefasst wurden und erneut im abgedunkelten Raum ihre Schätzungen abgeben mussten, konvergierten diese Normen: In einer Situation ohne objektive Maßstäbe dienen die Urteile anderer als Informationen. Anders: In dieser labilisierten Lage haben die anderen Vpn (bzw. deren Urteile) die Funktion des »Strohhalms<<, nach dem die Vpn jeweils greifen.
3.2.5 Welche Relevanz besitzt das Experiment? An der methodischen Struktur der experimentellen Situation hebt Holzkamp nun weiter hervor, dass diese sich in gewisser Weise auch in bestimmten außerexperimentellen Lebensbereichen wiederfinde, da nämlich, wo »die Herstellung von künstlichen, kontrollierten Situationen auch den alltäglichen technischen Interessen entgegenkommt« (a.a.O., 21): Arbeitsplatzgestaltung im Betrieb, Situation des Autofahrers oder Flugzeugführers, programmiertes Lernen etc. Sofern diese Übereinstimmung gegeben ist, spricht Holzkamp von >>technischer Relevanz« der experimentellen psychologischen Forschung. Mit diesem Begriff bezog sich Holzkamp auf Habermas' Begriff des technischen Erkenntnisinteresses ( 1965 ), mit dem dieser zum Ausdruck bringen wollte, dass der Versuch, über die Herstellung und Manipulation von Allsgangsbedingungen Effekte zu determinieren, Ausdruck eines allgemeineren
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Strebens nach Kontrolle ökonomischer, sozialer und gesellschaftlicher Prozesse und mit einem »Erkenntnisinteresse an der technischen Verfügung über vergegenständlichte Prozesse« verbunden sei (Habermas, a.a.O., 1146, zit. nach Holzkamp 1970a, 18 [24]). Holzkamp schränkt aber ein, dass das Ausmaß an Isolierung, Zerlegung, Parzellierung, Reduzierung und Labilisierung in der experimentellen Situation so weit vorangetrieben werde, dass für praktische Zwecke selbst da, wo die erwähnten strukturelle Äquivalenzen der experimentellen und der außerexperimentellen Situation bestehen, technische Relevanz nicht per se gegeben sei, die experimentellen Resultate nicht (unmittelbar) >anwendbar< seien. Es ist danach jeweils zu klären, inwieweit das experimentelle Setting tatsächlich die Faktoren der außerexperimentellen fremdbestimmten Situation hinreichend repräsentiert. Eine typische fremdbestimmte Situation, die jede(r) in seinem/ ihrem Leben erlebt haben dürfte, ist die Schulklasse. Hier liegen von der gesamten Anordnung her auf den ersten Blick gewisse Ähnlichkeiten mit der experimentellen Situation vor: der Lehrer entspricht dem Vl, er setzt weitgehend die Bedingungen, er ist es, der die Instruktionen gibt, etc. Die Schüler/innen entsprechen den Vpn, sie müssen kontrolliert werden, damit sie sich instruktionsgemäß verhalten, etc. Allerdings sind wohl die Kontrollen im Experiment rigider als in einer Schulklasse, auf der anderen Seite aber kann die Vp jederzeit die >Brocken hinschmeißen< und ihre Rolle kündigen, während das Schüler/innen- zumindest im schulpflichtigen Alter- nicht (ohne weiteres) können. (Manchmal können das allerdings auch Vpn kaum, dann nämlich, wenn sie für ihr Vordiplom Versuchspersonenscheine brauchen, s.o.) Der Gegenbegriff zur »technischen Relevanz« ist der der »emanzipatorischen Relevanz«, den Holzkamp von Habermas übernimmt: »Emanzipatorisch relevant wäre psychologische Forschung, sofern sie zur Selbstaufklärung des Menschen über seine gesellschaftlichen und sozialen Abhängigkeiten beiträgt und so die Voraussetzungen dafür schaffen hilft, dass der Mensch durch Lösung von diesen Abhängigkeiten seine Lage verbessern kann.<< (Holzkamp 1970a, 32) Dadurch aber werde technische Relevanz nicht überflüssig oder aufgehoben, sondern nur in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt, eben auf Bereiche, wie sie schon genannt wurden. Denn auch in einer >>aufgeklärten Gesellschaft der Zukunft<< seien >>die Wahrnehmungsbedingungen eines Flugzeugführers<< oder die>> Lernbedingungen in der Schule<< auf Fehlerlosigkeit bzw. Effektivität hin zu optimieren. Emanzipatorisches und technisches Interesse kollidierten allerdings dann, wenn das technische Interesse auch ein >>manipulatorisches<< sei. Diese Konstellation sei dann gegeben, wenn die bei technischem Interesse angestrebte »Kontrolle nicht von jenen, die kontrolliert werden, selbst auf rationalem Wege als innerhalb einer konkreten Lage in ihrem Interesse liegend anerkannt wird,
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[... ] sondern wenn die Kontrolle lediglich den partikularen Interessen einer in irgendeinem Sinne mächtigen Gruppe oder Klasse von Kontrollierenden dient, wobei den Kontrollierten das Bewusstsein, dass sie gegen ihre Interessen oder unabhängig von ihren Interessen kontrolliert werden, vorenthalten ist<< (ebd.). Auch wenn im Einzelfall nicht einfach zu entscheiden sei, ob und inwieweit diese Konstellation vorliege, sei man nicht der »Nötigung enthoben<< (ebd.), sich darüber Gedanken zu machen und eine Entscheidung zu treffen. Holzkamp fragt nun weiter, wie denn eine emanzipatorische Forschung aussehen könnte. Dabei könne man deswegen nicht mehr mit Strukturähnlichkeiten zwischen experimenteller und außerexperimenteller Situation argumentieren, weil »emanzipatorische Aktivitäten ja gerade darauf gerichtet [seien], sozial-gesellschaftliche Strukturen zu verändern«, von denen die Menschen abhängen. Dabei unterscheidet er zwischen primären und sekundären Abhängigkeiten. Primär sind »objektiv« bestehende Abhängigkeiten von »faktischen historisch-ökonomischen Bedingungen«. Als »sekundäre Abhängigkeiten« fasst er solche, die »der Mensch« durch kognitive Vereinfachungen, Spannungsreduktionen etc. selber geschaffen hat, und deren Herkunft durch diese Eigenaktivität er dann aber ausblendet. Derartige sekundäre Abhängigkeiten würden zwar etwa in der Angst-, Persönlichkeits- und Wahrnehmungsforschung thematisiert, ohne dass dabei aber >>der gesellschaftliche Charakter und die gesellschaftliche Funktion dieser Abhängigkeiten mitreflektiert« würden (a.a.O., 33). Genau dies sieht er aber als Aufgabe »kritisch orientierter Psychologie«: diese Abhängigkeiten nicht zu »verstärken«, sondern »bewusst zu machen und aufzulösen, damit der Weg für Verbesserungen der objektiven Lage der Menschen frei wird« (a.a.O., 34). Programmatisch formuliert: »Wir sehen in Umrissen eine kritische Psychologie als [... ] Lehre von den sekundären Abhängigkeiten des Menschen.« (A.a.O., 33). Es fallt bei Holzkamps Argumentation auf, dass er zwischen »den Menschen<< und »dem Menschen<< wechselt. Ich werde auf den Unterschied dieser Redeweisen in Kap. 4.1 zurückkommen: Die Redeweise von »dem Menschen<<, deren sich der frühe Holzkamp teilweise noch bediente, sieht davon ab, dass die Menschen in sehr unterschiedlichen (Klassen- und Geschlechter-) Verhältnissen leben und nicht in gleichem Maße für diese Verhältnisse verantwortlich sind. Seine Gedanken abschließend kommt Holzkamp noch einmal auf das Subjekt-Objekt bzw. Subjekt-Subjekt-Verhältnis zurück, das einen wesentlichen Unterschied zwischen Physik und Psychologie ausmacht. Menschliche Aktivität kann eben die gesellschaftlich Realität so verändern, dass »Gesetzesaussagen der Psychologie, um mit Habermas zu sprechen [ ... ], zwar nicht außer Geltung, aber außer Anwendung gesetzt werden können« (ebd.). Wie haben wir uns das vorzustellen?
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3.2.6 Wie sind »psychologische Gesetzesaussagen« zu fassen? 3.2.6.1 »Gesetze« oder »spontane Tendenzen« Zur Veranschaulichung können wir auf die Forschung zum hilfreichen oder prosozialen Verhalten (in Notfällen) zurückgreifen. Die einschlägigen experimentellen - Untersuchungen haben ergeben, dass die Wahrscheinlichkeit, dass eine Vp (wie- s.o.- üblich: Studierende) einschreitet, wenn sie etwa >mitbekommt<, dass nebenan eine Frau auf einen Stuhl gestiegen und heruntergefallen ist und nun vor Schmerzen stöhnt, stark davon beeinflusst ist, ob andere Personen anwesend sind (vgl. Bierhoff 2001, 344f). Als dafür wesentliche Aspekte werden angeführt: 1. »Verantwortungsdiffusion«: Die Anwesenheit anderer entlastet von der sonst eher empfundenen Verantwortung; 2. »Pluralistische Ignoranz«: Der Umstand, dass andere (auch) nichts tun, wird so interpretiert, dass es wohl nicht so schlimm ist; 3. »Bewertungsangst«: Ein Eingreifen macht den/die Eingreifende zum Beobachtungs- und damit zum Bewertungsobjekt, was mit sozialer Angst verbunden ist (soweit sich die/der Eingreifende nicht besonders kompetent fühlt). Es ist für unsere Überlegungen uninteressant, ob es sich bei diesen Befunden um »Gesetze« oder >spontane Tendenzen< handelt. Der entscheidende Punkt ist der, dass derartige Befunde dazu beitragen können, dass diejenigen, die sie kennen, dieses Wissen nutzen können, wenn sie in eine vergleichbare Situation geraten. Ein anderes Beispiel: Im so genannten Elaine-Experiment von Bateson (vgl. Bierhoff, a.a.O., 330f) beobachtete die Vp (wieder eine Studierende), wie »Elaine«, eine Vertraute des Vl, Elektroschocks erhielt, unter denen sie zunehmend zu leiden schien. Die Frage war nun, ob die Vp für Elaine einzuspringen bereit war, wobei zwei Variablen manipuliert wurden: 1. ob die Vp mit Elaine eine hohe Einstellungsähnlichkeit aufwies; 2. ob sie den Versuch bis zu Ende mit ansehen musste oder ausweichen konnte. Das Ergebnis war, dass wahrgenommene Unähnlichkeit bei gleichzeitiger Ausweichmöglichkeit zu deutlich geringstem »Einspringen« führt: Auch hier ist wieder eine Tendenz formuliert sind, deren spontane Durchsetzung reflexiv außer Kraft gesetzt werden kann. Man könnte allerdings auch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass »prosoziales Verhalten« der Vp eigentlich bedeuten würde, Elaine bei der Aufgabe zu unterstützen und das Experiment gemeinsam zu verlassen, den VI zur Rede zu stellen (und ggf. seine Machenschaften öffentlich zu machen). Interessanterweise ist es eben dieses Verhalten, die Teilnahme an einem Experiment aufzukündigen, das in den berühmten Milgram-Experimenten (1974) als Ungehorsam operationalisiert war. Hier ging es ja in vielen situativen und interpersonellen Varianten darum, dass in einem scheinbaren Lernexperiment die Vp (der »Lehrer«; mit Absicht andere Personen als Studierende; a.a.O., 3lf) dem Vertrauten des VI (dem »Schüler«) bei
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Fehlern oder Nichtantworten in 30 15-Volt-Stufen Elektroschocks bis zu 450 Volt geben sollte. Sofern die Vp anfing sich zu weigern, drang der VI in standardisierten Aufforderungen darauf, dass die Vp fortfahre. Erst wenn sich die Vp nach viermaliger Aufforderung weiter weigerte, die Vergabe von Elektroschocks (und damit das Experiment) fortzusetzen, galt es als beendet (sonst nach dem Erreichen der 450 Volt). Dieses Experiment b:zW. dieser experimentelle Typ mit seinen Abwandlungen (langfristige psychische statt kurzfristiger physischer Beeinträchtigungen, vgl. Meeus & Raaijmakers 1989) repräsentieren die einzige mir bekannte Anordnung, in der ein Ausstieg aus dem Experiment kein ärgerliches »drop-out« bedeutet, sondern eine systematisch vorgesehene Variante der abhängigen Variable ist. An den Beispielen sollte deutlich werden, was Holzkamp damit meinte, dass theoretische Aussagen »zwar nicht außer Geltung, aber außer Anwendung gesetzt werden können«: Es »gilt« zwar, dass es die beschriebenen spontanen Tendenzen gibt, ich kann sie aber »außer Anwendung setzen«, wenn ich mich selber zu meinen spontanen Tendenzen ins Verhältnis setzen und gegenteilig handeln kann. Schwerkraft können wir eindeutig nicht »außer Anwendung setzen«. Wo in der Psychologie die (individuellen) Grenzen der Möglichkeiten des »außer Anwendung Setzens« liegen (etwa bei Phobien), ist eine jeweils zu klärende Frage. Ich will es bei den Beispielen belassen. Weitere Beispiele aus der experimentalpsychologischen Forschung, die so interpretiert werden können, dass in ihrer Folge theoretische Aussagen im genannten Sinne »zwar nicht außer Geltung, aber außer Anwendung gesetzt werden können« (Holzkamp, s.o.), mögen sich die Leserinnen und Leser selber vor Augen führen oder heraussuchen.
3.2.6.2 Kann es in der Kritischen Psychologie psychologische Experimente geben? Wenn nun eine wichtige Aufgabe darin besteht, (problematische) spontane Tendenzen bewusst zu machen, wären dann nicht derartige Experimente auch ein wichtiges Mittel der Kritischen Psychologie? Die genannten Beispiele enthalten aber ein m.E. nicht lösbares Problem: Dass die Tendenzen »außer Anwendung« gesetzt werden können (oder je nach Standpunkt auch außer Anwendung gesetzt werden sollen), dass zu diesem Zwecke bspw. Fortbildungen organisiert werden, setzt sinnvollerweise voraus, dass die Geltung der betreffenden Tendenzen erst einmal erwiesen (und realisiert worden) ist. Dies ist aber kaum möglich, indem man den Vpn den Zweck der Experimente erklärt: Denn dann würde, was ggf.sozusagen >blinde<- Geltung hätte, schon vorab durch Kenntnis außer Kraft gesetzt. Das bedeutet, dass man die Vpn nicht in die Versuchsplanung mit einbeziehen kann, sie - vorübergehend - wie »Objekte« behandeln muss.
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Tatsächlich? Man bringt sie eher in eine Lage, inder-vermutete- spontane, unbewusste Tendenzen sich durchsetzen können. Dass man Vpn in diese Lage bringt, mag alltagssprachlich so. gefasst werden, dass man sie zum Objekt macht. Dennoch ist in der Redeweise von spontanen, unbewussten Tendenzen enthalten, dass die betreffenden Menschen nicht nach dem Modus eines Objektes einer deterministischen Einwirkung gefasst werden: Bei Lackmus-Papier redet man ja nicht von dessen spontaner oder unbewusster oder unreflektierter Tendenz, sich blau oder rot zu färben, sondern die Färbung ist naturwissenschaftlich aufklärbarer Effekt einer bestimmten Bedingung, in die das Lackmus-Papier nicht dialogisch einbezogen werden kann. Wenn man also Vpn in die beschriebene Lage bringt, dann unter bewusstem vorübergehenden Absehen von der Möglichkeit dialogischer Verständigung- mit dem Ziel, diese Verständigung dann aber herbeizuführen unter Nutzung der Erfahrungen, die die Vpn in eben dieser Lage gemacht haben. Die Reflexion dieser Erfahrungen gelingt in dem Maße, wie sie mit den Bedingungen, unter denen sie gemacht wurden, vermittelt werden können, wie das etwa bei den Milgram-Experimenten der Fall war. Dann ist die Reflexion die tendenzielle Außerkraftsetzung der spontanen und unbewussten Tendenzen, zu denen sich die Vpn rückblickend und fürderhin (besser) verhalten können. Damit wird aber die von Holzkamp problematisierte organismische Anthropologie gerade nicht reproduziert (vgl. auch die spätere Diskussion von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen). Welche Bedeutung die praktische (und nicht nur die vorgestellte) Realisierung einer Bedingung hat, die spontane Tendenzen nahelegt, zeigen eindrucksvoll Milgrams Befragungen von »Psychologen«, »Studenten« und »Erwachsenen der Mittelschicht«, wie weit sie im skizzierten Experiment gehen würden, d.h., nach wie vielen der maximal möglichen 30 Stufen sie abbrechen würden: Die Durchschnittswerte der Befragtengruppen: »Psychologen« meinten nach 8,2, »Studenten« nach 9,35 und »Erwachsene der Mittelschicht« nach 9,15 Stufen abzubrechen. Niemand der Befragten meinte, bis zu 450 Volt zu gehen, was eine angenommene lOOo/oige Gehorsamverweigerung (1974, 45) bedeutet. Um eine gewisse Selbstwertdienlichkeit der Aussagen zu kontrollieren, sollten weitere Befragte schätzen, wie weit andere Personen gehen würden: Auch hier wurde von den Befragten erwartet, dass (bis auf Menschen einer »pathologischen Randgruppe« von 1 bis 2 o/o aller Vpn) niemand bis 450 Volt gehorsam sein würde (a.a.O., 47). Im Experiment waren aber tatsächlich etwa 65% der Vpn »gehorsam« (a.a.O., 51). Diese Unterschätzung der Gehorsamsbereitschaft ist möglicherweise einer weiteren >spontanen Tendenz< geschuldet, dem selber wieder theoretisch unterschiedlich erklärten (Fahl-Spiewack 1995, 163ff) »fundamentalen Attributionsfehler«, der Tendenz von Beobachtern nämlich, situative Faktoren zu unterschätzen und personale Faktoren zu überschätzen. Man kann >spontane Tendenzen< empirisch sicher auch anders als ex-
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perimentell untersuchen: durch teilnehmende Beobachtung (in ausgesuchten Situationen, etwa bezüglich des Hilfeverhaltens in V-Bahnhöfen) oder durch die Rekonstruktion historischer Ereignisse (wie etwa Browning [ 1993] den [Nicht-] »Gehorsam« der Mitglieder eines Reserve- PolizeiBataillons im Rahmen der Vernichtung der polnischen Juden in der Auswertung von Prozessakten und historischen Dokumenten analysierte). Nur wenn man meint, >spontane Tendenzen< experimentell analysieren und realisieren zu sollen, zu können oder zu müssen, steckt man in dem genannten Widerspruch, andere als »Vpn« vorübergehend zum Objekt zu machen. Aus den frühen holzkampseben Überlegungen, »sekundäre Abhängigkeiten«, also spontane Tendenzen, »bewusst zu machen«, würde nun aber für eine »kritisch orientierte Psychologie« folgen: Wenn die »Vpn« in die betreffende experimentelle Situation gebracht worden sind, wird ihnen eine bestimmte Erfahrung aufgenötigt und eine bestimmte Verhaltensweise nahegelegt. Danach müsste dann die Festnagelung der betreffenden Personen auf die Rolle einer Vp aufgehoben werden zugunsten einerneuen Beziehung zwischen Forscher und »Beforschtem«. Diese müsste dann zu dem werden, was Holzkamp später als »Mitforscher« konzipiert hat (vgl. Kap. 13.3.3): Gegenstand der Forschung ist dann nicht mehr die Person, sondern die Welt, wie die Person sie erfährt, und Forscher und Mitforscher stehen auf derselben Seite des Forschungsprozesses. Es stünden dann weniger die nackten Resultate des Experimentes zur Diskussion; vielmehr ginge es um die systematische Analyse der im Experiment gemachten Erfahrungen, der an den Tag gelegten Handlungen. Was bei experimentellen Untersuchungen als postexperimentelle Befragungen fungiert, wäre unserer Konzeption nach der eigentliche Beginn der Forschung, und nicht bloß eine Art Anreicherung der experimentell gewonnenen Daten -womit im Übrigen auch das Verhältnis von theoretischem und experimentellem Satz Gegenstand gemeinsamer Erörterung wäre. Dies ist aber m.W. bislang nicht realisiert worden. Ein derartiges Vorgehen ist nicht zu verwechseln mit dem Konzept des »Widerspruchs-Experiments<<, wie es Holzkamp (1973, 216ff) erwogen, aber praktisch nicht weiter verfolgt hat. Dabei sollte es darum gehen, Vpn mit »objektiven gesellschaftlichen Widersprüchen<< (216) zu konfrontieren und ihre »Bewältigungs-Techniken« zu erfassen, mit denen diese Widersprüche »so >eingeordnet<, uminterpretiert etc. werden, dass Konsequenzen für die eigene Gesellschaftserkenntnis und Lebenspraxis nicht entstehen«: »In derartigen Experimenten wäre nichts vorgetäuscht oder fingiert<< (217). Holzkamp veranschaulicht das Gemeinte am Geld- und Warenfetisch (vgl. dazu auch Rehmann 2008, 33ff); ein theoretisch weniger voraussetzungsvolles Beispiel wäre die Erklärung von Leistungsunterschieden unter Bezug auf »Begabung<< (vgl. Kap. 5.1). Holzkamp hat seinen 1968 geschriebenen >>Relevanz<<-Artikel vier Jahre später (vgl. 1972c, 228-233 [232-236]) einer kritischen Analyse unterzogen und, wie erwähnt, das Dialog- Konzept als idealistische Gegen-Konstruktion
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zur organismischen Norm-Vp verworfen. Darüber hinaus muss hier Holzkamps Selbst-Kritik nur unter folgenden Gesichtspunkten erwähnt werden: Die Strukturübereinstimmung zwischen dem Experiment und bestimmten gesellschaftlichen Situationen sei selber noch gesellschaftlich unvermittelt geblieben. In der Tat werden Experimentstruktur und bestimmte gesellschaftliche Situationen nur formal parallelisiert, ohne dass der Versuch unternommen wurde, einen historisch-systematischen Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Entwicklung und einer Forschungsweise herauszuarbeiten, die eben dieser gesellschaftlichen Entwicklung entspricht. Diese Überlegung wurde allerdings in der erwähnten Arbeit zu den verborgenen anthropologischen Voraussetzungen der Mainstream-Psychologie vorangetrieben- wenn auch das Konzept des freien Dialogs als idealistische Konstruktion der Herrschaft des besseren Arguments verstanden werden kann (a.a.O., 237). Sicher wurden im »Relevanzaufsatz« weder die Überlegungen zu den »sekundären Abhängigkeiten« hinreichend auf deren gesellschaftliche Funktionalitäten noch die Überwindung dieser Abhängigkeiten auf gesellschaftlich dabei notwendige Strategien hin analysiert. Wesentlicher scheint mir in diesem Zusammenhang aber, dass da, wo dort positiv von Effektivitäten und effektiven Bedingungen - etwa in der Schule - die Rede ist, die Betroffenen letztlich doch als Objekte von Bemühungen anderer denkbar sind. Insofern ist Holzkamps Resümee, der Artikel vermittele die Vorstellung, die Anpassungsfunktion der Psychologie sei »voluntaristisch« durch den guten Willen von Psycheloginnen und Psychologen emanzipatorisch umzudrehen, zutreffend. Seine Selbstkritik schießt m.E. aber übers Ziel hinaus, wo er zu wenig verdeutlicht, dass seine Argumentationen im »Relevanzartikel« wesentliche und weiter entwickelbare Anstöße geliefert haben, wie ich sie an Beispielen dazustellen versucht habe.
3.2.7. Vorläufige Alternativen oder Vorschläge Aus seinen bis dahin geleisteten Analysen hat Holzkamp keineswegs den Schluss gezogen, der von ihm kritisierten Forschung den Rücken zu kehren. Seine Gründe dafür lassen sich m.E. am besten aus seinen Darlegungen zur Entwicklung und Bedeutung des Funktionalismus gegenüber dem Strukturalismus/der Elementenpsychologie in der Psychologie nachvollziehen ( l972b, 42ff [48ff], 65ff [72ff] ), die er auch mit der unterschiedlichen Rolle der Vpn in diesen Richtungen in Verbindung bringt. Holzkamp geht von dem Umstand aus, dass in der ersten Phase der experimentellen Psychologie - in den USA vor allem vertreten durch Titchener (Strukturalismus), in Deutschland durch Wundt (Elementenpsychologie)die Forschung mittels der Methode der Introspektion auf den Aufbau des Bewusstseins zielte (vgl. zur neueren Diskussion um die »Introspektion« das Themenheft des »Journal für Psychologie« 1999 [H. 2), darin unter Bezug auf die Kritische Psychologie: Markard 1999). Unter Introspektion wurde
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nicht bloße Selbstbeobachtung und -beschreibung eigenen Erlebens verstanden, sondern die methodisch kontrollierte Bewältigung der Aufgabe, die Elemente des Bewusstseins zu bestimmen. Dazu sollten/mussten die Vpn fähig sein, Erlebtes nicht mit schon Gewusstern zu verwechseln (»Objektentgleisung«) und Einflüsse des Beobachtungsprozesses auf die zu beobachtenden Bewusstseinsvorgänge zu kontrollieren bzw. auszuschalten. Es liegt auf der Hand, dass als Vpn nur methodisch geschulte Personen in Frage kamen (z.B. Professoren), die in den Untersuchungsberichten auch mit vollem Namen, sozusagen als die Personen des Versuchs, genannt wurden. Holzkamp vermutet als einen Grund dieser Nennung, dass damit ein Eindruck über die Qualifikation der Vp bezüglich der Introspektion vermittelt werden sollte, denn die Qualität der Forschungsergebnisse hing ja direkt von der Qualifikation der Vpn ab (a.a.O., 42f). Gegenüber einer derartigen Forschung (deren unterschiedliche Varianten und Entwicklungen hier nicht erörtert zu werden brauchen), war für den (amerikanischen) Funktionalismus ein völlig anderer Gegenstand der Forschung zentral: der »zielgerichtet handelnde Mensch des täglichen Lebens«. Konzepte wie >Kampf ums Dasein<, >Anpassung< waren »Schlüsselbegriffe«, >»Handlung< wurde vom Funktionalismus mehr oder weniger deutlich als Leistung verstanden, wobei die Gütemaßstäbe für Leistung aus der gegebenen gesellschaftlichen Umwelt entnommen sind. Im Funktionalismus ist die Psychologie sozusagen aus dem kontemplativen Bereich der Studierstube des Gelehrten herausgetreten und hat die vom Wettstreitgedanken geprägte moderne Industriegesellschaft eingeholt.« (A.a.O., 45) Holzkamp meint, dass der Behaviorismus dieser Forschungslinie folgte, nur, dass er »gewisse rigorose methodologische Verfahrensvorschriften einführte«, nach denen nur noch (von anderen) zu beobachtende Verhaltensdaten legitim waren (ebd.). Wichtig in unserem Zusammenhang ist, dass sich durch den Perspektivwechsel der Forschung auch die Funktion derVp radikal änderte: Sie »hatte nicht mehr die Rolle eines Mediums inne, durch welches Zugang zu Bewusstseins- oder Erlebenstatbeständen zu erlangen ist, sondern die Vp. wurde sozusagen als Exemplar der Gattung Mensch Forschungsgegenstand [... ) die bevorzugte >Versuchsperson< der funktionalistischen Psychologie wurde demgemäß der psychologisch ungeschulte Alltagsmensch« (a.a.O., 46). Als diese psychologisch ungeschulten Alltagsmenschen gelten, wie oben zu sehen war, vor allem die (allerdings in psychologischer Schulung befindlichen) Psychologiestudierenden. Jedenfalls ging es nicht mehr um die Entdeckung des Aufbaus des Bewusstseins durch dafür qualifizierte Fachkräfte als Vpn, sondern darum, wie sich Menschen unter bestimmten Bedingungen verhalten, mit den oben ausführlich dargestellten Vp-Bestimmungen-
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und auf der Grundlage einer »ideologisch geprägten organismischen Anthropologie« (a.a.O., 62). Was folgt nun 1972 für Holzkamp aus seinen eigenen Analysen? Zunächst die Feststellung einer Geltungseinschränkung bzw. die Explikation der verborgenen organismischen Anthropologie: Da man, wenn man allein »organismusartige« Verhaltensweisen zulasse, auch nur solche erhalten könne, habe man diese Einschränkung zu verdeutlichen und mit dem »Gegenbild des geschichtlichen Menschen in je konkreter gesellschaftlichökonomischer Lage zu konfrontieren« (a.a.O., 63, Hervor. entf., M.M.). Dies würde zwar einerseits bedeuten, dass die ideologische Gleichsetzung von »Mensch« und »Organismus« aufgehoben sei, andererseits sei dann aber auch zweifelhaft, welchen Beitrag eine am organismischen Menschenbild orientierte Forschung für »Menschen« erbringe. Nur: Die Lösung könne, so Holzkamp, nicht in einer Rückkehr zur Tradition des Strukturalismus bestehen: diesem liege zwar keine organismische Anthropologie zu Grunde, aber auch die durch Introspektion gewonnenen Daten seien nicht auf Menschen in konkreten gesellschaftlichen Lagen beziehbar. Ebenso wenig könne es einen Rückbezug auf allgemeine Konzeptionen des »Verstehens« geben, da diese nie einen befriedigenden Grad methodischer Verbindlichkeit erreicht hätten (a.a.O., 65). Daran fällt übrigens auf, dass Holzkamp zu dieser Zeit die (methodologischen) Debatten in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus oder der Grounded Theory (vgl. dazu aus Sicht der Kritischen Psychologie Markard 1984 bzw. 1991) und mit diesen Ansätzen verbundene zeitgenössische Auseinandersetzungen um Erklären und Verstehen, quantitative und qualitative Forschung nicht (systematisch) zur Kenntnis genommen hatte, sondern sich allein auf die (deutsche) geisteswissenschaftliche Tradition als sozusagen abstrakte Alternative zur experimentellen Psychologie (»Methodenstreit<< in der Psychologie) bezog (vgl. dazu Gummersbach 1986; Maikowski et al. 1976, 23, 123; Markard 1991, lf, 43f; Metraux 1985). Unter dieser Voraussetzung plädierte Holzkamp dafür, den »rationalen Kern der bestehenden Psychologie« zu bewahren (a.a.O., 66), den er mit der »Revolution des Funktionalismus gegen den Strukturalismus« darin sieht, dass »der Möglichkeit nach« eine Hinwendung der Psychologie zu konkreten Menschen in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen erfolgt sei, die allerdings wegen der organismischen Einengung der Sichtweise nicht genutzt worden sei (ebd.). Daraus folgt: Die »Realisierung der [... ] in der geschichtlichen Entwicklung der Psychologie angelegten, aber bisher weitgehend ungenutzten Möglichkeiten. Die funktionalistische Hinwendung der Psychologie auf den Alltagsmenschen in seinem Bemühen um Daseinsbewältigung wäre zu bewahren, die Pervertierung dieses Ansatzes durch verabsolutierend-nomothetische Eliminierung der konkreten historischen Lage des Menschen wäre zu überwinden.<< (A.a.O., 67)
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Man kann in Holzkamps damaligen Konsequenzen ein allgemeines Programm sehen, das einerseits die experimentell orientierte MainstreamPsychologie »transformieren« will, diese Transformation aber - mangels fehlender oder historisch als erledigt betrachteter Alternativen- im Banne eines von behavioristischen Verkürzungen befreiten Funktionalismus leisten will (a.a.O., 67ff). Ich will dieses Programm hier darlegen, weil es einerseits einen wichtigen Schritt in Richtung auf die Kritische Psychologie bedeutete, andererseits aber auch deutlich machen kann, dass allein aus der »inneren« Kritik der Psychologie die Kritische Psychologie nicht entstehen konnte. l. Die »Manipulierbarkeit des Menschen« dürfe nicht als generelle »organismische« Determiniertheit universalisiert werden; vielmehr müsse sie als Symptom einer besonderen Lage verstanden werden, die durch »Praxis« verändert werden könne. Hier, wie auch schon in den einschlägigen Überlegungen zur technischen und emanzipatorischen Relevanz psychologischer Untersuchungen zeigt sich ein Unterschied zur Frankfurter Schule, in der gelegentlich die organismische Reduktion für die Sache selbst genommen wurde. So heißt es bei Adorno: >>Dort, wo die Menschen unter dem Druck der Verhältnisse in der Tat auf die >Reaktionsweise von Lurchen< [hier verweist Adorno auf die »Dialektik der Aufklärung<<, M.M.] heruntergebracht werden, wie als Zwangskonsumenten von Massenmedien und anderen reglementierten Freuden, passt die Meinungsforschung, über welche sich der ausgelaugte Humanismus entrüstet, besser auf sie als etwa eine >verstehende< Soziologie: denn das Substrat des Verstehens, das in sich einstimmige und sinnhafte menschliche Verhalten, ist in den Subjekten selbst schon durch bloßes Reagieren ersetzt.<< (1957, 202f, Herv. M.M.) Bemerkenswert ist allerdings, das die kritische Theorie (Adorno, Horkheimer u.a.), auf die ich mich im Einleitungskapitel bezogen habe, und die einen wesentlichen theoretischen Bezugspunkt der Studentenbewegung darstellte, in der Entwicklung der Kritischen Psychologie keine systematische Rolle spielte. Im Kern führe ich das darauf zurück, dass für die kritische Theorie die einzig ernst zu nehmende Psychologie die Psychoanalyse mit ihrer Triebtheorie ist (vgl. Kap. 12.3), die wie sich zeigen wird, von der Kritischen Psychologie als unangemessen zur Bestimmung der menschlichen Natur (Kap. 8.3) zurückgewiesen wird. 2. Die Geltungsansprüche psychologischer Untersuchungen müssen auf bestimmte Gruppen von Menschen in bestimmten gesellschaftlichen Lagen hin spezifiziert werden. 3. »Stimuli« (unabhängige Variablen) dürften nicht quasi naturhaft, sondern müssten als Ergebnisse gesellschaftlicher Arbeit, später wird es bei Holzkamp heißen, als gesellschaftlich vermittelte »Bedeutungen« begriffen werden. 4. Die Psychologie müsse die in Soziologie und Pädagogik »heute schon
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recht verbreitete« (a.a.O., 69) Berücksichtigung der Schicht- und Klassenspezifik übernehmen und auf Lernprozesse und Sozialisierung anwenden, allerdings ohne diese Problematik auf nur nominalskalierte Variablen zu reduzieren und eigene - mittelschichtspezifische - Wertvorstellungen zu universalisieren; außerdem müssten >Schichtunterschiede< und kompensatorische Bemühungen (»kompensatorische Erziehung«) auf die Klassenstruktur der Gesellschaft bezogen werden. Es könne nicht (allein) darum gehen, strukturell versagte Entwicklungsmöglichkeiten zu kompensieren und so die Möglichkeitsversagungen letztlich zu reproduzieren. Warum nicht? Während das Schichtkonzept gesellschaftlich bestehende Unterschiede zwischen wie auch immer definierten Gruppen von Menschen unter bestimmten Aspekten beschreibt, ist mit dem Konzept der »Klasse« durch dessen systematischen Bezug auf Produktionsverhältnisse eine analytische Bestimmung der Ursachen gesellschaftlicher Ungleichheit und deren Aufhebung verbunden. Bei Holzkamp erscheint das 1972 so: »Die >Zurückgebliebenheit< eines Menschen hinter seinen Möglichkeiten ist nicht das Ergebnis von bestimmten Sozialisationsprozessen in dieser oder jener·· Schicht, sondern ist das Ergebnis der Klassenstruktur der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt. Demnach können differenzierende Bewertungen von Sozialisationsprozessen innerhalb verschiedener Schichten immer nur vorläufigen Charakter haben: In umfassender Sicht und unter weiter erstreckter zeitlicher Perspektive ist die gegenwärtige Klassen-Gesellschaft generell als >zurückgeblieben< zu bewerten, wobei aus dieser Bewertung Folgerungen für die zukünftige gesellschaftliche Praxis abzuleiten sind.<< (A.a.O., 70) 5. Es muss reflektiert werden, in welchem Ausmaße die experimentellen Daten bzw. die Dimensionen, in denen Daten ausgewählt und erfasst werden, psychologiegeschichtlichen und gesellschaftlichen Formierungen unterliegen: Etwa: Wann wird warum »Begabung« zu einem relevanten Forschungsthema (vgl. Kap. 5.1)? 6. Eine sich unter den bislang genannten Aspekten vollziehende »Transformation der Psychologie<< (a.a.O., 71) müsse mit einer Überwindung enger intra-disziplinärer Grenzen einhergehen, wenn nicht etwa >»allgemeine Psychologie< [ ... ] als leere Abstraktion von der individuellen »Persönlichkeit<< des Menschen« oder »>Sozialpsychologie<[ ... ] als das Ergebnis unangemessener Arbeitsteilungangesichts der sozial-gesellschaftlichen Bedingtheiten menschlichen Erlebens und Verhaltens überhaupt« erscheinen soll (a.a.O., 7lf). In der Tat ist es ja mehr oder weniger müßig zu streiten, ob »Vorurteile<< ein persönlichkeitspsychologisches oder ein sozialpsychologisches Thema sind. Wer meint, sachlich klare Unterscheidungen treffen zu können, landet bei definitorischen Problemen, etwa bei der Trennung der Sozialpsychologie von der Allgemeinen Psychologie, deren Verhältnis zueinander Holzkamp, wie gerade zitiert, beispielhaft anführt.
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Z.B. stellen Krech et al. (1962, 7f) in ihrem Sozialpsychologie-Lehrbuch fest, das »isolierte Individuum<< sei »von vorneherein<< eine >>Fiktion<<: >>Ob wir das Verhalten eines Menschen in einem Laboratorium, einer Klinik, in einer Menschenmenge studieren, ob wir seine Fähigkeit zu lernen, seine Leistung bei einem Intelligenztest oder sein Benehmen beim Kirchgang untersuchen - stets studieren wir das Verhalten eines Menschen als eines Teilnehmers an zwischenpersönlichen Ereignissen. Die Auswirkungen der früheren, gegenwärtigen oder von ihm antizipierten zwischenpersönlichen Verhaltenseinheiten beeinflussen jede seiner Tätigkeiten, mag dies auch noch so einfach und verborgen geschehen. Dementsprechend lebt jeder Mensch in einer sozialen Welt und kein Psychologe kann das Verhalten eines außerhalb des Sozialen stehenden Menschen studieren.<< (Meine Übersetzung, M.M.) Das ist nun offenkundig weniger eine intra-disziplinäre Gegenstandsabgrenzung als eine Sichtweise auf die Psychologie, nach der dann allerdings zu fragen wäre, ob sich Psychologie überhaupt anders denn als Sozialpsychologie konstituieren kann. In einem anderen Lehrbuch (Herkner 1975, 12; 1991, 17) heißt es dagegen: >>Die Sozialpsychologie beschreibt und erklärt die Interaktionen zwischen Individuen sowie die Ursachen und Wirkungen dieser Interaktionen.<< Hier ist der Erkenntnisbereich der Sozialpsychologie allein auf Individuen im Plural bezogen. Demnach wären Individuen im Singular kein Fall der Sozialpsychologie. 7. Überwindung der Arbeitsteilung von grundwissenschaftlicher und angewandter Psychologie ( Holzkamp l972b, 72 [81] ), womit ein- wegen der bisherigen Diskussionen nicht weiter erläuterungsbedürftiger-Bogen zum Relevanzartikel geschlagen ist. Zu fragen ist nun: Befindet sich dieses Programm - metaphorisch gesprochen- nicht eigentlich in der Lage eines Fesselballons: zwar über dem >ordinären< Mainstream schwebend, aber doch fest mit seiner Grundlage verbunden? Anders formuliert: Welche weiteren Entwicklungsschritte hin auf eine Kritische Psychologie waren erforderlich? 3.2.8. Veränderung der Arbeitsbedingungen an der FU Berlin als dem institutionellen Rahmen für die Entwicklung der Kritischen Psychologie Praktisch jedenfalls wurden die Programmpunkte 6. und 7. in Teilen der Psychologie an der FU in Angriff genommen. Wie es dazu kam, soll zum Abschluss dieses Kapitels in einem kurzen Rückblick auf die diesen Zeitraum betreffende Geschichte der PU-Psychologie skizziert werden. Daran lässt sich auch verdeutlichen, in welchem institutionellen Klima die weitere wissenschaftliche Entwicklung Klaus Holzkamps stattfand und welche Bedeutung dieses Klima für die Entwicklung der Kritischen Psychologie hatte (vgl. dazu Holzkamp 1972c). Dabei schließe ich auch an meine Schilderun-
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gender (studentischen) Wissenschafts- und Gesellschaftskritik in Kap. l an. Diese Wissenschafts- und Gesellschaftskritik war nicht auf die Psychologie begrenzt, sondern sie entwickelte sich in vielen Fächern, an der FU besonders auffallend - neben der Psychologie - in der Politikwissenschaft, am Otto-Suhr-Institut (OSI), und sie war mit dem Bemühen um eine Demokratisierung der Hochschule verbunden. Auch am Psychologischen Institut der FU wurde im Rahmen einer allgemeinen Hochschulreform um eine Satzung des Instituts gerungen, nachdem in den Sommerferien 1968 10 (!) Kommissionen den Status quo des Instituts analysiert hatten. Auf Basis dieser Analyse wurde bis zum Ende des Wintersemesters 1968/1969 zwischen den Gruppen der Professoren, der wissenschaftlichen Mitarbeiter und der Studierenden eine Satzung ausgehandelt, die einen viertelparitätisch besetzten Institutsrat vorsah, der also zusätzlich zu den genannten Gruppen die nicht-wissenschaftlichen Mitarbeiter einbezog (mit Stimmrecht allerdings nur in sie selber betreffenden Fragen). Gleich auf der ersten Sitzung dieses Institutsrats im Sommersemester 1969 brachen die Widersprüche zwischen den unterschiedlichen Fraktionen auf, als es darum ging, ein autonomes studentisches Projekt (»Schülerladen«, vgl. Schülerladen Rote Freiheit 1971), zu genehmigen, was allerdings nur unter inhaltlichen Auflagen und der Voraussetzung gelang, dass Klaus Holzkamp formal als Hochschullehrer die Verantwortung dafür übernahm (weil niemand anderes sich dazu bereit erklärte). Auch acht strittige Stellenbesetzungen und die ebenfalls strittige Verortung des Psychologischen Instituts in einem neuen Fachbereich »Philosophie und Sozialwissenschaften« bewerkstelligte der Institutsrat Zeitgleich wurde in einem neuen Hochschulgesetz die verfasste Studentenschaft abgeschafft, worauf linke Studierende mit der Gründung fachspezifischer »Roter Zellen« reagierten; die Gründung der »Roten Zelle Psychologie« (ROTZEPS) erfolgte am 3.11. 1969. Wie Klaus Holzkamp resümiert (1972c, 244 [247]), verschärften sich mit den damit verbundenen Debatten (u.a. um das Verhältnis von Theorie und Praxis) die Widersprüche am Institut, womit inhaltliche Konzessionen aus Proporzgründen schwieriger wurden, so dass es zu einer Verhärtung der Fronten zwischen »linker« Mehrheit und »liberaler« Minderheit kam. In diesen Kontext gehören: ein publizistisches, dem Ausdruck »Kalter Krieg« alle Ehre machendes Trommelfeuer gegen die Demokratisierung der FU, Schmähkampagnen einer »Notgemeinschaft für eine Freie Universität« (»Freie Universität unter Hammer und Sichel«), eine denunziatorische Berichterstattung über den »Schülerladen« (vgl. die Analyse von W.F. Haug 1971), publizistische persönliche Attacken gegen Klaus Holzkamp und regierungsamtliche - allerdings gerichtlich wieder aufgehobene - Verbote von Lehrveranstaltungen. In diesem Klima bildete sich eine Initiativgruppe zur Spaltung der Psychologie an der FU, also zur Gründung eines zwei-
Holzkamps Kritik des experimentell orientierten psychologischen Mainstream
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ten psychologischen Instituts an der FU, die schließlich Erfolg hatte: Am 27.11.1970 stellte das Kuratorium der FU fest, dass die 12 Mitglieder der Initiativgruppe bis zur Gründung eines neuen Instituts im Fachbereich Erziehungswissenschaften eine organisatorische Einheit mit den Befugnissen eines Instituts bildeten (das spätere »Institut für Psychologie«), womit es an der FU zwei Diplomausbildungen im Fach Psychologie gab: Das Psychologische Institut am Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften und das Institut für Psychologie am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie (vgl. für einen kurzen Überblick über die Geschichte der beiden PU-Institute bis zu ihrer 1995 erfolgten Fusion: Fried et al. 1995). Angesichts der von den »Liberalen<< und »Konservativen« betriebenen Spaltung der Psychologie an der FU, mit der inhaltliche Auseinandersetzungen administrativ suspendiert werden sollten, ist die demgegenüber gegenläufige Gründung der »Zeitschrift für Sozialpsychologie« im Jahre 1970 bemerkenswert, deren Gründungsherausgeber Hubert Feger (methodischer Mainstream), Cari-Friedrich Graumann (Phänomenologie), Martin Irle (sozialpsychologischer Mainstream) und Klaus Holzkamp im Gründungseditorial des ersten Heftes dezidiert auf wissenschaftliche Auseinandersetzungen zwischen den von ihnen repräsentierten Ansätzen abhoben. Diese Spaltung der PU-Psychologie war zwar nicht im Sinne der »linken« Mehrheit, der es auf inhaltliche Auseinandersetzungen angekommen war, andererseits hatten die ständigen Fraktionsquerelen viele Kräfte gebunden, die nun produktiv( er) genutzt werden konnten (zumal zu Beginn der Trennung der PU-Psychologie in zwei Institute auch das »linke« Psychologische Institut personell ausgebaut wurde). Es folgte in der Tat eine Phase ungeheurer Produktivität, die sich niederschlug • im Aufbau eines nicht starr nach überkommenen Subdisziplinen der Psychologie, sondern (auch) nach Bereichen wie etwa >Funktion der Psychologie<, (damals schon) >Umweltgestaltung<, >sozialwissenschaftliches Grundstudium< organisiert war, • in einer Vielzahl von Forschungsprojekten wie »Strukturelle Bedingungen sozialer Angst«, »Informelle Lernprozesse im Strafvollzug« oder »Die Frau im Produktionsprozess« (vgl. Holzkamp 1972c, 272ff [274ff]), • vor allem aber in einer Flut von Publikationen, in denen sich, was unter Kritischer Psychologie zu verstehen sei, inhaltlich herauskristallisierte und alsbald differenzierte. Auf diese Entwicklungen und Differenzierungen werde ich von Kap. 6 an eingehen. Zur Vorbereitung darauf werde ich in den folgenden beiden Kapiteln einige Fragen des Standpunktes der Kritik behandeln, die nach meiner Erfahrung zum Verständnis der weiteren Entwicklung von der Psychologiekritik zur Kritischen Psychologie vorausgesetzt sind.
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4. Zwischenschritt I: Objektivität, Interessen, Parteilichkeit: Allgemeine Begründungsfragen der Psychologiekritik als Wissenschaftskritik 4.0 Darstellungsprobleme- oder: Warum »Zwischenschritte«? Warum dieser »Zwischenschritt« (und der nächste in Kap. 5)? Weil zwischen dem »Programm«, das sich aus der bisher entfalteten Psychologiekritik herausarbeiten ließ, und der wirklichen Entwicklung zur Kritischen Psychologie eine Kluft besteht, die sich gedanklich nur überwinden lässt, wenn man einige allgemeinere Fragen und Probleme kritischer Wissenschaft zur Kenntnis nimmt, die ich deswegen in den beiden nächsten Kapiteln darstellen will. Meine Darstellungsidee ist die: Ich möchte zwar einerseits die Entwicklung zur bzw. der Kritischen Psychologie mehr oder weniger >historisch< oder chronologisch nachzeichnen, muss dazu aber andererseits bestimmte >systematische< Überlegungen einschieben, damit die Entwicklungsschritte gedanklich stimmig werden. In diesen Überlegungen geht es um Fragen des Verhältnisses zwischen wissenschaftlicher Objektivität und (gesellschaftlichen) Interessen und die Bedeutung, die der Alltag und die Erfahrung für wissenschaftliche Erkenntnis in einer Gesellschaft haben, die ja von gegensätzlichen Interessen durchzogen ist. Wenn gefordert wird, dass die Psychologie für die in dieser Gesellschaft lebenden Menschen nützlich sein soll, dann muss man sich diesen Fragen stellen - denn, was als nützlich angesehen wird, ist ja durchaus strittig. Ist es nützlich, wenn Schüler/innen lernen, sich schulischen Anforderungen anzupassen, oder ist es eher nützlich, wenn sie sich dagegen auflehnen. Schon auf den ersten Blick ist klar, dass das von der Art der Anforderungen abhängt, und davon, wie man diese einschätzt. Die dabei wissenschaftlich interessante (und weniger einfach zu beantwortende) Frage ist aber, ob dass allein eine Frage von >Meinungen< ist, oder ob auch hier wissenschaftlich tragfähige Aussagen möglich sind. Es ist also am Problem der »Wertfreiheit« von Wissenschaft anzuknüpfen. Mit den Zwischenschritten von Kap. 4 und 5 soll besser beurteilbar werden, inwieweit die ab Kap. 6 darzustellende inhaltliche Entwicklung Kritischer Psychologie ihrem emanzipatorischen Anspruch in einer von gegensätzlichen Interessen durchzogenen Gesellschaft gerecht wird. Dabei werde ich die entsprechenden erkenntnistheoretischen Fragen auch an Beispielen erläutern. Dass dabei teilweise schon gewisse Erkenntnisse der entwickelten Kritischen Psychologie einfließen, deren Fundament erst später genauer begründet werden, lässt sich nicht vermeiden.
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4.1 Die Frage nach Standpunkt und Perspektive wissenschaftlicher (Psychologie-)Kritik; Mythos »Alltag« Ich habe dargestellt, dass mit Holzkamps Kritik der (experimentellen) Mainstream-Psychologie auch Perspektiven zu einer Alternative verbunden waren. Die Frage ist nun, von welchem Standpunkt aus diese Perspektiven entwickelt wurden. Zunächst einmal: Holzkamp hat gezeigt, dass mit der Methodik der experimentellen Psychologie bestimmte inhaltliche >Reduktionen< einhergehen, die er als »verborgene organismische Anthropologie« charakterisierte: ein >Menschenbild<, das um die konkret-historische Lebenslage und Praxis der Menschen verkürzt ist, damit an wesentlichen Bestimmungen menschlichen Lebens vorbeigeht. Die zentrale Frage ist nun: Wie lässt sich psychologisch konkret bestimmen, was es ist, was da verkürzt, reduziert wird? Wir können diese Frage auch so begründen: Der zu untersuchende Gegenstand wird so zugerichtet, das er in das methodologische Schema passt, dass also die Methode den Primat vor dem Gegenstand hat. Wenn wir nun dagegen argumentieren, dass die Methode dem Gegenstand angemessen sein müsse, dann müssen wir ein Wissen über den Gegenstand haben, das die Wahl der Methoden - noch vor deren Anwendung- bestimmt. Wohin kommen wir, wenn wir die methodologisch begründeten inhaltlichen Reduktionen des Mainstream rückgängig machen? Was wissen wir psychologisch, wenn wir sagen, dass die Menschen in einer historisch-konkreten Lebenslage handeln? Was folgt daraus für eine psychologische Methodik? Bieten der »Alltag« und das »tägliche Leben« (Holzkamp 1970b, llOff [ ll7ff]) jenseits der laborexperimentellen Reduktionen schon die Perspektive der Kritik? Nein, Alltag und tägliches Leben bieten diese Perspektive nicht. Warum nicht? »Alltag« ist hier eine bloße Ex-negativo-Bestimmung, eine Bestimmung, die gegenüber der Labor-Situation nur die Nicht- LaborSituation geltend macht: Cafe, Haushalt, Schule, Büro, Fabrik, Flirt, Kneipenschlägerei etc. Insofern ist »Alltag« eine Oberflächenbestimmung, mit der zwar ein Anti-Reduktionismus zu reklamieren ist, mehr aber auch nicht. Inwieweit wir in unserem Alltag in welche Widersprüche verwickelt sind, ist damit nicht einmal gefragt. Mehr noch: Der anti-reduktionistische »Alltags«-Bezug kann durchaus einer verborgenen harmonisierenden Anthropologie das Wort reden. So sind die allenthalben reklamierten Kriterien der Offenheit, Empathie, Flexibilität etc., die eine verständige >qualitative< Erhebung verbaler Daten, also Interviewführung, kennzeichnen sollen (vgl. beispielhaft Lamnek 2005), ja weniger »alltäglich«, gang und gäbe, sondern in Alltag und täglichem Leben eher Ausnahmen und Sonderfälle. Diese Kriterien verweisen auf gegenüber realer Alltagserfahrung idealtypische Setzungen - wie der habermassche »herrschaftsfreie Dialog« (1969, 164) dessen Funktion ja nicht darin bestehen sollte, den Alltag zu
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glorifizieren, sondern für alltägliche Verzerrungen von Kommunikation sensibel zu machen und deren Analyse zu ermöglichen. Die Alltagsnähe qualitativer Forschung ist deswegen insoweit eine ideologische und harmonisierende Argumentationsfigur, wie sie eine spezifische anti-reduktionistische Forschungshaltung mit dem »Alltag« gleichsetzt; dann wird so getan, als entspräche »Alltags«-Kommunikation dieser Forschungshaltung, mit der in Wirklichkeit eine strategische Vorgehensweise begründet wird: Denn Menschen, denen wir als Forschende- allemal in einer Nicht-LaborSituation- verschlossen (statt offen) und rigide (statt flexibel) gegenüber treten, werden sich wohl kaum uns gegenüber öffnen. Gegenüber einem derart einfachen Bezug auf »Alltag« und »tägliches Leben« sind schon die bislang geschilderten Kritiken Holzkamps (auch) gesellschaftskritisch inspiriert: So kritisierte die Aufdeckung der verborgenen organismischen Anthropologie der experimentell arbeitenden Psychologie ja eine Denkweise, derzufolge das >Verhalten< von Menschen von äußeren Umständen bestimmt wird, selbstbestimmte Eingriffe zur Veränderung dieser Umstände aber ausgeblendet sind. Das dagegen gesetzte Bild des mündigen Bürgers, der in freiem Dialog das (gesellschaftliche) Leben regelt, bezeichnet eben eine Perspektive, aus der diese Kritik formuliert werden kann, eine Perspektive, die Holzkamp selber aber, wie geschildert, wenig später als verkürzt, gesellschaftliche Produktionsverhältnisse und damit verbundene Herrschaftsverhältnisse und entsprechende Praxen nämlich außer Acht lassend problematisierte. >»Tägliches Leben< und >gesunder Menschenverstand< in der gegenwärtigen Gesellschaft sind Inbegriff der vordergründig harmonisierenden, herrschaftsverschleiernden Ideologien des >Gemeinwohls< und des >Allgemeininteresses<.« (A.a.O., 117) Das tägliche Leben muss, wenn es begriffen werden soll, auf seine Formierung durch gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse hin durchdrungen werden. Anders: »Psychologische Praxis wäre[ ... ] nur insoweit zu rechtfertigen, als sie zur Veränderung menschlicher Verhältnisse in Richtung auf die Selbstbefreiung des Menschen aus seinen selbstverschuldeten Abhängigkeiten beiträgt.<< (Holzkamp 1972b, 72 [82]) Allerdings ist in dieser- an Kants berühmte Definition von Aufklärung als Befreiung von selbstverschuldeter Unmündigkeit4 - erinnernden Formulierung »der Mensch-im-Singular noch von traditionell-philosophischem Schlage<< (Haug 2006, 110). Und wie beim >frühen< Marx, auf den sich diese kritische Bemerkung Haugs bezieht, wird auch bei Holzkamp
4 »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.<< (Kant 1783, 533)
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der Mensch-im-Singular >>den Menschen im Plural- und das sind zugleich die in bestimmten, historisch entstandenen gesellschaftlichen Verhältnissen lebenden- Platz machen« (ebd.). Platz machen kann dann auch die Rede von der »Selbstverschuldetheit« einer konkreteren Analyse des Zusammenhangs gesellschaftlicher und psychologischer Dynamiken von »Abhängigkeit« (vgl. hier auch Holzkamps frühe Argumentation zu »sekundären« Abhängigkeiten, Kap. 3.2.5). Gleichwohl verweist die »selbstverschuldete Abhängigkeit« des »Menschen-im-Singular« schon auf ein zentrales Erkenntnis-Problem jedweder kritischen Psychologie: welche gesellschaftlichen und psychologischen Dynamiken es sind, die (gesellschaftliche und) Selbstbefreiung behindern. Die Dynamik »restriktiver Handlungsfähigkeit« (Kap. 11), eines Grundbegriffs der entwickelten Kritischen Psychologie, ist hier schon angelegt. 4.2 Zum Verhältnis von persönlicher »Parteinahme« und wissenschaftlicher »Parteilichkeit« In welchen Varianten auch immer Kritik-Standpunkte und Kritik-Perspektiven in den frühen, »vorbereitenden« Arbeiten Holzkamps auftauchen, durchgängig enthalten sie über das Hier und Jetzt hinaus weisende utopische Momente. Emanzipatorisch intendierte Wissenschaft bedarf grundsätzlich einer Perspektive, in der Verkürzungen als Verkürzungen sichtbar werden. Das ist das zentrale Problem, jedenfalls dann, wenn man - was in emanzipatorischer Wissenschaft definitorisch der Fall ist- den Status quo nicht als Maßstab akzeptiert, wenn man aus dem Bestehenden das Mögliche nicht streichen will. Anders formuliert: Wenn man davon ausgeht, dass die gegenwärtige Verfasstheit der Gesellschaft die Entfaltung menschlicher Möglichkeiten behindert, hätte eine emanzipatorische Psychologie eben jene menschlichen Möglichkeiten auf den Begriff zu bringen, die in der bürgerlichen Gesellschaft real behindert und - das ist hier das Zentrale - in der vorfindliehen Psychologie begrifflich und methodisch unterschritten werden. Das heißt: Der gesellschaftskritische Impetus bedeutet für eine emanzipatorische Psychologie, Begriffe, Theorien und Methoden der vorfindliehen Psychologie daraufhin zu untersuchen, inwieweit dort menschliches Leben und Erleben verkürzt, nur in ihrer gesellschaftlichen Formbestimmtheit gefasst werden, aber der Eindruck erweckt wird, es gehe um allgemeine, universale Dimensionen menschlicher Existenz. Mit dem Ausdruck »Formbestimmtheit« soll also zum Ausdruck gebracht werden, dass Erleben und Handeln der Menschen daraufhin analysiert werden müssen, inwieweit darin bestimmte gesellschaftliche Anforderungen und Zwänge zum Ausdruck kommen.
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So demonstrierten Anfang 2009 britische Hafenarbeiter gegen ausländische Kollegen, die sie allein als Konkurrenten wahrnahmen: In der kapitalistischen Produktionsweise werden sie tatsächlich in Konkurrenz gesetzt, und es wird ihnen damit praktisch und gedanklich erschwert, sich gegen die Konzerne zu solidarisieren, die sie in Konkurrenz setzen. Eine Psychologie nun, die Fremdenfeindlichkeit als allgemein menschliche Eigenschaft fasst (vgl. Holzkamp 1995a), trägt dazu bei, diese reale Behinderung wissenschaftlich zu polstern. Als weiteres Beispiel mag die aktuelle Argumentation von Frey & Lenz (2009) dienen, es sei eine >>Handvoll psychologischer Phänomene, die gemeinsam der Finanzkrise den Weg bahnten«: »Gruppendruck, Gier und Verdrängung«. Darin sind etwa folgende Universalaussagen enthalten: »Sind die Belohnungen kontinuierlich, steigert man das Risiko, um noch größere Belohungen zu bekommen.« Der »umsatzstärkste Bewerber dient natürlich als Maßstab für die eigene Leistung«. »Auch wer durchaus Gefahrensignale sieht, passt sich dem Druck der Gruppe und der Notwendigkeit, geschlossen und gleichförmig zu handeln, an.« >>Das Wissen um diese [und andere, M.M.] menschlichen Schwächen zeigt, wie wichtig eine schärfere Marktregulierung ist.<< Es bedarf also bestimmter Regulationen, um derartige menschlichen Schwächen zu kompensieren; dass diese »Schwächen<< aber selber historisches Moment einer bestimmten Gesellschaftsformation, des Kapitalismus, sein könnten, ist nicht Teil der Überlegungen: sie werden als universale psychologische Tendenzen in einer als alternativlos gedachten Gesellschaftsordnung gesetzt. Diese Kritik ist auch in Holzkamps Analyseresultat »Verborgene organismische Anthropologie der Psychologie« enthalten: Besondere Konstellationen, in denen Menschen (in einer Rollenübernahme) fremdbestimmt und abhängig sind, und die in gewissem Maße bestimmten außerexperimentellen Situationen ähneln, werden als menschlich allgemeine ausgegeben. Auf der gesellschaftlichen Ebene näherte sich Holzkamp dieser KritikPerspektive an, wie seine Einlassungen zur Notwendigkeit der Berücksichtigung der Klassenlage der Menschen-im-Plural zeigen. Trotzdem aber oder gerade deswegen- müssen wir hier wieder auf das im zweiten Kapitel angesprochene Problem zurückkommen, ob und wie eine Funktionskritik der Psychologie ins >Positive<, in eine kritisch-emanzipatorische Psychologie, gewendet werden kann. Wie kann eine gesellschaftstheoretisch und -kritisch informierte, aber darüber hinaus spezifisch psychologische KritikPerspektive gewonnen und begründet werden? Anders und weiter gehend: (Wie) kaim eine über die Kritik der Psychologie hinausgehende kritische Psychologie gewonnen und ausgewiesen werden? Diese Frage ist weiter zu konkretisieren: Wie können wir zu psychologischen Begriffen kommen, in denen menschliche Lebens- und Erlebensmöglichkeiten nicht um ihre allgemeine Perspektive verkürzt werden? Wie können wir zu psychologischen Begriffen kommen, mit denen sich konkret vorfindliehe menschliche Lebens- und Erlebensmöglichkeiten als um eine allgemeine Perspektive verkürzt analysieren lassen - ohne dass dabei
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gleichzeitig abstrakte Normen formuliert werden? Wie können wir zu psychologischen Begriffen kommen, mit denen sich analysieren lässt, wie die Verkürzung und Erweiterung menschlicher Lebens- und Erlebensmöglichkeiten mit gesellschaftlichen Verhältnissen und deren Veränderung vermittelt sind? Diese Fragen sind keineswegs bloß theoretisch interessant oder bloß akademischer Natur, sondern von eminent praktischer Bedeutung. Es geht dabei nämlich um die praktische Frage, ob und inwieweit sich unsere persönlichen emanzipatorischen Zielsetzungen psychologisch wissenschaftlich fundieren und ausweisen lassen. Es geht damit auch wieder um die in Kap. 2 diskutierte Frage, ob psychologische Begriffe gegenüber Zielsetzungen von Psycheloginnen und Psychologen neutral sind oder nicht, ob sie bestimmten Zielsetzungen zuwider laufen oder ob sie mit ihnen kompatibel sind. Zwei Beispiele zur Erläuterung der Fragestellung: Ist bspw. »Frustrationstoleranz« ein Begriff, der es begünstigt, dass man sich widrigen Umständen beugt, »Frustrationen<< hinnimmt, ist »Frustrationstoleranz« also ein Anpassungsbegriff, oder bedeutet »Frustrationstoleranz« eine Haltung, Probleme, Fehlschläge, Widerstände zugunsten einer längerfristigen Veränderungsperspektive aushalten zu können? Dient die Kennzeichnung >>mangelnde Frustrationstoleranz« dazu, die (psychischen) Probleme einer allein erziehenden Frau mit fünf Kindern in zwei Zimmern dieser personalisierend in die Schuhe zu schieben statt dazu beizutragen, ihre Situation zu verändern, oder fasst diese Kennzeichnung zutreffend die Tendenz eines Jugendlichen, bei jedem >>Problemchen« sofort zuzuschlagen, gewalttätig zu werden? Ist in diesen Beispielen >>Frustrationstoleranz« überhaupt ein analytisch sinnvoller Begriff, wie können wir das entscheiden, welche begrifflichen Alternativen gibt es, welche Bedeutung für unsere Überlegungen und Entscheidungen hat es, mit welchen Begriffen wir operieren? Ein anderes Beispiel: Wie ist das Konzept der >>posttraumatischen Belastungsstörung« (PTSD) zu beurteilen? Es spielt z.B. eine erhebliche Rolle in asylrechtliehen Verfahren um Aufenthaltsmöglichkeit oder Abschiebung bosnischer Frauen, bei der Beantwortung von Fragen also, bei denen es für die Betroffenen um Leben und Tod gehen kann, auf jeden Fall eine für sie existenzielle Entscheidung zu treffen ist: Eine >Sonderregelung< für bosnische Flüchtlinge band deren Aufenthaltsmöglichkeit in Deutschland nämlich daran, dass sie als >>traumatisiert« diagnostiziert wurden (Rafailovic 2005). Die Diagnose >>PTSD« impliziert für die Diagnostizierten eine Pathologisierung früher und gegenwärtig erfahrenen Leids - ohne dass sich alles akute Leiden von Flüchtlingen unter diese Kategorie subsumieren ließe. Wird >>PTSD« den Problemen der Betroffenen gerecht? Oder ist >>PTSD« eine biographisch-deterministische und überdies sehr westlich-kulturspezifische Kategorie, die von den jeweils akuten Lebensumständen und einer Notwendigkeit von deren Veränderung ablenkt? Hinzu kommt, dass vor dem Hintergrund seltener gewordener Anerkennungen von Flüchtlingen die >Sonderregelung< für Bosnierinnen den Streit um Diagnosestandards und Glaubwürdigkeitsprüfungen verschärfte. Die Intention von Psycheloginnen und Psychologen, Flüchtlinge zu unterstützen,
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musste sich fachlich gegen politisch inspirierte Zweifel an den Diagnosen behaupten. Außerdem schloss die Durchführung der aufwändiger werdenden Diagnoseverfahren faktisch auch die Legitimation eines politisch zweifelhaften Selektionsprozesses mit ein: Einer Frau, die nicht als traumatisiert etikettiert ist, droht die Abschiebung. Andererseits aber hätten sich die Psychologinnen und Psychologen spezifischer Eingriffsmöglichkeiten für Betroffene beraubt, hätten sie sich dem problematischen Diagnoseverfahren entzogen. Schließlich: Sind wirklich »Gruppendruck, Gier und Verdrängung« (s.o.) Kern der Strukturprobleme des Kapitalismus? Vor diesem Problemhintergrund möchte ich zwei Begriffe nutzen, die unterschiedliche Aspekte unseres Verhältnisses zu wissenschaftsbezogenen Problemen beleuchten: »Parteinahme« und »Parteilichkeit«. »Parteinahme« bezieht sich auf unsere persönlichen Vorstellungen, Wünsche, Intentionen, Konsequenzen, auf unser Engagement in all den Fällen, in denen unser psychologisches Handeln in gesellschaftliche und institutionelle Widersprüche verstrickt ist, wir also »Partei nehmen« wollen (bzw. nicht umhin können, es zu tun). »Parteilichkeit« hingegen bezieht sich darauf, inwieweit unsere personale Parteinahme wissenschaftlich ausgewiesen ist, sich auf ausgewiesene Begriffe und Konzepte stützen kann. »Parteilichkeit« ist demgemäß ein Konzept, mit dem danach gefragt wird, inwieweit sich in wissenschaftlichen Begriffen und Ansätzen gesellschaftliche Widersprüche niederschlagen oder eben ausgeblendet werden. Wesentlich ist dabei die Auffassung, dass die schon im ersten Kapitel dieses Buches skizzierte Verbindung von Psychologie- und Gesellschaftskritik dem fachwissenschaftliehen Ansatz nicht politisch >aufgesetzt< ist, sondern sich inhaltlich mit ihm ergibt, so dass Erkenntnis und Kritik zwei Seiten einer Medaille sind: »Je rücksichtsloser und unbefangener die Wissenschaft vorgeht, desto mehr befindet sie sich im Einklang mit den Interessen und Strebungen der Arbeiter«, heißt es bei Engels (1886, 307). Holzkamp (1977, 48) formuliert in gleichem Sinne: »Die Parteinahme für die Interessen der Lohnabhängigen wird der Wissenschaft also hier nicht von außen oktroyiert, sondern durch eine umfassendere und adäquatere Erkenntnis ihres Gegenstandes quasi von diesem Gegenstand selbst aufgezwungen«. An anderer Stelle heißt es bei ihm: »Auch die Psychologie selbst ist, ob sie will oder nicht, parteilich: Sie kann der bürgerlichen Klassenrealität nicht entkommen. Sie kann sie nur entweder aus ihrer Grundbegrifflichkeit fernhalten, wie die bürgerliche Psychologie. Dann steht sie notwendig auf der Seite derer, die an der Naturalisierung der historisch gewordenen und veränderbaren bürgerlichen Lebensverhältnisse objektiv interessiert sind. Oder sie nimmt diese Klassenrealität in ihre Grundkategorien auf, dann steht sie zwangsläufig auf der Seite derer, die allein an der vollen Wahrheit über die bürgerliche Gesellschaft interessiert sein können, der Arbeiterklasse, ihrer Verbündeten und ihrer Organisationen. Die praktisch-politischen Konse-
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quenzen drängen sich also aus der wissenschaftlichen Erkenntnis selbst auf, die man apologetisch unterdrücken muss, wenn man den Konsequenzen für die eigene Lebensführung ausweichen wilL<< ( 1976,254, Herv. entf., M.M.) Wie immer man diese Formulierungen Holzkamps aus den 70er Jahren über die politische Funktion der Arbeiterklasse im Einzelnen beurteilen mag: Das Ausmaß, in dem, wie die PISA-Untersuchungen belegen, soziale Herkunft über Bildungsmöglichkeiten entscheidet (vgl. Maaz et al. 2008), die Debatte um eine »Unterklasse<< und die sich weiter öffnende Schere zwischen Reichtum und Armut zeigen, dass die Diagnose unserer Gesellschaft als einer Klassengesellschaft alles andere als antiquiert, und die Frage danach, wie gesellschaftliche Herrschaftsinteressen mit sozialwissenschaftliehen und psychologischen Konzepten vermittelt sind, brandaktuell ist. So besitzt die von Holzkamp benannte »Naturalisierung der historisch gewordenen und veränderbaren bürgerlichen Lebensverhältnisse<< heute einen einfacheren und einprägsameren Namen - »Sachzwang<< - und eine schlichte, auf Margret Thatcher zurückgehende Formel: TINA (»There is no alternative«). Damit ist fundamentale Kritik entwertet: Denn einen Sachzwang zu kritisieren, ist offensichtlich >unsachlich<. Anders akzentuiert wird die Frage zum Verhältnis von gesellschaftlichen Interessen und wissenschaftlichen Interessen im Feminismus gestellt, indem von der analytischen Priorität der Geschlechter- gegenüber den Klassenverhältnissen, des Patriarchats gegenüber der Klassenherrschaft ausgegangen wird. Dieser unterschiedlichen Prioritätensetzung liegen offensichtlich unterschiedliche gesellschaftstheoretische Analysen zu Grunde, die ich hier nicht weiter diskutieren will (zum Verhältnis des kritisch-psychologischen zum feministischen Parteilichkeitsbegriffvgl. Katsch 2000). 4.3 Zum Verhältnis von wissenschaftlicher Objektivität und Parteilichkeit Da die für die Kritische Psychologie zentrale Frage der Parteilichkeit wissenschaftlicher Konzepte eine spezifische Lösung des Verhältnisses von gesellschaftlichen Interessen und wissenschaftlicher Objektivität darstellt, will ich dazu einen Exkurs einfügen, in dem ich mich auf meinen Aufsatz »Wissenschaft- Macht- Hochschule« (2000b) beziehe (vgl. auch Grüter et al. 1977). Was ist eigentlich Wissenschaft? Ganz allgemein und in lexikalischer Tradition wird man sagen können, dass Wissenschaft Inbegriff des Wissens einer Epoche ist, das in methodisch-systematischer Forschung entwickelt und in mündlicher Lehre und in Schriften weitergegeben wird. Aber: Wie kommt dieses Wissen genau zustande, wie kommt es zu wissenschaftlichen Kontroversen, wie zur Kritik bestehenden Wissens, wie entsteht neues Wissen, wie haben sich die einzelnen Fächer herausgebildet, wie ist Wissenschaft organisiert, wer sind ihre Träger?
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4.3.1 Gesellschaftliche Ursprünge neuzeitlicher Wissenschaft 4.3.1.1 Die Bedeutung der Naturwissenschaft für die Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft Die Vermitteltheit von Wissenschaft mit gesellschaftlichen Interessen wird schon an der Herausbildung der neuzeitlichen Naturwissenschaft deutlich, mit der gegen mittelalterliche Scholastik und antike Naturspekulation methodisch kontrolliertem Erfahrungswissen zum Durchbruch verholfen wurde. Der Fall Galilei steht exemplarisch für den Kampf um die Befreiung wissenschaftlichen Denkens von bornierter Anhindung an Feudaladel, Klerus und Religion (Wissenschaft als ancilla theologiae, als Magd der Theologie). Diese Entwicklung verdankt sich aber nicht allein herausragenden Wissenschaftlergestalten, sondern vor allem einer bestimmten historischgesellschaftlichen Konstellation, dem Aufkommen des Bürgertums nämlich, von dessen Durchsetzung zu einer einflussreichen und schließlich herrschenden Klasse die wissenschaftliche »Beherrschung« der Natur nicht zu trennen ist. Friedrich Engels (1892, 299) hat diesen Sachverhalt folgendermaßen skizziert: »Das Bürgertum gebrauchte zur Entwicklung seiner industriellen Produktion eine Wissenschaft, die die Eigenschaften der Naturkörper und die Betätigungsweisen der Naturkräfte untersuchte. Bisher aber war die Wissenschaft nur die demütige Magd der Kirche gewesen, der es nicht gestattet war, die durch den Glauben gesetzten Schranken zu überschreiten- kurz, siewar alles gewesen, nur keine Wissenschaft. Jetzt rebellierte die Wissenschaft gegen die Kirche; das Bürgertum brauchte die Wissenschaft und machte die Rebellion mit.«
Die erkenntnis-optimistische, der problematischen Folgen von Naturbeherrschung noch unbewusste - bürgerliche - Wissenschaft konnte mindestens so lange allgemeiner Emanzipation sich verbunden fühlen, wie das Bürgertum in gewisser Weise Hort der Aufklärung und gesellschaftlichen Progression war. Nun wissen wir aus der Geschichte, dass das zur Wirtschafts-Bourgeoisie verkommene Bürgertum seine historisch progressive Rolle verlor und seine Interessen und die sich verschieden artikulierenden Interessen an gesellschaftlicher Emanzipation auseinandertraten - womit auch Wissenschaft zwischen diese neuen Fronten geriet.
4.3.1.2 Empirische Sozialwissenschaften und die Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft Dies trifft aber nicht nur auf die Naturwissenschaften zu, sondern auch auf die (empirischen) Sozialwissenschaften. Am Konzept der social controllässt sich zeigen, wie schon auf begrifflicher Ebene dieser gesellschaftliche Interessenbezug enthalten ist: Ausgangspunkt innerhaib der Sozialwissenschaf-
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ten (der USA) waren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert einerseits eine Soziologie, in der Menschen als Subjekte keinen Platz hatten, und andererseits eine- »strukturalistische« - Psychologie, die sich, wie in Kap. 3 gezeigt, auf den formalen Aufbau des Bewusstseins konzentrierte und den gesellschaftlich-sozialen Bezügen der Menschen den Rücken kehrte. Außerwissenschaftlich hatte sich aber eine Situation herausgebildet, in der es zu massiven sozialen Spannungen und zu Ansätzen einer Arbeiterbewegung kam (der 1. Mai erinnert an eine Demonstration in Chicago 1896, während derer mehrere Menschen erschossen wurden). Auf der Tagesordnung standen damit Reformen, die die Proteste würden abfangen können, ohne dass es zu gravierenden Veränderungen der Verteilung der Macht käme. Es war der Gedanke der Reform(ierbarkeit) der Gesellschaft, der mit deren wachsenden Widersprüchen zur sozialwissenschaftliehen Formulierung drängte, begleitet von einer Wandlung in der Psychologie, in der nicht mehr der Aufbau des Bewusstseins im Vordergrund stand, sondern der- gesellschaftlich zu kontrollierende- »zielgerichtet handelnde Mensch des täglichen Lebens« (Holzkamp 1972b, 45 [51], vgl. Kap. 3.2.7 dieser Arbeit). Social control gehört nun zum Ensemble der Begriffe, mit denen dies erreicht werden sollte: eine theoretische Konzeption zur flexiblen Optimierung sozialer Steuerung bei dauernden gesellschaftlichen Wandlungsprozessen unter Aufrechterhaltung des gegebenen gesellschafts-politischen Rahmens: Der Begriff social control ist so konzipiert, dass die schon Mächtigen das Steuer keinesfalls aus der Hand geben müssen. Die so genannte »Masse« (der Bevölkerung) ist nicht als Subjekt, sondern als Objekt der Kontrolle vorgesehen, ein Objekt, dessen Befindlichkeit aber nun insofern ernster genommen wurde, als diese ins Herrschaftskalkül einbezogen wurde- zum Beispiel über Meinungsumfragen. In diesem Sinne gehörte das heute nach wie vor verbreitete sozialwissenschaftliche Konzept der >>Einstellung« (attitude) schon zum frühen Arsenal der Sozialwissenschaften. Dieses Konzept entsprach (und entspricht) dem damals entstandenen Interesse, die »Massen« zwar in die Regelung öffentlicher Angelegenheiten einzubeziehen, ihnen aber gleichzeitig die Kompetenz dazu faktisch abzusprechen. Diesachentbundene Vielfalt des bloßen einflusslosen Meinens korrespondiert mit der Aufrechterhaltung des Status quo. Insofern gehört der sozialpsychologische Einstellungsbegriff ebenso zum ideologischen Ensemble der demokratieförmigen Absicherung von Herrschaft (vgl. Markard 1984). Der widersprüchliche Zusammenhang von Wissenschaft und Gesellschaft ist eben nicht Folge einer voluntaristischen Entscheidung von wissenschaftlich Arbeitenden, sondern, wie an den Beispielen gezeigt, unvermeidlich. Der Zusammenhang von Wissenschaft und Gesellschaft muss somit Gegenstand der Reflexion sein mit dem Ziel, Wissenschaft und Forschung als historisches Produkt und als Element der gesellschaftlichen Totalität zu rekonstruieren.
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4.3.2 Wissenschaftliche Objektivität und gesellschaftliche Interessen Dass Wissenschaft insofern gesellschaftlich ist, als sie nur in einer Gesellschaft statthaben kann, ist trivial. Die Rede vom gesellschaftlichen Bezug der Wissenschaft wird erst bedeutsam, wenn von gesellschaftlichen Interessen die Rede ist. Auch »Gesellschaft« bleibt so lange ein abstraktes Konzept, wie von gesellschaftlichen Interessenwidersprüchen abgesehen wird. Das Aufdecken von Interessen ist eine wesentliche Konkretisierung des sonst abstrakt bleibenden Gesellschaftsbezugs von Wissenschaft. Eine Form dieses abstrakten Gesellschaftsbezuges habe ich in diesem Kapitel am Beispiel der angeblich psychologischen Ursachen der Finanzkrise gezeigt. Eine weitere in unserem Zusammenhang wichtige und aktuelle Form der Ausblendung gesellschaftlicher Interessen, damit des bloß abstrakten Gesellschaftsbezuges, besteht z.B. darin, die gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklung als sich im Selbstlauf realisierenden Sachzwang darzustellen. Die damit verbundene Redeweise des »Standorts« Deutschland bedient eine Sichtweise, derzufolge es keine Klassen und Interessen mehr gibt. Es gibt keine entwickelte Gesellschaft ohne gesellschaftliche Gruppierungen (Klassen) mit gegensätzlichen Interessen und entsprechend keine Wissenschaft jenseits dieser gesellschaftlichen Interessen. Warum aber kann dieser Sachverhalt so leicht ausgeklammert werden? Zur Beantwortung dieser Frage muss man sich vergegenwärtigen, dass in der individuellen Konkurrenz gesellschaftliche Interessenwidersprüche in die Interessen der vielen Einzelnen aufgelöst scheinen. Indem die Individuen ihre eigenen Interessen verfolgen, bewegen sie sich funktional im Rahmen des Gegebenen. Ihre Bewegungen und Beweggründe tangieren nicht die Sachlogik, die »Objektivität« des Rahmens, des gesellschaftlich Allgemeinen, die sie gleichwohl reproduzieren. Unter dieser Voraussetzung erscheint »die« Gesellschaft frei von Interessen, als eben das Allgemeine und Objektive, und es lässt sich schlussfolgern: Die so gefasste, abstrakte (da von gesellschaftlichen Interessen abstrahierende) Logik des Gesellschaftlichen steht nicht im Widerspruch zum allgemeinen Objektivitätsanspruch von Wissenschaft, sondern sie harmoniert damit. »Die« Wissenschaft dient »der« Gesellschaft. Sofern nicht vom einzelnen Wissenschaftler oder von der einzelnen Wissenschaftlerin wissenschaftlich akzeptierte Regeln verletzt werden (was als skandalös5 gilt), werden wissenschaftliche Tätigkeit und Wissenschaft als objektiv angesehen, was eben als gleichbedeutend mit Abwesenheit von Interessen
5 Ein Beispiel für einen derartigen Skandal ist die samt und sonders erlogene Zwillingsforschung von Cyril Burt, die über einen langen Zeitraum hin die - wissenschaftstheoretisch ohnehin sinnlose - Debatte um den angeborenen Anteil von >>Intelligenz« beeinflusste: Burt hatte nicht nur seine Daten erfunden, auch die beiden Forscherinnen, die sie angeblich erhoben hatten (vgl. dazu Lewontin et al. 1984, insb. 101-106).
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oder Interessiertheit angesehen wird. Objektivität als das Allgemeine steht danach diametral im Gegensatz zu- per se partikularen- Interessen. In diesem Sinne weist Marx (1862/63, 112) die Beugung von Objektivität zurück: »Einen Menschen, der die Wissenschaft einem [ ... ] ihr fremden, äußerlichen Interessen entlehnten Standpunkt zu akkommodieren sucht, nenne ich gemein«. Allerdings: Marx redet hier von einem »äußerlichen Interessen entlehnten Standpunkt« eines einzelnen Individuums. Wir fragen aber nach gesellschaftlichen Interessenwidersprüchen. Also: Wie weit kommen wir, wenn wir die Lösung des Gegensatzes von Objektivität und Interessen auf der gesellschaftlichen Ebene zu finden versuchen?
4.3.3 Zur historischen Relativität des Objektivitätsbegriffs- gegen Relativismus Einen Zugang gewinnen wir, wenn wir uns damit beschäftigen, wie Wissenschaften sich nach ihrer skizzierten Herausbildung weiter entwickelt haben. Die Vorstellung, dass Wissenschaftsentwicklung einen Prozess systematischer und kontinuierlicher Höherentwicklung und Wahrheitsannäherung durch mehr oder weniger planmäßige Ausschaltung von Irrtümern bedeutet, geht offenkundig an der Realität vorbei. In vielen wissenschaftstheoretischen Überlegungen gilt, was Systematik und Exaktheit angeht, die Physik als Modellwissenschaft (vgl. auch Kap. 3). Deshalb soll die Darstellung der Probleme der Wissenschaftsentwicklung mit einem eher persönlichen Resümee eines Vertreters eben dieser Wissenschaft, des Physikers Max Planck beginnen. Dieser beschreibt in seiner »Wissenschaftlichen Selbstbiographie« die theoretischen und persönlichen Kämpfe um die theoretische Bestimmung des Verhältnisses von Wärmeleitungen und rein mechanischen Vorgängen und kommt anlässlich dieser Vorgänge zu der verallgemeinernden Feststellung: »Dabei hatte ich Gelegenheit, eine, wie ich glaube, bemerkenswerte Tatsache festzustellen. Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass die Gegner allmählich aussterben und dass die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht wird.<< (Planck 1948, 22) Anschaulich wird hier, dass wissenschaftliche Entwicklung weder gradlinig verläuft, noch durch wissenschaftslogische und methodologische Dimensionen allein zu erklären ist. Im Begriff des »Paradigmas« verband Kuhn (1976) wissenschaftstheoretische und kulturhistorische Aspekte der Wissenschaftsentwicklung und unterschied an vielen Beispielen aus den Naturwissenschaften »normale« von »revolutionären« Perioden der Wissenschaftsentwicklung6• Daranlässt sich 6 Ich kann und will hier nicht im Einzelnen nachzeichnen, dass und wie Kuhns Konzeption kritisiert bzw. von anderen Wissenschaftstheoretikern und -historikern aufgegriffen worden
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verdeutlichen, dass Wissenschaftsentwicklung keineswegs ein von anderen sozialen und gesellschaftlichen Prozessen »abgehobener« Bereich, sondern mit gesellschaftlichen und sozialen Prozessen vermittelt ist. Außerdem wird sichtbar, dass der Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität zwar nicht aufgegeben, aber historisch relativiert werden muss. Was »objektiv« ist, ist insofern gesellschaftlich-sozial definiert, als die theoretisch-methodischen Mittel, mit denen objektive Erkenntnisse zu erzielen sind, selber historischen Wandlungen unterliegen. Diese Formulierung bedeutet nun keineswegs ein Einfallstor für grenzenlosen Relativismus. fedwede Wissenschaftskritik muss sich an rationellen Maßstäben des verfügbaren Weltwissens messen lassen. So ist das Ptolemäische Weltbild, wonach sich die Sonne um die Erde dreht, aller unmittelbaren Alltagserfahrung zum Trotz nach heutigem Wissen falsch. An der Konzeption Kuhns ist von unserem argumentativen Gesamtzusammenhang her allerdings noch kritisch hervorzuheben, dass sie die gesellschaftliche Dimension von Wissenschaft und Wissenschaftsentwicklung im Wesentlichen auf soziale Beziehungen (in) der scientific community verkürzt, also (institutionell) außerwissenschaftliche- eben gesellschaftliche Bezüge wissenschaftlichen Arbeitens weniger systematisiert, wenn nicht ausblendet.
4.3.4 Interessenwidersprüche bei Natur- und Sozialwissenschaften In den Naturwissenschaften tritt der Bezug auf widersprüchliche Interessen in der Formulierung forschungswürdiger Probleme, materieller Förderung und Arten der Anwendung von Wissenschaft insofern vergleichsweise offen zutage, weil er mittlerweile auch in die wissenschafts-externen Medien Eingang gefunden hat. Dies ist eine Folge einer verbreiteten Erschütterung von Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit, genauer: des Glaubens daran, dass die Entwicklung der Wissenschaft per se gesellschaftlichen Fortschritt bedeute oder zumindest begünstige. In der Erschütterung dieser Vorstellung kamen mindestens drei Entwicklungen zusammen: Erfahrungen mit katastrophalen Folgen und darin aufscheinende »negative<< Möglichkeiten wissenschaftlicher Innovationen (Atom-Bomben, Chemie-Unfalle), die politisch organisierte Kritik an der Umweltzerstörung (Ökologiebewegung) und die Reflexion personaler wissenschaftlicher Verantwortung ist: Moniert wurden etwa die definitorische Ungenauigkeit des kuhnschen Paradigmabegriffs und dessen Zirkularität: Paradigma sei das, was einer scientific community gemeinsam sei, welche wieder dadurch definiert werde, dass sie sich an einem gemeinsamen Paradigma orientiere. So ist es nicht einfach möglich, den Zustand etwa der Sozialwissenschaften bzw. der Psychologie im Sinne des kuhnschen Schemas zu bestimmen: Verweisen die dort vorzufindenden extrem unterschiedlichen Orientierungen darauf, dass sich diese Wissenschaften in einem noch vorparadigmatischen, also proto-wissenschaftlichen Zustand befinden oder schon in der Phase einer Krise? Oder ist das gar der »Normalzustand"?
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in Teilen der scientific community. Weniger deutlich ist, wie Profit-Interessen und entsprechende Lobby-Arbeit über die einschlägigen Unternehmer- und Industrie-Verbände Forschung und Forschungsförderung, generell die Forschungsund Technologie-Politik bestimmen. Dies lässt sich nicht durch moralische Appelle an die Verantwortung der einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler regeln: In dem Maße, in dem (industrielle) Produktion, Grundlagenforschung und angewandte Wissenschaft verquickt sind, bilden sich existenzielle materielle Abhängigkeiten heraus, vor deren Hintergrund es unrealistisch ist, anzunehmen, die einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler könnten durch ihr persönliches Verhalten Wissenschaftssteuerungen gesellschaftlicher Größenordnung erreichen. Direkte personale Abhängigkeiten lassen sicher in dem Maße nach, in dem man sich von unmittelbaren kapitalistischen Verwertungsinteressen entfernt (bzw. dabei in der Hierarchie oben angelangt ist): Ein professoraler Grundlagenforscher dürfte mehr individuellen Spielraum haben als ein promovierter Abteilungsleiter in einem ChemieKonzern. Interessenfreie Forschung ist jedenfalls eine Illusion. Bei den Naturwissenschaften erfolgt die Artikulation ihres Gesellschaftsund Interessenbezugs vor allem im Nachdenken über Forschungsvoraussetzungen, -folgen und -anwendungen. Bei den Sozialwissenschaften dagegen gehen die Grundvorstellungen über den Mensch-Welt-Zusammenhang darüber hinaus auch direkt in ihre wissenschaftlichen Konzepte- wie am Beispiel der social control gezeigt - und in ihre Methoden ein -wie im dritten Kapitel an der Experimentalkritik gezeigt.
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5. Zwischenschritt II: Bezugspunkte und Grenzen der Psychologiekritik 5.1 Alltag(skonzepte) als Bezugspunkt und Maßstab der Kritik? Das Beispiel »Begabung« Das Konzept der »Parteilichkeit« stellt, wie in Abschnitt 4.2 skizziert, die Frage nach dem emanzipatorischen Gehalt von Begriffen und Theorien, also danach, welche gesellschaftlichen Interessen darin zum Ausdruck kommen oder maskiert sind, und damit auch nach den gesellschaftlichen und institutionellen Zusammenhängen, in denen diese Begriffe und Theorien Anwendung finden. Das zentrale Problem dabei ist, wie Kriterien zu gewinnen und auszuweisen sind, nach denen die Parteilichkeit von Begriffen und Theorien zu bestimmen und zu begründen ist. Ich hatte im vorigen Kapitel schon darauf verwiesen, dass in wissenschaftlichen Debatten der Bezug auf den »Alltag« als Erkenntnismaßstab harmonisierend und mystifizierend ist. Das ändert aber nichts daran, dass der Alltag bzw. Alltagserfahrungen den Ausgangspunkt bilden, und dass es in letzter Instanz wieder der »Alltag« ist, in dem sich die Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnis zu erweisen hat. Nun gibt es alltägliche Erfahrungen, denen gegenüber vorfindliehe psychologische Begriffe unzureichend erscheinen, weil sich die Menschen darin als Subjekte nicht erkennen können. So formulierte Wolfgang Maiers: »Am alltäglichen >Vor-Begriff< von >Subjektivität< ergibt sich schon über die Forderung der Selbst-/Anwendung der vorfindliehen psychologischen [etwa behavioristischen, M.M.] Konzeptionen ein vorläufiges (Negativ- )Urteil über deren >Alltags(un)wirklichkeit<.« (1979, 109) Er schränkt allerdings ein, dass ein derart »naiv-realistischer Standpunkt« nur als »transitorischer Bezugspunkt« dienen könne (ebd.). Denn: »Nur was schon >irgendwie< bekannt ist, was zur Lebenswirklichkeit des Menschen gehört, kann in der wissenschaftlichen Analyse so durchdrungen werden, dass es zu Erkanntem wird. Das Alltagswissen ist in einem als unüberschreitbar vorauszusetzen und durch die wissenschaftliche Angehensweise in seiner scheinhaften Geschlossenheit, Glätte, >Selbstverständlichkeit< aufzubrechen.« (Holzkamp 1973, 21) Der Alltags-Standpunkt kann kaum als von ideologischen Verzerrungen frei gedacht werden, er ist also kritisch zu hinterfragen. Nehmen wir das Beispiel (Hoch- )»Begabung« (Behrens 2000; Holzkamp 1992; Markard 1998, 2005; Seidel2004; Seidel & Ulmann 1978 ). »Begabung« ist eine Vokabel, die in Alltag, Psychologie, Pädagogik und Bildungspolitik selbstverständlich ist, deren Benutzung sich wie von selber versteht. »Begabung« gilt als eine Art »Eigenschaft«, die allerdings nur wenigen zukommt. Als kleinster gemeinsamer Nenner von mehr als über 100 Definitionen lässt
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sich mit Behrens (2000, 90f) Folgendes herausdestillieren: Begabung ist charakterisiert als (l) ein individuelles Merkmal, das das betreffende Individuum (2) zumindest potenziell zu bestimmten Leistungen befähigt und (3) qualitativ oder quantitativ im Vergleich zu anderen Individuen überdurchschnittlich stark ausgeprägt ist, operationalisiert etwa durch einen (besonders) hohen IQ (Intelligenzquotienten). Im Kern basiert das Begabungskonzept auf dem Intelligenzkonzept, und es soll eine besonders hohe Intelligenz bezeichnen. Soweit Intelligenz ein messtheoretisch orientiertes, verteilungsorientiertes Konzept ist, ist darin ohnehin angelegt, dass es neben (weit) unterdurchschnittlichen auch eben (weit) überdurchschnittliche Werte gibt. Deren konjunkturelle Stilisierung als »Hochbegabung« basiert insoweit auf einer messtheoretischen Trivialität. Dass - durchaus fern von der diagnostischen Praxis - auch spezifischere Hochbegabungsmodelle (spezielle Fähigkeiten) verhandelt werden (Heller 2001 ), ändert am engen Bezug von Intelligenz und Begabung nichts, weil auch Intelligenz differenziert werden kann. Aber:» Wie viele und welche >Faktoren< in den empirischen Intelligenzleistungen enthalten sind, darüber gibt es [nach ca. 100 Jahren und 100 Definitionen, M.M.] keine Einigkeit.« (Seidel 2004, 1311) Die Abstraktheit des Intelligenzkonzeptes zeigt sich, wenn man (z.B. mit dem Symbolischen Interaktionismus) bedenkt, mit wie vielen unterschiedlichen Facetten kognitiver Bewältigungsstrategien wir es bei verschiedenen Menschen zu tun haben: die Verschmitztheit als schwachsinnig etikettierter delinquenter Jugendlicher, sich durchs Leben zu schlagen, die »intelligente« Erfindung von Werbestrategien für überflüssige Produkte oder das »gekonnte« Schreiben eines Besinnungsaufsatzes zum Zwecke eines Schulabschlusses. Eine grundlegende Annahme des Begabungskonzeptes in Alltags- und wissenschaftlicher Psychologie ist es, dass es sich bei »Begabung« um eine angeborene Anlage handelt, deren Realisierung - je nach theoretischer Position in unterschiedlichem Ausmaße -von (anderen) Persönlichkeitseigenschaften und Umweltfaktoren beeinflusst ist. Mit »Begabung« wird also eine Disposition bezeichnet, die zur Entäußerung besonderer Leistungen befähigt. Zentral ist dabei nun Folgendes: Im Unterschied zu Leistungen (Klavier spielen, Klaviere tragen, Bomben werfen, Schweine schlachten, Klausuren schreiben, Alte pflegen), die auf der Beobachtungsebene liegen, ist »Begabung« ein Konstrukt, das zur Erklärung von beobachteten Leistungen herangezogen wird. »Begabung« ist nicht etwas, das man beobachten kann und das es in diesem Sinne empirisch »gibt«, sondern etwas, mit dem man Beobachtetes deutet, interpretiert, erklärt. Die Vorstellung, dass Deutungskonzepte das seien, was sie in Wirklichkeit deuten sollen, ist allerdings bei psychologischen Konzepten besonders verführerisch, wie mancher Bezug aufs (eigene) >>Über-Ich<< zeigt. Aber auch das Über-Ich ist nicht etwas, das man »hat<<, sondern es handelt sich dabei um ein psychoanalytisches
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Konzept, mit dem bestimmte psychologische Probleme aus psychoanalytischer Sicht verständlich gemacht werden sollen. Dass aus Konzepten personale Wesenheiten werden, setzt allerdings eine gewisse Verbreitung der Konzepte voraus; deswegen ist auch kaum zu hören, dass jemand ein »looking-glass self« hat (der Selbstbezug u.a. von der angenommenen Bewertung durch andere abhängt), weil diese alte Konzeption des Soziologen C.H. Cooley (1902) weitgehend unbekannt ist. Das bei »Begabung« spezifische Problem dieses allgemeinen, Begriff und Realität vermengenden (»begriffsrealistischen«) Irrtums besteht darin, dass man, wenn man Leistungen als den Ausdruck oder Beweis von Begabungen fasst, der Vermengung von zu beobachtender Leistung und deren dispositioneUer Deutung aufsitzt. Das Zirkuläre dieser Denkfigur liegt darin, dass von Leistung unvermittelt auf Begabung geschlossen wird, diese aber als Ursache der Leistung herhalten soll. Andersherum: Den Begabungsbegriff zu problematisieren, schließt keineswegs ein, Leistungen und Leistungsunterschiede (etwa mehr Schweine bei weniger Gequieke pro Zeiteinheit erledigen) zu leugnen, wie immer man diese Leistungen und Leistungsunterschiede zu bewerten und zu erklären hat. Problematisiert werden damit allein die sachliche Angemessenheit wie die gesellschaftliche Funktionalität der biologischgenetischen Erklärung von individuellen Leistungsunterschieden. Auch der IQ ist eine Maßzahl für beobachtete (und aufbestimmte Anforderungen hin simulierte) Leistungen. Von welcher Höhe an diese- verteilungsorientierteMaßzahl »Hochbegabung« bedeuten soll, ist, wie gesagt, reine Konvention. Ersichtlich besteht das hier auftretende wissenschaftliche Problem in der Schwierigkeit der Klärung des Verhältnisses der natürlich-biologischen, ge-
sellschaftlichen und individuell-biographischen Dimension menschlicher Existenz, eines Verhältnisses von Dimensionen, die in den zu beobachtenden Erscheinungen sozusagen »vermischt« auftreten. Formal gesehen, ist die Argumentationslogik, Leistungen mit Begabungen kurz zu schließen, dieselbe wie bei der Denkfigur, Verhaltensweisen von Männern und Frauen auf deren angebliche natürliche Männlichkeit und Weiblichkeit zurückzuführen, also die »gender«-Konstitution auszuklammern. Die gesellschaftliche Funktionalität des Zirkelschlusses von Leistung auf Begabung (und von »gender« auf »sex«) besteht in der damit verbundenen, Komplexität reduzierenden Sortierung und Ordnung, die der Naturalisierung bestehender Unterschiede generell zukommt. Mit dem Problem, dass natürlich-biologische, gesellschaftliche und individuell-biographische Dimensionen menschlicher Existenz nur »vermischt« erscheinen, müssen sich allerdings alle Versuche, das Zustandekommen unterschiedlicher Leistungen zu erklären, herumschlagen. Allen Versuchen und Untersuchungen zum Trotz ist es bis heute nicht gelungen, »Begabung« unabhängig von beobachtbaren Leistungen bzw. Leistungsunterschieden empirisch zu verifizieren. Wie kann man sich diesem Problem nähern? Gattungsallgemein kann
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menschliche »Intelligenz« als kognitiver Aspekt jener artspezifisch-menschlichen Potenz zu individueller Vergesellschaftung verstanden werden, die allen (nicht auf irgendeine Weise geschädigten) Menschen zukommt (vgl. Kap. 8.3). Da die individuelle Vergesellschaftung (in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen) nicht festgelegt ist, schließt die individuelle Realisierung dieser allgemeinen Potenz eine Differenzierung der einschlägigen Lebensäußerungen ein. Diese Differenzierung wird dadurch weiter kompliziert, dass die sichtbaren Lebensäußerungen (auch) Resultat mehr oder weniger bewusster Entscheidungen sind, also die Ebene menschlicher Handlungsgründe (etwa das einzige Leben, das man hat, dem Klavierspiel oder dem Bierdeckelsammeln zu widmen) zu berücksichtigen ist. Dieser Umstand wird in der Anlage-Umweltforschung (einschließlich der Zwillingsforschung) vernachlässigt, in der das »Subjekt auf ein bloßes Produkt innerer und äußerer Kausalfaktoren reduziert« wird (Seidel2004, Sp. 1312). Die krude milieutheoretische Annahme, dass alle Menschen genetisch völlig gleich (identisch) seien, ist schon deswegen eine abwegige Annahme, weil ohne individuelle genetische Unterschiede die Artentwicklung gar nicht möglich gewesen wäre. Aber: Was die phänotypischen, also beobachtbaren Leistungsunterschiede zwischen einzelnen Menschen angeht, so können diese gleichwohl nicht direkt in deren »Genen« verankert sein, nicht direkte Repräsentanten des Genotypus sein. Denn zwischen Genotypus und Phänotypus liegt beim Menschen ein erheblicher Unterschied, weil das artspezifische Genmaterial des Menschen sich seit ca. 40.000 Jahren nicht mehr ver~ ändert hat und somit seit dieser Zeit entwickelte historische Fähigkeiten und deren weitere Entfaltungen (Atombomben bauen, E-Gitarre spielen, mathematische Probleme lösen) nicht unmittelbar genetisch fundiert sein können. Es ist derzeit kaum zu erwarten, dass der genannte Spezifitäts-Unterschied zwischen Genotypus und Phänotypus so aufgelöst werden kann, dass bezogen auf einzelne Individuen(!) etwa deren Musik- oder »Mathe«-Leistung genetisch erklärt wird. (Korrelationsstudien zu Zwillingen oder »Rassen« sind - unbeschadet ihrer Strittigkeit - für die Förderungsdiskussion schon deshalb nicht einschlägig, da sie sich auf die Vergleiche von Gruppen beziehen und insoweit über individuelle Leistungen und deren Ursachen nichts sagen können.) Dennoch ist das Problem auch nicht andersherum einfach entschieden. Weil das Verhältnis von beobachteten interindividuellen Leistungsunterschieden und deren Deutung- wohl auf lange Sicht- unentscheidbar ist, ist die Art und Weise, wissenschaftlich mit diesem Problem umzugehen, keineswegs gleichwertig (vgl. Holzkamp 1992, 14). Im- notwendig abstrakten- Postulieren von Begabungsunterschieden als Ursachen von Leistungsunterschieden wird die viel konkreter formulierbare Frage nach der Aufhellung gesellschaftlicher Bedingungen entwichtigt. Dies ist deswegen so brisant, weil von der Beantwortung dieser Frage - und von der damit verbundenen wissenschaftspolitischen Prioritätensetzung - die
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Chancen und Möglichkeiten der Individuen klassen-, geschlechts-und ethnienspezifisch berührt sind (Gilles 2005). Beim gegenwärtigen Forschungsstand ist es eben weder wissenschaftlich gleichwertig noch gesellschaftlich gleichgültig, welche Forschungsfrage gestellt und in welcher Perspektive verfolgt wird. Vor dem Hintergrund der grundsätzlichen gesellschaftlichen Vermitteltheit menschlicher Existenz ist das - paradigmatische - Beharren auf der Frage nach dem Welt- und Gesellschaftsbezug menschlicher Möglichkeiten wissenschaftlich fruchtbarer und emanzipatorisch relevanter, und zwar deswegen, weil nur unter Verfolgung dieser Fragestellung nicht das unserem Handeln überantwortete Problem negiert wird, wie Verhältnisse zu schaffen sind, die allen beste Entfaltungsmöglichkeiten eröffnen. In der bundesrepublikanischen Debatte finden wir nun beide Forschungs-Haltungen. Erstaunlich ist dabei allerdings, wie angesichts realer gesellschaftlicher Selektionsprozesse im Bildungsbereich Begabungsideologie ulld gesellschaftskritische Positionen wie »Paralleldiskurse« nebeneinander existieren: Dass finnische Kinder »begabter« seien als Migrantenkinder in Deutschland und deswegen besser abgeschnitten hätten als diese, hat in der PISA-Debatte m.W. niemand ernsthaft behauptet. Begabungstheoretisch aber liegt es nahe anzunehmen, dass, wenn Migrantenkinder in der Schule versagen, sie dann doch eher »unbegabt<< sind. Die Möglichkeit einer solchen Paralleldebatte ergibt sich m.E. aus dem schon bezüglich der angesprochenen gesellschaftlichen Ordnungsfunktion des Begabungskonzeptes erwähnten Umstand, dass sein Gebrauch Konjunkturen hat bzw. politisch motiviert ist. Weniger Konjunktur hat dieser Gebrauch zu Zeiten bzw. in Diskursen, in denen es darum geht, Bildungsreserven zu erschließen. Mehr Konjunktur hat er, wenn es - etwa wegen gesellschaftlich knapp gehaltener Ressourcen - darum geht, die Zahl der zu Fördernden einzuschränken bzw. die Förderungsmittel auf bestimmte Gruppen (etwa »Elite-» gegen »Massenunis<< oder Gymnasien gegen Gesamt- oder Hauptschulen) zu verteilen. Im Mittelalter war das deutsche Wort »Begabung<< übrigens noch nicht biologisch-dispositionell, sondern religiös konnotiert (Seidel 2004, 1311): (Unterschiedliche) Fähigkeiten wurden als von Gott gegeben angesehen. Diese Sichtweise diente dazu, Standesunterschiede als eben gottgegeben tu rechtfertigen, vor allem die Angeborenheit der Adligkeit, wogegen dann das Bürgertum mit der Behauptung der Gleichheit aller Menschen (»Tabula rasa<<) opponierte. Erst in der Folge der darwinschen Evolutionstheorie wurde »Begabung<< zu einem biologischen bzw. genauer: biologistischen Begriff, der ideologisch doppelt dienlich war: zur Rechtfertigung der Abwertung kolonisierter Völker und der »Proleten« im eigenen Land: Biologismus als Übertragung biologischer Kategorien auf gesellschaftliche Sachverhalte (vgl. Balibar & Wallerstein 1992 ). Die Ablehnung der zirkulären, begabungsideologischen Rückführungen von Leistungen auf biologische Dispositionen impliziert, wie gezeigt, keineswegs die Behauptung der genetischen Gleichheit aller Menschen. Diese Behauptung ist für eine Kritik der Begabungsideologie weder immanent-argumentativ erforderlich noch wissenschaftlich vernünftig. Schon Marx hat die
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Gleichheitsvorstellung als- in der Warenform fundiertes- »Volksvorurteil« (1867, 74) denunziert. Die Forderung nach Gleichheit hat ihren Ursprung in empörenden Privilegierungen, mit Engels formuliert: »Der Satz der Gleichheit ist [... ] der, dass keine Vorrechte bestehen sollen, ist also wesentlich negativ« (1876/77, 580). (Dies entspricht der oben erwähnten frühbürgerlichen Funktion der Argumentation mit der »Tabula rasa«.) Darüber hinaus habe, so Engels, die »Gleichheitsforderung im Munde des Proletariats« eine weitere Bedeutung gegenüber bloß formalen bürgerlichen Gleichheitsforderungen, nämlich die Forderung nach der »Abschaffung der Klassen« selber ( 1878, 99). Damit geht es um die Beseitigung struktureller Ungleichheit bzw. um die Bedingungen dafür, dass individuelle Entfaltungsmöglichkeiten nicht durch jene strukturellen Benachteiligungen behindert werden, die im Elite- wie Begabungsdiskurs naturalisiert werden. Die marxistische emanzipatorische Perspektive ist die, dass »die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (Marx & Engels 1848, 482)- eine Perspektive nicht-konkurrenzieller und nicht sozialselegierender Vielfalt. Beziehen wir nun diese Darlegungen zum Konzept »Begabung« auf Maiers' zu Beginn dieses Abschnittes zitierte überlegung, dass die »Selbst-/Anwendung der vorfindliehen psychologischen Konzeptionen ein vorläufiges (Negativ- )Urteil über deren >Alltags(un)wirklichkeit<« bedeute (1979, 109). Dabei müssen wir die »Alltags(un)wirklichkeit«, also die Alltagswirklichkeit und die Alltagsunwirklichkeit genauer betrachten. Das Konzept »Begabung« repräsentiert wohl eine pralle und allgegenwärtige Alltagswirklichkeit (des Denkens über Leistungsunterschiede), über die wir ein »Negativ-Urteil« >gefallt< haben. Dass Menschen mit dem Begabungskonzept operieren, dass es in vielfaltigen institutionellen und politischen Zusammenhängen eine große Rolle spielt, ist eben ein nicht zu leugnendes und psychologisch relevantes Phänomen. Das heißt aber eben noch lange nicht, dass damit »Begabung« auch eine taugliche analytische Kategorie wäre. Es geht bei der kritischen Analyse also nicht darum, ein Phänomen zu leugnen, seine Relevanz in Frage zu stellen, sondern darum, die faktische Relevanz des betreffenden Phänomens bzw. des Konzepts theoretisch zu kritisieren, um eine Praxis zu stützen, die dem Phänomen seine faktische Relevanz nimmt. Mit Horkheimer formuliert, hat die Analyse gesellschaftlich relevanter- hier psychologischer- Konzepte den Sinn, dass die »kritische Anerkennung der das gesellschaftliche Leben beherrschenden Kategorien[ ... ] zugleich ihre Verurteilung« enthält (1937, 181). Was heißt im Falle der »Begabung« also die »Selbst-/Anwendung der vorfindliehen psychologischen Konzeptionen«? Wir erkennen »Begabung« als eine spontan sich durchsetzende Denk- oder Deutungsfigur (die in wissenschaftlichen Kontexten formalisiert und quantifiziert wird), nach der Menschen in Alltag und Wissenschaft auf eine Weise klassifiziert und sortiert werden, in der ihre Lebensumstände als Ensemble von Entwicklungsmöglichkeiten und -behinderungen entwichtigt werden. Und wir kommen dazu,
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dass wir zur Erklärung und Deutung von >Leistungsunterschieden< eine andere Herangehensweise brauchen, eine, die erstens auf die Lebensumstände der Menschen abhebt und zweitens nicht darauf aus ist, Menschen zu klassifizieren, sondern dazu beizutragen, dass allen Menschen optimale Handlungs- und Entwicklungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Da wir im Kontext von »Begabung« mehrfach auf »Leistung« und Leistungsunterschiede rekurrierten, liegt es nahe, unsere Argumentation auch auf »Leistung« auszuweiten und auch diesen Begriff nicht so ohne weiteres hinzunehmen. Jenseits biologistisch-dispositioneller Begabungsideologie, jenseits des Problems, wie Leistungsunterschiede anders gedeutet werden können, und jenseits der Problematisierung der Kategorisierung von Menschen (nach Leistung) ist nämlich danach zu fragen, warum überhaupt >Leistungen< in welchem Ausmaße erbracht werden sollen, wer darüber bestimmt, in welchen Zusammenhängen Leistungen erbracht werden sollen, wem sie nützen, wem sie schaden? Dient >meine< Leistung der Erhöhung meiner Lebensqualität, ist sie so in Konkurrenzverhältnisse eingebunden, dass >mein< >Erfolg< der Misserfolg der anderen ist, etc.? Darstellungsmethodisch ist einzufügen, dass viele meiner hier vorgetragenen Argumente auf Kritikpositionen basieren, deren inhaltliche Grundlagen erst später in diesem Band- mit der Darstellung der >positiven< Entwicklung der Kritischen Psychologie - genauer begründet werden. Ich gehe aber davon aus, dass die Argumente im gegebenen Kontext nachvollziehbar sind. Das in Kap. 4.0 schon angeführte Darstellungsdilemma besteht eben darin, dass ich einerseits deutlich machen will, warum die Entwicklung einer eigenständigen kritischen Konzeption von Psychologie notwendig wurde, dies aber andererseits nur auf deren Basis begründen kann. Die Grenzen der frühen Psychologiekritik zu zeigen (und die subjektive wie objektive Notwendigkeit einer eigenständigen Psychologieentwicklung nachvollziehbar zu machen), setzt eben mindestens eine Ahnung des Kritikstandpunkts voraus, von dem diese Grenzen als Grenzen erkennbar sind. Kommen wir nun auf das Ausgangsproblem dieses Teilkapitels zurück, auf den Alltag als einen - vorläufigen - Bezugspunkt der Kritik. Mir scheinen dabei zwei Aspekte wichtig zu sein: Erstens sind die im Alltag vertretenen Denkfiguren selber unterschiedlich und widersprüchlich. Es gibt nicht die Alltagsmeinung oder -Vorstellung. Auch im Alltag begegnen wir verschiedenen Vorstellungen zur Deutung von Leistungsunterschieden (wie Begabung, Frühförderung, Ehrgeiz, Elternhaus, Doping) und zur Beurteilung von Leistungen und Leistungsanforderungen (Leistungsverweigerung, >Dienst nach Vorschrift<, Korrektheit der Erledigung, >immer das Bestegeben<). Zweitens sind auch Alltagsmeinungen und -Vorstellungen tendenziell mit wissenschaftlichen Konzepten vermischt bzw. davon beeinflusst. Damit kann der Alltag also mit seinen Konzepten auch vorübergehend keine Kritikbasis für psychologische Konzepte bieten - obwohl er andererseits unverzichtbarer Ausgangs- und Bezugspunkt der Kritik bleibt.
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Wie aber wäre es, wenn wir uns als Maßstab »Erfahrung« wählen? Denn wie der Alltag, so ist auch die Erfahrung nicht >wegzudenkenden Ausgangspunkt all unserer Beurteilungen, damit der Kritik, die wir üben (können) (vgl. Markard 2006). 5.2 »Erfahrung« als Bezugspunkt und Maßstab der Kritik?
5.2.1 Erfahrung als unmittelbarer und authentischer Selbst- und Weltbezug Zunächst ist bemerkenswert, dass auf Erfahrung keineswegs nur im Alltag Bezug genommen wird. Auch in der Grundlagenwissenschaft, in angewandter Wissenschaft und in wissenschaftlich sich legitimierender Praxis ist Erfahrung wesentlicher Bezugspunkt, wobei eine zentrale Funktion dieses Bezuges ausdrücklich kritisch sich versteht: und zwar kritisch gegenüber theoretischen Behauptungen, dogmatischen Setzungen etc. In diesem Sinne kommt der Berufung auf Erfahrung jenes allgemeine ideologiekritische Motiv zu, das ihr, wie Pongratz (1984, 53) hervorhebt, seit dem 13. Jahrhundert gegenüber der Scholastik zugesprochen wird (vgl. Kap. 4.3.1). Ein Argument dafür könnte sein, dass Erfahrungen unverfälscht sind, dass als zentrale Momente der Selbst- und Welterfahrung Unmittelbarkeit und personale Authentizität gelten. Ich bin es ja, der Erfahrungen macht, und es gibt niemanden, der sie mir abnehmen kann; dazu gehören auch meine räumliche und zeitliche Situiertheit und die leiblich gegründete Perspektivität - womit allerdings auch schon eine gewisse Begrenztheit der Erfahrung artikuliert ist. Bemerkenswert ist zusätzlich, dass schon in der Alltags-Formulierung »Erfahrungen machen« das Subjekt der Erfahrung keineswegs als passiv unterstellt wird, sondern eine wie auch immer zu bestimmende Art gestaltender Aktivität des erfahrenden Individuums mitgedacht ist. Der Aspekt des Tätigen ergibt sich im Übrigen auch schon etymologisch: ervarn heißt »durchziehen«, »durchreisen«. Sinnliche Erfahrung und aktives Handeln sind nicht per se getrennt, sie stehen in einem jeweils zu bestimmenden Verhältnis zueinander. Trotz der sinnlichen Unmittelbarkeit von Erfahrung, wie sie mir- und zunächst nur mir- gegeben ist, ist bei meinen Erfahrungen tendenziell jemand anderes mitgedacht, zumindest mitdenkbar: Man kann nicht nur Erfahrungen (>empathisch<) teilen und (verbal oder nonverbal) mitteilen mit den schon in Redewendungen angesprochen Funktionen: Geteiltes Leid ist halbes Leid, geteilte Freude ist doppelte Freude - wir können auch aus Erfahrungen anderer lernen, was im Übrigen den Grundzug von Verallgemeinerung ausmacht. Was aber heißt es, aus den Erfahrungen anderer zu lernen, Freude oder Leid zu teilen? Was an den Erfahrungen ist es, das geteilt werden oder mitgeteilt werden kann, wenn man die sinnliche Unmittelbarkeit von Erfahrung bedenkt, ernst nimmt und nicht suspendieren will? Die damit angesprochene Vermittelbarkeit des Unmittelbaren wird dann vorstellbar, wenn
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man sich Folgendes vor Augen führt: obwohl ich als Individuum >meine< Erfahrung unmittelbar mache, mache ich sie doch gleichzeitig im Medium gesellschaftlicher Denkweisen (und damit gesellschaftlicher Bedeutungen): Das Unmittelbare und Authentische von Erfahrungen bedeutet also nicht solipsistische Verkapselung, sondern es ist je meine Realisierung von (gesellschaftlichen) Denkweisen und Bedeutungen. Wenn ich mich selber etwa als mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet oder ihnen ausgeliefert erfahre oder beobachte, erfahre oder beobachte ich mich erstens in der allgemeinen Denkfigur »personale Eigenschaften« und zweitens in der gesellschaftlichen Auffassung über den psychischen Gehalt der betreffenden Eigenschaft (wie »höflich«, »kompetent«, »(hoch)begabt«, »leistungswillig« oder »unbeliebt«). Damit, dass individuelle Erfahrungen im Medium gesellschaftlicher Denkweisen gemacht werden, ist auch die erwähnte generelle Alltagserfahrung der verdoppelten Freude und des halbierten Leids verbunden. Zur Beantwortung der Frage, was wir erfahren können, gehört auch die Unterscheidung von Sozialität und Gesellschaftlichkeit bzw. von anschaulichen und nicht anschaulichen Aspekten von Erfahrbarem. Holzkamp (1984) hat das Verhältnis von Sozialität und Gesellschaftlichkeit in seiner Auseinandersetzung mit der Phänomenologie herausgearbeitet. Die Gesellschaft ist danach zwar ein reales System, durch das die Lebenserhaltung des Einzelnen vermittelt ist; Gesellschaft als System ist aber für sich genommen kein anschaulicher, kein unmittelbarer Erfahrungstatbestand. Gesellschaftliche Verhältnisse strukturieren, vermittelt über verschiedene - auch i.e.S. institutionelle - Subsysteme, die Lebenstätigkeiten, Denkweisen und Erfahrungen der Gesellschaftsmitglieder. Diese Strukturiertheit ist selber aber nicht anschaulich, sondern nur, wenn man so will, rekonstruktiv zu ermitteln. Was (jeweils) zu rekonstruieren ist, ist der Vermittlungszusammenhang zwischen unmittelbarer Lebenswelt und dem diese umgreifenden und strukturierenden gesellschaftlichen System. In unserem Zusammenhang zentral ist, dass das gesellschaftliche System und seine institutionellen Subsysteme auch die unmittelbaren und in ihrer lebensweltlichen Unmittelbarkeit durchaus auch anschaulich anmutenden sozialen Beziehungen - unanschaulich - strukturieren. »Anschauliche« soziale Beziehung gehen in ihrer Anschaulichkeit nicht auf. Man kann sich das Verhältnis von Sozialität und Gesellschaftlichkeit an den sozialen Beziehungen an einer Hochschule verdeutlichen. Der Umstand bspw., dass zu bestimmten Zeiten eine bestimmte Anzahl von Menschen sich in einem bestimmten Raum zusammenfindet, von denen ein Mensch eine herausgehobene Stellung hat, ist nur zu verstehen, wenn man die gesellschaftliche Institution >>Seminar« mit studentischen Referierenden oder die Institution >>Vorlesung« mit langen Monologen der Lehrenden kennt. Die sozialen Beziehungen der dort Beteiligten gehen in dem gesellschaftlich-institutionellen Strukturmoment universitäre Vorlesung nicht auf, ohne dieses wären sie aber völlig unverständlich. Wenn uns in diesem Beispiel die Struktur vertraut ist, bedeutet das nicht, dass sie deswegen anschaulich wäre.
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Die Unanschaulichkeit von gesellschaftlichen Strukturen bedeutet nun keineswegs ihre Unerfahrbarkeit, sondern nur, dass Erfahrungen, sofern sie nicht auf diese Momente hin analysiert werden, unvollständig und schief analysiert werden. Gesellschaftliche Strukturen >ragen< zwangsläufig in lebensweltliche und unmittelbare Erfahrungen der Individuen >hinein<. Dabei ist allerdings zu bedenken, dass es bezüglich dessen, was Gesellschaft »ist«, in welcher Art Gesellschaft wir leben, unterschiedliche, konkurrierende theoretische Rekonstruktionen und Reflexionen gibt. Daraus folgt auch, dass die Aufschlüsselung von Erfahrungen strittig sein muss. Ob man diese Gesellschaft als soziale Marktwirtschaft, als Risikogesellschaft, als Ambiente postmoderner Flaneure oder als ordinäre kapitalistische Barbarei betrachtet, ist umstritten, aber für die Aufschlüsselung von Erfahrungen wesentlich, je nach Lage der Dinge auch praktisch relevant. Erfahrungen können nur vermittelt und diskutiert werden, wenn sie auf darin beschlossene Denkformen hin analysiert werden bzw. diese Denkformen geteilt werden und sozusagen unausgesprochen >klar sind< - was einschließt, dass Beschreibung und Deutung so gut wie möglich analytisch voneinander getrennt werden, dass unter den Beteiligten also klar ist, dass man »Begabung« nicht sehen kann, sondern dass man unter Rekurs auf »Begabung« etwas deutet, das man sieht (eine >Leistung<). In der bürgerlichen Gesellschaft steht auch das Unmittelbare und Spontane generell unter Ideologieverdacht, sonst wäre kritische Wissenschaft ja überflüssig. Deswegen kann der Bezug auf Erfahrungen nicht das - eine Frage entscheidende- Ende einer Argumentation ausmachen, sondern nur deren Teil oder Ausgangspunkt sein. Damit - mit der Konzeptvermitteltheit von Erfahrung - sind wir wieder bei der Problemlage angekommen, die sich auch beim Alltag (und seinen Konzepten) ergeben hat. Ebenso wie der Alltag kann Erfahrung keinen Maßstab für die Kritik psychologischer Konzepte bieten - obwohl beide als Ausgangs- und Bezugspunkt der Kritik unvermeidlich sind.
5.2.2 »Erfahrung« in der Psychologie Nun könnte man einwenden, dass die beschriebenen Probleme für Alltagserfahrung und praktische Erfahrungen zutreffen mögen, nicht aber für jenen Bezug auf Erfahrung, wie er für die wissenschaftliche Psychologie als empirische, also als Erfahrungswissenschaft charakteristisch ist, die sich insbesondere in ihrer experimentell-statistischen Variante - darauf beruft, dass sie Annahmen und Hypothesen empirisch prüft, Erfahrung also als kritische Prüfinstanz systematisch und methodisch kontrolliert und - damit kritisch- nutzt. Wegen dieses (naheliegenden und vernünftigen) Einwandes möchte ichim Vorgriff auf spätere Ausführungen zur» Beliebigkeit« (Holzkamp 1977b) psychologischen Theoretisierens und zur Prüfbarkeit psychologischer
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Theorien - einige knappe Bemerkungen zur Begrenztheit auch wissenschaftlich (insbesondere experimentell) organisierter Erfahrung machen. Die Frage ist: Was kann wissenschaftlich unter Bezug auf Erfahrung entschieden werden? Entscheiden im Falle empirischer, insbesondere experimenteller Untersuchungen empirische Daten und Resultate über den Gehalt und die Geltung von Konzepten? Ich möchte dies wieder an einem Beispiel- aus der (experimentellen) Psychologie- diskutieren: dem Zusammenhang von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz. Damit ist gemeint: Wenn ein definiertes Verhalten nicht jedes Mal, sondern (nach bestimmten Plänen) unregelmäßig belohnt (»verstärkt«) wurde, dauert es nach einem dauerhaften Ausbleiben der Belohnung länger, bis auch das entsprechende Verhalten ausbleibt (»gelöscht« ist). An einem Beispiel (unter Bezug auf Lefrancois 1986, 40f) veranschaulicht: Ein Angler, der mit jedem Angelwurf einen Fisch fängt, wird jedes Mal belohnt, einer, der nur ab und zu einen Fisch an der ausgeworfenen Angel hat, »intermittierend«. Man kann sich leicht vorstellen, dass der erste Angler schneller aufgibt, wenn überhaupt kein Fisch mehr anbeißt als der zweite (der ja sinnvollerweise länger hoffen kann). Was wir nun tatsächlich experimentell prüfen können, ist, ob der plausible theoretisch behauptete Zusammenhang zutrifft oder nicht Was dabei aber nicht mit überprüft wird, ist die Relevanz der Begriffe für menschliches Leben, in denen der theoretische Zusammenhang formuliert ist: »Reiz«, »Reaktion«, »Verstärkung«. Es gibt wohl keine Fahrschule, in der man nach der Logik dieser Begriffe, das heißt ja auch: nach Versuch und Irrtum, die Bedeutung von Bremslichtern lernt (vgL Holzkamp 1993, 60f). Denn das hieße, dass die Fahrschülerinnen und Fahrschüler erst allmählich, nach einer Reihe von Auffahrunfällen, >kapieren<, dass sich mit dem Aufleuchten der Bremslichter eine Verlangsamung der Fahrt des vorher fahrenden Fahrzeuges ankündigt. In Fahrschulen werden - schon aus Kostengründen Bremslichter nicht als »Reize« behandelt, sondern als gesellschaftliche, sprachlich vermittelbare Bedeutungen. Dass der Beispiel-Angler hingegen so reagiert, wie er reagiert, hängt wiederum damit zusammen, dass die Verhältnisse im See für ihn eine völlig undurchschaubare und undurchdringliche Angelegenheit sind. Die Geltung des Zusammenhangs von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz wäre somit auf die (kognitive) Undurchdringlichkeit der Umgebung begrenzt. Ein weiterer Aspekt zur Begriffsrelevanz: Ich kann auch empirisch feststellen, dass der in Florenz stehende marmorne David von Michelangelo voluminöser, schwerer und weniger leitfähig ist als der in Paris sitzende bronzene Denker von Rodin. Das mögen für einen Fuhrunternehmer auch durchaus wichtige Aspekte sein- für das, was wir gewöhnlich mit einem Kunstwerk verbinden, aber eigentlich nicht.
Mit empirischen Methoden, so ist vorläufig zu schlussfolgern, können wir die Relevanz von Dimensionen oder Begriffen nicht klären. Das ist der Grund
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dafür, weswegen die Ebene der Begriffsklärung und-kritikmit empirischen Prüfmethoden nicht zu erledigen ist. Dies markiert die empirische Grenze der auf Erfahrung setzenden, eben: der Erfahrungs-Wissenschaft. 7 5.3 Die Grenzen des alltäglichen und experimentellen Erfahrungsbezuges Wir können nun resümieren: Wir hatten in Kap. 5.1 und 5.2.1 festgestellt, dass »Alltag« und (Alltags- )»Erfahrung« auf eine Weise konzeptgebunden sind, dass sie keinen Maßstab für die Kritik psychologischer Konzepte bilden können. Wir können nun ergänzen (Kap. 5.2.2), dass auch der systematische und methodisch kontrollierte, also >wissenschaftliche< Erfahrungsbezug der - experimentell-statistischen - Psychologie diesem Problem nicht entkommt. Die so verfahrende Psychologie kann zwar - auf ihr methodisches Repertoire zugeschnittene und derart formierte - Zusammenhangsannahmen in dem Sinne kritisieren, dass sie deren empirischen Gehalt überprüfen kann; die Begriffe aber, in denen die betreffenden Zusammenhangsannahmen formuliert sind, werden auf diese Weise nicht überprüft, ihre Relevanz ergibt sich nicht aus diesem Prüfprozess. Die Debatte über die bzw. Bestimmung der Relevanz der verwendeten Begriffe muss außerhalb dieses empirischen, also erfahrungsbezogenen Prüfprozesses erfolgen. In unserem Beispiel des Zusammenhangs von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz war übrigens die Problematisierung oder Einschränkung der begrifflichen Relevanz unter Bezug auf Alltagswissen und -erfahrung erfolgt: der Weisheit von Fahrlehrerinnen und Fahrlehrern und der kognitiven Ausgeliefertheit von Anglerinnen und Anglern - Anschauungsmaterial dafür, wie die unter Bezug auf Maiers erwähnte »Forderung der Selbst-/Anwendung der vorfindliehen psychologischen Konzeptionen ein vorläufiges (Negativ-)Urteil über deren >Alltags( un)wirklichkeit<«- vorübergehend- ermöglicht. Einerlei, ob nun - wie bei »Begabung« -Alltag und Erfahrung kaum ein kritisches Urteil ermöglichen, oder ob dies- wie bei Reiz-Reaktions-Zusammenhangsannahmen - möglich ist: In beiden Fällen müssen die Urteilskriterien 7 Das- an dieser Stelle nicht weiter zu verhandelnde- Problem experimentell-statistisch verfahrender sozialwissenschaftlicher und psychologischer Ansätze besteht weiter darin, dass im Vollsinne der Erfahrungsbegriff nur für die wissenschaftlich Arbeitenden gilt, während die Erfahrung der Untersuchten methodisch reguliert bis- mit Adorno gesagt- >>annulliert« (1969, 69) wird. Allerdings: Auch wenn Erfahrung sich weitgehend unreglementiert zum Ausdruck bringen kann, ist das Begriffsproblem nicht gelöst: Wenn ein in Deutschland gesellschaftlich marginalisierter junger Türke sich im qualitativen Interview stolz darauf zeigt, ein Türke zu sein bzw. bei sich eine türkische Identität entdeckt zu haben glaubt, ist damit über die wissenschaftliche Relevanz des Identitätsbegriffes nichts entschieden (vgl. Markard 2003)- genauso, wie die alltägliche (und massenhafte) Verwendung des Begabungsbegriffs nichts über dessen wissenschaftliche Dignität aussagt. Deutlich wird (in beiden Fällen) nur, in welchen Begriffen Menschen ihre Erfahrungen interpretieren, bzw. dass eben Erfahrungen im Lichte von Konzeptionen »gemacht« werden.
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wissenschaftlich noch ausgewiesen werden - und zwar auf grundlegend andere Weise als durch traditionelle empirische Oberprüfungen. Wir haben also mit den bisherigen Ausführungen das Problem von Kriterien für die Beurteilung des (emanzipatorischen) Gehalts von psychologischen Konzepten, damit des Verhältnisses von Objektivität und Parteilichkeit, nicht lösen können. Wir hoffen es aber so weit zugespitzt zu haben, dass der (Streit um den) Weg zur Lösung des Problems, damit der Weg von der Kritik der Psychologie zur Kritischen Psychologie besser nachvollziehbar wird. 5.4 Resümee der Grenzen der bisherigen Kritikentfaltung Diese Entwicklung der Psychologiekritik zur Kritischen Psychologie basierte auf folgenden, bislang behandelten Schritten der Psychologiekritik, die ich hier kurz resümieren und in ihrer Begrenzung darstellen will (vgl. dazu auch Holzkamp 1976). 1. Dem Nachweis der »organismischen Anthropologie« der traditionellen, »bürgerlichen« Psychologie und der Denkformen des »abstrakt-isolierten Individuums« und der »Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit«, denen gemäß Menschen wie Organismen in einer natürlichen Umwelt, nicht als Subjekte der Geschichte gedacht werden. Dies ist eine Denkweise, die in einem Begriff wie »Anpassung« auf den theoretischen und im variablenpsychologischen Experiment auf den praktischen Begriff kommt. 2. Der Feststellung, dass die Selbstverständlichkeit, mit der die »organismische Anthropologie« und das »abstrakt-isolierte Individuum« den Mainstream der akademischen Psychologie bestimm(t)en, nicht aus (massenhaften) individuellen Denkfehlern der Psychologinnen und Psychologen resultiert, sondern aus der Reproduktion gesellschaftlicher KlassenVerhältnisse, in denen die Individuen »von der bewussten Planung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen ausgeschlossen« sind, und dass diese gedankliche Reproduktion »der Situation der Fremdbestimmung[ ... ] >wissenschaftliche< Legitimation verleiht« (a.a.O., 248; im Orig. z.T. herv.). So weit, so gut. Die Grenze dieser Kritik und damit deren Problem liegt in Folgendem: 1. Diese Kritik kommt immer wieder nur zu dem eintönigen Resultat, dass die bürgerliche Psychologie bürgerlich ist. (Die gelegentliche Reproduktion dieses Befundes mag für die individuellen Finderinnen und Finder ein biographisch wichtiges »Aha-Erlebnis« sein, das aber inhaltlich nicht weiterführt.) 2. Damit verbunden ist, dass es mit dieser Kritik nicht möglich ist, verschiedene Ansätze und Befunde differenziell zu bewerten (Maiers 1979). Das heißt, man ist nicht in der Lage, verschiedene Ansätze und Befunde auf ihren womöglich unterschiedlichen Erkenntnisgehalt hin zu bewerten. 3. Aus der bisherigen Kritik heraus kommt man nicht zu »positiven Er-
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gebnissen über die empirische Subjektivität des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft« (Holzkamp, a.a.O., 248; im Orig. herv.), zu Ergebnissen, die im Sinne einer »Einheit von Kritik und Weiterentwicklung« (a.a.O., 253) den potenziellen Erkenntnisgehalt vorfindlieber Konzepte und Annahmen nutzen könnten und müssten. 4. Diese Begrenzung hängt auch damit zusammen, dass sich bis dahin die Kritikperspektive im Wesentlichen der marxschen Gesellschaftsanalyse und -kritik, der »Kritik der politischen Ökonomie«, also nicht einer psychologischen Konzeption verdankte. Beim (marxschen) Fokus auf die gesellschaftliche Reproduktion und deren nur durch eine gesellschaftliche Umwälzung aufzuhebenden Widersprüche ist die individuelle Reproduktion verschwindendes Moment bzw. nur insoweit interessant, wie von den vielen Einzelnen insgesamt gesellschaftliche Erfordernisse realisiert werden. Unter Bezug auf dieses Problem sagte Holzkamp auf dem ersten Kongress Kritische Psychologie 1977 in seinem Eröffnungsvortrag: Wie der Marxismus »in der Art und Weise, wie er das Verhältnis zwischen objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung des historischen Prozesses« herausarbeite, »historische Subjektwissenschaft par excellence« sei, so ziele Kritische Psychologie als >»besondere Subjektwissenschaft«< auf die »Entwicklung der subjekthaft-aktiven Komponente, also der Selbstbestimmung, in der individuellen Lebenstätigkeit« (64). Erscheint also auf gesellschaftstheoretischer Bezugsebene die Lebenslage des Individuums als bloß abhängige Größe, kehrt sich vom individuellen Standpunkt aus dieses Verhältnis geradezu um. Genau diese Ebene der Gewinnung »positiver Ergebnisse über die empirische Subjektivität des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft« (s. Punkt 3 dieser Aufzählung) aber war allein auf der Grundlage der bisherigen (Psychologie- )Kritik noch nicht zu leisten. 5. Mit der Analyse der »organismischen Anthropologie« der traditionellen, »bürgerlichen« Psychologie und der Denkform des »abstrakt-isolierten Individuums«, also mit der Zurückweisung der gedanklichen Reduktion des Menschen auf einen »Organismus« in quasi-natürlicher Umwelt geriet gleichzeitig die Natur des Menschen, der auch mit seiner Gesellschaftlichkeit nicht verschwundene »natürliche Aspekt der menschlichen Existenz« zunächst aus dem Blickfeld (a.a.O., 250; im Orig. herv.). Diesen Aspekt wissenschaftlich zu fassen, ist aber nicht nur der Sache selber nach von Bedeutung, sondern auch zur Fundierung der Kritik biologistischer Ansätze, also von Ansätzen, die den Geltungsbereich der Biologie auf gesellschaftliche Sachverhalte ausdehnen bzw. zur Auseinandersetzungen mit Behauptungen über die (Trieb-)Natur des Menschen aufstellen, deren wissenschaftlicher Gehalt aufzuklären wäre. Es wird nun also darum gehen, ob und wie diese Probleme mit der Entwicklung von der Psychologiekritik zur Kritischen Psychologie gelöst wurden.
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6.1 Ausgangssituation Die in Kap. 5.4 resümierten Grenzen der bislang entfalteten Psychologiekritik markieren also auch die Aufgaben oder Probleme, die bei der Entwicklung einer »positiven« kritischen Psychologie zu bewältigen bzw. zu lösen waren. Sich dieser Aufgabe überhaupt zuzuwenden, war allerdings in der seinerzeitigen psychologiekritischen- salopp formuliert- >Szene< (vgl. deren Facetten in Kap. 2) nicht unumstritten. Grundsätzlich ging es um die Frage, ob die Aufgabe der Kritik allein darin bestehen müsse, die Problematik der Wissenschaft »Psychologie« herauszuarbeiten, oder ob es eine kritischemanzipatorische Psychologie geben könne. Exemplarisch für diesen Streit sind die Bemerkungen von Günter Rexilius (1987), der noch in der Festschrift zu Holzkamps 60. Geburtstag (Markard & Maiers 1987) der Kritischen Psychologie vorhält, sie habe die »>Waffen der Kritik«< zugunsten eines Wettbewerbs um eine bessere Psychologie niedergelegt. »Aus einer Bewegung, an der viele Psychologen - Studenten, Hochschullehrer, Praktiker - mit vielen unterschiedlichen Ideen, Vorstellungen, Meinungen und Zielen beteiligt waren, klinkte sich die Kps [Kritische Psychologie, M.M.] aus und begann, ihre >kritisch-psychologische Forschung [... ] als eine Schule oder Richtung der Psychologie anzusehen, die in Konkurrenz mit anderen psychologischen Grundauffassungen ihren größeren wissenschaftlichen Wert aufzuweisen bestrebt ist< (Holzkamp 1973, 15). [... ] Wer die Aufforderung an traditionelle Psychologen liest, sie sollten sich doch endlich >neue Sichtweisen aneignen und einen Lernprozess durchmachen< (Holzkamp 1978, 82), dem stellen sich drängende Fragen: Wo ist das Wissen um den weltanschaulich-prinzipiellen Widerspruch zwischen traditioneller und kritischer Psychologie geblieben. Wo die Gewissheit, dass sie als behavioristische und positivistische Psychologie affirmativ und bürgerlich ist? Dass sie Ausdruck idealistischer, also die objektiv-materiellen Grundlagen menschlicher Existenz leugnender Vorstellungen von Welt und Mensch ist? Wohin hat sich die Einsicht verflüchtigt, dass diese traditionelle Wissenschaft dienstbar und ihre Vertreter klassengebundene >Techniker praktischen Wissens< (Gramsci) sind. Und wohin die Erfahrung, dass kein Vertreter der herrschenden Klassen, sei er Kapitalist, Politiker oder Wissenschaftler, perAppelloder Aufklärung dazu zu bringen ist, herrschaftliche Positionen aufzugeben?« (164f) 8
8 Nun ja, immerhin hat sich, wie gezeigt, mindestens der bi.irgerlid1e (Experimental-) Wissenschaftler und (somit) »Techniker praktischen Wissens« Klaus Holzkampper >>Aufklärung« bzw. durch Argumente überzeugen lassen- gar nicht zu reden vom {Wuppertal-) Elberfelder Kapitalisten Friedrich Engels.
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Rexilius' Polemik führt uns zu der Frage, wie sich nach der bzw. auf der Basis der dargelegten Grundsatzkritik und unter Bezug auf marxistische Gesellschaftsanalysen kritische Psychologinnen und Psychologen- theoretisch und methodisch- zur >traditionellen< Psychologie ins Verhältnis setzen sollten. 6.2 Die Auseinandersetzung um das »historische Herangehen«: das Verhältnis von gegenstands- oder wissenschaftsbezogener Analyse Im Kern ging es um die Frage, ob in einem kritisch-psychologischen Forschungsprogramm die Herausbildung und Geschichte der Psychologie als akademischer und praktischer Einzelwissenschaft (z.B. Maikowski et al. 1976, Jaeger & Staeuble 1978) zu untersuchen sei, oder ob die Rekonstruktion des Psychischen selber die Aufgabe kritisch-psychologischer Forschung sein müsse (z.B. Holzkamp 1973; Holzkamp-Osterkamp 1975, 1976; Schurig 1975a und b, 1976; Seidel 1976; Ulmann 1975). Anders formuliert: Kommt der Primat der »wissenschaftsbezogenen« oder der »gegenstandsbezogenen« Analyse zu? Es war die letztere, die gegenstandsbezogene Analyse, der sich die i.e.S. Kritische Psychologie widmete (vgl. die ausführliche Darstellung bei Maiers 1979). In der Kritischen Psychologie setzte sich zwar die Prioritätensetzung für eine gegenstandsbezogene Analyse durch; es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass die dabei mit diskutierte Alternative, also die wissenschaftsbezogene, auf die Herausbildung und Geschichte der Psychologie zielende Herangehensweise nicht auf eine einfache Geschichtsschreibung des Faches zielte. An dieser überkommenen Psychologie-Geschichtsschreibung hat Holzkamp (1973, 36ff) drei Varianten kritisch herausgehoben (die durchaus mit einander verbunden auftreten können): (a) Die Entwicklung des Faches wird als die fortlaufende Ablösung bzw. wissenschaftliche Widerlegung von vorfindliehen Theorien durch neue, bessere gesehen (Gestaltpsychologie gegen Assoziationismus, Funktionalismus gegen Strukturalismus, s.o.). Damit erscheint die je gegenwärtige Psychologie Resultat einer »fortschrittsgerichteten Selbstentfaltung des Forschungsprozesses« (a.a.O., 37). (b) Die Geschichte der Psychologie wird als Geschichte bedeutender Psychologen, ihrer Lebensweise, ihrer Begegnungen und Arbeitsumgehungen geschrieben, womit die Geschichte der Psychologie von biographischen Zufällen abzuhängen scheint. (c) Es wird versucht, die Geschichte der Psychologie ideengeschichtlich, unter Bezug auf den jeweiligen Zeitgeist zu erklären. Diese Vorgehensweise müsse zwar als Versuch gewürdigt werden, den Zufällen der rein biographisch orientierten Sichtweise zu entkommen, der hierbei bemühte »Zeitgeist« sei aber aus »beliebig nebeneinander geordneten philosophischen, politischen, ökonomischen, >kulturellen<, psychologischen Erscheinungen
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abstrahiert«, um dann in der Art eines Zirkelschlusses der Psychologiegeschichte als Triebkraft unterlegt zu werden (a.a.O., 39). Gegenüber diesen Varianten von Psychologiegeschichtsschreibung meint der kritisch-psychologisch inspirierte wissenschaftsbezogene Ansatz: »Gesellschaftliche Erscheinungsformen wie die Psychologie können in ihrer Eigenart nur dann angemessen erfasst werden, wenn man sie aus dem Realzusammenhang des materiellen gesellschaftlichen Prozesses, der Weise der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens, begreift.« (Ebd.) Mit einer so fundierten »Analyse der grundwissenschaftlichen Psychologie« dürfte die »freischwebende, immanent sich entfaltende Wissenschaftsentwicklungimmer klarer als Schein erkennbar« werden (a.a.O., 42). Es ging Holzkamp und seinem Arbeitszusammenhang aber weniger um eine Rekonstruktion der Psychologie als um eine Rekonstruktion des Psychischen selber. Holzkamps Buch »Sinnliche Erkenntnis« (1973) ist die erste, paradigmatische Einlösung des Programms einer gegenstandsbezogenen Analyse: »Die kritische Psychologie als positive Forschungskonzeption hat [ ... ] am jeweiligen gesellschaftlichen Gegenstandsbereich, wie er von der bestehenden Psychologie bearbeitet worden ist, anzusetzen«, und zwar mit dem Ziel, »ZU einer entwickelteren wissenschaftlichen Behandlung des Gegenstandsbereiches zu gelangen« (a.a.O., 19f). Dies schließe die Analyse vorfindlieber Ansätze und Befunde ein. Grundsätzlich sei zu bedenken, dass die »Wissenschaft ihre Gegenstände ja nicht selbst erfindet, sondern in der Gesellschaft vorfindet« (ebd. 14). Gegenstandsbereiche, auf die sich wissenschaftliche - psychologische Forschung beziehe, seien »immer schon vor und außerhalb der wissenschaftlicher Behandlung gegeben«. Wissenschaftliche Erkenntnis sei ein »Sonderfall menschlichen Erkennens«, ein »Spätprodukt gesellschaftlicher Arbeitsteilung auf der Basis der arbeitsteiligen Abtrennung der geistigen von der körperlichen Arbeit«. Die Frage sei also, wann und warum eine >»immer schon< vorhandene gnostische Beziehung auf einen Gegenstandsbereich in eine Erkenntnisbeziehung innerhalb institutionalisierter Wissenschaft überführt wurde« (a.a.O., 45, im Orig. z.T. herv., M.M.). So stelle sich die Frage, »warum im vorigen Jahrhundert die empirische Subjektivität«, verstanden als »Inbegriff der der wirklichen Lebenstätigkeit und darum des Welt- und Selbstinneseins des konkreten individuellen Menschen« (a.a.O., 46, Fn 9), auf neue Weise so problematisch geworden sei, dass sich die Psychologie als Wissenschaft herausgebildet habe (a.a.O., 45). Damit ist zwar auch von Holzkamp ein Bezug auf die Geschichte der Faches hergestellt, aber als Aspekt der gegenstandsbezogenen Analyse. Der Einwand gegen diese Priorität des gegenstandsbezogenen Herangehens lautete aber, dass gerade nicht von vorneherein angenommen werden könne, dass die Psychologie als Einzelwissenschaft einen definierbaren Gegenstand habe (Jaeger & Staeuble 1979, 11), dass also fraglich sei, ob Gegenstands-
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bereiche, auf die sich psychologische Forschung beziehe, immer schon vor und außerhalb der wissenschaftlichen Behandlung gegeben seien. Die Gliederung oder »Arbeitsteilung« der Einzelwissenschaften repräsentiere nicht einfach die »wirkliche Gliederung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses«; vielmehr müsse erst untersucht werden, wie und wieso es zur Konstitution von Einzelwissenschaften, hier: der Psychologie, gekommen sei, und was dieser Konstitutionsprozess für die psychologische Begriffsbildung bzw. für die damit bezeichneten Sachverhalte bedeute (12f). Der »Gegenstand« der Psychologie liege also schon theorieförmig vor, damit auch bestimmt durch spezifische historische Denkweisen: »Als besonderer Zweig in der arbeitsteiligen gesellschaftlichen Produktion unterliegt auch wissenschaftliche Tätigkeit der doppelten Bestimmung der Produktion durch stoffliche [>gegenständliche<, M.M.] Momente und durch Merkmale der sozialen Formation.« (16) Jaeger & Staeuble veranschaulichen das von ihnen Gemeinte an der Kategorie »Persönlichkeit«, die »überhaupt erst [ ... ] mit der Auflösung der ständischen Gesellschaft und der >Freisetzung< der einzelnen Menschen aus einem ihre Lebensformen von Geburt an bestimmenden Sozialzusammenhang« habe entstehen können (ebd., 25). Aus der Perspektive des gegenstandsbezogenen Forschungsprogramms stellt sich allerdings die Frage, woher man einen Maßstab haben oder gewinnen will, an dem man die vorfindliehen Erscheinungen des Psychischen bzw. deren begriffliche Fassungen als »formbestimmt« (vgl. Kap. 4.2) relativieren kann. Mag es bei einem Begriffwie Persönlichkeit zunächst plausibel (und rekonstruierbar) sein, dass er erst mit bestimmten gesellschaftlichen Entwicklungen aufkommt oder Bedeutung erhält, verhält es sich diesbezüglich z.B. bei Fragen der Wahrnehmung weniger eindeutig: Sind komplexitätsreduzierende Kategorisierungen formationsspezifisch oder ein Grundzug menschlicher Wahrnehmung (der ggf. formationsspezifische Ausprägungen erhält)? Aber auch bezüglich der »Persönlichkeit« ist zu fragen, ob bestimmte Fassungen von »Persönlichkeit« allein formationsspezifisch zu bestimmen sind, oder ob es sich um formationsspezifische Prägungen
menschlicher Subjektivität als allgemeiner Kennzeichnung des Mensch-WeltZusammenhangs handelt. Wurde »Persönlichkeit« wirklich erst mit der bürgerlichen Gesellschaft zum Problem oder handelt es sich um spezifische Probleme mit bzw. um spezifische Artikulationsformen von menschlicher Subjektivität? Sind gesellschaftliche Anpassungs- und Zurichtungsprozesse bloß eine Notwendigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft oder nicht? Und wenn nicht: Was ist es, was eine bestimmte gesellschaftliche Form angenommen hat? Hat ein archaischer Initiationsritus mit Subjektivität zu tun oder nicht? Wie wäre zu fassen, was es ist, das dabei gesellschaftlich »angepasst« werden soll? Andererseits: Wie kann dem unbezweifelbaren Umstand Rechnung getra-
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gen werden, dass uns tatsächlich psychische Erscheinungen und Probleme von vorneherein in theoretischen (und somit gesellschaftlich formierten) Begriffen gegeben sind? Muss der Ausgang von diesen Begriffen nicht das, was analysiert werden soll, schon entscheidend prägen? Handelt es sich hier um das klassische Münchhausendilemma, sich am eigenen Schopf aus dem (analytischen) Schlamassel zu ziehen? Der wissenschaftsbezogene Ansatz bezog sich auf die marxsche »Kritik der politischen Ökonomie« (kurz: »Kritik ... «) und darauf, dass der Kapitalismus bestimmte »Individualitätsformen« hervorbringe. Jaeger & Staeuble (1979, 27) beriefen sich mit diesem Begriff auf Lucien Seve (1972); dieser meine damit die »objektive gesellschaftliche Logik der Aktivität dieses oder jenes konkreten Individuums, soweit es seine Aktivität unter den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen entfaltet und soweit diese Aktivität in diesen Grenzen betrachtet wird« (ebd. 267, Herv. M.M.). Jaeger & Staeuble betonen dabei, dass sich damit aber noch nicht sagen lasse, wie die Einzelnen konkret agieren (a.a.O., 28). Aber: Indem das wissenschaftsbezogene Verfahren derartige Individualitätsformen rekonstruiere, bedeute Kritik in dieser Perspektive die» Herleitung der Kategorien aus den gesellschaftlichen Verhältnissen« (ebd.). Außerdem sei das wissenschaftsbezogene Verfahren insofern selber »gegenstandsbezogen«, als auf der Grundlage der aus den gesellschaftlichen Verhältnissen hergeleiteten Kategorien auch Probleme der Einzelnen sichtbar gemacht werden könnten, die mit der individuellen Realisierung der Individualitätsformen nicht klar kämen (a.a.O., 28f). Es stellt sich dann wiederum die Frage, wie die Differenz zwischen aus gesellschaftlich abgeleiteten Individualitätsformen und den konkreten Bewegungen (im Handeln, Denken und Empfinden) empirischer Subjekte (also der Leute) in ihren Klassen- und Lebenslagen genauer zu klären und mit welcher Perspektive sie zu überwinden ist. Anders: Was ist es denn psychisch, weswegen diese Probleme bestehen? Wieso ist der Mensch nicht unbegrenzt formbar; was widerstrebt der Formierung? Das von Jaeger & Staeuble für die Klärung vorgesehene »Material z.B. der in der Soziologie gesammelten empirischen Erkenntnisse« und aus der Arbeiterbewegung (a.a.O., 322) scheint nicht hinreichend, da es kaum einzelfallbezogen ist. Ihr Resümee, »empirische Subjektivität« sei nach ihrem Verfahren »nicht mehr der Ausgangspunkt, sondern der Endpunkt einer wissenschaftlichen Konkretisierung der Erkenntnis des Reproduktionszusammenhangs der bürgerlichen Gesellschaft« (ebd.) verwischt die Bedeutung der Differenz von Individualitätsformen und konkreten Lebensäußerungen der einzelnen Individuen, die gerade nicht aus den Individualitätsformen abgeleitet werden können. Der entscheidende Unterschied zur gegenstandsbezogenen Herangehensweise der Kritischen Psychologie liegt nicht darin, dass diese empirische Subjektivität schlicht zum Ausgangspunkt nähme, sondern darin, dass die Kritische Psychologie aus den genannten Gründen bezweifelt, dass empiri-
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sehe Subjektivität als »Endpunkt einer wissenschaftlichen Konkretisierung der Erkenntnis des Reproduktionszusammengangs der bürgerlichen Gesellschaft« (Jaeger & Staeuble 1979, 322) begriffen werden kann. Denn das bedeutet letztlich doch, konkrete Lebensäußerungen aus Kategorien oder Gedankenformen abzuleiten. Auch mit den (in Kap. 3.2.2.2 geschilderten) Psychologie-kritischen Gedankenformen des >>abstrakt-isolierten Individuums« oder der »Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit« ist weder die Ebene konkreter Individuen noch die Ebene unterschiedlicher psychologischer Arbeitsrichtungen erreicht. Die Figur des »abstrakt-isolierten Individuums« ist nicht »die ikonische Abbildung« empirischer Individuen, »sondern die erkenntniskritische Identifizierung« (Maiers 1979, 87) der generell individuumszentrierten Sichtweise der traditionellen Psychologie. Ebenso ist das »Konzept der >Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit< [... ] nicht als eine Explikation des >Menschen< in der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen, sondern als eine Explikation einer verfehlten Denkweise der bestehenden Psychologie« (Holzkamp 1972c, 252 [255]). Diese Gedankenformen kennzeichnen jedwede Psychologie, soweit sie »bürgerlich« ist; sie sind also ein allgemeines definitorisches Bestimmungsmoment dieser Psychologie. Wegen dieser Allgemeinheit ist damit aber auch nicht zwischen unterschiedlichen Ansätzen in der »bürgerlichen« Psychologie zu unterscheiden. Das hängt eben damit zusammen, dass diese Gedankenformen sich der (Rezeption der) gesellschaftsbezogenen Ebene der marxschen »Kritik der politischen Ökonomie« verdanken. In eben diesem Sinne wendet Maiers (1979, 92) gegen die geschilderte Argumentation von Jaeger & Staeuble ein: Die »gesamtgesellschaftliche Größenordnung der Begrifflichkeit in der >Kritik ... < [der politischen Ökonomie, M.M.] gestattet es, Theorien mit gleicher empirischer Referenz und auf gleicher Verallgemeinerungsebene differenziell zu bewerten«, also andere ökonomische Theorien; es ist damit aber nicht möglich, unterschiedliche psychologische Theorien in ihrem unterschiedlichen Erkenntnisgehalt zu bewerten. Maiers resümiert, dass die Funktion der »Kritik ... « darin bestehe, der Psychologie gesellschaftstheoretische Erkenntnisse über ihre eigenen Lebensverhältnisse zu liefern und gesellschaftliche Gedankenformen aufzuweisen. Mehr nicht. Erwarte man davon für die Psychologie mehr, bedeute das, Individualität auf gesamtgesellschaftliches Niveau zu reduzieren (94) -und: das Problem der menschlichen Natur völlig auszusparen. Solange man auf dieser Ebene bleibt, müssen alle psychologischen Ansätze über einen analytischen Leisten geschlagen werden, ein potenziell differenzieller Erkenntnisgehalt von psychologischen Ansätzen ist nicht auszumachen. Deswegen, so Maiers, bedürfe auch die wissenschaftsbezogene Funktions-Analyse »immer schon des >entwickelteren Begriffs von der Logik des Gegenstandes<«, so dass der gegenstandsbezogenen Analyse der »Primat« zukomme (a.a.O., 117, im Orig. z.T. herv., M.M.).
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Insofern bezieht Holzkamp seine Kritik auf die Psychologie und ihre Gegenstandsbereiche, also das, was die Psychologie untersucht: »Die kritische Psychologie verhält sich also nicht mehr nur >kritisch< gegenüber der bürgerlichen Psychologie, sich verhält sich auch >kritisch< gegenüber den Forschungsgegenständen der Psychologie, indem sie diese in ihrer historischen Bestimmtheit durch die bürgerliche Gesellschaft erneut aufgreift. Die wissenschaftsbezogene und die gegenstandsbezogene historische Analyse sind nicht unabhängig voneinander.« ( 1973, 4 7; im Orig. z. T. herv., M.M.) Gegenstandsbereiche wie >Wahrnehmung< oder >Bedürfnisse< seien einmal selber Resultat historischer Entwicklung, zum anderen in der »Art und Weise ihrer begrifflichen Fassung« durch den Entwicklungsstand des jeweiligen psychologischen Ansatzes bestimmt. »Bei einer vollständigen historischen Analyse eines psychologischen Gegenstandsbereiches muss er also quasi als >im Schnittpunkt< der beiden historischen Entwicklungszüge«, also der Entwicklung des Psychischen und der Psychologie, begriffen werden (ebd.). Diese Sichtweise hat Konsequenzen für das methodische Vorgehen, die im Folgenden dargestellt werden sollen. 6.3 Primat der gegenstandsbezogenen Analyse im »historischen Herangehen« der Kritischen Psychologie Holzkamp macht zunächst darauf aufmerksam, dass die beiden Entwicklungen, die des Psychischen und die der Psychologie, von extrem unterschiedlicher zeitlicher Erstreckung sind. Während die Psychologie - von heute gesehen - etwa 130 Jahre alt ist, wenn man als ihren Beginn die Gründung des wundtschen Institutes in Leipzig 1879 ansieht, erstreckt sich die Gesellschafts- und Naturgeschichte des Psychischen über zehntausende, ja Millionen Jahre: Ein »halbwegs gerrauer Zeitpunkt des Beginns der historischen Entwicklung ist hier nicht anzugeben, jede Frühform hat immer noch irgendeine Art von Vorform« ( 1973, 48). Das Interesse an der historischen Rekonstruktion des Psychischen ergibt sich, wenn man bedenkt, dass »Geschichte [... ] das gleiche wie >Prozess< oder >Geschehen< [ist]. Geschichte impliziert eine Erkenntnisbeziehung: In ihr macht sich der Mensch selbst zum Gegenstand, er begreift sich als Gewordener und in Gewordenheit. [... ] Das Verständnis früherer Epochen dient dem Begreifen der Situation der je gegenwärtigen Menschen in ihrer historischen Besonderheit.« (A.a.O., 49) Dabei ist für das Erfassen der Eigenart früherer Epochen der Erkenntnisstand einer »entwickelteren« historischen Stufe vorausgesetzt, was Holzkamp mit dem berühmten Marx-Zitat zu den Anatomien von Mensch und Affe veranschaulicht (a.a.O., 50):
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>>In der Anatomie des Menschen ist ein Schlüssel zur Anatomie des Affen. Andeutungen auf Höhres in den Untergeordnetren Tierarten können dagegen nur verstanden werden, wenn das Höhere selbst schon bekannt ist. Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc.« (Marx 1857/58, 26) Dies bedeute keineswegs eine kausale Abfolge und Erklärung der jeweils höheren Stufe aus der vorausgehenden, da dafür das erforderliche Wissen fehlt. Eine kausale Erklärung würde bedeuten, dass man (kognitiv) über alle Bedingungen derart verfügte, dass sich daraus der weitere Verlauf der Entwicklung vorhersagen ließe. Fehlt dieses umfassende Wissen (und das ist hier der Fall), ist eine Kausal-Erklärung insofern tautologisch, als aus dem Vorliegen des späteren Zustandes einfach auf dessen Kausalgenese geschlossen wird. Demgegenüber ist die historische Analyse des Psychischen eine (sich dieser Problematik bewusste) »Rekonstruktion früherer Entwicklungsstufen« (Holzkamp 1973, 50). Im Folgenden möchte ich zunächst einen Überblick über die historische Analyse, deren allgemeines Programm, geben, um danach (ab Kap. 7) einzelne Aspekte inhaltsbezogen auszuführen. Die Literatur, auf die ich mich dabei vor allem beziehe: Holzkamp ( 1973; 1977b; 1983, 48ff); Holzkamp & Schurig 1973); Leontjew (1973); Maiers (1999). 6.4 Das allgemeine Programm und der psychologische Sinn der historischen Rekonstruktion des Psychischen: Gewinnung und Analyse psychologischer Begriffe
6.4.1 Zum Verhältnis von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte Die Grundidee ist die, dass man über Gegenwärtiges mehr erfährt, wenn man dessen historische Entwicklung kennt- unter der Voraussetzung eben, dass man einem einzelnen Menschen und seinem akuten Agieren im Hier und Jetzt (singen, essen, arbeiten, in die Luft sehen, reden) die wesentlichen Dimensionen menschlicher Existenz nicht einfach ansehen kann. Diese erschließen sich aber auch nicht mit Blick auf mehrere Menschen und deren Interaktionen, denn Menschen tun sehr verschiedene Dinge miteinander und es ist keineswegs klar, welchen Aktivitäten dabei welche- interaktive Bedeutung zukommt. Wie weit kommt man nun, wenn man die Geschichte einzelner Menschen und ihrer Interaktionen biographisch zurückverfolgt? Lässt sich durch die Rekonstruktion der Individual- oder Ontogenese Aufschluss über die wesentlichen Dimensionen menschlicher Existenz gewinnen? Was muss passieren, dass aus einem ahnungs- und mittellosen Säugling ein halbwegs handlungsfähiger erwachsener Mensch wird? Welche Konflikte hat er zu bewältigen, welche Auseinandersetzungen hat er zu führen, was treibt ihn an, was stößt ihn ab, was macht er gerne, was nur unter Zwang etc.? Wenn
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wir darüber nachdenken, ergibt sich schnell, dass die biographische Gewordenheit eines Menschen und die darüber vermittelten Dimensionen seines je aktuellen Verhaltens nur verständlich werden, wenn wir sie im MenschWelt-Zusammenhang betrachten. Dabei stoßen wir aber darauf, dass dieser Weltbezug selber geschichtlich geworden ist, in einem Prozess, der offenkundig über die Biographie (oder »Ontogenese«) der einzelnen Menschen hinaus geht. Außerdem sind auch die Begriffe, mit denen wir menschliches Verhalten zu fassen versuchen, (meistens, also vom Sonderfall neuer begrifflicher Entwicklungen abgesehen) älter als diejenigen Menschen, auf die sie bezogen werden, bzw. älter als die, die sie benutzen. Begriffe wie »Erleben« und »Verhalten«, »Fühlen« und »Denken«, »Motivation« sind aus Entwicklungen überkommen, die die einzelnen Biographien übersteigen. Eine historische Rekonstruktion, die sich nur auf die Ontogenese fixierte, griffe also in mehrfacher Hinsicht zu kurz, weil die individuellen Biographien umschlossen sind von einem historischen Prozess ganz anderer Größenordnung, der gesellschaftlich-historischen Entwicklung. Mit der gesellschaftlich-historischen Entwicklung sind die Biographien der einzelnen Menschen zwangsläufig vermittelt (wie ja auch schon an den Fragen nach der Funktion der Psychologie und deren Rekonstruktion mehrfach deutlich wurde). Diese gesellschaftlich-historische Entwicklung wäre somit auf Vermittlung mit biographischen Entwicklungen hin zu analysieren, womit wir auf Produktionsverhältnisse, Geschlechterverhältnisse, institutionelle Gegebenheiten, Denkformen etc. verwiesen werden. Gleichzeitig wird wieder deutlich, dass auch auf dieser historischen Analyse-Ebene mit unterschiedlichen wissenschaftlichen gesellschaftsbezogenen Ansätzen zu rechnen ist, über deren Relevanz für die Zielstellung, die Rekonstruktion des Psychischen und dessen gesellschaftlicher Vermitteltheit, wir uns klar werden müssen. Aber auch dann, wenn wir die Ebene der Gesellschaftsentwicklung mit einbeziehen, ist das für die Rekonstruktion des Psychischen noch nicht ausreichend: Die menschliche Gesellschaft bzw. die Gesellschaftlichkeit des Menschen oder des Psychischen sind ja nicht vom Himmel gefallen, sondern selber Produkt einer vor-gesellschaftlichen Entwicklung, der Naturgeschichte, der Phylogenese, die wir in unserem Zusammenhang auf die vorgesellschaftliche Entwicklung des Psychischen zentrieren: Psychophylogenese. Aber warum hat uns die zu interessieren? Um Aufschluss über die Bedeutung der menschlichen Natur für unsere gegenwärtige Existenz zu gewinnen. Dass wir- auch- Naturwesen sind, lässt sich ja schon im Angesicht unseres Stoffwechsels mit der Natur (so sehr er gesellschaftlich reguliert sein mag) kaum leugnen. Psychologisch interessant und relevant werden Bezüge auf die Natur des Menschen immer dann, wenn damit bestimmte aktuelle Verhaltensweisen (wie Aggression oder Egoismus) erklärt werden sollen. Die Frage ist dann, aufgrund welcher Annahmen Erklärungen gegeben werden. Das Problem besteht dabei, wie schon erwähnt, darin, dass im vorfindliehen
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- beobachtbaren und erfragbaren - Verhalten natürliche, gesellschaftliche und individual-biographische Dimensionen unentwirrbar >vermischt< auftreten, und Behauptungen über die >Natürlichkeit< bestimmter Verhaltensweisen an der Rekonstruktion der »Natur des Menschen« ausgewiesen werden müssten - deren wissenschaftlich-historische Rekonstruktion m.a.W. den Sinn eines Regulativs gegenüber derartigen Behauptungen hat. Wenn man begreifen will, wie menschliche Existenz möglich werden konnte, und wenn man damit begreifen will, was ihre wesentlichen Dimensionen sind, dann muss man also auch die Naturgeschichte durchgehen, und zwar jene Evolutionsreihe, die zum Menschen führte, und diese zuvörderst unter dem Gesichtspunkt der Entstehung und Differenzierung des Psychischen.
Die - gegenstandsbezogene - historische Rekonstruktion des Psychischen will also, lässt sich resümieren, die widersprüchliche Einheit von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte in ihren wesentlichen Dimensionen aufschließen. 6.4.2 Zum Verhältnis von Begriffen und Geschichte Der wissenschaftlich-psychologische Sinn dieses Ansatzes besteht darin, auf
diese Weise psychologische Grundbegriffe (»Kategorien«) zu gewinnen bzw. vorfindliehe Begriffe auf ihren Erkenntnisgehalt hin analysieren zu können. Begriffe sollen also weder einfach übernommen noch einfach definitorisch neu gesetzt werden. Es geht vielmehr darum, Begriffe historisch zu gewinnen, sie unter Bezug auf die Rekonstruktion von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte auszuweisen. Der zentrale - mit der Evolutionstheorie verbundene- Gedanke ist dabei der, dass dem entwicklungsgeschichtlich (»genetisch«)
Früheren das begrifflich Allgemeinere und dem genetisch Späteren das begrifflich Differenziertere und Spezifischere zugeordnet werden muss. Diese Passung herauszuarbeiten ist das Ziel der historischen Rekonstruktion des Psychischen.
Dabei muss das, was ins Verhältnis gesetzt wird, tatsächlich in einem genetischen Verhältnis, in einem rekonstruierten Entwicklungszug stehen. Die biologischen Begriffe der Homologie und der Analogie können das Gemeinte verdeutlichen. Homologe Beziehungen bedeuten genetische Entwicklungen und Verwandtschaften (etwa das Verhältnis von Flügeln und Armen), Analogien bloße Oberflächengemeinsamkeiten (Dackel und Krokodile als kurzbeinige, Spinnen und Giraffen als langbeinige Tiere). Der »Ameisenstaat« hat mit Staatsformen von Menschen genetisch so wenig zu tun wie eine Bienenkönigin mit der Königin von England; hier werden nur gesellschaftlichmenschliche Verhältnisse bildlich auf tierische Verbände übertragen, ohne dass wir damit Aufschluss über die Naturgeschichte des Menschen gewinnen. Und dass Neandertaler, die gelegentlich durch die Presse geistern, Kalorien brauchten, klärt uns nicht darüber auf, warum ein dreijähriges Kind aus Pinneberg Gummibärehen mag. Ein letztes Beispiel: Die »Kampfwachtel« (Turnix tanki) ist eine Wachtelart, bei der mehrere Männchen die Eier
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ausbrüten (vgl. Bischof-Köhler 2006, 133); eine entwicklungsgeschichtliche Zusammenhänge völlig ausblendende Interpretation dieses Kampfwachtelspezifischen Verhaltens wäre es, die weibliche Kampfwachtel als >emanzipiert< zu betrachten, weil sie die Männchen die Eier ausbrüten >lässt<. Es ist entwicklungsgeschichtlich gesehen unsinnig, den spezifisch menschlichen, gesellschaftlichen Kampf um Emanzipation in tierische Verhaltenskoordination einer ganz anderen Entwicklungslinie zu übertragen. Das Verhältnis von genetisch Früherem und begrifflich Allgemeinerem bzw. von genetisch Späterem und begrifflich Differenzierterem und Spezifischerem kann man sich auf der organischen Ebene folgendermaßen verdeutlichen: Dass wir uns fortbewegen können, haben wir mit fast allen Lebewesen gemeinsam, so dass diese Dimension »extrem unspezifisch« und allgemein (Holzkamp 1977b, 151) ist. Auch, dass wir eine Wirbelsäule haben, teilen wir mit vielen Tierarten (im Unterschied zu den »Wirbellosen«). Auch »Wirbelsäule« ist also eine genetisch frühe und begrifflich allgemeine Dimension (wobei sie gleichzeitig gegenüber den Wirbellosen später und spezifischer ist); die Differenzierung des Endes der Vorderextremitäten zu Händen mit differenzierten Fingern und abgespreizten Daumen teilen wir mit sehr viel weniger Arten, und der kontinuierliche fortbewegungsentlastete Gebrauch von Händen entsteht noch später und ist spezifischer. Auf der Ebene des Psychischen ist das Verhältnis von genetisch Früheren und begrifflich Allgemeinerem bzw. von genetisch Späteren und begrifflich Differenziertem und Spezifischerem am Lernen leicht nachvollziehbar: Reiz-Reaktions-Lernen, experimentell untersucht etwa bei klassischer Konditionierung, ist eine Weise, sich der Umwelt anzupassen, die sich >früh< herausbildete, die wir - als Möglichkeit - mit vielen Arten teilen. Bedeutungsvermitteltes Lernen (vgl. das Fahrlehrer-Beispiel in Kap. 5.3) dagegen entsteht viel später und ist spezifisch für den Menschen. Dass Menschen auf dem Spezifitätsniveau »Bedeutungsvermitteltheit« lernen können, heißt allerdings nicht, dass ihnen die früheren Spezifitätsniveaus hier: (Reiz-Reaktions-Lernen) nicht mehr zur Verfügung stünden, wenn sie etwa in Situationen geraten, in denen sie darauf zurückgeworfen werden und darauf angewiesen sind (vgl. unser Angler-Beispiel in Kap. 5.3). ReizReaktions-Lernen ist genetisch früher und insofern begrifflich allgemeiner, Bedeutungslernen ist genetisch später und begrifflich spezifischer (und für menschliches Lernen wesentlich). Die historische Dimension des »Spezifitätsniveaus<< bzw. der »Wesentlichkeit<< darf dabei nicht mit (aktueller) subjektiver Wichtigkeit verwechselt werden: In der Lage des Anglers ist Reiz-Reaktions-Lernen vorübergehend relevanter als BedeutungsLernen (wobei der Angler die Bedeutung eben dieser Situation und seine »Reaktion« darauf reflektieren, sie sich bewusst machen und in einer anderen Situation vom Reiz-Reaktions-Lernen wieder zum bedeutungsvermittelten Lernen übergehen kann).
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6.4.3 Interdisziplinäre Bezüge des historischen Herangehens und der Sinn von »Kategorien« Es liegt auf der Hand, dass das Programm der historischen Rekonstruktion des Psychischen in Konzepten und Befunden den Bereich der Psychologie überschreitet und deswegen nur als interdisziplinäres Unterfangen möglich ist, in das Konzepte und empirische Daten aus Einzelwissenschaften wie der Biologie, der Anthropologie, der Paläontologie, der Ökonomie, der Soziologie eingehen müssen. Die empirischen Sachverhalte, auf die sich die Rekonstruktion des Psychischen bezieht, sind etwa fluchtauslösende Mechanismen bei Hühnern, Prägungsverhalten bei Graugänsen, Formen der Jungenaufzucht oder Informationsweitergabe bei Affensozietäten, die eine bestimmte psychische und soziale Organisation repräsentieren, Schädelfunde, frühmenschliche Hinterlassenschaften wie Faustkeile oder Felszeichnungen etc. Da das Material für die historischen Analysen empiriehaltig ist, handelt es sich bei diesen Analysen um empirische Analysen - so wie es sich ja auch um empirische Analysen handelt, wenn in der Geschichtswissenschaft Dokumente und Funde ausgewertet werden. Wegen dieses empiriehaltigen und historischen Charakters dieser Analysen wird die entsprechende Verfahrensweise als »historisch-empirische« bezeichnet. Der Sinn dieser Bezeichnung ist der, diese Art der Untersuchung begrifflich abzusetzen von jener Art empirischer Untersuchungen, wie sie in der traditionellen Psychologie die üblichen und methodisch allein konzeptualisierten sind: »aktual-empirische« Verfahren zur Untersuchung von jetzt und hier ablaufenden Prozessen. (Dabei können aktual-empirische Verfahren wie Beobachtung von hier und jetzt ablaufenden Prozessen auch im Dienste der historischen Rekonstruktion des Psychischen stehen - wie bei Beobachtungen des Sozialverhaltens in Affensozietäten oder bei Beobachtungen beim geziehen Einsatz von fluchtauslösenden Reizen bei Hühnern mit einem Habicht-Schema. Eine unvermeidliche Komplikation bei der historischen Analyse besteht darin, dass auch in den nicht-psychologischen Wissenschaften, die zu Rate gezogen werden müssen, unterschiedliche Ansätze existieren, die man mit denen ihnen entsprechenden Befunden abwägen und gewichten muss.) Wegen des empiriehaltigen Charakters der historischen Analysen kann nicht davon die Rede sein, dass die kritisch-psychologischen Kategorien »abgeleitet« würden, ebenso wenig wie die Entwicklung des Psychischen kausalgenetisch bestimmt werden kann (vgl. Kap. 6.3). Kategorien werden nicht abgeleitet, sondern historisch-empirisch im Rahmen einer Rekonstruktion des Psychischen interpretativ gewonnen - mit all den Problemen und Risiken, potenziellen Irrtümern und Revisionsnotwendigkeiten, die mit der Verwendung empirischer Verfahren verbunden sind:
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>>Wenn in der Kritischen Psychologie von >Ableitung< die Rede ist, so ist damit kein formallogischer Deduktionsprozess gemeint, sondern ein logisch-historischer Rekonstruktionsprozess [ ... ],der[ ... ] immer auch empirische Momente enthält, deswegen wie jede empirische Aussage vorläufiger Art und im weiteren Forschungsprozess einer Korrektur fähig und bedürftig ist.« (Holzkamp 1983, 68, Fn 1) Mit den »Kategorien«, die auf diese Weise gewonnen werden sollen (und gewonnen wurden), sind »diejenigen Grundbegriffe gemeint, mit welchen in einer empirischen Wissenschaft oder in übergreifenden Arbeitsrichtungen innerhalb dieser Wissenschaft (ob implizit oder bewusst) ihr Gegenstand, seine Abgrenzung nach außen, sein Wesen, seine innere Struktur, bestimmt sind (in der Physik sind derartige Kategorien etwa >Masse<, >Energie<, >Kraft< etc.). Solche Kategorien schließen stets bestimmte methodologische Vorstellungen darüber ein, wie man wissenschaftlich vorzugehen hat, um den Gegenstand adäquat zu erfassen.« (Holzkamp a.a.O., 27) Eine der historisch-empirisch gewonnenen Kategorien der Kritischen Psychologie ist etwa >>Handlungsfähigkeit«, und sie ist gedacht als empirisch begründeter Gegenbegriff zur Kategorie des (reizgesteuerten) »Verhaltens«. Von den Kategorien sind >>Einzeltheorien« zu unterscheiden, die auf der Basis der jeweiligen Kategorien formuliert werden: Der den Leserinnen und Lesern in diesem Buch mehrfach begegnete Zusammenhang von >intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz< ist ein Beispiel für eine Einzeltheorie im Rahmen behavioristischer Kategorien (>>Reiz«, >>Reaktion«, >>Verstärkung«). Die Relevanz der Unterscheidung von Kategorien und Einzeltheorien ergibt sich dann, wenn Streitfragen um Einzeltheorien nur gelöst, zumindest begriffen werden können, wenn sie auf die Kategorien zurückbezogen werden, in deren Rahmen sie formuliert wurden. Welche Bedeutung diese Theorie hat, lässt sich nur dann klären, wenn man ihre >übergeordneten< kategoriale Ebene (Reiz, Reaktion, Verstärkung) in Rechnung stellt. Hier: Sie ist (bei Menschen) nur dann methodisch durchzusetzen, wenn die Menschen in einer Situation sind, die für sie völlig undurchschaubar ist und in der sie von bedeutungsvermitteltem Lernen absehen müssen. Wenn es dagegen um eine Theorienkonkurrenz innerhalb des kategorialen ReizReaktions-Rahmens geht, ist es überflüssig, die kategoriale Ebene zu bemühen. Ob der Einfluss von Minderheiten auf Mehrheiten mehr von (u.a.) der Größe der Minderheit (Latane 1981) oder der Konsistenz ihrer Meinungsäußerungen (Moscovici 1994) abhängt, versuchen die Autoren letztlich im Banne eines (kognitiv erweiterten) Reiz- und Reaktions-Rahmens zu klären. AufTheorienkonkurrenz innerhalb des kategorialen Rahmens der Kritischen Psychologie werde ich im Methodenkapitel zurückkommen.
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Mit unserer Argumentation zur intermittierenden Verstärkung ist allerdings nicht nur die theoretische Ebene strittig, sondern auch die kategoriale: Reiz gegen Bedeutung. Zur weiteren Klärung müssen wir nun zu einer weiteren Ebene kommen, die Holzkamp die »gesellschaftstheoretische Ebene« nennt (ebd.). Hiermit ist die Ebene gemeint, die in Kap. 5 mit der Bedeutung der marxschen »Kritik der politischen Ökonomie« für die Entwicklung der Kritischen Psychologie angesprochen war, und die in grundlegenden Gedankenformen oder Kritikfiguren wie der »Personalisierung«, der »Naturalisierung«, der »Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit« oder in der Vernachlässigung gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse zum Ausdruck kommt. Hier wäre dann am Beispiel die Frage aufzuwerfen, ob reizgesteuertes Verhalten eine für die gesellschaftlichen, sich in ihren Verhältnissen bewegenden Menschen relevante Kategorie sein kann. Die Bedeutung dieser Ebene wird sich in den Kapiteln zur gesamtgesellschaftlich vermittelten Existenz des Menschen und zur restriktiven vs. verallgemeinerten Handlungsfahigkeit zeigen. Diese Ebene ist bei Holzkamp schließlich von einer vierten Ebene, der »philosophischen«, abgesetzt, in der es um Entgegensetzungen bzw. Kategorisierungen wie >»mechanisch-materialistisch<, >idealistisch<, >subjektivistisch< o.ä.« geht (ebd.), in der also Konzeptionen der psychologischen und der gesellschaftstheoretischen Ebene in einen weiteren philosophiegeschichtlichen und erkenntnistheoretischen Zusammenhang gestellt werden. Diese vier hier vorgestellten Bezugsebenen, die Holzkamp im genannten Kontext von >oben nach unten< diskutiert, • die philosophische, • die gesellschaftstheoretische, • die kategoriale und • die einzeltheoretische Ebene haben also die Funktion, Kontroversen, die auf der jeweils unteren Ebene liegen, besser begreifbar zu machen: Probleme, die auf einer Ebene nicht gelöst werden können, müssen auf der nächst höheren verhandelt werden. Was die Ebene der Kategorien angeht, so sollen diese- unter Bezug auf ihre historisch-empirische Gewinnung -in ihrer Begründung, in ihren gesellschaftstheoretischen und philosophischen Bezügen und in ihrer Relevanz für die Formulierung von Einzeltheorien durchschaubar bzw. rational diskutierbar werden.
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7. Das Verfahren der kritisch-psychologischen Kategorialanalyse 7.1 Darstellungsquellen und die Bedeutung des historischen Paradigmas in der Psychologie für die Kritische Psychologie Nachdem ich im vorigen Kapitel Logik und Programm der wissenschafts- und gegenstandsbezogenen historischen Analyse und die Kontroverse darum skizziert habe, will ich in Kap. 7 bis 12 Durchführung und Ergebnisse der gegenstandsbezogenen historischen Analyse, also der Gewinnung psychologischer Kategorien darstellen. Diese Darstellung hat das Ziel, den methodischen Prozess und Progress der Kategorialanalyse durchsichtig zu machen. Sie ist aber insofern resultativ, als im Laufe der Zeit revidierte Ergebnisse (vgl. Maiers & Markard 1987b, 20ff) nicht eigens rekonstruiert werden, sondern der methodisch und inhaltlich jeweils gültige Stand dargestellt wird; und sie ist insofern exemplarisch, als nicht alle Ergebnisse und Zwischenergebnisse in gleicher Ausführlichkeit berichtet werden, sondern dem Übergang von der Natur- zur Gesellschaftsgeschichte, der gesellschaftlichen Natur des Menschen und seiner gesamtgesellschaftlich vermittelten Existenz der größte Raum gegeben wird. Die die Kategorialanalyse fundierenden Arbeiten wurden in einem engen Zeitraum von nur drei Jahren in der Schriftenreihe »Texte zur Kritischen Psychologie« des Campus-Verlages publiziert: von Klaus Holzkamp (»Sinnliche Erkenntnis«, 1973), von Ute Holzkamp-Osterkamp (»Grundlagen der psychologischen Motivationsforschung«, 1975 und 1976, wobei große Teile des zweiten Bandes der Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse gewidmet sind), von Volker Schurig (»Naturgeschichte des Psychischen«, 1975a und b, und »Entstehung des Bewusstseins, 1976), von Gisela Ulmann (»Sprache und Wahrnehmung«, 1975) und von Rainer Seidel (»Denken«, 1976). Holzkamps Hauptwerk- »Grundlegung der Psychologie« (1983)basiert auf diesen Arbeiten; er hat sie dort integriert und darin verwendete Ergebnisse bzw. erzielte Resultate wesentlich weiter entwickelt. Insofern ist dieses Buch auch hier Referenz der Darstellung. Holzkamps »Grundlegung der Psychologie« ist Alexej Nikolajewitsch Leontjew (1903-1979) gewidmet, weil dessen Arbeiten vor allem aus den 30er bis 50er Jahren des 20. Jahrhunderts »bei den wissenschaftlichen Bemühungen, die bloße >Kritik< der bürgerlichen Psychologie zu einer >kritischen Psychologie< weiterzuentwickeln [... ] entscheidende Bedeutung hatte[n]. Auf der Basis leontjewscher Grundkonzeptionen setzte sich auch die Einsicht immer stärker durch, dass marxistisch fundierte Psychologie nicht in abstrakten >wissenschaftstheoretischen< StandpunktDebatten mit dem positivistischen Lager, sondern nur in wirklicher Forschungsarbeit ihre wissenschaftliche Überlegenheit und kritische Kraft entfalten kann.<< ( Holzkamp & Schurig 1973, LI)
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Diese Arbeiten Leontjews sind 1973 in deutscher übersetzung mit dem Titel »Probleme der Entwicklung des Psychischen« erschienen. Holzkamps & Schurigs Einleitung zu diesem Band, aus der ich gerade zitiert habe, führt nicht nur- aus der Sicht der Kritischen Psychologie- in das Werk Leontjews ein, sondern setzt es auch ins Verhältnis zu anderen russischen/sowjetischen Autoren (etwa Pawlow, Rubinstein), insbesondere zu denen der »Kulturhistorischen Schule« (Lurija, Wygotski, Galperin), zu der Leontjew selber gehörte. Zentral für die Entstehung der Kritischen Psychologie waren vor allem Leontjews Grundansatz des »historischen Herangehensan die Untersuchungen der menschlichen Psyche« (1973, 262-310, ursprünglich 1959 publiziert [Saporoshez 1973,465, 469]) und sein mit diesem Grundansatz verbundener Fokus auf »Tätigkeit« als wesentlicher psychologischer Kategorie, womit, anders als in der Terminologie der Kritischen Psychologie, bei Leontjew auch vormenschliche Aktivitäten bezeichnet werden, während in der Kritischen Psychologie »Tätigkeit« aus terminologischen Gründen nur zur Kennzeichnung der »spezifisch menschlichen Weise der Aktivität reserviert« ist (Holzkamp 1983, 70, Fn 1). Der wesentliche von Holzkamp & Schurig (1973, XLVIff) vorgetragene Einwand gegenüber Leontjews Durchführung des »historischen Herangehens« ist, dass der Gedanke der Historizität des Psychischen in Leontjews »Forschungsarbeit nicht überall mit gleicher Entschiedenheit Berücksichtigung« gefunden habe (a.a.O., XLVI; Herv. M.M.), was vor allem darin zum Ausdruck komme, dass die Gesellschaftlichkeit des Menschen, das Verhältnis von gesellschaftlicher und individueller Reproduktion, zwar allgemein bestimmt und in seiner psychologischen Relevanz herausgearbeitet, dann aber nicht mehr formationsspezifisch konkretisiert worden sei. Wie auch immer allgemeine Züge menschlicher Gesellschaftlichkeit charakterisiert würden (zu spezifischen Problemen vgl. Maiers & Markard 1987b, 20ff)in jedem Fall stellten sie eine »gedankliche Abstraktion« dar, die nicht mit konkreten Lebensverhältnissen verwechselt werden dürfe (Holzkamp & Schurig 1973, XLVII). Sonst würden nämlich die konkreten gesellschaftlichen (>sowjetischen< oder >bürgerlichen<) Lebensverhältnisse jeweils zu allgemein menschlichen geraten bzw. die jeweiligen gesellschaftlichen Widersprüche eliminiert werden: Leontjew selber hat das so gefasst: Dann »verliert die Psychologie ihre historische Konkretheit und wird zur Wissenschaft vom Psychischen des abstrakten Menschen, des Menschen an sich« (1973, 245). Er hat diesen Anspruch aber unzureichend eingelöst. Der Umstand also, dass Menschen ihre Lebensbedingungen produzieren, dass sie sich »Bedeutungen« »aneignen« müssen etc., sagt noch nichts darüber, wie und unter welchen Umständen, in welchem Verhältnis von Ermöglichungen und Behinderungen, mit welchen Risiken sie dies tun. In Holzkamps »Grundlegung der Psychologie«, wird Leontjews Ansatz als »historisches Paradigma« gewürdigt, das die Kritische Psychologie »auf-
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greift und fortsetzt« (1983, 47; vgl. auch 46f.; zur differenzierten Auseinandersetzung mit Leontjew vgl. Keiler 1976, 1983, 1988a und b). Konkret allerdings beschränkt sich der inhaltliche Bezug Holzkamps auf Leontjews Herausarbeitung der Grundform des Psychischen (s.u., Kap. 7.4; Holzkamp 1983, 67f). Ich werde diesen Differenzen nicht im Einzelnen nachgehen, sondern mich, im Sinne einer Einführung in die Kritische Psychologie auf deren eigene Beiträge zur Kategorialanalyse beschränken. 7.2 Zum Verhältnis von »Vorbegriffen« und Kategorien und die Geschichtlichkeit des Gegenwärtigen Wie dargelegt, geht die historische Rekonstruktion des Psychischen von psychologisch relevanten »Gegebenheiten« aus, wie sie in alltäglichen oder psychologisch-wissenschaftlichen (oder auch aus anderen Disziplinen wie der Soziologie oder Erziehungswissenschaft stammenden) Begriffen eben »gegeben« sind, etwa in Begriffen wie >>Verhalten«, »Handeln«, »Verdrängung«, »Emotion«, »Identität«, »Rollenverhalten«, »kognitive Dissonanz«. Das Erkenntnisziel besteht darin, das in den Begriffen Gegebene als Resultat einer historischen Entwicklung begreifen zu können - im >»historische[n] Paradigma, mit welchem die bisher ausgeklammerte umfassende historische Dimension menschlicher Existenz in der Individualwissenschaft/Psychologie zur Geltung gebracht werden soll« (Holzkamp 1983, 47). Dies entspricht dialektischem Denken insofern, als dieses Denken Entwicklung nicht nur als allgemeine Kategorie des Daseins fasst, sondern so, dass das Erkenntnissubjekt selber sich als Teil des Bewegungs- und Entwicklungsprozesses reflektieren muss. Dies ist nicht nur auf gesellschaftliche Entwicklungsprozesse zu beziehen, sondern auch auf die Naturgeschichte, und zwar deswegen und so weit, wie menschliches Leben auch als deren Resultat verstanden werden muss. Es geht ja um den Zusammenhang von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte. Die vorfindliehen Begriffe, von denen die historische Rekonstruktion des Psychischen ausgeht, nennt Holzkamp »Vorbegriffe« (a.a.O., 50, 194, 515). Damit sollen diese Begriffe nicht formal diskreditiert werden, sondern es soll damit >nur< zum Ausdruck kommen, dass sie noch nicht kategorialanalytisch, also noch nicht im Sinne des historischen Paradigmas, untersucht worden sind. Die Vorbegriffe repräsentieren das, was Marx in seiner methodischen Bemerkung aus den »Grundrisse[n] der Kritik der politischen Ökonomie« {1857/58, 35) als »vorgestellte(s] Konkrete[s]« (Vorstellungskonkretum) bezeichnet, als den Ausgangspunkt der Analyse. In seinem Text nimmt er den (Vor-) Begriff »Bevölkerung«:
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»Es scheint das richtige zu sein, mit dem Realen und Konkreten, der wirklichen Voraussetzung zu beginnen, also z.B. in der Ökonomie mit der Bevölkerung, die die Grundlage und das Subjekt des ganzen gesellschaftlichen Produktionsakts ist. Indes zeigt sich dies bei näherer Betrachtung [als] falsch.<< (A.a.O., 34f) Und zwar dann, wenn ich das Vorstellungskonkretum schon für das begriffene, auf den Begriff gebrachte Gegebene halte. Dies erläutert Marx folgendermaßen: >>Die Bevölkerung ist eine Abstraktion, wenn ich z.B. die Klassen, aus denen sie besteht, weglasse. Diese Klassen sind wieder ein leeres Wort, wenn ich die Elemente nicht kenne, auf denen sie beruhn, z.B. Lohnarbeit, Kapital etc. Diese unterstellen Austausch, Teilung der Arbeit, Preise etc. Kapital z.B. ohne Lohnarbeit ist nichts, ohne Wert, Geld, Preis etc. Finge ich also mit der Bevölkerung an, so wäre das eine chaotische Vorstellung des Ganzen, und durch nähere Bestimmung würde ich analytisch immer mehr auf einfachere Begriffe kommen; von dem vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta, bis ich bei den einfachsten Bestimmungen angelangt wäre. Von da, wäre nun die Reise wieder rückwärts anzutreten, bis ich endlich wieder bei der Bevölkerung anlangte, diesmal aber nicht als bei einer chaotischen Vorstellung eines Ganzen, sondern als einer reichen Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen.<< (A.a.O., 35) Das vorgestellte Konkrete, der Vorbegriff, ist also daraufhin zu >hinterfragen<, was zu seinen historischen Voraussetzungen gehört, was alles mit zu bedenken ist, was vorschnell ausgeblendet wird. Die von Marx empfohlene »Reise rückwärts<< führt zum Gedankenkonkretum, in dem das Vorstellungskonkretum begriffen ist: »Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen. Im Denken erscheint es daher als Prozess der Zusammenfassung, als Resultat, nicht als Ausgangspunkt, obgleich es der wirkliche Ausgangspunkt und daher auch der Ausgangspunkt der Anschauung und der Vorstellung ist.<< (Ebd.). Die »abstrakten Bestimmungen<< führen »zur Reproduktion des Konkreten im Weg des Denkens<< (ebd.), aber nicht dazu, dass Realität nur gedacht ist. Marx wendet sich gegen Hegels »Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen, während die Methode, vom Abstrakten zum Konkreten aufzusteigen, nur die Art für das Denken ist, sich das Konkrete anzueignen, es als ein geistig Konkretes zu reproduzieren.<< (Ebd.) Diese methodischen Passagen von Marx bilden den Hintergrund, wenn Holzkamp das Ausgehen von psychologischen Vorbegriffen »gemäß dem marxschen Prinzip des >Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten«< (1983, 56) so erläutert:
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Einführung in die Kritische Psychologie
»Im dialektischen Erkenntnisprozess muss [ ... ) das jeweils Gegenwärtige als zunächst bloß in der >Vorstellung< gegebene >erscheinende< Oberfläche mit zufälligen, gesetzten, unzusammenhängenden Bestimmungen in seiner geschichtlichen Gewordenheit und Bewegung gedanklich reproduziert und damit zugleich auf die in ihm liegenden Möglichkeiten weiterer Entwicklung hin expliziert werden.<< (A.a.O., 49) Die »kategoriale Struktur« der Vorbegriffe aufzuschlüsseln bedeutet, die »im Gegenwärtigen liegende >Historizität<« herauszuarbeiten (a.a.O., 51). Damit lassen sich als Anspruch und Ziel formulieren: »Im Ansatz an dem benannten Bereich der psychologischen >Vorbegriffe< haben wir nun also die verschiedenen Formen und Aspekte von kategorialen Bestimmungen herauszuarbeiten, die >vermischt< und tmexpliziert >in< bzw. >hinter< ihnen stecken, und nach deren Aufweis dann der Stellenwert der einzelnen Vorbegriffe im kategorialen Gesamtzusammenhang, damit auch ihr Zusammenha11g untereinander, klar werden kann. Damit wird als Resultat der Kategorialanalyse auch deutlich, in welcher Hinsicht die Vorbegriffe zu weit, zu eng, >schief<, in falschem Kontext, gefasst sind, welche wesentlichen Zusammenhänge in ihnen wegisoliert, welche zentralen Spezifizierungen und Präzisierungen in ihnen ausgeklammert sind etc. Der kategorialanalytische Durchgang vom Vorstellungskonkretum zum begriffenen Gedankenkonkretum ist also immer auch ein Prozess auf die Ausgangsbegriffe bezogener rückwirke11der Begriffskritik, wobei als Konsequenz dieser Begriffskritik andere begriffliche Fassungen oder auch gänzlich neue Begriffe konzipiert werden - [... ] im Resultat der wirklichen, historisch-empirisch fundierten Kategorialanalyse.<< (Ebd.) 7.3 Das »Psychische« als Grundkategorie
7.3.1 Charakteristika vor-psychischen »Lebens« Die allgemeinste Frage der Bestimmung des Psychischen ist die nach seiner Grundform. Die erste Aufgabe ist also die, das »Psychische<< als Grundkategorie zu bestimmen, eine Bestimmung, die folgende Anforderungen erfüllen muss: sie muss zur »allgemeinste[n) gegenstandskonstituierende[n] Grundkategorie der Individualwissenschaft/Psychologie« (a.a.O., 52) taugen, sie muss trennscharf sein gegenüber vor-psychischen Lebensformen bzw. diesen gegenüber eine qualitativ neue Entwicklungsstufe repräsentieren und ihre Eigenarten dürfen in den weiteren Entwicklungen und Differenzierungen nicht verloren gehen. Darüber, was »Leben« ist, zerbricht sich die Philosophie seit Jahrtausenden den Kopf, wie sich etwa aus den ca. 50 Seiten des Stichwortes »Leben<< im »Historischen Wörterbuch der Philosophie« (Bd. 5) ergibt. In unserem Argumentationszusammenhang geht es allerdings >nur< um biologische Lebenskriterien, die deswegen bestimmt werden müssen, damit das Psychische als eigene Spezifizierung von Leben abgegrenzt werden kann. Das macht
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das Problem einfacher, aber keineswegs einfach. In meinem Darstellungsrahmen beschränke ich mich darauf, Charakteristika zusammenzufassen, die Holzkamp (a.a.O., 60ff) anführt: die Fähigkeit der betreffenden Organismen zur Selbstreproduktion (Vermehrung durch Teilung und andere Formen), Stoffwechsel (Einfuhr und Ausfuhr von Energie) in definierten Umweltverhältnissen, Information. Der Aspekt »Information« bedeutet, dass der »Organismus auf bestimmte äußere Bedingungen nicht lediglich gemäß unspezifischen chemisch-physikalischen Gesetzen« reagiert; vielmehr setzt er »diese Bedingungen selektiv in (mindestens) innere Aktivität um, beantwortet also etwa den Kontakt mit stoffwechselrelevanten Gegebenheiten auf andere Weise als den mit stoffwechselirrelevanten Gegebenheiten«. Wie sich zeigen wird, ist für den weiteren Argumentationsgang der Begriff der »Reizbarkeit«, der für die angeführte selektive Informationsauswertung steht, von zentraler Bedeutung: »Organismische Aktivitäten unter dem Aspekt einer dergestalt selektiven Informationsauswertung werden >Reizbarkeit<, >Erregbarkeit< oder auch >Irritabilität< genannt und stellen eine elementare Eigenart von Lebensprozessen dar.« (A.a.O., 61)
7.3.2 Funktional-historische Analyse und Entwicklungswiderspruch Ich hatte oben schon dargestellt, warum die Rekonstruktion des Psychischen keine kausale Ableitung bedeuten kann. Die dargelegten Eigenarten des (vorpsychischen) »Lebens« machen es erforderlich, den Begriff der biologischen Funktion einzuführen, wie er auch für die Rekonstruktion des Psychischen relevant ist (zur weiteren Diskussion des Funktionsbegriffs vgl. Reitz 1999). Der Begriff der »Funktion« bezieht sich auf Merkmale, die für den »Effekt der Erhaltung bzw. Störung des Systemgleichgewichts« (ebd.) erforderlich sind. Die Funktion der Reizbarkeit besteht in den mit selektiver Informationsverarbeitung gegebenen Möglichkeiten. Der Funktionsbegriff bedeutet damit weder Ziel noch Norm. Es ist mit einem Bezug auf »Funktion« nicht gesagt, dass der betreffende Organismus Informationen selektiv verarbeiten soll, wohl aber, dass die Definition von Leben daran gebunden ist, dass diese Fähigkeit vorhanden ist. Der biologische Begriff der Funktion in der Rekonstruktion des Psychischen ist nur sinnvoll, wenn er (auch) als Relationsbegriff zwischen Organismus und Umwelt gefasst wird - wie er auch im Beispiel des vorpsychischen Lebenscharakteristikums »Reizbarkeit« nur im Verhältnis von Organismus und Umwelt Sinn macht: Die selektive Verarbeitung von Informationen ist eine Verarbeitung von Informationen auch aus der Umwelt des Organismus, im Bezug auf die das Systemgleichgewicht erhalten wird oder gestört ist. Außerdem muss diese jeweilige, aktuelle Beziehung zwischen Organismus und Umwelt in zeitlich weiterer Dimension als jeweiliges Entwicklungsresultat gesehen werden: im Zusammenhang mit den Notwendigkeiten der phylogenetischen Entwicklung, die sich über die Mechanismen der
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Mutation und Selektion als erweiterter Reproduktion vollzieht. Dabei steht nicht der einzelne Organismus im Fokus des Interesses, sondern dieser interessiert nur als Exemplar der Art. Die Erhaltung des einzelnen Organismus hat keinen eigenständigen funktionalen Stellenwert. Um Missverständnissen vorzubeugen: Dieses so bestimmte Verhältnis von einzelnem Organismus und der Population oder Art bezieht sich allein auf den Bereich der Evolution, nicht auf gesellschaftliche Verhältnisse. Das Verhältnis von Individuum und Art/Population dreht sich, wie sich später zeigen wird, auf der Ebene menschlicher Spezifik, wenn sich also aus der Organismus-Umwelt-Beziehung das Mensch-Welt-Verhältnis herausgebildet hat, radikal um. Dann ist die Erhaltung/Entwicklung des einzelnen Individuums der Zweck der Existenz- eine grundlegend neue Qualität der gesellschaftlichen gegenüber der evolutionären Entwicklung, die auch in jener Fassung des Kategorischen Imperativs zum Ausdruck kommt, Menschen nicht als Mittel zu behandeln, sondern sie als Zweck zu sehen. Der Umstand hingegen, dass es gesellschaftliche Zustände gibt, in denen Menschen als Mittel gebraucht, wenn nicht verbraucht, werden, bedeutet keine Relativierung oder Widerlegung der Bestimmung der Spezifik des Mensch-Welt-Verhältnisses. Vielmehr spricht der Umstand, dass Menschen zu Mitteln verkehrt werden, gegen gesellschaftliche Zustände, die die Differenz zwischen evolutionärer und gesellschaftlicher Spezifik - theoretisch und/oder praktisch - verwischen. (Ich komme darauf in Kap. 9.1 zurück). Insofern ist die (empirischhistorische) Herausarbeitung der kategorialen Differenz zwischen der Organismus-Umwelt-Beziehung und dem Mensch-Welt-Verhältnis ein Moment der Gesellschaftskritik- gegen die biologistische Übertragung evolutionärer Entwicklungsprinzipien auf die Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse so wie generell der wissenschaftliche Rekurs auf die Biologie die Beachtung deren Geltungsbereichs erfordert (vgl. Lux 2008), also auch die Kritik des Biologismus als der Überschreitung des Geltungsbereichs der Biologie in Richtung auf eine >biologische< Erklärung gesellschaftlicher Sachverhalte: »Diese Neubestimmung naturwissenschaftlicher Grundlagen [des Psychischen bzw. der Psychologie, M.M.] ermöglichen dann auch eine fundierte Auseinandersetzung mit sozialdarwinistischen Ideologien, soziobiologischen Überinterpretationen menschlichen Sozialverhaltens im Rahmen von Verwandtschaftsselektion und Fitnesskonzepten und dem Rassismus in seinen verschiedenen Schattierungen.« (Schurig 2006, 136) Der Funktionsbegriff verweist immer auf ein Verhältnis von Organismus und Umwelt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass in der Naturgeschichte Entwicklung mittels Selektion und Mutation sich vollzieht. Die naturgeschichtliche Bedeutung der Selektion besteht darin: Auf der Seite der Organismen ergeben sich Entwicklungsnotwendigkeiten aus Veränderungen ihrer Umweltbedingungen (z.B. Veränderungen der Vegetation, Aussterben
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von Beutetieren, klimatische Veränderungen). Wenn es derart zu einem evolutionären Entwicklungswiderspruch kommt, überleben nur die Arten, die sich den veränderten Bedingungen anpassen. Das Resultat einer solchen Anpassung - hier im Sinne einer auf die Gestalt bezogenen (»morphologischen«) funktionalen Anpassung -lässt sich am »Fisch« veranschaulichen: »Ein >Fisch< [... ]in seiner morphologisch-funktionalen Eigenart, äußere Form, Flossen, Schwimmblase, Kiemen, ist nur zu verstehen, wenn man weiß, dass er im Wasser lebt und dass bestimmte Eigenschaften dieses Mediums, vermittelt über die funktionalen >Notwendigkeiten< des Überlebens, sich in einer solchen Beschaffenheit des Fisches niederschlagen. Ein >Fisch< als solcher ist ein unbegreifliches Lebewesen. Die >Zweckmäßigkeit< der Eigenschaften und Einrichtungen des Fisches musste so lange als Resultat einer planvollen Schöpfung erscheinen, bis sich der Erkenntnis die historische Dimension eröffnete und man begriff, dass die >Zweckmäßigkeit< tatsächlich der Effekt eines Optimierungsprozesses ist, in welchem der Fisch sich gemäß den Evolutionsgesetzen auf das Wasser >hinentwickelte<. Das >Wasser< als objektiver Weltausschnitt wurde so in bestimmten Dimensionen zu den objektiven Lebensbedingungen für den Fisch als seine >artspezifische Umwelt<, und zwar in solchen Dimensionen, die sich in den morphologisch-funktionalen Beschaffenheitendes Fisches >funktional widerspiegeln<<< (Holzkamp 1977b, 149).
Diese >>funktionale Widerspiegelung« hat zum Inhalt, »dass sich die Oberlebensfähigkeit des Fisches (präziser: die Fortpflanzungswahrscheinlichkeit von Fisch-Populationen) in einer Umwelt mit diesen Eigenschaften erhöht« (ebd.). In diesem Zusammenhang bedeutet »Mutation« Folgendes: Die erwähnte Fähigkeit der Organismen zur Selbstreproduktion ist mit immer wieder auftretenden- zufälligen- >Kopierfehlern< verbunden, die- vererbbar-in den weiteren Reproduktionsprozess eingehen und ihn modifizieren. Das Prinzip der >>Selektion<< muss man sich als auf der Mutation basierend vorstellen, und zwar so, dass zwar Evolutionsmechanismen grundsätzlich über die Veränderung der genetischen Ausstattung der Organismen wirken, der Selektion aber insofern eine »Sonderstellung zukommt, als nur durch sie das Erbgut gerichtet verändert wird« (Holzkamp 1983, 63 ). Nur die Mutationen sind entwicklungsrelevant, die für die Organismen eine Anpassungs- und Überlebensfunktion besitzen. Fassen wir zusammen: >>Funktional-historische Analyse« ist die für die Rekonstruktion der Psychophylogenese spezifische Methode des historischen Paradigmas. Es geht um die Rekonstruktion von Entwicklungswidersprüchen in Organismus-Umwelt-Konstellationen, aus denen Entwicklungen in ihrer biologischen Funktionalität begreifbar werden- und zwar bezogen auf jene Evolutionsreihe, die zum Menschen hinführte, und dies unter dem Gesichtspunkt der Entstehung und Differenzierung des Psychischen. Dabei soll es mög-
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lieh werden, eine Passung von genetisch Früherem bzw. Späterem und begrifflich Allgemeinerem bzw. Spezifischerem zu entwickeln, d.h. die »realen Entwicklungsverhältnisse der Psychephylogenese in einem >genealogischen< System über-, neben- und nachgeordneter Begriffe abzubilden« (Maiers 1999, 1134) und damit die gegenwärtige psychische Organisation des Menschen auf die darin aufgehobenen Entwicklungen analysierbar zu machen. Die Evolution >durchzugehen< bedeutet also nicht das - ohnehin sinnlose - Unterfangen, diese in Gänze nachzuerzählen, sondern sie unter den genannten Gesichtspunkten und, wie oben angeführt, unter Nutzung interdisziplinären Materials zu strukturieren, besser: zu rekonstruieren. Es geht mit den geschilderten Mitteln darum, die Logik der Entwicklung des Psychischen aus Entwicklungswidersprüchen zu rekonstruieren. Insofern ist die funktional-historische Analyse eine spezifische Variante des logisch-historischen Verfahrens, darin auch »nicht einfach eine eklektizistische Sammlung interessanter Daten, sondern eine kritische Synthese verschiedener Erklärungsansätze« (Schurig 2006, 142). Werden derartige Analysen durch die Genforschung nicht hinfällig? Nein: Die Analyse molekular-genetischer Strukturen kann die funktional-historische Analyse (etwa in der Klärung von Artenverwandtschaften) zwar ergänzen, nicht aber ersetzen. Denn »Gene« als Motoren evolutionärer Entwicklung zu fassen geht daran vorbei, dass Gene der» Einbettung in Zellen von Organismen« bedürfen, welche nicht bloß sozusagen Vehikel der Gene sind. Weder Gene noch die Umgebung determinieren »als solche« Entwicklung: »Beide sind die stofflichen (materiellen) Voraussetzungen, aus denen Organismen sich in ihrer Selbstbewegung [... ] konstruieren.« (Maiers 2002, 36) Mit dem Bezug auf biologische Funktionalität wird auch deutlich, dass die funktional-historische Analyse in ihrem Anwendungsbereich auf evolutionäre Prozesse beschränkt ist, die Analyse des Psychischen auf menschlicher Spezifik also anderer, später darzustellender Vergehensweisen bedarf. Veranschaulichen möchte ich die funktional-historische Analyse in praxi im Folgenden an der Herausarbeitung der Grundform des Psychischen. 7.4 Sensibilität als »Grundform« des Psychischen und Probleme des historischen Herangehens Wie gesagt, orientierte sich die Kritische Psychologie in dieser Frage nicht nur methodisch, sondern auch inhaltlich an A.N. Leontjew ( 1973, 35ff), der an der oben erwähnten »Reizbarkeit« als einem Charakteristikum vor-psychischen Lebens ansetzt und davon »Sensibilität« abhebt. Holzkamp, dessen Darstellung ich hier folge ( 1983, 67ff), fasst »Sensibilität« als Fähigkeit, »Realzusammenhänge zwischen stoffwechselneutralen und stoffwechselrelevanten Instanzen der Umwelt so zu erfassen, dass daraus eine gerichtete Ortsveränderung des Organismus zur Erlangung der stoffwechselrelevanten Gege-
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benheiten resultiert, indem die stoffwechselneutrale Instanz als >Signal<, also Information über den Ort der stoffwechselrelevanten Gegebenheiten ausgewertet wird« (a.a.O., 70f).
Logisch sind dafür zwei vor-psychische Voraussetzungen in Rechnung zu stellen: l. Die Fähigkeit zur Ortsveränderung, die man wohl auch als empirisch gegeben annehmen kann, da schon Einzeller bei Störungen wie Nahrungs- oder Sauerstoffmangel zu ungerichteten Bewegungen (»Kinesen«) in der Lage sind. 2. Reizbarkeit durch stoffwechselneutrale Gegebenheiten, die ja dann bei Sensibilität Signalfunktion erhalten. Auch diese Voraussetzung kann als empirisch gegeben angenommen werden, da Einzeller auf nicht assimilierbare, also nicht unmittelbar stoffwechselrelevante Gegebenheiten reagieren: etwa auf Lichteinwirkung. Will man nun nachvollziehbar machen, dass sich auf der Basis dieser beiden organismusbezogenen Voraussetzungen (Fähigkeit zur Ortsveränderung und Reizbarkeit für stoffwechselneutrale Gegebenheiten) Sensibilität entwickelte, muss unter Einbeziehung der Umwelt ein Entwicklungswiderspruch angenommen werden, der zum Schub in die Richtung von »Sensibilität« führte. Plausibel ist hier auf der Umweltseite ein Mangel an assimilierbaren, also stoffwechselrelevanten Stoffen - eine Situation, in der für Organismen, die besser in der Lage sind, sich an Nahrungsquellen so »gerichtet heranzubewegen, dass diese in Kontakt mit der Oberfläche des Organismus kommen, also assimiliert werden können, ein Selektionsvorteil entsteht« (a.a.O., 72). Dies setzt allerdings logisch noch mehr voraus: Die Nahrungsquellen, an denen Mangel herrscht, dürfen nicht völlig in Wasser aufgelöst sein, sondern sie müssen so ausgeformt sein, dass man sich auf sie zu bewegen kann. Die neutralen Agentien müssen so identifizierbar sein, das sie als Signale dienen können. Außerdem müssen die Nahrungsquellen und die neutralen Agentien »SO häufig in einem konstanten zeitlichen und/oder räumlichen Verhältnis zueinander stehen, dass die neutralen Instanzen tatsächlich in biologisch funktionaler Weise als >Signale< für die Hinbewegung auf die Nahrungsquelle ausgewertet werden können« (a.a.O., 73). Zum Verständnis der funktional-historischen Analyse als eines historischempirischen Verfahrens ist m.E. von höchster Wichtigkeit zu begreifen, dass diese Analyse viele empirische Lücken hypothetisch oder nach - besten, argumentativen - Plausibilitätserwägungen schließen oder >überspringen< muss. Das lässt sich gerade an den eben skizzierten Voraussetzung der Umweltbedingungen für die Entstehung der Sensibilität als der Grundform des Psychischen gut aufzeigen, ebenso der Umstand, dass nur bei besseren - aber nicht verfügbaren Alternativen - auf dieses Verfahren verzichtet werden könnte. Die für die Fassung des Organismus-Umwelt-Entwicklungswiderspruchs notwendigen Umweltbedingungen
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»lassen sich realhistorisch kaum aufweisen, weil die Zeit und der Ort der Entstehung von Sensibilität nicht präzise fixierbar und genaue Daten über die dabei abgelaufenen ökologischen Veränderungen nicht gewinnbar sind. Es handelt sich also empirisch gesehen lediglich um reale Möglichkeiten: Es spricht nichts dagegen, dass die genannten Umstände während des Prozesses der Entstehung der Sensibilität vorgelegen haben. Logisch-historisch gesehen handelt es sich dabei jedoch um entwicklungsnotwendige Voraussetzungen für das Zustandekommen der zur evolutionären Progression in Richtung auf >Sensibilität< führenden Widerspruchsverhältnisse: Auf andere Weise lässt sich- unter Anerkennung der geschilderten Gesetzmäßigkeiten evolutionärer Entwicklung - die Entstehung der Sensibilität nicht erklären. Die Alternative wäre hier also nur, die gewählten hypothetischen Ausgangsbestimmungen des Psychischen aufzugeben, was nur angesichts (für mich nicht sichtbarer) anderer Konzepte des Psychischen mit sonst gleichem wissenschaftlichem Wert, aber an dieser Stelle besserer empirischer Ausweisbarkeit, sinnvoll wäre.<< (A.a.O., 73f) Zum weiteren - hypothetischen - Verlauf des Entwicklungswiderspruchs argumentiert Holzkamp folgendermaßen: Die beiden Organismus-Voraussetzungen - Reizbarkeit für stoffwechselneutrale Gegebenheiten (etwa Licht) und Fähigkeit zur Ortsveränderung (etwa bei Nahrungsmangel)- stehen zunächst unverbunden nebeneinander. Welche »realen Möglichkeiten« der Entwicklung gibt es nun, die plausibel machen, dass diese beiden Voraussetzungen in einen spezifischen Zusammenhang treten, der zur Sensibilität führt? Holzkamp schlägt folgendes Gedankenmodell vor: Relevante Nahrungsstoffe befinden sich vor allem an der hellen Wasseroberfläche; zunächst gerät der bewegungsfähige und lichtempfindliche Organismus zufällig in diese Region. Unter Selektionsdruck werden nun »die Dimension der Ortsveränderung und die Dimension der Lichtempfindlichkeit im Organismus quasi >kurzgeschlossen<, nämlich in einem Steuerungssystem integriert, in welchem Ortsveränderung und Lichtempfindlichkeit nicht mehr unabhängig sind, sondern die Lage der Lichtquelle als Richtungsbestimmung für die Ortsveränderung auswertbar ist« (a.a.O., 74). Funktional-historisch von Belang ist der neue Funktionszusammenhang
der Reizbarkeit für stoffwechselneutrale Gegebenheiten und der Fähigkeit zur bzw. der Realisierung der Ortsveränderung: Darin werden Ortsveränderungen zu »elementaren Orientierungsaktivitäten« und Reizbarkeit gewinnt als Sensibilität Signalfunktion- mit den damit eröffneten erweiterten Möglichkeiten der Nutzung von Nahrungsquellen (bzw. der Vermeidung von »schädlichen Einflüssen«) (a.a.O., 75). Holzkamp warnt nun davor anzunehmen, dass mit der skizzierten Entwicklung schon eine qualitativ neue Stufe der Entwicklung erreicht sei. Warum? Das historisch-logische Verfahren (hier in seiner Variante der funktional-historischen Analyse) will ja die Gleichzeitigkeit, den wider-
sprüchlichen Zusammenhang, von Kontinuität und qualitativ neuen Ebenen
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nachvollziehbar machen. Die Natur selber mag keine Sprünge machen, aber im Prozess der Naturgeschichte können wir qualitativ neue Ebenen rekonstruieren. In diesem Sinne betont Holzkamp, dass Sensibilität als neue Möglichkeit kaum von Anfang an schon eine wesentliche Funktion besitzen könne, dass vielmehr zu Beginn dieser Entwicklung die vor-psychischen Organismus-Umwelt-Beziehungen noch bestimmend seien, der Sensibilität dementsprechend eine zunächst bloß untergeordnete Funktion zukomme. Erst allmählich, so Holzkamp, erhält die neue psychische Stufe der Entwicklung eine bestimmende Funktion, womit auch die vorpsychischen Formen der Lebenserhaltung (direkte Assimilation von Nahrungsstoffen in unmittelbarer Umgebung) sekundär werden. Erst der »Wechsel der Sensibilität von der untergeordneten zur bestimmenden Funktion, also die Dominanzumkehr der direkten und der signalvermittelten Form der Nahrungsaufnahme, ist gleichbedeutend mit dem qualitativen Umschlag zur neuen >psychischen< Stufe der phylogenetischen Gesamtentwicklung« (a.a.O., 76f) - mit einer neuen Entwicklungsrichtung, in der sich der gesamte Organismus umstrukturiert: Nahrungsaufnahme nicht mehr durch die >Haut<, neue Sinnesorgane etc., was nun bezüglich der weiteren Entwicklung des Psychischen in der weiteren Verfolgung der Psychophylogenese herauszuarbeiten sei, andererseits die gezeigte Herausbildung der Sensibilität zur Voraussetzung habe. 7.5 Die fünf Schritte der funktional-historischen Analyse des Umschlags von Quantität in Qualität Die Herausbildung der Sensibilität steht für eine neue Qualität der Organismus-Umwelt-Beziehung, für den Umschlag von Quantität in Qualität und den widersprüchlichen Zusammenhang von Kontinuität und qualitativ neuen Ebenen in der Psychophylogenese. Die Art und Weise, wie diese neue Qualität herausgearbeitet (oder historisch rekonstruiert) wurde, lässt sich methodisch verallgemeinern. Diese Vorgehensweise lässt sich als eine Folge von fünf Schritten darstellen, in denen die funktional-historische Analyse im Sinne einer »methodischen Leitlinie« operationalisierbar ist (vgl. Holzkamp 1983, 78-81; Maiers 1999, 1135f; alle Zitate nach Holzkamp, im Orig. z.T. herv.), und auf die ich bei der Darstellung des Tier-Menschübergangsfeldes zurückkommen werde. 1. »Aufweis der realhistorischen Dimensionen innerhalb der jeweils früheren Stufe, auf denen der qualitative Umschlag sich vollzieht«. (78) Bei der Grundform des Psychischen sind dies zwei Dimensionen: Fähigkeit zur ungerichteten Ortsveränderung und Reizbarkeit für stoffwechselneutrale Gegebenheiten, zwei Potenzen, die aber unverbunden nebeneinander existieren.
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Diese Dimensionen müssen von den Analysierenden, die das Resultat der Entwicklung kennen, im Wissen um dieses Entwicklungsresultat aktiv herausgehoben werden; es geht ja darum, verständlich zu machen, wie das- bekannte- Resultat sich entwickeln konnte. Es soll(en) also- auf der Organismus-Seite- die Dimension(en) bestimmt werden, die in der neuen Entwicklung aufgehoben sind, womit dann auch festzustellen sein soll, worin die Spezifik der neuen Entwicklungsstufe besteht. 2. »Aufweis der objektiven Veränderungen der Außenweltbedingungen, mit denen der >innere< Entwicklungswiderspruch, durch welchen die neue Qualitätsstufe in evolutionärer Progression hervorgebracht werden kann, in seinem Umwelt-Pol zustande kommen soll«. (79) Im Falle der Herausbildung der Grundform des Psychischen: relativer Nahrungsmangel bei einem bestimmten räumlichen Verhältnis zwischen Helligkeit (als Signal auswertbar) und Vorkommen der ausgeformten Nahrungsdichte. Kriterium für die Relevanz der Umweltveränderungen ist, ob diese dazu taugen, einen spezifischen Selektionsdruck in Richtung auf die zu rekonstruierende Entwicklung verständlich zu machen. Es muss sich um eine, wenn man so will, mittlere Centwicklungsbezogen bedeutet das: optimale) Diskrepanz zwischen l)mwelt-Anforderungen und Organismusmöglichkeiten (bezüglich der thematisierten Entwicklungsdimensionen) handeln: Wenn die Diskrepanz zwischen Umwelt-Anforderungen und Organismusmöglichkeiten das mittlere oder optimale Maß weit überschreitet, handelt es sich nicht mehr um einen Entwicklungswiderspruch, sondern um ein Missverhältnis (äußerer Widerstreit), das entwicklungsbezogen nicht (mehr) vermittelt werden kann. Die Art stagniert oder stirbt aus. 3. »Aufweis des Funktionswechsels der (im ersten Schritt) aufgewiesenen relevanten Dimensionen als >Organismus-Pol< des Entwicklungswiderspruchs, damit der Entstehung des ersten qualitativen Sprungs der Herausbildung der Spezifik der neuen Funktion unter den veränderten Außenweltbedingungen«. (79) Mit diesem Zwischenschritt zur Veränderung des Gesamtsystems soll dessen qualitativer Umschlag präziser abgebildet werden, so dass das Verhältnis von Kontinuität und qualitativem Sprung besser nachvollzogen werden kann: In der Evolution als zeitlich sich lang erstreckendem Prozess mit >langsamen< kontinuierlichen Entwicklungen kann man sich eine neue organismusbezogene Funktion nicht so vorstellen, dass sie sich plötzlich durchsetzt; vielmehr muss sie sich allmählich, in kleinsten Anfängen zeigen, nur sporadisch, einige Zeit nicht, dann wieder doch. Wie lange derartige Veränderungen >brauchen<, lässt sich allgemein nicht beant-
worten, da dies sowohl von Art und Ausmaß der betreffenden Veränderung und den Umwelteigenschaften abhängt.
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Im Falle der Herausbildung der Grundform des Psychischen: Die bloß ungerichtete Ortsveränderung und die Reizbarkeit für stoffwechselneutrale Gegebenheiten werden zu einem neuen Funktionszusammenhang verbunden, der signalvermittelten Orientierungsaktivität. Dies ist die Grundform des Psychischen (»Sensibilität«). Dieser dritte Schritt ist insofern im gesamten Fünfschritt bedeutend, als mit diesem Schritt die neue Spezifik herausgearbeitet wird. Holzkamp hat sich hierbei auf Beurton (1975) bezogen, bei dem es heißt: »Das Problem des Funktionswechsels ist von besonderer Bedeutung im Rahmen der Stammesgeschichte, da er überhaupt den Schlüsselliefert für die Erklärung, wie evolutiv Neues entstehen kann, wie neue aus alten Qualitäten hervorgehen, kurz, wie es eine Evolution geben kann, die mehr als bloße Veränderung ist.« (A.a.O., 915) Die analytische Bedeutung dieser Stufe ergibt sich daraus, dass die neue spezifische Funktion noch nicht das ganze Erhaltungssystem des Organismus bestimmt, sondern noch im Dienste des bestehenden Systems steht. 4. »Aufweis des Dominanzwechsels zwischen der für die frühere Stufe charakteristischen Funktion und der neuen Funktion, womit durch einen zweiten qualitativen Sprung die qualitativ spezifische Funktion auch die für die gesamte Systemerhaltung bestimmende Funktion wird«. (80) Im Falle der Herausbildung der Grundform des Psychischen: der Dominanzwechsel zwischen unmittelbarer und signalvermittelter Nahrungsaufnahme. 5. »Aufweis der Umstrukturierung und neuen Entwicldungsrichtung des Gesamtsystems, nachdem die qualitativ spezifische Funktion für die Systemerhaltung bestimmend geworden ist.« (80) Im Falle der Herausbildung der Grundform des Psychischen: Verlust der Fähigkeit des Organismus, Nahrung über die Haut aufzunehmen, Differenzierung spezifischer Bewegungs- und Sinnesorgane, mit denen die motorische und kognitive Orientierung verbessert werden kann, etc. Mit dieser Stufe soll deutlich gemacht werden können, wie und wo ältere Dimensionen ihre Funktion verlieren und im Dienste des neuen Gesamtsystems (andere) Funktionen gewinnen (etwa: haptische, d.h. den Tastsinn betreffende Funktionen der Haut). Auch die hier zu analysierenden Differenzierungen sind nur formulierbar aus der Kenntnis der weiteren Entwicklung heraus. Insofern bildet diese Stufe auch keinen Abschluss, sondern sie zeigt neue Richtungen und Möglichkeiten unter Bezug auf die gerade abgelaufene und in den vier vorherigen Stufen rekonstruierte Entwicklung. Gleichzeit ist sie damit - auf neuer Ebene und unter Bezug auf neue Richtungen und Möglichkeiten - Basis für den ersten Schritt eines neuen Fünfschritts, wobei in diesem neuen ersten Schritt dann natürlich wieder realhistorische Dimensionen herausgehoben werden, aus denen die weitere Entwicklung verständlich werden kann.
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7.6 Dimensionen der Differenzierung der Grundform des Psychischen Die Differenzierungen der Grundform des Psychischen, die ich eben im fünften Schritt der funktional-historischen Analyse erwähnte, will ich hier nicht im Einzelnen verfolgen, sondern nur kursorisch die Bereiche abhandeln, die Holzkamp (1983, Kap. 3) in seiner systematischer Aufarbeitung der einschlägigen Forschungsleistungen in der Kritischen Psychologie herausgearbeitet hat. Es handelt sich bei diesen Differenzierungen um die folgenden drei Bereiche.
7.6.1 Orientierung/Bedeutungsstrukturen Ausgangspunkt der Darstellung ist die Entwicklung der schon erwähnten »Kinesen« (ungerichteten Bewegungen) zu »Taxien« (gerichteten Bewegungen), bei denen in der einfachsten Form »Gradienten«, d.h. Dichte- und Energiegefälle (Helligkeit, Temperatur), jeweils artspezifische Bedeutung für die tierische Aktivität gewinnen. Diese Funktionsebene der »Gradientenorientierung« bildet die Basis für die Ausbildung von Sinnesorganen und spezifische Arten der Informationsauswertung. Eine zweite Funktionsebene ist die Fähigkeit zur Unterscheidung (Diskrimination) unterschiedlicher Bedeutungseinheiten nach Aktivitätsrelevanzen wie etwa: »Beute-nix wie hin« oder »Fressfeind- nixwie weg«. Schlüsselreize oder angeborene auslösende Mechanismen stellen artspezifische Spezialisierungen dieser Bedeutungseinheiten und Aktivitätsrelevanzen dar. Diese sind evolutionär entstandene überlebens-funktionale Heraushebungen- etwa am angreifenden Habicht aus der Sicht des davon potenziell betroffenen Huhns, das deshalb auch vor bloßen Habicht-Schemata Reißaus nimmt. Es sind >»Bedeutungseinheiten< innerhalb der artspezifischen Umwelt« (a.a.O., 92), nicht aber abstrakte Gestaltgesetze.
7.6.2 Emotionalität/Bedarfsstrukturen Emotionen sind Bewertungen der (kognitiv erfassten) objektiven Realität am Maßstab des Zustands des Organismus und damit gleichbedeutend mit dessen Aktivitätsbereitschaft (vgl. a.a.O., 96). Schon auf vorpsychischem Niveau ist die jeweilige Lebensaktivität vom inneren Zustand des Organismus abhängig. Unter Bezug auf das skizzierte - psychische - Entwicklungsniveau der Orientierungsaktivitäten kann man die Herausbildung der Emotionalität als »neuen Aspekt der evolutionären Differenzierung der Grundform der psychischen Widerspiegelung« ansehen. Emotionalität ist damit aber auf dieser Ebene ausschließlich so >»objektiv< bestimmt wie die Grundkategorie des Psychischen selbst und unterscheidet sich damit von auf die Selbsterfahrung bezogenen alltäglichen und psychologischen Konzepten von Emotionalität« (a.a.O., 96). Diese »objektive« Bestimmung bezieht sich auf den Zusammenhang von jeweiligen Zuständen des
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Organismus und der Aktualisierung und Realisierung von Bedeutungen im eben definierten Sinne. Fasst man nun diese Bedeutungsaktualisierungen als Wertungen mit positiven und negativen Vorzeichen, kann man »Zuwendungen und Abwendungen in Abhängigkeit von Störungen [ ... ] der Stoffwechselvorgänge« als »Elementarformen der Emotionalität« fassen (Holzkamp-Osterkamp 1976, 137), die sich zur Vermittlungsinstanz zwischen Kognition und Aktivität differenziert (a.a.O., 154; Holzkamp 1983, 99ff). Dabei haben ethologische Forschungen ergeben, dass Bedarfsdimensionen und -aktualisierungen unabhängig von unmittelbarer Stoffwechselfunktion sein können: Beispiele sind die Nahrungssuche nicht nur dann, wenn aktueller Hunger auftritt, oder- aus dem Bereich der Fortpflanzung- Brutpflege- oder Nestbaustimmung, die mit unmittelbarem Stoffwechsel nichts zu tun haben. Dies sind so genannte aktionsspezifische Bedarfszustände mit »objektiv vorsorgende[r} Funktion« (Holzkamp-Osterkamp, a.a.O., 104). Diese inhaltlichen Differenzierungen haben zur Folge, dass »sich hier die ursprünglich einheitliche emotionale Wertung von Umweltgegebenheiten am >Maßstab< der Zuständlichkeit des Organismus in verschiedene >Teilwertungen< aufgegliedert hat« (105). Daraus ergibt sich für die Realisierung einer emotionalen Wertung folgender Widerspruch: Diese Umsetzung schließt eine einheitliche Aktivitätsbereitschaft ein, die aber für die unterschiedlichen Bedarfszustände nicht mehr gegeben sein kann, so dass sich eine übergeordnete funktionale Ebene der Emotionalität herausgebildet haben muss, im Rahmen derer die verschiedenen Teilwertungen zu einer emotionalen - »komplexqualitativen« (Holzkamp-Osterkamp [in Anlehnung an Krüger] 1976, 143) - Gesamtwertung zusammengefasst werden.
7.6.3 Kommunikation/Sozialstrukturen Es ist davon auszugehen, dass Kommunikation und Sozialstrukturen die Funktionsebene der Unterscheidung von Bedeutungseinheiten (Diskrimination) voraussetzen, da nur so andere Tiere in ihren Charakteristika repräsentiert sein können. Die Funktion sozialer Bedeutungen liegt in Bereichen wie der Koordination (etwa bei geschlechtlicher Vermehrung oder der Brutpflege) oder dem Schutz (Warnschrei bei Annäherung eines Pressfeindes oder innerartlieber Aggressionshemmung). Die Analyse der selektionsbezogenen Funktion der Entwicklung von Kommunikation und Sozialstrukturen wirft allerdings eine Reihe von Problemen auf (wie am Warnschrei angedeutet), denen ich hier nicht weiter nachgehen will (vgl. Holzkamp 1983, ll4ff).
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8. Individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit und gesellschaftliche Natur des Menschen 8.1 Vorbemerkung Die Aufbereitung des naturgeschichtlichen Materials hatte, wie in Kap. 7 wiedergegeben, zur Grundform des Psychischen (>>Sensibilität«) als erster qualitativer Stufe der Entwicklung des Psychischen in der Phylogenese geführt, die in den drei Dimensionen »Orientierung/Bedeutungsstrukturen«, »Emotionalität/Bedarfsstrukturen« und »Kommunikation/Sozialstrukturen« weiter zu differenzieren war. Ich habe die Darstellung dieses inhaltlichen Abschnitts der Kategorialanalyse so angelegt, dass daran auch die Systematik des methodischen Vorgehens (»Fünfschritt«) deutlich werden sollte. Auf dieser inhaltlichen und methodischen Grundlage will ich im Folgenden die weiteren Kategorialanalysen der Kritischen Psychologie resümieren, soweit sie funktional-historisch, also im Bereich der Phylogenese, erfolgten. Dabei wurden nach dem qualitativen Umschlag vom vorpsychischen Lebensprozess zum psychischen Stadium der Phylogenese aus dem naturgeschichtlichen Material zwei weitere qualitativ neue Stufen herauspräpariert: erstens die neue Qualität der Organismus-Umwelt-Beziehung, die mit der Herausbildung und Differenzierung individueller Lern- und Entwicklungsfähigkeit entstanden ist, und zweitens die Herausbildung der Natur des Menschen als der naturgeschichtlich rekonstruierbaren Voraussetzung zur Fähigkeit der individuellen Vergesellschaftung. Diese individuelle Vergesellschaftung erfolgt allerdings nicht mehr im Banne oder unter der Dominanz der Naturgeschichte, so dass mit der Herausarbeitung der gesellschaftlichen Natur des Menschen als der natürlichen Grundlage individueller Vergesellschaftung auch die Grenze der funktional-historischen Analyse erreicht ist. Die kategoriale Aufschlüsselung der gesamtgesellschaftlich vermittelten Existenz des Menschen - bei Dominanz gesellschaftlicher gegenüber naturgeschichtlicher Entwicklung - erfordert sowohl ein anderes methodisches Vorgehen als auch einen neuen Interpretationsrahmen, die in Kap. 9 dargelegt werden sollen.
Ich werde die Darstellung der beiden neuen Qualitäten des Psychischen unterschiedlich gewichten: die Herausbildung der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit und ihrer Dimensionen werde ich (vor allem unter Bezug auf Holzkamp 1983, Kap. 4) nur insoweit resümieren, wie es erstens zum Schließen der argumentativen Lücke zwischen der Grundform des Psychischen und der Ermöglichung der gesellschaftlichen Natur des Menschen erforderlich ist. Zweitens soll ansatzweise (und exemplarisch) deutlich werden, wie sich mit der Rekonstruktion der individuellen Lern-
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und Entwicklungsfähigkeit Gesichtspunkte für Gewichtung vorfindlieber Lernkonzepte ergeben. Um Missverständnissen vorzubeugen, sei hier gesagt, dass die funktional-historische Rekonstruktion der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit und die Analysen in Holzkamps Buch >>Lernen« (1993) aufverschiedenen Ebenen liegen. Dieses Buch bezieht sich auf Lernen in seiner menschlichen Spezifik und Bedeutungsvermitteltheit, während es bei der funktional-historischen Rekonstruktion der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit definitionsgemäß um Lernen auf subhumanem Niveau geht. Diese Rekonstruktion bildet den Hintergrund, vor dem bezüglich menschlichen Lernens Reiz-Reaktions-Konzepte in ihrer Geltung relativiert werden können (1993, 4Iff).
Die gesellschaftliche Natur des Menschen dagegen werde ich genauer behandeln, weil dieses Konzept generell weniger vertraut, aber zum Verständnis des gesellschaftlichen Menschen unverzichtbar ist, jedenfalls dann, wenn man weder von seiner Natur abstrahieren will, noch diese einfach - bspw. als >>Trieb«-Natur- setzen zu können meint (vgl. Holzkamp-Osterkamps Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse [etwa 1976, 162ff)), noch die Naturalisierung gesellschaftlicher Lebensverhältnisse und menschlicher Lebensweisen hinnehmen will (vgl. Maiers 2002). 8.2 Individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit 8.2.1 Ausgungsdimension >>Modifikabilität«
Den Ausgangspunkt (auf der Seite des Organismus) bildet die >>Modifikabilität«, mit der eine ontogenetische, also auf die individuelle Lebensspanne bezogene Veränderlichkeit des Einzelorganismus bezeichnet wird, die aber noch nicht Lernen und Entwicklung bedeutet, sondern bloß eine gewisse Variationsmöglichkeit im Rahmen genetischer Festgelegtheit: z.B. beim Weibchen (nicht beim Männchen) des Wurms >>Bonellia« eine Größenveränderung in Abhängigkeit vom NahrungsangeboL Derartige Modifikationen werden nicht vererbt, wohl aber ist die Modifikabilität genetisch festgelegt. Das je artspezifisch genetisch bestimmte Verhältnis von Festgelegtheit und Modifikabilität ist auch bei höheren Tieren bedeutsam und zeigt sich etwa bei unterschiedlich dichtem Fell je nach Jahreszeit und damit verbundener Temperatur. Außerdem zeigt sie sich bei Variationen von Instinkthandlungen, also genetisch festgelegten Verhaltensmustern. Da gerade daran die Funktion der Modifikabilität als Ausgangsdimension der Herausbildung der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit besonders anschaulich und plausibel wird, gebe ich hier ein ethologisches Forschungsbeispiel über eine Instinkt-Aktivitätssequenz einer Grabwespe wieder: Eine als Nahrung für die Brut getötete Heuschrecke wird an das von der Grabwespe gegrabene Sandloch herangezogen, das Loch wird inspiziert und gereinigt, die
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Heuschrecke wird ins Loch befördert. Wenn nun ein (impertinenter) Grabwespenferseher laufend diese Sequenz unterbricht, wiederholt die Grabwespe ihre Instinkthandlungssequenz »hunderte von Malen«. »Irgendwann aber >hat< die Wespe sozusagen >genug< und zieht die Heuschrecke gleich, ohne dazwischengeschaltete Lochkontrolle (die dem Forscher die Gelegenheit zu seinem Eingriff gab) in das Loch hinein. Man wird derartige Modifikationen nicht schon als >Lernen< bezeichnen können, da die >Anpassung< an die Umwelt ja hier nur bei absolut >unfunktionaler< Häufigkeit von Wiederholungen erfolgt o.ä. Dennoch wird an dieser Stelle deutlich, dass die Modifikationen hier nicht mehr total >zufällig< erfolgen, sondern dass durch den evolutionären Vorlauf innerhalb der jeweiligen instinktiven Aktivitäts-Mechanismen sich ein besonderes psychisches Verhältnis Festgelegtheit/Modifikabilität herausgebildet hat, durch welches der nächste Anpassungsschritt, die Entstehung wirklicher Lernfähigkeit, unmittelbar vorbereitet ist.« ( Holzkamp 1983, 124f)
8.2.2 Modifikabilitäts-förderliche Umweltbedingungen Der zweite Analyse-Schritt muss Umweltbedingungen unterstellen, unter denen Mutanten, die die früher festgelegte, aber gestörte Aktivitätssequenzen modifizieren, Selektionsvorteile haben - sagen wir etwa, dass in einem Gebiet, in dem der Wind gerade inspizierte Grabwespenlöcher immer wieder zuweht, die Brut von Grabwespen, die nicht in der Lage sind, ihre Aktivitätssequenz zu modifizieren, nie an ihre Heuschreckenspeise herankommt und verhungert.9
8.2.3 Erster qualitativer Sprung und ein neues Verhältnis von Festgelegtheit und Modifikabilität; Artspezifik vs. abstrakter Organismus Der dritte Analyseschritt, der den Funktionswechsel der relevanten Dimension(en), hier die der Modifikabilität, und damit den »ersten qualitativen Sprung« aufzuweisen hat, muss nach dem Gesagten zeigen, dass die Umwelt-Einflüsse auf die Aktivitäten nicht nur diese Aktivitäten selber verändern, sondern auch, dass bei entsprechenden Bedingungen die veränderten Aktivitäten wiederholt werden, m. a. W., dass die Veränderung vom Einzelorganismus individuell gelernt worden ist. Während »die bloß >festgelegten< Funktionsgrundlagen lediglich das phylogenetisch gewordene >Artgedächtnis< repräsentieren, stellt die Lernfahigkeit, da in ihr die Resultate aktueller Lebensvollzüge sich niederschlagen und gespeichert werden, ein funktionales >Individualgedächtnis< i. w.S. dar, das selbst Teil und Differenzierungsprodukt des >Artgedächtnisses< ist« (a.a.O., 128). 9 Die Umweltbedingungen, dass an Grabwespenlöchern flächendeckend Forscher sitzen, die mit nicht modifizierter Hartnäckigkeit Grabwespen stören, ist evolutionstheoretisch eher unwahrscheinlich -würde aber bei entsprechender Hartnäckigkeit der Wespen womöglich zum Aussterben solcher Forscher führen, weil die ja von den Grabwespenlöchern nicht mehr wegkämen.
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Daraus folgt auch, dass die Entwicklung hin zur Lernfähigkeit selber artspezifisch unterschiedlich und je nach Art mit unterschiedlichen Festgelegtheiten verbunden ist. Die Herausbildung und Entwicklung der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit bedeutet also nicht, dass artspezifische Informationen zugunsten eines abstrakten, sozusagen leeren Organismus verschwänden, sondern, dass individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit auf artspezifische Umwehen hin zu analysieren ist. Daraus ist eine kategoriale, aus funktional-historischer Analyse sich erge-
bende Kritik am klassisch-behavioristischen tierexperimentellen Vorgehen zu formulieren. Der Umstand, dass individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit jeweils artspezifisch bestimmt werden muss und auf artspezifische Umwelten hin zu analysieren ist, zeigt sich sehr eindrucksvoll (l) an artspezifischen Überlagerungen der Konditionierbarkeit von Tieren und (2) an der methodisch faktischen, wenn auch nicht theoretisch reflektierten Berücksichtung artspezifischer Umwelten. Um mit (2) zu beginnen: Im behavioristischen >tierpsychologischen< Experiment müssen zwar praktisch-methodisch Unterschiede zwischen Arten von Organismen zur Kenntnis genommen werden: Wer würde schon Tauben - wie das bei Ratten möglich ist - durch höhlenartige Labyrinthe schicken? Derartige Arten-Unterschiede, denen praktisch-methodisch Rechnung getragen werden muss, werden theoretisch aber nicht in ihrer qualitativen Besonderheit erfasst, sondern sie werden auf bloß quantitative Unterschiede der Lernkapazität reduziert. Holzkamp-Osterkamp (1975) stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die »> Umwelten< der Versuchstiere [... ] unter dem Gesichtspunkt der Quantifizierbarkeit des Reizangebotes konstruiert [werden), wobei Zugeständnisse, die man an die Versuchstiere im Hinblick auf arteigene Umweltmerlanale machen muss (etwa >Labyrinthe< für Ratten), in den theoretischen Aussagen sich nicht niederschlagen.- Die >Lerntheorie< kennt somit nur einen abstrakten, aus irgendwelchen Gründen zum >Lernen< fähigen Organismus, bestimmte elementare Verknüpfungseinheiten (wie klassisches Konditionieren, operantes Konditionieren, Konditionieren durch Bedürfnisreduktion, durch Kontiguität etc.), sowie gewisse für alle Organismen gleichermaßen gültige Gesetzlichkeiten des lernabhängigen VerhaltensaufbatJS aus diesen Verkni.ipfungseinheiten.« (147 im Orig. z.T. herv., M.M.) Damit wird sogar das organismische Niveau unterschritten, weil dieses, wenn es wirklich naturwissenschaftlich gefasst wird, eben nicht allgemein und abstrakt, sondern nur konkret artspezifisch begriffen werden kann. Demgegenüber werden die mit diesem tierexperimentellen Vorgehen verbundenen theoretischen Reduktionen, so Holzkamp-Osterkamp, durch »rigorose Verhaltensrestriktionen im Experiment<< methodisch so durchgesetzt, dass die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, entsprechende Hypothesen empirisch realisieren zu können (ebd.).
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Diese Realisierbarkeit von Hypothesen, der Erfolg »rigoroser Verhaltensrestriktionen«, finden aber, und damit komme ich auf den erstgenannten Gesichtspunkt (1) zurück, artspezifische Grenzen bspw. dann, wenn konditionierte Reaktionen bei verschiedenen Tierarten »nach mehr oder weniger langer Zeit durch artspezifische Verhaltensweisen überlagert und schließlich verdrängt« werden (Holzkamp 1993, 42). Holzkamp bezieht sich dabei auf >»Fallgeschichten«<, die zeigen, dass Waschbären, die darauf konditioniert waren, Münzen in Sparschweine zu stecken, begannen, diese Münzen in artspezifischem >Waschverhalten< aneinander zu reiben, während Schweine, die darauf konditioniert worden waren, Münzen in Behälter fallen zu lassen, die Münzen stattdessen vergruben (zu weiteren Überlegungen der Artspezifik des Lernens im Hinblick auf die Kritik variablenpsychologischen tierexperimentellen Vorgehens vgl. a.a.O., 42ff). Hochentwickelte Tiere können und müssen in ihrer Ontogenese Einiges lernen aber immer nur im Rahmen ihres artspezifischen Verhaltensrepertoires. Deswegen ist bei der Analyse kognitiver Möglichkeiten von Tieren Folgendes in Rechnung zu stellen: In einem experimentellen Setting sind alle Leistungen der Versuchstiere beim »Lernen und Problemlösen<< »bereits durch den Experimentator vorgedacht worden [... ] Der Experimentator entwickelt in der Versuchsanordnung Funktionsziele und Zwecke, die durch das Vt. dann sekundär nachvollzogen, aber nicht selbst entwickelt werden<<. Es bestehe eine >>deutliche Diskrepanz zwischen in Tierexperimenten unter artifiziellen Bedingungen möglichen Höchstleistungen und dem wesentlich einfacherem Verhalten der gleichen Art im natürlichen Lebensraum« (Schurig 2006, 141).
8.2.4 Zweiter qualitativer Sprung Der vierte Analyseschritt, also der Nachweis des >>Dominanzwechsels<< zwischen früherer und neuer Funktion (>>zweiter qualitativer Sprung<<), wird im Falle des Dominanzwechsels von Modifikabilität zu individueller Lernund Entwicklungsfähigkeit von Holzkamp (1983, 130ff) in drei Teilschritte differenziert, weil das empirische Material zeigte, dass dieser Wechsel sich nicht auf nur einer Ebene abbilden ließ. Diese drei Teilschritte thematisieren 1. die Ebene >>subsidiärer<< Lernfähigkeit, die noch festgelegten Funktionen untergeordnet ist (8.2.4.1), 2. die Ebene »autarker<< Lernfähigkeit, mit der das Psychische individualisiert wird (8.2.4.2), und 3. die Frage, wie autarkes Lernen dominant werden konnte (8.4.2.3).
8.2.4.1 >>Subsidiäre« Lernfähigkeit Mit der ersten dieser Ebenen ist eine Lernfähigkeit gemeint, die nur eine »begrenzte Umweltöffnung innerhalb festgelegter funktionaler Dimensionen darstellt, also diesen untergeordnet ist, und sich auch innerhalb der Grenzen dieser funktionalen Charakteristik evolutionär (bis zum Menschen hin) weiterentwickelt, also nicht gegenüber den festgelegten Aspekten do-
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minant wird« (a.a.O., 131). Bei dieser »subsidiären Lernfähigkeit« geht es um Differenzierungslernen: Habituation (also Gewöhnung an einen Reiz, die sich an abnehmender Stärke der Reaktion zeigt); erfahrungsbedingte Modifizierung angeborener auslösender Mechanismen (EAAMs: »Die >Verteidigungsreaktion< einer Stockenten-Mutter spricht z.B. unmittelbar nach dem Schlüpfen der Jungen auf den Notruf jedes Stockenten-Kükens an, einige Wochen später nur noch auf den an bestimmten Zusatzmerkmalen qualifizierbaren (d.h. identifizierbaren, M.M.) Notrufihrer eigenen Jungen« (a.a.O., 133); Versuch-Irrtum-Lernen; Differenzierungen von Wertungen (gelernte Bedeutungsdifferenzierungen etwa beim Fluchtverhalten); soziales Differenzierungslernen (etwa über Rangkämpfe herausgebildete Dominanzhierarchien). Gemeinsam ist den genannten Formen »subsidiären Lernens«, dass die Aktivitäten, mit denen die Organismen auf differenzierende Merkmale ansprechen, im festgelegten Rahmen verbleiben (die beispielhaft angeführte Verteidigungsreaktion selber verändert sich nicht, nur die Auslösesituation differenziert sich). 8.2.4.2 »Autarke« Lernfähigkeit, Angst, Wertung, Antizipation
Diese Veränderbarkeit der Aktivitäten ist der Ansatzpunkt zu einer weiteren Ebene der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit, der »autarken Lernfähigkeit« (a.a.O., 139ff), mit der es zu einer »Individualisierung des Psychischen als solchem« kommt, »indem die Signalvermitteltheit der Aktivität als zentrale Bestimmung des Psychischen hier nicht mehr nur objektiv in phylogenetisch festgelegten Bedeutungen sich quasi >hinter dem Rücken< des Tieres durchsetzt, sondern (auf der Grundlage der festgelegten Signalverbindungen) vom Tier selbst durch Lernen hergestellt werden muss« (a.a.O., 142f). Dies lässt sich am Neugier- und Explorationsverhalten veranschaulichen: Je neuer etwas für ein Tier ist und je weniger der Umgang damit im >»Individualgedächtnis< gespeichert und abrufbar« ist, desto >»bedeutungsvoller< im Sinne der Anregung von Erkundungsaktivitäten« ist dieses Etwas (a.a.O., 143). Mit dieser Entwicklung ist (über hier nicht darzustellende Vermittlungen) eine »allgemeine Bedarfsgrundlage« (nach »Umweltkontrolle«; »Kontrollbedarf«) für »Erkundungsaktivitäten« verbunden. Dabei schwankt das Tier zwischen - antizipatorischen - Annäherungs- (»gerichtete Energiemobilisierung« [Holzkamp-Osterkamp 1975, 185]) und Vermeidungstendenzen (»Angstbereitschaft« [a.a.O., 185]). Diese Angstbereitschaft schlägt bei Oberforderung in Angst um - womit Angst »an die Stufe autarken Lernens gebunden (ist): >Angst< setzt individuell Unbekanntes, Unbewältigbares voraus, und ist somit quasi die >Kehrseite< der >autarken< Stufe der individuellen Lernfähigkeit.« (Holzkamp 1983, 145) Der Neuigkeitscharakter von Sachverhalten und Ereignissen bestimmt logischerweise- allerdings jeweils nur die Anfangsphase von Lernprozes-
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sen; daraus werden individuell gelernte Bedeutungen mit antizipatorischem Wert und erfahrenen Umgangsqualitäten (a.a.O., 146). Dabei sind auch emotionale Wertungen im Spiel, die sich auf die Differenz zwischen jetzigem und zukünftigem Zustand beziehen. Dies ist die Basis für Motivation, für die eben diese Differenz entscheidendes Merkmal einer noch sehr allgemeinen Definition ist (die später zu differenzieren sein wird): >>Wir bezeichnen Aktivitätsfolgen, die ihre Ausrichtung durch die Differenz zwischen der Valenz des gegenwärtigen Zustandes und der gelernten Antizipation positiver emotionaler Wertigkeiten zukünftiger Situation gewinnen, als >motivierte< Aktivitäten. Damit ist unserer Konzeption nach die >Motivation< als Oberbegriff für die besondere emotionale Regulation des >autarken Lernens< eingeführt. Mit dieser Terminologie wird an dem üblichen Vorbegriff von >Motivation< als >Handlungsausrichtung< angesetzt, das Motivationskonzept aber [... ] durch funktional-historische Rekonstruktion des Stellenwerts innerhalb der phylogenetischen Differenzierung des Psychischen bzw. der Lernfähigkeit inhaltlich konkretisiert<< (a.a.O., 147, vgl. auch Osterkamp 1975, 1710. .
8.2.4.3 Wechsel zur Dominanz individueller Lern- und Entwicklungsfähigkeit Für diesen Wechsel müssen die Risiken der Offenheit autarken Lernens so minimiert werden können, dass seine Vorteile überwiegen und damit autarkes Lernen zum Selektionsvorteil wird. Voraussetzung dafür ist erstens die »Herausbildung und Höherdifferenzierung tierischer Sozialverbände« (a.a.O., 152). Damit kann sich eine Jugendphase der einzelnen Tiere herausbilden, in der die individuelle Lernfähigkeit sich zur individuellen Lernund Entwicklungsfähigkeit ausbilden kann - mit über Beobachtungslernen erfolgenden Traditionsbildungen und mit der Differenzierung von Sozialverhalten. Die zweite Voraussetzung sind mehr oder weniger flexible Automatisierungen oder Routinen zur Effektivierung von Aktivitäten (a.a.O., 156). 8.3 Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen
8.3.1 Vorbemerkung Wenn wir im Folgenden die Herausbildung der menschlichen Natur als der phylogenetisch gewordenen Möglichkeit zur individuellen Vergesellschaftung so nachvollziehen, wie sie sich für den Forschungszusammenhang der Kritische Psychologie aus dem naturgeschichtlichen Material ergeben hat, ist Folgendes zu berücksichtigen: Die Rekonstruktion der Entwicklung der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit auf der Basis der bloßen Modifikabilität musste unter Bezug auf viele sehr unterschiedliche Arten erfolgen, weil sich entspre-
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chende- phylogenetisch frühe - Entwicklungsschritte nur auf diese Weise herausarbeiten, konkretisieren und veranschaulichen ließen. Dieser breite Arten-Bezug ist nun nicht mehr erforderlich, weil im Fokus der funktionalhistorischen Analyse der Kritischen Psychologie ja nicht die Psychophylogenese in Gänze steht, sondern nur die »Rekonstruktion des Evolutionsweges des Psychischen zum Menschen hin« (Holzkamp 1983, 160). Deswegen konnte Holzkamp in seiner integrativen Analyse des historischen Materials in seiner »Grundlegung der Psychologie« darauf verzichten, den fünften Schritt der Analyse der Herausbildung und Entwicklung der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit eigens zu thematisieren. Der mit dem fünften Schritt generell angestrebte »Aufweis der Umstrukturierung und neuen Entwicklungsrichtung des Gesamtsystems, nachdem die qualitativ spezifische Funktion für die Systemerhaltung bestimmend geworden ist« (s. Kap. 7.5) ist hier auf die Voraussetzungen der Menschwerdung beschränkt. Das bedeutet: Die empirische Basis dieser Entwicklung ist auf die »Evolution der Primaten« einzuschränken (Holzkamp 1983, 161). Als Material dienen heute lebende Primaten (»Pongiden«; entwickeltste Form: Schimpansen), die beobachtet werden können, und fossile Funde des Evolutionszweigs, der Menschen und Menschenaffen gemeinsam ist, der »Menschenartigen« (»Hominiden«). Im Vordergrund steht dabei der Übergang von den »noch >subhumanen< Hominiden zu den eigentlichen >Menschen<, das so genannte Tier-Mensch-Übergangs-Feld (TMÜ)« (ebd.). Das diesbezügliche Material ist vor allem in Volker Schurigs Buch >>Die Entstehung des Bewusstseins« (1976) systematisch analysiert worden. Methodisch auf den >>Fünfschritt« bezogen, bedeutet das Gesagte, dass der fünfte Schritt der Analyse der Herausbildung der individuellen Lernund Entwicklungsfähigkeit im ersten Schritt der Analyse des TMÜ aufgeht, das im Folgenden dargestellt werden soll. 8.3.2 Ausgangsdimension: Manipulationsfähigkeit mit »Mitteln« und individualisierte Sozialkontakte
Beim ersten Analyseschritt geht es ja darum, die Dimension zu bestimmen, auf der die interessierende Neuentwicklung sich vollzieht. Dazu muss man sich bei dem hier verhandelten Entwicklungsabschnitt klar machen, durch welche Eigenarten die Primaten vor der Herausdifferenzierung der Hominiden charakterisiert werden können. Die Prozesse, von denen hier die Rede ist, liegen ca. 15 Millionen Jahre zurück. Um diese Zeit spaltete sich die Primatenpopulation in die zu den Menschen und zu den heutigen Menschenaffen hinführenden Zweige (weswegen die heutigen Menschenaffen nicht einfach mit ihren Vorfahren von vor 15 Millionen Jahren gleichgesetzt werden können). Von folgenden Eigenarten der Primaten vor 15 Millionen Jahren (Leben im tropischen Regen- oder Urwald) kann ausgegangen werden: Verallge-
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meinerung der Nahrungsaufnahme (»Allesfresser« oder »Omnivoren«); Übergang von Nacht- aufTagaktivität; Umstellung von Nahsinnen (Tasten, nahes Riechen) auf Fernsinne (vor allem Sehen und Hören); »SchwingHangel-Klettern« als eine für Baumbewohner hochdifferenzierte Bewegungsform, die die Aufrichtung des Körpers einschließt; dies wiederum ist als günstig für einen bewegungsentlasteten Gebrauch der Vorderextremitäten (die sich zu Händen entwickelten) und damit für die Differenzierung einer Manipulationsfähigkeit anzusehen. Diese Entwicklung begünstigt frühe Formen der Mittelbenutzung, wie sie auch noch bei zeitgenössischen Primaten in Freilandbeobachtungen zu sehen sind. Es ist davon auszugehen, dass diese Entwicklungen mit Differenzierungen, d.h. Individualisierungen, im Bereich jener ontogenetisch zu lernenden Sozialbeziehungen verbunden waren, die sich im Zuge der Entwicklung der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit gebildet hatten. Die Frage ist nun, wieso viele dieser Anpassungen der Primaten an das Leben im Regenwald bis in heutige Arten der Pongiden weitgehend erhalten blieben, während sich aus dem gleichen Ursprung andererseits die Hominiden und die Menschen entwickelten. Es geht also um die Frage, »warum unsere nächsten phylogenetischen Verwandten trotz aller homologen Verhaltensähnlichkeiten und einer genetischen Identität von 99% Tiere geblieben sind und die Entstehung des Menschen ein singulärer Sonderfall der Evolution geblieben ist« (Schurig 2006, 142). Dies führt uns zum zweiten Entwicklungsschritt, in dem sich die Frage nach den objektiven Außenweltbedingungen stellt, unter denen es zu einem Entwicklungswiderspruch kommt und zu einem Druck in Richtung evolutionärer Progression - zum Menschen hin. 8.3.3 Veränderung der Umweltbedingungen der Primaten
In der hier zugrunde gelegten Literatur wird die Bedeutung der Zurückbildung von Waldgebieten betont (vgl. etwa Schurig 2006, l40f), die für die betroffenen Primaten die Notwendigkeit mit sich gebracht habe, sich dem Leben in Steppen und Savannen anzupassen - ein Anpassungsdruck, dem die davon nicht betroffene Primatenpopulationen nicht unterlagen. Was sind die hier interessierenden Besonderheiten eines Primaten-Lebens in Steppen und Savannen? Zu nennen sind die Verknappung von Nahrungsmitteln, die Notwendigkeit, zur Nahrungssicherung vergleichsweise große Gebiete kontrollieren zu müssen, und das Fehlen von Bäumen als Fluchtund Rückzugmöglichkeit. Es ist plausibel, dass dies Lebensbedingungen sind, die für die Regenwaldspezialisten eine erhebliche evolutionäre Herausforderung darstellten. Das heißt z.B.: Der aufrechte Gang, der zur Übersicht in hohem Gras funktional ist, konnte entstehen, weil er durch das Schwing-Hangel-Klettern bzw. die damit verbundenen Bewegungsmöglichkeiten und Bewe-
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gungsfolgen evolutionär vorbereitet war. Das Schwing-Hangel-Klettern machte somit in Richtung auf den aufrechten Gang einen Funktionswechsel durch. Dies ist eine plausible Hypothese, die Schurig aber relativiert, wenn er schreibt: Die »terrestrischen Tierprimaten bleiben in der Fortbewegung vierfüßig und nur die frühen Hominiden sind zur Bipedie übergegangen, deren Entstehung und Ursachen nach wie vor ungeklärt sind« (2006, 140). Wie dem auch sei: Der mit der Bipedie, also dem aufrechten Gang, weiter fortbewegungsentlastete Handgebrauch kann sich differenzieren. Mit dieser Differenzierung und der schon erwähnten Bedeutung der optischen Orientierung können Gegenstände in materieller Greifbarkeit und Räumlichkeit besser erfasst werden- ein Umstand der (auch unter Einbeziehung der enormen Zunahme des Hirnvolumens) daraufhin zu interpretieren ist, dass so die zu lernenden Bedeutungen von Gegenständen differenziertere objektive Aspekte repräsentierten: »Man wird davon ausgehen können, dass sich im Zusammenhang mit einer derartigen Verbesserung der manipulativen Orientierung unter den besonderen Bedingungen des Steppenbiotops auch die geschilderte, schon bei den waldbewohnenden Primaten antreffbare Fähigkeit zur Mittelbenutzung und Mittelherrichtung weiterhin in spezifischer Weise optimierte. Vieles spricht z.B. dafür, dass von den >Protohominiden< bei der Umanpassung vom Wald zum Steppenleben Knüppel als Waffen gegen Raubfeinde, möglicherweise auch als Hilfsmittel bei der Jagd, benutzt wurden; dabei ist neben dem Gebrauch zum Schlagen auch die Benutzung als >Wurfgeschoss< anzunehmen; die Verfeinerung des genannten Mitteleinsatzes zur Erbeutung von Kleintieren als Nahrung (möglicherweise auch Erlangung und Bearbeitung von pflanzlicher Nahrung) muss ebenfalls als wahrscheinlich angesehen werden etc. (vgl. Schurig 1976, 259ff).« (Holzkamp 1983, 165) Weiter differenzierte sich die Benutzung von Mitteln auch in die Richtung, dass die Möglichkeit entstand, die mit den Mitteln erreichten Effekte dauerhaft, über die unmittelbare Situation hinaus zu behalten und für die Zukunft zu nutzen. Diese auf die einzelnen Organismen bezogenen Entwicklungen sind, so resümiert Holzkamp, aber noch nicht hinreichend, um die Entwicklung zum Menschen plausibel zu machen: Es muss auch die Entwicklung der Sozialbeziehungen thematisiert werden. Dazu hat Schurig (1976, 189ff) vorgeschlagen, das Sozialverhalten zeitgenössischer, im Wald lebender Primaten mit dem Sozialverhalten von nicht im Wald lebenden Primaten zu vergleichen - und zwar so, dass die Verhaltensweisen der Waldbewohner denen der Nicht-Waldbewohner noch zusätzlich zugerechnet werden. 10 I 0 Dabei ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass die Hominiden »möglicherweise über Verhaltensanpassungen verfügt [haben], die weder beim heutigen Menschen noch bei den übrigen rezenten Primaten zu finden sind« (Schurig 2006, 142).
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»Auf diese Weise wäre in etwa (also unter Abzug des selbständigen >Evolutionsschicksals< der heute lebenden Primaten) zu rekonstruieren, wie sich in der realen Entwicklungsgeschichte zum Menschen hin die Sozialbeziehungen der waldbewohnenden Primaten verändert haben müssen, nachdem sie dem Selektionsdruck des Savannen-Biotops ausgesetzt waren« (Holzkamp 1983, 167). Folgende Aspekte kristallisierten sich dabei heraus (ebd.): Flexibilisierung bei der Aufteilung des vergrößerten Lebensraums, Vergrößerung der Zahl der zu einer Horde gehörenden Mitglieder, komplexere soziale Beziehungen jenseits unmittelbarer Fortpflanzungsgemeinschaften. Die mangelnde Rückzugsmöglichkeit auf Bäume beförderte eine soziale Verteidigung gegenüber Raubfeinden. Im Zuge dieser Entwicklung »kam es - in Annäherung an den Stand der subhumanen Hominiden - immer stärker zu einerneuen Form der gelernten sozialen Koordination, die zur unmittelbaren Voraussetzung für den ersten qualitativen Sprung, >Funktionswechsel<, bei der Entstehung der neuen, >menschlichen< Stufe der Lebensgewinnung wurde: einer Form von gelernter sozialer Funktionsteihmg, in welcher verschiedene Mitglieder der Sozietät jeweils nur Teile einer mehrgliedrigen Aktivitätssequenz übernehmen, so dass das biologisch relevante Gesamtziel nur über die >kollektive< Realisierung der einzelnen Teilziele erreicht werden kann« (a.a.O., 168f). So ist bei einer funktionsteiligen Beutejagd die Aktivität eines Individuums, das das Beutetier von sich weg- und damit anderen zutreibt, unmittelbar »an sich biologisch sinnlos« (Leontjew 1973, 206). Diese Aktivität bekommt ihren Sinn erst im funktionsteiligen Gesamten, bei dem eine individuelle »Einsicht« der Beteiligten nicht unterstellt werden muss. Bei der Aufteilung der Aktivitätssequenzen auf mehrere Individuen müssen die Bedarfs- und >Motivations<-Lagen so beschaffen sein, »dass sie das Lebewesen ohne Einsicht in den Zusammenhang zu biologisch adäquatem Handeln, hier: zur Beteiligung an den kollektiven Aktivitäten, bringen« (Holzkamp 1983, 170f). Dies konnte auch den (in Kap. 8.2.4.2 angeführten) als Aspekt der Herausbildung der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit entstandenen »Kontrollbedarf« nicht unberührt lassen, der nun selber eine neue soziale Dimension erhält: Seine »>Befriedigung< setzt [... ] die erreichte kollektive Kontrolle im Rahmen der geschilderten überindividuellen Aktivitätssequenz voraus« (a.a.O., 170), ebenso wie die Befriedigung des »primären« Bedürfnisses >Nahrungsaufnahme< eine kollektive Aktivitätssequenz voraussetzt. Holzkamp (a.a.O., 171f) fasst diese Entwicklung folgendermaßen: Zentral »sind die ersten Ansätze zu einer gelemten verallgemeinerten Vorsorge für die individuelle Lebenssicherung der Mitglieder des Sozialverbandes«. >Vorsorge< wird »zum Prinzip gelernter sozialer Koordination, bei der objektiv die >Beiträge< der einzelnen Verbandsmitglieder der Absicherung der zukünftigen Lebenserhal-
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tung (Nahrungsbeschaffung, Schutz vor Feinden etc.) des Gesamtverbandes dienen. Dies ist der Anfang einer Entwicklung, mit welcher sich das Verhältnis zwischen lebenssichernden Aktivitäten und >primären< Bedarfszuständen [Hunger, Durst, M.M.] allmählich grundlegend ändert: Im Zuge der genannten Verselbständigung der >sozialen Motivation< sind die >primären< Bedarfsspannungen immer weniger eine eigenständige Voraussetzung für das Zustandekommen von Aktivitäten. Sie sind vielmehr zunehmend in kollektive Aktivitäten einbezogen, die das Ziel haben, das Auftreten von primären Bedarfszuständen von einer Stärke, die eine >lebensbedrohende< innere oder äußere Situation anzeigt, >vorsorgend< möglichstweitgehend zu verhindern.[ ... ] Mit der funktional-historischen Herausarbeitung dieser neuen Entwicklung erweist sich als Nebenprodukt die totale wissenschaftliche Unhaltbarkeit psychologischer >Bedürfnis-< oder >Motivationstheorien<, die die Reduzierung >primärer< individueller Bedarfszustände als >Reinforcement< zur alleinigen Antriebsgrundlage menschlicher Lernprozesse erldären wollen.« (Vgl. dazu Holzkamp-Osterkamp 1976, 139f)
Wesentlich für derartige Rekonstruktionen ist, dass vermieden wird (und vermieden wurde), bestimmte gesellschaftliche Vorstellungen auf die Tiersozietäten zu übertragen, wie dies den >>Pionieren« der Primatenforschung unterlief. Diese kamen zu >>Interpretation der sozialen Organisation von Schimpansengruppen, die zunächst als Abbild der gutbürgerlichen Familie mit geordnetem Sozialverhalten vorgestellt wurden, bis detaillierte Feldstudien zeigten, dass aggressive Territorialität zwischen Schimpansengruppen ebenso existiert wie Raubzüge gegenüber benachbarten Gruppen, Kannibalismus, kämpferische Auseinandersetzungen und im Sexualverhalten Promiskuität.« (Schurig 2006, 140)
8.3.4 Der erste qualitative Sprung zur Menschwerdung: Zweck-MittelVerkehrung
Die funktionsteilige Koordination von Aktivitäten ist die Grundlage für den dritten Analyseschritt, in dem es um die neue Qualität bzw. den Funktionswechsel der Ausgangsdimension geht, also um jenen ersten qualitativen Sprung, in dem sich unter veränderten Umweltbedingungen die Spezifik der neuen Funktion herausbildet: Die Ausgangsdimension auf der Seite des Organismus ist die »Manipulationsfähigkeit« als individuelle Mittel- oder Werkzeugnutzung und dann Werkzeugherstellung. Diese wird mit der funktionsteiligen Koordination zum sozialen Gebrauch und zur sozialen Herstellung von Mitteln. Der entscheidende Funktionswandel des Mittels (Werkzeugs) ist damit verbunden, dass die Zweck-Mittel-Beziehung umgedreht wird. Mittel werden nicht mehr nur aktuell zur Erreichung eines akuten Ziels ausgewählt und hergerichtet, sondern verallgemeinert für eine bestimmte Art von Ziel oder Bedarfsfall. Ein Stock bspw. dient nicht mehr nur akut zur Beschaffung einer Frucht, sondern er dient als ein Stock zur Früchtebeschaffung generell.
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Als Hinweis auf diese Entwicklung von Werkzeuggebrauch und Werkzeugherstellung dienten fossile Funde, bei denen sich zeigte, dass auf bestimmte Weise bearbeitete Stöcke an bestimmten Stellen in mehreren Exemplaren gelagert wurden, Stöcke, die auch nicht mehr eher globale Werkzeuge wie Faustkeile, sondern spezialisierter waren. Erstens verliert ein derart zugerichteter Stock seine Bedeutung nicht mehr mit der einzelnen Handlung, die mit ihm ausgeführt wird. Zweitens sind damit kollektive Bedeutungen nicht mehr allein an bestimmte Situationen gebunden. Damit müssen sich auch wieder die sozialen Beziehungen differenzieren, indem nämlich die verallgemeinerten Mittel jetzt auch Medium der Beziehung zwischen den tierischen Individuen werden. Der kognitive Aspekt der Schaffung von Mitteln für verallgemeinerte Zwecke und der soziale Aspekte der funktionsteilig-kollektiven Vorsorge sind zwei Seiten einer Medaille.
8.3.5 Zweiter qualitativer Sprung: soziale Werkzeugherstellung und Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen Der damit erreichte vierte Analyseschritt ist beim Tier-Mensch-Übergangsfeld deswegen besonders brisant, weil hier die Gefahr besteht, den auf die Phylogenese beschränkten Geltungsbereich der funktional-historischen Analyse auf gesellschaftliche Prozesse auszudehnen. Das Problem ergibt sich daraus, dass man in Rechnung stellen muss, dass man bei der Entwicklung zum Menschen hin an einem bestimmten Punkt eine neue Qualität des Gesamtprozesses in Rechnung stellen muss: den Umschlag von der
Dominanz phylogenetisch bestimmter Entwicklung zu Eigenständigkeit des von Menschen produzierten und reproduzierten gesellschaftlich-historischen Gesamtprozesses. Die spezifisch-menschliche Ebene individueller Lern- und Entwicklungsfähigkeit kann nicht in direkter Fortschreibung der Psychephylogenese rekonstruiert werden, »weil die Gesellschaftlichkeit primär gar keine neue Entwicklungsstufe des Psychischen, sondern eben eine neue Entwicklungsstufe des Gesamtprozesses der Lebensgewinnung ist« (1983, 175; vgl. auch 159ff). Daraus ergibt sich, dass die Analyse folgenden Verlauf nehmen muss: (1) Es ist zu rekonstruieren, wie aus dem ersten qualitativen Sprung, der sozialen Werkzeugaktivität, ein Dominanzwechsel sich herausbilden konnte, der sowohl die Ebene der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit als auch die des Gesamtprozesses betrifft. (2) Daran anschließend muss die neue - gesellschaftlich-historische Qualität des Gesamtprozesses im Verhältnis zu den Besonderheiten der Phylogenese charakterisiert werden. (3) Erst dann ist es möglich, das mit der historisch-gesellschaftlichen Qualität des Gesamtprozesses verbundene qualitativ neue Verhältnis der Individuen zu ihren Lebensbedingungen zu spezifizieren. (4) Erst auf dieser Basis kann man dann wieder auf die Ebene des Psychi-
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sehen zurückkommen, das heißt: die spezifisch-menschliche Qualität der individuellen Lern- und Entwicklungsfähigkeit als Aspekt gesellschaftlich vermittelter Existenz analysieren. Den unter (1) angeführten Bereich der Psychophylogenese charakterisiert Holzkamp zunächst als »wachsende aktive Aneignung der Natur durch verändernd-eingreifende Vergegenständlichung verallgemeinerter Zwecke der Lebensgewinnung« (1983, 176, i. Orig. z.T. herv., M.M.). Leontjew hat dies - allerdings auf der Ebene schon realisierter menschlicher Spezifikam Beispiel der Axt verdeutlicht: »Beim Benutzen einer Axt wird nicht nur dem Ziel einer praktischen Handlung entsprochen, sondern es werden auch die Eigenschaften des Arbeitsgegenstandes widergespiegelt, auf den sich die Handlung richtet. Der Hieb einer Axt erprobt also untrüglich die Härte des Materials, aus dem der betreffende Arbeitsgegenstand besteht. Seine objektiven Eigenschaften werden nach Merkmalen, die im Werkzeug selber objektiv gegeben sind, praktisch analysiert und verallgemeinert. Das Werkzeug wird damit gleichzeitig zum Träger der ersten, echten, bewussten und vernünftigen Abstraktion, der ersten, bewussten und vernünftigen Verallgemeinerung.« (1973, 208) »Abstrahiert«, also abgesehen wird davon, dass ein bestimmtes Stück Holz, ein Ast oder ein Teil des Stamms, diese oder jene Form hat. Entscheidend ist vielmehr, dass all diese Holzstücke und Teile die Eigenschaften von Holz haben, die mit einer Axt bearbeitbar machen - im Unterschied zu Dingen, die aus Stein sind. Diese Abstraktion ist insoweit mit einer Verallgemeinerung verbunden, als die Axt für all diese holz-artigen Gegenstände taugt. Im Zuge der Vorbereitung des zweiten qualitativen Sprungs - also noch im Banne der Naturgeschichte(!)- kann von Bewusstsein allerdings noch keine Rede sein, sondern wir müssen in Rechnung stellen, dass es um kognitive Repräsentanzen geht, die- vielleicht wie Routinen-unterhalb einer systematischen Reflexionsebene liegen, aber in die Richtung kumulativer sozialer Erfahrung gehen. Auch wenn Holzkamp die Aktivitäten und Kognitionen in diesen Zusammenhängen schon als »gesellschaftlich« bezeichnet (a.a.O., 177), gibt er selber zu bedenken, >>dass die frühesten Formen der gesellschaftlichen Erfahrungskumulation noch wie die tierischen Traditionsbildungen dem dominanten phylogenetischen Prozess untergeordnet waren und lediglich Spezialisierungen zur Optimierung der evolutionären Anpassungsvorgänge darstellten; darüber hinaus ist der später erfolgende Wechsel zur Dominanz des gesellschaftlich-historischen Prozesses überhaupt nur als möglich begreitlJar, wenn man auf die Zwischenphase der Gleichzeitigkeit zwischen sich herausbildenden gesellschaftlichen Lebensweisen und der fortdauernden Beherrschtheit des Gesamtprozesses der Lebensgewinnung von den phylogenetischen Evolutionsmechanismen zurückgreift.« (178, Herv. entf., M.M.)
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Schurig betont, dass das Herstellen von Werkzeugen im TMÜ noch nicht den Umschlag von Natur- in Gesellschaftsgeschichte bedeute: »Dies ist lediglich die Entstehung des besonderen Naturverhältnisses des Menschen, der Arbeit. Aber die Arbeit bestimmte keineswegs die Lebensbedingungen der Frühmenschen vollständig, sondern diese bleiben in ihrer Gesamtheit der Verhaltensaktivität noch Naturwesen.« (1976, 254) Deswegen sei auch sinnvollerweise die Rede von Gebrauch und Herstellung von Werkzeugen »auf der Verhaltensebene an den Begriff der Arbeit als ein grundsätzlich neues- >humanes<- Naturverhältnis gebunden, so dass der populäre Terminus »tierischer Werkzeuggebrauch< ein klassischer Anthropomorphismus« sei (Schurig 2006, 145). Wir müssen festhalten, dass die Phase zwischen erstem und zweitem qualitativen Sprung noch im Banne der Phylogenese stattfindet, also auch, dass die »Ansätze zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung selbst auf die genornisehe Information« zurückwirken (Holzkamp, a.a.O., 179), als biologische Grundlagen der Möglichkeit individueller Vergesellschaftung. In-
sofern hat der Mensch im wahrsten Sinne des Wortes eine gesellschaftliche Natur. Der Mensch ist damit das einzige Lebewesen, das aufgrund seiner natürlichen Möglichkeiten in der Lage ist, sich in gesellschaftliche Prozesse hineinzuentwickeln. Dass diese natürlichen Möglichkeiten zu einer historisch-gesellschaftlichen Realität werden, schließt ein, dass der historischgesellschaftliche Entwicklungsprozess gegenüber dem bis dahin nach wie vor dominierenden evolutionären Prozess dominant wird- was (wie das angeführte Aussterben von Hominidengruppen zeigt) ein keineswegs zwingendes, aber eben ein (wie unsere eigene Existenz zeigt) empirisches Ergebnis der Entwicklung ist. Die biologische Potenz zur individuellen Vergesellschaftung ist im Übrigen eine Antwort auf die paradox erscheinende Frage, wie denn der phylogenetische Prozess sich selber faktisch außer Kraft setzen konnte. Nur auf die geschilderte Weise ist auch der so gängigen wie paradoxen Vorstellung zu begegnen, dass der Mensch sich trotz seiner Natur vergesellschaften kann. Allein eine - im wohlverstandenen Sinne naturwissenschaftliche und gesellschaftstheoretische informierte - Psychologie kann diese nur scheinbare Paradoxie auflösen. Der Dominanzwechsel von phylogenetischer zu historisch gesellschaftlicher Entwicklung bedeutet, dass der »Widerspruch zwischen Lebensgewinnung und systemgefährdenden Außenweltbedingungen nicht mehr lediglich zu phylogenetischen Optimierungen führt, sondern nur durch Optimierungen innerhalb des Prozesses der über vergegenständlichende Arbeit vermittelten gesellschaftlichen >Traditionsbildung< aufgehoben werden kann« (a.a.O., 180, im Orig. z.T. herv., M.M.). Dieser Prozess war mit Lebensverhältnissen verbunden, wie sie die Jungsteinzeit charakterisieren: fruchtbare Böden, hohe Bevölkerungsdichte bei relativ hoch entwickelter
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sozialer Organisation und Kommunikation unter Einschluss erster Bilderschriftformen, Übergang von einer Art Landwirtschaft, die bloß vorhandene Lebensquellen nutzt, zur Produktionswirtschaft, also zur Herstellung von Lebensmitteln, zu Arbeitsteilungen, zur Erwirtschaftung eines Mehrproduktes mit damit verbundenen gesellschaftlichen Formen von Herrschaft (vgl. Holzkamp-Osterkamp 1975, 275ff). In welchen Formen und unter welchen - etwa klimatischen - Umweltbedingungen dies abgelaufen sein mag: In dem Maße jedenfalls, in dem derartige Entwicklungen stattfanden, setzte sich die auf den Gesamtprozess bezogene Dominanz der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung durch, deren weiterer Verlauf historisch rekonstruiert werden kann. Diese Dominanz historisch-gesellschaftlicher Entwicklung heißt übrigens keineswegs, dass damit die menschliche »Art« nun nicht mehr aussterben könnte. Dass die Menschen die Potenz haben, sich selber etwa in einem atomaren Inferno auszulöschen, oder dass es - auf längere Sicht als die des aktuell diskutierten Klimawandels - klimatische Änderungen geben könnte, gegen die die dann lebenden Menschen keine Mittel haben, ist unbenommen. Die herausragende Bedeutung der Herstellung und Benutzung von Werkzeugen für das TMÜ wird nicht von allen in diesem Bereich Forschenden geteilt. Schurig (2006), der einen Überblick über fünf konkurrierende Hypothesen (die ich nicht im Einzelnen darstellen und diskutieren will) gibt, resümiert seine Sicht auf die aktuelle Forschungslage folgendermaßen: »Der Werkzeuggebrauch der frühen Homoarten Homo habilis, Homo rudolfensis und Homoergaster ist im Detail zwar umstritten, generell aber als >harter Kern< der Erklärung des humanen Status akzeptiert [... ]. Ein wesentlicher methodologischer Vorteil der Werkzeughypothese [... ] bleibt dabei die Existenz fossiler Fakten gegenüber der nur weichen Datenlage« konkurrierender Hypothesen, die im Übrigen »den Werkzeuggebrauch implizit voraussetzen.« (144f) 8.3.6 Psychische Implikationen der gesellschaftlichen Natur des Menschen
Wir haben bislang die Organismus- und Umweltdimensionen dargestellt, aus deren Verhältnis das Entstehen der gesellschaftlichen Natur des Menschen erklärt werden kann. Dabei waren global folgende, mit dieser Entwicklung notwendig einhergehende psychische Aspekte skizziert worden: die kognitive (und antizipatorische) Repräsentanz von »Mitteln«, die Realisierungsmöglichkeit funktionsteiliger Sozialbeziehungen bzw. -koordinationen, eine soziale Dimension des »Kontrollbedarfs« und der Umstand, dass zunehmend >vorsorgende< Erkundungsaktivitäten realisiert werden, bevor die zu befriedigenden »primären<< Bedürfnisse wie Nahrungsaufnahme dringlich (»Hunger<<) werden. Bevor wir nun dazu kommen können, die
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mit der gesellschaftlichen Natur des Menschen ermöglichte gesellschaftliche Form der Lebensgewinnung darzustellen, müssen die psychischen Aspekte der gesellschaftlichen Natur des Menschen noch weiter entfaltet werden - und zwar differenziert nach den Dimensionen (Orientierungs-) Bedeutungen, denen in der Entwicklung eine Schlüsselrolle zukommt (Holzkamp 1983, 207), und den damit verbundenen »Funktionsaspekten« Kognition (Erkenntnis), Emotion (Wertung) und Motivation. Ich werde dies hier allerdings nur kursorisch verfolgen (vgl. dazu im Einzelnen a.a.O., Kap. 6.2, 209ff, und 7.2, 250ff). Der in der Überschrift enthaltene Terminus »Implikationen« ist dabei von systematischer theoretisch-methodischer Bedeutung. Die analytische Leitlinie ist nämlich die Frage danach, welche psychischen Charakteristika und Fähigkeiten als logisch notwendig angenommen werden müssen und in historischer Rekonstruktion plausibel gemacht werden können, wenn die Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen begreifbar werden soll. Schurigs erwähnte Warnung davor, gesellschaftliche Vorstellungen auf Tiersozietäten zu übertragen, gilt also analog auch hier: Es dürfen für das Begreifen der Gesamtentwicklung nur unbedingt notwendige psychische Charakteristika eingeführt werden, und diese müssen auf den bis dahin entwickelten basieren.
8.3.6.1 Differenzierung von Bedeutungen und Bedarfszuständen Wesentlich für die weitere Entwicklung ist die Lockerung der Verbindung von Orientierungsbedeutungen (für die Nahrungssuche) und primärer Endaktivität (Nahrungsaufnahme), d.h.: »Der Einzelne beteiligt sich an der kollektiven Lebensgewinnung, auch ohne dass die Gesamtsequenz der Aktivität von der individuellen Endhandlung der Bedarfsbefriedigung her motiviert ist, ist also in_der Lage, die Befriedigung bis zu dem über den individuellen Aktivitätsabschluss hinausgehenden Abschluss der kollektiven Aktivität aufzuschieben« (Holzkamp 1983, 210). Nach der skizzierten Zweck-Mittel-Verkehrung (Kap. 8.3.4) müssen die Individuen einen praktischen Begriff davon haben, was in den Mitteln (Werkzeugen) steckt und was mit ihnen zu machen ist, und sie müssen dabei Wesentliches von Unwesentlichem auf neue Weise unterscheiden können. Sie müssen wissen, dass und wozu ein Mittel hergestellt ist (Hergestelltheits- und Brauchbarkeitsaspekt): Man kann natürlich einen Hammer auf eine leicht schräge Fläche legen, um zu verhindern, dass ein Ei herunterrollt, gemacht ist er aber eigentlich zum Schlagen. Es ist weiter davon auszugehen, dass sich mit der Ebene der Bedeutungen (Orientierungsbedeutungen, Mittelbedeutungen) auch die Bedarfsgrundlage entwickelte, wie oben schon am »Kontrollbedarf« skizziert. Der »Kontrollbedarf« dient nicht mehr nur der individuellen Umweltexploration,
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sondern er wird »zur Bedürfnisgrundlage für die Beteiligung des Einzelnen an der kooperativ-vorsorgenden Schaffung von Lebensbedingungen, damit Verfügung über seine eigenen Existenzbedingungen« (a.a.O., 215). Das bedeutet für die »primäre« Bedürfnisgrundlage, dass deren »Befriedigung nicht lediglich in der Überwindung aktueller Mangel-, Not- und Bedrohungssituationen, sondern nur im Zustand der verallgemeinert-vorsorgenden Abgesichertheit gegenüber möglichen Mangel-, Not- und Bedrohungssituationen durch Beteiligung an kooperativer Bedingungsverfügung in optimaler Weise erreicht ist« (ebd.). Bei diesen psychischen Implikationen der ja noch phylogenetischen Herausbildung der gesellschaftlichen Natur darf allerdings nicht von einem Bewusstsein der Individuen ausgegangen werden: Diese psychischen Implikationen sind lediglich selektionsbedingte Effekte, die sich an den Einzelnen sozusagen durchsetzen; der kognitive Aspekt des Psychischen ist hier noch nicht mit menschlichem Bewusstsein gleich zu setzen. Bis hier haben wir die psychischen Implikationen des Funktionskreises der individuellen Lebenssicherung skizziert; es stellt sich nun noch die Frage nach der Entwicklung im Funktionskreis der Fortpflanzung, also der sexuellen Bedeutungs-Bedürfnis-Dimension (a.a.O., 219ff). Was ist im Funktionskreis der Fortpflanzung zu beobachten? Ein Zurücktreten jahreszeitlich festgelegter Zyklen sexueller Aktivitäten (wohl im Zusammenhang mit der Einbindung von Sexualkontakten in Sozietäten), womit derartige biologische Festlegungen ihre Funktionalität verloren; so wird ja auch die Jungenaufzucht in gewissem Ausmaße in den Sozialverband integriert. Holzkamp zieht daraus den Schluss: Die Bedeutungs-Bedürfnis-Dimensionen im Funktionsbereich der Fortpflanzung/Sexualität sind »nicht unmittelbar in den phylogenetischen Prozess der Herausbildung der neuen Lebensgewinnungsform durch vergegenständlichende Arbeit einbezogen, [... ] sondern bleiben (relativ) unspezifisch biosozial«. Die angesprochene Lösung sexueller Aktivitäten von artspezifisch-zyklischen Festlegungen hat jedoch im Zuge der Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen die wesentliche Folge, dass Sexualität >>durch die mit der gesellschaftlichen Arbeit einhergehende verallgemeinerte Gestaltung sozialer Beziehungen modifizierbar, also - wie wir uns ausdrücken wollen- gesellschaftlich formbar [ist]. Aus dieser Charakteristik, einerseits eine elementare sinnlich-vitale Lebensäußerung des Menschen, andererseits aber gesellschaftlich formbar zu sein, ergibt sich die besondere Weise der unmittelbaren Erfahrungsintensität wie der >Formierbarkeit< und >Unterdrückbarkeit< der Sexualität durch historisch bestimmte Produktions- und Herrschaftsverhältnisse« (ebd., 22lf).
Schon aus diesem später weiter auszuführenden Sachverhalt ergibt sich, dass die Charakterisierung der Sexualität als >>unspezifisch biosozial« und die Feststellung, dass sie nicht in die spezifisch bestimmende Entwicklung
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einbezogen ist, nichts damit zu tun hat, ihre Bedeutung für die menschliche Existenz und das Leben der Einzelnen herunterzuspielen. Nur: was auf gesellschaftlicher Ebene etwa als >sexuell attraktiv« gilt, ist nicht systematisch in die Produktivkraftentwicklung einbezogen, sondern ist in den dabei zu beobachtenden Wechseln eher Ausdruck zirkulär wechselnder Moden (a.a.O., 259).
8.3.6.2 Differenzierung von Kognition, Emotion, Motivation Hier lässt sich daran anknüpfen, dass die Herstellung von Mitteln ihren Ad- hoc-Charakter verliert und soziale Koordination sich in Richtung Kooperation entwickelt. Das impliziert, dass Antizipation sich auf die Aktivitäten mehrerer Individuen und die Bedeutung, die Mittel dabei spielen, beziehen können muss. Außerdem muss es möglich sein, dass das frühere Probieren und Beobachten (etwa Stochern in einem Termitennest) auch auf die Ebene überindividueller Aktivitäten und Antizipationen übertragen wird- was sich erneut am schon bekannten Jäger-Treiber-Beispiel veranschaulichen lässt (a.a.O., 264ff). Weil nun aber in die Aktivitäten der Individuen die vorgängig produzierten Verwendungsmöglichkeiten der Mittel eingehen, deren Bedeutung individuell re-produziert wird, besteht die Möglichkeit, dass das bloße Probieren in Planen übergeht (a.a.O., 271). Damit ist natürlich nicht gesagt, dass es kein individuelles »Probieren<< mehr gibt; dieses ist immer dann der Fall, wenn Menschen in einer biographisch für sie neuen Situation oder von bestehenden Erkenntnissen abgeschnitten sind. (Eine zeitgenössische Variante des Probierens/Beobachtens scheint mir der Umgang mit Computerproblemen oder die Bedienung von Geräten ohne vorheriges Lesen der Bedienungsanleitung zu sein, deren Abfassung allerdings nicht selten auf diese Neigung zu bauen scheint.) Generell sind unspezifische und frühe Formen des Weltzugangs mit der Entwicklung zur gesellschaftlichen Natur und weiter zur gesellschaftlichen Lebensweise nicht verschwunden, sondern in den neuen Entwicklungen aufhoben, oder sie existieren parallel weiter. Zwei Beispiele dazu: >>Gradientenorientierung« und >>Diskrimination« (vgl. 7.6.1). Die Gradientenorientierung, bezogen auf eine Orientierung bezüglich nicht gegenständlicher Medien (wie Geruch oder Helligkeit), bleibt unspezifisch bestehen und gewinnt situative Relevanz bei reduzierten Umweltinformationen (Geruchsquelle ausfindig machen, Orientierung in dichtem Nebel). Dagegen ist die >>Diskrimination<< als Frühform einer Gliederung des Orientierungsfeldes in den »phylogenetischen Prozess der Spezifizierung des Psychischen über die Stufe der Lern- und Entwicklungsfähigkeit bis zur Menschwerdung einbezogen, hat sich also im Zuge dieses Prozesses so verändert, dass sie in ihrem genetisch ursprünglichen elementaren Spezifitätsniveau beim Menschen nicht mehr vorkommt« (a.a.O., 255, im Orig. z.T. herv., M.M.; zu Problemen der aktual-empirischen Untersuchung unterschiedlicher Spezifitätsniveaus beim Menschen vgl. a.a.O., 303, 573ff).
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Am Zusammenhang von kooperativer Antizipation und Planung hebt Holzkamp hervor, dass die individuellen Operationen ihren Sinn nur im übergeordneten Handlungszusammenhang erhalten und nicht losgelöst davon zu analysieren sind (a.a.O., 279), was wiederum leicht am Jäger-Treiber-Beispiel zu veranschaulichen ist. Dies hat nun für die Bestimmung von Motivation bzw. den Zusammenhang von Erkennen, Antizipieren und Bewerten gravierende Konsequenzen, wobei drei »Teilzusammenhänge« zu realisieren sind: 1. der Zusammenhang zwischen der überindividuellen Handlung bzw. dem Ziel und den objektiven Gegebenheiten, auf die sich die Handlung bezieht; 2. der Zusammenhang zwischen der überindividuellen Handlung und dem individuellen Beitrag dazu; 3. der Zusammenhang zwischen dem Handlungsergebnis und dessen Bedeutung für die Existenzsicherung des Individuums (a.a.O., 282f). Diese Bedeutung des Handlungsergebnisses für individuelle Existenzsicherung ist allerdings - perspektivisch - an die positive Beantwortung folgender drei Fragen gebunden: (a) Inwieweit besteht tatsächlich der Zusammenhang zwischen dem Beitrag des Individuums an der kooperativen Aktion, der ja mit gewissen Anstrengungen verbunden ist, und der Sicherung oder Verbesserung seiner eigenen Lebenslage? (b) Ist der Zusammenhang in überindividuellen Denkformen enthalten? (c) Kann das Individuum selber den Zusammenhang erfassen (a.a.O., 299f)? Es ist allerdings davon auszugehen, dass bei der Herausbildung der gesellschaftlichen Natur des Menschen die skizzierten drei Teilzusammenhänge der Motivation noch nicht scharf zu trennen sind. Sie dürften eher noch »eine Einheit bilden«, während aber schon »wichtige Linien der weiteren Analysen vorgezeichnet sind« (a.a.O., 300). Im Kontext der drei »Teilzusammenhänge« folgert Holzkamp, dass »Denken« unterbestimmt sein muss, wenn es allein auf individuelles Problemlösen reduziert wird. Vielmehr müsse es als »Aneignung (und potenziell auf diesem Wege Änderung) der in den produzierten und reproduzierten Mitteln/Lebensbedingungen und darin gegeben Sozialstrukturen enthaltenen Denk und Sprachformen« begriffen werden. Noch einmal, eher methodisch
gefasst, geht es darum, welche Möglichkeiten im individuellen Denken angenommen werden müssen, damit die Entwicklung zur gesellschaftlichen Menschen nachvollziehbar werden kann: »Es sind die allgemeinen Charakteristika des Denkens als Potenz der >gesellschaftlichen Natur< des Menschen herauszuarbeiten, aus denen begreiflich wird, wie kooperativ-gesellschaftliche Denk- und Sprachformen als Notwendigkeiten verallgemeinert-vorsorgender Lebenssicherung sowohl in ihren generellen Zügen wie in ihrer historischen Bestimmtheit im individuellen Denken >abbildbar< sein können [... ) Wir müssen den früher aufgewiesenen, durch kooperativgesellschaftliche Zielkonstellationen bestimmten Handlungszusammenhang (in den benannten drei Teilzusammenhängen) auf die darin enthaltenen >kognitiven
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Strukturen< der Denk- und Sprachformen hin analysieren und von da aus aufzuweisen versuchen, welche (in der >gesellschaftlichen Natur< gegründeten) Fähigkeiten des individuellen Denkens sich herausgebildet haben müssen, durch welche die Menschen die jeweiligen >kognitiven Strukturen< realisieren bzw. überschreiten, also unter gesellschaftlichen Bedingungen handlungs- und lebensfähig werden konnten.<< (A.a.O., 286)
In diesem Kontext sind kooperative Handlungszusammenhänge nicht mehr als Aktivitäts-Wirkungs-Zusammenhänge zu charakterisieren, sondern als Aktivitäts- Ursache- Wirkungs-Zusammenhänge, die von den Beteiligten praktisch begriffen werden müssen: Zwischen die Aktivität und die Wirkung ist eben ein Drittes- eine Ursache- geschaltet: Das Säen mit dem Mittel des Saatgutes etwa schafft eine Ursache, die die Wirkung des Wachstums des Getreides und damit die Möglichkeit Ernte hervorruft; oder: Das Schlagen mit der Axt schafft eine Ursache, in deren Folge sich Holzstücke (oder leider auch Schädel) spalten (a.a.O., 287ff). Dabei müssen nicht nur die Produktion bzw. die sachgemäße Nutzung von Mitteln unterschieden werden können. Zusätzlich muss die Möglichkeit bestehen, sich und andere in den jeweiligen Funktionen denken zu können, andere als andere wahrnehmen zu können, und ansatzweise zu wissen, dass ich für andere die/der andere bin: »Der sachintentionale >Begriff< der in Herstellungs- oder Gebrauchsaktivitäten umzusetzenden >verallgemeinerten Brauchbarkeit< ist also, sofern er gesellschaftlich kooperative Verhältnisse adäquat abbildet, notwendig immer auch ein sozialintentionaler >Begriff< der Individuen von ihrem eigenen Stellenwert innerhalb der Struktur verallgemeinerter personaler Zwecksetzungen und Lebensmöglichkeiten. [. .. ] Weiterhin muss das Individuum in einer Art von >sozialer Dezentrierung< von seinem eigenen Standort absehen und den Standort der >verallgemeinerten Anderen< einnehmen, sich also selbst als einen >Anderen für andere< kognizieren können.<< (A.a.O., 292) Schließlich muss auch die Wahrnehmung perspektivisch als vom »Denken der Handlungszusammenhänge her strukturiert« gedacht werden, »indem die Realität hier notwendig >durch< die dabei entwickelten symbolisch repräsentierten >praktischen Begriffe< hindurch wahrgenommen wird« (a.a.O., 301, im Orig. herv., M.M.; vgl. dazu auch Jürgens [2001])- was zu entsprechenden Widersprüchen führen kann, die Holzkamp das »Doppelgesicht« der Wahrnehmung nennt (a.a.O., 302): Das Individuum nimmt einen Bearbeitungsgegenstand im Wissen um dessen Bearbeitbarkeit wahr, merkt aber gleichzeitig, dass sich der Gegenstand seinen Bearbeitungsversuchen gegenüber widerständig erweist: >Es kann doch nicht wahr sein, dass ich diese Nuss (der Knackbarkeit von Nüssen zum Trotz) nicht geknackt kriege.< Damit ist die Übersicht über wesentliche psychologische Implikationen der »gesellschaftlichen Natur<< des Menschen abgeschlossen (und der erste
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der in Kap. 8.3.5 angekündigten vier Analyse- und Darstellungsschritte getan). Im nächsten Kapitel wird es also um die drei weiteren Schritte gehen: (a) die Eigenarten des gesellschaftlichen Gesamtprozesses gegenüber denen der Phylogenese, (b) das damit verbundene Verhältnis der Individuen zu ihren Lebensbedingungen und (c) die psychischen Implikationen eben dieses Verhältnisses. 8.4 Warum »gesellschaftliche Natur« des Menschen? Das Analyseresultat »gesellschaftliche Natur des Menschen« bedeutet für die einschlägigen wissenschaftlichen Kontroversen einen historisch-empirisch fundierten Vorschlag, wie »menschliche Natur« zu fassen ist. Bezüglich relevanter anderer Ansätze bedeutet das: Eine argumentative Basis l. gegenüber Positionen wie der des Symbolischen Interaktionismus, die sich um das Problem der menschlichen Natur nicht scheren und insoweit biologistischen Auffassungen nur eine abstrakte Negation entgegen zu setzen haben (vgl. Maiers & Markard 1994); 2. gegenüber der Psychoanalyse eine inhaltliche Argumentation gegen die antigesellschaftliche Triebnatur des Menschen, wonach menschliche Vergesellschaftung und damit Erziehung ein Kampf gegen die menschliche Natur sein muss (ich komme darauf in Kap. 12 zurück; vgl. Holzkamp-Osterkamp 1976); 3. gegenüber biologistischen Konzeptionen, die gesellschaftliche Zustände unter Rekurs auf biologische Funktionalitäten meinen erklären zu können (vgl. Lux & Vogelsang 2000; Maiers 2002).
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9. Gesamtgesellschaftlich vermittelte Existenz des Menschen und das Verhältnis von Psychologie und Gesellschaftstheorie 9.1 Vorbemerkung über die Grenze der funktional-historischen Methode und die Notwendigkeit eines neuen Interpretationsrahmens Es ist nun die Frage zu stellen, was der auf den Gesamtprozess bezogene Dominanzwechsel von phylogenetischer zu historisch gesellschaftlicher Entwicklung für die psychischen Charakteristika des Menschen und damit für die Psychologie bedeutet. Anders formuliert: Welche spezifisch neuen Qualitäten des Psychischen lassen sich als Aspekt der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung ausmachen- und zwar auf der Basis der bislang beschriebenen Dimensionen der phylogenetisch entstandenen Lern- und Entwicklungsfähigkeit und der Herausbildung der gesellschaftlichen Natur? Dazu müssen wir zunächst den neuen Gesamtprozesses charakterisieren, um von da aus wieder zur Ebene des Psychischen kommen zu können: Denn dieses soll ja als Aspekt des neuen Gesamtprozesses begriffen werden. Dabei ist zu bedenken, dass die neuerliche Spezifizierung des Psychischen aus folgendem Grunde nicht mehr funktional-historisch rekonstruiert werden kann (vgl. Holzkamp 1983, 189ff): Das funktional-historische Verfahren ist daran gebunden, dass das wesentliche Moment, der Träger der Entwicklung, die genornisehe Veränderung der Organismen (mit den skizzierten Mechanismen der Mutation und Selektion) ist. Dieser Entwicklungsmodus der genorniseben Veränderung ist es, der für die Phylogenese charakteristisch ist; deren Dominanz wird nun aber gerade durch die der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung abgelöst. Die Ablösung der Dominanz des phylogenetischen Entwicklungsprozesses bedeutet allerdings nicht, dass damit die Phylogenese selber durch die historisch-gesellschaftliche Entwicklung abgelöst oder ersetzt wäre- sie wird nur für die weitere Entwicklung des Menschen »gänzlich bedeutungslos« (a.a.O., 183), weil die zeitlichen Größenordnungen von Natur- und Gesellschaftsgeschichte extrem unterschiedlich sind. Während man allein für den Prozess der Herausbildung der sozialen Werkzeugherstellung mindestens eine Million Jahre ansetzen muss, sind seit ersten Werkzeugkulturen 40 000 Jahre, seit der Jungsteinzeit bis heute erst etwa 10000 Jahre vergangen, seit der antiken Kultur, wie sie Homer beschreibt, keine 3000 Jahre. Die rasanten Entwicklungen, die seitdem festzustellen sind, können in den hier interessierenden fundamentalen Dimensionen mit einer Entwicklung der genetischen Grundlage nichts zu tun haben, da das menschliche »artspezifische Genmaterial seit etwa 40000 Jahren unverändert geblieben ist« (Seidel 2004, Sp. 1313 ). Seit dieser Zeit ist die »phylogenetische Kontinuität [... ] nur die unspezifische Basis der menschlichen Existenz, nicht aber entwicklungsbestimmend für den Gesamtprozess der Lebensgewinnung« (Holzkamp 1983,
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183). Inwieweit sich im Laufe der weiteren gesellschaftlich-historischen Entwicklung in evolutionären zeitlichen Größenordnungen, also in Jahrhunderttausenden (also etwa im Jahre 222 008 post Christum natum), relevante genetische Veränderungen durchgesetzt haben werden, ist empirisch nicht zu klären und braucht uns derzeit auch nicht zu interessieren. Damit ist allerdings nicht die - derzeit auch empirisch nicht zu beantwortende Frage geklärt, welche Folgen mögliche menschliche Eingriffe in das menschliche Genom haben könnten. Diese Folgen wäre dann aber keine Resultate natürlicher Selektion/Mutation und damit des Wirkens der Naturgeschichte, sondern (ggf. intentionswidrige und unkontrollierbare) Resultate bewusster Eingriffe ins Genom im Zuge der gesellschaftlich-historischen Entwicklung. So ermöglicht(e) auch die Kenntnis der >Vererbungsgesetze< >Züchtungen<, mit denen nicht direkt, aber mittelbar genetische Veränderungen intendiert und erreicht wurden und werden. Aber ist das nicht auch bei Menschen- selbstgesteuert- möglich? »Schlaue« kriegen nur mit »Schlauen« Kinder? Selbst wenn wir- entgegen unseren Argumenten zur »Begabung« (Kap. 5.1) annehmen, Intelligenz sei eine isolierbare biologische und züchtbare Eigenschaft: Damit wären die Dimensionen der gesellschaftlichen Natur des Menschen nicht überholt. Die Frage, wie die Herausarbeitung der neuen psychischen Charakteristika erfolgen muss, entwickelt Holzkamp vor allem aus folgender Besonderheit des gesellschaftlich-historischen Prozesses gegenüber dem phylogenetischen: Wie dargestellt, hat in der phylogenetisch dominierten Entwicklung das Überleben bzw. Sterben des Einzelorganismus im Verhältnis zur Erhaltung der Art keinen eigenständigen Stellenwert. Funktional relevant ist allein die Erhaltung der Art: »Dieses Verhältnis«, argumentiert Holzkamp, »kehrt sich nun mit der Dominanz des gesellschaftlich-historischen Prozesses geradezu um: Indem die Individuen beginnen, in gemeinschaftlicher Umweltverfügung ihre Lebensmittel und Lebensbedingungen selbst zu produzieren, ist hier die Existenzerhaltung der Einzelindividuen das bewusst angestrebte Ziel« (a.a.O., 190). Man könnte auch sagen: Gesellschaft ist nicht Kampf ums Dasein, sondern im Gegenteil die Ermöglichung des Kampfes gegen den (blinden) Kampf ums Dasein. Hier drängt sich nach meinen Lehrerfahrungen folgender Einwand auf: Gibt es denn irgendeine uns bekannte Gesellschaft, in der die »Existenzerhaltung der Einzelindividuen das bewusst angestrebte Ziel« ist? Sind nicht Herrschaft, Ausbeutung und Profit das Ziel? Sind anderweitig orientierte Versuche nicht gescheitert? Gegen diesen Einwand lassen sich zwei Argumente vorbringen: 1. Die »Zielstellung« kann als vom Standpunkt der jeweiligen Individuen formuliert verstanden werden: Dann würde der Satz bedeuten, dass die Einzelnen ihre Existenzerhaltung bewusst verfolgen, ohne dass damit gesagt wäre, auf welche Weise, auf wessen Kosten und mit welchem Ergebnis sie das tun - unter Einschluss übrigens des Umstands, dass sie auch bewusst ihrer Existenz ein Ende setzen können, mit sehr unterschiedlichen Zwecken und Motiven (wie Selbst-
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morde und Selbstmordattentate zeigen). Diese Variante der Argumentation wäre kaum oppositionsfähig- allerdings auch nicht trivial in der Absetzung des Mensch-Welt-Zusammenhangs von der Organismus-Umwelt-Beziehung (s.u.). 2. Aber die »Zielstellung« soll doch »Gesellschaft<< charakterisieren: Dann käme in der Formulierung Holzkamps ein utopisches Moment zum Ausdruck, eine Art »Richtungsbestimmung«, über deren historische Realisierbarkeit sich streiten lässt - wie über die früher zitierte - marxistische - Perspektive, nach der die freie Entwicklung eines jeden die Voraussetzung der freien Entwicklung aller ist, und nach der Verhältnisse zu schaffen sind, unter denen niemand mehr ein geknechtetes Wessen ist. Diese historische Perspektive bzw. ihre Wünschbarkeit sind durchaus oppositionsfahig und strittig, zumindest solange es Verhältnisse gibt, in denen Menschen auf die »Knechtschaft« anderer setzen (ein derzeit wohl kaum bestreitbarer Tatbestand). Insbesondere für die zweite Argumentation ist bedeutsam, dass die im nächsten Teilkapitel zu schildernden psychischen Aspekte menschlicher Lebensgewinnung in gesellschaftlichen Verhältnissen zunächst von konkret-historischen Bedingungen abstrahieren, also diesen gegenüber allgernein sind (so dass historisch konkrete Manifestationen des Psychischen als solche analysierbar werden). Die damit auftretende Frage ist die, inwieweit in diesem Sinne allgemeine Bestimmungen der menschlichen Spezifik des Psychischen utopisch sein müssen, wenn und soweit sie allgerneine menschliche Möglichkeiten zu formulieren haben, deren bisherige historisch-konkrete Realisierung ausgesprochen widersprüchlich ist. Wir werden sehen (hoffe ich). Ein Beispiel, das sich zur Verdeutlichung des Gemeinten eignet, ist die gattungsallgemeine Fähigkeit zur »Kooperation«. Diese dürfte wohl (eine) Basis für eine solidarische Gesellschaft sein, da diese ohne Kooperation nicht denkbar ist. Andererseits: Sind nicht aber auch Genozide nur >kooperativ< zu bewerkstelligen? Gewiss, nur der Genozid (um ein Extrembeispiel zu bemühen) beschränkt das kooperative Moment auf die >Völkermörder< und schließt die Opfer davon aus; und wenn diese sich dagegen wehren, werden auch sie kaum die Gegenseite in ihre Kooperation einschließen können. Diese Partikularität des Gegeneinander ist aber dem Begriff nach in der »Kooperation« nicht angelegt, sondern Moment ihrer spezifisch-historischen Realisierung. In eben diesem Sinne wäre der Fähigkeit zur Kooperation als allgemeiner menschlicher Möglichkeit ein utopisches Moment inhärent. Und nur in diesem Sinne: Denn davon, dass irgendein Urzustand wieder einzuholen wäre, kann keine - phylogenetisch wie gesellschaftstheoretisch informierte - Rede sein. Insofern ist auch die Rede von der »zersetzten Solidargemeinschaft« (Rehmann 2004, Sp. 751; Herv. von mir, M.M.), deren Zersetzung sich in »Marktkonkurrenz und Privatisierung der Individuen« zeige, problematisch, indem hier nämlich die Gefahr besteht, dass die Utopie der Solidargemeinschaft in irgendeine Vergangenheit projiziert wird.
Gesellschaftlich-historische Veränderungen von (und auch innerhalb von) Produktionsweisen sind also deswegen nicht wie Entwicklungen von Arten im Zuge von Mutation und Selektion zu begreifen, weil sich hier kein substanzieller Träger- wie die genetische Ausstattung der Arten- ausfaltet, sondern die gesellschaftliche Natur des Menschen die- in gesellschaftsgeschicht-
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liehen Zeiträumen eben gleich bleibende - Basis für gesellschaftliche und individuelle Entwicklungen ist. Die gesellschaftlichen Entwicklungen sind von heute aus, was die Vergangenheit angeht, rekonstruierbar und, was die Zukunft angeht, unabsehbar. Derzeit offensichtlich ist, dass sie sich beschleunigen, wobei die Individuen immer neu vor der Aufgabe stehen, sich den gesellschaftlichen Entwicklungsstand - in den ihnen möglichen, das heißt bis heute immer auch klassen-, geschlechts- und nach ethnischen Kategorisierungen spezifisch beschränkten Ausschnitten - individuell anzueignen. Auch hoch entwickelte Tiere, insbesondere Primaten, lernen, wie oben auch skizziert, natürlich eine ganze Menge - und sie müssen dies auch, um ihre artspezifischen Möglichkeiten zu realisieren. Diese Lernprozesse resultieren aber im Großen und Ganzen im immer wieder selben Ergebnis (eines vergleichsweise breiten Verhaltensrepertoires), während beim Menschen die je mögliche Entwicklung die gesellschaftlich-historische Dimension einschließt, seine Entwicklungsmöglichkeiten also historisch offen und unabschließbar sind. Der Umstand, dass für einzelne Primaten in tierpsychologischen Laboren, auf kognitive individuelle >Spitzenleistungen< hin getrimmt (vgl. 8.2.3), ihre Leistungen beim Erkennen und Differenzieren von Symbolen etwa quantitativ beachtlich ausgeweitet werden können, ändert nichts an der qualitativen Differenz zwischen artspezifisch ermöglichtem individuellen (»autarken<<) Lernen bei Primaten und der offenen Historizität gattungsallgemeiner menschlicher Erkenntnis- und Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten. Dabei ist auch zu bedenken: Von Menschen geschaffene ökonomische Strukturen und gesellschaftliche Verhältnisse sind kein genuin psychischer Tatbestand- sie haben vielmehr nur eine psychische Bedeutung, um deren Analyse es im Weiteren gehen wird. Wegen dieser - noch allgemeinsten - Besonderheit der Beziehung des einzelnen Individuums zum gesellschaftlichen Gesamtprozess sind nun gesellschaftstheoretisch - die grundlegenden Charakteristika des MenschWelt- (und eben nicht mehr Organismus-Umwelt-) Zusammenhangs herauszuarbeiten, und erst dann dessen psychische Aspekte. 9.2 »Gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit<< menschlicher Existenz Im Zuge der Herausbildung gesellschaftlich produzierter Lebensbedingungen und Lebensmittel steht das Individuum zu diesen in einer »doppelten Beziehung« (1983, 192): Sie sind einerseits Voraussetzung seiner Existenz, andererseits ist es an deren Schaffung, Erhaltung und Entwicklung beteiligt. Als wesentliche Dimension dieser Beziehung hebt Holzkamp hervor, dass diese beiden Momente mit fortschreitender Vergesellschaftung und Arbeitsteilung »immer stärker auseinandertreten und sich gegeneinander verselbständigen<<, und zwar in dem Sinne, dass die »produzierten Lebensmittell-bedingungen im Prinzip allen Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung stehen, unabhängig davon, ob sie an deren Produktion beteiligt
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waren« (192f). Er gibt zwar zu bedenken, dass »dies durch den Klassenantagonismus eingeschränkt ist«; diese Beschränkung sei aber »kein allgemeines Merkmal gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion, sondern ein historisch bestimmtes Merkmal von ökonomischen und außerökonomischen Machtverhältnissen « (193). Gleichwohl ist ein naheliegender und immer wieder geäußerter Einwand gegen diese Feststellung, dass sie illusionär und empirisch falsch sei. Keineswegs und nirgends stünden die Lebensmittel und Lebensbedingungen allen Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung, schon gar nicht unabhängig davon, ob sie an deren Produktion beteiligt waren. Erstens stehe, um erneut ein Extrembeispiel zu bemühen, ein Mercedes 500-SL denen, die ihn wirklich produziert haben, kaum selber zur Verfügung, und von denen, die ihn nicht produziert hätten, hätten nur verschwindend wenige (die erstens reich und zweitens >idiotisch< seien) einen von ihnen dann auch genutzten Zugang dazu. Im Übrigen zeige der derzeit zu beobachtende Abbau des Sozialstaates mit der prekärer werdenden Lage der von der gesellschaftlichen Produktion Ausgeschlossenen die Brüchigkeit der Aussage, Lebensmittel und-bedingungenstünden »im Prinzip[ ... ] allen Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung«: Radio Eriwan: Im Prinzipja-aber ... ? M.E. haben wir es bei der holzkampseben Argumentation mit derselben Problematik zu tun, die wir in Kap. 9.1 bezüglich des Verhältnisses von Organismus-Umwelt- und Mensch-Welt-Beziehung diskutierten, wonach die » Existenzerhaltung der Einzelindividuen das bewusst angestrebte Ziel« ist. Die Aussage, Lebensmittel/-bedingungen stünden im Prinzip allen Gesellschaftsmitgliedern zur Verfügung, unabhängig davon, ob sie an deren Produktion beteiligt gewesen seien, ist eine Allgemeinbestimmung, die von konkret-historischen Bedingungen abstrahiert und ein utopisches Moment enthält, damit eine Perspektive, die derzeitige Zustände als menschlich defizitär bestimmbar macht. In diesem Sinne formuliert Holzkamp dann auch seine zentrale Aussage zur gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz (ebd.): »Man kann hier also von einer durch die arbeitsteilige Struktur bedingten Durchbrechung der Unmittelbarkeit des Zusammenhangs zwischen der Schaf-
fung von Lebensmittelnt-bedingungen und deren Gebrauch/Nutzung durch das jeweils gleiche Individuum sprechen: Der Einzelne ist zwar einerseits an der Schaffung verallgemeinerter gesellschaftlicher Lebensmöglichkeiten beteiligt, und er erhält und entwickelt andererseits seine individuelle Existenz durch Realisierung der so geschaffenen gesellschaftlichen Lebensmöglichkeiten, der Zusammenhang zwischen diesen beiden Momenten ist aber nicht direkt vom jeweils Betroffenen hergestellt, sondern ist gesamtgesellschaftlich vermittelt; es hängt von dem Grad und der Art der Organisation der arbeitsteiligen gesellschaftlichen Verhältnisse ab, wie die Form des individuellen Beitrags zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung und die Möglichkeiten zur individuellen Exis-
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tenzsicherung und -entwicklung miteinander in Beziehung stehen. Die damit skizzierte >Ummittelbarkeits- Durchbrechung< und gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit der Schaffung und der Nutzung von Lebensmitteln/-bedingungen durch die arbeitsteilige Organisation der gesellschaftlichen Produktion/Reproduktion kann, da es dessen Spezifik nach dem >Dominanzumschlag< ausmacht, als objektives gesamtgesellschaftliches Grundverhältnis des Individuums im gesellschaftlichen Mensch-Welt-Zusammenhang betrachtet werden.<<
Insofern muss die wissenschaftliche Erfassung der menschlichen Spezifik des Psychischen eben diese Vermitteltheit fassen können - erstens als Spezifizierung der noch funktional-historisch herausgearbeiteten Dimensionen des Psychischen und zweitens in Auseinandersetzung mit vorfindliehen psychologischen Konzeptionen, mit denen die menschliche Existenz auf bloßes Zurechtkommen unter vorgegebenen Bedingungen und in unmittelbaren Situationen und Beziehungen reduziert wird- und mit denen deswegen nicht fassbar wird, wie Menschen Aktivitäten entfalten können, >>ohne dass die dabei angestrebten Resultate in unmittelbarem Zusammenhang mit ihren je aktuellen Lebensnotwendigkeiten und Bedürftigkeiten stehen« (a.a.O., 194; Herv. z.T. von mir, M.M.). Dieser »neue Interpretationsrahmen« zur Qualifizierung der menschlichen Spezifik des Psychischen - die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz- bedeutet, dass darauf bezogene Aussagen keine fixen Definitionen sein können, sondern als, wie Holzkamp es formuliert, >>Richtungsbestimmungen« (a.a.O., 195) (auf)gefasst werden müssen. Psychisches wie psychologische Kategorien (wie etwa »Handlungsfähigkeit« oder »Subjektivität«) sind nicht als fixe Gegebenheiten, sondern nur und jeweils unter Bezug auf konkrete gesellschaftlich-historische Entwicklungen zu formulieren - allerdings so, dass sie nicht einfach als platter Niederschlag, als mechanische (Herunter- )Konkretisierung von Gesellschaftsformationen erscheinen; dies würde dem noch ausführlich zu diskutierenden Verhältnis von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung und der Charakterisierung von Begriffen als >>Richtungsbestimmungen« widersprechen: Individuen sind in ihrem »Erleben und Verhalten« nicht wie abhängige Variablen jeweiliger gesellschaftlicher Bedingungen zu fassen, sondern diese Bedingungen bilden ein »Ensemble« von- klassen-, geschlechts-und nach ethnischen Kategorisierungen spezifischen- Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbehinderungen, in dem sich die einzelnen bewegen. Dies psychologisch ernst zu nehmen, bedeutet, dass die jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen gesellschaftstheoretisch - in Begriffen wissenschaftlicher Disziplinen: ökonomisch, soziologisch, politologisch etc. - begriffen werden und von Psychologinnen und Psychologen als gesellschaftstheoretische Bezugsebene ihrer Analysen und ihrer Praxis aufgegriffen werden müssen.
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9.3 »Position« und ))Lebenslage« als Vermittlungsebenen des Mensch-Welt-Zusammenhangs Die oben skizzierten Charakteristika gesellschaftlicher, arbeitsteiliger Lebensgewinnung implizieren auch, dass das einzelne Individuum sich nicht mehr mit der )))Gesellschaft< [. .. ] direkt als >Ganzen ins Verhältnis setzt« (a.a.O., 196), sondern nur in den ihm gegebenen Ausschnitten. Holzkamp schlägt zur Kennzeichnung diese Umstands zwei)) Vermittlungsebenen« (a.a.O., 197) vor, die er in den Konzepten ))Position<< und ))Lebenslage« formuliert. Innerhalb der arbeitsteiligen Gesamtorganisation meint )) Position« den ))Inbegriff unterschiedlicher notwendiger und aufeinander bezogener Teilarbeiten« (wie ))Berufe«, ))Stellungen<<) und die damit verbundenen Möglichkeiten und Begrenzungen des Einflusses, den ein Individuum - ggf. zusammen mit anderen - auf seine Lebensumstände nehmen kann. Wesentlich für das psychologische Verständnis individueller Existenz ist aber, dass das Konzept )) Position<< nicht alle gesellschaftliche Bezüge des Individuums erfasst, sondern nur diejenigen, die seine Beiträge zur gesellschaftlichen Produktion/Reproduktion betreffen. Umfassender ist Holzkamps Konzept der Lebenslage gedacht: Es schließt die ))Position« ein, geht aber darüber hinaus, weil es auch jene Bereiche des Lebens umfasst, die nwar von den Positionen und ihrer individuellen Realisierung abhängen, aber nicht darin aufgehen« (a.a.O., 197, Herv. entf., M.M.): Haushalt, )Freizeit<, Liebesbeziehungen, Erziehung, )Hobby<, Arbeit in Vereinen oder Parteien etc. )>Lebenslage«, das sind die gesellschaftlichen )Nerhältnisse vom realen Standort des Individuums aus, [... ] soweit und in der Weise, wie es damit tatsächlich in Kontakt kommt« (ebd.). Die Heraushebung der beiden Vermittlungsebenen ))Lebenslage« und ))Position« ist aus zwei Gründen relevant: Erstens verdeutlichen sie, dass das Individuum nicht bloß als Schnittpunkt gesellschaftlicher Bedingungen gefasst werden kann, weil das Verhältnis des Individuums zu den Lebensbedingungen auch von den Aktivitäten des Individuums bestimmt ist. Zweitens wird daran deutlich, dass eine Kritische Psychologie ohne gesellschaftstheoretische- interdisziplinäre- Bezüge quasi in der Luft hängt. Es erscheint mir im Zuge meiner Gesamtdarstellung sinnvoll, im Vorgriff auf später folgende Konkretisierungen schon an dieser Stelle diese beiden Aspekte anzureißen: Mit dem ersten Aspekt hat sich Holzkamp programmatisch auf dem ersten Kongress Kritische Psychologie 1977 (52ff) in Marburg befasst, in Auseinandersetzung mit einer soziologistischen Position, derzufolge eine materialistische Psychologie bedeute, gesellschaftliche Bedingungen auf die Individuen )herunter< zu konkretisieren. Die Gesellschaftsferne der traditionellen Psychologie ist aber nicht dadurch zu überwinden, dass das Individuum nur noch als mehr oder weniger unselbständiger Aspekt der gesellschaftlichen
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Verhältnisse gedacht ist. Damit bleibt man im Banne eines Denkens in unabhängigen und abhängigen Variablen und damit des psychologischen Determinismus in Form des Reiz-Reaktions-Denkens. Im Sinne einer solchen kruden Milieutheorie werden »Reize« mit gesellschaftlichen Konzepten gefüllt oder, andersherum formuliert, gesellschaftliche Lebensbedingungen auf bloße Reize reduziert. Grundsätzlich besteht diese Problematik auch in allen Überlegungen zur Subjektivität oder zur »Subjektkonstitution«, die meinen, aus gesellschaftstheoretischen Analysen entsprechende Subjekte konstruieren zu können. Es sind dies aber bloß Homunculi, Kunstfiguren, soweit der subjekt-wissenschaftliche Umstand verfehlt wird, dass gesellschaftliche Zustände zwar bestimmte Verhaltensweise nahelegen, aber eben nicht determinieren (s.u.). Die -wie auch immer eingeschränkte - Freiheit der Individuen, sich zu Verhältnissen verhalten zu können, macht es grundsätzlich erforderlich, ihre wirklichen Verhaltensweisen - mit ihnen zusammen, wie weiter unten ausgeführt werden wird- unter Bezug auf die Grundbegriffe der Kritischen Psychologie (aktual-)empirisch zu erfassen (und in diesem Zusammenhang nach einer Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten zu suchen). Der zweite Aspekt, die Notwendigkeit gesellschaftstheoretischer Bezüge der Kritischen Psychologie, ist nicht so zu verstehen, dass aus den gesellschaftstheoretisch erfassten gesellschaftlichen Bedingungen individuelles Verhalten sich ableiten ließe, wohl aber so, dass das individuelle Verhalten nur verständlich werden kann, wenn man die gesellschaftlichen Bedingungen, wie das Individuum sie erfährt, berücksichtigt. Wegen der Historizität menschlichen Erlebens und Verhaltens ist die gesellschaftstheoretische Analyse gesellschaftlicher Lebensbedingungen psychologisch unverzichtbar, ihre konkrete psychologische Bedeutung hat sich aber vom Standpunkt des Subjekts aus zu erweisen. Unter Bezug auf die beiden Vermittlungsebenen »Lebenslage« und »Position« hat Holzkamp ( 1983, 358) für das Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Psychologie folgende Formulierung gefunden: »Auf gesellschaftstheoretischer Bezugsebene ist der gesamtgesellschaftliche Prozess primärer Analysegegenstand, die arbeitsteiligen Strukturen, aus denen sich die unterschiedlichen >Positionen< notwendiger individueller Beiträge zur gesellschaftlichen Lebensgewinnung ergeben, werden als Charakteristika der formationsspezifischen gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse erfasst, und die jeweilige objektive Lebenslage der Individuen erscheint wiederum als abhängige Größe der arbeitsteiligen Strukturen, da sie durch die (klassenbedingte) Position im Produktionsprozess bestimmt ist und den >Ort< der personalen Reproduktion der Arbeitskraft zur Realisierung der positionsspezifischen Beiträge darstellt. Auf der Bezugsebene individualwissenschaftlicher Kategorialanalyse [also der Ebene der Psychologie, M.M.], in welcher die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz vom Standort der individuellen Subjekte,
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also je >meinem< Standort aus analysiert wird, kehrt sich dieses Verhältnis geradezu um: Von >meinem< Standort aus ist meine unmittelbare Lebenslage, >in< der ich mich >schon immer< finde, und in der ich mein Leben praktisch bewältigen muss, meine >primäre<, unhintergehbare und universelle Daseinsrealität. Die Realisierung einer gesellschaftlichen Position, etwa indem ich >arbeiten< gehe, ist für mich demgegenüber zeitlich und räumlich eingeschränkt, einerseits eine bestimmte Ausprägungsform meiner Lebenslage, in der andererseits meine individuelle Lebenspraxis durch meine Eingebundenheit in gesellschaftliche Anforderungsstrukturen überschritten ist. Die gesamtgesellschaftlichen Bezüge meiner individuellen Existenz vollends sind mir weder universell noch partiell unmittelbar gegeben, sondern >manifestieren< sich lediglich auf unterschiedliche Weise in meiner Lebenslage/Position. Diese Gegenläufigkeit der Strukturierung des gesamtgesellschaftlichen Prozesses von der Produktionsweise her und der Strukturierung des personalen Lebensprozesses von der Reproduktion des individuellen Daseins her muss je nach den Produktionsverhältnissen unterschiedliche Form annehmen, ergibt sich aber generell aus der Verselbständigung des gesamtgesellschaftlichen Erhaltungssystems (nach dem >Dominanzwechsel<), wodurch die Existenzsicherung des Einzelnen eine gegenüber der gesamtgesellschaftlichen Lebensgewinnung eigenständige Größe geworden ist.«
9.4 Exkurs: >>Gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit« und konkrete gesellschaftlich-historische Verhältnisse
9.4.1 Kapitalismus/Kapitalismen als analytischer Bezugspunkt Das Konzept der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz war eingeführt worden als grundlegendes Charakteristikum des Mensch-Welt-Zusammenhangs und damit als zentraler Bezugspunkt für eine entsprechende Fassung des Psychischen, in dem die Vermittlung zwischen den gesellschaftlich-objektiven und individuell-subjektiven Aspekten des menschlichen Erlebens und Verhaltens fassbar wird. Wenn wir dabei sagten, dass die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz jeweils historisch zu konkretisieren sei, wurde damit schon angedeutet, dass dieses Konzept gegenüber konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen allgemein ist und von deren Besonderheiten abstrahiert. Anders formuliert: Die in diesem Kapitel vorzutragenden Bestimmungen des Psychischen müssen, wenn sie denn richtig sind, für alle gesellschaftlichen Verhältnisse zutreffen; zu der Art und Weise, wie sie in Erscheinung treten, und welche weiteren Spezifizierungen in konkreten Gesellschaften hinzukommen, lässt sich auf dieser Ebene noch nichts sagen. So, wie >>Arbeit« ein allgemeines Kennzeichen der Lebensgewinnung der Menschen ist, die in der »Lohnarbeit« eine spezifische Form findet (vgl. Haug 1987), so sind auch die psychischen Charakteristika der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz jeweils historisch zu konkretisieren.
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Dabei brauchen wir uns um die Fragen und Probleme einer kanonisierten marxistischen Formationenlehre (wie Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus, Kommunismus; vgl. dazu Küttler, 1999) nicht zu kümmern. Deren rationaler Kern besteht allemal darin, Geschichte nicht still zu stellen und die gegenwärtige kapitalistische Verfasstheit unserer Gesellschaft nicht zum Endpunkt der Geschichte bzw. zur allgemein menschlichen Lebensweise zu verklären, sondern gegenüber den aktuell bestehenden Herrschaftsverhältnissen deren Historizität und Überwindbarkeil herauszuarbeiten und damit die Perspektive von Verhältnissen, in denen die Entwicklung der Produktivkräfte allen zugute kommt.
Für die Kritische Psychologie bedeutet die Historizität gesellschaftlicher Verhältnisse jedenfalls, dass die allgemeinen kategorialen Bestimmungen der menschlichen Spezifik des Psychischen nur die- allerdings unverzichtbare- Basis sein können für weiter führende Überlegungen, die die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse in Rechnung zu stellen haben. Inwieweit derartige, historisch konkretisierende Überlegungen >noch< kategoriale Explikationen oder eher >schon< theoretische Hypothesen sind, ist durchaus umstritten (vgl. Baller 1995, Kaindll998). Die Brisanz dieser Frage liegt im oben (6.4.3) schon skizzierten Verhältnis von Kategorien und Theorien. Kategorien sind danach ja die Grundlagen von Theorien: Sie bestimmen, was an der Realität gefasst werden kann, in welchen Begriffen Theorien überhaupt formuliert werden können, und sie bleiben von der Überprüfung von Theorien unberührt (vgl. Kap. 5.2.2). Das bedeutet in diesem Zusammenhang: Wenn wir die - historisch-empirische - Kategorialanalyse zu weit treiben, legen wir die (aktual-)empirischen Verhältnisse zu sehr fest, machen Begriffe zu dogmatischen Scheuklappen, die für empirische Korrekturen kaum erreichbar sind. Greifen wir dagegen kategorial zu kurz, entgehen uns im Chaos empirischer Daten wesentliche Dimensionen (der Kritik). Man wird also im Einzelnen - gesellschaftstheoretisch - darüber streiten und argumentieren müssen, wo genau die Grenzen der historisch-konkreten Kategorialanalyse liegen. Es ist - methodologisch - Ballers (a.a.O.) Verdienst, vergleichsweise früh diese Frage aufgeworfen zu haben. (Das inhaltliche Problem seiner Argumentation war m.E., dass er gleichzeitig von einer marxistischen zu einer i.w.S. postmodernen gesellschaftstheoretischen Bezugsebene wechselte, was wiederum Kaindl [a.o.O.] herausarbeitete.) Nun ist bei der analytisch wesentlichen Trennung zwischen historischempirisch gewonnenen Kategorien und auf Aktualempirie bezogenen Theorien allerdings Folgendes zu berücksichtigen: Der Umstand, dass historisch-empirisch gewonnene Kategorien durch aktual-empirische Daten nicht »geprüft« (also bestätigt oder widerlegt) werden können, ist unter einem Gesichtspunkt zu relativieren. Es ist durchaus möglich, dass aktual-empirische Daten für historisch-empirische kategoriale Bestimmungen relevant oder >kritisch< werden: nämlich dann, »wenn aus Prob-
lemen der Aktualempirie/Praxis neue, bisher vernachlässigte Ansatzstellen für
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weitergehende, differenziertere Kategorialanalysen gewinnbar sind, die dann nach historisch-empirischen Kriterien durchzuführen wären und auf diesem Wege der Aktualempirie/-praxis wiederum zugutekommen können« (Holzkamp 1983, 565). Das bedeutet für unseren Zusammenhang, dass auch unter Bezug auf aktual-empirische Daten >Zu weit reichende< kategoriale Festlegungen revidierbar (und ggf. als Theorien reinterpretierbar) sind. Ich werde in Kap. 10.2 darauf zurückkommen. Es muss sicher nicht gesondert begründet werden, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die hin Klaus Holzkamp und andere Kritische Psychologinnen und Psychologen ihre analytischen Bemühungen richteten, der »Kapitalismus« war (und ist) mit seinen gegenüber anderen Formationen spezifischen Herrschaftsverhältnissen und Denkformen (etwa Lohnarbeit im Verhältnis zur Sklavenarbeit oder Leibeigenschaft). Nur: das Konzept »Kapitalismus« selber ist gegenüber seinen geographischen und historischen Ausprägungen allgemein, es abstrahiert von den Formen, die kapitalistische Produktionsverhältnisse annehmen (vgl. dazu auch Röttger 2008). Die Lebensverhältnisse, die für die »Lage der arbeitende Klasse in England«, wie sie bspw. Engels 1845 öffentlich gemacht hatte, bestimmend waren, sind nicht dieselben wie die heutigen oder die vor 30 Jahren in Dänemark oder Portugal; die Lebensverhältnisse in Rumänien heute wiederum unterscheiden sich deutlich von denen im gegenwärtigen Deutschland. Eine eher allgemeine, heute auch ökonomischen Laien begegnende Auseinandersetzung ist die um die - innerkapitalistische und internationale Entwicklung vom »Fordismus« zum »Postfordismus«/»Neoliberalismus« (zur psychologischen Bedeutung vgl. etwa Langemeyer 2005, Kaindl2007); hierbei geht es um die Entwicklung von einer weitestgehend fremdgesteuerten und bis ins Einzelne reglementierten (Fließband-)Arbeit hin zu einer Verinnerlichung von Anforderungen, die aus dem »Arbeitnehmer« einen »Unternehmer« seiner selbst macht (»Arbeitkraftunternehmer« sensu Voß & Pongratz 1998), der sich also psychisch zu eigen macht, was ihm materiell mitnichten eignet: den Betrieb, in dem er arbeitet. Dies alles sind- mit Bezug auf psychologische Relevanz ausgesuchte - Ausdrucksweisen historischer bzw. geographisch verschiedener Formen des Kapitalismus. Ein Blick auf die Entwicklungen in China oder in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion würde die Lage noch unübersichtlicher machen. »Kapitalismus« ist also eine Art globaler Begriff für die Produktionsweise, die sich am Ausgang und nach der industriellen Revolution entwickelte: »>Kapitalismus< bezeichnet zum einen die aufWarenproduktion, Marktwirtschaft, Investition von Kapital, Lohnarbeit und Profit beruhende Produktionsweise, zum anderen die von der Herrschaft des Kapitals bedingten sozialen, politischen, rechtlichen und kulturellen Verhältnisse als Gesellschaftsordnung.« (Küttler 2008, Sp. 238) Maß und Ziel der Produktion ist Profit, nicht die Befriedigung gesellschaftlicher und individueller Bedürfnisse.
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9.4.2 Probleme allgemeiner Bestimmungen der menschlichen Spezifik des Psychischen Was bedeutet dies alles nun für die - kategoriale - Bestimmung des Psychischen? Wir hatten bislang die »Durchbrechung der Unmittelbarkeit« (des Zusammenhangs zwischen der Schaffung von Lebensbedingungen und deren Nutzung durch das jeweils selbe Individuum) und den Umstand, dass sich Menschen immer in einer bestimmten (Lebens- )»Lage« und »Position« befinden, als allgemeinste Charakteristika des Mensch-WeltZusammenhangs dargestellt. Diese Charakteristika müssen psychisch und psychologisch repräsentiert sein, wenn menschliches Leben psychologisch verständlich werden soll. Das heißt: Menschen müssen generell in der Lage sein, diese Charakteristika in ihrem Leben zu realisieren, und die Psychologie muss in der Lage sein, diese Charakteristika in ihren Konzepten zu berücksichtigen. Gehen damit geistig schwer behinderte Menschen ihres Menschseins in den überlegungen der Kritischen Psychologie verlustig? Anders: Wenn die Kritische Psychologie menschliche Spezifika des Psychischen zu bestimmen versucht, was bedeutet das für Menschen, die diese Spezifika offensichtlich nicht realisieren können? Zunächst: Diese Fragestellung betrifft nicht nur die Kritische Psychologie, wie sich an dem leicht nachvollziehbaren Sachverhalt zeigen lässt, dass auch - sozusagen ansatzübergreifend - »Sprache« als spezifisch menschlich gilt. Sind deswegen Menschen, die nie sprechen lernen können, keine Menschen? Doch, sie sind es. Denn Aussagen überallgemeine Charakteristika bzw. Möglichkeiten des Menschen beziehen sich auf die Gattung, zu der die einzelnen Individuen unabhängig davon gehören, ob und in welchem Ausmaße sie gattungsallgemeine Möglichkeiten individuell realisieren können - wie das auch für körperliche Merkmale gilt: Ein Mensch, der ohne Arme geboren wird, ist deswegen kein Nicht-Mensch, sondern eben ein Mensch ohne Arme. Und ein Mensch, der nie sprechen lernen kann und der nie selbständig leben kann, ist kein Nicht-Mensch, sondern ein Mensch, der nie sprechen lernen kann und der nie selbständig leben kann. (Unschwer lässt sich hier eine Verbindung zu meinen in Kap. 9.1 gemachten Ausführungen zum »utopischen« Charakter der holzkampschen Aussage ziehen, dass die »Existenzerhaltung der Einzelindividuen das bewusst angestrebte Ziel« bei Dominanz gesellschaftlicher gegenüber phylogenetischer Entwicklung sei.) »Mensch« ist ein menschliches Individuum nicht in graduellen Abstufungen, sondern unbedingt. Dies ist, über die »wissenschaftliche« Argumentation mit der Gattungsallgemeinheit hinaus, in gewisser Weise eine normative- und gemessen am faktischen Umgang mit behinderten Menschen- auch utopische Setzung mit dem Ziel der Verhinderung eines unmenschlichen Umgangs mit Menschen. Ich werde dieses Problem wieder aufgreifen: erstens, wenn es um die allgemeine Bestim-
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mung von Subjektivität/Subjekt gehen wird (vgl. Kap. 9.6) und zweitens, wenn zu klären sein wird, wie - ontogenetisch bzw. biographisch - aus einem mittellosen Säugling ein handlungsfähiger Erwachsener wird (Kap. 12). Zusammengefasst: Die Rede von der menschlichen Spezifik des Psychischen bedeutet nicht, Individuen, die aufgrund von Behinderungen diese Spezifik nicht realisieren können, vom Menschsein (begrifflich) auszuschließen, sondern sie hat allein einen gattungsallgemeinen Bezug und darin zwei Ziele: Das erste Ziel ist, die Besonderheit der Gattung »Mensch« gegenüber anderen Arten herauszuarbeiten. Damit soll vermieden werden, tierisches Verhalten zu vermenschlichen, zu »anthropomorphisieren« und menschliches Verhalten zu naturalisieren. Eine Beispiel für Anthropomorphisierung ist es, wenn man das Brutverhalten der in Kap. 6.4.2 schon erwähnten >>Kampfwachtel« (Iitrnix tanki), bei der mehrere Männchen die Eier ausbrüten (vgl. Bischof-Köhler 2006, 133), als emanzipiert bezeichnet. Ein Beispiel für Naturalisierung: artspezifisches Revierverhalten von z.B. Hunden zu einer der Grundlagen der Abschottungsstrategie der EU gegen afrikanische Flüchtlinge zu erklären. Das zweite Ziel der Bestimmung der menschlichen Spezifik des Psychischen besteht darin, zu vermeiden, vorfindliehe psychische Erscheinungen, die ggf. historisch-spezifische sind, umstandslos zu universalisieren, also als allgemein menschlich auszugeben. Derartige Universalisierungen können sich darauf beziehen, Kriege oder bestimmte Geschlechterbeziehungen als gattungsallgemein und damit notwendig bzw. unvermeidlich zu behaupten. Es müsste dann aber der Nachweis geführt werden, dass Kriege und bestimmte Geschlechterbeziehungen nicht aus konkreten gesellschaftlich-historischen Konstellationen heraus zu erklären sind, sondern sich zwingend aus der Spezifik der menschlichen Gattung ergeben. Dass Kriege für die Gattung Mensch möglich und, wie jede(r) weiß, empirisch erwiesen sind, und dass sie auch ein Spezifikum menschlicher Existenz sind, heißt mitnichten, dass sie deswegen gattungsallgemein notwendig sind. Es gibt nicht nur Kriege, sondern auch Frieden, und die Gattung Mensch hat Auschwitz wie auch das Verstecken und die Rettung verfolgter Juden hervorgebracht. Es lässt sich einem bestimmten Verhalten zwar nicht ansehen, was daran natürlich, allgemein gesellschaftlich und historisch-spezifisch ist. Aber wir können umstandslose Naturalisierungen und Universalisierungen hinterfragen, indem wir prüfen, ob entsprechende Behauptungen durch unsere Bestimmungen der gesellschaftlichen Natur des Menschen bzw. durch unsere Bestimmungen der psychischen Aspekte gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz gedeckt sind.
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9.5 »Möglichkeitsbeziehung« und »Verhalten-zu« Kommen wir nun zu der Fragestellung zurück, was es für die -kategoriale Bestimmung des Psychischen bedeutet, dass »Gesellschaftlichkeit« eine Abstraktion von konkreten historisch-gesellschaftlichen Verhältnissen ist, die wir aber benötigen, um das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem in gesellschaftlichen Lebensverhältnissen bestimmen zu können. Zunächst müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die argumentative Logik der Kategorialanalyse jenseits der Grenzen des funktional-historischen Verfahrens (Kap. 9.1) explikativ ist (Holzkamp 1984, 40): Das Verfahren der von Holzkamp so bezeichneten »logisch-historischen Vermittlungsanalyse« (1984, 37) besteht auf dieser Ebene nämlich darin, herauszuarbeiten, welche Charakteristika des Psychischen als Aspekte der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz angenommen werden können (als logische Differenzierungen oder Explikationen der »Vermitteltheit«) und angenommen werden müssen (um menschliches Leben bei der Dominanz gesellschaftlicher gegenüber phylogenetischer Entwicklung verständlich werden zu lassen). Was also zu explizieren ist, sind psychische Aspekte der Vermittlung zwischen der individuellen und gesellschaftlichen Reproduktion bei gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz, anders formuliert: zwischen den »objektiven (d.h. materiell-ökonomischen etc.) und den psychischen Bestimmungen des gesellschaftlichen Mensch-WeltZusammenhangs« (Holzkamp 1983, 192). Aus diesem Grund nennt Holzkamp die so explizierten kategorialen Bestimmungen »Vermittlungskategorien« (ebd.). Deren allgemeinste Bestimmung ist die »Möglichkeitsbeziehung«: Wenn zwischen gesellschaftlicher und individueller Reproduktion kein unmittelbarer Zusammenhang mehr besteht, so ist impliziert, dass das Verhältnis zwischen gesellschaftlichem Prozess und individueller Lebenswelt bzw. gesellschaftlichen Erfordernissen und individuellen Handlungen nicht »primär in Termini gesellschaftlicher Handlungsnotwendigkeiten« (Holzkamp 1984, 39) begriffen (kategorial gefasst) werden kann: »Vielmehr scheint es adäquat, kategorial zwischen gesamtgesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten (durchschnittlicher Art) und subjektiven Handlungsmöglichkeiten zu differenzieren, und so die Beziehung von Individuen in ihrer unmittelbaren Lebenswelt zu gesellschaftlichen Handlungsanforderungen (welcher Art auch immer) generell als eine Möglichkeitsbeziehung zu qualifizieren: Das Individuum kann die jeweiligen gesellschaftlichen Handlungsanforderungen realisieren, es hat aber grundsätzlich immer auch die Alternative, anders oder gar nicht zu handeln [also sich einer Anforderung zu verweigern, M.M.], und kann sich in diesem Sinne [ ... ] bewusst dazu >verhalten<: Dies ist eine zwingende Implikation seiner Lebenslage bei gesamtgesellschaftlicher Vermittelt/zeit individueller Existenz<< (a.a.O., 39f).
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Diese deutliche Differenzierung zwischen gesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten und subjektiven Handlungsmöglichkeiten bzw. Verfügungsnotwendigkeiten ist die Basis der in den folgenden Kapiteln dazustellenden psychologischen Konzeptionen der Kritischen Psychologie. Handlungsfähigkeit bedeutet aber eben nicht nur die »Übernahme gesellschaftlicher Notwendigkeiten«, sondern auch die Art und Weise, wie die Individuen meinen, Verfügung über ihre Lebensumstände erreichen zu können. Kern des weiter unten zu entfaltenden Problems ist, inwieweit mit individuellen Handlungen auch gesellschaftliche Herrschaft reproduziert wird und wie dieser Zusammenhang individuell ausgeblendet wird. 9.6 Anpassung und Widerstand als allgemeine Dimensionen menschlicher Existenz: Subjektivität, »doppelte Möglichkeit« und Freiheit Ich hatte am Ende des achten Kapitels (unter Bezug auf Holzkamp-Osterkamp 1975, 275ff) dargestellt, dass der Übergang von der Dominanz der phylogenetischen zur gesellschaftlichen Entwicklung, damit die Durchsetzung der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz, mit der Entwicklung von Produktionswirtschaft, der Herstellung von Lebensmitteln, Arbeitsteilungen, der Erwirtschaftung eines Mehrproduktes und damit- das ist im jetzigen Argumentationszusammenhang vor allem von Bedeutung mit Herrschaftsverhältnissen verbunden ist. Ich hatte auch schon dargestellt, dass davon in den allgemeinsten psychischen Charakteristika der menschlichen Spezifik (wie sie bislang behandelt wurden) abgesehen wurde. Diese Abstraktion nimmt Holzkamp zurück, wenn er die gerade skizzierte Möglichkeitsbeziehung als »doppelte Möglichkeit« differenziert, welche eine »>menschliche< Universalität« darstelle (1983, 352), also von ihm als ebenso allgemein gedacht wird wie die bisher behandelten psychischen Implikationen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz. »Doppelte Möglichkeit« thematisiert das Spannungsverhältnis zwischen Handlungsfähigkeit »nur unter jeweils bestehenden gesellschaftlichen Lebensbedingungen« und der Alternative, dass »das Individuum auch über die Handlungsfähigkeitsbedingungen selbst verfügt, also diese zur
Oberwindung darin gegebener Handlungseinschränkungen erweitern kann: Nur auf diese Weise ist ja die Handlungsfähigkeit >unter< Bedingungen nicht durch die Unverfügbarkeit der Bedingungen selbst wieder eingeschränkt, letztlich zurückgenommen.« (A.a.O., 354) Holzkamp bindet »[d]iese >doppelte Möglichkeit< der Nutzung und der Erweiterung von Handlungsräumen« an das Konzept der »Freiheit«: »>Frei< ist ein Individuum in dem Grade, wie es an der vorsorgenden gesellschaftlichen Verfügung über seine Lebensbedingungen teilhat, damit seine Bedürfnisse in >menschlicher< Qualität befriedigen kann.« Das Bestehen der doppelten Möglichkeit mache
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die »Qualität der subjektiven Freiheit und Selbstbestimmung« aus. Allerdings ist diese Freiheit »selbst wieder von den historisch bestimmten Lebensbedingungen abhängig: Wieweit ein Individuum über seine konkret-historischen Daseinsverhältnisse verfügen kann, hängt primär ab von den in den objektiven Verhältnissen (ggf. als Herrschaftsverhältnissen) selbst liegenden Beschränkungen individueller Verfügungsmöglichkeiten sowie Möglichkeiten des (u. U. organisierten) Zusammenschlusses zur Erweiterung kollektiver Selbstbestimmung« (ebd.).
Insofern ist doppelte Möglichkeit >»menschliche< Universalität« und »historische Relativität« (a.a.O., 352). Nicht alle Beschränkungen individueller Verfügungsmöglichkeiten lassen sich indes auf Herrschaftsverhältnisse reduzieren, wie an Widrigkeiten der Natur (Ernteverlust) oder unentwickelter Technik (etwa im medizinischen Bereich) veranschaulicht werden kann. Darauf macht das »ggf.« bei Herrschaftsverhältnissen ebenso aufmerksam wie darauf, dass herrschaftsfreie Verhältnisse denkbar sind; real aber waren sie bislang nicht. Die Abhängigkeit »subjektive[r] Freiheit, also Subjekthaftigkeit«, gefasst als Möglichkeit der Verfügungserweiterung von »historisch konkreten objektiven Lebensbedingungen«, zeigt für Klaus Holzkamp auch, dass im Verhältnis »zwischen subjektiver Bestimmung und objektiver Bestimmtheit menschlicher Handlungen der objektiven Bestimmtheit der Primat« zukommt (ebd.). Diese materialistische Akzentsetzung soll allerdings Freiheit und doppelte Möglichkeit nicht relativieren: Das Individuum kann sich »auch zu noch so gravierenden situational-personalen Einschränkungen seiner Handlungsmöglichkeiten selbst wieder bewusst >verhalten< [... ] Wie sehr die Art und der Grad der verbleibenden Möglichkeit der Verfügungserweiterung über die Bedingtheit der Begründungen selbst wieder >bedingt< sein mag: Die Tatsache der Möglichkeit der Verfügungserweiterung ist >unbedingt<, sie ist eine genuine (aus der >gesellschaftlichen Natur< in gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit entspringende) Spezifik der >menschlichen< Existenz und nur mit dieser auslöschbar. Somit ist der Mensch auf dieser Ebene als solcher >Subjekt<, er kann nicht >Subjekt/os< und gleichzeitig >Mensch< sein. Die relativierende Rede von Arten und Graden der >Subjekthaftigkeit<, >Subjektivität< etc. ist also selbst wieder zu relativieren aufgrund der Einsicht, dass die Spezifik des Menschen als >Subjekt< unreduzierbar und uneliminierbar<< und der Mensch fiir seine Handlungen grundsätzlich verantwortlich ist (a.a.O., 355). Damit sind wir über die Aufhebung der Abstraktion von Herrschaftsverhältnissen zu dem Punkt zurück gekommen, dass Menschsein nicht relativierbar ist (vgl. Kap. 9.4); auch die in Kap. 9.1 diskutierte Vorstellung, dass »Existenzerhaltung der Einzelindividuen das bewusst angestrebte Ziel<< gesellschaftlicher Lebensweise ist, ist nach dem Gesagten als in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen je einzuholende Richtungsbestimmung fassbar.
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Wie aber verhält sich dies zu dem berühmten Zitat von Engels, Freiheit sei die »Einsicht in die Notwendigkeit« (1878, 106)? Die Argumentation von Engels ist sach-logisch, bezogen auf Naturgesetze und gesellschaftliche Wirkzusammenhänge, die begriffen werden müssen, damit sie -von (assoziierten) Subjekten- genutzt bzw. beeinflusst werden können (wobei zu berücksichtigen ist, dass, was als gesellschaftliche Notwendigkeit gilt, zumindest in concreto höchst umstritten und Gegenstand gesellschaftlicher Auseinandersetzungen ist). Diese Sachlogik hat eine konditionale, eine Wenn-dann-Gestalt: Wenn ich als Subjekt dies oder jenes erreichen will, dann muss ich bestimmte Zusammenhänge begreifen und berücksichtigen. Wenn ich »Freiheit«, verstanden als die historisch mögliche (kollektive) Verfügung über meine gesellschaftlichen Lebensumstände, realisieren will, muss ich die dem entgegen stehenden Herrschaftsstrukturen berücksichtigen. (Eine Nummer kleiner: Wenn ich die Freiheit genießen will, auf den See hinaus zu schwimmen, muss ich schwimmen lernen/können.) Diese sachlogische, konditionale Argumentation ist aber von der psycho-logischen zu unterscheiden, bei der es um die Frage geht, ob ein Subjekt dies oder jenes überhaupt erreichen will, ob es andere Ziele verfolgt, ob es sich bestimmten Anforderungen entziehen will, ob es meint, ihnen zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht genügen zu können oder zu wollen. Anders formuliert: Hier geht es um die Frage, wie aus welchen subjektiven Gründen sich die Einzelnen zu (als Anforderungen an sie in Erscheinung tretenden) objektiven bzw. als objektiv definierten Notwendigkeiten verhalten. Diese -von der sach-logischen eben zu unterscheidenden- psycho-logische Fragestellung ist zentrales Merkmal der subjektwissenschaftlichen Qualifizierung des Verhältnisses objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung. Wenn man dies vernachlässigt, setzt man die - von wem auch immer bestimmte oder >allgemein< anerkannte - objektive Notwendigkeit mit deren je subjektiver Realisierung, mit subjektiver Notwendigkeit, gleich -wo doch das Verhältnis zwischen beiden erst aufzuklären wäre. »Freiheit« ist danach für die Einzelnen eine Möglichkeit, die sie realisieren können, und deren tatsächliche Realisierung sie mit dann >einzusehenden< Notwendigkeiten konfrontiert, die sie eben- sach-logisch- realisieren müssen, wenn sie die damit gegebenen Verfügungen realisieren wollen oder wollen können (vgl. auch Holzkamp 1984, 23ff). 9. 7 Weitere psychische Implikationen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheil individueller Existenz Analog zum Vorgehen im achten Kapitel sollen in den folgenden drei Unterkapiteln die bisher dargestellten psychischen Implikationen des Dominanzwechsels zur gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz weiter differenziert werden, und zwar wieder analytisch getrennt
Das Verhältnis von Psychologie und Gesellschaftstheorie
nach den Dimensionen Bedeutungen/Bedürfnisse u::c ..:e:: ::-·.:::::._-r::-~ ·aspekten Kognition/Emotion/Wertung. Der terminologische ;,.,~e:[:xX . "'· »Bedarfszuständen« zu »Bedürfnissen« soll dabei schon auf dt:- s;:-z:~-~:> chen Ebene die menschliche Spezifik zum Ausdruck bringen. Diese sprachliche Differenzierung hat also nichts mit der zu tun, die wir bsp>·;. aus der pädagogischen Psychologie kennen: Wenn dort vom »Förder(ungs)bedaif• eines Kindes die Rede ist, ist eine i.w.S. administrative Feststellung gegenüber dem Kind gemeint, die keineswegs mit einem Förderungsbedürfnis des Kindes selber korrespondieren muss. In diesem Kontext bezieht sich also die Unterscheidung von »Bedarf« und »Bedürfnis« auf den Standpunkt, von dem aus gesprochen wird. Unter dem Aspekt allerdings, dass, wie sich zeigen wird, menschliche Spezifik des Psychischen bedeutet, den Standpunkt des Subjekts zu reflektieren und zum analytischen Bezugspunkt zu machen, ist der terminologische Wechsel von Bedarfszuständen zu Bedürfnissen auch nützlich, wenn sich >>Bedarf« und »Bedürfnis« beide auf Konstellationen auf gesellschaftlicher Ebene beziehen: zur Unterscheidung von Fremd- und Selbstbestimmung als einem Spannungsverhältnis in institutionellen Machtverhältnissen.
9.7.1 Von der Individual- zur Subjektwissenschaft 9.7.1.1 Bedeutungsstrukturen und Handlungsmöglichkeiten Um Holzkamps Begriff der »Bedeutungsstrukturen« zu erläutern, komme ich auf den in Kap. 9.5 angeführten Unterschied zwischen gesellschaftlichen Handlungsnotwendigkeiten und subjektiven Handlungsmöglichkeiten zurück. Die Umsetzung gesellschaftlicher Handlungsnotwendigkeiten (dass bspw. eine Bevölkerung mit Essen oder Möbeln versorgt ist, dass es Ausbildungsstätten gibt) ist in komplexen Gesellschaften nicht nach dem Modell unmittelbarer Kooperationen und situativer Konstellationen zu denken. Vielmehr sind unmittelbare Kooperationen und situative Konstellationen in übergreifende Strukturen eingebunden. Diesem Umstand will Holzkamp mit dem Begriff der Bedeutungsstrukturen Rechnung tragen: >»Bedeutungsstrukturen< sind einmal in ihrem gesamtgesellschaftlichen Verweisungszusammenbang Inbegriff aller Handlungen, die durchschnittlich (>modal<) von Individuen ausgeführt werden (müssen), sofern der gesell-
schaftliche Produktions- und Reproduktionsprozess auf einer gegebenen Stufe möglich ist (sein soll), also >gesamtgesellschaftlicher Handlungsnotwendigkeiten«< (1983, 230). Wie sich die Einzelnen auf diese Strukturen beziehen, soll allgemein mit dem Begriff >>Bedeutungen« gefasst werden. Bedeutungen meinen also >>den Bezug jedes einzelnen Menschen zum gesamtgesellschaftlichen Handlungszusammenhang, wie er in den umgreifenden Bedeutungsstrukturen gegeben ist, indem nur durch die Handlungsumsetzung von gleichzeitig gesamtgesellschaftlich verflochtenen Bedeutungen die jeweils individuelle Existenz erhalten bzw. entwickelt werden kann« (ebd.).
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Einführung in die Kritische Psychologie
Bedeutungen in diesem Sinne zu fassen, trägt dem Umstand Rechnung, dass sie nicht als Aktivitätsdeterminanten gefasst werden können, sondern eben als dem Individuum gegebene Handlungsmöglichkeiten begriffen werden müssen. Die damit gegebene Möglichkeit, sich zu den Verhältnissen, zu anderen und zu sich selber verhalten zu können, ist eben wesentliches Moment (interpersonaler) Subjekthaftigkeit, Handlungsalternativen zu besitzen und auch in diesem Sinne »frei« zu sein. Diese Bestimmungen sind diametral gegen eine Auffassung von Psychologie gerichtet, die Menschen als durch Reize determiniert denkt. Die Unterscheidung von Bedeutungsstrukturen und Bedeutungen verweist aber darüber hinaus auch auf die Verkürztheit von Auffassungen in der Tradition des Symbolischen Interaktionismus, die Berücksichtung der »Situation« seigegenüber einer situationsentbundenen nomothetischen (experimentellen) Herangehensweise- der Schlüssel zu einer adäquaten Erfassung menschlichen Erlebens und Handelns. Das Spezifikum menschlicher Existenz besteht
aber nicht darin, dass Situationen zu berücksichtigen sind, sondern dass die zu berücksichtigenden Situationen in übergreifende Strukturen eingebunden sind, ohne deren Begreifen auch »Situationen« unbegriffen bleiben müssen. Die unmittelbare Situation des Zusammenagierens und des Erlebens von drei Menschen ist ziemlich unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um eine Familienkonstellation (Kind, Mutter, Vater), eine Prüfungskonstellation (Prüfling, Beisitzer/ in, Prüfer/in), eine Band (Gitarre, Bass, Schlagzeug) oder eine (institutionalisierte) Arbeitsgruppe handelt. Dies mag trivial erscheinen, ist es aber nicht; der Eindruck der Trivialität ergibt sich nämlich nur daraus, dass uns die unterschiedliche gesellschaftliche Strukturiertheit dieser unterschiedlichen situativen Konstellationen alltags-vertraut ist. Diese Vertrautheit ändert nichts daran, dass wir diese Situationen in ihrer Besonderheit nicht aus sich heraus, sondern nur in ihrer übersituativen Strukturiertheit begreifen können. Als wissenschaftlich relevant imponiert dieser Umstand immer dann, wenn uns die gesellschaftliche Strukturiertheit einer (beobachtbaren) Situation eben nicht vertraut ist, sondern erst zu rekonstruieren ist. Angesichts der Bedeutungsstrukturen als eines wesentlichen Moments gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz will ich in zweifacher Hinsicht noch einmal auf unsere in Kap. 9.4.1 gemachten Bemerkungen zum Kapitalismus als analytischem Bezugspunkt zurückkommen: Der Terminus »Strukturen« zielt auf ein in sich funktionsfähiges Erhaltungssystem, also auf den gegenüber den Einzelnen und deren Handlungen verselbständigteil Systemcharakter der gesellschaftlichen Lebensgewinnung: Die gesellschaftliche Reproduktion ist nicht vom Beitrag des je Einzelnen abhängig. Dieser allgemeine Umstand ist aber erstens analytisch zu unterscheiden von der »entfremdeten Form« (Holzkamp 1983, 306), die dieser Systemcharakter im Kapitalismus annimmt, in dem die Masse der Produzierenden gravierend am kollektiven Einfluss auf Produktion und Reproduktion gehindert ist. Zweitens setzt sich der verselbständigte System-
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charakter gesellschaftlicher Reproduktion, damit auch die Ersetzung vorher individueller Abhängigkeitsbeziehungen durch den »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« (Marx 1867, 765) erst mit dem Kapitalismus in vollem Maße durch. Es wird hier noch einmal deutlich, dass die kritisch-psychologische Analyse der psychologischen Bedeutung gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz ohne kapitalistische Verhältnisse nicht möglich (geworden) wäre, von deren Formbestimmtheit sie aber zunächst abstrahieren muss, um zu begreifen, was eigentlich es gesellschaftlich und psychologisch ist, das da formbestimmt und entfremdet ist. 9. 7.1.2 Zum Verhältnis von Handlungsfähigkeit, Arbeit und Bedürfnissen Holzkamp nennt die Möglichkeitsbeziehung des Menschen zu gesellschaftlichen Strukturen unter kognitivem Gesichtspunkt »gnostische« Weltbeziehung und hebt daran hervor, dass die Individuen nicht mehr jedes Ereignis auf sich selber beziehen müssen, in dieser Hinsicht entlastet sind; es ist die Voraussetzung jener »Erkenntnisdistanz«, »in welcher Beziehungen von Ereignissen untereinander als objektive Gesetzmäßigkeifen fassbar werden. Die Beziehung der so erkannten Zusammenhänge zur materiellen Existenzerhaltung geht dabei natürlich nicht verloren, ist aber genauso >vermittelt< wie der Zusammenhang individueller mit gesamtgesellschaftlicher Lebenssicherung generell.« (A.a.O., 236) Holzkamp zieht daraus den Schluss, dass es nicht ausreicht, menschliches Bewusstsein allein über die Fähigkeit zu Antizipation und Sprache zu fassen, sondern dass zur Bestimmung des Bewusstseins die gnostische Weltbeziehung mit einbezogen werden muss, also die Möglichkeit, die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit der eigenen Existenz begreifen zu können - unter Einschluss der Möglichkeit zur »Perspektivenverschränkung«, und zwar als »Charakteristikum menschlicher Intersubjektivität überhaupt« (a.a.O., 238). Es ist die Einbindung von Perspektivenverschränkung und Intersubjektivität in gesellschaftliche Produktions- und Reproduktionsverhältnisse, die das Problem der »Nicht/Anerkennung« von Subjektivität nur als mit materiellen Herrschaftsverhältnissen und Verfügungsmöglichkeiten vermittelt denken kann. Die Überlagerung ökonomischer Ausbeutung durch die totale Negation der Anerkennung des Menschseins der Ausgebeuteten tritt insbesondere bei kolonialer oder rassistisch konnotierter Ausbeutung zu Tage. Exemplarisch dafür sind die Analysen Frantz Fanons (1961), wonach die afrikanischen >Eingeborenen< den Kolonisatoren als die Negation aller Werte erschienen. Sie wurden entmenschlicht, in zoologischer Sprache verhandelt. Der Kolonisierte wird >>vertiert« (a.a.O., 34f). Auf diese totale Negation sei, so Fanon, mit der Gewinnung einer Selbstanerkenmmg zu reagieren, einer Selbstanerkennung, Selbstvergewissenmg in der Situation der totalen Defensive (vgl. auch Fanon 1952). Damit ist verbunden, dass diese Kämpfe weniger als ökonomische, also als Verteilungs-, denn als Anerkennungs- oder eben Identitätskämpfe in Erscheinung treten. Der Umstand, dass
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damit politisch-ökonomische Erklärungsansätze von Ungleichheit tendenziell in den Hintergrund treten können, bedeutet allerdings keineswegs, dass politischökonomische Erklärungen damit auch ihre analytische Relevanz einbüßten (vgl. dazu Markard 2006b). Anerkennungsdiskussionen, wie sie etwa von Nancy Fraser oder Axel Honneth diskutiert werden, sind also immer danach zu befragen, inwieweit sie das Problem der »Anerkennung« von materiellen Verfügungsmöglichkeiten trennen oder nicht. (Habermas' Theorie des kommunikativen Handeins hat ja vorgemacht, wie die >>Lebenswelt<< von den Produktionsverhältnissen und Emanzipation entsprechend von materiell basierter Verfügungsmöglichkeit getrennt gedacht werden kann; vgl. dazu auch Held 2001, Sp. 1167). Insofern ist die kritisch-psychologische Einbindung der Anerkennung in Produktions- und Reproduktionsverhältnisse ein wesentliches Moment ihrer Gesamtkonzeption. »Handlungsfähigkeit als gesamtgesellschaftlich vermittelte Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen« ( Holzkamp 1983, 239) ist demgemäß die »psychologische Zentralkategorie<< (a.a.O., 20), die Holzkamp auch mit einer neuen Bedürfnisgrundlage in Verbindung bringt: »Wenn die >individuelle Umweltkontrolle< sich im Prozess der Menschwerdung zur >personalen Handlungsfähigkeit< [... ]qualifiziert, so muss auch der globale >Kontrollbedarf< nach dem Dominanzwechsel über sein >kooperatives< Entwicklungsstadium hinaus sich zur allgemeinen Bedürfnisgrundlage der individuellw Handlungsfähigkeit spezifizieren. Die in der gesellschaftlichen Natur des Menschen liegenden Bedürfnisse realisieren sich also hier in der Erweiterung der Handlungsfähigkeit, d.h. sie treten in Erscheinung als subjektive Erfahrung der Einschränkung der Handlungsfähigkeit, was gleichbedeutend ist mit der subjektiven Notwendigkeit der Oberwindung dieser Einschränkung.<< (A.a.O., 241) Holzkamp bezieht sich in diesem Zusammenhang auf eine hier bislang ausgesparte Terminologie von Holzkamp-Osterkamp, »produktive« und >>Sinnlich-vitale Bedürfnisse« ( 1976, 17ff), eine Unterscheidung, die der phylogenetisch vorbereiteten Unterschiedlichkeit (der Entwicklung und Lockerung) zwischen Aktivitäten zur Herbeiführung der Möglichkeit zu Bedürfnisbefriedigung und dieser selber Rechnung tragen sollte (vgl. 8.3.6.1) In der Rezeption der Kritischen Psychologie ist der Terminus >>produktive Bedürfnisse« in Richtung auf ein Bedürfnis nach einer Art individueller Produktivität interpretiert worden (was einschließt, dass als >>unproduktiv<< klassifizierte Menschen als irgendwie bedürfnisgestört pathologisiert werden könnten). Entgegen dieser Rezeption reflektiert der Terminus »produktive Bedürfnisse« allein auf den Umstand der Gesellschaftlichkeit von Produktion und Reproduktion. Wenn, wie vermittelt auch immer, individuelle Reproduktion des Individuums als Teilhabe an gesellschaftlicher Reproduktion verstanden werden muss, muss dies auch eine Bedürfnisgrundlage haben- und zwar so, wie sie gerade als »allgemeine Bedürfnisgrundlage der individuellen Handlungsfähigkeit« dargestellt wurde. Es geht also keineswegs darum, dass Menschen ein Bedürfnis nach Arbeit hätten.
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Holzkamp schärft diese Argumentation noch, indem er sich mit Marx' Äußerung von der Arbeit als »erstem Lebensbedürfnis« (Marx 1975, 21) auseinandersetzt und sie »aller Missdeutungen entheben will«: »Nicht die >Arbeit< als solche ist erstes Lebensbedürfnis, sondern >Arbeit< nur soweit, wie sie dem Einzelnen die Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess erlaubt, ihn also >handlungsfähig< macht. Mithin ist nicht >Arbeit<, sondern >Handlungsfähigkeit< das erste menschliche Lebensbedürfnisdies deswegen, weil Handlungsfähigkeit die allgemeinste Rahmenqualität eines menschlichen und menschenwürdigen Daseins ist, und Handlungsunfähigkeit die allgemeinste Qualität menschlichen Elends der Ausgeliefertheit an die Verhältnisse, Angst, Unfreiheit und Erniedrigung.« (1983, 243) Nun ist auch Marx bei seiner Formulierung von der- utopischen- Voraussetzung ausgegangen, von »einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft, nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unter die Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger und körperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeit nicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbedürfnis geworden« ist (1975, 21). Gleichwohl ist die holzkampsehe Klarstellung sinnvoll, da (l) Handlungsfähigkeit als Teilhabe an der Verfügung über die Lebensbedingungen im Sinne politischer Aktivitäten über Arbeit i.e.S. hinausgeht und (2) Handlungsfähigkeit bzw. ihre allgemeine Bedürfnisgrundlage als gattungsspezifische und gattungsallgemeine Dimensionen konzipiert sind, während Arbeit als erstes Lebensbedürfnis (und nicht bloße Notwendigkeit) erhebliche historisch-gesellschaftliche Entwicklungen voraussetzt. Das Verhältnis zwischen produktiven und sinnlich-vitalen Bedürfnissen als »Aspekt menschlicher Bedürfnis-Verhältnisse« (1983, 242) charakterisiert Holzkamp am Beispiel des Hungers: Wenn ein hungriges Individuum »als >sinnlich-vital< beeinträchtigt oder gefährdet charakterisierbar ist, so leidet es nicht nur isoliert >Hunger< als spezielle Bedürfnis-Spannung, sondern es leidet darin und gleich elementar an seiner Ausgeliefertheit an eine Situation, in welcher es so weitgehend von der vorsorgenden Verfügung über seine eigenen Lebensbedingungen abgeschnitten ist, dass es >hungern< muss: Seine Bedürfnisse haben damit nicht nur den >sinnlich-vitalen< Akzent als subjektive Notwendigkeit der Beseitigung des Hungerns, sondern als >menschliche< Bedürfnisse auch den >produktiven< Akzent als subjektive Notwendigkeit der Wiedererlangung eines Grades bewusster Bedingungsverfügung, durch welchen das Individuum auch über die Befriedigungsquellen so verfügt, dass ein Leben nicht nur ohne Hunger, sondern ohne die fremdbestimmte Bedrohtheit durch Hunger, also ein menschenwürdiges Leben, möglich ist. Umgekehrt ist ein Individuum, das sich zunächst in seiner Handlungsfähigkeit beeinträchtigt oder bedroht sieht, zwar in >produktiver< Weise bedürftig, durch erweiterte Teilhabe an der gesell-
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schaftliehen Weltverfügung die personale Handlungsfähigkeit zu erweitern, sieht sich aber gleichzeitig durch die eingeschränkte Handlungsfähigkeit in seiner >sinnlich-vitalen< Existenz beeinträchtigt, und dies nicht nur antizipatorisch, sondern unmittelbar, da [ ... ] eine Daseinserfüllung und Bedürfnisbefriedigung in >menschlicher< Qualität nur im Maße der Grundbefindlichkeit des handlungsfähigen Individuums möglich ist, die Einschränkung der Handlungsfähigkeit also eine Einbuße an elementarer Lebensqualität zwingend einschließt. Bedürfnisse in ihrem >produktiven< Akzent sind mithin als subjektive Notwendigkeit erweiterter Bedingungsverfügung immer auch die subjektive Notwendigkeit der Gewinnung sinnlich-vitaler Befriedigungsmöglichkeiten in >menschlicher< Qualität.« (A.a.O., 246f)
So wie die Kritische Psychologie kein verselbständigtes Handlungsfähigkeitsbedürfnis annimmt, sondern, wie geschildert, erst bei Einschränkungen von Handlungsmöglichkeiten eine subjektive Verfügungsnotwendigkeit mit der Qualität eines erfahrenen Bedürfnisses entsteht, sind auch menschliche Bedürfnis-Verhältnisse, wie sie im Begriffspaar »produktive« und »sinnlich-vitale« Bedürfnisse kategorial gefasst sind, keine unmittelbaren Erfahrungstatbestände oder deren Beschreibungen, sondern diese Begriffe dienen der Analyse der subjektiven Befindlichkeit, wie sie am Beispiel des Hungers gerade exemplifiziert wurde (vgl. auch a.a.O., 516).
9.7.1.3 Kritische Psychologie als Subjektwissenschaft Aus den bis hierhin geschilderten Charakteristika des Psychischen zieht Holzkamp die Konsequenz einer paradigmatischen Neubestimmung der Psychologie: Denn mit diesen Charakteristika ist der »Erkenntnisgegenstand« der Humanpsychologie »Unsereiner«: »Der Forschende ist hier, indem er >subjektive< Gegebenheiten in verallgemeinerter Form wissenschaftlich erhellen will, notwendigerweise als >auch ein< Subjekt von seinen eigenen Verfahren und Resultaten prinzipiell mitbetroffen. Die marxistische Individualwissenschaft ist so in einem dezidierten Sinne >Subjektwissenschaft<.<< (A.a.O., 239)
9.7.2 Differenzierungen des Zentralkonzeptes >>Handlungsfähigkeit<< Während, wie in Kap. 8.3.6.2 dargestellt, der Begriff »Handlung<< so konzipiert wurde, d~ss er den Bezug auf übergeordnete Ziele ermöglicht, werden mit »Operationen« einzelne Aktivitäten in diesem Rahmen bezeichnet. Es liegt auf der Hand, dass die Bedeutung dieser Unterscheidung in dem Maße zunimmt, in dem gesellschaftliche Handlungszusammenhänge komplizierter werden. Dabei ist das Verhältnis von Handlungen und Operationen je nach Fragestellung zu differenzieren. Ein einfaches Beispiel ist das Schreiben eines Gedichtes: Dabei wird die Operation des Schreibens ebenso zum verschwindenden (wenn auch unverzichtbaren) Moment wie die Buchstabenentzifferung beim Lesen und Verstehen eines Gedichtes - die flüssige Beherrschung von Lesen und Schreiben vorausgesetzt. Andere Beispiele
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sind die Schreiboperationen, mit denen ein Verwaltungsangestellter einen Antrag auf Wohngeld ablehnt, oder die Operationen, mit denen ein Asylbewerber abgeschoben, das heißt, in ein Flugzeug verfrachtet wird. Es ist erst der übergeordnete Handlungsbezug, in dem die Operationen ihren Sinn bekommen. Diese Überlegungen sind deswegen nicht so trivial, wie sie auf den ersten Blick scheinen mögen, weil sie eine wesentliche Basis der Kritik aller handlungstheoretischen Konzepte bilden, die Handlungen und Operationen nicht auseinanderhalten und Handlungen ohne systemischen Bezug auf ihre Funktionen in gesellschaftlichen Zusammenhängen analysieren (1983, 3llf). Vor diesem Hintergrund wird klar, dass mit der Komplizierung gesellschaftlicher Handlungszusammenhänge auch die (ebenfalls hier in Kap. 8.3.6.2 eingeführte) Beziehung zwischen überindividuellen Handlungen, eigenen Beiträgen dazu und der Bedeutungen beider für die eigenen Lebensmöglichkeiten weniger offensichtlich wird. Diese Beziehung wird vielmehr »problematisch«. Ebenso wird das Verhältnis zwischen überindividuellen Denkformen und individuellem Denken »in neuer Weise zum wissenschaftlichen Problem« (a.a.O., 317): Welche gesellschaftliche und individuelle Bedeutung bspw. eine Handlung oder Leistungsentäußerung haben (Schulabschluss, »Schein« in der Uni, Protestieren gegen Studiengebühren) ist nicht eindeutig, sondern jeweils zu klären, und welche Denkformen ich dabei nutze oder nicht, ist nicht determiniert, sondern in gewisser Weise offen, wenn auch bestimmte Denkweisen eher nahegelegt sind als andere: Schulabschluss führt zur >Chancenerhöhung< auf dem Arbeitsmarkt. Nur: wie bedeutsam ist dieser statistische Zusammenhang bei Millionen Arbeitslosen für mich persönlich? Entsprechend ist die emotionale Befindlichkeit des Individuums kein mehr oder weniger evidentes Moment seiner Handlungszusammenhänge, sondern ebenso ein Moment seiner Lebensbewältigung, zu dem es sich verhalten kann (und in gewisserWeise muss): Ich kann und muss bspw. ein unbestimmtes Unbehagen für mich selber aufklären, wenn es für mich unerträglich wird. 11 Ich werde auf diese Probleme bei der Diskussion restriktiver Handlungsfahigkeit zurück kommen. Die Nicht-Evidenz, das nicht Selbstverständliche, die »Problematik« von Denken und Emotionen gilt auch für die »Motivation« -was an den gerade angeführten Beispielen leicht zu veranschaulichen ist. Allerdings ist zu ergänzen, dass »nicht motiviert« zu sein, nicht unbedingt bedeutet, nichts zu 11 Formal ist dieser Aspekt der Emotion auch in Schachtees Emotionstheorie realisiert (Schachter & Singer 1962), in der der Frage nachgegangen wird, wie ein Individuum (sich) eine emotionale Erregung erklärt (welche Hinweisreize es in der experimentellen Situation dafür aufgreift). Allerdings hat die experimentell induzierte und dann eben kognitiv zu interpretierende Erregung nichts mit der Lebenslage des Individuum und deren lebenspraktisch relevanter Aufklärung (und dabei dann relevanten Funktionen im Verhältnis von Emotion und Kognition) zu tun.
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tun, sondern auch bedeuten kann, zu Aktivitäten gezwungen zu werden, mit einer möglichen Selbstdisziplinierung, die emotional entsprechend problematisch ist. An diesen Zusammenhängen ist wesentlich, dass- so Holzkamp ( a.a.O., 323f) -hier der »psychische Ermöglichungsgrund für Unterdrückung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen« liegt. Warum? Weil der »Wille«, die Fähigkeit, sich unter Zurückstellung unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung zugunsten einer längerfristigen Perspektive anzustrengen, gegen die gezwungenen Menschen gewendet werden kann - wobei psychologisch relevanter indes der später zu behandelnde Umstand ist, wie dieser äußere Zwang zu einem inneren Zwang verinnerlicht werden kann. Die geschilderten »Problematiken« stellen sich auch bei Interaktionen und Kooperationen ein. Eine neue Ebene der Kooperation ergibt sich allerdings daraus, dass die Änderung gesellschaftlicher Verhältnisse eine entsprechende (und jeweils zu analysierende) Größenordnung der Kooperation und eine entsprechende Gemeinsamkeit in der Kognition und Bewertung der betreffenden Verhältnisse erfordert (a.a.O., 331) -zu denen sich die Einzelnen allerdings wieder unterschiedlich verhalten können. Die subjektwissenschaftliche Perspektive der Kritischen Psychologie ist dabei ein kritisches Korrektiv gegenüber der Vorstellung kollektiver Subjekte: »Auch bei kollektiven Bewusstseinsformen (wie Klassenbewusstsein) bzw. bei überindividuell-gellschaft:lichen Subjekten handelt es sich um Zusammenschlüsse aufgrund gemeinsamer objektiver Interessenlagen etc., die gleichwohl jedem involvierten Individuum als >meine< mit den anderen geteilte Interessen gegeben sind. Man darf also (wenn man nicht in bürgerliche Ideologeme nach Art der >Volksgeist<-Konzeption o.ä. abgleiten will) kollektive Bewusstseinsformen bzw. Subjekte keinesfalls als selbständige Wesenheiten unabhängig von individueller Bewusstheit/Subjektivität oder über diese hinweg definieren.<< (A.a.O., 238) Holzkamp hat diese Argumentation in seinem Artikel zum Verhältnis von Phänomenologie und Kritischer Psychologie auf »linke<< Argumentationen ausgeweitet: Wenn man kollektive oder »gesellschaftliche Subjekte« nicht als »abstrahierende Kennzeichen« kollektiver Aktivitäten fasse, sondern »als eigenständigen >Träger< der gesellschaftlichen Bewegung hypostasiert und mystifiziert, der die individuellen Subjekte sich nur als >Unselbständige Teilmomente< assoziieren können, wird das >gesellschaftliche Subjekt< den individuellen Subjekten quasi als eine >fremde Macht< außerhalb ihrer selbst gegenübergestellt. Damit werden sie als individuelle Subjekte nur soweit bzw. in den Aspekten erkannt und anerkannt, wie bzw. in welchen sie unmittelbar in Partizipation am gesellschaftlichen Subjekt aktiv sind, sich am gemeinsamen Kampfbeteiligen o.ä. [... ]So wäre[ ... ] Unreduzierbarkeit >je meiner< subjektiven Welt- und Selbsterfahrung (in der allein die erste und letzte Rechtfertigung meiner Beteiligung am politischen Kampf liegen kann) verleugnet<< ( 1984, 27; im Orig. z.T. herv., M.M.).
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Eindeutig ist Absage an »kollektive Subjekte« dieser Art eine Konsequenz der oben dargestellten Unbedingtheit (der Anerkennung) von Subjektivität. »Handlungsfähigkeit« als Kategorie der Vermittlung der individuellen mit der gesellschaftlichen Reproduktion ist, wie aus Kap. 8 und 9 hervorgeht, das Ergebnis des Bemühens darum, die reale Gesellschaftlichkeit des Individuums geltend zu machen und die psychologische Denkfigur des »abstraktisolierten Individuums« (vgl. Kap. 5.4 und 6.2) zu überwinden. Damit ist die vorfindliehe Trennung von Gesellschaft und Individuum als historischkonkrete Verkürzung (»Entfremdung«, vgl. 9.7.1.1) der menschlichen Möglichkeit subjektiver Bestimmung im Mensch-Welt-Zusammenhang zu begreifen. Dies ist eine Verkürzung, die im historischen Maßstab in der Tat nur in kollektiver Aktion aufzuheben ist. Die Kritik an der Gedankenfigur des abstrakt-isolierten Individuums darf aber nicht zur Aufhebung (besser: zum Untergang) des Individuums in einem wie auch immer gearteten verdinglichten, halluzinierten kollektiven Subjekt führen. Die Vernachlässigung der Differenz zwischen subjektiven und objektiven Notwendigkeiten hat zur Folge, Individuen zu kollektivieren bzw. Kollektive zu »beseelen«, womit das Kollektiv zu einer fremden, normativen Macht wird, zu einem quasi wieder externalisierten über-Ieb (vgl. dazu Markard 2006b). Die generelle Möglichkeitsbeziehung des Individuums zur Welt, zu Anderen, zu Kollektiven und zu sich selbst bedeutet auch das Verhältnis zur eigenen Biographie oder Geschichtlichkeit (Holzkamp, a.a.O., 332ff). Diese verbindet Holzkamp zunächst auf die subjektiv erfahrenen Handlungsmöglichkeiten, die sich nicht nur auf äußere Bedingungen beziehen, sondern auch auf personal herausgebildete Bereitschaften oder Fähigkeiten. Dabei müssen Fähigkeiten und Bedingungen immer in ihrem jeweiligen Verhältnis zueinander gesehen werden (etwa die Fähigkeit zu lesen und die Bedingungen, die das ermöglichen oder erschweren bzw. verhindern). »Potentialität« und »Faktizität« sind die Begriffe, mit denen Holzkamp das Möglichkeitskonzept differenziert: »>Potentialität< als Inbegriff der dem Individuum in >erster Person<, also in bewusstem Verhalten, gegebenen Handlungsmöglichkeiten und >Faktizität< als Inbegriff der Art und des Ausmaßes der gegenüber der bewussten Verfügung widerständigen [unbewussten, M.M.] >Vorgänge dritter Person<, durch welche die Handlungsmöglichkeiten des Individuums determiniert und begrenzt sind.« (A.a.O., 335) Entsprechend ist Handlungsfähigkeit immer nur als relative Handlungsfähigkeit zu begreifen, und soweit Potentialität und Faktizität vom Individuum erfahren werden, spricht Holzkamp vom »situationalen« und »personalen Pol der subjektiven Befindlichkeit« (ebd.). Das Verhältnis beider Pole kann sowohl, was die derzeitige Lage des Individuums, als auch, was seine Biographie angeht, »problematisch« werden, je nachdem, wie ich meine
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subjektiven und objektiven Möglichkeiten/Behinderungen einschätze, sie im Zukunftsbezug zu dunkel sehe oder übertreibe, sie rückblickend verkläre etc., wobei die Aufklärung natürlich nur diskursiv erfolgen kann. 12 »Phänomenal-« und »Realbiographie« (a.a.O., 337; vgl. auch 49Sff) sind Holzkamps Bezeichnungen für das Spannungsverhältnis zwischen biographischen Daten und deren Deutung, das allerdings nie ganz auflösbar ist, weil -je nach aktuellem Bezugssystem - jedes Datum wieder auch als spezifische Deutung interpretiert werden kann. Allerdings kann der Umstand, dass das menschliche Gedächtnis ja nicht auf personale Behaltensleistungen angewiesen ist, sondern sozusagen externalisiert (Tagebücher, Fotos, zeitbezogene Dokumente) werden kann, derartige Klärungen unterstützen. Was diese - dynamische - Sichtweise der Kritischen Psychologie auf die Biographie von der der Psychoanalyse unterscheidet, ist u.a. der Umstand, dass biographische frühe Konflikte (Daten/Deutungen) gegenüber je aktuellen (aktual-genetisch aufzuschlüsselnden) nicht per se in einer Weise analytisch privilegiert werden, dass jetzige durch frühere Konflikte determiniert erscheinen (vgl. Zander & Pappritz 2008). Ich komme in Kap. 12 darauf zurück). 9.7.3 Bedingungen- Bedeutungen- Prämissen- Gründe- subjektive Funktionalität: Der transdisziplinäre Charakter subjektwissenschaftlicher Forschung
Wenn Menschen sich zu Bedingungen verhalten können, ihr Handeln also durch Bedingungen nicht determiniert ist, bedeutet dann die daraus folgende Un-Eindeutigkeit des Psychischen, was seine Beziehung zu den Bedingungen angeht, nicht letztlich (wissenschaftliche) Beliebigkeit? Nein, diese Antwort liegt schon deswegen nicht nahe, weil das Psychische in seiner gesamten Rekonstruktion immer in einer - je spezifischen - Ausprägung des Verhältnisses zwischen Organismus/Individuum und Umwelt/gesellschaftlichen Verhältnissen gefasst wurde. Auch die »Möglichkeitsbeziehung« wurde in diesem Rahmen rekonstruiert: Insofern wurde auch der Standpunkt des Subjekts als Aspekt des Mensch- Welt-Zusammenhangs begreijbar. Entsprechend steht >»meine< subjektive Möglichkeit des bewussten >Verhaltens< zum gesamtgesellschaftlichen Prozess [ ... ] nicht im Gegensatz zu dessen objektiver Charakteristik«. Vielmehr ist subjektives Verhalten zu den Lebensbedingungen »immer eine >subjektive< Realisierung der aufgewiesenen gesellschaftlichen Bedeutungsstrukturen« - unbeschadet dessen, wie »verkürzt sich die historisch bestimmten Lebensbedingungen in den objektiven Bedeutungs-, Handlungs- und Denkstrukturen (etwa aufgrund ideologi12 Über hierbei auftretende [subjekt-] wissenschaftliche Probleme gibt die inner-kritischpsychologische Debatte über sexuellen Missbrauch in den Heften 33 und 37 des »Forum Kritische Psychologie« Auskunft.
Das Verhältnis von Psychologie und Gesellschaftstheorie
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scher Mystifikationen [wie Personalisierungen, Naturalisierungen, M.M.]) immer manifestieren mögen« (Holzkamp 1983, 347f). Insofern wird das »gesellschaftstheoretische Konzept der >objektiven Lebensbedingungen< durch ein diesem auf gleicher Allgemeinheitsebene zugeordnetes individualwissenschaftliches Konzept der >subjektiven Handlungsgründe« ergänzt: »Der Charakter dieses Konzepts als >Vermittlungskategorie< liegt darin, dass [... ] >Bedingungen< und >Gründe< hier nicht äußerlich gegenübergestellt, sondern Begründungszusammenhänge im >Medium< von Bedeutungsstrukturen und deren Repräsentanz in Denk- und Sprachformen als >subjektiv<-handlungsrelevanter Aspekt der Bedingungszusammenhänge gefasst sind. Menschliche Handlungen/ Befindlichkeiten sind also weder bloß unmittelbar äußerlich >bedingt<, noch sind sie Resultat bloß >subjektiver< Bedeutungsstiftungen o.ä., sondern sie sind in den Lebensbedingungen >begründet<.<< (A.a.O., 348) Daraus folgt, dass die kritisch-psychologische Kategorie der (Handlungs-) Gründe nur im Zusammenhang mit der gesellschaftstheoretischen Kategorie der Lebensbedingungen Sinn macht, subjektwissenschaftliche Forschung also schon von ihren kategorialen Grundlagen als transdisziplinär sich verstehen muss. Dies ergibt sich auch schon aus dem von Holzkamp erwähntenideologiekritisch -bedeutsamen Umstand, dass in Rechnung zu stellen ist, dass die Lebensbedingungen »verkürzt<< sich manifestieren (und rezipiert werden). Der Standpunkt des Subjekts ist insofern immer auch fraglich, zu hinterfragen. Dabei impliziert die Vorstellung einer »verkürzten<< Repräsentanz der Bedeutungs-, Handlungs- und Denkstrukturen den hier gesellschaftstheoretischen Erkenntnisanspruch, diese Verkürztheit zu überwinden. Dies wiederum ist nur denkbar in einer angemessener(en) gesellschaftstheoretischen Analyse, die sich das betreffende Subjekt insoweit zu eigen machen muss, wie es diese Erkenntnis für sich nutzen will- mit dem Ziel der Erweiterung seiner Verfügungs- und Handlungsmöglichkeiten, auf die subjektwissenschaftliche Forschung letztlich zielt. Insoweit hierbei die Handlungsmöglichkeiten immer nur (auch verändernde und eingreifende) Realisierungen der objektiven Lebensbedingungen sein können, und Handlungen nur unter Bezug darauf nachvollziehbar sind, »kommt im widersprüchlichen Verhältnis zwischen subjektiver Bestimmung und objektiver Bestimmtheit menschlicher Handlungen der objektiven Bestimmtheit der Primat zu<< (a.a.O., 354)- ein weiterer Hinweis auch auf die Notwendigkeit der gesellschaftstheoretischen Dimension subjektwissenschaftlicher Forschung. Die herausgehobene Bedeutung der objektiven Lebensbedingungen für die Klärung subjektiver Befindlichkeiten und Handlungen setzt - unbeschadet der oben skizzierten biographischen Dimension - einen deutlich anderen analytischen Akzent als die Psychoanalyse, ohne dass deswegen der Fehler gemacht würde, Psychisches aus objektiven Lebensbedingungen ab.?Uleiten, deren Kenntnis »niemals hinreichend<< (a.a.O., 344) für das Verständnis des Psychischen sein kann.
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Einführung in die Kdtische Psychologie
Die (objektiven Lebens- )Bedingungen gewinnen psychologische Relevanz als Handlungsmöglichkeiten, genauer: als Verhältnis von Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen. In der Weise und soweit ein Individuum Bedingungen für sich als Handlungsmöglichkeiten/-behinderungen wahrnimmt und für sich akzentuiert, macht es sie für sich zu »Prämissen«. »Für das Individuum existiert seine Lebenswelt als Inbegriff sachlich-sozialer Weltgegebenheiten, die in ihren darin enthaltenen Bedeutungszusammenhängen Handlungsmöglichkeiten repräsentieren. Diese Handlungsmöglichkeiten werden dann für >mich< zu >Prämissen<, wenn >ich< im Zuge gegebener Lebensproblematiken aus subjektiven Lösungsnotwendigkeiten heraus Handlungsintentionen entwickeln muss; Prämissen sind demgemäß als unter dem Leitgesichtspunkt >meiner< Lebensinteressen und Verfügungsnotwendigkeiten konkretisierte Handlungsmöglichkeiten zu verstehen: Von diesen konkreten Lebensinteressen aus kann >ich mich< zu den gegebenen Bedeutungskonstellationen verhalten und entscheiden, inwieweit >ich< unter den gegebenen Konstellationen oder nur in deren Veränderung meinen Interessen gemäß handeln kann. Davon hängt also ab, was an den gegebenen Bedeutungskonstellationen >ich< in welcher Weise zu Prämissen meines Handeins mache. Prämissen sind also nicht bloß Aspekte von Bedeutungskonstellationen, sondern- in der Aktualgenese von Interessen begründet - aus diesen >herausgegliedert<.« (Markard 1991, 229)
Handlungsfähigkeit bezieht sich immer auf das so bestimmte Verhältnis von Handlungsmöglichkeiten und Handlungsbehinderungen, sie ist insofern immer »relativ« und in den Begriffen von Bedingungen, Bedeutungen, Prämissen und Gründen zu analysieren. Warum ist die Unterscheidung von Bedingungen, Bedeutungen und Prämissen so wesentlich? Weil sich nur mit dieser Differenzierung das Verhältnis von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung, damit das Verhältnis des Einzelnen zu seinen Lebensbedingungen so fassen lässt, dass der Einzelne weder durch die Bedingungen determiniert erscheint, noch seine Handlungsgründe beliebig erscheinen. Nehmen wir das Beispiel Hochschule bzw. Hochschulwesen und darin das Fach Psychologie. Es gibt vielfältige interdisziplinäre Zugänge, das Hochschulwesen und das Fach »Psychologie« darin zu analysieren und zu beschreiben (wie in diesem Buch exemplarisch unter Bezug auf die Gesellschafts- und Wissenschaftskritik der Studentenbewegung geschehen). Die objektive gesellschaftliche Funktion von Hochschule/Psychologie (»Bedingung«) ist in der Nutzung der Baulichkeiten, den Zugangsvoraussetzungen, den Studien- und Prüfungsordnungen etc. psychologisch als Ensemble von Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen zu sehen. Wenn nun je ich mich dazu verhalte und bestimmte Optionen realisiere (oder nicht), muss ich diese Bedingungen/Bedeutungen für mich zu Prämissen machen. Wie ich das tue, lässt sich nicht aus den Bedingungen und Bedeutun-
Das Verhältnis von Psychologie und Gesellschaftstheorie
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gen ableiten, noch wird mein Handeln ohne subjektiven Bezug auf diese Bedingungen und Bedeutungen verständlich (wobei dieser subjektive Bezug wiederum von kumulierten biographischen Erfahrungen mit beeinflusst ist, deren Relevanz dannjeweils aufzuklären wäre). Die grundsätzliche Notwendigkeit der Analyse von Bedingungen und Bedeutungen bei der Klärung psychologischer Fragen/Probleme folgt also daraus, dass gesellschaftliche Bedingungen dem Menschen nicht einfach äußerliche Lebensumstände sind, sondern das Psychische aus dem Vermittlungszusammenhang zwischen gesellschaftlicher und individueller Lebensgewinnung aufzuschließen ist. Dass diese Bedingungen nicht einfach auf das individuelle Handeln/Denken/Empfinden herunterkonkretisiert werden können, dürfte aus dem Gesagten hinreichend deutlich geworden sein. Das würde ja gerade an der Spezifik des Mensch-Welt-Verhältnisses und der Möglichkeitsbeziehung vorbeigehen. Der psychologische Erkenntnisweg ist deswegen nicht der einer zunehmenden Konkretisierung allgemeiner gesellschaftlicher und dann institutioneller Bedingungen auf das jeweilige Problem hin, sondern umgekehrt der Weg von ungelösten Aspekten des Problems hin zu Bedingungen, die für die Analyse und Lösung des Problems von Bedeutung sein können. Die Bedingungs-Bedeutungs-Analyse ist also in diesem Sinne problemzentriert (vgl. Markard 1988, 70). Welche Bedingungen es sind, die problemzentriert aufzuschließen sind, ist eine Frage des jeweiligen Forschungsprozesses und nicht unabhängig von ihm zu beantworten. (Ich komme darauf in Kap. 13 zurück.) Wenn wir die kategoriale Auffassung der grundsätzlichen Begründetheit von Handlungen noch einmal auf das Konzept der Möglichkeitsbeziehungen und auf Holzkamps Darlegungen zu menschlicher Freiheit rückbeziehen, so ergibt sich, dass auch die »>freieste< Entscheidung [ ... ] für das Individuum begründet« (349) ist- und zwar subjektseitig in der »Bedürfnislage« des Individuums. Diese an subjektiver Bedürftigkeit, an Interessen des Individuums orientierte Dimension ist es, die Holzkamp »subjektive Funktionalität« nennt: Aus dem »inhaltlichen Bedürfnisbezug von Handlungsgründen bestimmt sich mithin unser Funktionalitätsbegriff in seiner subjektwissenschaftlichen Spezifikation« (350; vgl. zur Bedeutung der Interessen zur Analyse subjektiver Funktionalität auch Holzkamp 1995, 838ff). Der Umstand, dass verschiedene Menschen objektive Umstände verschieden erfahren, ist unter der genannten Voraussetzungen des Verhältnisses von Bedingungen, Bedeutungen, Prämissen und Gründen nicht bloß ein empirischer Befund, sondern begrifflich schon vorausgesetzt. »Die unterschiedlichen, widersprüchlichen Erscheinungsformen des Psychischen ergeben sich somit allein aus der Unterschiedlichkeit bzw. Widersprüchlichkeit der >Prämissen<, auf denen der jeweils individuelle Begründungszusammenhang beruht, und mit Bezug auf welche er subjektiv >funktional< ist.« (Holzkamp 1983, 352)
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10. Methodologisches Intermezzo: Ebenen und Reichweite der Kategorialanalyse 10.1 Verschiedene Ebenen der Kategorialanalyse in der Kritischen Psychologie Bevor wir uns der Frage zuwenden, ob und wie weit Besonderheiten des Lebens in kapitalistischen Gesellschaften noch in psychologischen Kategorien fassbar sind (vgl. Kap. 9.4.1), ist es sinnvoll zu resümieren, welche Ebenen der Kategorienbildung bei der dargestellten gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz eine Rolle spielten; denn kapitalistische Gesellschaften sind ja spezifische Konstellationen eben dieser gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit. Holzkamp (1983, 356) unterscheidet fünf »Niveaus individualwissenschaftlicher Kategorienbildung«: 1. Die gesellschaftstheoretische Bezugsebene, auf der- transdisziplinär, und das heißt: noch oberhalb der psychologischen Ebene kategorialer Analyse die objektiven gesellschaftlichen Lebensbedingungen erfasst werden müssen. Methodologisch hatte ich mich auf diese Ebene schon in Kap. 6.4.3 bezogen, und zwar als es um die Frage ging, wie Theorienkonkurrenz analysiert werden kann. An Fragen des Lernens hatte ich dort zu verdeutlichen versucht, dass ein Verständnis unterschiedlicher theoretischer Auffassungen (und damit verbundener empirischer Daten) nur gelingen kann, wenn die jeweils zu Grunde liegenden unterschiedlichen kategorialen psychologischen Auffassungen (Reiz-Reaktion gegenüber Bedeutungen-Handeln) herausgearbeitet werden, und dass diese kategorialen psychologischen Auffassungen weiter auf gesellschaftstheoretische (und schließlich philosophische) Auffassungen verweisen (welche, bezogen aufkritisch-psychologische Kategorien, in der Tradition marxschen Denkens stehen). Ging es also dort darum, unterschiedlichen theoretischen Konzeptionen in der Psychologie auf den kategorialen, gesellschaftstheoretischen und philosophischen Grund zu gehen, um sie (besser) begreifen zu können, geht es hier darum, die Bezugsebene der Gesellschaftstheorie inhaltlich einzulösen: In der Kritischen Psychologie als gesellschaftstheoretisch informierter Psychologie ist Gesellschaftstheorie nicht bloß, ggf. bei psychologischen Kontroversen zu analysierende, Bezugsebene, sondern unverzichtbares und systematisch verwendetes Erkenntnismittel - wobei entsprechend der marxistischen Grundlage der Kritischen Psychologie marxistische gesellschaftstheoretische Ansätze im Vordergrund stehen. 2. Die Erfassung der in den gesellschaftstheoretisch bestimmten, historisch-konkreten Lebensbedingungen liegenden »Bedeutungs-Handlungszusammenhänge und Denkformen« auf dem »erste[n} Niveau individualwis-
Ebenen und Reichweite der Kategorialanalyse
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senschaftlicher Vermittlungskategorien« (a.a.O., 356). Holzkamp nennt diese Analyse-Ebene »individualwissenschaftliche Vermittlungskategorien«, weil hier die objektiven Bedingungen bedeutungsanalytisch und somit in ihrer Handlungsrelevanz für die Individuen aufzuschlüsseln sind. Diese Ebene ist die der lebenspraktischen Bedeutung, die die Bedingungen haben. 3. Die Erfassung der subjektiven Handlungsgründe, die, wie in Kap. 9.7.3 gezeigt, aber nur unter Bezug auf die Prämissen der Individuen als subjektiv akzentuierte Bedeutungen verständlich werden können. Holzkamp nennt diese Ebene »das zweite Niveau individualwissenschaftlicher (dezidiert >subjektwissenschaftlicher<) Vermittlungskategorien« (ebd.). 4. Die Erfassung der »psychischen Dimensionen und Aspekte individueller Handlungsfähigkeit!Befindlichkeit« (wie Kognition, Emotion, Motivation) (ebd.), die natürlich ebenfalls auf subjektwissenschaftlichem Niveau erfolgen muss. 5. Das »biologisch physiologische Niveau der Kategorien zur Erfassung der unspezifischen Grundlagen in ihrer Wechselwirkung mit dem Psychischen« (ebd.), eine Ebene, die im Folgenden aber eine eher untergeordnete Rolle spielt, etwa bei unspezifischen Wahrnehmungsmechanismen (a.a.O., 388; vgl. auch Holzkamp 1973, 336ff; in diesem Band: Kap. 14.4.1) und auch methodologisch bislang eher Programm geblieben ist (vgl. Holzkamp 1983, 573ff). Von diesen fünf Niveaus >>individualwissenschaftlicher Kategorienbildung<< sind also vier i.e.S. >>psychologische«. Dabei ist eine fünfte i.e.S. psychologische Ebene noch ausgespart, nämlich die der Ontogenese oder Individualgeschichte, die danach fragt, welche kategorial »entwicklungslogischen« Aussagen (»ontogenetische Prozesstypen«) sich machen lassen, um zu erklären, wie aus einem (weitgehend) mittellosen Säugling ein handlungsfahiger Erwachsener werden kann. (Ich werde darauf in Kap. 12 zurückkommen). 10.2 Zum Verhältnis von Kategorien und Theorien Zur Erörterung der Funktion und Reichweite kategorialanalytischer Aussagen gehe ich zunächst von meinen Ausführungen in Kap. 5.2.2 und 6.4.3 zum Verhältnis von Kategorien und Theorien und deren Empiriebezügen aus. Ich hatte dort u.a. am Beispiel der behavioristischen Theorie des Zusammenhangs von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz gezeigt, dass bei einer empirischen Prüfung dieser Theorie die Grundbegriffe, in denen die Theorie formuliert ist (>>Reiz«, >>Reaktion«, »Verstärkung«), nicht mit überprüft werden können, und dass die Analyse, Kritik oder Prüfung dieser Grundbegriffe einer anderen Ebene bedarf: der Ebene der Kategorialanalyse. Die weitere Darstellung (Kap. 7 bis 9) war dann vor allem dem methodischen Vorgehen und wesentlichen Ergebnissen der kritisch-psychologischen Kategorialanalyse in historisch-empirischer Forschung gewidmet,
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Einführung in die Kritische Psychologie
damit dem Versuch, psychologische Grundbegriffe historisch-empirisch zu fundieren. Während also »historisch-empirische« Forschung sich auf die Gewinnung von Kategorien bezieht, bezieht sich der Terminus »aktualempirisch« auf Untersuchungen von jetzt und hier ablaufenden Prozessen, die als theoretische Zusammenhänge formuliert werden. Der allgemein herausgearbeitete Umstand, dass empirische Prüfungen von Theorien nicht die Grundbegriffe erreichen, in denen sie formuliert sind, gilt auch hier: die Ergebnisse aktual-empirischer Untersuchungen können die Angemessenheit historisch-empirischer Kategorien nicht überprüfen. Ob historisch-empirisch gewonnene Kategorien taugen oder nicht, ist deswegen letztlich nur auf der historisch-empirischen Ebene zu klären (vgl. Kap. 9.4.1). Dass bspw. aktual-empirisch menschliches» Verhalten« wie durch die Umstände determiniert erscheint, widerlegt die kategoriale Auffassung von der grundsätzlichen Begründetheit menschlichen Verhaltens nicht: Diese Kategorie hat im Gegenteil gerade die Funktion, die Oberfläche der empirischen Daten zu hinterfragen (so wie die Reizkategorie- ganz im Gegenteil- dazu anhält, den Begründungsdiskurs zu problematisieren und nach deterministischen Erklärungen zu suchen bzw. diese anzubieten; vgl. dazu exemplarisch Nisbett & Wilson 1977; zur Kritik daran: Groeben 1986, 134ff). Ein inhaltlich dem naheliegendes Beispiel ist Frigga Haugs Auffassung, das Menschenbild des Behaviorismus (eben mit der Zentralkategorie der Verstärkung) sei »zynisch« und entspreche zugleich »massenhaft tatsächlichem Verhalten bzw. seinen Änderungen« (2003, 134). Adorno hat diesen Gedanken Haugs schon 1957 methodisiert, als er (vgl. hier: Kap. 3.2.7) schrieb, dass dort, >>WO die Menschen unter dem Druck der Verhältnisse in der Tat auf die> Reaktionsweise von Lurchen< heruntergebracht werden, [... ] das in sich einstimmige und sinnhafte menschliche Verhalten [... ] in den Subjekten selbst schon durch bloßes Reagieren ersetzt« sei (202f).
Genau dies aber ist auf der Basis des Begründungsdiskurses zu bezweifeln. Eine kritisch-psychologische Theorie von Opportunismus, Anpassung und Verblödung ist mit dem Behaviorismus nicht - oder eben nur scheinbar zu haben. Oder, um auf Holzkamps Kritik der verborgenen organismischen Anthropologie zurückzukommen: Organismische Anthropologie ist eine traditionell-psychologische, mit kritisch-psychologischen Kategorien inkompatible Denkweise, nicht aber Realität. Wenn man es allerdings nur noch mit völlig manipulierten Massen lurchartiger Menschen zu tun hätte, würde man vielleicht auf die Frage gestoßen, ob etwas mit der historischempirisch gewonnenen Begründetheit menschlicher Welt- und Selbstbegegnung nicht stimmt und diese noch einmal überdacht werden müsste. Allerdings dürfte sich diese Frage vom Lurch-Standpunkt aus kaum stellen lassen. Vielmehr ist im Begründungsdiskurs das, was als bloßes Reagieren erscheint, weiter aufzuschlüsseln: So ist (vgl. Kap. 5.5.2) die >Löschungsresistenz als Effekt intermittierender Verstärkung< reinterpretierbar als subjektive Funktionalität der Wiederholung von Handlungen unter extremer
Ebenen und Reichweite der Kategorialanalyse
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Prämissenreduktion. Soweit dies inhaltlich stimmt, zeugt es nicht davon, dass der Behaviorismus einen Teil des Lernens im wirklichen Leben sozusagen richtig erfasst, sondern davon, das es im >wirklichen Leben< Prämissenreduktionen gibt, die eine Begrenztheit des Begründungsdiskurses vortäuschen mögen. 13 Es hängt also von den verwendeten Kategorien ab, welche Fragen man aktual-empirisch stellt, was an der Vielfalt empirischer Gegebenheiten man akzentuiert, welche Art Theorien man formuliert, und wie man empirische Ergebnisse interpretiert. Insofern hängt es (auch) an kritischen Kategorien, inwieweit man gegenüber gegebenen Daten und Verhältnissen sich nicht vereinnahmen lässt. Im Hinblick auf die empirisch-historische Fundierung der kritisch-psychologischen Kategorien kann Holzkamp argumentativ noch einen Schritt weiter gehen: »Da unsere kategorialanalytischen Bestimmungen durch ein empirisch begründetes methodisches Verfahren zustandegekommen sind, stellen sie nicht lediglich [ ... ] >begriffliche< Definitionen und Unterscheidungen dar, sondern sind genuin >realitätshaltig<, haben also einen eigenständigen subjektwissenschaftlichen Erkenntniswert innerhalb der Psychologie. Wenn also die Kategorien auch die methodelogische Grundlage für die einzeltheoretisch-aktualempirische Forschung bilden, so gehen sie jedoch in dieser >dienenden< Funktion keineswegs auf, sondern sagen, unabhängig davon, ob und wie eine darin gegründete aktualempirische Forschung stattfindet oder nicht, bereits Wesentliches über die psychische Lebenstätigkeit des Menschen aus [... ] Das Verhältnis Kategorien/Einzeltheorie-Aktualempirie ist also von vornherein falsch bestimmt, wenn man davon ausgeht, dass erst mit der Aktualempirie die Realitätshaltigkeit in den psychologischen Wissenschaftsprozess gelangt: Der Gegenstandsbezug der Kategorialbestimmungen ist eben durch die historisch-empirische Methodik ihrer Gewinnung nicht lediglich definitorisch gesetzt, sondern als Realitätsbezug aus der Analyse des Gegenstandes heraus entwickelt. Kategorien und Einzeltheorien als einerseits historisch-empirisch, andererseits aktual-empirisch zu fundieren, erfassen demnach lediglich verschiedene Seiten der empirischen Beschaffenheit ihres Gegenstandes.<< (A.a.O., 511 f) Am Verhältnis von Kategorien, Theorien und empirischen Daten ist nun weiter hervorzuheben, dass theoretische Formulierungen und empirische Daten immer reichhaltiger sind, eine >>viel größere Bestimmungsfülle<< (a.a.O., 517, Herv. entf., M.M.) enthalten als die Kategorien, die ja diese
13 Dass auch tierexperimentelle Untersuchungen Zweifel an der Universalkategorie »Reiz« wecken können, zeigt sich an den in Kap. 8.2.3 geschilderten Waschbären, die, darauf konditioniert, Münzen in Sparschweine zu stecken, damit begannen, diese Münzen in artspezifischem >Waschver halten< aneinander zu reiben, bzw. an den Schweinen, die, darauf konditioniert, Münzen in Behälter fallen zulassen, die Münzen stattdessen vergruben (vgl. auch Zander 2005).
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Einführung in die Kritische Psychologie
Fülle und Reichhaltigkeit strukturieren sollen. Sehr einfach kann man sich das an der Vielzahl der Theorien veranschaulichen, die in den Begriffen von Reiz, Reaktion und Verstärkung formuliert und empirisch geprüft worden sind. Auch das trifft natürlich auf kritisch-psychologische Kategorien und damit formulierte Aussagen zu. Die kategorialen Bestimmungen »gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz«, »Verhalten-zu,«, Verhältnis von »Handlung« und »Operation«, »doppelte Möglichkeit«, »Handlungsfähigkeit« sagen uns etwas darüber, in welchem Rahmen wir psychologische Phänomene/Probleme angehen und was wir inhaltlich auf kategorialer Ebene dabei zu berücksichtigen haben, sie sagen uns aber nichts im Einzelnen darüber, mit welchen Problemen wir konfrontiert sind und wie sie ggf. zu lösen sind. Die Aussage also, dass, um ein Beispiel aus Kap. 9.7.2 herauszugreifen, menschliche Handlungen unterbestimmt sind, wenn man sie auf Operationen reduziert, sagt noch nichts über die konkreten Konstellationen, in denen das wie zum Problem werden kann. Wenn etwa Zygmunt Bauman (1992, 98ff, 166ff) in seiner Analyse des Holocaust die Verselbständigung der Teilhandlungen der Bürokratie ohne Reflexion des Zusammenhangs, in dem diese Teilhandlungen ausgeführt wurden, als wesentliches Moment der Durchführbarkeit des Holocaust herausarbeitet, lässt sich diese Argumentation mit dem Verhältnis von Operation und Handlung m.E. auf den Begriffbringen-die historische Konsteiiation der Judenvernichtung ist aber nicht aus diesem Verhältnis >abzuleiten<. (Psychologische) Kategorien als Denk-Voraussetzungen und Denkwerkzeuge zur Strukturierung der Realität sind also »keine einzeltheoretischen Beschreibungsbegriffe zur Identifizierung unmittelbar vorfindlieber psychischer Erscheinungen«, sondern »analytische Bestimmungen« (Holzkamp 1983, 516). Holzkamp (ebd.) macht das am in Kap. 9.7.1.2 skizzierten Begriffspaar »produktive« und »sinnlich-vitale« Bedürfnisse klar, wenn er schreibt, es sei ein »Missverständnis, wenn man in seiner eigenen Befindlich-
keit etwa umstandslos nach >produktiven< oder >sinnlich-vitalen< Bedürfnissen sucht und dabei entweder welche gefunden zu haben glaubt oder auch feststellt, man habe keine<<. Dieses Begriffspaar »bezieht sich nämlich gar nicht direkt auf >meine< erscheinende Bedürfnislage, sondern dient zur analytischen Aufschließung eines bestimmten Verhältnisses als deren wesentlicher Bestimmung, von der aus meine Bedürfnislage für mich in ihrem >Aussagewert< für meine Lebenslage und die sich daraus ergebenden Handlungsnotwendigkeiten durchdringbar werden soll: des Verhältnisses zwischen der Verfügung über meine Lebensbedingungen und der >menschlichen< Qualität meiner Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung/Daseinserfüllung [... ].Wenn man mithin kategoriale Bestimmungen [... ] platt auf die Erscheinungsebene herunterkonkretisiert, so beraubt man sie nicht nur ihrer spezifischen, klärenden und aufschließenden Funktion, man begünstigt auch eine radikale Verarmung des Qualitätenreichtums der wissenschaftlichen Erfassung psychischer Phänomene.<<
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Eine weitere (in Kap. 7.2 schon behandelte) Funktion der kritisch-psychologischen Kategorien ist hier erneut relevant, dass nämlich nicht nur wissenschaftliche Untersuchungen in der dargelegten Art und Weise kategorial strukturiert sind, sondern auch Alltagsdenken und -handeln, wobei im Falle einer Wissenschaft wie der Psychologie Alltagsbegriffe und wissenschaftliche Konzepte nicht selten wortgleich, wenn auch nicht immer bedeutungsgleich sind: Beispiele sind »Lernen«, »Gefühl«, »Motivation«. Kaum alltäglich sind dagegen Konzepte wie »Reaktanz« oder »Dissonanz«, wobei Fachbegriffe allerdings in den Alltag einfließen und popularisiert werden können, wie etwa »Verdrängung«. Kritisch-psychologische Kategorien sind nicht in einer Art kategorialen Niemandslandes angesiedelt, vielmehr konkurrieren sie mit vorfindliehen Grundbegriffen und Konzepten, mit denen sich die Kritische Psychologie auseinandersetzen muss. Holzkamp nennt, wie in Kap. 7.2 dargelegt, Kategorien, Begriffe und Konzepte, die noch nicht vom Standpunkt der Kritischen Psychologie analysiert worden sind, »Vorbegriffe« (1983, 515). So konnte sich, um ein aktuelles Beispiel zu bringen, Silvia Schriefers (2007) bei ihrer Analyse des Ressourcen- Begriffs auf vorgängige Arbeiten zum Problem der Personalisierung stützen. Ihre Arbeit über Traumabewältigung bei Flüchtlingen, vor dem Hintergrund ihrer eigenen praktischen Tätigkeit in der psychosozialen Versorgung von Flüchtlingen entstanden, setzt am Problem der aufenthaltsrechtlichen Relevanz der Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung« unter dem Aspekt an, dass die mit dieser Diagnose verbundene Akzentuierung der Opferund Leidenserfahrung der Betroffenen deren Bewältigungs- und Handlungsmöglichkeiten aus dem Blick verlieren lassen kann. Damit war nicht nur das Verhältnis von »Auswirkungen« des Traumas zu den je aktuellen Lebensbedingungen (und deren Bedeutung für den subjektiven Umgangs mit Leidenserfahrungen) thematisiert, sondern auch der Begriff der »Ressourcen«, den die Autorin in Auseinandersetzung mit verschiedenen Ansätzen (vor allem Lazarus' transaktionale Stresstheorie, Antonovskys >Salutogenese< und Bourdieus >Kapitalsorten<) rekonstruierte, und zwar so, dass sie >>Ressourcen« nicht personalisiert (und damit den Betroffenen isolierte Bewältigungsanforderungen zumutet), sondern Ressourcen als gesellschaftlich-soziales Verhältnis fasst, in dem die Möglichkeiten individuellen Handeins zu analysieren und zu eröffuen sind.
Ich hatte schon bei der Einführung in das historische Verfahren (Kap. 7.2) dargestellt, dass und wie dieses zwangsläufig auch von bestehenden Konzepten seinen Ausgang nehmen muss. Es ist aber auch zu berücksichtigen, dass nicht alle vorfindliehen Begriffe/Konzepte Ausgangspunkte der historischen Analysen sind, sondern viele Vor-Begriffe später erst in deren Lichte betrachtet werden.
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11. »Restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit«
11.1 Methodologische Vorbemerkung zur Frage des begrifflichen Status
»restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit« Wenn wir die in Kap. 9 geschilderten psychischen Aspekte der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz resümieren, stehen dort vor allem folgende Begriffe bzw. Bestimmungen im Vordergrund: Subjektivität und Intersubjektivität, Subjektwissenschaft, Bewusstsein, Handlungsfähigkeit, doppelte Möglichkeit (der Anpassung an Bedingungen in Herrschaftsverhältnissen vs. Veränderung der Bedingungen bzw. Verhältnisse), Verhältnis von Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen, Bedingungen, Bedeutungen und Prämissen, Handlungsgründe, subjektive Funktionalität. Das Begriffspaar »restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« steht für die Spezifik der doppelten Möglichkeit in der kapitalistischen Gesellschaft, die, wie skizziert, selber in verschiedenen Ausprägungen existiert. Gibt es also kategoriale Bestimmungen des Psychischen, die die gerade genannten so differenzieren, dass sie spezifisch für die kapitalistische Gesellschaft sind und damit gleichzeitig für alle deren Ausprägungen gelten? Sind derartige Bestimmungen möglich und erforderlich? Die bisher dargestellten Bestimmungen haben wir mit Holzkamp als Explikationen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz herausgearbeitet. Sind also, anders gefragt, weitere kategoriale Explikationen notwendig und möglich? Die Basis für derartige Bestimmungen sind: (I) die psychischen Implikationen der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheil individueller Existenz; (2) gesellschaftstheoretische Bestimmungen der allgemeinen Eigenarten der kapitalistischen Gesellschaft; (3) Daten über »Erleben und Verhalten« in der kapitalistischen Gesellschaft (unterschiedlicher Ausprägung, wenn wir bei diesen Daten nicht nur an wissenschaftliche Daten, sondern auch an Belletristik und historische Schilderungen denken); (4) mehr oder weniger aktuelle psychologische Konzepte/Theorien (Vorbegriffe) und (5) unsere je eigenen (aktual- )empirischen Daten/Erfahrungen in der Gesellschaft, in der wir existieren, und die sich in den letzten Jahren (Neoliberalismus, High-Tech-Kapitalismus) nicht unerheblich verändert hat, personale Erfahrungen, wie sie sich eben auch in Holzkamps Explikationen der restriktiven vs. verallgemeinerten Handlungsfähigkeit und ihrer Funktionsaspekte Kognition, Emotion und Motivation niederschlagen. Das »methodologische Intermezzo« (Kap. 10) habe ich deswegen zwischen die Darstellung der» gesamtgesellschaftlich vermittelten Existenz des
-.":1.<-srriktive vs. verullgemeinerte Handlungsfähigkeit«
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~-f~nschen« (Kap. 9) und die nun in diesem Kapitel folgenden Ausführun-
;c.:n über »restriktive und verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« geschoben, ·>.;eil hier das Problem der Reichweite kategorialer Bestimmungen eine we;.entliche Rolle spielt (und die in Kap. 10 dargelegten Argumente dabei für dit: folgende Darstellung einen Bezugspunkt bilden sollen). Die Frage ist nämlich die, ob bzw. inwieweit die als kategorial gedach:en, im Folgenden zu schildernden Funktionsbestimmungen restriktiver ·:s. Yerallgemeinerter Handlungsfähigkeit eher allgemeine, bedeutungsanaiv:isch vermittelte, theoretische Bestimmungen oder Leit-Hypothesen sind,
die die Bestimmungen der gesamtgesellschaftlich vermittelten individuelC?n Existenz zusammen mit marxistischen gesellschaftstheoretischen Begriffen :md Konzepten die kategoriale Basis bilden.
.':ir
\fit dieser Fragestellung und Problemanordnung entferne ich mich insofern von ~in er bloßen >>Einführung« in die Kritische Psychologie, also einer- hoffentlich·:erständigen Auf- und Ausarbeitung dieses Ansatzes, als ich ihn hier und für mich w ersten Mal in einem wichtigen Punkt methodologisch problematisiere bzw. reYidiere - um ihn besser entwickelbar zu machen. Hintergrund meiner Sicht-.-.-eise sind die oben schon skizzierten Veränderungen innerhalb der kapitalisti5chen Produktionsweise.
Ich hatte oben (Kap. 9.4.1) schon auf die Kontroverse zwischen Baller ( 1995) und Kaindl (1998) hingewiesen, eine Auseinandersetzung, die im Verborgenen einer nicht als Buch veröffentlichten Dissertation (Baller 1995) und einer ebenfalls nicht veröffentlichten Diplom-Arbeit (Kaindl 1998), an deren beider Betreuung ich beteiligt war, ausgetragen wurde, und auf die ich nun zur Vorbereitung der weiteren Argumentation zurück kommen will. Genereller Ausgangspunkt dieser Debatte (und auch meiner Argumenta::ion) ist Holzkamps Einlassung, dass die >>Notwendigkeit weiterer kategorialer Differenzierungen [gegenüber den Bestimmungen der gesamtgesellschaftlich vermittelten individuellen Existenz, M.M.] [ ... ] sich erst aus dem Umstand [ergibt], dass in den historisch bestimmten Iage- und positionsspezifischen Bedeutungen ja immer auch Einschränkungen von Verfügungsmöglichkeiten beschlossen sind, die sich etwa in der bürgerlichen Gesellschaft mehr oder weniger zu in den Handlungsmöglichkeiten liegenden Bedrohungen der personalen Handlungsfahigkeit einschließlich der ideologischen Mystifizierung der Bedrohung zuspitzen können. Für diesen Fall reichen unsere früheren kategorialen Bestimmungen - wie sich zeigen wird keinesfalls aus, um die darauf bezogenen subjektiv funktionalen Begründungszusammenhänge kategorial zu entschlüsseln. Wir entwickeln deshalb unsere weiteren Analysen im Ansatz an der historisch bestimmten Iage- und positionsspezifischen Einschränkung/Bedrohung der Bedingungsverfügung und haben zu klären, auf welche Weise die subjektiv notwendige Abwendung oder Oberwindung der Einschränkung/Bedrohung in Termini subjektiv funktionaler Begründungszusammenhänge kategorial aufzuschließen ist.« (1983, 369)
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Einfühnmg in die Kritische Psychologie
Die strittige Frage ist, ob diese Differenzierung eine kategoriale ist/sein muss/sein kann. Baller (a.a.O.) argumentierte dagegen. Er registriert, dass Holzkamps Fragestellung eine letztlich bedeutungsanalytische ist und führt inhaltlich ins Feld, dass Holzkamps Marx- oder marxistischer Gesellschaftsbezug veraltet sei: dessen empirische Unhaltbarkeit habe sich in vielen Bereichen gezeigt. Dieser inhaltliche Vorbehalt BaUers verstärkt seinen methodologischen: Gegenüber dem grundlegenderen und auch seiner Ansicht nach notwendigen und richtigen kategorialen Konzept der »doppelten Möglichkeit« sei das Begriffspaar »restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« konkret-historisch so aufgeladen, dass es keine allgemeine- und insofern aktual-empirisch nicht zur Dispositionen stehende- Dimension des Psychischen repräsentiere; es sei nur im Sinne einer in aktual-empirischen Zusammenhängen zu prüfenden globalen Hypothese fruchtbar zu machen. Sonst riskiere die Kritische Psychologie, sich neueren gesellschaftstheoretischen Konzeptionen verschließen zu müssen: sie müsse so eine veraltete kapitalismusspezifische Widerspruchsanalyse in den psychologischen Grundkategorien festschreiben. Baller selbst argumentiert vor dem Hintergrund der >postmodernen< Kritik an der marxistischen Gesellschaftstheorie. Kaindl (1995) hält der Kritik BaUers entgegen, dass diese von den aktuellen Weiterentwicklungen der marxistischen gesellschaftstheoretischen Debatten absehe, dass Baller also >postmoderne< aktualempirische Analysen mit formationsspezifisch allgemeinen Bestimmungen von Marx statt mit marxistischen aktualempirischen gesellschaftstheoretischen Analysen konfrontiere- wobei sich Kaindl darüber im Klaren ist, dass diese formationsspezifisch allgemeinen Bestimmungen von Marx (und nicht zeitgenössische marxistische Debatten) tatsächlich den Bezug für Holzkamps Argumentationen zur »restriktiven/verallgemeinerten Handlungsfähigkeit« bilden (1983, 364ff). Sie zieht daraus aber eine andere Konsequenz als BaUer: Wie auch der 4. Kongress Kritische Psychologie 1997 (vgl. Fried et al. 1998) gezeigt habe, müsse der gesellschaftstheoretische Bezug der Kritischen Psychologie aktualisiert werden (»Neoliberalismus«). Unter dieser Voraussetzung konstatiert Kaindl die grundsätzliche methodologische Möglichkeit wie die inhaltliche Unverzichtbarkeit der kategorialen Konkretisierung der psychologischen Kategorie »restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit«. Ich selber bin mittlerweile zu folgendem Ergebnis gekommen: Einerseits hat Kaindl Recht, wenn sie BaUers Kritik am marxistischen Bezug Holzkamps zurückweist: >Postmoderne< aktualempirische Analysen mit formationsspezifisch allgemeinen Bestimmungen von Marx statt mit marxistischen aktualempirischen gesellschaftstheoretischen Analysen zu konfrontieren, ist sozusagen eine methodologische >Objektentgleisung<, die postmoderne Analysen so behandelt, als wären sie alternativlos. Andererseits ist BaUer methodologisch im Recht, wenn er die Gefahr sieht, dass
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das allgemeine und kategoriale Konzept der doppelten Möglichkei: üi:x::Gebühr konkret-historisch aufgeladen wird und dann konkret-historisch Veränderungen nicht mehr fassen kann. Die Lösung des Problems liegt m.E. im historischen Paradigma der Kritischen Psychologie als marxistischer Subjektwissenschaft, die konzeptionell die Verbindung von funktional-historischer bzw. logisch-historischer Rekonstruktion der menschlichen Natur und Gesellschaft bzw. des gesellschaftlichen Menschen mit der Rezeption marxistischer Gesellschaftstheorie erlaubt (und erfordert). Wenn eines dieser beiden Momente veraltet, veraltet die Basis der Kritischen Psychologie. Ihre Eigenart verliert sie, wenn von einem dieser Momente zugunsten anderer methodologischer oder theoretischer Orientierungen abgesehen wird. Wie sich zeigen wird, sind die von Holzkamp (1983, 356ff) entwickelten Darlegungen zur restriktiven vs. verallgemeinerten Handlungsfähigkeit konkret-historische Explikationen (»Füllungen« sensu Baller) der Kategorie der »doppelten Möglichkeit«, Explikationen, die als kategorial zu bestimmen, m.E. nicht nur überflüssig, sondern problematisch ist. Ihre potenziell kritische Funktion gewinnen diese Bestimmungen nicht durch ihren »kategorialen« Charakter, sondern dann und so lange, wie ihre kategoriale Basis (doppelte Möglichkeit) und ihr gesellschaftstheoretischer Bezug Bestand haben bzw. aktuell sind. Damit kann ich nun zur Darstellung der »restriktiven vs. verallgemeinerten Handlungsfähigkeit als Bestimmungen des Mensch-Welt-Zusammenhangs in der kapitalistischen Gesellschaft« kommen, in deren Verlauf der sachliche Gehalt meiner Problematisierungen hoffentlich deutlich wird. 11.2 Das erste Niveau individualwissenschaftlicher Kategorienbildung: Bedeutungsanalyse (auf der Grundlage gesellschaftstheoretischer Bestimmungen) Es geht nun um die Frage, wie die »Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit der individuellen Erscheinungsformen des Psychischen [... ] aus den Iage- und positionsspezifischen Lebensbedingungen und Bedeutungsstrukturen der Individuen in ihrer Formbestimmtheit durch die Produktionsverhältnisse zu begreifen und zu durchdringen« ist. Dabei werden diese lage- und positionsspezifischen Lebensbedingungen von Holzkamp »als die antagonistischen Klassenverhältnisse in der bürgerlichen Produktionsweise konkretisiert« (1983, 357, Herv. entf., M.M.). Dies, so schränkt er ein, könne allerdings »hier nur exemplarisch und vorbehaltlich weiterer Konkretisierungen auf besondere Gesellungseinheiten mit kapitalistischer Struktur geschehen« (ebd.). Entsprechend der in Kap. 9.3 behandelten »Gegenläufigkeit der Strukturierung des gesamtgesellschaftlichen Prozesses von der Produktionsweise her und der Strukturierung des personalen Le-
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bensprozesses von der Reproduktion des individuellen Daseins her« (ebd., 358) ist bei der Analyse zwar der »reale Primat der Produktion in Rechnung zu stellen, aber andererseits die Analyse vom Standpunkt des Subjekts aus von der individuellen Lebenslage/Lebenspraxis im Reproduktionsbereich her anzusetzen und voranzutreiben« (ebd. 359; Herv. entf., M.M.). Es muss dabei zwischen »bedeutungsanalytischen« Momenten, also »objektiv gegebenen Handlungs- und Denkmöglichkeiten«, und deren »subjektiver Realisierung« unterschieden werden (ebd., Fn 1). Denn wir hatten ja schon festgestellt, dass der Umstand, dass verschiedene Menschen objektive Umstände verschieden erfahren (und entsprechend unterschiedlich handeln), nicht bloß ein empirischer Befund, sondern begrifflich schon vorausgesetzt ist. Bezüglich der »subjektiven Realisierung« muss wiederum unterschieden werden zwischen zwei Forschungszugängen: (a) exemplarischen Hypothesen, in denen naheliegende Prämissen-Gründe-Zusammenhänge formuliert werden, und die auf unterschiedlichen »Daten« beruhen können; auf eigenen Erfahrungen, auf Erfahrungen Anderer, auch wissenschaftliche und belletristischer Literatur; (b) direkten aktual-empirischen Untersuchungen (etwa in Form von Interviews, teilnehmender Beobachtung, Handlungsforschung). Im hier zur Diskussion stehenden Kontext kann es sich nur um die erste, die hypothetische Variante handeln. Holzkamp geht von der Kategorie der (Lebens- )Lage aus und differenziert diese in »Infrastrukturen«. »Lage« ist, wie oben ausgeführt, im Unterschied zur produktionsbezogenen Position analytisch auf die Reproduktion und auf entsprechende Handlungsmöglichkeiten (bzw. -einschränkungen) gerichtet, die in entsprechenden gesellschaftlichen Denk- und Sprachformen repräsentiert sind: Es geht um sexuelle und familiäre Beziehungen, Freundschaften oder Vereinzelung und damit gegebene Kooperationen, aber auch Konkurrenzen, das Zurechtkommen mit praktischen Anforderungen etc. Die hier in den einschlägigen Denkformen enthaltenen Verallgemeinerungen haben die Form von »personenbezogenen >Normen<, >Traditionen<, >Moden«<. Der »>verallgemeinerte Andere< 14 verkürzt sich demgemäß nivellierend auf das >man<: Die Verallgemeinerungen, soweit auf die >Infrastrukturen< der Lebenslage bezogen, begründen sich quasi aus sich selbst, aus ihrer Verbreitung, die gleichzeitig ein Moment der Normativität enthält« (a.a.O., 360). Die mit der Kategorie der Position verbundenen Denk- und Sprachformen hingegen beziehen sich -entsprechend der historischen Entwicklung der Arbeitsteilung- auf Beiträge zu bzw. den Ausschluss von »Arbeitshandlungen« und damit vermittelten Formen des Umgangs mit sich und ande14 In der soziologischen Theorie G.H. Meads erfährt und definiert sich der Einzelne in Bezug auf die Sicht Anderer auf ihn. In diesem Kontext meint »verallgemeinerter Anderer« eine für die Einzelnen relevante Bezugsgruppe mit ihren Denk- und Verhaltensweisen.
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ren. Holzkamp bezieht sich in der Erläuterung dabei zunächst auf seine Analysen aus der »Sinnlichen Erkenntnis« (1973) bzw. Marx' Analyse der »Anatomie bürgerlichen Gesellschaft« (1983, 36lff, 20lff): Die Rede von Freiheit und Gleichberechtigung und vom freien Arbeitsvertrag mystifizieren den Umstand, dass »der Arbeiter, um zu leben, seine Arbeitskraft an den Kapitalisten verkaufen muss, d.h. in den Produktionsprozess selbst zu den Bedingungen und unter dem Kommando des Kapitals als herrschender Klasse einzutreten gezwungen ist. Damit erhält er das Äquivalent der von ihm produzierten Werte nur soweit als Lohn zurück, wie dies zur Reproduktion seiner Arbeitskraft notwendig ist, der darüberhinaus produzierte >Mehrwert< wird aber vom Kapitalisten unentgeltlich angeeignet und als >Kapital< kumuliert. Dem scheinbaren Rechtsverhältnis des adäquaten Lohns für geleistete >Arbeit< im Zirkulationsbereich steht hier also das reale Ausbeutungsverhältnis im Produktionsbereich, in welchem der Arbeiter dafür, dass er seine Arbeitskraft an den Kapitalisten verkauft hat, unbezahlte Mehrarbeit leisten muss und so dem auf ihn gerichteten >Verwertungsinteresse< des Kapitals unterworfen ist, gegenüber.« (A.a.O., 201; vgl. auch 362) Diese Formbestimmtheit der Produktion und der Arbeitshandlungen bringt weiter mit sich, dass die gemeinsamen Aktivitäten der Arbeitenden gleichzeitig von Konkurrenz durchsetzt sind, solidarisches Handeln also nur bewusst gegen diese spontane Tendenz durchgesetzt werden kann. Der weitgehende Ausschluss aus einer kollektiven Verfügung über die Produktion und gesellschaftliche Angelegenheiten begünstigt die Vorstellung der »scheinhaft ungesellschaftlichen >Privatexistenz< des Einzelnen«, die Verkennung der objektiven und gesellschaftlich produzierten Lebenslage als eine Art natürlicher Umwelt und das damit nahegelegte >>pseudokonkrete« Absehen von gesellschaftlichen Vermittlungen, das wiederum auch im nicht direkt produktionsbezogenen Alltag sich niederschlägt (ebd.). Der Terminus >>pseudokonkret« geht auf Kosik ( 1967) zurück und lässt sich an der Vereigenschaftung von Problemen und Möglichkeiten veranschaulichen (vgl. dazu meine Ausführungen zur >mangelnder Konzentrationsfähigkeit< in Kap. 3.2.2.2 und zum Konstrukt der >>Begabung« in Kap. 5.1). Die Diagnose »Pseudokonkretheit« ist das Ergebnis der Analyse der (in Kap. 3.2.2.2 dargestellten) »Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit«. Wenn, um das Beispiel wieder aufzugreifen, >mangelnde Konzentrationsfähigkeit< als Eigenschaft diagnostiziert wird, wird von gesellschaftlichen Vermittlungen des Problems (Arbeitsweise des Lehrer, Lehrplandruck etc.) abgesehen oder abstrahiert. Was als so konkret erscheint, ist in Wirklichkeit abstrakt, eben: »pseudokonkret« - mit der Implikation, dass gesellschaftliche Verhältnisse personalisiert werden, und objektive Beschränkung in subjektive Beschränktheit umgedeutet wird. Ein zentraler Widerspruch für die in diesen Verhältnissen lebenden Individuen besteht darin, dass sie mit ihrer Lebensbewältigung (in Produktion
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und Alltag) grosso modo eben diese Verhältnisse immer wieder selber reproduzieren: »Identität der Möglichkeiten zur Sicherung/Entfaltung der eigenen Existenz (in der Form des >verallgemeinerten Nutzers<) und der Beteiligung an der Reproduktion der bestehenden Klassenverhältnisse und Herrschaftsstrukturen (also faktischen Mitwirkung der ausgebeuteten Klasse an ihrer eigenen Unterdrückung)« (Holzkamp 1983, 364). Dies schließt nicht aus, dass widerständige solidarische Handlungen organisiert oder die Normen des »man« auf darin verborgene (Herrschafts- )Interessen hin hinterfragt werden können - es bedarf dazu aber der »politischen« Durchdringung der Pseudokonkretheit und einer gewissen Vorstellung dessen, dass der Status quo nicht den Charakter einer natürlichen Ordnung hat, sondern von Menschen gemacht und durch sie veränderbar ist- auch wenn sie ihn (spontan) permanent reproduzieren. Dass hierbei eine erhebliche Spannbreite zwischen »Reform und Revolution«, zwischen kurzschlüssigen spontanen Zusan1menschlüssen und langfristigen gewerkschaftlichen und politischen Organisationen und erhebliche politische, strategische und taktische Auseinandersetzungen bestehen, muss nicht weiter begründet werden. Methodologisch wichtig ist, dass Holzkamps »Hinweise auf den Bedeutungsaspekt der gesellschaftlichen Lage- und Positionsspezifizierungen« der konkret-historischen Differenzierung »kapitalistischer Gesellungseinheiten natürlich nicht gerecht« werden; diese Differenzierung ist »in einzeltheoretisch-aktualempirischen Untersuchungen zu klären, deren kategorialmethodologische Implikationen und Voraussetzungen wir hier herausanalysieren (und mit Bezug auf die >Bedeutungsanalyse< lediglich an allgemeinen Strukturmerkmalen der bürgerlichen Gesellschaft veranschaulicht haben)« (a.a.O., 366f). Wir werden im Folgenden darauf zu achten haben, ob und wie spätere Veranschaulichungen diese Grenzen verwischen. Nachdem hiermit das erste »Niveau individualwissenschaftlicher Kategorienbildung« (vgl. Kap. 10.1), das sich auf die Bedeutung der Lebensbedingungen richtet, skizziert wurde, können wir nun zum »zweiten Niveau individualwissenschaftlicher Kategorienbildung« kommen, zur Analyse von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen und subjektiven Funktionalitäten in der kapitalistischen Gesellschaft. 11.3 Das zweite Niveau individualwissenschaftlicher Kategorienbildung: Prämissen-Gründe-Zusammenhänge und subjektive Funktionalität
Ansatz ist die (in Kap. 9.6 dargestellte) Kategorie der »doppelten Möglichkeit« der bloßen Nutzung oder der Erweiterung von Handlungsräumen, die historisch zu konkretisieren ist. »Terminologisch« trägt Holzkamp dieser Konkretisierungsebene durch den Begriff der »subjektiven Möglichkeitsräume« Rechnung. Diese richten sich nach den gegebenen gesellschaftlichen
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Strukturen und den Iage- bzw. positionsbezogenen Bedeutungskonstellationen, und zwar in der Art und Weise, wie sie dem jeweiligen Individuum in ihrem »phänomenalen Aspekt«, also wie sie dem jeweiligen Individuum in dessen Erfahrung und mit seiner persönlichen Lebensgeschichte gegeben sind - was auch bedeutet, dass ihm Verfügungsmöglichkeiten entzogen (von ihm »verdrängt«) sein können, dass es sich in seinen subjektiven Möglichkeiten und Behinderungen »täuschen« kann (a.a.O., 368)- womit die Frage auftaucht, wonach von wem zu entscheiden ist, was Täuschung ist und was nicht. Wir haben es ja hier nicht, wie in den Konformitätsexperimenten von Asch (1951, vgl. Kap. 1) mit veridikalen, also objektiv messbaren »Reizen« zu tun, deren Ausmaß von einem Außenstandpunkt in Zentimetern objektiv zu bestimmen ist. Wie heiß es objektiv und wie heiß es mir ist, schon das kann sich erheblich unterscheiden. Noch komplizierter wird es, wenn Handlungsmöglichkeiten keinen einfachen Maßstab haben, an dem unterschiedliche, konkurrierende Einschätzungen verglichen werden können. Nach der bisher schon entfalteten subjektwissenschaftlichen Logik der Kritischen Psychologie kann die Frage nach der Täuschung nur vom Standpunkt des jeweiligen Subjekts entschieden werden, das sich dabei aber der Einschätzungen anderer versichern und diese abwägen kann (vgl. die Ausführungen zum »Motivationsrisiko« in Kap. 11.3.1.2). 11.3.1 »Intersubjektivität« und »Instrumentalverhältnisse«: Die subjektive Funktionalität des Verzichts auf Verfügungserweiterung
Für Holzkamps weitere überlegungen sind nun aber weniger Handlungsmöglichkeiten als vielmehr Handlungsbehinderungen zentral. Warum? Weil sich diese »in der bürgerlichen Gesellschaft mehr oder weniger zu in den Handlungsmöglichkeiten liegenden Bedrohungen der personalen Handlungsfähigkeit einschließlich der ideologischen Mystifizierung der Bedrohung zuspitzen können. Für diesen Fall reichen unsere früheren kategorialen Bestimmungen [... ] keinesfalls aus, um die darauf bezogenen subjektiv funktionalen Begründungszusammenhänge kategorial zu entschlüsseln. Wir entwickeln deshalb unsere weiteren Analysen im Ansatz an der historisch bestimmten Iage- und positionsspezifischen Einschränkung/Bedrohung der Bedingungsverfügung und haben zu klären, auf welche Weise die subjektiv notwendige Abwendung oder Oberwindung der Einschränkung/Bedrohung in Termini subjektiv funktionaler Begründungszusammenhänge kategorial aufzuschließen ist.« (A.a.O., 369) Unter dieser Voraussetzung- und unter der Voraussetzung der Geltung des Zusammenhangs von Verfügungserweiterung und Lebensqualität (vgl. Kap. 9.6) -dreht sich Holzkamps Erkenntnisinteresse vor allem um die Frage, warum der Verzicht auf die Erweiterung von Verfügungsmöglichkeiten subjektiv funktional ist. Die ausgesprochen einfache und plausible Antwort auf
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diese Frage: >weil diese Verfügungserweiterung (zu) riskant und dem Individuum der Spatz in der Hand lieber als die Taube auf dem Dach ist<, ist auch die Antwort der Kritischen Psychologie- nur, dass diese versucht, den Widersprüchen der Vorliebe für Spatzen statt Tauben auf den Grund zu gehen, und dass sie dabei bedenkt, dass derartige Entscheidung »(primär) nicht Menschen«, sondern »aktuelle Situationen« charakterisieren. Diese Situationen sind grundsätzlich dadurch definiert, dass die Alternative der Verfügungserweiterung »niemals verschwindet«: »Jedes Individuum, solange es als Mensch am Leben ist, hat also angesichtsjeder aktuellen Einschränkung/Bedrohung immer in irgendeinem Grad die >Freiheit<, seine Bedingungsverfügung zu erweitern oder darauf zu verzichten.« (A.a.O., 370) Die Universalität dieser Aussage ist sicher problematisch. So darf bezweifelt werden, ob sie bspw. auch unter der Folter gilt (bzw. sich unter der Hand in eine abstrakte Norm verwandelt). Es ist allerdings auch gar nicht erforderlich, die »doppelte Möglichkeit« auf diese Weise zu universalisieren. Grenzbereiche menschlicher Erfahrung entwichtigen ja nicht die psychologische Relevanz struktureller Alternativen wie die der »doppelten Möglichkeit<<.
11.3.1.1 Absage an das »Irrationalitäts«-Konzept Dass der Verzicht auf Verfügungserweiterung »irrational« sei, scheidet als subjektwissenschaftliche Antwort aus, weil das Urteil »irrational« die Grundlagen des »universellen« (a.a.O., 352, 371) Begründungsdiskurses und damit der nicht suspendierbaren subjektiven Funktionalität menschlicher Handlungen erschüttert. Wir haben es beim Begründungsdiskurs ja weder mit einer »Methode« noch mit »einer >Theorie< zu tun,[ ... ] sondern eben mit einer bestimmten Diskursform intersubjektiven Umgangs, die zentral durch den Nexus zwischen Bedeutungen, Begründungen, und Handlungsintentionen/Handlungen spezifiziert ist einerlei, auf welche Weise, wie >richtig< oder >falsch<, die einzelnen Instanzen dabei inhaltlich gefüllt sind. Entsprechend liegt die einzige Möglichkeit, den Begründungsdiskurs in seiner Besonderheit zu qualifizieren, darin, ihn vom Bedingtheitsdiskurs, dessen Nexus nicht als Bedeutungs-/Begründungszusammenhang, sondern als >Ursache-Wirkungs-Zusammenhang< spezifiziert ist, abzuheben. Es geht hier nicht um die Realitätsprüfung von Theorien, sondern um die Qualifizierung spezifischer wissenschaftlicher Sprachmodi.<< (Holzkamp 1996, 64) Zunächst unverständliches Handeln soll und kann dadurch verständlich werden, dass die ihm zugrunde liegenden Prämissen-Gründe-Zusammenhänge herausgearbeitet werden (vgl. Kap. 9.7.3). Vor diesem Hintergrund bedeutet das Urteil »irrational«, dass die Suche nach Prämissen-GründeZusammenhängen abgeschnitten wird; mit >>irrational« kann also nicht die Eigenart anderer Menschen charakterisiert werden. >>Irrational« bedeutet vielmehr, dass jeweils ich es aufgegeben habe, andere zu verstehen oder
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verstehen zu wollen, es charakterisiert je meine Erkenntnislage, nicht die Handlungen der anderen. Ich habe diesen Sachverhalt gelegentlich an folgendem Beispiel veranschaulicht: Eine Frau kauft bei IKEA einen Kleiderschrank, den sie im Schlafzimmer erfolgreich zusammensetzt; der Schrank bleibt aber nur so lange stehen, bis die Straßenbahn vorbeirattert. Auch ein erneuter Aufbau übersteht das Vorbeirattern der Straßenbahn nicht. Ein freundlicher IKEA-Mitarbeiter lässt sich erweichen, selber den Aufbau vorzunehmen. Als er damit fertig ist, wird beschlossen, dass er die nächste Straßenbahn abwartet- und zwar (mit Taschenlampe) im Schrank, damit er einen potenziellen Zusammenbruch des Schrankes von innen verfolgen kann. Während nun die Frau dem freundlichen IKEA-Mitarbeiter ein Bier holt, passiert, was in solchen Geschichten immer passiert: Der Ehemann der Frau kommt- zu diesem Zeitpunkt jedenfalls- überraschend nach Hause. Im Schlafzimmer sieht er den neuen Schrank und öffnet ihn: »Was machen Sie denn hier?<<, fragt er fassungslos den Fremden im Schrank. »Ich warte auf die Straßenbahn.<< Die (wissenschaftliche) Moral der Geschichte ist also: Die Antwort des Fremden - »>ch warte auf die Straßenbahn« - ist nur für den »irrational«, der die Prämissen des Fremden nicht aufgeschlüsselt hat, bzw. das nicht kann oder nicht will. »Irrationalität« ist nicht das positive Resultat einer Analyse, sondern deren Abbruch bzw. das Eingeständnis, sie nicht zu Ende führen zu können. Entscheidend ist hier also das Aufschließen subjektiver Begründetheit und Funktionalität, wobei »Funktionalität« nur den Interessenbezug von Begründungen betont. Maßstab ist der Standpunkt des Subjektes, nicht irgendein Außenstandpunkt im Sinne externer Rationalität oder Vernünftigkeit. Deswegen schließt die so begründete Absage an Irrationalität als Urteil über menschliches Handeln keineswegs aus, gesellschaftliche Verhältnisse und deren Funktionsweisen als »irrational« zu bezeichnen, weil diese Charakterisierung in der Tat sinnvoll von einem »externen« Standpunkt von Rationalität und Vernunft aus vorgenommen und diskutiert werden kann. Gesell-
schaftliche Verhältnisse werden ja nicht im Begründungsdiskurs verhandelt. 11.3.1.2 Handlungsrisiken und (kollektive) Subjektivität Kommen wir auf die Ausgangsfrage dieses Teilkapitels zurück, so geht es also vor allem um die subjektive Begründetheit/Funktionalität des Verzichts
auf die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten. Die Logik der Argumentation ist die der Risiken, die das Individuum mit den Versuchen, seine Verfügungsmöglichkeiten zu erweitern, eingeht: diese Versuche bedeuten nicht nur Anstrengungen, sondern eben auch das Risiko zu scheitern, ggf. sogar nachher schlechter da zu stehen als vorher. Diese »existenzielle Verunsicherung« muss, so Holzkamp, unter »antagonistischen Klassenverhältnissen« in dem Maße zunehmen, in dem diese Erweiterungs-
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möglichkeiten mit Herrschaftsinteressen kollidieren. Dabei können »herrschende Interessen« auch in Bedeutungszusammenhängen in Erscheinung treten, »die scheinbar nur Handlungsmöglichkeiten zur Daseinsbewältigung und Bedürfnisbefriedigung in unmittelbaren sozialen Bezügen enthalten« (a.a.O., 372). Ein Beispiel dafür wäre die Bedeutung des Kleinkreditwesens gegenüber der Realisierung »privater« Bedürfnisse: Wurde früher eher auf eine Anschaffung hin gespart, ermöglicht der Kleinkredit, mit dem nicht unerhebliche Summen in die Banken transferiert werden, eine frühere Bedürfnisbefriedigung (mit der Problematik potenzieller Überschuldung). All dies sind die private Angelegenheit der Kundinnen und Kunden (von Möbelgeschäften und Banken), Angelegenheiten, die aber in ihrer Privatheit gesellschaftlich vermittelt sind. Ein weiteres Beispiel: Wenn man davon ausgeht, dass, sich gegenüber eigenen Widerstandsimpulsen zu beherrschen, im Sinne der herrschenden Ordnung ist, dann ist ein auf Anpassung und Gehorsam bedachter Umgang mit Kindern in der Familie zwar »privat«; es wäre aber immer auch zu fragen, inwieweit in diesen privaten Umgangsweisen entsprechende gesellschaftliche Erwartungen reproduziert werden. Es ist plausibel, dass beim Verzicht auf die Möglichkeit der Handlungserweiterung die Vermeidung des Risikos bzw. die Angst vor dem Verlust auch der jetzt bestehenden Möglichkeiten dominiert, während die »Alternative der Verfügungserweiterung [... ] nur insoweit subjektiv begründet/ funktional werden [kann], wie das Individuum zugleich mit der Möglichkeit der Verfügungserweiterung auch die Möglichkeit erfährt, die dabei zu antizipierende Existenzgefährdung abzuwenden« (a.a.O., 372f.) -in kollektivem Zusammenschluss mit anderen, seien diese Kooperationen nun formell oder informell. Die Begründetheit der Verfügungserweiterung charakterisiert Holzkamp im Weiteren als die »subjektive Perspektive der Realisierbarkeit solcher gegebenen Möglichkeiten in Überschreitung der Grenzen der individuellen Subjektivität durch unmittelbare Kooperation in Richtung auf die Durchsetzung allgemeiner Interessen der gemeinsamen Selbstbestimmung gegen herrschende Partialinteressen, also in einem dezidierten Sinne >intersubjektive< Beziehungen als Kennzeichen kollektiver bzw. gesellschaftlicher Subjektivität« (a.a.O., 373). In diesem Sinne intersubjektive Beziehungen als »Kennzeichen kollektiver bzw. gesellschaftlicher Subjektivität« zu bestimmen, hat Holzkamp, wie in Kap. 9.7.2 schon verhandelt, wenig später unter Betonung der Vermittlungen zwischen gesamtgesellschaftlichem Prozess und individueller Subjektivität« ( 1984, 24ff.) relativiert bzw. präzisiert: Wird die kategoriale Differenz zwischen Kollektiv und Subjekt, zwischen gesellschaftstheoretisch zu verhandelnden und in diesem Sinne objektiven Notwendigkeiten und subjektiven Notwendigkeiten/Funktionalitäten aufgeweicht, wird sie zur Halluzination eines kollektiven Subjekts, in dem die/der Einzelne dann (so gut wie) nichts mehr ist.
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11.3.1.3 Partial- vs. Allgemeininteresse: restriktive Handlungsfähigkeit als Teilhabe an der Macht der Herrschenden Sofern nun die Möglichkeit der Verfügungserweiterung nicht erfahrbar werde, sieht Holzkamp das Individuum in seiner Handlungsfähigkeit »auf bloß interaktive Beziehungsformen bzw. seine (relative) Vereinzelung« (1983, 374) zurückgeworfen. Mit dem Ausschluss gemeinsamer Verfügungserweiterung »im allgemeinen Interesse der Erhöhung menschlicher Lebensqualität« bleibe dem Individuum nur das »Gegeneinander unterschiedlicher Partialinteressen übrig, denen gemäß die je eigenen Lebensinteressen durch die Interessen anderer eingeschränkt sind, und [denen gemäß, M.M.] ich die Verfügung über meine Lebensbedingungen nur auf Kosten der anderen erweitern kann, wobei unter kapitalistischen Bedingungen dieses Gegeneinander als bürgerliches Konkurrenz-Verhältnis formbestimmt ist<< (Holzkamp 1983,374, Herv. beseitigt, M.M.). Die Sicherung der eigenen (Partial- )Interessen hänge von den jeweiligen »Kräfteverhältnissen<< ab und bewege sich in den Formen von »Kompromissen« und »Kompensationen«, der Durchsetzung der eigenen (Gruppen-)Interessen gegenüber und aufKosten der Interessen anderer (Gruppen). »Aus dem Umstand, dass unter diesen Prämissen die wirkliche Macht in letzter Instanz unangefochten den Herrschenden gehört, ergibt sich dabei, dass Machtausübung auf erweiterter Stufenleiter (wie immer vermittelt) nur als Teilhabe an der Macht der Herrschenden möglich ist.« So seien also die Beziehungen zu anderen Menschen durch die »Wechselseitige Instrumentalisierung des jeweils anderen für die eigenen Interessen charakterisiert«. »Intersubjektivität« und »Instrumentalisierung« bzw. Instrumentalverhältnisse sind die Begriffe, mit denen Holzkamp die diesbezügliche Alternative zwischen einer Erweiterung bzw. der bloßer Sicherung bestehender Handlungsfähigkeit bezeichnet (a.a.O., 375, Herv. beseitigt, M.M.). Holzkamps Bestimmung des Denkens in »Kräfteverhältnissen<< als Aspekt der Durchsetzung bloßer Partialinteressen ist irritierend-zumal er später das Denken in Kräfteverhältnissen (a.a.O., 400) positiv bestimmt, wenn er schreibt, dass gerade mit dem Denken in Kräfteverhältnissen erfasst wird, »dass die Durchsetzung der allgemeinen Interessen gegen die herrschenden Interessen die Überschreitung bloß >individueller< Ohnmacht durch (informellen oder organisierten) Zusammenschluss mit anderen erfordert<<. M.E. hat diese Widersprüchlichkeit ihren Gnmd darin, dass »Macht«, »Herrschaft«, »herrschende Interessen«, »allgemeine Interessen« (vgl. speziell dazu Markard 2006b) in Holzkamps Aussagen gesellschaftstheoretisch nicht präzisiert werden, sondern bestenfalls »Platzhalter« für solche Präzisierungen sind. Inwieweit das Denken in Kräfteverhältnissen (und Kompromissen) bloß defensiv oder Moment einer (kollektiven) Verfügung ist, kann sich ebenso nur konkreten (politischen) Analysen und Auseinandersetzungen verdanken wie die Beantwortung der Frage, inwieweit die Durchsetzung der Interessen einer bestimmten Gruppierung gleichzeitig von allgemeinem Interesse ist.
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Die Verallgemeinerbarkeit von Interessen ist Thema »kategorischer Imperative«. Der erste ist der von Kant ( 1788): »Handle so, dass die Maxime deines Handeins jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung dienen könnte.« (»Kritik der praktischen Vernunft«, § 7, 140); der zweite ist der von Marx, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist<< (1844, 385), oder- so Marx mit Engels- Verhältnisse zu schaffen, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (1848, 482); der dritte ist der von Adorno: »Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.« Bzw.: »Jede Debatte über Erziehungsideale ist nichtig und gleichgültig diesem einen gegenüber, dassAuschwitz nicht sich wiederhole.« (1966, 674). Man kann -viertens- zur Verallgemeinerbarkeit von Interessen auch mit Haug (1972) argumentieren, dass die sozialistische Organisation der Gesellschaft als allgemeine fungiere, soweit dort das allen Gesellschaften Gemeinsame, die gesellschaftliche Produktion, unmittelbar die Form bestimme (vgl. Grüter et al. 1977, 247). Indem die marxsche »Kritik der politischen Ökonomie nichts anderes tut, als an dieser dreifachen Basis, der Arbeit, ihren materiellen Produktivkräften und ihren schon unmittelbar gesellschaftlichen Charakteren festzuhalten gegen die herrschende Privatmacht, begründet sich die sozialistische Perspektive als bestimmte Negation<< (Haug 1972, 581). Insofern repräsentiert diese Kritik »den Standpunkt dessen, was allgemein ist oder doch seine Verallgemeinerung erträgt« (a.a.O., 583). Alle diese vier Bestimmungen/Perspektiven sind allerdings weder unmittelbar operationalisierbar, noch bedeuten sie, dass mit dem Versuch ihrer Realisierung nicht mehr die Interessen von irgendwem verletzt würden: Wer an Zuständen interessiert ist, in denen Macht vor Recht geht, wer davon profitiert, dass andere verächtliche Wesen sind, wer die Welt juden-und »zigeuner«-frei haben, wer die Welt rassistisch ordnen will, wer Privateigentum an Produktionsmitteln zu verteidigen hat, dürfte sich in seinen Interessen durch diese allgemeinen Bestimmungen sehr wohl negativ tangiert fühlen. Wenn nun Holzkamp im Zuge seiner Explikation restriktiver Handlungsfähigkeit der »Erweiterung der gemeinsamen Macht über die Verhältnisse« den »Versuch der Gewinnung von Kontrolle über andere Menschen in Teilhabe an der damit bestätigten Macht der Herrschenden<< (1983, 375, Herv. entf., M.M.) kategorisch entgegensetzt, schließt er damit aus, dass »Kontrolle über andere Menschen<< unvermeidbarer Teil des Kampfes gegen die »Macht der Herrschenden<< ist. Auf dem 4. Kongress Kritische Psychologie dagegen sprach Altvater (unter Bezug auf Marx) bspw. von der Notwendigkeit, dem Kapital Grenzen aufzuherrschen: »Grenzenlosigkeit [ist] das Prinzip [der Globalisierung, M.M.]. Grenzen gegenüber der häufig Zerstörerischen Grenzüberschreitung, Grenzen dieses Überspringens und Über-die-Stränge-Schlagens müssen dem Kapital immer wieder aufge-
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herrscht werden. Der Begriff des Aufherrschens taucht am Ende des 8. Kapitels über den Arbeitstag bei Marx auf. Er beschreibt gegenüber der Entbettung und der Herrschaft des Fetisches, der Sachzwänge, immer wieder einen Prozess des Aufherrschens, der Setzung von Grenzen. Grenzen der Ausbeutung der Arbeit durch den Sozialstaat, Grenzen der ökologischen Zerstörung, die sehr viel später in harten Konflikten gesetzt werden, Grenzen gegenüber dem Über-die-SträngeSchlagen im Sinne der territorialen und temporären Akkumulation.« (1988, 67) Dieses »Aufherrschen« von Grenzen von Ausbeutung und ökologischer Zerstörung zielt zwar auf gesellschaftliche Strukturen, es bedeutet aber zwangsläufig auch eine »Kontrolle über anderer Menschen«, über die nämlich, die sich das Aufherrschen der strukturellen Grenzen nicht gefallen lassen wollen bzw. von diesen Strukturen profitieren. Auch das »Denken in Kräfteverhältnissen«, das, wie wir sahen, Holzkamp unterschiedlich bewertete, muss- temporär- die Kontrolle über andere einkalkulieren. M.E. zeigt sich an der zitierten Passage Holzkamps eine Problematik in der Explikation restriktiver/verallgemeinerter Handlungsfähigkeit: die Vermischung der politisch-gesellschaftlichen mit der interpersonalen Ebene dergestalt, dass gesellschaftliche Probleme wie interpersonale behandelt werden. Dies mag eine Folge der theoretisch bedeutsamen und weitestgehend auch realisierten Intention sein, die Formbestimmtheit interpersonaler Beziehungen, also die Durchdringung privatester Beziehungen mit gesellschaftlich formbestimmten Denkweisen und Praxen exemplarisch aufzuweisen. Dies darf theoretisch aber nicht dazu führen, umgekehrt gesellschaftliche Prozesse im Modus interpersonaler Beziehungen zu diskutieren bzw. gesellschaftliche Auseinandersetzung nach Kriterien zwischenmenschlicher Beziehungen zu beurteilen. Wie dem auch sei - Holzkamp resümiert seine Ausführungen über die subjektive Funktionalität des Verzichts auf Verfügungserweiterung unter Verweis auf die »doppelte Funktionalität« bürgerlicher Ideologie: erstens: »scheinhafte Identität der herrschenden Interessen mit den Allgemeininteressen« und zweitens die Annahme, dass mit der »Anerkennung der Macht der Herrschenden gleichzeitig die von ihnen [also den Herrschenden, nicht der Macht, M.M.] ausgehende Bedrohung der eigenen Handlungsfähigkeit abwendbar zu sein scheint« (1983, 376).
11.3.1.4 »Selbstfeindschaft« Holzkamp schließt daran die starke Behauptung an, dass die in der »Anerkennung der Macht der Herrschenden« liegende Dynamik den »Kernwiderspruch jeder [sie, M.M.] subjektiven Lebensproblematik innerhalb der bürgerlichen Klassenrealität« ausmache. Darin lägen die »kategorialen Voraussetzungen für eine adäquate theoretisch-aktualempirische Erfassung von all dem, was hier heute als >psychische Schwierigkeiten<, >Störungen<, >Neurosen< etc. verhandelt wird, vor allem aber für die vorgeordnete Durchdringung der Erscheinungsebene der jeweils eigenen Daseinsproblematik in Richtung auf bewusste >menschliche< Lebensführung<< (ebd.).
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Einführung in die Kritische Psychologie
Aber: Kann man nicht auch daran verrückt werden, dass man diese Macht gerade nicht »anerkennt«? Ist es wirklich schon auf kategorialer Ebene ausgemacht, dass jeder Wahn, jede Depression als Kern die Anerkennung der Macht der Herrschenden hat? Kann nicht auch depressiv werden, wer sich im Kampf gegen die Herrschenden ein Berufsverbot eingehandelt hat. Sind dies nicht eher - unverzichtbare - kategorial veranlasste, aber im Konkreten empirisch offene Fragestellungen? Holzkamp verweist in seiner Argumentation auf den schon in der doppelten Möglichkeit liegenden »fundamentalen Widerspruch<<, dass die Ver-
fügung über Handlungsmöglichkeiten vom Grad der Verfügung über die Möglichkeitsbedingungen abhänge, »da nur so die Handlungsfähigkeit >Un-
ter Bedingungen< nicht durch die Unverfügbarkeit der Bedingungen wieder eingeschränkt, letztlich zurückgenommen ist<< (376f, Herv. entf., M.M.). Dabei ist nicht an Probleme wie den Häuserbau in einem Erdbebengebiet gedacht, die ja zwanglos auch unter diesen Widerspruch subsumierbar sind, sondern an gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse. Dieser so verstandene allgemeine Widerspruch der doppelten Möglichkeit, damit also der gesamtgesellschaftlich vermittelten Existenz generell, wird nun formbestimmt von Holzkamp folgendermaßen formuliert: »Die Gewinnung/Sicherung restriktiver Handlungsfähigkeit >unter< den bestehenden Machtverhältnissen durch Arrangement mit den Herrschenden als Versuch, Handlungsfähigkeit unter Verzicht auf die Verfügung über deren Bedingungen zu erreichen, enthält damit notwendig stets auch ihr Gegenteil, das Sich-Ausliefern an unbeeinflussbare Manifestationen gegebener Unterdrückungsverhältnisse, quasi an die >Willkür< der Herrschenden, damit permanente Gefährdung des Handlungs- und Verfiigungsrahmens, den man durch den Verzicht auf die Bedingungsverfügung und das Arrangement mit den Herrschenden doch gerade absichern will. Mehr noch: Indem man hier, wie dargelegt, einerseits im Arrangement mit den Herrschenden zur Durchsetzung der eigenen Partialinteressen an deren Macht partizipieren, damit sich selbst an der Unterdrückung aktiv beteiligen muss, stärkt man andererseits gerade jene Mächte und Kräfte, denen man im Verzicht auf die Ve1jügung über die Möglichkeitsbedingungen des Handeins ausgeliefert ist. Dies heißt, dass (mit denWortenUte H.-Osterkamps) >... jeder, der sich innerhalb der gegebenen Abhängigkeitsverhältnisse einzurichten versucht, nicht nur Opfer, sondern auch Komplize der Machthabenden und damit sich selbst zum Feinde wird< (1979, S. 166).<< (A.a.O., 377) Sich selber zum Feinde werden, >>Selbstfeindschaft«, ist das >>Dilemma« im >>Streben nach Gewinnung/Absicherung restriktiver Handlungsfähigkeit«. Dieses Dilemma bedeutet weiter für das Individuum (oder >je mich<), dass >>ich hier, indem ich durch die Macht über den anderen aktuell und kurzfristig meine Handlungsfähigkeit erweitere, damit identisch meine eigene Basis wirklicher langfristiger Handlungsfähigkeit immer mehr verringere: Meine Instrumentalisierung des anderen impliziert notwendig, dass auch der andere mich inst-
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rumentalisiert. Indem ich ihn von mir isoliere, isoliert er mich von sich. Damit bin ich, im Versuch, mich durch die Kontrolle anderer abzusichern, immer mehr auf mich selbst zurückgeworfen, also immer ohnmächtiger den von mir unverfiigbaren Lebensbedingungen ausgeliefert.« (Ebd.) Die .damit eben verbundene »Selbstfeindschaft« korreliert erstens mit >»chronischer< Bedrohtheitsfixierung«, da eine reale Verbesserung der Lebensbedingungen ausgeschlossen ist, und zweitens mit der Einfärbung und Durchsetzung »all meiner Erfahrungen und Lebensmöglichkeiten«, mit der »Zersetzung >meiner< elementaren Lebensqualität« - bis in die sexuellen Beziehungen hinein, die »zur wechselseitige[n] Instrumentalisierung der Partner« benutzt werden (a.a.O., 378f). 11.3.1.5 Das »Apriori«, dass der Mensch sich nicht bewusst schaden kann, und die subjektwissenschaftliche Fassung des Unbewussten
Angesichts dieser Schilderungen liegt es mehr oder weniger auf der Hand, dass die Selbstfeindschaft restriktiver Handlungsfähigkeit dem Individuum nicht bewusst sein kann, also »>Verdrängung<, Leugnung, Dissoziation, Mystifizierung« (a.a.O., 279) erstens all jener Umstände impliziert, aus denen der Eigenanteil des Individuums an seinem Leiden deutlich würde. Zweitens müssen alle Hinweise auf Möglichkeiten kooperativer Verfügungserweiterung ausgeklammert werden. Vor allem der zweite Aspekt, der allerdings »nur einzeltheoretisch-aktualempirisch genauer aufzuklären« sei, sei von »kategorialer Relevanz« (a.a.O., 380). Bei der Argumentation, dass Selbstschädigung unbewusst sein muss, bezieht sich Holzkamp auf das »einzige materiale Apriori der Individualwissenschaft«, »dass der Mensch sich nicht bewusst schaden kann«. >Ich< kann mit meiner »Handlung zwar im Widerspruch zu meinen objektiven Lebensinteressen stehen, nicht aber im Widerspruch zu meinen menschlichen Bedürfnissen und Lebensinteressen, wie ich sie als meine Situation erfahre« (a.a.O., 350). Dieses »Apriori« gehört zu den immer wieder diskutierten und nach meinen Erfahrungen immer wieder vehement bestrittenen Momenten der Kritischen Psychologie. Was ist denn dann mit Selbstverletzungen, mit Selbstmord, mit Weiterrauchen bei Lungenkrebs und absterbenden Zehen, mit Märtyrertum und Selbstaufopferung etc.? Ich muss übrigens- einfach am Beispiel des Rauchens zu sehen- Selbst-Schädigungen nicht verdrängen, ich kann sie auch bewusst als Risiko einkalkulieren; nur werde ich mir dann, wenn ich rauche, nicht bewusst schaden, sondern bewusst die potenziellen gesundheitlichen Kosten des Rauchens in Kauf nehmen, weil ich den damit gewonnenen Genuss höher bewerte.
Die angeführten Beispiele lassen sich danach differenzieren, ob es um bloße »Selbstschädigung« oder um »Selbstschädigung« im Interesse anderer (»Altruismus«), also um die >Verleugnung< eigener Interessen geht.
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Allgemein ließe sich Holzkamps Auffassung schon damit begründen, dass da, wo es angeblich um die Verleugnung eigener Interessen geht (»Altruismus«), in Wirklichkeit doch eigene Interessen im Spiel sind, so dass altruistische Handlungen letztlich selbstwertdienlich sind, altruistische Handelnde also einen subjektiven Gewinn haben, es »Altruismus« als ausschließliche Verleugnung eigener Interessen nicht geben kann. Wir brauchen derartige Überlegungen aber nicht weiter zu differenzieren, weil sich aus dem Kontext, in dem sich Holzkamp auf das »Apriori« bezieht, schon dessen unverzichtbare Funktion für die Kritische Psychologie ergibt: Wenn gedanklich zugelassen wird, dass sich Menschen bewusst schaden können, bricht die Konstruktion restriktiver Handlungsfähigkeit in sich zusammen, die ja zur Voraussetzung hat, dass man in Verfolgung seiner Interessen gleichzeitig seine Lebensqualität zersetzt, sich selbst zum Feind wird etc. Könnte man dies bewusst tun, wäre die für restriktive Handlungsfähigkeit konstitutive Widersprüchlichkeit dahin. Ein Apriori ist zwar - als gedankliche vor-empirische Erkenntnisbedingung- kaum »material«, aber das von Holzkamp eingeführte »Apriori« ist eine notwendige gedankliche Voraussetzung für das Konzept der Selbstfeindschaft - nicht mehr, aber auch nicht weniger. Da die beschriebene Realitätsverleugnung und -abwehr nicht hermetisch, sondern immer wieder durch Möglichkeitsräume gefährdet ist, muss sie auch immer wieder »gegen das eigene >bessere< Wissen durchgesetzt« werden, wobei auch dieser Mechanismus unbewusst sein muss und mit der Zeit zu >>(relativ) überdauernden Modi der handelnden Welt- und Selbsterfahrung« führt: >>>dynamisch< unbewusste Anteile der Persönlichkeit« (a.a.O., 380f). Damit sieht Holzkamp die Grundlagen der subjektwissenschaftlichen Fassung des Unbewussten gelegt, das weder als >>irrational« (s.o.) noch als »anthropologische Letztheit« gefasst ist, sondern als Implikation der subjektiven Funktionalität restriktiver Handlungsfähigkeit, also eines »Handlungsrahmens, der sich der >Rationalität< der Herrschenden, letztlich des Kapitals, unterwirft«, und der nach allem Gesagten wegen der in ihm beschlossenen Selbstfeindschaft nicht bewusst sein kann, und der in der beschriebenen »speziellen Form [der Selbstfeindschaft, M.M.)] [... ] selbstverständlich nicht auf andere Gesellschaftsformationen verallgemeinerbar« ist (a.a.O., 38lf).
11.3.1.6 Zur Fundierung des Begriffspaars« restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit«: Probleme der Veranschaulichung Wir haben es bei den referierten Passagen Holzkamps zu weiten Teilen mit Veranschaulichungen des Widerspruchs restriktiver Handlungsfähigkeit zu tun, die beanspruchen, psychische Aspekte der Kapitalherrschaft, also psychische Formbestimmtheit, kategorial auszuformulieren. Es handelt sich aber nicht um konkrete empirische Analysen. Dem trägt Holzkamp
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dadurch Rechnung, dass er mehrfach (a.a.O., 367, 369, 379f, 382, 384, 386) darauf verweist, derartige Ausführungen seien im Einzelnen »einzeltheoretisch« bzw. aktual-empirisch zu konkretisieren. Das Kernproblem der Darstellung besteht aber darin, dass es keine Ebene exemplarischer Ausformulierungen des Verhältnisses von restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit (als historisch bestimmter Form der doppelten Möglichkeit) und damit des Grundwiderspruchs restriktiver Handlungsfähigkeit gibt, die nicht schon auf der theoretischen bzw. aktualempirischen Ebene läge. Diese Darlegungen können nur kategorial fundierte Veranschaulichungen/Konkretisierungen bzw. (vergleichsweise allgemeine oder Leit-) Hypothesen sein. Die kategoriale Fundierung derartiger Ausführung liegt, wie das bei Holzkamp auch faktisch geschieht, erstens in der kategorialen Begründung der »doppelten Möglichkeit« und zweitens in der bedeutungsanalytischen Anhindung der Argumentation an marxistische Gesellschaftstheorie. In diesem Kontext erfüllt die kategoriale Fundierung des Begriffspaars restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit auch die (1) Funktion und die (2) Eigenart, die, wie geschildert (vgl. Kap. 10.2), Kategorien haben: (1) den Blick auf das Wesentliche zu lenken und (2) durch aktual-empirische Daten nicht (direkt) erreichbar zu sein: also (1) immer nach den konkreten, kapitalistischen Herrschaftsverhältnissen zu fragen, sie nicht zu entwichtigen und (2) die herrschaftskritische Perspektive auch dann nicht aufzugeben, wenn sie auf den ersten (empirischen) Blick nicht aufscheint. Dass dies nicht zu einer dogmatischen Haltung verkommt, muss dadurch gewährleistet werden, dass die kategorialen Fundierungen auf den ihnen eigenen Ebenen nicht veralten. Anders: Wenn die historisch-empirische Begründung der »doppelten Möglichkeit« sich nicht halten ließe, oder wenn marxistische Gesellschaftsanalysen nicht nur wissenschaftlich strittig wären (wie andere auch), sondern völlig gehaltlos würden, wäre auch das Begriffspaar restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit mit >erledigt<. Um das Gesagte (über meine Ausführungen zur Problematik der »Kontrolle über andere Menschen« und der Behauptung über den »Kern« jeden Leidens hinaus) an den geschilderten Veranschaulichungen Holzkamps exemplarisch zu konkretisieren, will ich davon ausgehen, dass seinen Ausführungen, obwohl sie ja stark an politischen Kämpfen orientiert sind, jede Einlassung (1) zu Fragen der Strategie und Taktik und {2) zu historischen Ausprägungen/Errungenschaften in Machtverhältnissen fehlt: Nehmen wir die »Willkür der Herrschenden«, der oder denen man sich in restriktiver Handlungsfähigkeit »ausliefert« (alle Zitate beziehen sich auf in diesem Kapitel angeführte Passagen Holzkamps). Diese Willkür ließe sich fassen als das Ausmaß des Spielraums, den »die Herrschenden«nehmen wir an: das Management eines Konzerns - in betrieblichen und politischen Auseinandersetzungen haben, und das auch - immer wieder
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umkämpftes - Resultat von historisch erreichten und z.T. kodifizierten Regelungen ist. Der »Willkür« stehen also »Rechte« gegenüber; der Terminus Willkür allein ist gegenüber konkret-historischen Gegebenheiten zu abstrakt, als dass er zu Konkretisierungen taugte. Im Übrigen wäre auch zu fragen, inwiefern nicht auch Menschen, die die Macht der Herrschenden nicht anerkennen, deren »Willkür« ausgeliefert sind, und wo genau die Grenzen von »Taktik« und »Anpassung« liegen (vgl. dazu die Untersuchung von Schmalstieg 2008). Damit im Zusammenhang steht, dass die von Holzkamp beschworene »permanente Gefährdung« des Handlungsrahmens eines Individuums keineswegs direkte und zwingende Folge von dessen Anpassungstendenzen ist, sondern von strukturellen Vorgängen, auf die die Einzelnen so gut wie keinen und auch Organisierte einen jeweils auszumachenden und möglicherweise auch längerfristig geringen Einfluss haben; auch wäre in Rechnung zu stellen, in welchen Arbeitsverhältnissen die jeweiligen Individuen sich bewegen: Ich wüsste nicht, wieso ein >angepasster< Beamter permanent gefährdet ist- im Unterschied zu jemandem, der oder die seine/ihre Vorgesetzten herausfordert und dabei so weit geht, dass er/sie ggf. dienstrechtlich belangt werden kann. Insofern ist auch eine >»chronische< Bedrohtheitsfixierung«, die »all meine Erfahrungen« einfärbt, kaum als eine Implikation eines Arrangements mit den Herrschenden zu fassen, sondern eine mögliche Begleiterscheinung. Mit pauschalen Implikationen einer permanenten Gefährdung ist vor allem kaum zu klären, dass und wieso es sich für eine hinreichend große Anzahl von Menschen lohnt, sich mit den »Herrschenden« zu »arrangieren«. Die Feststellung, dass die Durchsetzung von Partialinteressen auf Kosten anderer geht, ist zwar, formal gesehen, schon definitionsgemäß der Fall, in konkreten politischen Auseinandersetzungen aber zu hinterfragen; möglicherweise ist sie z.B. eine politisch kalkulierte Behauptung der »Herrschenden«, wenn etwa die Forderung nach Erhöhung der Zahl von KitaBetreuer/inne/n gegen Forderungen in anderen sozialen Bereichen, z.B. bezüglich der Betreuungsdichte in Altenheimen ausgespielt wird. Inwieweit die Durchsetzung von Partialinteressen den politischen Status quo festigt oder nicht, ist keine Frage, die aufgrund unbestimmter Partialinteressen in letztlich abstrakten Herrschaftsverhältnissen beantwortet werden kann, von Holzkamp in seinen Beispielen aber vereindeutigt wird. Dasselbe gilt für die allgemeine Behauptung, dass all >meine< Erfahrungen vom Arrangement mit den Herrschenden durch- oder zersetzt wären. Dass auch die »aktive Unterdrückung anderer« keineswegs auf die Durchsetzung von Partialinteressen und die Teilhabe an der Macht der Herrschenden begrenzt ist, habe ich weiter oben schon dargelegt; ebenso lässt sich die Behauptung, dass die Instrumentalisierung anderer isolierend wirke, kaum aufrecht erhalten, wenn man daran denkt, dass auch Partialinteressen >kol-
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lektiv<, in Fraktionen durchgesetzt werden können, bzw. dass- umgekehrtIsolationserfahrungen sehr wohl auch eine Begleiterscheinung politischemanzipatorischer Kämpfe sein können. In vielen dieser Äußerungen wird m.E. die subjektive Funktionalität restriktiver Handlungsfähigkeit kaum noch verständlich, wenn sie derart massive und gravierende Folgen für das bestreffende Individuum hat, die auch kaum alle >>Unbewusst« sein können oder müssen. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, als würde hier sozusagen mit den üblen Folgen des Arrangements gedroht, Opportunismus sozusagen präventiv bestraft. Meine Einwände sollen allerdings nicht die Grundfragestellung und -problematik restriktiver Handlungsfähigkeit in Frage stellen, sondern allein die Ungereimtheiten aufzeigen, die sich ergeben, wenn diese Grundfragestellung abstrakt, also in Absehung von konkreten Analysen, veranschaulichend (eben nur scheinbar) konkretisiert wird. Deutlich wird das übrigens auch an Holzkamps hypothetischen überlegungen »Zur Analyse möglicher Entstehungsbedingungen des >Unbewussten< in den sozialistischen Gesellschaften (mit ihrer systembedingten Konvergenz zwischen allgemeinen und individuellen Interessen)« (1983, 382), die faktisch an (politischen) Auseinandersetzungen in der DDR anknüpfen, diese aber nicht konkret benennen, sondern die begrifflich gesetzte »Konvergenz zwischen allgemeinen und individuellen Interessen« als gegeben behaupten, eine Konvergenz, gegenüber der dann »verschiedene Formen des >individuellen Opportunismus«< ventiliert werden können, etwa der Art, dass >>die Individuen einerseits angesichts der besonders in der gegenwärtigen Aufbauphase der sozialistischen Gesellschaften unter permanenter Gefährdung durch den Imperialismus erforderten Anstrengungen und Risiken sich in ihr >Privatleben< einfrieden und hier die Möglichkeiten der sozialistischen Lebensbedingungen >geschickt< für sich ausnutzen, aber andererseits die Funktionalität dieser Handlungsrestriktionen nur dadurch subjektiv etablieren können, dass die in der hier vollzogenen Selbstausschließung aus dem gesamtgesellschaftlichen Verfügungsprozess liegende Kleinlichkeit des eigenen Daseins mit dem der selbstgewählten >privaten< Ohnmacht entspringenden Ressentiment gegen die führenden gesellschaftlichen Kräfte >verdrängt< wird, und so mannigfache Erscheinungsformen der Distanzierung, Selbstrechtfertigung, des pseudosubversiv-instrumentalisierenden Einverständnisses unter >Gleichgesinnten< etc. hervorgebracht werden. Dabei mögen die bürgerlichen Ideologeme, in welchen die Ohnmacht der Isolation von gesamtgesellschaftlicher Verantwortung als individuelle Freiheit mystifiziert ist, der Etablierung eines >kritischen< Verhältnisses zur sozialistischen Lebensrealität und so der Absicherung der geschilderten >Verdrängungsleistungen< dienstbar gemacht werden.« (ebd.) Der Umstand, dass im Anschluss wiederum darauf verwiesen wird, dass dies einzeltheoretisch und aktual-empirisch zu konkretisieren sei, ändert
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wenig an der Problematik der abstrakten Setzung der »Aufbauphase der sozialistischen Gesellschaften«, von der die kritischen Konkretisierungen >abgeleitet< werden.
Das Begriffspaar verallgemeinerte vs. restriktive Handlungsfähigkeit bedeutet nach allem Gesagten weder die normative Vorgabe eines Lebensstils o.Ä., noch kann es konkrete Analysen ersetzen, sondern es ermöglicht das Beharren auf der Frage, wie, wann, warum, unter welchen Verhältnissen je ich in Versuchen eigener Lebensbewältigung gleichzeitig eigene und anderer Lebensinteressen verletze. Dazu bieten die Analysen Holzkamps m.E. eine hervorragende begriffliche Grundlage. Ich habe mich mit dem Verhältnis von kategorialer Fragestellung und deren Veranschaulichung deswegen so ausführlich auseinandergesetzt, weil nach meinen (Lehr- )Erfahrungen die Gefahr besteht, dass die Veranschaulichungen schon für konkrete empirische Resultate genommen werden und damit die Frage, was die Widersprüche restriktiver Handlungsfähigkeit sind, vorschnell beantwortet wird. Was restriktive Handlungsfähigkeit ist, lässt sich nur auf der einzeltheoretischen und aktual-empirischen Ebene klären, die Fragestellung selber ist nur kategorial zu gewinnen. Dabei ist zu überlegen, inwieweit die bürgerliche Gesellschaft eine Struktur besitzt, in der sich das »Arrangement mit den Herrschenden« für eine hinreichend große Menge von Menschen lohnt, bei denen von »Selbstfeindschaft« in einem biographisch sinnvollen Sinne kaum die Rede sein kann. Ob ein Arrangement selbstfeindlich ist, ist eine lagespezifische und auch individuell politisch-ideologische Frage, die jeweils - subjektwissenschaftlich - zu analysieren ist, wobei man unter bedeutungsanalytischen Gesichtspunkten aktuelle gesellschaftliche Belohnungs- und Ideologiesysteme kennen muss. Wenn die bürgerliche Gesellschaft keine wäre, in der das Arrangement auf Kosten anderer sich nicht für eine Reihe Leute lohnte, müsste man sie eigentlich nicht umwälzen. Wenn man das meint, muss man auch dazu kommen, genauer zu bestimmen, wer oder was eigentlich mit den Herrschenden gemeint ist. Die Feststellung, der Verzicht auf den Kampf um eigene Lebensansprüche habe immer katastrophale Folgen (Osterkamp 1990, 182), trifft, sofern sie empirisch gehaltvoll sein soll, nur unter der Voraussetzung zu, dass man überhaupt Lebensansprüche hat, die man im Kampf gegen »Herrschende« durchsetzen muss. Die Frage nach der Selbstfeindschaft oder -schädigung ist meiner Auffassung nach eine - zwar kategorial veranlasste, aber- empirisch offene Frage, zu deren Beantwortung jeweils konkrete Bedeutungsanalysen erforderlich sind (vgl. Markard 1998b, 169f; Osterkamp 2008, 35).
»Restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfiihigkeit«
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11.4 Differenzierung des zweiten Niveaus individualwissenschaftlicher Kategorienbildung: Kognition und Emotion/Motivation Es fragt sich nun, inwieweit sich das Begriffspaar »restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« in Bezug auf die Funktionsaspekte Kognition bzw. Emotion und Motivation hin - vor einzeltheoretischen und aktualempirischen Untersuchungen- formspezifisch, also auf kapitalistische Verhältnisse hin, differenzieren lässt. Holzkamps Antwort auf diese Frage ist Gegenstand der beiden folgenden UnterkapiteL 11.4.1 Kognition als Aspekt restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit: Deuten vs. Begreifen
Ausgangspunkt ist der Umstand, dass erstens die Individuen sich zu (lageund positionsbezogenen) gesellschaftlichen Bedeutungen und Denkformen und deren Verweisungen auf das gesellschaftliche Ganze verhalten können (und müssen), dass also die Individuen die Bedeutungen und Denkformen nicht sozusagen 1:1 kognitiv repräsentieren, sondern sie interpretieren - und dass zweitens auch gesellschaftliche Denkformen selber die objektiv-ökonomischen Verhältnisse verkürzt abbilden; dabei ist natürlich mitgedacht, dass die kritische Perspektive, eine Denkform oder -weise sei verkürzt, selber nur eine Perspektive sein kann, hier eben diejenige, die hier (Kap. 11.1) als der Zusammenhang von Kritischer Psychologie und marxistischer Gesellschaftstheorie charakterisiert worden ist. Unter dieser Voraussetzung ist etwa die Redensart, dass jeder seines Glückes Schmied sei, insofern verkürzend und mystifizierend, als sie von einer Chancengleichheit ausgeht, die strukturell nicht gegeben ist; damit findet gleichzeitig eine Personalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse statt, mit der im Verbund gesellschaftliche Ungleichheit naturalisiert wird. Dass diese kognitiven NabeJegungen nicht als völlig abwegig erscheinen, sondern eine gewisse Massenwirksamkeit entfalten können, hängt damit zusammen, dass, >was aus einer/einem wird<, ja tatsächlich auch von eigenem Handeln abhängt. Wie sich die Individuen zu den Bedeutungen und Denkformen und deren Verweisungen auf das gesellschaftliche Ganze verhalten, hängt davon ab, wie sie sie wahrnehmen und interpretieren, also davon, was daran für sie subjektiv funktional ist. Diese Frage muss wiederum vor dem Hintergrund der kategorialen Alternative restriktiver/verallgemeinerter Handlungsfähigkeit letztlich aktual-empirisch untersucht werden. Damit taucht auch wieder das Problem auf, was dazu noch vorab »kategorial<< oder eben »leithypothetisch<< gesagt werden kann. Dabei ist die erkenntnisleitende Frage, inwieweit und warum im individuellen Denken die »doppelte Möglichkeit« repräsentiert oder ausgeblendet ist. Entsprechend geht Holzkamp davon aus, dass »das >Denken< restriktiver Handlungsfähigkeit generell als ein um
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die Erkenntnis der >doppelten Möglichkeit< verkürztes Denken zu charakterisieren« ist, mit einer »Reduzierung der >menschlichen Möglichkeitsdimension«, bei der »kognitive Erfassung von >Faktizitäten< gegenüber der Erfassung von >Potentialitäten< das bestimmende Moment« ist. Zentral ist dabei, was unter »Möglichkeiten« verstanden wird, denn auch, wer sich durchschlängelt, wägt ja Möglichkeiten ab. »Doppelte Möglichkeit« bezieht sich auf die kategorialen Pole restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit; diese konkretisieren sich in unterschiedlichen Handlungsmöglichkeiten oder -optionen. Holzkamp bestimmt Möglichkeiten in seinem Argumentationskontext so: »Möglichkeiten, wo sie erkannt werden, erscheinen in einem solchen >Faktizitäts<-Denken immer nur als Möglichkeiten unter >faktischen<, unverfügbaren Bedingungen, also der blinden Faktizität, durch welche sie eliminiert werden können, untergeordnet.<< (Holzkamp 1983, 386) Wesentlich ist m.E., dass »Möglichkeiten« eben nicht per se ausgeblendet werden, >unsichtbar< sind, sondern bloß abstrakt, nicht wirklich für >mich< (zusammen mit anderen) bestehen und insofern »eliminiert« werden. »Faktizitäts«-Denken kann m.E. auch darin bestehen, die Bescheidenheit der eigenen Lebenslage zu entwichtigen, indem klassenübergreifend(e) >menschliche Problemkonstellationen< und Schicksalsschläge so akzentuiert werden, dass soziale Unterschiede und Veränderungsnotwendigkeiten unbedeutend und sinnlos werden. Es wäre unter dieser Voraussetzung auch die (subjektive) Funktion(alität) der yellow press zu analysieren, die - etwa unter Bezug auf Königshäuser - ein ganz anderes Leben als das ihrer Leser/innen schildert, in dem diese- tagträumerisch - schwelgen können, ohne dass es für sie erreichbar wird. Gleichzeitig wird an diesen >>anderen« Leben aber auch herausgestellt, dass es mit ähnlichen Problemen (Eifersucht, Eheprobleme) und Schicksalsschlägen (Tod naher Verwandter) verbunden ist wie das der Leser/innen, so dass auch die abstrakte Möglichkeit nur bedingt erstrebenswert ist: >>Die Caroline [von Monaco, M.M.] hat es ja auch nicht leicht [mit ihrem Schläger-Prinzen von Hannover, M.M.].« Gehört Caroline damit sozusagen zur Nachbarschaft, gehören alle zu einer Art klassenloser Gemeinschaft, in der auch >>Geld nicht glücklich macht<<. (Kein Geld allerdings auch nicht!)
Unter der Voraussetzung, dass die Ausblendung der doppelten Möglichkeit selbstfeindlich ist, fragt Holzkamp weiter nach einer Denkweise, die >>die Bewusstlosigkeit über die mit dem Verzicht auf kollektive Verfügungserweiterung verbundene Selbstfeindschaft bereits durch ihre >formalen< Charakteristika reproduziert« und den in diesem Kapitel schon skizzierten >>individuellen Abwehrprozessen vorgeordnet ist und für diese die allgemeine kognitive Struktur darstellt« (1983, 386, Herv. z.T. entf., M.M.). Um dies zu verdeutlichen: Wie in Kap. 9.3 dargestellt wurde, sind den Individuen die gesamtgesellschaftlichen Bezüge ihrer Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen nicht unmittelbar gegeben, sondern in der Art und Weise, wie sie sich für die Individuen in ihrer konkreten Lebenssitua-
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tion >»manifestieren«< (a.a.O., 358), wobei die Einflüsse der objektiv-ökonomischen Strukturen auf lebensweltliche Situationen eben nicht evident sind, sondern (gedanklich, theoretisch) rekonstruiert werden müssen. Dies bedeutet zum Beispiel: Ob in der schulischen Notengebung der »Verwertungsstandpunkt« des Kapitals durchschlägt (Holzkamp 1973, 259) bzw. »Ungleichheiten produziert« werden (Holzkamp 1990, 381), inwieweit in >Eifersucht< Eigentumsverhältnisse unreflektiert sich niederschlagen etc., ergibt sich nicht spontan, sondern nur rekonstruktiv, und unter Bezug auf entsprechende theoretische Überlegungen. Und nur in diesem Falle haben die Individuen eine Chance, Probleme in ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit zu begreifen und nicht darauf zurückgeworfen zu sein, sie alleine in der jeweiligen Situation lösen zu wollen. Dass »in meiner Lebenslage/-praxis gegebene Widersprüche/Abhängigkeiten nur so gedanklich reproduziert werden können, als ob sie auch in der unmittelbaren Lebenslage/-praxis [ ... ] ihren Ursprung haben und demgemäß auch lediglich hier überwunden werden können« (Holzkamp 1983, 387), wäre damit bestimmend für eine Denkweise der Ausklammerung der doppelten Möglichkeit. Dies schließt, wohlgemerkt, nicht aus, dass es hier und jetzt lösbare Probleme gibt: Die von Holzkamp dargestellte Problematik ergibt sich, wenn alle Lebens-Schwierigkeiten umstandslos so gedacht werden, als ob sie aus der unmittelbaren Lebenslage stammten und dort auch überwunden werden könnten. In ihren Handlungswidersprüchen können sich die Individuen aber letztlich nur verstehen, wenn sie ihre konkreten Kontexte und Situationen zu den gesellschaftlichen Strukturen ins Verhältnis setzen, die sich in verschiedenen Kontexten und Situationen konkretisieren. M.a.W.: Wie und in welchem Ausmaße individuelle Lebensprobleme mit gesellschaftlichen Strukturen vermittelt sind, muss je konkret geklärt werden, ebenso wie die Frage, inwieweit diese Probleme in der unmittelbaren Lebenslage »überwunden« werden können. Das Zentrale ist, dass diese kategoriale Fragestellung nicht verloren geht. In seiner Analyse einer Familie hat Ole Dreier (1980) festgestellt, dass ein Vater im Umgang mit seinem Sohn (auch beim Spielen) die Leistungskriterien verwendete, denen er selber in seinem Betrieb unterlag. Die daraus resultierenden Probleme sind also nicht aus der unmittelbaren Lebenslage entstanden, sie sind dort auch wohl kaum endgültig zu überwinden; aber in dem Maße, indem der Vater sich der Problematik bewusst wird, kann er sich dazu verhalten und entsprechend anders verhalten- was aber ein beständiges Angehen gegen nahegelegte Tendenzen beinhaltet. Sofern theoretisch gesellschaftliche Strukturen - in postmoderner Manier - in Kontexte bzw. Situationen aufgelöst werden, ist die »Verkehrung von Konkretheit und Abstraktheit« (Kap. 3.2.2.2) nur auf neuer Ebene wieder vollzogen: Sicher ist etwa die Schule spezieller Kontext, aber er ist ein Kontext in der Struktur der bürgerlichen Gesellschaft mit der widersprüchlichen Funktion von Förderung auf der einen und Selektion, Konkurrenz auf der anderen Seite, auf der z.B., wie eben
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Einführung in die Kritische Psychologie
erwähnt, die Totalität der Notenbewertung den Verwertungsstandpunkt des Kapitals in der Schule repräsentiert. Und wie verschieden die Sichtweisen von Schüler/ inne/n, Eltern, Lehrertinnein und Psycholog/inn/en auch sein mögen: sie müssen sich in diesem Widerspruch bewegen, wenn sie sich bewusst in und zu dieser Gesellschaft bewegen wollen, und sie müssen sich zu diesen Widersprüchen verhalten, wenn sie grundlegende Änderungen erreichen wollen. Das Konzept des lokalen oder institutionellen Kontextes bzw. der >Situation< ist nur tauglich als Konzept des Kontextes oder der Situation-in-der-Struktur-der-bürgerlichenGesellschaft. Sonst werden Situationen/Kontexte pseudo-konkret und dergestalt abstrakt: ein seiner spezifischen Historizität entkleidetes Ambiente (vgl. Markard 1998b, 165f). Wenn, wie in interpretativen bzw. phänomenologisch begründeten Ansätzen, also etwa im sozialen Konstruktivismus, im Symbolischen Interaktionismus oder in der Ethnomethodologie Struktur und Kontext zusammenfallen, imponieren »solche Konzeptionen vom marxistischen Standpunkt aus ohne weiteres als >bürgerliche< Konzeptionen<< (Holzkamp 1984, 52).
Diese Form des Denkens, für die Situationen, Personen und deren Interaktionen das Ganze sind, und die gesellschaftliche Vermittlungen ausblendet, nennt Holzkamp »Deuten« - als eben kognitiven Aspekt restriktiver Handlungsfähigkeit (1983, 388). Es ist ein Denken nach dem Muster des Unmittelbaren (und damit auch der Gleichsetzung von Operationen und Handlungen, die in der von Holzkamp kritisierten Handlungstheorie wissenschaftliche Dignität erlangt (vgl. hier Kap. 9.7.2). Wie die Bezüge auf die wissenschaftlichen Konzeptionen von Konstruktivismus, Symbolischem Interaktionismus, Ethnomethodologie und Handlungstheorie zeigen, ist Deuten in diesem Sinne nicht auf >Alltagsdenken< begrenzt; es bedeutet aber auch nicht zwingend kognitive Einfachheit oder ein bestimmtes (niedriges) >Niveau< individuellen Denkens (a.a.O., 395), sondern im Kern die Form, das Unmittelbare für das Ganze (und die kapitalistische Gesellschaft als das Allgemeine) zu nehmen, »das kapitalistische System<< als >>komplexe, großartige, freiheitsverbürgende Errungenschaft der Menschheitsgeschichte<< mit einer >>ursprünglichen Ehrbarkeit<< zu preisen, die durch die Bankenkrise von 2008 nur verdeckt werde, und zu der es vielleicht aber wieder »zurückfinden<< könne (Seibt 2008, 13). Dass Seibts Artikel die Überschrift »Wir Schuldenmacher« hat, liegt im Übrigen auf der Ebene der oben erwähnten yellow press. Irgendwie machen wir alle Schulden, ein Moment, hinter dem die Zahl der Stellen vor dem Komma ideologisch zurücktritt. Seibts Einlassung zur ursprünglichen (!) Ehrbarkeit des Kapitalismus ist auch ein schönes Beispiel dafür, wie Marx (1867, 742) die bürgerliche Verklärung der ursprünglichen Akkumulation des Kapital charakterisierte: >>In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle. In der sanften politischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle. [ ... ] In der Tat sind die Methoden der ursprünglichen Akkumulation alles andre, nur nicht idyllisch.<< Auch nicht besonders >>ehrbar<<.
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Wenn auch deutendes Denken nach dem Muster des Unmittelbaren nicht als Diagnose eines individuellen kognitiven Niveaus gedacht ist, wird es im Alltag, so Holzkamp, doch durch unspezifische Wahrnehmungsmechanismen wie »Übergeneralisierungen, Überverdeutlichungen, Kontrastierungen, Übervereinfachungen, Komplettierungen« begünstigt. Grundsätzlich ist Wahrnehmung an die sinnliche Präsenz des Wahrgenommenen gebunden, während Denken diesen sinnlichen Unmittelbarkeitsbezug nicht erfordert. Holzkamp geht aber davon aus, dass das deutende Denken »unfahig [ist], den sinnlichen Evidenzen und in ihnen liegenden Strukturierungsprinzipien quasi >Widerstand zu leisten<; insoweit kann das Deuten als >anschauliches Denken< charakterisiert werden« (Holzkamp 1983, 388; vgl. auch Holzkamp 1973, 313ffund 336ff). Die genannten \.Yahrnehmungsmechanismen (»Gestaltgesetze«) sind von der Gestaltpsychologie in Wahrnehmungsexperimenten vielfältig veranschaulicht worden. Dabei geht die Gestaltpsychologie zur Erklärung dieser Phänomene davon aus, dass uns die Realität in diffusen und ungegliederten Wahrnehmungsreizen gegeben ist, die im je individuellen Wahrnehmungsprozess entsprechend den Wahrnehmungsmechanismen gegliedert werden. Damit ist zwar zu erklären, wie es überindividuell zu gleichen Wahrnehmungsergebnissen kommt, offen bleibt aber die Frage, wie eine objektive Wirklichkeitserfassung möglich ist. Im Rahmen der historisch-empirischen Rekonstruktion des Psychischen wurden auch die Gestaltgesetze >historisiert<, wobei Holzkamp davon ausgeht, dass es bei der Wirklichkeitswahrnehmung zwei Arten von Fehlern gibt: Ein Ding zu sehen, das nicht da ist, und ein Ding, das in Wirklichkeit da ist, zu übersehen (a.a.O., 319f). Die evolutionär entstandene Funktionalität von Wahrnehmungsmechanismen besteht nun für ihn darin, die Wahrscheinlichkeit für den ersten Fehler zu erhöhen, weil die Fehler zweiter Art wesentlich gefährlicher sind - auch noch heute für uns: Ein Fußgänger, der eine diffuse Lichtquelle irrtümlich für ein Fahrrad hält, dem er ausweicht, ist besser dran als einer, der ein Fahrrad übersieht oder dessen Lampe für ein Glühwürmchen hält. Diese Funktionalität wird aber problematisch, wenn es nicht mehr nur um die Wahrnehmung einfacher Sachverhalte und Bewegungen geht, sondern darum, vordergründige Evidenzen zu hinterfragen. Ein einfaches Beispiel wäre hier die »Komplettierung« im Sinne »impliziter Persönlichkeitstheorien«, etwa derart, dass, wer lügt, auch stiehlt. (Unter methodischen Gesichtspunkten werden derartige Komplettierungen als Fehlerquelle bei Beobachtungen diskutiert.) 1973 hat Holzkamp an psychologischen Konsistenztheorien herausgearbeitet, dass sie »Theorien über die Bedingungen der Realitätsausklammerung im menschlichen Denken« bzw. »Hinweise auf Verfälschungen der Wirklichkeitserkenntnis durch ein Denken [sind], das sich nach Art des anschaulichen Denkens den Organisationseffekten [der Wahrnehmung,
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M.M.] überlässt« (34lf., Herv. entf., M.M.); es handele sich um ein Denken, das Moment des »fraglosen Sich-zurecht-Findens in einer unbegriffenen Wirklichkeit« sei (a.a.O., 344, Herv. entf., M.M.). Das »Unbegriffene« sind jene Strukturmerkmale der kapitalistischen Gesellschaft, die sich, wie oben dargestellt, einer unmittelbaren Wahrnehmung entziehen, so dass die »Strukturen, Zusammenhänge, Bedeutungskonstellationen, wie ich sie jeweils unmittelbar erfahre, für mich im Prinzip >das Ganze<« sind (Holzkamp 1983, 389). Die Mechanismen des Zurechtkommens und seines kognitiven Moments, des >>Deutens«, sind privilegierter Gegenstand der »sozialen Kognition« und ihrer Konzepte: Kategorisierungen, Stereotype, Prototypen, Skripte, Priming etc., was im Einzelnen genauer herauszuarbeiten wäre (unter Berücksichtigung auch der methodischen Anordnungen und Restriktionen, unter denen Vpn Daten produzieren, die entsprechenden den erwähnten Konzepten interpretierbar sind). Eine kritisch-psychologische Untersuchung zu Attributionstheorien hat Fahl-Spiewack (1995) vorgelegt, in der er die in den einschlägigen experimentellen Anordnungen gezeigten Verhaltensweisen der Vpn begründungstheoretisch reinterpretierte: es sind vordergründige und plausible Zuschreibungen unter Bedingungen, unter denen ein >>Weiterfragen« nicht möglich ist. Bedeutung und Problematik der allgemeinen Wahrnehmungsmechanismen für das Deuten als anschauliches Denken in der kapitalistischen Gesellschaft ergeben sich daraus, dass die eigene Lage nur begriffen werden kann, wenn sie als mit den gesellschaftlichen Strukturen vermittelt begriffen wird, dies aber durch das anschauliche Denken erschwert wird, das jene »Pseudokonkretheit« bedient, die wir in diesem Kapitel schon erörtert haben. Kernelemente deutenden Denkens sind die schon in anderem Zusammenhang diskutierte Personalisierung, das Denken in vorfindliehen Normen und kritiklose Übernahme des >>man«. Dass Deuten nicht mit den gezeigten Wahrnehmungsmechanismen bzw. »relativ unspezifischen Formen der Realitätserfassung gleichgesetzt werden darf«, ergibt sich für Holzkamp daraus, dass sich das >»Deuten< als >Denken< restriktiver Handlungsfähigkeit stets aktiv gegen die >Denkmöglichkeit< verallgemeinerter Handlungsfähigkeit durchsetzen [muss], die dem Individuum in den gesellschaftlichen Denkformen ja einerseits immer prinzipiell gegeben ist, aber andererseits durch die geschilderte Realitätsausk/ammerung immer wieder als >meine< Möglichkeit negiert werden muss. Das >Andere<, was im Deuten ausgeklammert ist, charakterisiert damit als dessen ständige Infragestellung das Deuten selbst, macht seine Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit aus. Die >Strukturierung< des Deutens [... ] ist also nicht ein in
sich selbstgenügsamer Tatbestand, sondern eine >dynamisch< begründete Regression auf der Grundlage der subjektiven Funktionalität des widerstands-
losen Sich-Überlassens an die genanntenunspezifischen sinnlichen Evidenzen und Gliederungsformen [ ... ] Die unspezifische kognitive Ebene gibt hier sozu-
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sagen die Formen her, durch welche das >deutende< Denken trotz der damit vollzogenen Realitätsausklammerung eine geschlossene Struktur und >innere< Stringenz gewinnen kann.« (Holzkamp 1983, 39lf)
Ausgeklammert werden »Verweise auf die >zweite Möglichkeit<, somit die Realität des Klassenkampfes als gemeinsamer Kampf auf verschiedensten Ebenen der bürgerlicher Gesellschaft« (a.a.O., 393). Hieran werden mehrere Aspekte deutlich: l. Grundlage für die Charakterisierung des »Deutens« an einer spezifischen Art der kognitiven Welt- und Selbstbegegnung ist die marxistische Analyse der gesellschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus, die im deutenden Denken verfehlt werden. Insofern ist deutendes Denken im Kern nicht-marxistisches Denken; insofern sind auch alle damit konkurrierenden Ansätze, gesellschaftliche Zusammenhänge zu denken, »deutend«. 2. Dass die skizzierten, sich spontan durchsetzenden und ideologisch bzw. durch die traditionelle Psychologie gepolsterten anschaulichen Momente des Denkens per se eine dynamisch begründete Regression seien, ist eher behauptet als bewiesen. Insgesamt handelt es sich bei der Charakterisierung des »Deutens« eher um Ex-negativa-Bestimmungen vor dem Hintergrund der von Holzkamp vertretenen marxistischen Gesellschaftsanalyse. Darüber hinaus schließen die Bestimmungen des Deutens sehr unterschiedliche Ebenen ein, die von unspezifischer Wahrnehmungsorganisation bis hin zu ideologischen Angeboten reichen, wobei »Personalisierung« Ausdruck von beiden Ebenen ist. 3. Die generelle Einbindung deutenden Denkens in den Widerspruch restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit erzwingt logisch die restriktive Funktionalität des Deutens und damit verbundene psychische Kosten. Daraus folgt m.E. erneut, dass die kognitiven Aspekte restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit nicht kategorial gedacht werden können, sondern dass sie auf unterschiedlichen Spezifitätsniveaus (Wahrnehmungsmechanismen, Ideologie) mehr oder weniger allgemeine Hypothesen darstellen: kategorial veranlasst, aber empirisch offen (s.o.). Der Ex-negativo-Charakter des Begriffs »Deuten« ergibt sich aus seinem Gegenbegriff, dem »Begreifen« als einer nicht abschließend definierbaren »Richtungsbestimmung«: »Die Spezifik des >Begreifens liegt [... ] nicht darin, dass es das >Deuten< ausschließt, sondern dass es das >Deuten< gleichzeitig in sich aufhebt und übersteigt: Während in bloß >deutendem< Denken die Bedeutungen/Denkfermen der Lebenspraxis in Universalisierung der >Unmittelbarkeit< für das Ganze genommen werden, wird in begreifender Wirklichkeitserfassung die Lebenspraxis, indem sie einerseits >deutend< vollzogen wird, andererseits auf die darin liegenden Verweisungen auf die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit individueller Existenz hin durchdrungen und überschritten. Ich schwimme also in begreifendem Denken nicht, wie beim Deuten, in der >Pseudokonkretheit< der bürgerlichen
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Alltagsrealität wie ein >Fisch im Wasser<, sondern erfasse sie im unmittelbaren Lebensvollzug in ihrer Bestimmtheit durch die antagonistischen bürgerlichen Klassenverhältnisse.« (Holzkamp 1983, 395) Allerdings nicht als ein für allemal erreichter individueller Besitzstand, sondern im Sinne jener sich immer wieder neu stellenden Alternative (396), deren Charakteristika im Zuge der Darstellung des Verhältnisses von Instrumental- und Subjektbeziehungen schon dargelegt wurde. Die von Holzkamp als »Bruch« bezeichnete Umstrukturierung des Denkens ist keine bloß logische Angelegenheit, sondern der kognitive Aspekt der Überwindung der psychischen Kosten von Arrangement und damit verbundener Selbstfeindschaft Der im engeren Sinne kognitive Charakter des »Begreifens« besteht darin, dass das Individuum seinen eigenen Standpunkt im historischen Prozess reflektieren, das »Allgemeine im Besonderen der Befindlichkeit meiner individuellen Lebenslage/-praxis [. .. ] erkennen« (398) und »objektive Widersprüche im Denken widerspruchsfrei abbilden« (40 l) kann: Aspekte einer eingreifenden und verändernden Praxis und der »Erfahrung der Verbundenheit mit allen Menschen, die- indem sie in Richtung auf die Schaffung von Bedingungen handeln, unter denen die wechselseitige Instrumentalisierung durch Arrangement mit den Herrschenden nicht mehr den realen Schein subjektiver Funktionalität besitzt- mit ihren ureigensten Interessen auch die meilten wahren« (398). Holzkamp sieht darin auch eine »gängige Aporie >deutenden< Denkens« durchdrungen, nämlich die, dass die Menschen sich ändern müssten, um die Verhältnisse zu ändern, die aber verändert werden müssten, damit die Menschen sich ändern können: >>Es kann nämlich nunmehr von mir immer klarer begriffen werden, dass die Überwindung meiner eigenen aus dem Sich-Einrichten in der Abhängigkeit entstandenen Kleinlichkeiten, Gebrochenheiten und Leiden des Verzichts und der Selbstfeindschaft identisch ist mit meiner Beteiligung an der Schaffung von Lebensbedingungen, unter denen ein solches kleinliches, gebrochenes, leidendes Dasein für die Betroffenen nicht mehr subjektiv funktional ist.<< (398f) Die genannte Aporie deutendes Denkens ist damit theoretisch insofern >>durchdrungen«, als hier der Zusammenhang zwischen individueller und gesellschaftlicher Emanzipation psychologisch begründet wird. Praktisch ist damit aber die Aporie nicht aufgelöst: Eingreifendes Handeln impliziert durchaus auch die Vorstellung, Bedingungen zu ändern und es damit anderen zu erleichtern, ihre Lage zu begreifen. Es sind praktische Politik und politische Praxis, die die Lösung dieser Aporie bedeuten. Wenn Holzkamp sagt, dass die Überwindung von Selbstfeindschaft >>identisch« (399) sei mit der Beteiligung an der Schaffung von Lebensbedingungen, unter denen ein Arrangement nicht mehr funktional ist, bedeutet dies ja nicht, dass das alle gleichzeitig merken.
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11.4.2 Exkurs: Deuten und Alltagsverstand (Gramsci) und das Problem des Politischen (in der psychologischen Praxis)
Probleme deutenden Denkens und seiner Veränderung möchte ich unter Bezug auf einige Überlegungen Gramscis zum »Alltagsverstand« weiter ausführen. Diesen bestimmt Gramsei als »auf bizarre Weise zusammengesetzt«, Vorurteile, Aberglauben, wissenschaftliche Prinzipien etc. gleichzeitig enthaltend (1995, 1376). Herausforderung ist der Alltagsverstand für »demokratische« Wissenschaftler/innen, die sich in ihrer Arbeit nicht auf das »eigene physische Individuum beschränk[en]«, sondern sich in einem »tätige[n] gesellschaftliche[n] Verhältnis der Veränderung der kulturellen Umwelt« sehen. Grundlage dafür ist die »Philosophie«; diese ist »Kritik sowie die Überwindung der Religion und des Alltagsverstandes und fällt in diesem Sinne mit dem >gesunden Menschenverstand< zusammen, der sich dem Alltagsverstand entgegensetzt« (a.a.O., 1336f). Der Terminus »gesunder Menschenverstand« hat ersichtlich nicht die populistische oder denunziatorische Bedeutung, wie wir sie kennen (für einen Überblick über die historisch vermittelten Probleme [der Übersetzung] von Termini wie common sense, Alltagsverstand, Menschenverstand vgl. Jehle 1994). Der Sinn von Gramscis Forderung, am Alltagsverstand und seinen Widersprüchen anzusetzen (und ihn nicht einfach mit Gegenpositionen zu konfrontieren), lässt sich psychologisch mit der kritisch-psychologischen Vorstellung der subjektiven Funktionalität des Deutens begründen. Seine Intention, sich dem Alltagsverstand entgegenzusetzen, ist ähnlich dem Programm, das Holzkamp zum Ende seines Buches »Sinnliche Erkenntnis« formuliert (1973, 410) hat: »Eine >praktische< Anwendungsmöglichkeit kritisch-psychologischer Forschung in umfassenderen Zusammenhängen als psychologisch geleiteter Berufstätigkeit ist der aufklärerische Kampf gegen die falsche subjektivistische >Psychologie< in den Köpfen der Menschen.« Dieser »Alltagsverstand« - Rezeption und Reproduktion gesellschaftlicher Denk- und Praxisangebote und eingelassen in gesellschaftliche Klassen- oder Intereressenwidersprüche- changiert zwischen >Realismus< und Borniertheit (gegenüber historisch möglicher [wissenschaftlicher] Reflexion) und er strukturiert die alltäglichen Erfahrungen; der Alltagsverstand hat darin seine objektive Funktion wie subjektive Funktionalität: ein einfaches Beispiel dafür ist die Fassung von Leistungs- als Begabungsunterschieden. >Realismus< bedeutet hier, bei weniger guten >Leistungen< keine >übertriebenen< Anforderungen zu stellen; >Bornierung< hieße, die (>Leistungs<-) Unterschiede zwischen Menschen zu naturalisieren und sie weitgehend der Möglichkeit der Beeinflussung durch uns zu entziehen. Nun ist es für Psycholog!inn/en nicht gerade üblich, und es wird ihnen in ihrer traditionellen Aus- und Weiterbildung auch nicht nahegelegt, ihre
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Arbeit in einem »tätigen gesellschaftlichen Verhältnis der Veränderung der kulturellen Umwelt« zu sehen. Im Gegenteil: »In den gängigen psychologischen Vorstellungen geht der wohl von kaum jemandem grundsätzlich geleugnete allgemeine Umstand, dass Menschen in gesellschaftlichen und eben damit (heute) auch institutionellen Verhältnissen oder Bedingungen leben (und auch unter ihnen leiden) und sich zu ihnen verhalten können (und in irgendeiner Weise müssen), immer wieder verloren. Dagegen diesen Zusammenhang in der Psychologie, d.h. in ihren Begriffen, Methoden und in ihrer >Berufs-Praxis<, theoretisch und praktisch, zur Geltung zu bringen, könnte man als das wesentliche Anliegen der Kritischen Psychologie (und damit auch ihrer >Praxisforschung<) bezeichnen.« (Markard & Holzkamp 1989, 7) Traditionelle Psychologie und ihre Praxis laufen darauf hinaus, sich auf das Individuum und dessen Zurechtkommen zu zentrieren, damit es letztlich mit den Verhältnissen zu versöhnen: das ist die von Holzkamp kritisierte subjektivistische Psychologie. So wie es Holzkamp darum geht (s.o.), Widersprüche widerspruchsfrei abzubilden, zielt für Gramsei die Philosophie der Praxis »nicht darauf, die in der Geschichte und in der Gesellschaft bestehenden Widersprüche friedlich zu lösen, sondern ist im Gegenteil die Theorie dieser Widersprüche selbst« (Gramsci 1995, 1325). Begreifen und eingreifende Praxis erfordern politische und theoretische Voraussetzungen- und die persönliche (und ggf.) konfliktgeladene Bereitschaft dazu. In diesem Zusammenhang bin ich zu einer Revision des von Holzkamp (1988) entwickelten Konzepts des »gesellschaftlich-subjektiven Zusammenhangs- und Widerspruchswissens« gekommen, das Holzkamp folgendermaßen entwickelte: »dass dem Praktiker - quasi in der vordersten Front gesellschaftlicher Widersprüche und Repressionsverhältnisse und von diesen mitbetroffen - damit Erfahrungsmöglichkeiten über die Eigenart, die Bedingungen und die Beeinträchtigungen menschlicher Subjektivität unter bürgerlichen Verhältnissen zur Verfügung stehen, von denen die >grundwissenschaftlichen< Psychologen in ihren >Labors< so weit wie nur denkbar entfernt sind. Der Praktiker muss also, indem er angesichts der >Unmöglichkeit< seiner heteronomen Funktionsbestimmung immer wieder das Mögliche versucht, faktisch über ein gesellschaftlich-subjektives Zusammenhangs- und Widerspruchswissen verfügen, das ihn vor den Konkurrenzdisziplinen - Medizin, Sozialarbeit, Pädagogik - auszeichnet, und das nur zu entwickeln und zu verallgemeinern wäre, um aus der defensiven >Rolle< heraus zu einer ausweisbaren und so offensiv vertretbaren Funktionsbestimmung zu kommen.« (Ebd., 32) Das Problem dieser Passage besteht darin, dass sie eine bestimmte, die kritisch-psychologisch Position nämlich, als allgemeine setzt. In dem Maße aber, in dem kritisch-psychologische Praxisforschung auf Praktiker/innen mit
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völlig anderen Orientierungen traf (wie VT, NLP, Psychoanalyse, Systemische Theorien), wurde deutlich, dass es eine Reihe »Praktiker« gibt, die »gesellschaftliche Widersprüche und Repressionsverhältnisse« bzw. die »bürgerliche Gesellschaft« für Hirngespinste halten. Deswegen muss m.E. die Geltung dieses wichtigen Konzepts eingeschränkt werden auf eine (psychologische) Arbeit, die den genannten gesellschaftlichen Zusammenhang theoretisch und politisch begreift, ein Zusammenhang, der sich eben nicht spontan ergibt. Im Gegenteil: Traditionelle Theorien strukturieren Erfahrungen und Denkweisen der Psycholog!inn/en in gegenläufiger Weise, ohne dass dies zu nennenswerten subjektiven Widersprüchen ihrer Arbeit führen müsste. Zu revidieren ist auch die Annahme Holzkamps, dass das gesellschaftlich-subjektive Zusammenhangs- und Widerspruchswissen den psychologischen »Praktiker [... ] vor den Konkurrenzdisziplinen -Medizin, Sozialarbeit, Pädagogen- auszeichnet<<. Wir haben in unseren Praxisforschungszusammenhängen (etwa Fahl & Markard 1993) eine Reihe von Sozialarbeiter/inne/n und Pädagog/inn/en kennen gelernt, denen gegenüber die holzkampsehe Rang-Reihung schlicht nicht zutrifft.
Das Problem der ursprünglichen Konstruktion des gesellschaftlich-subjektiven Zusammenhangs- und Widerspruchswissens liegt darin, dass sie die Theoretizität der Erfahrung unterschätzt, d.h. den Umstand, dass die in gesellschaftlichen Denkformen beschlossenen theoretischen Verkürzungen bis Ausblendungen des Mensch-Welt-Zusammenhangs auch dessen individuelle Ausblendung durch die einzelnen Psycholog/inn/en strukturieren. Die individuelle Reproduktion dieser Denkform wiederum wird dadurch besonders begünstigt, dass, wie diskutiert, die Gesellschaftlichkeit menschlicher Existenz eben kein Gegenstand unmittelbarer Erfahrung ist, sondern nur theoretisch rekonstruiert werden kann und selber theoretisch strittig ist.
11.4.3 Emotion und Motivation als Aspekt restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit: Innerlichkeit und innerer Zwang vs. verallgemeinerte Emotionalität und Motivation 11.4.3.1 Emotion Was folgt aus den bislang dargestellten Aspekten restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit für die Bestimmung von Emotion und Motivation? Genauer: Welche Voraussetzungen für eine empirische Forschung zu Fragen von Emotion und Motivation in der kapitalistischen Gesellschaft lassen sich auf kategorialer Ebene gewinnen? Holzkamp geht zur Beantwortung dieser Fragen von seiner Auffassung aus, dass Emotionalität generell für die »subjektive Wertung der Gesamtsituation des Individuums« steht. Wenn nun, wie dargelegt, im Deuten wesentliche Momente der Gesamtsituation kognitiv ausgeblendet werden, diese Gesamtsituation gleichwohl subjektiv bewertet wird, müssten die ausgeblendeten Momente
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entsprechend emotional repräsentiert sein, »sich in der emotionalen Befindlichkeit des Individuums dennoch auf mannigfache Weise spiegeln« (Holzkamp 1983, 403). Methodisch gesehen, sind Holzkamps Ausführungen zu restriktiver Emotionalität Explikationen des Deutens unter Bezug auf allgemeine Charakteristika von Emotionen (a.a.O., 410): »Der kognitiven Evidenz der subjektiven Funktionalität restriktiver Handlungsfähigkeit entspräche so ein dauerndes emotionales Unbehagen und Ungenügen, durch welches die Begründetheit und Funktionalität des eigenen Handeins in Frage gestellt ist. Die Befindlichkeit restriktiver Handlungsfähigkeit kann mithin charakterisiert werden durch einen essentiellen Widerspruch zwischen kognitiver und emotionaler Weltbegegnung und Realitätsbeziehung.<< (A.a.O., 403) In der Möglichkeit, sich zu diesem Widerspruch verhalten zu können, liegt danach einerseits die erkenntniskritische Funktion der Emotion gegenüber selbstfeindlichen Arrangements, aber auch das potenzielle Gewahrwerden der Risiken, die mit einem Aufbrechen eben dieser Arrangements verbunden sein können, also der Risiken, deren Vermeidung die subjektive Funktion restriktiver Arrangements ist. Daraus wiederum erklärt Holzkamp die spezifische »Verkürzung und Formierung der Emotionalität als Funktionsaspekt restriktiver Handlungsfähigkeit im Deutungsrahmen« (a.a.O., 404). Deren zentrales Moment ist die Trennung, die Verdrängung der »gefährlichen« (Osterkamp 1976, 293) Emotionen von den Lebensbedingungen, deren Bewertung sie ja sind, wobei diese Verdrängung wiederum als eine Leistung deutenden Denkens gefasst wird: »>Dynamik< der >Entschärfung< der Emotionalität durch subjektive Verkennung ihres realen Charakters als Handlungsbereitschaft« (Holzkamp, ebd.). Als Folge sieht Holzkamp die »Verinnerlichung der Emotionalität« und eine »>Entemotionalisierung«< des Handelns, wobei diese Verinnerlichung der Emotionalität als besondere Tiefe der Gefühle mystifiziert werde (»>ch weiß nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin«) und die Basis der gängigen Dichotomisierung von Kopf und Bauch sei. Der Umstand, dass man sich des Arrangements mit den Herrschenden ja nie sicher sein kann, der eigene Status entsprechend immer bedroht ist, findet seine emotionale Entsprechung in »>Angst< als permanenter Hintergrundsqualität restriktiver Emotionalität« (Holzkamp 1983, 406), eine Angst, die aber auf der Grundlage des Gesagten in ihren Realbezügen nicht fassbar ist, in neurotische Symptome resultieren kann (ebd.) und auch verhindert, dass unmittelbare Bedürfnisbefriedigungen erreichbar werden. Diese subjektive Problematik restriktiver Emotionalität fasst Holzkamp folgendermaßen: »Die direkte Bezogenheit auf die eigene Emotionalität, die Vorstellung, man könnte seine emotionalen Möglichkeiten unter Ausklammerung der Wirklichkeitserkenntnis und Realisierung der daraus sich ergebenden Handlungsnotwen-
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digkeiten entwickeln, ist nichts anderes als ideologisch abgesicherter Selbstbetrug, da die so unbewältigbare hintergründige Existenzangst mit wirklicher >menschlicher< Daseinserfüllung unvereinbar ist, indem hier jeder Lebensgenuss eingetrübt, grau eingefärbt, zersetzt wird, und die eigene emotionale Spontaneität, Intensität etc. nichts weiter sein kann als eine Vorspiegelung vor sich und anderen, die in ihrer Unechtheit, Zurückgenommenheit, Kleinlichkeit das Gegenteil wirklicher Spontaneität ist.« (A.a.O., 407)
Wie schon in anderen Zusammenhängen eingewandt, sind Bestimmungen dieser Art als empirische Feststellungen problematisch: Sie eignen sich als kategorial veranlasste Fragen, die jeweils empirisch zu klären wären. Dies gilt allemal für Osterkamps Gegenbild der Emotionen in verallgemeinerter Handlungsfähigkeit, an der sich auszurichten aus der »borniert-defensiven, angstbesetzten Enge der unmittelbaren Existenzsicherung hinaus« führe und mit einer »Orientierung an den Interessen anderer« auch ein »prinzipiell verändertes Verhältnis zu den eigenen Bedürfnissen« einschließe. Diese sind nämlich dann »Ansporn der Bemühungen um die allgemeine Erweiterung der Lebensbedingungen statt Hebel >freiwilliger< Unterwerfung«. Dann »verschleißen sich« die Emotionen »nicht im kurzfristigen Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung, sondern sind in dem Kampf um die Erweiterung der allgemeinen Lebensbedingungen aufgehoben und gewinnen entsprechend der Spannweite der Ziele Kraft und Ausdauer« ( 1980, 102f). Es handelt sich dabei m.E. um eine (tendenziell heroische und normative) Emphase, deren Grundlage darin besteht, dass kategoriale Richtungsbestimmungen wie Realverhalten gefasst und emotional ausgeschmückt (und damit real auftretende Widersprüche »im Kampf« minimiert bis ausgeblendet werden). Dies wiederum wird dadurch begünstigt, dass diese Ausführungen zu Emotion nicht mit reinterpretierenden Analysen vorfindlieber Emotionstheorien vermittelt sind oder sich allenfalls globale Andeutungen in dieser Hinsicht finden (vgl. auch Kaindl 2008, 67). Wo Emotionstheorien dargestellt werden, wird auf ihre Verkürzungen bzw. Unterschiede gegenüber der Kritischen Psychologie abgehoben, ihr relativer Erkenntnisgehalt wird aber kaum zur systematischen Entwicklung kritischpsychologischer Vorstellungen genutzt (Holzkamp-Osterkamp 1978, Osterkamp 1999). Hier liegt m.E. noch ein wichtiges weit(er)es Feld kritischpsychologischer Forschung. Interessant ist, dass dervon Holzkamp-Osterkamp (1978) und Holzkamp (1983) kritisierte Umstand, vorfindliehe (kognitive) Emotionstheorien behandelten Emotionen nur als Störfaktoren eines »geordneten Denkensund Handelns« (Holzkamp, a.a.O., 405) auch auf die kritisch-psychologischen Überlegungen zur Emotionalität selber zutrifft: Auch hier sind ja, wie gezeigt, Emotionen als für restriktiv geordnetes Denken und Handeln »gefährlich« und störend. Der zentrale Unterschied besteht allerdings darin,
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Einführung in die Kritische Psychologie
dass in den kritisierten Konzeption diese Funktion der Emotionen universalisiert wird, während sie in der Kritischen Psychologie in ihrer Geltung auf eine »Ordnung« oder Anordnung beschränkt ist, die den Individuen Unterwerfung abverlangt. Hat also hier das »Störende« der Emotionen eine emanzipatorische Tendenz in Richtung auf eine »Ordnung«, in der Gefühl und Verstand nicht in einen Widerspruch gedrängt werden, ist in den kritisierten Konzeptionen eben diese Ordnung sozusagen anthropologisch gesetzt. Hirschfeld (1999) hat eine gewachsene Bedeutung der Kontrolle störender Emotionen in der betrieblichen Arbeit damit begründet, dass die erhöhte Bedeutung von Subjektivität im Produktionsprozess und damit die >>Bereitschaft<< der Subjekte, »Sich vollständig in den Dienst des Unternehmens zu stellen, [ ... ] nach einer »Sicherung<< der emotionalen Beziehungen und Bindungen<< verlange (76f). »Hier Leistungsbereitschaft, Treue und Identifikation der Arbeitskräfte mit dem Unternehmen zu organisieren, wird zu einer ständigen Aufgabe, zu deren Bewältigung sowohl Betriebssportvereine, Feste, Supervisionen, minimale Kapitalbeteiligungen als auch Sozialarbeiterische Maßnahmen der individuellen wie kollektiven Beratung, Unterstützung und Begleitung gehören werden.<< (78) Was bedeuten nun die bislang dargestellten Charakterisierungen von Emotionalität im Rahmen restriktiver Handlungsfähigkeit für die interpersonellen Beziehungen? Holzkamp greift hierzu seine Ausführungen zu Instrumentalverhältnissen wieder auf, die er, wie gezeigt, als durch die Ausblendung der Möglichkeit kooperativer Verfügung, die Verkürzung von Interessen auf Partialinteressen in Konkurrenzverhältnissen und gegenseitige Instrumentalisierung charakterisiert sieht: »Mit der Eliminierung der Möglichkeit kooperativer Verfügung im Allgemeininteresse und der Identifizierung von Interessen überhaupt mit konkurrierenden Partialinteressen, dabei dem Versuch der Durchsetzung der je eigenen Interessen durch Weitergabe des >herrschenden< Drucks an andere, wie er die Instrumentalverhältnisse als Beziehungsform restriktiver Handlungsfähigkeit kennzeichnet, muss es auch zu entsprechenden interaktiven Reduzierungen und >personalisierenden< Verkürzungen der emotionalen Bindungen kommen. >Gefühle< füreinander geraten so einerseits zum inhaltslosbrüchigen >Bindemittel< der Beziehung, gleichzeitig aber zum Mittel der Instrumentalisienmg des anderen für die eigenen Partialinteressen, indem jeweils der eine die Bedürftigkeit des anderen nach Aufrechterhaltung der Beziehung benutzt, um ihn im Sinne eigener Interessen zu funktionalisieren, d.h. emotional von sich abhängig zu machen.<< (1983, 408) In diesen Verhältnissen/Beziehungen werden Emotionen zur Ware, sie werden >»kompensatorisch< verrechnet<< (a.a.O., 408), wobei wahrgenommene Ungleichgewichte in der emotionalen Zuwendung als Druckmittel verwendet werden: »Damit ist - da eine strenge Quantifizierung der wechselseitigen Vergünstigungen im emotionalen Bereich kaum möglich ist - das
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>Sich-unter-Druck-gesetzt-fühlen< durch den jeweils anderen eine Art von Grundbefindlichkeit der Beziehungen von Partnern bei Jnstrumentalverhältnissen« (ebd.). Dem entsprechend seien charakteristische Gefühle Dankbarkeit, Schuldgefühle und Gekränktheiten, wobei Holzkamp als wesentlich hervorhebt, dass
»Gefühle (soweit für die Beziehung relevant) innerhalb von Instrumentalverhältnissen nicht nur >gehabt<, sondern auch demonstriert, als Belohnung und Strafe eingesetzt werden. In Instrumentalverhältnissen gegründete interpersonale Beziehungen machen deswegen u.U. einen weit >emotionaleren<, gefiihlsbetonteren Eindruck als vergleichbare intersubjektive Beziehungen, da in diesen die Emotionalität ein Aspekt inhaltlich >begründeter< Verbundenheit ist, aber nicht verselbständigt hervorgebracht und >gehandelt< wird.<< (A.a.O., 409) Hier ist mit dem Hinweis auf quantifizierende Vergleiche von Emotionen eine Möglichkeit gegenseitiger emotionaler Verstrickung gezeigt, deren subjektive Bedeutung je empirisch zu klären ist und offen bleiben muss, wo denn der Maßstab dafür ist, wie »gefühlsbetont« Beziehungen sein müssen, sollten, dürfen. Holzkamps impliziter Maßstab seiner offensichtlich in diese Passage eingehenden Lebenserfahrungen (»Eindruck«) können ja nur Ausgang einer empirischen Fragestellung sein, nicht deren Maß. Das Spannungsverhältnis zwischen emotionaler Innerlichkeit (s.o.) und dem Demonstrieren, also Veräußerlichen von Emotionen als Aspekten restriktiver Emotionalität hat Kaindl (2008) in ihrem Aufsatz über »emotionale Mobilmachung« aufgegriffen. In ihrer Rezeption arbeitspsychologischer Konzepte und in ihrer Analyse von »Castings-Shows« hat sie eine neue Bedeutung der Betonung von Emotionalität zur Diskussion gestellt. Wie Hirschfeld (1999) bezieht sie sich dabei auf Gramsei und kommt zu folgender Überlegung: Die Kritik an mangelnder Selbstverwirklichung bei »fordistischer«, emotional abstumpfender Fließband-Arbeit wird in der Psychologie aufgegriffen und gemäß der Entwicklung der Produktionsweise marktgerecht gewendet: Es werde versucht, »die Emotionen in den Bereich der Wertschöpfung zu integrieren« (Kaindl2008, 72). Sie exemplifiziert dies bezüglich der Arbeitswelt u.a. am »Total Quality Management«, der »Corporate Identity«, dem Konzept der »Emotionalen Intelligenz« und »Assessment Centern<< (in denen ja Emotionen zu demonstrieren sind). Kaindl fragt sich dann, ob die (in diesem Kapitel dargestellte) »Gegenüberstellung von >Kopf< und >Bauch< und die daraus resultierende Verinnerlichung der Emotionen und Ent-Emotionalisierung des Handelns« (81) weniger für den Kapitalismus generell als eher für dessen »fordistische« Prägung gelte (womit im Übrigen erneut die Frage nach den Grenzen formspezifischer Kategorien aufgeworfen ist: Empirische Beschreibungen und Veranschaulichungen sind von kategorial veranlassten Fragestellungen zu unterscheiden). Gleichzeitig wären m.E. die eben geschilderten emotionalen Aspekte
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interpersonaler Instrumentalbeziehungen, Emotionen zu veräußerlichen und zu demonstrieren, aus dem eher >privaten< Rahmen zu lösen und auch auf die Arbeitswelt zu beziehen. Die von Kaindl erwähnte »emotionale Intelligenz« (a.a.O., 74) mit der Fähigkeit, »die eigenen und fremden Emotionen zu überwachen und genau zu unterscheiden, um mit den dadurch gewonnenen Informationen das eigene Denken und Handeln zu steuern« (Mayer & Salovey, zit. nach Kaindl, ebd.), kann als weitere Explikation emotionaler Beziehungen in Instrumentalverhältnissen gefasst werden: »Da man sich in Instrumentalverhältnissen einerseits grundsätzlich über die Absichten des anderen im klaren sein muss, um seine Rückschlüsse für die Kalkulation von Vorteil und Risiko ziehen zu können, der andere aber zur Verbesserung seiner >Verhandlungsposition< diese Absichten und Ziele prinzipiell verdecken und nur kalkuliert kundgeben wird, ist das >Innenleben< des jeweils anderen hier (anders als in intersubjektiven Beziehungen) von zentralem Interesse: Ich möchte in den anderen >hineinschauen< können, um seine geheimsten Absichten und Ziele zu erfahren, und muss, da dies nicht möglich ist und der andere mir einen solchen Einblick ja gerade verwehrt, mich möglichst differenziert in den anderen >einzufühlen< versuchen. Die Verselbständigung der >Einfühlung< und des >Verstehens< sind deshalb als Spielarten der geschilderten sachentbundenen >Verinnerlichung< der Emotionalität restriktiver Handlungsfähigkeit für Instrumentalverhältnisse charakteristische >interpersonale Gefühle<.<< (Holzkamp 1983, 409)
Einzuschränken wäre nur, dass emotionale Intelligenz, Einfühlung, Empathie und Verstehen nicht allein bei der Verinnerlichung der Gefühle >>restriktiv<< relevant werden, sondern auch bei deren Veräußerlichung, die ja, da und soweit sie kalkuliert ist, immer auch täuschen kann. Soll das nun heißen, dass emotionale Intelligenz, Einfühlung, Empathie und Verstehen per se bloß restriktiv funktional sind? Wohl kaum, weil der Begründungsdiskurs nicht ohne Emotionen zu denken ist. Vielmehr geht es darum, die Verselbständigung dieser Konzepte gegen (gemeinsame) Lebenszusammenhänge zu kritisieren und aufzuheben. Subjektwissenschaftlich intendierte >>Soziale Selbstverständigung<< im intersubjektiven Beziehungsmodus zielt ja darauf, dass wir uns gegenseitig verständlich machen: >>Ich mache mich dem anderen dadurch verständlich, dass ich ihm die Gründe für mein Handeln, genauer: die Prämissen, unter denen für mich mein jeweiliger Handlungsvorsatz begründet (d.h. in meinem Interesse >vernünftig<) ist, nachvollziehbar mache<< - und umgekehrt (Holzkamp 1993, 25; vgl. dazu auch meine Auseinandersetzung mit Haugs aus meiner Sicht abstrakten Entgegensetzung von Dekonstruktion und Empathie [Markard 2007, 128ff]). Oder wenn Bourdieu et al. (1997, 779ff) von >>Verstehen<< sprechen, zielen auch sie nicht auf eine weltlose oder weltabgewandte Innerlichkeit, in die hinein man sich zu versetzen habe, sondern
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darauf, die Äußerungen von Interviewten so auf deren Lebensumstände und die sie strukturierenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu beziehen, dass die Subjekte weder deterministisch »objektiviert« werden noch von den Verhältnissen unbeeinflusst erscheinen. (Allerdings wird diese Intention gelegentlich unterlaufen, vgl. Zander 2003). Bourdieus von Spinoza entlehntes Motto »Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verabscheuen, sondern verstehen« soll schlaglichtartig verdeutlichen, dass für ihn der Intention nach Verstehen nicht Einfühlung mit verschiedenen emotionalen Bewertungen bedeutet, sondern ein Begreifen des Einzelfalls in seinen gesellschaftlichen Lebensumständen. In ihrem Artikel über Milgrams Gehorsamsexperimente (vgl. hier Kap. 3.2.6) kommen Meeus und Raijmakers (1989) in Auswertung entsprechender Literatur zu dem Ergebnis, dass >>Persönlichkeitsmerkrnale« so gut wie keine Bedeutung für das Verhalten der Versuchspersonen hatten, also- wie von Milgram auch intendiert- die >>Situation« das bestimmende Moment war. Nur (mit einer Skala gemessene) emotionale Intelligenz habe einen >>Effekt« gehabt: >>Sozial intelligente Versuchspersonen teilten weniger Schocks aus«. Allerdings gab es auch >>sozial intelligente<< Versuchspersonen, die bis zum Schluss >gehorsam< waren (a.a.O., 76). Hier könnte man argumentieren, dass ein gewisses Einfühlungsvermögen, eine gewisse >Empathie< oder >Einfühlung<, es erschwerten, anderen Personen erhebliche Schmerzen zuzufügen, wobei die >praktische< Relevanz dieser Empathie sich mit dem Umstand ergibt, dass eine reale Verständigung mit dem >>Opfer« in der Milgram-Anordnung ausgeschlossen wird (also der Aspekt >>sozialer Intelligenz<<, der Kommunikationsfähigkeiten o.Ä. meint, irrelevant ist). Die eben kritisierte Verselbständigung dieses Konzeptes bzw. ähnlicher Konzepte gegenüber einer sozialen Verständigung auf intersubjektivem Beziehungsniveau wäre damit im Milgram-Experiment quasi methodisch durchgesetzt.
Dieser hier methodisch durchgesetzte Ausschluss sozialer Verständigung kann aber auch in anderen - lebenspraktischen - Zusammenhängen den Rekurs auf >>Empathie<< nahelegen: etwa dann, wenn unmittelbar situativ »hilfreiches Verhalten« gegenüber Fremden an den Tag gelegt wird. Sich einzufühlen zu versuchen, ist also nicht bloß im Banne restriktiver Funktionalisierung Anderer zu sehen, sondern jeweils daraufhin zu analysieren, inwieweit Empathie, Einfühlung, soziale Intelligenz die aus welchen Gründen auch immer bestehende Unmöglichkeit kompensieren müssen, eine soziale Verständigung realisieren zu können. 15 Wesentlich am kritisch-psychologischen Emotionskonzept ist die Betonung der Historizität der Emotionen, nicht nur in phylogenetischer, son15 Dass >>Empathie<< ein schwammiges Konzept ist, mag auch damit zusammen hängen, dass sie nur ein Initial ist für eine dann weiter gehende Spekulation über die Prämissen anderer, mit denen eine Verständigung ausgeschlossen ist (oder scheint), also bspw. auch mit sehr jungen Kindern (vgl. dazu auch Kap. 12).
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dem eben auch in gesellschaftlicher/kultureller Hinsicht: Hier müssen sie in ihrer Formbestimmtheit erfasst werden. Inwieweit hier der Bezug auf den Kapitalismus zu allgemein ist, habe ich an Beispielen zu skizzieren versucht. Wie »typische« Emotionen ontogenetisch erworben, immer wieder aktualisiert und verändert werden, wie normative Aspekte Emotionen kulturspezifisch beeinflussen, welche personalen Erfahrungen mit dem Erleben von Emotionen als Wertungen vermittelt sind, welche Verhärtungen hier sich herausbilden, sind kritisch-psychologisch weitgehend offene Fragen (wie auch das Oberblicksreferat von Osterkamp [1999] zeigt). Dass emotionale Innerlichkeit nicht bloß restriktiver Schein, sondern auch das prägende Moment aktueller Emotionstheorien sei, lässt sich sicher nicht (weiter) behaupten (vgl. Ulich 2000). Die von der Kritischen Psychologie betonte enge Verbindung von Kognition und Emotion ist nicht allein ihre Domäne; sie liegt bspw. auch dem Gedanken zu Grunde, die Theorie kognitiver Schemata auf (die onto- und aktualgenetische Entwicklung von) Emotionen zu beziehen (Ulich et al. 1999).
11.4.3.2 Motivation Zur Charakterisierung der motivationalen Aspekte restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit rekurriert Holzkamp auf die drei Motivationsgesichtspunkte, die er für die allgemeine Ebene der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz (und die »doppelte Möglichkeit« angeführt hatte: 1. Zusammenhang zwischen Zielrealisierung und Lebensqualität, 2. Denkformen, die diesen Zusammenhang abbilden und 3. die Möglichkeit des Einzelnen, dies zu erfassen. Dies wird aber für das Individuum als subjektive Problematik erst und nur dann relevant, wenn dieser Zusammenhang potenziell nicht besteht, also »mit gegebenen Handlungsanforderungen zwar den herrschenden Interessen, aber damit nicht auch den allgemeinen/individuellen Interessen gedient ist, so dass sie nicht motiviert, sondern nur unter >Zwang< verfolgbar sind« (a.a.O., 411) Der restriktive Umgang mit diesem Problem erfolgt nun - wieder - so, dass die gesellschaftlichen Vermittlungen ausgeblendet werden und das »Motivations«-Problem als allein der unmittelbaren Lebenspraxis des Individuums geschuldet angesehen wird- mit entsprechenden Attributionen von Fehlschlägen und Misserfolgen auf die eigene Person oder (negative) Andere. Diese Fehlschläge und Misserfolge können nicht ausbleiben, soweit die Handlungsziele nicht wirklich den (verallgemeinerbaren) Interessen der Handelnden dienen. Unter der Voraussetzung, dass- wie bei der Emotion - das Ausgeblendete, hier also der Zwangscharakter der Handlungen immer wieder zumindest zu ahnen ist, haben wir nun folgende psychologische Situation: Eigentlich müssten in der Sicht des Individuums die Handlungen motiviert zu realisieren sein, die im eigenen Interesse liegen; andererseits aber schlägt der Zwangscharakter der Handlungen immer wieder
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durch. Soweit nun das Individuum entgegen entsprechenden Hinweisen an seiner personalisierenden und unmittelbarkeitsfixierten Sichtweise festhält, müssen die realen äußeren Zwänge unbewusst werden. Wie in der Idee des Über-Ichs der Psychoanalyse wird auch in der Kritischen Psychologie von einer Verinnerlichung äußerer Zwänge ausgegangen, einer Verinnerlichung, mit der der >äußere< Charakter der Zwänge unbewusst wird (vgl. Holzkamp-Osterkamp 1976, 342ff, 356). Holzkamp resümiert: »Die äußeren Zwänge, die immer wieder die subjektive Funktionalität/Begründetheit des Akzeptierens der Handlungsrestriktionen gefährden, müssen vom Individuum so verinnerlicht werden, dass ihr Ursprung in den Herrschaftsverhältnissen, mit denen man sich arrangieren will, ein für alle mal unsichtbar bleibt, d.h. dass die äußeren Zwänge in ihrer> Verinnerlichung< (als weiterer Spielart der >Psychisierung< fiir das Subjekt von motiviert verfolgbaren Anforderungen nicht mehr unterscheidbar sein dürften. Der so als Moment des >Unbewussten< sich herausbildende >innere Zwang< ist mithin eine >motivationsförmige< subjektive Mystifizierung der Tatsache der Unterdrückung durch die herrschenden Verhältnisse, durch deren Akzeptieren man an der eigenen Unterdrückung aktiv beteiligt ist.« (A.a.O., 413)
Zentral ist dabei die >>Fiktion der >Freiwilligkeit< der Unterwerfung«, die Holzkamp mit der Lage eines Fisches vergleicht, der sich >>innerhalb des Glases in der grenzenlosen Freiheit des Ozeans wähnen« kann, sofern ihn der Mechanismus seiner Schwimmbewegungen nicht mit dem Glas in Berührung bringt (ebd.). Wieder ist die alternative Richtungsbestimmung das Durchschauen der beschrieben Mechanismen bzw. der Kampf um gesellschaftliche Verhältnisse, in der die Entwicklung eines jeden die Voraussetzung der Entwicklung aller ist. Motiviert zu handeln setzt dabei voraus, der Bedrohung durch die >>Mächtigen« kollektive Gegenwehr entgegen setzen und damit eine reale Reduzierung des mit dieser Gegenwehr verbundenen Risikos antizipieren zu können. Es liegt heute nahe, das Konzept des inneren Zwangs auf das Konstrukt des >>Arbeitskraftunternehmers« (Voß & Pongratz 1998) anzuwenden, der sich, wie in Kap. 9.4.1 gesagt, psychisch zu eigen macht, was ihm materiell mitnichten eignet: den Betrieb, in dem er arbeitet. Dann würden sich ähnliche Fragen stellen, wie sie gerade eben unter Bezug auf Emotionalität aufgeworfen wurden: inwieweit das Konzept unter einem veränderten Produktionsregime trägt oder ob es gerade hier erst- bei neuen betrieblichen Subjektanforderungen (vgl. Langemeyer 2005)- auf seinen praktischen Begriff kommt: Ist den >>Arbeitskraftunternehmer/inne/n«, die sich bspw. in Projekten bis an die Grenzen ihrer Möglichkeiten engagieren, klar, dass sie selbstbestimmt in umfassender Fremdbestimmung agieren? Wie sehen sie ihre eigenen Interessen im Verhältnis zu denen des Betriebes? Welche Gedanken machen sie sich über ihre Arbeit? Müssen sie potenzielle Einsichten
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Einführung in die Kritische Psychologie
über Ambivalenzen ihrer Tätigkeiten tatsächlich verdrängen, unbewusst werden lassen? Welche Formen von Solidarität sind in solchen Arbeitszusammenhängen denk- und realisierbar? Welche Bedeutung hat Selbstoptimierung durch »coaching« (vgl. Mathies, in Vorbereitung)? Das sind offene Fragen, bei deren Untersuchung das Konzept des inneren Zwanges erkenntnisleitende Funktion hat. Manche der bis hierhin geschilderten Phänomene, die mit den Dimensionen restriktiver Handlungsfähigkeit aufgeschlüsselt werden sollen, sind in verschiedenen Theorietraditionen unter dem (globalen) Begriff der »Entfremdung<< diskutiert worden. Dieser Begriff hat in der Kritischen Psychologie keine systematische Rolle gespielt, unbeschadet dessen, dass er gerade in marxistischer Theorietradition aufgegriffen wurde; für einschlägige psychologische Debatten waren hier vor allem die »Ökonomisch-philosophischen Manuskripte<< von Marx (1944a, bes. SlOff) wesentlicher Bezugspunkt. Bislang wurden aber, soweit mir bekannt, keine Versuche unternommen, diese Diskussionen systematisch auf die Kritische Psychologie zu beziehen bzw. den Entfremdungsbegriff bzw. die dadurch inspirierten Untersuchungen zu reinterpretieren. Dies würde bedeuten zu klären, wie das Verhältnis eines psychologischen Entfremdungsbegriffes zum Begriff der restriktiven Handlungsfähigkeit zu bestimmen ist, bzw. zu analysieren, welche weiteren Facetten restriktiver Handlungsfähigkeit sich damit u.U. ergeben. Eine Übersicht über verschiedene- marxistische wie nicht-marxistische- psychologische Bezüge auf »Entfremdung<< gibt Zurek (2007). In seinem posthumen Artikel über »Lebensführung« (1996) hat Holzkamp - quasi nebenbei - die kritisch-psychologische Kategorie der Motivation grundsätzlich in Frage gestellt, weil zwischen der »Rede von der >Motivation< und der Rede vom >Grund< hinsichtlich der wissenschaftslogischen und sprachlichen Konsequenzen sozusagen Welten<< lägen: Wer nach der Motivation frage, versuche »in bedingungsanalytischer Haltung vom Standpunkt des Forschers möglichst präzise die situationalen, personalen, individualgenetischen etc. Faktoren<< einer Handlung herauszuarbeiten; mit der Frage nach dem Grund dagegen spreche man »ausschließlich und dezidiert das jeweils involvierte Individuum<< an (a.a.O., 55). Es ist m.E. aber deutlich geworden, dass Holzkamp bezüglich der 1983 von ihm (unter Bezug auf Holzkamp-Osterkamp) entfalteten Kategorie der Motivation bzw. das Begriffspaar Motivation/innerer Zwang begründungstheoretisch, also im Begründungsdiskurs (Frage nach dem Grund) argumentiert. Die Frage nach der Motivation wird, wie von ihm ausgeführt (und von mir referiert), subjektiv relevant in einer bestimmten, gesellschaftlich gesetzten und ständig wiederkehrenden Konstellation: nämlich bei Handlungsanforderungen, deren Ziele womöglich nicht die meinen sind. Die hierbei von Holzkamp dargelegten subjektiven Funktionalitäten/Gründe beziehen sich auf diese Anordnung. Hierbei ist die Frage nach der/>meiner< Motivation die Frage nach der Analyse eben dieser Konstellation und ihren damit vermittelten
»Restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit«
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subjektiven Funktionalitäten. Insofern liegen keineswegs Welten zwischen der Rede von der Motivation und der vom Grund. Der Umstand, dass die Frage nach der Motivation auch im Bedingtheitsdiskurs gestellt werden kann, ist per se keine Argumentation gegen die Kategorie »Motivation«, so, wie der Umstand, dass es eine Menge von Lerntheorien im Bedingtheitsdiskurs gibt, kein Argument gegen den Begriff» Lernen« ist. Entscheidend ist, wie >>Motivation« begrifflich gefasst ist. Der Rekurs auf »Gründe« kann schon deswegen nicht jedwede inhaltliche Kategorie ersetzen, weil der »Begründungsdiskurs, wie wir ihn entwickelt haben, eine universale Kategorie zwischenmenschlichen Umgangs ist« (a.a.O., 69; vgl. dort auch S. 65 und in diesem Band Kap. 11.3.1.1) und weil er- entsprechend- »als eine Art von Metadiskurs allen Theorien in der Psychologie gleichermaßen zugrunde [liegt]« (65, Herv. von mir, M.M.). Wegen der Universalität des Begründungsdiskurses, die eben in der Psychologie zu berücksichtigen sei, »können psychologische Theorien sich grundsätzlich nicht durch eine geringere oder größere Affinität zum >Begründungsdiskurs< unterscheiden« (ebd.). Dies entspricht der in Kap. 11.3.1.1 wiedergegebenen Argumentation, dass die einzige Möglichkeit, die Spezifik des Begründungsdiskurs zu bestimmen, darin liegt, ihn vom Bedingtheitsdiskurs abzuheben. Theorien -und Begriffe- sind im Begründungsdiskurs formuliert oder nicht. Das bedeutet allerdings nicht, dass damit auch der Erkenntnisgehalt von Begriffen im Sinne dieser Polarität verhandelbar wäre. Die Reinterpretation von Begriffen fragt nach deren differenziellem oder relativem Erkenntnisgehalt So ist die in diesem Band (u.a. in Kap. 10.2) exemplarisch angeführte behavioristische Lerntheorie des Zusammenhangs von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz im Bedingtheitsmodus formuliert; sie ist gleichwohl begründungstheoretisch reinterpretierbar und so in ihrem Geltungsbereich einzuschränken (extreme Prämissenreduktion). Der Umstand, dass die Kategorie der »Gründe« im eben gezeigten Sinne »universell« und der Begründungsdiskurs ein Metadiskurs ist, macht inhaltliche Kategorien/Begriffe/Konzepte/Theorien nicht überflüssig; vielmehr sind diese daraufhin zu analysieren, ob bzw. wie sie im Begründungsdiskurs zu fassen sind bzw. inhaltlich zu reinterpretieren sind. »Welten« liegen deshalb nicht zwischen der Rede vom Grund und der Rede von der Motivation, sondern zwischen verschiedenen Redeweisen von der Motivation - im Bedingtheits- oder eben im Begründungsdiskurs.
12. Entwicklung, Erziehung, Lernen: der Weg vom Säugling zum handlungsfähigen Erwachsenen 12.1 Vorbemerkung zur kategorialen Bestimmung der Individualentwicklung Die bisherigen Darstellungen der Handlungsfähigkeit als zentraler Kategorie des Mensch-Welt-Zusammenhangs setzten die Vorstellung erwachsener Menschen voraus, sparten also die Frage aus, wie denn in individueller Entwicklung Menschen handlungsfähig werden, wie aus mittellosen Neugeborenen handlungsfähige Erwachsene werden. Dies bedeutet auch die Frage danach, wie Menschen von Geburt an mit den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert werden, welche Bedeutung die analytischen Pole »restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« für die individuelle Entwicklung hin zum handlungsfähigen Erwachsenen haben. Dabei ist -wie bisher auch - die Frage kategorial gestellt: Was kann auf kategorialer Ebene vor aktualempirischen Untersuchungen kategorial zur Individualentwicklung gesagt werden, ohne diese Untersuchungen unzulässig vorherzubestimmen und den Blick einzuengen, was muss auf kategorialer Ebene vor aktualempirischen Untersuchungen geklärt werden, damit deren Fragestellungen den Blick fürs Wesentliche öffnen? Man kann sich die Relevanz dieser Frage leicht klar machen, wenn man einen fundamentalen Unterschied zwischen Kritischer Psychologie und Psychoanalyse ins Auge fasst: Während die Psychoanalyse von einer ungesellschaftlichen Triebnatur des Menschen ausgeht, deren (je nach Erziehungshaltung schonende oder brutale) Bändigung im Kern von Entwicklung und Erziehung steht, wurde hier nachgezeichnet, dass und warum die Kritische Psychologie von einer gesellschaftlichen Natur des Menschen ausgeht, so dass Triebunterdrückung nicht im Zentrum der Betrachtung stehen kann, sondern sich die Frage danach stellt, wie individuelle Entwicklung unter dem Aspekt der Entwicklung subjektiver Notwendigkeiten der Verfügungsgewinnung analysiert werden kann.
Das zentrale Problem ist die riesige Kluft zwischen dem mittellosen Säugling und dem allgemein handlungsfähigen Erwachsenen: Gibt es eine kategoriale Möglichkeit, diese Kluft zu verringern? Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass eine phylogenetisch programmierte Verlaufsform oder Stufenfolge ausscheidet. Denn erstens ist die menschliche Natur, wie dargelegt, mit lebenslanger Lern- und Entwicklungsfähigkeit verbunden, die den Menschen in die Lage versetzt, die offene gesellschaftliche Entwicklung in den individuell möglichen Ausschnitten immer wieder und weiter zu realisieren. Und da es zweitens nicht darum geht, sich in eine artspezifische Umwelt hineinzuentwickeln, sondern sich mit historisch-gesellschaftlichen Anforderungen auseinanderzusetzen, ergibt sich das, was individuell zu
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entwickeln ist, entsprechend aus eben diesen Anforderungen und muss gedanklich von diesen her strukturiert werden. Auch wenn sich in der frühen individuellen Entwicklung Reifungsprozesse ausmachen lassen, kann generell die Entwicklung zur individuellen Handlungsfähigkeit als Realisierung gesellschaftlicher Möglichkeiten und Behinderungen nicht im Sinne biologischer Phasen gedacht werden. Vor diesem Hintergrund kommt Holzkamp zu der methodischen überlegung, bei den Überlegungen zur kategorialen Bestimmung der Individualentwicklung von der Handlungsfähigkeit bei gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz auszugehen und von da aus »entwicklungslogisch zu rekonstruieren«, was als logisch notwendige Voraussetzungen angenommen werden muss, damit »die individualgeschichtliche Entstehung von >Handlungsfähigkeit< als möglich begriffen« werden kann (1983, 420). Wie geht er dabei vor? Zunächst stellt er sich die Frage, was beim Individuum mindestens als gegeben vorauszusetzen ist, woran die Entwicklung zur Realisierung der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz anknüpfen kann. Man kann das auch so formulieren: was bedeutet Handlungsfähigkeit abziiglich der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit? Diese Fragestellung kehrt in gewisser Weise die Reihenfolge der Entwicklung vom TMÜ zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung - in individueller Dimension - um. Holzkamp kommt zu zwei Antworten: Vorauszusetzen ist erstens unmittelbare Kooperation (deren Unmittelbarkeit dann eben in Richtung auf Vermitteltheit zu überwinden ist). Zwischen dieser Voraussetzung und dem Ergebnis erwachsener Handlungsfähigkeit muss sich der »Entwicklungszug« oder »Prozesstyp« der »Unmittelbarkeitsüberschreitung« (a.a.O., 422) abspielen. Zweitens führt Holzkamp - als Voraussetzung der Unmittelbarkeitsüberschreitung- die subjektive Erfassung von Denkformen bzw. von gesellschaftlichen Bedeutungen als Handlungsmöglichkeiten an, und er nennt diesen Aspekt den» Entwicklungszug [bzw. Prozesstyp, M.M.] der >individuellen Bedeutungsverallgemeinerung«<: »Das >Resultat< dieses Entwicklungszugs ist die kooperativ-gesellschaftlich bestimmte Handlungsfähigkeit, die wiederum Voraussetzung für den entwicklungslogisch nachgeordneten Zug der >Unmittelbarkeitsüberschreitung< mit dem Resultat des Prozesstyps der Reproduktion (voll entfalteter) Handlungsfähigkeit in der Individualgeschichte ist.« (A.a.O., 423) Wenn man nun wieder von den gesellschaftlichen Bedeutungen absieht, landet man bei einer bloß naturhaften Umwelt und damit beim Ausgangspunkt individueller Entwicklung des Menschen. Diese entwicklungslogische Folge der drei Prozesstypen oder Prozessniveaus »Bedeutungsverallgemeinerung«, »Unmittelbarkeitsilberschreitung« und »Handlungsfähigkeit« bei gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit individueller Existenz (konkretisiert auf den Kapitalismus) bedeutet weder klare Phasen oder Stufen, noch sagt sie Eindeutiges darüber, in welchem
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Lebensalter sie ablaufen, auch nichts darüber, wie im Einzelnen Übergänge aussehen: Entwicklungslogik bedeutet nur Unumkehrbarkeit der Folge. Also: Eine entwicklungslogische Folge meint keine Folge von mehr oder weniger klar empirisch imponierenden Stufen, womöglich noch mit einem normativen Zeitraster (etwa: das normale Kind erreicht dies und das um den soundsovielten Geburtstag). Entwicklungslogische Abfolgen sind Implikationsverhältnisse, aus denen sonst weiter nichts ableitbar ist. Weder wie bzw. ob sie absolut eindeutig in Erscheinung treten, noch das Alter, in dem das passiert. Es spricht, wie angedeutet, Einiges dagegen, sich Entwicklung als Stufenfolge vorzustellen, da im Kontext der kritisch-psychologischen Gesamtkonzeption Entwicklung subjektiven Notwendigkeiten der Verfügungserweiterung bzw. der Überwindung/Abwehr von subjektiv erfahrenen Verfügungseinschränkungen entspringt. Der Umstand, dass in diesem Sinne das Individuum Subjekt seiner Entwicklung ist, widerspricht der Vorstellung, dass sich an einem Menschen Entwicklungsstufen durchsetzen. Stufen sind eher externe Kriterien bzw. Anforderungen; sie sind mit Verwaltungsaspekten und kaum mit den subjektiven Befindlichkeiten der Kinder verbunden (vgl. Holzkamp 1980). So ist ein Schulkind keine besondere Art von Kind, sondern eines, das sich zu bestimmten Anforderungen verhalten muss. Die Alternative zu Stufen bedeutet aber nicht konturlose und qualitativ unveränderte Kontinuität ohne die Entwicklung von Neuem, sondern Berücksichtigung subjektiver Entwicklungswidersprüche und -notwendigkeiten. Die damit noch nicht gelöste, aber zentrale Frage ist nun, wie man sich diese quasi »von oben« rekonstruierte Folge biographisch als Prozess »von unten«, also nicht vom Ergebnis her, sondern vom Anfang an vorzustellen hat. Analytischer Ansatzpunkt ist hier, so Holzkamp, die Diskrepanz zwischen der objektiven Beschaffenheit Welt bzw. der Lebensumstände des Kindes und der Art und Weise, wie diese Beschaffenheit dem Kind in seiner Erfahrung gemäß seiner Entwicklung gegeben ist. 16 Motor der Entwicklung ist, wie sich zeigen wird, die subjektiv notwendige (und Not wendende) Lösung von Entwicklungswidersprüchen. Dabei kann die Entwicklungs- oder Untersuchungseinheit aber nicht das Kind allein sein, diese Einheit muss vielmehr das Kind in seiner Sozialkoordination, d.h. in seinen sozialen Bezügen, sein. Auch Handlungsfähigkeit ist ja nicht bloß eine individuumsbezogene Kategorie, sondern ein Verhältnisbegriff, da »Handlungsfähigkeit« die Vermittlung zwischen individueller und gesellschaftlicher Reproduktion repräsentieren soll. So gesehen sind auch die Prozessniveaus oder Entwick16 Zum besseren Verständnis der Fragestellung, auf die ich ausführlich zurück komme: Wie kommt das Kind dazu, die Besonderheit einer Blockbatterie gegenüber einem Bauklotz zu begreifen?
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lungszüge hin zu dem, was mit »Handlungsfähigkeit« analysiert werden kann, als interpersonelle Verhältnisbegriffe zu sehen. Weil das Kind zunächst von Erwachsenen existenziell abhängig ist, sind kindliche Entwicklungswidersprüche weitestgehend als Entwicklungswidersprüche in Kind-Erwachsenen-Koordinationen zu begreifen, und es sind in dieser Koordination Widersprüche jeweils vom Standpunkt des Kindes bzw. des Erwachsenen aus. Von diesem interpersonalen Aspekt kindlicher Entwicklungswidersprüche kann wegen der Abhängigkeit des Kindes analytisch kaum abgesehen werden - im Unterschied zu Entwicklungs- und Lernprozessen bei Erwachsenen (vgl. Kap. 12.4). Wohl abgesehen werden kann von der Rolle, die andere Kinder spielen (können) nicht aus der Annahme heraus, dass diese Rolle zu vernachlässigen sei, sondern weil sie für die im Folgenden darzustellenden Entwicklungswidersprüche und deren Lösung nicht konstitutiv ist und nur aktual-empirisch geklärt werden kann. Die Besonderheit kindlicher Entwicklungswidersprüche ergibt sich, darum geht es, aus der Diskrepanz zwischen in der gesellschaftlichen Realität objektiv gegebenen Verfügungsmöglichkeiten und deren noch beschränkter Erfassung durch das Kind und den damit verbundenen spezifischen interpersonellen Abhängigkeiten. Wieder werden bei den nun folgenden kategorialen Klärungen der Widersprüche kindlicher Entwicklung Veranschaulichungen unvermeidlich sein; sie können und sollen aber als »unverbindliche Illustrationen« aktual-empirische Klärungen nicht ersetzen können (Holzkamp 1983, 428). Danach werden vor dem Hintergrund der dargestellten subjektiven Entwicklungsnotwendigkeiten Grundprobleme von »Erziehung« verhandelt; schließlich wird dargestellt, wie »Lernen« im Kontext restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit zu charakterisieren ist. 12.2 Kategoriale Entwicklungsbestimmungen
12.2.1. Signallernen, Sozialintentionalität, Bedeutungsverallgemeinerung Von welchen natürlichen Entwicklungs-Voraussetzungen können und müssen wir ausgehen, damit die Entwicklung zum Prozesstyp der Bedeutungsverallgemeinerung, die ja nicht den Beginn individueller Entwicklung ausmacht, verständlich wird? Anders gefragt: Was bedeutet die »menschliche Natur« bzw. die gesellschaftliche Natur des Menschen als ontogenetische Entwicklungsvoraussetzung? Zunächst die phylogenetisch entwickelten Dimensionen, die als Voraussetzungen individueller Lern- und Entwicklungsfähigkeit herausgearbeitet wurden (vgl. Kap. 8.2): Sie sind, so Holzkamp, als »angeboren« zu betrachten, einerlei, ob sie von Beginn an funktionsfähig sind oder »reifen« müssen (was kategorial nicht zu klären ist). Holzkamp hebt daraus besonders das »Probieren/Beobachten« heraus, da es als angeborene Potenz (vgl. Kap. 8.3.2.6) zur Verfügung steht und für die wei-
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tere Entwicklung sozusagen anschlussfähig ist. Bei dieser Überlegung ist der schon angeführte Umstand zu berücksichtigen, dass bei dieser natürlichen Entwicklungsvoraussetzung keine abstrakte Substanz, sondern ein »konkretes inhaltliches Verhältnis zwischen den phylogenetischen Voraussetzungen und den gesellschaftlichen Realisierungsbedingungen menschlichen Lernens« gemeint ist (a.a.O., 431, Herv. entf., M.M.). Der sich damit nun ergebende Entwicklungswiderspruch (als Bewegungsmoment der Entwicklung) ist folgender: Eine Diskrepanz zwischen bedeutungshaltigen gesellschaftlichen Lebensbedingungen (situativer Pol) und den Aspekten, die das Kind davon realisieren kann (personaler Pol). Das Kind erfahrt die Spezifik menschlicher Lebensbedingungen in »verschiedengradiger entwicklungsbedingter >Entspezifizierung<« (a.a.O., 343; Herv. von mir, M.M.), die in individueller Entwicklung aufzuheben ist. Die Frage ist also, »wie die Entwicklungswidersprüche in ihren personalen bzw. situativen Polen beschaffen sein müssen, durch deren Aufhebung sich für das Kind gleichzeitig die genannte Diskrepanz in Richtung auf Annäherung an das Spezifitätsniveau gesellschaftlich-kooperativer Handlungsweisen/Beziehungen vermindert« (434, Herv. entf:, M.M.). Diese Widersprüche blieben allerdings äußerlich und für die individuelle Entwicklung irrelevant, wenn das Kind nicht erstens von Anfang an auf irgendeine Weise Aktivitäten (Schreien, Strampeln, später Greifen, Manipulieren) entfaltete, die grundsätzlich als Aktivitäten in Richtung auf Verfügung zu deuten sind. Insofern kommt in der Aufhebung von Entwicklungswidersprüchen Verfügung nicht erst zustande; vielmehr gewinnen ständige und beständige Verfügungsaktivitäten spezifischere Niveaus. Entwicklungswidersprüche werden für das Kind erfahrbar, wie es bei seinen Verfügungsbemühungen und -aktivitäten auf Grenzen stößt. Zweitens steht das Kind, wie gesagt, von Beginn an in einem Verhältnis zu Erwachsenen, in einer »Kind-Erwachsenen-Koordination«, die je nach gesellschaftlichen Verhältnissen unterschiedlich, grundsätzlich aber unabdingbar ist, die Welt-Beziehungen des Kindes sind weitgehend im Rahmen dieser KindErwachsenen-Koordination angesiedelt. Daraus ergibt sich nun, dass die Verfügungsversuche des Kindes zwangsläufig eine soziale Dimension gewinnen, »indem das Kind die Pflege und Unterstützung der Erwachsenen nicht nur hinnimmt, sondern gemäß seiner je aktuellen Bedürfnislage herbeizuführen lernt. Das Probieren/Beobachten führt hier also nicht nur zu gelernten >sachlichen<, sondern auch zu >gelernten sozialen Orientierungsbedeutungen<«. Die sachliche Bedeutung bezieht sich auf das, was inhaltlich passiert: Nahrung, Säuberung; die soziale Bedeutung darauf, dass dabei ein (bestimmter) Mensch in Erscheinung tritt bzw. aktiv ist. Hier handelt es sich um »individuell-antizipatorische[s] Signallernen am >Erfolg<, aufgrund dessen das Kind durch Gesten, Laute, Schreien etc. die Pflege und Unterstützungsaktivitäteil der Erwachsenen provoziert bzw. für deren Aufrecht-
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erhaltung sorgt«. In diesem Kontext können auch die auf Dinge bezogenen Aktivitäten und Manipulationen des Kindes für die Erwachsenen Signalfunktion erlangen (»aha, es will damit spielen«). So ist hier >>auch vom Standpunkt der Erwachsenen ein neues Beziehungsniveau erreicht, indem das Kind nicht bloß >Objekt< der Pflege und Unterstützungsaktivitäten ist, sondern durch seine gelernten >sozialen Signale< dem Erwachsenen Hinweise zur gezielten, ökonomischen und bedürfnisgerechten Pflege/Unterstützung des Kindes gibt. Damit ist hier die Weise charakterisiert, in welcher die reziproke Kind-Erwachsenen-Koordination noch auf dem Niveau des >Probierens/Beobachtens<, damit des bloß operativen Zusammenwirkens unterhalb der Handlungsebene, realisiert ist.<< (A.a.O., 440f) Dabei agiert und interagiert das Kind nach wie vor in (s)einer bloß individuellen Umwelt - im Unterschied zu den Erwachsenen, die verallgemeinerte Bedeutungen realisieren. Zum weiteren Verständnis, wie aus diesem äußeren ein innerer, damit ein aufhebbarer Entwicklungswiderspruch wird, muss man sich Folgendes klar machen: Individuelles Begreifen von Bedeutungsverallgemeinerung (einschließlich kooperativer Beziehungen) impliziert, dass das betreffende Individuum versteht, dass es Intentionen, Pläne, Ziele gibt, die in den Bedeutungen vergegenständlicht sind: Im Hammer sind eben die Intentionen vergegenständlicht, die sich mit seiner Benutzung realisieren lassen (bis hin zu eher unspezifischen, wenn auch olympiareifen) Benutzungen wie Hammer-Werfen. Intentionen, Pläne, Absichten bestehen nun aber nicht nur im Zusammenhang mit verallgemeinerten Bedeutungen, sondern auch bloß individuell: Ich habe die und die Intention, wobei Intentionalität insofern sozial ist, als sie uns allen zukommt und wir uns daran als unseresgleichen im Unterschied zu Dingen erkennen. Dies hat Holzkamp zu der Überlegung gebracht, zwischen den Ausgang vom Probieren/Beobachten/Signallernen und den Prozesstyp der Bedeutungsverallgemeinerung noch eine »Zwischensequenz« anzunehmen: Individuelle >>Sozialintentionalität« als entwicklungslogische Voraussetzung der Bedeutungsverallgemeinerung (oder anders: verallgemeinerter Sozialintentionalität). Für den Entwicklungswiderspruch bedeutet das: Die Erwachsenen agieren gegenüber dem Kind nicht (nur) gemäß dessen Signalen (etwa Schreien), sondern gemäß ihren eigenen Intentionen, die das Kind aber noch nicht durchschauen kann. Es ist >>zwar objektiv in die Pläne und Absichten der Erwachsenen einbezogen, kann dem aber nicht auf gleicher Ebene begegnen<<, es besitzt allerdings die »in seiner gesellschaftlichen Natur liegende Entwicklungspotenz<< dazu (a.a.O., 442f, Herv. entf., M.M.). Deswegen kann es auf die beschriebene Diskrepanz »mit eigener Entwicklung antworten«, in der Intentionalität der Anderen erlebbar wird; das ist, wenn man so will, eine Ausweitung des sozialen Signallernens. In den beständigen Interaktionen realisiert das Kind, dass sich Sachen und Personen dadurch unterscheiden, dass letztere unterschiedlich >reagieren<, unter-
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schiedlich gestimmt sind, im Unterschied zu Sachen beeinflussbar sind. Der Einfluss auf die Intentionalität Anderer gewinnt - wie auch immer empirisch realisiert - selber intentionale Züge, das Kind kann den Intentionen der anderen mit eigenen begegnen. Diese Anderen, die Erwachsenen, sind an dieser Entwicklung auch insofern beteiligt, als sie quasi antizipatorisch den Kindern Intentionen zuschreiben, anfänglich noch »vor der Zeit«, aber »nicht am >ungeeigneten Objekt<: Das Kind hat ja tatsächlich die Möglichkeit zur Herausbildung der Intentionalität« (a.a.O., 445). Sofern diese Ebene interpersoneller Sozialintentionalität erreicht ist, können auch sachbezogene Aktivitäten des Kindes seine Intentionen- kommunikativ- zum Ausdruck bringen: >Ich will hier raufklettern und brauche Hilfe<. Bezüglich des individuellen Weges zur Bedeutungsverallgemeinerung (also zu verallgemeinerter, vergegenständlichter Intentionalität) bestehen auf der Zwischen-Ebene der bloßen Sozialintentionalität aber noch erhebliche sachliche wie interpersonelle Einschränkungen. Zu deren Erläuterung ist es notwendig und nützlich, zwischen der »Brauchbarkeit« von Gegenständen und deren bloßer »Verwendbarkeit« zu unterscheiden: Brauchbarkeit meint jenen Aspekt von Gegenständen, der sich aus ihrem »verallgemeinerten Gemachtsein-zu« bzw. ihrem Hergestelltheitsaspekt ergibt: ein Löffel zum Transport von (flüssiger) Nahrung, ein Messer zum Schneiden, ein Fotoapparat zum Fotografieren. Unspezifisch verwendbar sind alle diese Gegenstände aber auch zum Werfen (wie auch Hämmer, s.o., oder [in Friesland bei bestimmten Wettbewerben) Gummistiefel), zum Erzeugen konzentrischer Kreise in Tümpeln, zum Auf-den-Boden-knallen, zur Geräuscherzeugung. Dass verallgemeinerte Bedeutungen vom Kind noch nicht realisiert sind, ergibt sich daraus, dass es zwischen Brauchbarkeit und Verwendbarkeit von Gegenständen nicht unterscheiden kann. So lange ist auch eine Unterstützung des Kindes durch Erwachsene in Richtung auf Brauchbarkeit, also die sachgemäße Verwendung von Gegenständen aus der Perspektive des Kindes nur die Durchsetzung einer bestimmten Verwendbarkeit (unter vielen Möglichkeiten), »in gewissem Sinne ein Dressurergebnis« (a.a.O., 448). Holzkamp hebt daran hervor, dass deswegen auch Leontjews Vorstellung, ein Kind eigne sich schon damit die Sachlogik des Löffels an, dass es ihn richtig herum halte, für »verkürzt« (447): Ob der Umstand, dass ein Kind den Löffel richtig hält, Ausdruck eines Dressurergebnisses oder der Aneignung des Hergestelltheitsaspekts (der Sachlogik) ist, hängt eben davon ab, ob das Kind verallgemeinerte Bedeutungen begreifen kann oder nicht. Den Löffel richtig zu halten, kann auch bloßes Dressurergebnis sein. Während nun Leontjew im genannten Sinne die >richtige< Haltung des Löffels gleich als Aneignung von dessen Sachlogik vereindeutigt und somit überschätzt, wird in der »traditionellen lerntheoretisch-psychoanalytischen Sozialisationstheorie« (448) diese >Leistung< des Kindes andersherum vereindeutigt: als bloße Folge von verinnerlichten Normen und Sanktionen, so dass die Frage der Bedeutungs-
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verallgemeinerung hier überhaupt keine Rolle spielt. Das heißt aber auch, dass damit menschliches Lernen auf dem Niveau bloßer Sozialintentionalität universalisiert wird. Das Problem dabei ist u.a.: Soweit und solange das Kind auf diesem Niveau verharrt, kann es die >Bevorzugungen< bestimmter Verwendbarkeiten durch die Erwachsenen nur als unergründliches Besserwissen oder- schlimmer- als bloße Willkür erfahren. Es ist durchaus naheliegend, dass das, was als kindlicher »Trotz« imponiert, Ausdruck eines- notwendig (bedeutungs- )blinden- Protestes des Kindes gegen das Verbot einer bestimmten Verwendbarkeit sein kann: Das Kind erfährt, dass der Erwachsene intentional verhindert, dass das schöne Schlaginstrument »Fotoapparat« verwendet wird; es muss dies aber als mehr oder weniger abgefeimte Willkür erfahren, weil es nicht durchschauen kann, warum der Erwachsene ausgerechnet gegen diese attraktive Verwendbarkeit ist (zu weiteren Überlegungen zu dem, was Erwachsene als »Trotz« interpretieren, vgl. Ulmann 1987, 202). Solange die sach- und bedeutungsvermittelten Gründe der Erwachsenen dem Kind verschlossen bleiben, haben die Interaktionen zwischen Kindern und Erwachsenen auch noch keinen bedeutungsvermittelten kooperativen Charakter; dies betrifft, so Holzkamp, auch die Sprache: die Möglichkeit der lautlichen Artikulation (»Ball«, »Löffel«, >»Fotoparat<«) ist noch nicht Ausdruck begrifflich-symbolischer Bedeutungserfassung (449). Man kann sich als Erwachsener diese Unterscheidung zwischen lautlich-sprachlicher Artikulationsmöglichkeit und begrifflich-symbolischer Verfügung über das Gesagte daran verdeutlichen, dass die Aussage, dass dies oder jenes in der Quantenphysik thematisiert werde, nicht zwingend bedeutet, dass der (Party-)Sprecher wirklich weiß, worüber er redet. Zur Klärung der Überwindung der für das Kind (und vermittelt auch für die Erwachsenen) bestehenden Widersprüche zwischen Verwendbarkeit und Brauchbarkeit rekurriert Holzkamp wieder auf die Aktivitäten des Kindes: Greifen und Manipulieren hinterlässt »Spuren«, was dann immer deutlicher in Richtung intentionalen Machens geht; hierbei kann das Kind schon auf der Ebene der Sozialintentionalität realisieren, dass es selber auch etwas für Andere (etwa ein Bild malen) machen kann, so wie Andere auch jeweils etwas für Andere bzw. das Kind machen: Mit der Verbesserung des Machens wird auch dessen Ergebnis - sachlich und sozial- wesentlicher: »Der qualitative Umschlag zur Bedeutungsverallgemeinerung ist dabei als Dominanz- Umschlag dann vollzogen, wenn das >gegenständliche Resultat< für die Kind-Erwachsenen-Koordination bestimmend wird, und diese damit die ersten wirklich >kooperativen< Züge gewinnt. Hier werden das >gegenständliche Resultat<, die Bedingungen seines Zustandekoromens und die Qualitäten seiner Brauchbarkeit nach Kriterien, die nicht in dem bloß sozialintentionalen Beziehungs- und Beeinflussungsgefüge aufgehen und gerade dadurch bestimmend auf dieses zurückwirken können, selbständig fassbar.« (A.a.O., 45lf)
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Es ist in diesem Prozess davon auszugehen, dass die vom Kind realisierte Bedeutungsverallgemeinerung zunächst auf den Rahmen seiner unmittelbaren Kooperationserfahrungen (Resultate des Maiens, Backens, Kochens für andere, mit anderen) begrenzt ist, während die Sachbedeutungen von außerhalb dieses Rahmens hergestellten Gegenständen (Löffel und Fotoapparat) eher erahnt wird. Aber das Tor dorthin wird immer weiter aufgestoßen. 12.2.2 Vorformen restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit in der kindlichen Lebenswelt Auch Kinder leben hierzulande bekanntlich im Kapitalismus, so dass zu fragen ist, was dies für die bislang allgemein geschilderten Entwicklungswidersprüche und -logiken bedeutet. Dabei sind allerdings, wie Holzkamp betont, auf der hier allein behandelten kategorialen Ebene klassen- und geschlechtsspezifische Differenzierungen oder >ethnische< Diskriminierungen nicht zu analysieren: Sie sind nur aktualempirisch zu erforschen (a.a.O., 457; vgl. etwa Teuber 2004). Da Herrschaftsverhältnisse ein Ensemble von Möglichkeiten und Behinderungen bedeuten, darf in unseren kapitalistischen Verhältnissen auch die kindliche Individualentwicklung nicht nur unter dem Aspekt wachsender Verfügungsmöglichkeiten hin analysiert werden, sondern es muss auch gefragt werden, welchen historisch spezifischen Zurichtungen in Richtung auf eine fremdbestimmte Erwachsenenexistenz das Kind dabei ausgesetzt ist. Anders formuliert: Nachdem wir bislang die (kategorial bestimmbaren) entwicklungslogischen Widersprüche vom Signallernen bis zur Bedeutungsverallgemeinerung dargestellt haben, geht es nun darum, wie diese Widersprüche und ihre Lösung konkret-historisch formiert werden: Welche Bedeutung hat dabei das Begriffspaar »restriktive vs. verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« für die bislang behandelten Prozesstypen individueller/kindlicher Entwicklung? Bei diesen Prozesstypen kann von erwachsener Handlungsfähigkeit noch keine Rede sein; sie finden noch »im durch die Erwachsenen gesetzten >Unterstützungsrahmen< innerhalb der kindlichen Lebenswelt« statt (a.a.O., 460, Herv. entf., M.M.). Die Frage nach der konkret-historischen Formierung kindlicher Verfügung ist deswegen wesentlich, weil die »gesellschaftlichen Unterdrückungszusammenhänge [. .. ] zu keinem Zeitpunkt der Ontogenese suspendiert, sondern für das Kind von seinem ersten Lebenslage an präsent [sind], nur eben zunächst lediglich in [ ... ] mehr oder weniger unspezifischer Form« (a.a.O., 458). Die Frage ist also, wie mit den beschriebenen, je neuen Qualitäten der Verfügungserweiterung auch »eine entsprechende Qualität der Verfügungseinschränkung gegeben und so die erreichte Verfügungserweiterung widersprüchlich zurückgenommen und gebrochen ist. Damit ist gleichzeitig zu klären, auf welchem Prozessniveau der Onto-
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genese in welcher Weise für das Kind mehr oder wenigerunspezifische Vorformen der Alternative restriktiver oder verallgemeinerter Bedrohtheitsüberwindung [. .. ] bestehen« (a.a.O., 459). Holzkamp schränkt allerdings ein, dass bei dieser Fragestellung kategoriale Aussagen nur unter einem konditionalen Vorbehalt gemacht werden können: Sofern sich zu diskutierende Einschränkungen und Bedrohungen durchsetzen, dürften sie auf dem jeweiligen Prozessniveau vom Kind in der darzustellenden Weise erfahren werden. Vor dem Niveau der Sozialintentionalität sind hier, so Holzkamp, Anregungsarmut und Inkonsistenz gegenüber kindlichen Signalen und Aktivitäten negativ ebenso relevant wie die Vernachlässigung primärer Bedürfnisse bzw. die Unterdrückung sexueller Impulse. Dies wird vom Kind ebenso wie ein Naturereignis erlebt wie Blähungen, die wie eine schauerliche Existenzweise erfahren werden müssen, da ihr Ende ja noch nicht antizipierbar ist. Deswegen dürfte dies alles eine »unspezifische Angst als Hilflosigkeit gegenüber vital bedeutsamen, aber unverfügbaren Ereignissen« bedeuten (a.a.O., 461). Sofern das Kind nun zu einem selektiven Unterlassen einschlägiger Signale bzw. Aktivitäten kommt, sieht Holzkamp darin schon eine Art >»Arrangement< mit den Herrschenden« (Erwachsenen) (462), so wie wütendes Schreien etc. als Ausdruck unspezifischen Widerstands gesehen werden kann. (In dieser sozusagen vor-argumentativen Lebensphase des Kindes ist dieses auch für die Erwachsenen eine Art Naturereignis, dessen Bedürfnisse geduldig entschlüsselt oder rigide negiert oder reglementiert werden können, womit sich einschlägige Probleme in der Kind-Erwachsenen-Koordination ermäßigen oder verschärfen können.) Mit dem Niveau der Sozialintentionalität werden die Aktivitäten der Erwachsenen als intentional wahrgenommen, womit vom Kind als negativ erfahrene Erwachsenen-Aktivitäten als von diesen >gewollt< erfahren werden und damit eine neu es Niveau »subjektiver Verletzlichkeit« mit Angst vor Liebesverlust entsteht. Dies hatte sich eben schon bei meinem »Trotz«-Beispiel angedeutet, bei dem auch deutlich werden kann, dass auch die Erwachsenen wegen einer vielleicht erst noch fälschlich dem Kind unterstellten Absicht, sie zu >ärgern<, entsprechend massiv reagieren und sich die entsprechenden Situationen hochschaukeln. »Wesentlich ist, dass dabei ein zentrales Charakteristikum der sozialintentionalen Beziehungsform in die Kind-Erwachsenen-Koordination gelangt, die Differenzierbarkeif und mögliche Widersprüchlichkeit zwischen den Äußerungen und den >wahren< Absichten etc. eines Menschen. In dem Maße nun, wie das Kind
in der eigenen Intentionalitätsentwicklung den Vorgriff der Erwachsenen darauf >einholt<, wird sich auch in diesem Aspekt die Reziprozität des sozialintentionalen Beziehungsniveaus herstellen: Das Kind wird lernen, dass es nicht nur verletzt werden, sondern auch andere verletzen und treffen kann, dass dabei die eigenen Impulse geäußert, aber auch zurückgehalten werden können, ja, dass ich
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bestimmte Haltungen und Absichten kundgeben kann, die gar nicht dem entsprechen oder sogar das Gegenteil von dem ausdrücken, was ich wirklich meine oder erlebe.<< (Holzkamp 1983, 464) 17
Mit der sozialintentionalen Fähigkeit des Kindes wächst dessen Möglichkeit, zur Abwehr von Bedrohungen eigene Impulse zu verbergen, insbesondere aggressive Impulse gegenüber den Erwachsenen, von denen aber letztlich die Lebensmöglichkeiten des Kindes weitgehend noch abhängen - so dass diese aggressiven Impulse wiederum mit Angst und Schuldgefühlen verbunden sein können - und womöglich auf eine Weise verdrängt werden, die mit einer »Identifikation mit fremden Zwängen« (a.a.O., 465) einhergehen können, die mit der freudschen Über-Ich-Bildung kompatibel sind, wie Holzkamp-Osterkamp (1976, 347ff) reinterpretierte. Dies alles erinnert an die Instrumentalverhältnisse restriktiver Handlungsfähigkeit- allerdings mit einem wesentlichen Unterschied, dass nämlich das Kind zur Instrumentalisierung der Erwachsenen noch keine reale Alternative hat: erstens, solange es kaum eine materielle Möglichkeit hat, den gegebenen Rahmen zu verlassen, und zweitens, solange es noch nicht über Denkmöglichkeiten verfügt, Instrumentalverhältnisse als solche zu hinterfragen - was ja voraussetzen würde, die objektiven Bedeutungszusammenhänge zu begreifen, in denen restriktive interpersonale Arrangements subjektiv funktional sind. Eben dazu ist das Kind ja auf sozialintentionalem Prozessniveau gerade noch nicht in der Lage. Aus all diesen Überlegungen kommt nun Holzkamp zu der Hypothese, dass, soweit derartige Beeinträchtigungen für die kindliche Lebenswelt relevant werden, die gerade geschilderten Vorformen restriktiver Handlungsfähigkeit eine unvermeidliche biographische Last bedeuteten; mehr noch: dann ginge es um »ein notwendiges Stadium ontogenetischer Entwicklung innerhalb der bürgerlichen Klassenwirklichkeit [... ] Dies würde bedeuten, dass hier in der Individualgeschichte den Tendenzen in Richtung auf >restriktive Handlungsfähigkeit< im Arrangement mit den Herrschenden ein ontogenetisches Prä zukäme, und so die Herausbildung verallgemeinerter Handlungsfähigkeit durch Verfügungserweiterung im Zusammenschluss mit anderen quasi immer erst gegen konträre Tendenzen aus der eigenen frühkindlichen Individualgeschichte durchgesetzt werden müsste.<< (Holzkamp 1983, 467) 18 17 Gerade der zuletzt genannte Umstand spielt auch bei sog. Streichen eine Rolle, die natürlich in unterschiedlichem Alter (hier eher: Prozessniveaus) gespielt werden, aber auf der hier diskutierten Ebene auch als Ausprobieren eben dieser Möglichkeit gesehen werden können (vgl. zu >Streichen< auch das folgende Teilkapitel über »Erziehung«, 12.2.5). 18 Steht dieses ontogenetische Prä restriktiver Arrangements im Gegensatz zu der in Kap. 11.4.1 gemachten Feststellung, dass Deuten sich stets aktiv gegen die Denkmöglichkeit verallgemeinerter Handlungsfähigkeit durchsetzen müsse, die dem Individuum ja auch immer gegeben sei ( Holzkamp 1983, 391 )? Es handelt sich m.E. um widersprüchliche Tendenzen:
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Mit der Überwindung bloßer Sozialintentionalität in Richtung auf Bedeutungsveraiigemeinerung werden die Beziehungen und Probleme zwischen Kindern und Erwachsenen, wie oben skizziert, vom Kind (auch) nach sachlichen Kriterien beurteilbar. Damit ergibt sich aber auch eine neue Qualität der Bedrohung, weil das Kind nun aus kooperativen Bezügen ausgeschlossen werden bzw. sich selbst als ausgeschlossen wahrnehmen kann. (Ein Beispiel wäre hier, dass das Kind einen eigenständigen Beitrag zum Kochen leisten wiii, aber dabei nicht ernst genommen wird.) Wenn man den grundsätzlichen Zusammenhang von Verfügungsmöglichkeiten und Lebensqualität bedenkt, steht das Kind nun vor der Situation, eben an der Realisierung dieses Zusammenhangs gehindert zu werden, wenn entsprechende Selbständigkeitsbestrebungen bzw. Kooperationsangebote des Kindes negiert werden (etwa weil unter Druck stehende Erwachsene es schneller und besser können). Dies impliziert eine Gebrochenheit in der kindlichen Erfahrung, einerseits dazu zu gehören, andererseits und gleichzeitig ausgeschlossen zu sein; es macht die Erfahrung, dass Verfügungsmöglichkeiten zugestanden, aber auch begrenzt und verhindert werden können; dies erlebt es als eine Mischung aus Willkür und sachlichen Begründungen, letztlich aber in einem fremdgesetzte Rahmen - Vorwegnahme und >Einübung< einer Existenz reduzierter Selbstbestimmung in umfassender Fremdbestimmung. Andererseits hat das Kind, soweit es gemäß dem Prozesstyp der
Bedeutungsverallgemeinerung agieren und argumentieren kann, aber auch zum ersten Mal die Möglichkeit zu einem Widerstand, der eine Alternative zu bloßen Instrumentalbeziehungen ist- damit hat es wiederum auch die Möglichkeit, eigene Rückzüge als tendenziell »selbstfeindlich« zu erleben. Auch die Erwachsenen haben nun eine neue Möglichkeit, sich mit »regressiven« Tendenzen des Kindes zu verbünden oder mit seinen Tendenzen in Richtung auf Verfügungserweiterung. Die Möglichkeiten des Kindes dürfen hier aber nicht überschätzt werden, da es sich nach wie vor im Rahmen »prinzipieller Abhängigkeit« der Erwachsenen bewegt (a.a.O., 47lf) -eine Problematik, deren Lösung erst mit dem Prozesstyp der Unmittelbarkeitsüberschreitung sich andeutet, die im folgenden Teilkapitel über Erziehung mit behandelt werden soll. Sind nun in den geschilderten - kategorialen - Entwicklungswidersprüchen und deren Herrschaftsformierung eindeutig kapitalistische Spezifika deutlich geworden? Oder wurde eher die ailgemeine (und kategoriale) Relevanz von Herrschaftsverhältnissen überhaupt für die kindliche Entwicklung expliziert? Wenn ich die Frage so steile, ist damit gleichzeitig gesagt, Auf der einen Seite müssen im restriktiven Arrangement (mit den psychischen >Kosten<, die dieses Arrangement eben hat) die- allerdings auch riskanten- Möglichkeiten der Verfügungserweiterung abgewehrt werden, auf der anderen Seite stützt das ontogenetische Prä das Sich- Einlassen auf restriktive Arrangements.
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dass ich der zweitgenannten Auffassung bin. Alles, was in kapitalistischer Formspezifik bedeutsam ist (Klassen, Schichten, Geschlechterverhältnisse), ist aktual empirisch zu untersuchen, worauf Holzkamp ja, wie geschildert, selber verweist. Das würde dann auch heißen, dass die hier geschilderten Auffassungen gegenüber konkreten Gesellschaftsformationen noch allgemein sind und kategorialen Nutzen für die aktual-empirische Untersuchung kindlicher Entwicklung in verschiedenen konkreten gesellschaftlichen (Herrschafts-) Verhältnissen haben. Außerdem habe ich Holzkamps ausführliche Bezüge auf die Funktion der Sexualunterdrückung hier ausgespart, weil sie mir überholt zu sein scheinen (vgl. dazu auch Zirkel2008).
12.2.3 Der Prozesstyp der Unmittelbarkeitsüberschreitung: Ausweitung des kindlichen Erfahrungs- und Einflussbereichs Im Zuge der bislang dargestellten kindlichen Entwicklung entspricht die kindliche Lebenslage im Wesentlichen den Interaktionen mit bestimmten Erwachsenen (und anderen Kindern) und dem damit gegebenen (ggf. sehr mangelhaften) Unterstützungsrahmen ( Holzkamp 1983, 480f); dabei kann der Besuch von Kindertagesstätten für das Kind zwar als eine erste Relativierung des ungefragten >familialen< Rahmens angesehen werden, dürfte aber gleichzeitig eher als dessen Verlängerung oder Ausweitung, ggf. mit neuen Qualitäten, erfahren werden. Außerdem ist denkbar, dass gerade in dieser Verlängerung/Ausweitung >außerhäusige< Kräfte sich eine Art Geltung verschaffen, denen auch die Erwachsenen unterliegen, so dass deren Allmacht relativiert wird: Bspw. müssen die Bezugspersonen arbeiten gehen. Es ragt etwas in den familialen oder häuslichen Rahmen hinein, das die kindliche Lebenswelt umfasst und transzendiert, ein Etwas, mit dem das Kind in seiner Entwicklung zunehmend konfrontiert wird. Damit werden auf Dauer und peu a peu aber auch die Grenzen der bislang realisierten bloß unmittelbaren Kooperation und der damit verbundenen Bedeutungsverallgemeinerung spürbar (a.a.O., 474ff): Die Ebene der Handlungsgründelintentionen ist, wie bislang geschildert, für das Kind nur bezüglich der unmittelbaren Kooperation verständlich, darüber hinaus reichende Bedingungen/Bedeutungen, die damit verbundenen Prämissenlagen der Erwachsenen müssen dem Kind verschlossen und unverständlich bleiben: Wieso >müssen< die Erwachsenen arbeiten, wieso sind bestimmte Dinge wertvoller/teurer als andere, wieso haben bestimmte Metallstücke oder Papiere als »Geld« eine ganz besondere Bedeutung? Insofern ist der nunmehr sich stellende Entwicklungswiderspruch der folgende: Wie kommt das Kind dazu, die Diskrepanz zwischen der Einbettung in die unmittelbare Kooperation und deren Beeinflussung durch gesellschaftliche Prozesse zu kapieren, wie kommt es dazu, auf der Basis seiner bisherigen Entwicklung die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit seiner Existenz zu realisieren? Diese Realisierung bedeutet gleichzeitig die Tendenz zur Ausweitung der
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kindlichen Einflussmöglichkeiten und sozusagen einen eigenen Positionsgewinn: So ist auch ein Kind in einer Kindertagesstätte, vor allem ein Schulkind in einer Situation, in der es selber nicht mehr nur durch unmittelbare Bezüge erreichbar, sondern auch >von außen< bestimmt ist, eine Position, die es gegenüber unmittelbaren Bezugspersonen geltend machen kann: »Wir sollen heute Handschuhe mitbringen.« Damit steht das Kind aber auch in neuem Rahmen vor neuen Anforderungen, es ist neuen Zwängen ausgesetzt, neuen Widersprüchen zwischen Anpassung und Widerstand, die sich im Lauf der Zeit zunehmend von bloßen Vorformen restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit (in) der kindlichen Lebenswelt entfernen. Wie dieser Prozesstyp der Überschreitung der Unmittelbarkeit ontogenetisch im Einzelnen vonstatten geht, kann kategorial noch weniger eindeutig bestimmt werden als dies bei den vorherigen Prozesstypen der Fall war (a.a.O., 481), da die Art und Weise, wie Entwicklungs- und Behinderungsräume für Kinder und Jugendliche organisiert werden, historisch variabler ist.
12.2.4 Erziehung:» Vorbereitung auf die Welt« »Erziehung« ist nun jener Prozess und jenes interpersonelle Verhältnis im häuslichen Rahmen (und darüber hinaus), in denen das Kind >auf die Welt vorbereitet< wird, und in denen folglich einschlägige Erwartungen dem Kind implizit und explizit vermittelt werden. Hieran lassen sich m.E. sehr gut Widersprüche des Prozesstyps der Unmittelbarkeitsüberschreitung aufzeigen - allerdings wieder nur in einer Weise, dass »lediglich mögliche kategorial begründete Fragestellungen« (Holzkamp 1983, 481; Herv. entf., M.M.) aufgeworfen und veranschaulicht werden, ohne dass etwa klassenspezifische Verläufe präjudiziert werden. Meinen folgenden Darlegungen liegen neben unveröffentlichten bzw. im Internet kursierenden eigenen Papieren/Vorträgen meiner Arbeit im Projekt »Subjektentwicklung in der frühen Kindheit« (SUFKI; Holzkamp et al. 1985, Markard 1985 und 1985b), mein Aufsatz »Wer braucht Erziehung?« (2006c), das auf den Arbeiten dieses Projekts basierende Buch von Gisela Ulmann »Über den Umgang mit Kindern« (1987) und zwei mit diesem Projekt verbundene Aufsätze von Klaus Holzkamp (1983c und d) zu Grunde. In meiner Argumentation zur Erziehung will ich von dem in Kap. 9.6 erörterten Zusammenhang von Freiheit und Verfügung ausgehen: Ein Individuum ist in dem Maße frei, in dem es an der gesellschaftlichen Verfügung über seine Lebensbedingungen teilhat und damit auch über die Quellen seiner Bedürfnisbefriedigung verfügen kann. Die Qualität so gefasster subjektiver Freiheit und Selbstbestimmung ist selber wieder von den historisch bestimmten Lebensbedingungen abhängig und eingeschränkt. Wenn nun Erziehung die Kinder auf die Welt vorbereitet, und wenn Freiheit und
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Selbstbestimmung erstrebenswerte Ziele sind, ist dann eine Erziehung zu Freiheit und Selbstbestimmung, damit auch zu gesellschaftlicher Teilhabe, notwendig, sinnvoll, möglich? Man könnte auch fragen: Warum sollte man zu etwas erziehen, was ohnehin praktisch jeder und jede will? Außerdem: Sieht man die Freiheits-, Verfügungs- und Selbstbestimmungsirage aus der Perspektive von Kindern, sind dann - nach allem Gesagten Freiheit, Verfügung und Selbstbestimmung nicht das, worauf ihr Leben, ihre ganz kindliche Existenz, hinausläuft? Auf Befreiung von Bevormundung, auf Befreiung von Schutz, der vielleicht immer auch Kontrolle ist? Mit dieser simplen Frage ist man nahe bei Kant, der Freiheit als Voraussetzung dafür fasste, von seiner Vernunft gegenüber Übergebenen und VorGesetzten Gebrauch zu machen (1783, 55). Wenn nun ein Kind in seiner Entwicklung zunehmend zu Verstand kommt, ist es dann nicht eher darum zu tun, dem Kind die Freiheit zu gewähren bzw. zu gewährleisten, seinen Verstand auch zu gebrauchen, statt es zur Freiheit zu erziehen? Dabei besteht zwischen »gewähren« und »gewährleisten« ein wesentlicher Unterschied: Gewähren heißt einzuräumen, was einem nicht zusteht. Gewährleisten dagegen heißt zu sichern, was einem zusteht. Was man gewährt, kann man nach Belieben entziehen. Es wird im Folgenden auch darum gehen, wie Freiheit, Verfügung und Selbstbestimmung in Erziehungs- als Machtfragen vorkommen. Entsprechend geht es auch um das Verhältnis von erzieherdefiniertem Wohl und kinderdefiniertem Willen des Kindes. Vor dem Hintergrund der kritischpsychologischen Subjektivitäts- bzw. Handlungsfähigkeitsvorstellung sind auch Werte und Normen (in historischer Konkretion) zu berücksichtigen: denn die Begriffe »Freiheit«, »Verfügung« und »Selbstbestimmung« sind ja in ihrer Konkretisierung ohne entsprechende gesellschaftliche Verhältnisse >leer<; insofern ist das Erziehungsproblem immer im Zusammenhang mit der Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und Widersprüche zu sehen. Dabei ist festzustellen: Erziehung wird in dem Maße brisant bzw. zum Problem, wie Normen und Werte, die eben für Erziehungsziele bedeutsam sind, Wandlungen unterliegen, vor allem wenn diese Wandlungen - gemessen an individuellen Lebensabschnitten - vergleichsweise kurzfristig sind. Ein besonderes Problem von Erziehung ist es, wenn bestimmte hoch bewertete Normen und Werte ihre materielle Unterfütterung verlieren, wenn also bspw. für langfristige Berechenbarkeit und Solidarität keine unmittelbare materielle Basis mehr besteht, oder wenn das Versprechen, dass Leistung sich lohne, allein durch Massenarbeitslosigkeit oder unsichere Altersversorgung hohl wird. Wann wird die Klage, Kinder und Jugendliche verlören zunehmend ein Gefühl für Normen und Werte zu der Zumutung, dass Kinder und Jugendliche mit der Einhaltung von Normen und Werten ihrer Marginalisierung sozusagen auch noch höflich zustimmen sollen? Er-
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ziehung wird weiter in dem Maße zum Problem, wie im Hinblick auf die Entwicklung bzw. die Perspektive von Kindern verschiedene Möglichkeiten bestehen, es also nicht mehr vorgegeben ist, >was aus ihnen werden< soll, muss oder kann. Soweit diese Möglichkeiten schiebt- oder klassenspezifisch formiert sind, sind Erziehungsfragen ein Problem der Schichten/Klassen, in denen sich Möglichkeiten für Kinder öffnen oder verschlossen werden; deswegen ist es kein Wunder, dass sich Erziehungsratgeber vor allem an die >Mittelschicht< richten, für die mehr Optionen und Alternativen bestehen. Wenn man zu Freiheit, Verfügung und Selbstbestimmung erzieht - wie weit heißt das dann auch, unter kapitalistischen Verhältnissen zumindest implizit zu Rücksichtslosigkeit und Durchsetzungsfähigkeit zu erziehen? In seinen »Flüchtlingsgesprächen« lässt Brecht einen der beiden Protagonisten, Ziffel, von einem Lehrer berichten, der sich darauf konzentrierte, »die Seelen der jungen Leute auszubilden und ihnen alle Formen des Unterschleifs beizubringen«, also alle Formen des Zurechtkoromens in elenden Verhältnissen. »So bereitete er sie auf den Eintritt in eine Welt vor, wo ihnen gerade solche Leute wie er entgegentreten, verkrüppelte, beschädigte, mit allen Wassern gewaschene.« (1940/1941, 1404f) Eine freundliche Schule hingegen würde die Kinder nur lebensuntüchtig machen: Das dort Gelernte müsste sie »draußen im Leben, das so sehr anders ist, zu den lächerlichsten Handlungen verleiten. Sie wären kunstvoll darüber getäuscht, wie sich die Welt ihnen gegenüber benehmen wird: Sie würden fair play, Wohlwollen, Interesse erwarten und ganz und gar unerzogen, ungerüstet, hilflos der Gesellschaft ausgeliefert sein.« (Ebd.)
12.2.5 Erziehung vom Standpunkt der Erwachsenen und vom Standpunkt der Kinder
Wie schon angedeutet, müssen in dem Maße, in dem Erziehung zum Problem wird, die unterschiedlichen Perspektiven der an Erziehung Beteiligten, mindestens also die der Erzieherinnen und Erzieher und die der >Zöglinge<, genauer in Betracht gezogen werden. Das ist natürlich nicht grundsätzlich neu, wie schon die Struwwelpeter- oder Wilhelm-Busch-Geschichten zeigen. Aber in diesen Geschichten sind diese unterschiedlichen Perspektiven sozusagen rollentypisch. Es sind unterschiedliche Perspektivenklischees in einer beiderseitig als fest gedachten Ordnung - und die berühmten Kinderstreiche sind - als blind-blöder Widerstand- eigentlich die augenzwinkernde Bestätigung der Ordnung. Man kann sicher sein, dass Max und Moritz, wären sie nicht zermahlen worden, als Stützen der Gesellschaft geendet wären. Streiche sind - von der kurzen Phase abgesehen, in der Kinder die Bedeutung von Intentionalität und damit auch von Täuschung kapieren und diese Erkenntnis praktisch ausprobieren (vgl. Kap. 12.2.2) - in die
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Harmlosigkeit abgewürgter Widerstand. Streiche werden gespielt, Widerstand wird geleistet, das sagt uns schon die Alltagssprache. Streiche sind temporäre Befreiungen im Modus des Als-ob. Das Pendant zu Streichen der Kinder ist die Großzügigkeit der Erwachsenen: Beide sind Ausnahmen von der Regel der Macht, die sie damit bestätigen. Wer Rechte hat, bedarf keiner Großzügigkeit des Gegenübers: Rechte sind, wie gesagt, zu gewährleisten, nicht zu gewähren. Die Frage der genannten unterschiedlichen Perspektive auf Erziehung ist auch unter dem Aspekt zu verhandeln, wer denn eigentlich Erziehung braucht (vgl. auch Markard 2006c). Dabei hat, je nach Antwort, die Vokabel »braucht« durchaus verschiedene Bedeutung: Wenn die Zöglinge es sind, die Erziehung brauchen, sind sie Objekte der Erziehung, die sich an ihnen zu vollziehen hat, mit der Implikation, dass, Objekt von Einflüssen zu sein und eigene Perspektiven zu haben, in einem Spannungsverhältnis steht. Wenn es dagegen die Erzieherinnen und Erzieher sind, die die Erziehung brauchen, haben wir es mit folgenden zwei Bedeutungen zu tun: (1) Dass die Erzieherinnen und Erzieher für sich selber den beim erzogenen Zögling erhofften Effekt (etwa »guter Schüler«) brauchen. Die Frage ist dann wieder, wie sie die Ziele legitimieren, und wie sie die Dominanz ihrer (ja nicht ohne weiteres als allgemein auszuweisenden) Interessen gegenüber den Zöglingen legitimieren wollen. (2) Dass- im Sinne einer Maneschen Feuerbachthese ( 1845, Sf) - »der Erzieher selbst erzogen werden muss«. Darin käme eine retourkutschenartige Ablehnung von Edukationismus, d.h. der Ablehnung der Überheblichkeit des Besser-Wissens und Besser-Seins von Erziehern zum Ausdruck (allerdings ebenfalls mit dem Problem, wie die Ziele aussehen sollen). Schließlich könnten es auch die Gesellschaft oder eine gesellschaftliche Gruppierung sein, die Erziehung braucht. Das würde dann bedeuten, dass »die« Gesellschaft oder eben die Gruppierung (unter Bezug aufbestimmte Normen) jene Ordnung brauchen, deren je individuelle Reproduktion auch durch Erziehung gewährleistet werden soll. Eine Komplikation dabei ist, dass man natürlich auch gegen eine Gesellschaft oder gesellschaftliche Gruppierung erziehen kann, aber auch dann ist es wohl wieder eine Gruppierung, die eben dann diese Erziehung braucht, so dass dies formal an unserer Argumentation nichts ändert. 19 Es sind die unterschiedlichen Perspektiven der an Erziehung Beteiligten, unter Bezug auf die ich zunächst die Dyade Erzieher/in-Zögling darstellen will (wohl wissend, dass es sich mindestens um die Triade Erzieher/in-Zögling-Gesellschaft handelt; dies werde ich aber in der Erzieher/in-Zögling19 Im Übrigen ist die Erziehung von Kindern zu Gesellschaftsgegrzer!imze/n oder -kriti.ker/ inne/n derzeit wohl kaum das Zentralthema der neu aufkeimenden Erziehungsdebatte: Die ist wohl mehr auf eine Erziehung zur Vermeidung von Gesellschaftskritiker/innein ausgerichtet.
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Dyade berücksichtigen). Außerdem werde ich der sprachlichen Einfachheit halber im Folgenden nur von der Erzieherin und dem Zögling reden. Erziehung ist zu fassen als jener Sonderfall einer zwischenmenschlichen Beziehung, die folgende Eigenarten besitzt: l. Die Erzieherin vertritt Anforderungen und Ziele, die der Zögling (noch) nicht erfüllen (wollen) kann, oder die der Zögling anders als die Erzieherin interpretiert; sonst wäre Erziehung ja überflüssig. 2. Erziehung besteht aus einschlägigen Maßnahmen (Lob, Tadel, Vorbild sein, verschiedene Erziehungsstile). 3. Erziehung bedeutet immer eine Machtausübung, die sich aber mit Erziehungserfolg reduzieren kann. Zu den Erziehungszielen ist zu sagen: l. Die Erzieherin kennt sie und wählt sie aus. 2. Sie versucht sie so zu vermitteln, dass sie dem Zögling einsichtig werden. 3. Soweit der Zögling dies bzw. diese Ziele noch nicht einzusehen vermag, setzt die Erzieherin die Ziele verantwortlich und stellvertretend durch. - Wir treffen hier auf das allgemeinere Problem der Differenz zwischen dem Wunsch und dem Wohl von Menschen, die sich in einer Abhängigkeitsbeziehung befinden. Voraussetzung der bislang behandelten Aspekte von Erziehung ist die Vorstellung, dass man Kindern eine gewisse Gesellschaftlichkeit von außen aufprägen muss, eine Position, die weitestgehend akzeptiert, aber auch von Gramsei geteilt wird: »Eigentlich erzieht jede Generation die neue Generation, das heißt, sie formt diese, und die Erziehung ist ein Kampf gegen die an die elementaren biologischen Funktionen geknüpften Instinkte, ein Kampf gegen die Natur, um diese zu beherrschen und den für seine Zeit >gegenwärtigen< Menschen zu schaffen.« (2004, 167 [Gefängnisheft 1, §123]) Demgegenüber stehen aber die in diesem Band dargestellten Befunde über die gesellschaftliche Natur des Menschen (Kap. 8 ), wonach der Mensch >von Natur aus< gar nicht un- oder antigesellschaftlich (allerdings auch nicht »gut«) ist, sondern die in verschiedenen psychischen Dimensionen aufgewiesene Potenz zu individueller Vergesellschaftung besitzt, die sich immer nur in konkreten Gesellschaften realisiert. Wie und in welchen Widersprüchen diese Potenz sich realisiert, ist eine gesellschaftliche Frage; auf welche Widersprüche und Probleme subjektive Verfügungsnotwendigkeiten von Menschen stoßen, ist keine Frage der gesellschaftlichen Natur, sondern der gesellschaftlichen Verhältnisse und der in ihnen sich bewegenden Subjekte. Nun ist natürlich nicht zu leugnen, dass es sog. »schwierige« oder »faule« Kinder gibt, und dass Kinder und Jugendliche Freiheitsvorstellungen haben oder realisieren, die Erzieherinnen problematisieren, dass sie womöglich Gesellschaftsvorstellungen vertreten, die mit »Freiheit« überhaupt wenig zu tun haben. Nur: Wenn den Erzieherinnen bzw. uns die Formen, in denen sich die subjektive Notwendigkeit der Vergesellschaftung von Kindern
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und Jugendlichen realisiert, nicht gefallen, müssen wir uns fragen, was sich Kinder gefallen lassen mussten, dass sie sich in für uns ungefälliger Weise vergesellschaften. Die Formen, unter denen Menschen, Kinder, Jugendliche Verfügung über ihre Lebensumstände zu erreichen versuchen, sind je nach gesellschaftlicher Lage, Situation, Klasse, »Ethnie«, Geschlecht und deren subjektiver Interpretation sehr verschieden. Vergesellschaftungsprobleme von Menschen liegen aber nicht in deren Natur, sondern an unserer Gesellschaft, und sie sind Probleme unterschiedlicher Definitionen und Interessen. Das Problem mit der Freiheit als Erziehungsziellässt sich nun so fassen: Soweit es als Ziel fremdgesetzt ist, ist es mit der subjektiven Notwendigkeit der Verfügung des Kindes über das eigene Leben und dessen Umstände grundsätzlich unvereinbar, da man nicht Selbstbestimmung verfolgen kann, wenn man sie als Ziel anderer verfolgt. 20 Besonders prekär wird diese Situation gerade dann, wenn die Erziehungsanforderung dem Zögling einsichtig ist: Dann nämlich ist für ihn kaum noch entscheidbar, ob er in eigenem Interesse oder sich fügend und sich unterwerfend handelt, woraus eine spezifische Lähmung oder ein spezifischer Widerstand erfolgen können- und zwar als Resultat eben jener Erziehung, die genau dies dann überwinden und brechen zu müssen meint. Gleichwohl bleibt die Frage: Wissen Erzieherinnen bzw. Erwachsene nicht tatsächlich mehr als die Kinder, z.B. auch, was »Freiheit« bedeutet? Das subjektwissenschaftliche Gegenargument ist gerade bei der Freiheitsfrage, ob es nicht gerade die Erziehungsform als spezielle Form der Beziehung ist, die Erwachsene daran hindert, ihr Wissen oder ihre Haltung nutzbringend einbringen können. Dabei sind zwei Aspekte analytisch zu trennen: Bestimmte Lebenserfahrungen, die Erzieherinnen gegenüber Zöglingen geltend machen zu können meinen (Nutzen einer Ausbildung, Sinn eines Auslandsaufenthaltes), und unterschiedliche gesellschaftspolitische Auffassungen, etwa zum Freiheits begriff, aber auch zum Nutzen einer Ausbildung. Die Frage ist nun, ob Erzieherinnen meinen, sie könnten gesellschaftspoliti-
sche Differenzen wie Entwicklungs- oder Reifeunterschiede behandeln. An dieser Fragestellung wird vielleicht besonders deutlich, dass mit der individuellen Entwicklung im Prozesstyp der Unmittelbarkeitsüberschreitung immer weniger eine kategoriale Fassung ontogenetischer Entwicklungswidersprüche möglich ist. Gesellschaftspolitische (und andere) Differenzen als Entwicklungs- und Reifeunterschiede zu fassen, impliziert ja die Vorstellung, Kinder und Jugendlichen hätten bestimmte Dinge nicht >kapiert<. Die Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen der Kinder und Jugendlichen sind 20 Das ist ein Paradoxon- ähnlich wie das kommunikationstheoretische Paradoxon: »Sei spontan<< oder ähnlich der allgegenwärtigen Aufforderung, bitte »wwufgefordert den Ausweis vor[zu]zeigen<<.
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aber immer weniger davon bestimmt, dass sie gesellschaftliche Bedeutungen noch nicht realisieren können, sondern dass sie daran Prämissen akzentuieren, die zu spezifischen Konflikten führen, welche mit konkreten gesellschaftlichen Konstellationen verbunden sind. Die Spezifik dieser Konflikte ergibt sich daraus, dass die Kinder und Jugendlichen an Eigenständigkeit gewinnen, gleichzeitig aber noch in der Grundsituation bestimmter Abhängigkeiten leben. Zu fragen ist insofern, wie man Kinder und Jugendliche fördern, unterstützen, sie kritisieren und mit ihnen zusammenleben kann, ohne in die Erziehungsform des Verhältnisses zwischen Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen zu geraten, und (wie) es möglich ist, interpersonelle Beziehungen zwischen Kindern/Jugendlichen und Erwachsenen zu realisieren, die nicht von Erziehungsförmigkeit bestimmt werden. Unsere bisherigen Darlegungen zu Subjektivität und individueller Entwicklung sind kaum mit der Vorstellung zu vereinbaren, dass Erwachsene/ Erzieherinnen besser wissen, >was für Kinder gut ist< (unabhängig davon, welches umfassendere Weltwissen die Erwachsenen sonst haben mögen). In der Erziehungshaltung, wonach die Erwachsenen besser wissen, was für das Kind gut sei, ist die kindliche Subjektivität in ihrer Eigenheit ausgeklammert. (Der Umstand, dass Erwachsene- etwa in der Sozialarbeit -in die Situation gebracht sein können, für Kinder entscheiden zu müssen, ist eine davon zu trennende Frage.) Wenn Entwicklung die Änderung eines als problematisch empfundenen Zustandes in Richtung auf Verfügungserweiterung ist, müsste es seitens der Erwachsenen/Erzieherinnen darum gehen, dazu beizutragen, gegebene Widersprüche zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit bei Kindern zu klären, mit dem Ziel, den subjektiv notwendig nächsten Schritt des Kindes herauszuarbeiten. Ein naheliegender Einwand ist die Frage, was daraus bei offensichtlicher Selbstschädigung des Kindes folge. Es ist nicht zu bestreiten, dass Erwachsene dann eingreifen müssen. Die Frage ist nur, wer was als Selbstschädigung definiert und diese Definition durchsetzen kann. Natürlich hält man ein Kind fest, das in ein Auto zu laufen droht. Das würde man wohl auch bei einem Erwachsenen machen. Das Definitionsproblem beginnt da, wo die Diagnose der Selbst-
schädigung zwischen der diagnostizierenden Person und der diagnostizierten Person strittig ist. Aus der Außensicht kann man nicht wissen, was der subjektiv notwendige Schritt eines Kindes, allgemeiner eines anderen Menschen, ist: weder, wie sie Freiheit und Verstand gebrauchen wollen, noch welcher ihr emotional subjektiv nächster Schritt ist. Ebenso zentral ist, dass Kinder (oder Erwachsene) sich womöglich selber darüber im Unklaren sind bzw. sich erst darüber klar werden müssen. Das ist kein erziehungsspezifisches Problem; es wird aber in Erziehungsfragen gerne übersehen. Es ist aber eben diese Situation der Unklarheit, in der sozial unterstützte Selbstverständigung subjektiv bedeutsam werden kann, aber durch die Erziehungsform nicht zustande kommt.
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Erziehung und insbesondere Erziehungsziele gehören zur Lebensperspektive der Erzieherin. Dahinter stehen letztlich (von dieser vertretene) Normen und Werte, wie ein Kind zu sein habe. Die Erzieherin hat bei ihrer Erziehung selber ein Interesse daran, mit den Normen, die sie vertritt und denen sie auch selber unterliegt, nicht in Konflikt zu geraten; sie hat ein eigenes Interesse, mit der Produktion eines aus der Außensicht tadellosen Kindes auch ihre eigene Tadellosigkeit, Bedeutung und Leistung (als Erzieherin) zu beweisen. 21 Die Wirksamkeit von Normen impliziert Normalitätsvorstellungen, die in unserem Zusammenhang Vorstellungen darüber enthalten, was eine normale Entwicklung ist; die Operationalisierung dieser Vorstellungen erfolgt z.T. in Messungen der Abweichung von Kindern von Normen und Normalität: zu groß, zu klein, zu spät, zu früh etc. Das mag in Grenzen seine Berechtigung haben. Der zentrale Makel der Frage nach normaler und normierter Entwicklung von Kindern ist die Ausklammerung der Frage nach deren subjektiver Befindlichkeit. Wie sollen derart >ausgeklammerte Subjekte< Erwachsene als Gesprächs- und Bündnispartner akzeptieren? Entsprechend unseren früheren Ausführungen können wir bei der Entwicklungen von Kindern (und anderen Menschen) nicht einfach Geradlinigkeit erwarten. Entwicklungen können durchaus in Form ihres Gegenteils stattfinden. Außerdem kann der Freiheitsdrang von Kindern auch für freiheitsorientierte Erzieherinnen durchaus unangenehm sein. Oscar Wilde hat in seiner Schrift »Der Sozialismus und die Seele des Menschen« geschrieben: »Unbotmäßigkeit ist für jeden, der die Geschichte kennt, die recht eigentliche Tugend des Menschen. Durch die Unbotmäßigkeit ist der Fortschritt gekommen, durch Unbotmäßigkeit und Aufsässigkeit.« (1891, 13) Das ist nicht gerade die Perspektive von Erzieherinnen, zumindest nicht, wenn sie selber Ziel von Unbotmäßigkeit sind. Und es wäre paradox, wenn dies ein Ziel, eine Norm von Erziehertinnein würde. Es kann bei der Unbotmäßigkeit um eine Lernverweigerung gehen, die eine subjektiv notwendige Voraussetzung dafür sein kann, später sich wieder qualifizieren zu können und zu wollen. Es kann sich aber auch um eine aus der Sicht der Erzieherin problematische Freiheitsvorstellung handeln, etwa die der neoliberalen Durchsetzung aller gegen alle. Diese Vorstellung wäre dann aber nicht als Unreife zu analysieren (s.o.), sondern als subjektives Problem, ggf. politische Kontroverse in einer spezifischen Beziehung zwischen Zögling und Erzieherin. In den Lebens-Widersprüchen von Kindern diesen Unterstützung geben 21 Dabei werden eine gewisse Bedenkenlosigkeit, die eigene Perspektive zum Maßstab zu machen, eine gewisse Rücksichtslosigkeit gegenüber kindlichem Eigensinn, erleichtert, wenn die Kindheit nur als Vorphase des eigentlichen Lebens gilt, kindliche Glücks- und Lebensansprüche entsprechend relativiert werden können.
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zu können, eigene Erfahrungen für Kinder tatsächlich nutzbar machen zu können, bedeutet, mit ihnen so zusammenzuleben, dass sie diesen Rat annehmen können. Ein Rat ist vor allem dadurch definiert, dass man ihn ablehnen kann. (Wer Ratschläge erteilt, die man nicht ablehnen kann, sollte gleich Befehle erteilen.) 12.2.6 Erziehung oder solidarisches Zusammenleben?
Der Umgang von Erwachsenen mit Kindern hat also günstigenfalls mit Unterstützung zu tun. Das schon mehrfach erörterte Problem in der kapitalistischen Gesellschaft besteht aber darin, dass es eine widerspruchsfreie Unterstützung zu Selbstbestimmung und Freiheit nicht geben kann, weil ein selbstbestimmtes Leben in einer Welt von Zwängen und Fremdbestimmung gar nicht möglich ist. Jede Hilfe bei der Vorbereitung auf eine selbständige (nicht: selbstbestimmte!) Existenz ist, wie gezeigt, immer auch Vorbereitung auf Verwertbarkeit, auf Anpassung, auf Unterwerfung, die dann möglicherweise als im kindlichen Interesse liegend mystifiziert werden. Wer beispielsweise in der Schule gute Noten erhält, erhält sie auch deswegen, weil er oder sie nicht »täuscht« (bzw. bei Täuschen nicht erwischt wird), indem er oder sie anderen unzulässige Hilfen gibt; in der Schule zurechtzukommen, bedeutet immer auch, in Verhältnissen zurecht zu kommen, die auch durch Selektion bestimmt sind. Wir können den Widersprüchen unserer Gesellschaft nicht einfach und bruchlos eine »fortschrittliche« Intention, Haltung oder Praxis, also auch keine bruchlose Unterstützung von Kindern entgegen setzen. Das wäre die Illusion eines richtigen Lebens im falschen (Adorno 1951, 42). Dies bedeutet aber nicht, dass es überhaupt nichts Richtiges oder Vernünftiges gibt. Fortschrittlichkeit, Vernunft und Humanität können allerdings nur darin bestehen, sich die Widersprüche der Gesellschaft, der eigenen Praxis und der der Kinder bewusst zu machen (und daraus Konsequenzen zu ziehen). Die kritisch-psychologische Kritik an Erziehung bedeutet nicht, Kinder allein zu lassen: »Laissez faire« als Konzept liefert die Kinder nur den Verhältnissen aus, lässt sie mit den Problemen allein. (Dass sie manchmal allein gelassen werden müssen und wollen, ist eine andere Frage). Im Erziehungszusammenhang gilt erneut und besonders: Die Kritische Psychologie will und kann Menschen nicht sagen, wie sie zu sein oder zu leben haben. Freiheit und Emanzipation können nicht als fremdgesetzte Norm oder Normierung gedacht werden. Der Standpunkt der Kritik der Kritischen Psychologie - als marxistischer Subjektwissenschaft -sind nicht perfekte Menschen in beliebigen Verhältnissen, sondern Verhältnisse, in denen der Mensch kein verächtliches Wesen ist, und worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. Sofern diese Perspektive - gedanklich oder real - verallgemeinerbar ist, steht sie auch einer normativen Fassung von Erziehung entgegen. Standpunkt der
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Kritischen Psychologie ist eine spezifische Kritik gesellschaftlicher Verhältnisse, nicht eine Norm für die, die darin leben. Wenn die Perspektive der Veränderung die Perspektive der Veränderung der Gesellschaft ist, dann kann Erziehung nur als von ihrer problematischen Form befreites Moment des Zugangs zur- komplizierter werdenden- Welt gedacht werden. Dagegen verschieben immer wieder neue Erziehungsdebatten auf Erziehung und Erzieher/innen (als delegierte Personalisierung), was eigentlich Problem gesellschaftlicher Widersprüche ist. Die Analyse subjektiver Lebenswidersprüche und subjektiver Notwendigkeiten, wie am Beispiel der Erziehung skizziert, läuft nicht darauf hinaus, Menschen vorzuschreiben, was sie zu tun haben, sondern, dass diese ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen begreifen. Dazu gehört zwar, vorfindliehe Normen auf ihre jeweilige Funktion hin zu untersuchen, nicht aber, Normen zu setzen. Befreiung bedarf keiner geistigmoralischen Führung; sie ersetzt diese in solidarischem Handeln - auch zwischen Erziehertinnein und Zöglingen. Unter dieser Perspektive löst sich Erziehung auf in gemeinsame Lern- und Veränderungsprozesse (vgl. dazu auch meine Auseinandersetzung [2006c] mit Bernhard [2006], der- unter Bezug auf Gramsei-dieNotwendigkeit einer »Formung« von Menschen zu emanzipatorischen Zwecken vertritt). 12.3 Die eigene Kindheit in der Erwachsenenperspektive: Privileg der Psychoanalyse? Gerade an »Erziehung« wird deutlich, dass Kindheit bzw. kindliche Entwicklung nur aus der damit gegebenen Koordination mit Erwachsenen verständlich werden, einer Koordination, in der - in unterschiedlicher Weise - gesellschaftliche Anforderungen und Normen, Ermöglichungen und Behinderungen reproduziert (und ggf. [praktisch] kritisiert) werden. Diese beiden Aspekte, die Kind-Erwachsenen-Koordination und gesellschaftliche Anforderungen/Normen, sind es auch, die den Blick der Psychoanalyse auf die Kindheit und deren Bedeutung für das Erwachsenen-Dasein bestimmen. In psychoanalytischen Grundkonzepten wie dem »ÖdipusKomplex« oder dem »Über- Ich« wird von einer weitgehenden Bestimmung der Probleme von Erwachsenen durch ihre Kindheit(serfahrungen) ausgegangen; entsprechend wird zum Begreifen von psychischen Phänomenen von Erwachsenen der Blick auf die Kindheit und deren Folgen privilegiert (wenn auch nicht verabsolutiert, vgl. Aumann 2003). Folge dieser Privilegierung ist, dass »nicht nur psychische Schwierigkeiten des Erwachsenen als Resultat unverarbeiteter frühkindlicher Konflikte (speziell in der Ödipus-Konstellation) aufgefasst und in dem Sinne als >Fixierungen< an bzw. >Regressionen< auf frühkindliche Phasen bzw. Konfliktsituationen beschrieben wurden, sondern darüber hinaus
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die gesamte Lebensthematik des Erwachsenen überhaupt als immer neue Verkleidung infantiler Konflikte und Wünsche analysiert (und so von Freud programmatisch das Kind als Vater des Erwachsenen bezeichnet) wurde<< (Holzkamp 1983, 499). So sieht Osterkamp (1993) in Margarete Mitscherlichs Erklärung des »Fremdenhasses<< aus einer Projektion frühkindlicher negativer Erfahrungen auf Andere eine Umkehrung am Werk. Sie gibt nämlich zu bedenken, dass »solche Projektionen bzw. Aggressionsverschiebungen nicht eine Reaktion auf in der Vergangenheit erfahrene Zurücksetzung und Ohnmacht sind, sondern vielmehr die Funktion haben, die gegenwärtige Ausgeliefertheit und Bedeutungslosigkeit zu kompensieren<<. Diese Projektion »in umgekehrter Richtung<< könne die Funktion haben, einer kritischen Auseinandersetzung mit den gegenwärtigen Verhältnissen aus dem Wege zu gehen (a.a.O., 19lf). Die Bindung psychischer Probleme Erwachsener an deren Kindheitserfahrungen korrespondiert mit Freuds Annahme eines unüberwindlichen Gegensatzes zwischen menschlicher Triebnatur und versagender Gesellschaft. Die »Unhaltbarkeit« dieser Annahme konnte Holzkamp-Osterkamp - unter Bezug auf die kritisch-psychologische Fassung der gesellschaftlichen Natur des Menschen- zeigen (1976, 196ff; vgl. auch Braun et al. 1985). Auch Lichtman (1990) hat die freudsche Entgegensetzung von Triebnatur und Gesellschaft als »undialektisch<< zurückgewiesen. Trotz dieser grundsätzlichen und radikalen Kritik an der Psychoanalyse charakterisiert Holzkamp Freud als »großen Forscher mit rücksichtslosem Erkenntnisstreben<< und die Psychoanalyse als eine Konzeption, an der »jene grundlegenden Erkenntnisqualitäten herauszuanalysieren [sind], die übrig bleiben, wenn man von ihren offensichtlichen Schwächen absieht<< (1984b, 19; Herv. entf., M.M.). Dabei zeigt er auf, dass die freudschen Konzepte wie »Regression<<,» über- Ich<< und "Ödipus-Komplex« als analytische Mittel in der »Hand der Betroffenen« dazu gedacht sind, die »Oberfläche der eigenen Befindlichkeit auf darin liegende Abhängigkeiten, unverarbeitete Konflikte, Verleugnungen der Zwänge und Beschränkungen der eigenen Lebenslage hin<< analysieren zu können (a.a.O., 27; Herv. entf., M.M.). So sollten mit dem Konzept des »Ödipus-Komplexes<< scheinbar nur individuelle Konflikte als »Erscheinungsweisen der unerbittlichen und unaufhebbaren Unterdrückung subjektiver Befriedigungs- und Erfüllungsmöglichkeiten durch die übermächtige, strafende Autorität« erkennbar werden (a.a.O., 3; Herv. entf., M.M.). Und mit der Kategorie des »Über-Ich<< »sollen dem Individuum die Mittel in die Hand gegeben werden, um seine Tendenzen zur Selbsteinschränkung und Selbstbestrafung als »Verinnerlichungen« objektiver gesellschaftlicher Zwänge und Bedrohungen zu durchdringen, so die wahre, nämlich objektive Ursache seiner subjektiven Beeinträchtigungen zu erfas-
sen, um sie ohne Selbstzerstörerische Ängste und Schuldgefühle verarbeiten zu
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können. Das >Über-Ich<-Konzept hat also die Funktion, die subjektive Oberflächenerscheinung des >Gewissens< mit den damit verbundenen Schulderlebnissen
auf die darin verborgenen gesellschaftlichen Unterdrückungsverhältnisse durchschaubar zu machen.« (Ebd.) Die Grenze dieser Analysen sieht Holzkamp darin, dass das Individuum damit auch fähig werden soll, sich gesellschaftlich einzufinden, »seine infantilen Lebensansprüche aufzugeben und statt dessen als >reife Persönlichkeit< sich mit den beschränkten und verwässerten Erfüllungsmöglichkeiten einzurichten, die unter den Prämissen der unaufhebbaren gesellschaftlichen Repression erreichbar sind<< (ebd.). Diese problematische Verwässerung von Lebensansprüchen wird in »SOzialen<< Erweiterungen von Freuds Modell zum positiven Programm: Hier wurde, wie Adorno (1952) herausarbeitete, der Gegensatz zwischen Triebansprüchen bzw. Glücksansprüchen des Individuums und versagender Gesellschaft, damit die Notwendigkeit der Triebunterdrückung aufgegeben. Adorno kritisierte diese »Aufweichung« der triebtheoretischen Fundierung der Psychoanalyse als deren »Kastrierung<< (a.a.O., 25). Die wissenschaftliche Leistung Freuds bestehe nämlich gerade darin, die Unvereinbarkeit menschlicher Lebens- und Glücksansprüche mit den Reproduktionszwängen (in) der bürgerlichen Gesellschaft gezeigt und auf dieser Unvereinbarkeit bestanden zu haben: »Die Größe Freuds besteht wie die aller radikalen bürgerlichen Denker darin, dass er solche Widersprüche unaufgelöst stehen lässt und es verschmäht, systematische Harmonie zu prätendieren.<< (A.a.O., 40) Vor diesem Hintergrund kritisiert Adorno Ich-psychologische Überlegungen, dem tüchtigen Individuum zu seinem letzten Endes widerspruchseliminierenden Platz in der bürgerlichen Gesellschaft zu verhelfen, als »Revision« der Psychoanalyse, wohingegen Freuds »unversöhnlicher Pessimismus die Wahrheit bezeugt über die Verhältnisse, von denen er nicht spricht« (a.a.O., 36). Adorno sah in diesem Pessimismus Freuds die Wahrheit nicht nur der Verhältnisse, sondern auch der Psychoanalyse auf den Begriff gebracht, weil er mit der Psychoanalyse deren Vorstellung von der a-sozialen menschlichen Triebnatur teilt und (Mitte der 50er Jahres des vorigen Jahrhunderts) Psychoanalyse mit ernst zu nehmender Psychologie überhaupt gleichsetzte, nämlich als »die einzige, die im Ernst den subjektiven Bedingungen der objektiven Irrationalität nachforscht« (1955, 42). Holzkamp teilt - auf der Basis des Konzepts der gesellschaftlichen Natur des Menschen - Adornos Vorstellung der Triebnatur selbstverständlich nicht. Dennoch meint er wie Adorno, dass sich gerade in der »oft bemängelten biologistischen Anthropologisierung der Antagonismen zwischen Triebansprüchen und Gesellschaftlichkeit [... ] die ganze Bedeutung Freuds als großem, unbestechlichen, bürgerlichen Wissenschaftler [manifestiert]« habe. Auch in der Kritik der sozialen Erweiterungen der Psychoanalyse teilt
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Holzkamp Adornos Auffassung, wenn er schreibt, dass ,,allt \e:-s:.:-:..:.: terer Psychoanalytiker zur >Soziologisierung< der Freuesehen .-'..u5'2Ss.::::::;:.~ indem damit die bürgerlichen Klassenwidersprüche in ihrer Schä:;re :::::C:: Unerbittlichkeit weggeleugnet und verkleistert werden, genau besehen Z?ülogetischer Natur sind« (l984b, 36; Herv. entf., M.M.). Wie Adorno und die kritische Theorie thematisiert die Kritische Psychologie - unter Bezug auf marxistisch-gesellschaftstheoretisches Denken- sehr wohl die Verhältnisse, von denen Freud »nicht spricht«. Aber: die Kritische Psychologie führt im Unterschied zu Freud (und - so weit zu - Adorno) die in diesen gesellschaftlichen Verhältnissen bestehenden psychologischen Probleme nicht auf die Unvereinbarkeit der menschlichen Natur mit dieser Gesellschaft zurück, sondern, wie vielfach dargelegt, auf die Widersprüche dieser Gesellschaft selber, in dem sie diese auf damit verbundene widersprüchliche subjektive Funktionalitäten analysiert. Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Beurteilung von Triebtheorie und psychedynamischen Konzepten kommt Holzkamp zu der Auffassung, dass mit der Psychoanalyse einerseits die »Entwicklung einer psychologischen Subjektwissenschaft« begann, >>in welcher die Befindlichkeit, Welt und Selbstsicht des Menschen, sein Leiden, seine Konflikte und Ängste, seine Schuldgefühle, seine Gebrochenheit und Verletzlichkeit [ ... ] in ihrer vollen subjektiven Wirklichkeit zur Grundlage wissenschaftlicher Analysen und Verallgemeinerungen genommen wurden«. Dabei müssten allerdings »von dem neuen kategorialen Niveau, das dabei erreicht ist«, andererseits die inhaltlichen »gravierenden Fehler und Schwächen der Psychoanalyse« unterschieden werden (1984b, 32). Diesen Fehler sieht er u.a. darin, dass Unterdrückung als anthropologische Konstante gesehen wird, und dass, wie oben an der Analyse Osterkamps veranschaulicht, »Konfliktvoraussetzungen grundsätzlich in die eigene Kindheit verlegt« (a.a.O., 33), so dass gesellschaftliche Widersprüche lediglich als »Randbedingungen« der Kindheitskonflikte erscheinen und nicht sinnvoller Gegenstand des kollektiven Bemühens um Veränderung werden, welches tendenziell pathologisiert wird (34f). Das theoretische Dilemma liegt in der Behauptung der un- und antigesellschaftlichen Triebnatur: Unter dieser Voraussetzung bedeutet das Beharren darauf, das Zerschellen von Lebens- und Glücksansprüchen aufzuweisen, gleichzeitig die Unmöglichkeit, Unterdrückung aufzuheben, da diese zur Triebbändigung unverzichtbar ist. Die Kategorien restriktive/verallgemeinerte Handlungsfähigkeit thematisieren- psychologisch- Herrschaftsverhältnisse und deren widersprüchliche Nahelegungen, ohne auf einen - einfach gesetzten - a-sozialen Naturbegriff zurückgreifen zu müssen. Wie oben gesagt, ist »der« Mensch von Natur nicht triebhaft >asozial< oder >schlecht< (und auch nicht >prosozial gut<): Wie sich seine Potenz zur individuellen Vergesellschaftung
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realisiert, hängt nicht vom Ausmaß der Bändigung seiner Triebe, seinem »Triebschicksal« ab, sondern vom, wenn man so will, >Schicksal< seiner subjektiven Verfügungsnotwendigkeiten und Bedürftigkeiten unter konkret-historischen Bedingungen, also davon, wie er diese zu seinen Prämissen macht. So hat Aumann (2003) im Zuge ihrer Untersuchung des freudschen Umgangs mit Geschlechterverhältnissen, die eben nicht auf »Sexualität<< zu reduzieren seien, an Fallanalysen Freuds gezeigt, wie sich die sexuell konnotierten »Symptome<< von Frauen auf Prämissen-Gründe-Zusammenhänge im Zusammenhang von struktureller und biographisch (immer wieder) erfahrener Gewalt bzw. Behinderung von Lebensansprüchen hin explizieren und reinterpretieren lassen. Mit dem »Schicksal« subjektiver Verfügungsnotwendigkeiten und Bedürftigkeiten sind wir wieder beim Ausgangsgedanken dieses Teilkapitels: Die Reproduktion gesellschaftlicher Verhältnisse in der Kind-ErwachsenenKoordination und die Bedeutung der eigenen Kindheit für die Erwachsenen. (Wie) kann diese Bedeutung - noch auf kategorialer Ebene - subjektwissenschaftlich gefasst werden, wenn man nicht von den das weitere Leben determinierenden Folgen der Bändigung einer a-sozial ungesellschaftlichen Natur ausgehen will - aber auch nicht die in diesem Kapitel geschilderte Besonderheit der Kind-Erwachsenen-Koordination außer Acht lassen will? Holzkamp (1983, 498ff; vgl. auch Holzkamp-Osterkamp 1976, 326ff) rekurrierte zur Beantwortung dieser Frage auf die in diesem Kapitel geschilderten Prozessniveaus der Entwicklung vor der Unmittelbarkeitsüberschreitung: Die entwicklungslogisch unentrinnbare Unmittelbarkeitsverhaftetheit bedeutet ja, wie geschildert, dass dem Kind nur unmittelbarkeitsfixierte, instrumentelle Beziehungen bzw. »deutende<< Interpretationen möglich sind, soweit es den übergreifenden Zusammenhang, in den die Kind-Erwachsenen-Koordination eingebettet ist, noch nicht durchschauen kann. Die »doppelte Möglichkeit<< steht ihm weder kognitiv noch real zur Verfügung. Im Hinblick auf die Bedeutung der eigenen Kindheit für die Erwachsenen kann Holzkamp deswegen auf seine oben wiedergegebene Hypothese (1983, 467) zurückkommen, dass individualgeschichtlich dem »Arrangement mit den Herrschenden ein ontogenetisches Prä« zukomme, mit der Folge, dass widerständiges Handeln immer wieder (auch) gegen dieses biographisch überkomme »Prä<< durchzusetzen sei. Die Ausblendung der doppelten Möglichkeit, die die restriktive Unmittelbarkeitsverhaftetheit kennzeichnet, ist zwar beim Erwachsenen, auch wenn sie subjektiv funktional ist, nicht mehr alternativlos - wie es beim Kind vor der Unmittelbarkeitsüberschreitung der Fall ist. Sofern aber der Erwachsene sich dem »ontogenetischen Prä<< überlässt, agiert und denkt er so,
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»als ob die kindlichen Erfahrungs- und Bewältigungsweisen Yor dem -~- wicklungszug der Unmittelbarkeitsüberschreitung auch heute noch, für Ce':: Erwachsenen, die einzig mögliche, daher unhinterfragbar >natürliche< Form ,iz:Welt und Selbstbegegnung wären. [... ) Der Umstand, dass der Erwachsene mi: seiner >restriktiven< Unmittelbarkeitsverhaftetheit nicht >als Kind<, sondern lediglich in gewissem Sinne >wie ein Kind< handelt, wäre so nicht reflektierbar und die restriktiv-deutende Welt und Selbstsicht gewönne so an Glätte und Festigkeit selbstverständlicher Funktionalität. « (A.a. 0., 501)
Dies bedeutet, dass, das »Naheliegende« mehr oder weniger fraglos hinzunehmen, »auch eine ontogenetisch-biographische Dimension haben kann« (ebd.), die selber eine potenziell relevante Prämisse eigenen Denkens und Handeins ist, und die die Realisierung der doppelten Möglichkeit erschwert. Anders formuliert: Restriktive Bewältigungsweisen, sofern sie Erwachsenen zum bewussten Problem werden, wären ggf. von ihnen auch daraufhin zu analysieren, inwieweit sie »regressiv« sind, kindliche Er- und Verfahrensweisen reproduzieren. Wie dies geschieht, wäre wieder eine Frage einzeltheoretischer bzw. aktual-empirischer Forschung, etwa zur Re-Aktualisierung spezifischer Kränkungen und entsprechender personalisierender Reaktionen etc. (Wie in biographischen Bezügen Menschen höchst problematisch vorgeführt werden, hat Weber [2008] an Hellingers Familienaufstellung untersucht.) Mit diesen Überlegungen hat Holzkamp seine Darlegungen zur individuellen Geschichtlichkeit des Subjekts (1983, 336ff; vgl. hier Kap. 9.7.2) im Hinblick auf den Sog der Unmittelbarkeitsfixiertheit biographisch konkretisiert. Dabei hat er zwischen »Phänomenal-« und »Realbiographie« (ebd.) unterschieden: Phänomenalbiographie meint die subjektive, sich verändernde Sicht auf die eigene Biographie, Realbiographie meint deren realen Verlauf. Diese Unterscheidung verweist auf die Aufgabe, das Verhältnis von Real- und Phänomenalbiographie selber zum Gegenstand zu machen. Dabei ist zu beachten, dass >>das Verhältnis Real-/Phänomenalbiographieselbst in die je eigene Phänomenalbiographie einbezogen ist, also seinerseits wieder von dem tatsächlichen Verhältnis Phänomenai-Realbiographie mit umfasst ist: Meine Sichtweise auf frühere Diskrepanzen zwischen realen und von mir gesehenen Möglichkeiten ist ja hier wiederum die phänomenale Seite der wirklichen Diskrepanzen, wie sie außerhalb des Bezugssystems meiner Befindlichkeit einschließlich ihrer phänomenalbiographischen Dimension feststellbar sind (so kann meine Einschätzung, ich hätte damals meine Fähigkeiten unterschätzt usw., ja selbst wieder falsch sein). (Den damit angestoßenen erkenntnistheoretischen Regress will ich- da subjektwissenschaftlich irrelevant- hier nicht näher diskutieren.)« (A.a.O., 337) Subjektwissenschaftlich relevant dagegen ist der Versuch, die Realität der eigenen Kindheit nicht in je aktuellen Deutungen zu vergraben, sondern für Realität der eigenen Kindheit und damit auch für die daran beteiligten
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»Anderen« und deren Sichtweise offen zu sein; dies macht ggf. die Nutzung anderer Quellen als derjenigen der eigenen Erinnerung- als mögliches Korrektiv gegenüber aktuell selbstwertdienlichen Deutungen- erforderlich. Die Brisanz des Blicks auf die eigene Kindheit zeigt sich bei der (Bedeutung der) Rekonstruktion sexuellen Missbrauchs in der eigenen Kindheit (vgl. dazu die Kontroverse innerhalb der Kritischen Psychologie im »Forum Kritische Psychologie<< (Hefte 33 und 37); exemplarisch: Holzkamp 1994a; Haug 1994; Kaindll997; Markard 1997a; Osterkamp 1997; Ulmann 1997; Wulff 1997).
Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, was Holzkamp damit meint, dass Selbstklärung immer auch die biographische Dimension hat, zur eigenen Kindheit ein bewusstes Verhältnis zu gewinnen - »aus wirklichem Wissen über die qualitative Eigenart und die Bedingungen kindlicher Erfahrungsweisen, Verletzlichkeiten und Abwehrformen auf den verschiedenen Prozessniveaus meiner eigenen Ontogenese« und zur Erreichung von Verhältnissen, »unter denen die >restriktive< Alternative der Bedrohungsüberwindung, also auch deren Variante defensiver Kindlichkeit, nicht mehr subjektiv begründbar/funktional ist<< (a.a.O., 506). Dass dies auch zur Klärung des Verhältnisses zu den Kindern dient, mit denen jetzt Erwachsene zusammen leben, und damit der Selbstreflexion von Erziehenden dient, muss wohl nicht weiter begründet werden. 12.4 Lernen als Aspekt restriktiver vs. verallgemeinerter Handlungsfähigkeit
12.4.1 »Lebenslanges Lernen<< als Menschenmöglichkeit und in neoliberaler Besetzung Bei der Darstellung einer subjektwissenschaftlichen Konzeption von »Lernen<< stellen sich vorab zwei Probleme: Erstens: Viele Aspekte der in diesem Kapitel dargelegten Prozesse in der ontogenetischen Entwicklung wären ohne Weiteres mit »Lernen« zu umschreiben, nicht selten habe ich die Vokabel »Lernen<< ja auch verwendet. »Entwicklung« wurde hier allgemein als die Änderung eines als problematisch empfundenen Zustandes in Richtung auf Verfügungserweiterung gefasst; die Lösung von Entwicklungswidersprüchen wurde gefasst als ein qualitativ neues Niveau der Verfügungsmöglichkeiten. Wie ist demgegenüber dann »Lernen« zu fassen? Nicht jedes Lernen wird man als Entwicklung charakterisieren, eine Entwicklung ohne Lernen ist allerdings auch ausgeschlossen. Lernen ist insofern der weitere Begriff; es wird also darum gehen müssen, wie er zu spezifizieren ist. Zweitens: »Lernen« (wie auch Entwicklung) als bloß für einen ontogenetischen Abschnitt charakteristisch anzusehen, ginge völlig an der Spezifik menschlicher Existenz vorbei, welche ja auf unbegrenzter
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Lern- und Entwicklungsfahigkeit basiert, die lebenslang und nicht auf eine Kindheits- und Jugendphase beschränkt ist. Wenn heute von »lebenslangem Lernen« als neuer (neoliberaler) Anforderung die Rede ist (vgl. Bürgin 2006; Kaindl 2006), ist dabei allerdings nicht die allgemeine menschliche Möglichkeit, ein Leben lang zu lernen, gemeint, sondern eine spezifische, mit der hochtechnologischen Produktionsweise vermittelte Anforderung: permanent die eigene Verwertbarkeit (»employability«) wandelnden Anforderungen anzupassen. »Wir müssen bereit sein, lebenslang zu lernen und bereits Gelerntes wieder zu verwerfen. Wir müssen all das nicht nur einfach tun, sondern unser Lernen auch erfolgreich selbst steuern, was nebenbei mit zu lernen ist. Wir sind dafür voll verantwortlich, auch in finanzieller Hinsicht. Deshalb ist es auch kein Widerspruch, dass parallel zur Ausrufung des >Lebenslangen Lernens< flächendeckend die öffentliche Förderung für Erwachsenenbildung reduziert wird. Mit der Einführung von Studiengebühren lernen schon Schulabgänger/innen, ihr Wissen als Kapital zu verstehen: Denn wenn ich meinen Studienkredit jemals wieder abbezahlen will, dann muss sich meine Bildungs-Investition lohnen.« (Bürgin, a.a.O., 36f) In diesem Konzept des »lebenslangen Lernens« kommt also »die Anforderung einer verallgemeinerten Lernhaltung auf den Begriff« (Kaindl 2006, 88), und zwar mit dem Ziel der »Optimierung lebenslanger Wettbewerbsfähigkeit« der Einzelnen (Bultmann & Schöller, 2003, 347, zit. nach Kaindl, ebd.). Mit der gattungsallgemeinen Möglichkeit lebenslangen Lernens und dessen neoliberaler Besetzung als einer konkurrenzbestimmten Anforderung (die gleichzeitig Entwicklungspotenzen wie deren verwertungsbestimmte Formierung enthält) tritt uns erneut- hier eben im Feld des Lernens- das Verhältnis von allgemeinen Bestimmungen des Psychischen und dessen Formbestimmtheit entgegen. Wenn Holzkamp (1993, 1996b) seine Konzeption des Lernens vom Standpunkt des Subjekts bzw. im Begründungsdiskurs vorlegt, muss damit eben auch diese Widersprüchlichkeit fassbar werden. Dass lebenslanges Lernen gattungsallgemeine Möglichkeit ist, kann nach den historisch-empirischen Rekonstruktionen der menschlichen Psyche kategorial vorausgesetzt werden. Ebenso ist mit der zentralen Kategorie der Handlungsfähigkeit auch Lernen »irgendwie« als deren Aspekt zu fassen. Wie eng aber hängt Lernen mit Lehren zusammen? Ulrike Bebrens berichtet von einer Interviewstudie von Asselmeyer aus dem Jahre 1996 (Behrens 2005, 9), wonach Lernen »auch bei Teilnehmertinnein an freiwilligen Lernarrangements (hier: der Abendoberschule) ausschließlich als schulische Aktivität- als> lehrerabhängiges Erledigungslernen< verstanden« wird. Dies kann so weit gehen, dass »wie durch einen Übersetzungsfehler das Wort >Lernen< als >Schule< missverstanden« wird (ebd., 10; vgl. dazu ausführli-
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eher auch die empirische Untersuchung von Bebrens zur subjektiven Konstruktion und Bedeutung des Lernens [2002]). In diesen Fällen wird also Lernen, wenn nicht mit Belehrtwerden identifiziert, so doch als sehr eng mit Lehren verbunden gesehen. 12.4.2 Subjektive Lernproblematiken, «Lehr-Lernen« und »expansiv« vs. »defensiv« begründetes Lernen
Holzkamp geht allerdings davon aus, dass - kategorial gesehen - Lehren einen Spezialfall beim Lernen darstellt: Ihm geht es dagegen darum, >»Lernen< als Aktivität des Lernsubjekts so zu konzeptualisieren, dass dabei >Lehren< im weitesten Sinne als Spezialfall fremdgesetzter Lernbedingungen, nicht als wesentliche Bestimmung des Lernprozesses eingeführt werden muss« (1996b, 122). Lernen als Aspekt von Handlungsfähigkeit ist ja nicht nur in (institutionalisierten) Lehr-Lern-Verhältnissen denkbar; diese stellen vielmehr ein spezielles Arrangement dar, das seiner Häufigkeit und biographischen Relevanz wegen im Vordergrund des Alltagsbewusstseins stehen mag, gleichwohl mit einer allgemeinen begrifflichen Bestimmung von Lernen nicht verwechselt werden darf. Dass es zu einer Gleichsetzung oder konzeptionell engen Verbindung von Lehren und Lernen kommt, wird auch dadurch unterstützt, dass die experimentell verfahrende, »lerntheoretische« Fassung von Lernen dieses nur in fremdgesetzten, dem Lehren strukturähnlichen Arrangements mit von anderen gesetzten Lernzielen (die in Wirklichkeit Lehrziele sind), untersucht. Danach ist das »Subjekt als Ursprung von Handlungen, damit auch als Ursprung seiner eigenen Lernaktivitäten, [ ... ] in diesem theoretischen Rahmen unvorstellbar« (Holzkamp 1993, 117). Ich hatte in anderen Darstellungskontexten am Zusammenhang von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz gezeigt, dass in lerntheoretisch-experimentellen Anordnungen Prämissen reduziert und manipuliert werden und damit auch Handlungen (Reaktionen) manipuliert werden sollen (vgl. Holzkamp a.a.O., 67). Aber auch da, wo die Lerntheorie kognitiv erweitert wurde durch Konzepte wie »Erwartung«, »Modell-Lernen« oder »Selbst«, ist in den entsprechenden Anordnungen die »Welt« auf »Folgen isolierter Gegebenheitszufälle (>Umweltkontingenzen<) reduziert«, und die (Versuchs-Person ist auf »induktives« Lernen (Verallgemeinerungen aus unmittelbaren Erfahrungen) zurückgeworfen -jenseits einer Einsicht in sachlich-soziale Bedeutungen und deren Logik (a.a.O., 58ff, 113ff). In den kognitiven Erweiterungen der Lerntheorie wird, so Holzkamp, die »Mächtigkeit des Subjekts als Ursprung seiner eigenen Handlungen [ ... ] zurückgestutzt auf die subjektive Veränderbarkeit von Erwartungen hinsichtlich seiner Mächtigkeit« (a.a.O., 116). Auch in der Handlungsstrukturtheorie sieht Holzkamp ein Arrangement, in dem die »vom Subjekt gesetzten >Lernziele<« letztlich »subjektiv übernommene fremdgesetzte Lernziele« seien, bei denen nicht
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systematisch gefragt werde, welche Gründe das Subjekt habe, diese (in einer bestimmten Handlungsanordnung >logischen<) Ziele zu übernehmen (1996b. 123; vgl. auch Holzkamp 1993, Kap. 2.4). Es sind derartige Anordnungen und Vorstellungen, gegenüber denen Holzkamp seine allgemeinere Konzeption entwickeln will. Dazu geht er, wie gesagt, davon aus, dass Lernen ein allgemeiner Aspekt (bzw. unter bestimmten Umständen eine Komplizierung) des Handelns, besser: der »fortlaufenden Aktivitäten« ist (»ongoing activities«[ Lave], Holzkamp l996b, 123). Dabei ist nun die Unterscheidung inzidentellem von intentionalem Lernen wichtig. Inzidentelles Lernen oder »latentes« Lernen wurde von Edward Chase Tolman konzipiert, der sich empirisch auf (Tier-)Experimente folgenden Typs bezog: Ratten der »Experimentalgruppe« werden in ein Labyrinth gesetzt, in dem sie sich eine Zeitlang bewegen. In einer zweiten Phase werden dieselben Tiere in das Labyrinth gesetzt, in das nun Futterstellen eingebaut sind. Die »Kontrollgruppe« besteht aus Ratten, die nur an der zweiten Phase teilnehmen: Das Ergebnis ist, dass Ratten der Experimentalgruppen das Futter schneller finden. Dies interpretierte Tolman so, dass die Tiere auch ohne Verstärkung inzidentell oder eben latent lernten (vgl. hierzu Holzkamp 1993, 70f).
Holzkamp fasst das inzidentelle Lernen als »Mitlernen« (a.a.O., l82f) und bezieht es darauf, dass die Menschen in ihren fortlaufenden Aktivitäten »stets irgendwie an der Erhaltung oder Erweiterung der Verfügung über die eigenen Lebensverhältnisse, damit der subjektiven Lebensqualität, als emotional-motivationaler Grunddimension, interessiert sind« (Holzkamp l996b, 124). Lernen i.e.S. ist das intentionale Lernen, das im Zuge der fortlaufenden Aktivitäten dann bedeutsam wird, wenn Routinen nicht (mehr) klappen, die Individuen mit ihren mehr oder weniger selbstverständlichen Aktivitäten auf Grenzen und Widerstände stoßen. Sie sehen sich dann vor einer »typischen« bzw. »subjektiven Handlungsproblematik« oder »subjektiven Lernproblematik« (ebd.). Diese kann entweder bedeuten, dass eine angezielte Erweiterung ihrer Möglichkeiten auf Hindernisse stößt oder dass auch das gegebene Niveau der Verfügung bedroht ist. Seine diesbezüglichen überlegungen (1993, l83ff) fasst Holzkamp unter der generellen Voraussetzung, dass die subjektive Notwendigkeit der Oberwindung der Handlungsproblematik »aus dem emotional-motivational fundierten Interesse an Weltverfügung/Lebensqualität begründet« ist, so zusammen: »Beim Versuch der Überwindung einer Handlungsproblematik werde ich zunächst die mir aktuell zur Verfügung stehenden Mittel aktivieren und optimieren, etwa meine Anstrengungen erhöhen, den Einsatz meiner personalen Handlungsvoraussetzungen reorganisieren, Hilfsmittel verschiedener Art- einschließlich der Hilfe durch andere Menschen - heranziehen. Nun kann es aber
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sein (und ist unter unseren komplizierten gesellschaftlichen Lebensbedingungen häufig zu erwarten), dass meine gegebenen Möglichkeiten zur Oberwindung einer Handlungsproblematik nicht ausreichen. Es genügt nicht, wenn ich meine jetzigen subjektiven Potenzen stärker aktiviere, reorganisiere, mit Hilfsmitteln unterstütze, auch deren beiläufige Verbesserung durch bloßes >Mitlernen< genügt nicht mehr, sondern ich muss- um die Handlungsproblematik bewältigen zu können - erst meine eigenen personalen Handlungsvoraussetzungen selbst verbessern - und dies kann nicht anders geschehen als durch systematisches, intentionales Lernen. In derartigen Konstellationen habe ich also in meinem eigenen Interesse gute Gründe, eine subjektive Handlungsproblematik (vorübergehend) als »subjektive Lemproblematik<< zu spezifizieren. Dazu setze ich meine direkten Anstrengungen zur Überwindung der Handlungsproblematik aus und lege durch die Umdefinition der Handlungs- in eine Lernproblematik sozusagen eine >Lernschleife< ein, gehe einen notwendigen Umweg, um bei mir die Voraussetzungen für die Bewältigung der ursprünglichen Handlungsproblematik zu verbessern. Die jeweilige Bedeutungskonstellation als Inbegriff von Handlungsmöglichkeiten zur Erweiterung der Weltverfügung wird auf diese Weise zum >Lerngegenstand< als Inbegriff von Lernmöglichkeiten zur Erweiterung des Weltaufschlusses, über den ich erst meine Weltverfügung erweitern kann. In dem Grade, wie ich durch Lernen meine personalen Handlungsvoraussetzungen verbessert habe, geht die >Lernschleife< ihrem Ende zu und mündet wiederum in Anstrengungen zur direkten Bewältigung der Handlungsproblematik bzw. in die Rückkehr zur >fortlaufenden Aktivität<.« (1996b, 124f; vgl. auch 1993, 190ff) Die Unterscheidung, dass man sich in der Lage sieht, entweder bloß Bedrohungen abwehren zu können, oder bedrohliche Bedingungen selber zu verändern, ist aus der »doppelten Möglichkeit« bzw. dem Begriffspaar »restriktive<»verallgemeinerte Handlungsfähigkeit« bekannt. Auf diese Konstellation muss nun auch Lernen - eben als Aspekt von Handlungsfähigkeit- bezogen werden: »Das Lernen kann hier sowohl aus der Verfügungserweiterung über das Eindringen in den Lerngegenstand als auch aus der Bedrohtheit der bestehenden Handlungsfähigkeit begründet sein. Im zweiten Falle ist das Lernhandeln nur so weit und in der Art subjektiv »vernünftig<<, wie es zur Bedrohungsabwehr unerlässlich ist- ist also in diesem Sinne »erzwungen<< und wird in dem Maße, wie der Lernzwang umgangen werden kann, überflüssig, tendiert also dazu, zugunsten direkter Bewältigungshandlungen aufgegeben zu werden. Ich habe diese Alternative mit dem [... ] Begriffspaar »expansives Lernen<<- »defensives Lernen<< umschrieben.<< (A.a.O., 125; Herv. von mir, M.M.) Wesentlich dabei ist, dass- entgegen Frigga Haugs Vorwurf (2003, 26), Gefühle spielten in Holzkamps Lernkonzeption keine Rolle - damit Lernen mit Lebensinteressen und mit der »emotional-motivationalen Qualität von Handlungsbegründungen<< vermittelt ist. Daraus ergibt sich, dass die Explikation des inhaltlichen Aspektes des Lernen »gleichbedeutend mit der Expli-
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kationdes emotional-motivationalen Lernaspekts« ist (Holzkamp 1993, 189; Herv. von mir, M.M.). Denn der Bezug von Lernen auf die Erhaltung oder Erweiterung der Verfügung über die eigenen Lebensverhältnisse bedeutet auch den Bezug des Lernens auf die eigene Lebensqualität, deren Bewertung ohne »Gefühle« nicht zu denken ist. Ist nun »expansiv begründetes« Lernen mit »intrinsischer« Motivation beim Lernen verwandt? Das Konzept des intrinsischen Lernens resultiert aus der Beobachtung, dass Verstärker oder Belohnungen nur dann wirksam sind, wenn die betreffende Aktivität selber nicht schon interessant und insofern für sich selber belohnend ist: Ein Kind, das mit Feuereifer ein Modellschiff zusammenbaut, bedarf zur Belohnung keiner Packung Gummibärchen, wenn es fertig ist. Eher im Gegenteil. Es würde sich fragen: >Wofür eigentlich, ich hatte doch Spaß!< Das Beispiel zeigt aber auch die Begrenzung dieser Konzeption, in der nämlich die Frage nach der Sache um die es geht, reduziert ist auf Aspekte der Tätigkeit selber: So ist es eben für manche Erwachsene interessant, aus kleinen Plastikteilen Schiffe zusammenzusetzen. Der Geltungsbereich intrinsischer Motivation beschränkt sich auf derartige quasi selbst-befriedigende Aktivitäten. Expansiv begründetes Lernen meint aber nicht in diesem Sinne Lernen um des Lernens/ Agierens willen; vielmehr geht es bei expansiv begründetem Lernen um den (subjektiv erfahrenen) und bei intrinsischem Lernen gerade nicht thematisierten >>Zusammenhang zwischen lernendem Weltaufschluss, Verfügungserweiterung und erhöhter Lebensqualität<< (a.a.O., 190, im Original herv., M.M.; zur Auseinandersetzung mit dem Konzept der intrinsischen Motivation vgl. a.a.O., 72f und 19lf). In expansiv begründetem Lernen ist >>lnteressantheit<< des Lerngegenstandes aufgehoben, es geht darin aber nicht auf; im Gegenteil, es ist gut vorstellbar, dass Lernen, um der Verfügungserweiterung willen, auch >uninteressante< Aspekte enthält. Wie die kritisch-psychologischen Begriffe generell, ist auch das Begriffspaar »expansives<»defensives Lernen« nicht zu Klassifikation von Verhaltensweisen oder Menschen gedacht (und auch dazu nicht geeignet), sondern zur Analyse von entsprechenden Konstellationen, Bedeutungsanordnungen und subjektiven Funktionalitäten. »Subjektive Lernproblematik«, »Lernschleife<<, »expansives Lernen<< vs. »defensives Lernen<< sind grundlegende Begriffe Holzkamps zur kategorialen Fassung des Lernens, mit denen er meint, >>Lernen vom verallgemeinerten Standpunkt des Lernsubjekts, ohne Rückgriff auf Lehrlernverhältnisse oder generell fremdgesetzte Lernbedingungen, begrifflich aufschließbar zu machen<< (a.a.O., 126). Damit ist auch die abstrakte Frage, ob Menschen lernen >wollen< oder nicht, in die konkrete Frage nach den Prämissen, unter denen sich Menschen in subjektiven Lernproblematiken sehen, aufgelöst. Es ist eine Fassung von Lernen, >>die die institutionelle Verfasstheit von Lernen, herrschaftliche Zumutung, emanzipative Unterstützung, Lehren und Lernen zunächst begrifflich getrennt fassbar macht, um dann die Verhältnisse untersuchen zu können, in denen die Aspekte immer wieder ineinander
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verkantet auftreten« (Kaindl 2005, 27). >Lerngegenstände< - das ist alles, was es zu wissen, können und zu genießen gibt. Wie deutlich werden sollte, basiert Holzkamps 1993 umfassend dargestellte Konzeption des Lernens auf den kategorialen Grundlagen der Kritischen Psychologie als Subjektwissenschaft und der Reinterpretation vorfindlieber Theorien des Lernens, deren Differenziertheit hier nicht nachvollzogen werden soll, und die aus Holzkamps Buch über Lernen auch ein Lehrbuch über Lerntheorien macht: In dieser Verbindung ist es in der Realisierung des Erkenntnisprinzips der Einheit von Kritik und Weiterentwicklung (»Reinterpretation«) auch ein Lehrstück über »Theorienbildung«. So widmet Holzkamp auf der Basis der skizzierten Grundkonzepte einer Reihe weiterer Fragestellungen und Probleme ausführliche Überlegungen: dem Verhältnis von schon Gewusstern und zu Lernendem, unterschiedlichen Arten und Weisen, sich Lerngegenständen zu nähern bzw. an ihnen Dimensionen zu akzentuieren, biographischen (positiven und negativen) Erfahrungen mit Lernen etc., die eher den Charakter von theoretischen Hypothesen (auf der Grundlage eben der kategorialen Bestimmungen von Lernen als Aspekt von Handlungsfähigkeit) gewinnen. 12.4.3 Bedeutungsanalyse konkreter Lernverhältnisse
Schließlich hat Holzkamp auf der Basis seiner kategorialen Konzeption von Lernen eine »konzeptuelle AufschlüsseJung historisch bestimmter institutioneller Lernverhältnisse« (1993, Überschrift des 4. Kapitels, 339-563), d.h. der Schule, vorgenommen, und zwar so, dass die Schule~ bedeutungsanalytisch-als »konkrete Lernumwelt der Schüler/innen fassbar« werden sollte (l996b, 126), wobei er sich wesentlich auf Foucaults Analyse der Schule als Disziplinaranlage stützte (1993, 34lff) und diese auf das Berliner Schulgesetz bzw. die Dokumentation »Berliner Recht für Schule und Lehrer« von 1990 bezog (vgl. Holzkamp 1993, 360 und 360ff): wichtige Aspekte dabei sind Rangbildung und Notengebung, Produktion von Leistungsnormalverteilungen, Zeitökonomie, Überwachung etc. Dass sein Bezug auf Foucault eine- in der »Wendezeit« ja durchaus nahegelegte- Abwendung vom »Marxismus« sei, hat Holzkamp dezidiert zurückgewiesen: »Also, bitte schön, nichts von Aufgabe, oder auch nur Relativierung unserer marxistischen Grundorientierung!<< ( 1996b, 127) Foucaults Konzept der Disziplinaranlagen stehe nicht in Konkurrenz zur marxschen Analyse der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft, sondern arbeite »lediglich bestimmte Mechanismen heraus, mit denen der Widerspruch zwischen formellen bürgerlichen Freiheiten und Klassenantagonismus verschleiert wird, indem die rechtsförmigen Gleichheitsgarantien durch die Disziplinen, in denen scheinbar nur das Recht durchgesetzt werden soll, tatsächlich >unter der Hand< wieder zurückgenommen werden« (a.a.O., 128, vgl. auch 1993, 350). Insofern wundert es nicht, dass die Analyse der Notengebung,
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wie sie Holzkamp 1973 (259) analysierte (»Die Notengebung repräsentiert den kapitalistischen Verwertungsstandpunkt in der Schule«), im Resultat der Analyse von 1993 ähnelt: »Durchsetzung bürgerlicher Klassenherrschaft« (1993, 383). Es gibt aber auch Akzentverschiebungen, wie Kaindl (2006) sie herausgearbeitet hat: Der foucaultsche Blick der Disziplinartechniken richte sich auf die Organisation von Unterricht und Lernprozessen, er rücke aber die »Frage des Zusammenhangs von Produktionsweise und Lernorganisation gerade nicht in den Mittelpunkt« (a.a.O., 83, im Original herv., M.M.). Holzkamp knüpfe »nicht an (auch gewerkschaftliche) Diskussionen wie den >Taylorismus in der Schule< an, die in Sinnliche Erkenntnis [ Holzkamp 1973, M.M.] noch eine Rolle spielten; d.h., die Frage, wie sich ein historisch konkretes Verwertungsinteresse in der Schule durchsetzt, wird nicht diskutiert. Damit kann nicht gefragt werden, inwieweit die Disziplinartechniken der Schul- und Unterrichtsorganisation selber Formen eines Taylorismus in der Schule sind und Impulse der fordistischen Produktionsweise in Schulpraxen übersetzen.<< Ob »die Vorstellungen, die sich im Schulgesetz materialisieren und die foucaultschen Begriffe gemeinsam mit dem Umbruch der Produktionsweise veralten, zumindest vom zentralen analytischen Stellenwert an den Rand gedrängt werden, kann so nicht beantwortet werden. Dennoch kann gesagt werden, dass die Einbeziehung institutioneller und gesellschaftlicher Bedeutungsaspekte die Frage nach deren Veralten überhaupt erst möglich macht. Ein Hinweis ist der Umstand, dass im Rahmen neoliberaler >Reformkonzepte< gerade die >disziplinären< Momente der Schulorganisation und die damit verbundenen Vorstellungen kritisiert und transformiert werden.<< (Kaindl, a.a.O., 83; vgl. dazu auch unsere Überlegungen zum lebenslangen Lernen zu Beginn dieses Teilkapitels)
Insofern stellt sich die - selbstverständliche - Aufgabe, die betreffenden Bedeutungsanalysen der Schule immer wieder zu aktualisieren bzw. weiter theoretisch zu diskutieren. Kaindlleistet dazu in ihrem Aufsatz von 2006 in der Aufarbeitung aktueller Konzepte einen Beitrag, den sie zu Holzkamps Analysen ins Verhältnis setzt. Dies soll hier nicht weiter verfolgt werden. Nur: Durch die strittigen Fragen der Bedeutungsanalyse der Institution »Schule« sind die holzkampseben kategorialen Bestimmungen des Lernens als Entfaltungen eines Aspektes des Psychischen bzw. von Handlungsfahigkeit in ihrer Relevanz nicht berührt. Die kategorialen Bestimmungen des Psychischen sind zwar auch »historisch« (historisch-empirisch gewonnen), aber eben von anderer historischer Größenordnung als die Schule und deren jeweilige Organisation. Mit dieser unterschiedlichen historischen Größenordnung ergibt sich ja auch der oben angeführte Sinn der analytischen Trennung von »Lernen« und seiner gesellschaftlichen Organisation.
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Einführung in die Kritische Psychologie
12.4.4 Zur Bedeutung des Lehrens
Eine Kritik der kategorialen Bestimmungen des Lernens muss demgemäß auf anderer Ebene erfolgen als eine Kritik der Bedeutungsanalyse der Schule. Hierbei sind vor allem zwei Aspekte diskutiert worden: ( 1) Bedeutet Holzkamps Bestimmung desLernenseine Abwertung des Lehrens? (2) Ist Holzkamps Lernsubjekt ein isoliertes Individuum? Diese beiden Fragen sollen abschließend in den beiden folgenden Teilkapiteln kurz behandelt werden, weil sich in der Auseinandersetzung um diese Frage Holzkamps Auffassung präzisieren lässt. Frigga Haug (2003, 42) konstatiert bei Holzkamp wegen dessen »pejorativen« (abwertenden, M.M.) Begriffs des LehrJemens ein generell negatives Verhältnis zum Lehren. Schon 10 Jahre früher, im Erscheinungsjahr von Holzkamps Buch über Lernen, hatte A. Platthaus in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vom 2.11.1993 Holzkamp unterstellt, bei ihm sei »Belehrung verboten« und »Erzieher [hätten] sich zu entziehen«. Auch Bebrens setzt sich- unter Bezug auf Haug- für eine »Ehrenrettung des Lehrens« ein (2005, 8). Mit Platthaus konnte der 1995 verstorbene Klaus Holzkamp sich noch selber auseinandersetzen. Hierbei verweist er auf den oben schon dargestellten Umstand, dass er eine Begrifflichkeit entwickeln wollte, mit der das »offiziell-administrative Selbstverständnis von Schule und die bisher verdrängte Schulwirklichkeit als Erfahrung der Schüler/innen konzeptionell abbildbar und in Beziehung zu setzen« seien (1996b, 116), statt dass im Kurzschluss des LehrJemens Lehrende quasi als das einzige Subjekt missverstanden werden (115). Dezidiert tritt er dann der »Missdeutung« entgegen, in seiner Konzeption sei »der Lehrer oder die Lehrerin überflüssig oder auch nur marginalisiert« ( 130). Gerade in einer Schule jenseits der von ihm analysierten »Disziplin« stünden Lehrerinnen und Lehrer vor der Aufgabe, Fragen zu beantworten, selber Fragen zu stellen, und zwar mit dem Ziel herauszufinden, was Schülerinnen und Schüler nicht verstünden; es sei ihre Aufgabe, durch Problematisierungen dazu beizutragen, Selbsttäuschungen und unbewusste Selbstschädigungen zu verhindern (a.a.O., 131; 1993, 561). Holzkamp, den ich selber als meinen akademischen Lehrer ansehe, und der nach meiner Erfahrung ein hervorragender Hochschul-Lehrer war, kritisiert also nicht das Lehren als solches, sondern seine Formierung im Schuldisziplinären System, der nicht zu entkommen ist. Dass und wie diese Formierung partiell durchbrochen werden kann, hat Holzkamp im Konzept der »Sternstunden« gefasst: »unprogrammgemäß expansive Lernphasen, zwar innerhalb der Schule, aber außerhalb der Schuldisziplin«, exemplifiziert an einer biographisch vom ihm eingebrachten Phase, in der »nicht der Lehrer etwas von uns, sondern wir etwas vom Lehrer wollten: Nämlich
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sein Können und Wissen für uns nutzbar machen« (1993, 494f). Da eine der entsprechenden Passagen mehr zum Verständnis des Problems beiträgt als theoretische Erörterungen, möchte ich sie hier in Gänze wiedergeben: »In unserer Internatsschule im Harz hatten wir bis zu einem bestimmten Tag (als 11. Klasse) den üblichen Musikunterricht mit der üblichen Mischung aus Langeweile und Renitenz gehabt, wobei unsere Haltung zum Musiklehrer durch die Variante mitleidiger Belustigung geprägt war. An diesem Tage nun hörten wir, als wir die Aula, in der der Unterricht stattfand, schon verlassen hatten, vom Flur her Klavierspiel, dass offensichtlich von unserem Lehrer stammte. Wir gingen in die (im Nachkriegswinter 1946) eiskalte Aula zurück, setzten uns leise in die letzte Reihe und hörten zu. Der Musiklehrer spielte im Wintermantel in überzeugender Weise alle vier Balladen von Chopin. Als er geendet hatte, und wir- diesmal nicht höhnisch, sondern eher zaghaft verlegen- Beifall klatschten, blickte er erstaunt hoch: Ach, Ihr seid ja noch da. - In der nächsten Musikstunde sagten wir zu ihm, wir hätten ja keine Ahnung gehabt, dass er so Klavier spielen könne, das sei schön gewesen, und er solle doch wieder was spielen. Er spielte und wir kamen darüber ins Gespräch. Von da an hatten wir keinen Musikunterricht mehr, erfuhren aber viel Wichtiges und Eindrucksvolles über Musik. Für mich kann ich sagen, dass dadurch mein Verhältnis zur Musik bis heute wesentlich mitbestimmt wurde.<< (A.a.O., 495) Für eine subjektwissenschaftliche Konzeption des Lernens ist Lehren weder überflüssig noch marginal (s.o.), sondern unter den genannten Gesichtspunkten zu analysieren. Wenn Haug nun sagt, dass sie sich »dem Lernen auch durch die Diskussion des Lehrens nähert« (2005, 81), besteht die Gefahr, dass der Standpunkt der Lernsubjekte verfehlt wird, dass diese im Wesentlichen als Gegenstand von Lehrbemühungen angesehen werden. In Haugs eigenen empirischen Untersuchungen lässt sich das auch zeigen, wie Kaindl (2005, 3lff) aufgewiesen hat. Um nur ein Beispiel anzuführen: Haug verallgemeinert den Umstand, dass ihre Nachhilfeschülerin nicht lernen wollte, als deren biographisch vermitteltes Problem: es gebe Menschen, »die einen solchen Widerstand gegen jede Lernanforderung ausgebildet haben, dass sie lieber alle Kommunikation abbrechen, als hier einen Einbruch zu erlauben« (2003, 43). Wirklich alle Kommunikation oder die mit F. Haug? Gegen jede Lernanforderung oder gegen bestimmte? Warum sollte sie einen »Einbruch(!)« zulassen? Haug »artikuliert[ ... ] die Konstellation als Problem der Schülerin«, kritisiert Kaindl (a.a.O., 31). Damit reproduziert Haug letztlich jenen Lehrlernkurzschluss, den Holzkamp problematisiert; sie wendet ihre Erfahrung so, dass sie sich »von da an[ ... ] mit wirklicher und bewusster Leidenschaft[ ... ] vor allem dem Versuch, Lernhaltungen zu verändern«, widmete (Haug, 2003, 43 ). Dieser Versuch der Einstellungsänderung wird mit der Metapher verbunden, die Menschen aus »ihrer Versteinerung zu befreien. Die Vorstellung lebt natürlich noch vom Rettergedanken«, das »Bild der Versteinerung« erlaube aber, »sobald wir es auf Verhältnisse aus-
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dehnen, ein Befreiungsprojekt zu entwerfen, in denen alle Verhältnisse in Bewegung kommen« (ebd., 45). So einfach ist das mit der Macht der Bilder. Wenn (im Zuge von Frauen-»Schulungsgruppen«) die Dimension des Politischen zum Lehr-Lernen hinzukomme, könne Lehren >>jetzt auch als Versuch verstanden werden, nicht nur anderen Möglichkeiten für den Weg in die Welt [in der sie vorher offen nicht lebten, M.M.] vorzuschlagen, sondern vor allem als Versuch, für die Veränderung von Welt Mitkämpferinnen und Mitgestalterinnen zu gewinnen. Lehren ist solcherart auch der Abbau von Unterschieden, auch jenen zwischen Lehrern und Schülern, und umgekehrt ist auch Lernen in diesem Feld das Einholen und Ausprobieren von Veränderungswissen und entsprechender Fähigkeiten. Es ist diese Dimension, welche die Kritische Pädagogik bestimmt, und die in der holzkampseben Zurechtlegung erstaunlicherweise fehlt, bzw. an der Stelle, da er ihre Möglichkeit unter dem Begriff >partizipatives Lernen [nach Lave & Wenger, M.M.] [ ... ] vorsieht, grenzt er dies nachdrücklich vom Lehrer-Schüler-Verhältnis, vom schulischen Lernen ab (1993, 501ff).<< (Haug, a.a.O., 45) Diese >>Abgrenzung« muss Holzkamp schon allein deswegen vornehmen, weil Lave und Wenger das Lehrer-Schüler-Verhältnis konzeptionell durch ein »Meister-Novizen<<-Verhältnis ersetzen: Der Novize wird kontinuierlich zum Meister, nicht aber der Schüler zum Lehrer, der Lehrer will etwas vom Schüler (dass der lernt), der Novize etwas vom Meister (von ihm lernen können) etc. (1993, 502ff). Holzkamp analysiert daneben auch >>kooperatives Lernen« und betont, dass auch dabei >>Machtausübung<< (514) in Rechnung gestellt werden muss, und dass dabei auch» Perspektivendivergenzen« (512) ausgetragen und auf ein >>verdecktes Lehrlernverhältnis<< analysiert werden müssen. Holzkamp fragt also auch (und gerade) in der Perspektive der Befreiung nach den Problemen und Umständen, durch die Lernen innerhalb >>sozialer Bewegungen« intentionswidrig behindert wird, etwa: Hochstilisierung von Autoritätspersonen, andere gruppendynamische Prozesse, Fraktionen, Vorentscheidungen über das Ergebnis (520ff; vgl. dazu auch Markard 2007). Es kann also keine Rede davon sein, dass die von Haug angesprochene Perspektive bei Holzkamp fehle; sie wird nicht nur beim >>Lernen« diskutiert, sie hat auch allgemeinere Bedeutung bei den (auch in diesem Band geschilderten) Erörterungen von Subjekt- und Instrumentalbeziehungen, Deuten und begreifendem Erkennen und den damit verbundenen emotionalen Aspekten. Bemerkenswert ist, dass Holzkamps Lernkonzeption eher in der Erziehungswissenschaft als in der Psychologie rezipiert wurde (vgl. z.B. Faulstich & Ludwig 2004); angesichts der kritischen Intention seiner Konzeption mag das sogar >>erstaunlich<< sein (Langemeyer 2005b, 41); vielleicht ist das aber weniger erstaunlich, wenn man mit Langemeyer bedenkt, dass in der Rezeption Holzkamps >>Macht und Herrschaftskritik<< zwar nicht >>grundsätzlich ausgeklammert<<, dass aber >>sel-
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ten« konkretisiert wird, was dies für die Lernenden bedeutet (a.a.O., 43; vgl. zum Verhältnis von Bildungstheorie und Emanzipation auch Hofmeister, 1998). Eine »Ehrenrettung des Lehrens« gegenüber der holzkampseben Position ist m.E. nicht erforderlich; was sehr wohl erforderlich ist, ist eine deutlichere Befassung mit dem Lehren: vom Standpunkt der Lehrenden aus, von ihren Problemen aus, die bspw. darin bestehen, dass sie, wie Holzkamp formulierte, »zwei Herren, den Kontrollinteressen des Staates und der pädagogischen Idee zu dienen« haben (1996b, 131)- und in Reflexion des Lehrlernproblems, das ja eines beider beteiligten Seiten ist. Dies ist ein Forschungsdesiderat in der Kritischen Psychologie- nicht aber Grundlage für eine Kritik an den Begriffen, in denen diese Forschung erfolgen müsste.
12.4.4.2 Lernen vom Standpunkt des Subjekts und die Lernsituation Damit können wir zwanglos zu Haugs fundamentalerer Kritik übergehen, Holzkamps subjektwissenschaftliche Lernkonzeption sei nach dem Modell Robinson Crusoes gebildet (2003, 34), seine Konzeption des Lernens vom Standpunkt des Subjekts reproduziere letztlich die Figur des abstrakt-isolierten Individuums, sei also ungesellschaftlich, gehe an Lernverhältnissen (so der Titel von Haugs Monographie zum Lernen) vorbei (vgl. in diesem Zusammenhang auch meine Zurückweisung der von Haug unterstellten Relevanz des Behaviorismus für die Aufklärung »massenhaften« Verhaltens in Kap. 10.2). Im Rahmen der Gesamtargumentation dieser »Einführung« können wir, denke ich, Folgendes voraussetzen: ( 1) Die auf subjektive Lebensbewältigung in kapitalistischen Verhältnissen gerichtete Kategorie der Handlungsfähigkeit sitzt nicht der Vorstellung des abstrakt-isolierten Individuums auf, weil es das jeweilige Individuum/Subjekt mit seinem Standpunkt ist, das Maßstab für seine Lebensbewältigung, sein Lernen, seine »Motivation«, seine Erfahrung, sein Leiden ist. (2) Die Konzeption einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts meint eine Psychologie im nicht suspendierbaren Begründungsdiskurs, die der gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz Rechnung tragen soll. In beiden Fällen ist es - kategorial- gesprochen egal, ob ein Individuum in bestimmten Situationen alleine oder zusammen mit anderen ist, und ob ein Mensch sich freiwillig vereinzelt (um Ruhe zu haben [etwa zum Schreiben einer Einführung in die Kritische Psychologie]) oder unfreiwillig isoliert und ausgegrenzt ist; das sind jeweils empirisch zu klärende Fragen wie auch die, ob jemand fürs Examen lieber alleine oder mit/in einer Gruppe lernt. Wie kommt es also zum Robinson-Crusoe-Vorwurf? Haug moniert, dass Holzkamp als Lernbeispiel seine Annäherung an den Komponisten Schönberg wählte: dort »tauchen die anderen Menschen auf als Noten bzw. als
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CD«. Sie moniert, dass das Beispiel »die Menschen füreinander eben nicht als sinnlich Anwesende, etwa im Dialog braucht. Für die Fragen des Lernens insbesondere scheint mir das äußerst problematisch zu sein« (2003, 34). Da ich gezeigt habe, dass und wie sich Holzkamp mit Lernen in verschiedenen Zusammenhängen mit Anderen befasst hat (»Sternstunde«, partizipatives und kooperatives Lernen), brauche ich nicht mehr darauf einzugehen, dass Haug von einem Beispiel aus unzulässig verallgemeinert. Holzkamp hat den Einwand übrigens 10 Jahre vor seiner Artikulation durch Haug antizipiert (1993, 197): »Man mag diesem Beispiel entgegenhalten, es sei individualistisch. Dem würde ich entgegenhalten, dass - da die Bedeutungsstruktur, auf die die Lernproblematik sich bezieht, gesellschaftlicher Art ist - auch die Lernhandlungen zu deren Überwindung quasi ein Prozess der Nachvergesellschaftung sind: Die Gesellschaftlichkeit des Individuums ist ja nicht an die aktuelle Anwesenheit anderer gebunden.« Holzkamp ging es darum, die Genese einer- immer subjektiven- Lernproblematik jenseits einer Lernanforderung (a.a.O., 184) zu exemplifizieren. Dies ist deswegen sinnvoll, weil Lernen immer - in welchen unmittelbaren sozialen Zusammenhängen auch immer und mit welchen Arbeitsteilungen sich empirisch abspielend - das Lernen des Subjekts ist. In der kategorialen Bestimmung einer Lernproblematik abstrahiert Holzkamp bewusst von den vielfältigen möglichen (unmittelbar sozialen) Lernkontexten zugunsten des Subjekts, »das dann tatsächlich nicht ersetzbar ist als die Instanz, die selber eine Lernproblematik bewusst für sich ergreifen muss oder hinterrücks von der Situation ergriffen wird und dergleichen mehr. [... ] Das ist für mich keine Fingierung eines abstrakt-isolierten Individuums, sandem das ist die Zurücknahme auf bestimmte Minimalbestimmungen, von denen ich ausgehe, wobei ich dann in der Vermitt-
lung mit jeweils empirischen Lernverhältnissen diese Abstraktion [... ] aufheben muss, vermitteln muss mit den vorfindliehen konkreten Gegebenheiten, so dass ich dann tatsächlich dort begrifflich anlangen kann.« (Maiers 2005, 93) Holzkamps Schönberg-Beispiel soll nun zu nichts weiter als der Veranschaulichung eben dieser »Instanz >Subjekt<« dienen; das Beispielliegt deswegen als Veranschaulichung nahe, weil bei Beispielen mit unmittelbar sozialen Kontexten diese Kontexte wieder hätten eingeklammert werden müssen, um jene »Instanz >Subjekt<« analytisch wieder herauszuarbeiten, die auch in sozialen Zusammenhängen letzte Instanz bleibt (vgl. dazu auch die Überlegungen zum genuin gesellschaftlich-sozialen Charakter der Selbstverständigung, Kap. 13.2). Was Psychologie vom Standpunkt des Subjekts methodisch bedeutet, soll im folgenden und letzten Kapitel zur Diskussion gestellt werden.
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13. Methodische Konsequenzen einer Psychologie vom
Standpunkt des Subjekts 13.1 Resümee der methodischen Aspekte der bisherigen Darstellung: Gegenstandsadäquatheit als das zentrale Methodenkriterium der Kritischen Psychologie Die inhaltliche Ausarbeitung der Kritischen Psychologie ist von Beginn an mit Methodenkritiken und -entwicklungen verbunden, die im Gang der Darstellung, soweit zum inhaltlichen Verständnis erforderlich, jeweils mit behandelt wurden. Deswegen werde ich zunächst die bisher geschilderten methodischen Aspekte der Kritischen Psychologie resümieren, um dann auf dieser Grundlage eine - knappe - systematische Darlegung kritischpsychologischer Methodik anzuschließen. Schon in seiner >vor-kritisch-psychologischen<, konstruktivistischen Phase hatte Holzkamp sich mit dem Problem beschäftigt, dass es - allem einzelmethodischen Raffinement zum Trotz - keine Kriterien dafür gebe, welche Aussagekraft die in einer experimentellen Anordnung erzielten empirischen Resultate für die theoretische Aussage (Hypothese) hätten bzw. wie die bei Wiederholungen der Experimente ja immer wieder vorkommenden Abweichungen bei den Befunden in ihrem Erkenntnisgehalt zu beurteilen seien. Ich hatte daran insbesondere das »Repräsentanz«-Problem hervorgehoben, dass nämlich das Verhältnis von theoretischen und empirischen Sätzen nicht eindeutig ist: Der Zusammenhang von Frustration und Aggression kann sehr unterschiedlich operationalisiert werden, und dieselben Operationalisierungen können für verschiedene Konzepte stehen: Zum Beispiel kann Aggression in Beleidigungen und Elektroschocks ausgedrückt oder operationalisiert werden, Beleidigungen können aber auch als Operationalisierungen von Frustration dienen. Ich hatte weiter gezeigt, dass die Beschäftigung mit diesem Problem auch für die Kritische Psychologie i.e.S. von Bedeutung blieb: bei der Begründung der Relevanz historisch-empirisch gewonnener Begriffe, bei der Analyse verborgener Prämissen-Gründe-Zusammenhänge (»Begründungsmuster«) in experimental-psychologischen Theorien und bei der Begründung des Handlungsforschungscharakters subjektwissenschaftlicher Forschung (vgl. Kap. 3.1). Zentrierte sich diese Kritik Holzkamps auf immanente Probleme der Experimentalpsychologie, ging es im nächsten Schritt der Kritikentfaltung um die »äußere Relevanz« experimenteller Psychologie. Damit meinte Holzkamp nicht nur das formale Problem der externen Validität, also die Frage danach, inwieweit experimentelle Ergebnisse auch außerhalb des Experimentes Geltung besitzen; er thematisierte vielmehr die inhaltliche Bedeutung der Ergebnisse - und zwar unter dem Einzelresultate übergrei-
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fenden Gesichtspunkt der methodischen Orientierung der experimentellen Psychologie an der Physik (Kap. 3.2): Damit wird nämlich übersehen, dass die für die Physik zutreffende Subjekt-Objekt-Erkenntnisbeziehung für die Psychologie nicht zutrifft, da sich hier nicht ein Forscher-Subjekt und ein Erkenntnis-Objekt gegenüber stehen, sondern zwei Subjekte. Deswegen sind auch die Verhaltensweisen der Versuchspersonen keine direkten Effekte der Ausgangsbedingungen, sondern vermittelt durch die Sichtweisen der Versuchspersonen. Diese spielen sozusagen eine mit dem Versuchsleiter verabredete Rolle, die Rolle der »Norm-Vp«. Dies bedeutet für die Vp, nur bestimmte Verhaltensweisen an den Tag zu legen, andere aber zu unterlassen, bloß zu reagieren, also darauf zu verzichten, sich zu den Bedingungen zu verhalten, einzugreifen zu hinterfragen (»quasi-organismischer« Charakter der Norm-Vp). Der methodischen Durchsetzung des Norm-VpVerhaltens dienen »Zerlegung/Isolierung/Parzellierung« der Variablen, die »Reduzierung« von Störfaktoren und die »Labilisierung« der Situation für die Versuchsperson. Inwieweit diese Konzeption und Praxis in der experimentellen Praxis unrealistisch sind, wurde etwa zeitgleich mit der holzkampschen Kritik von der »Sozialpsychologie des Experiments« untersucht. Im Ergebnis jedenfalls kann in der experimentellen Anordnung bestenfalls ermittelt werden, wie Menschen sich unter vorgegebenen, fremdbestimmten Bedingungen verhalten, in die nicht einzugreifen ist. Das Verhältnis von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung ist damit halbiert. Sofern dies nun als methodischer Königsweg der Psychologie angesehen wird, wird damit rein methodisch schon (außerexperimentellen) Situationen der Fremdbestimmtheit eine gewisse wissenschaftliche Legitimation verliehen. Und soweit die Versuchspersonen darauf zurückgeworfen sind, auf unhinterfragbare Bedingungen zu reagieren bzw. bloß vorgegebene Informationen zu nutzen, befinden sie sich in kognitiver Hinsicht strukturell in der Lage, die wir oben (Kap. 11.4.1) als kognitiven Aspekt restriktiver Handlungsfähigkeit, als »Deuten«, dargestellt haben. Wenn man nun die beschriebenen methodischen Reduktionen und Restriktionen rückgängig macht, landet man bei deren Ausgangspunkt, dem Alltag, den Alltagspraxen und bei vorfindliehen Konzepten im Alltag und in der Psychologie bzw. in anderen (sozial- )wissenschaftlichen Disziplinen (Kap. 5.1). Ich habe am Beispiel des »Begabungskonzeptes« gezeigt, dass mit der Rückkehr zum Alltag das Problem der wissenschaftlichen »Relevanz« eines Konzeptes keineswegs gelöst ist; jedenfalls dann nicht, wenn Wissenschaft mehr als bloß die Abbildung des Alltags und seiner Praxen und Vorstellungen bedeuten soll, wenn also- im Sinne kritischer Wissenschaft- Hinterfragung des Alltags (auf darin liegende Herrschaftsstrukturen) Perspektive wissenschaftlichen Arbeitens ist. Unter diesem Gesichtspunkt liegt die Grenze der resümierten Methodenkritik darin, dass sie über kein spezifisch-psychologisches begriffliches Fundament verfügt, das über
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allgemeine anthropologische Annahmen hinausginge bzw. uns in die Lage versetzen würde, zwischen unterschiedlichen Annahmen dieser Art (>der Mensch von Natur aus ... <) inhaltlich zu entscheiden (Kap. 5.4). Zur grundsätzlichen Lösung dieses Problems sollte die methodisch ausgewiesene historische Rekonstruktion des Psychischen dienen - und zwar zur Gewinnung und Analyse psychologischer Grund-Begriffe (»Kategorien«) und der AufschlüsseJung des Verhältnisses von Natur-, Gesellschafts- und Individualgeschichte (Kap. 6.4). Dies bedeutet, systematisches methodisches Denken und Vorgehen auf die Begriffsbildung auszudehnen. Dabei ist der Grundgedanke der, dass dem entwicklungsgeschichtlich Früheren das begrifflich Allgemeinere und dem entwicklungsgeschichtlich Späteren das begrifflich Differenzierte und Spezifischere zugeordnet werden muss. Diese Passung in »historischer Empirie« bzw. historisch-empirisch herauszuarbeiten ist das Ziel der historischen Rekonstruktion des Psychischen. Daraus resultiert die Unterscheidung zwischen historischer Empirie zur Gewinnung
von Kategorien und der Aktual-Empirie zur Untersuchung von theoretischen Annahmen über hier und jetzt- aktual- ablaufende Zusammenhänge. Dabei handelt es sich um eine psychologisch-fachspezifische Konkretisierung des marxschen logisch-historischen Verfahrens (zur Analyse der Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft). Soweit diese historische Empirie sich auf die Genese des Psychischen vor der Gesellschaftlichkeit des Menschen bezieht, ist sie »funktional-historisch« (Kap. 7): Der Begriff der »Funktion« bezieht sich dabei auf Merkmale, die für den Effekt der Erhaltung bzw. die Aufhebung der Störung eines Systemgleichgewichts zwischen Organismus und Umwelt erforderlich sind: Rekonstruiert werden sollen Entwicklungswidersprüche in OrganismusUmwelt-Konstellationen, aus denen Entwicklungen in ihrer biologischen Funktionalität begreifbar werden - und zwar bezogen auf jene Evolutionsreihe, die zum Menschen hinführte, und dies unter dem Gesichtspunkt der Entstehung und Differenzierung des Psychischen (Kap. 7.3). Die Grenze dieser Art von Analyse ist erreicht, wo nicht mehr eine Art substanzieller Träger der Entwicklung im Sinne der genemischen Veränderung der Organismen (mit den Mechanismen der Mutation und Selektion) dominiert, sondern in verschiedenen Produktionsweisen die Menschen ihre Lebensverhältnisse selber produzieren, damit die Evolution zwar nicht gänzlich außer Kraft gesetzt, aber nur noch die unspezifische Basis menschlicher Existenz ist, deren Entwicklung aber nicht mehr bestimmt (Kap. 9.1). Die gesamtgesellschaftliche Vermitteltheit menschlicher Existenz bildet einen neuen Interpretationsrahmen für die >Psyche< des Menschen (Kap. 9.2): Herauszuarbeiten sind- gesellschaftstheoretisch-die grundlegenden Charakteristika des Mensch-Welt- (und eben nicht mehr Organismus-Umwelt- )Zusammenhangs, und dann ist zu explizieren, was dessen psychische Aspekte sein müssen, damit seine Existenzweise verständlich wird.
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Diese kategoriale Analyse hat jene psychischen Bestimmungen zur Folge, die in Kap. 9 bis 12 geschildert wurden, und die dem Anspruch nach nun historisch-empirisch begründen, was es eigentlich ist, von dem in experimenteller Reduktion abgesehen wird bzw. das in qualitativer Forschung einfach gesetzt ist: wesentliche psychische Dimensionen der menschlichen Subjektivität im (kapitalistischen) Alltag. Als von zentraler aktual-empirischer Bedeutung hat sich ergeben, dass diese Bestimmungen des Psychischen bzw. von Subjektivität implizieren, dass menschliches Erleben und Handeln im Begründungsdiskurs aufzuschlüsseln ist. Was dies im Einzelnen bedeutet, ist Gegenstand der nun folgenden Überlegungen, bei denen sich erneut zeigen wird, dass, wie bis hierhin auch, Inhalts- und Methodenfragen in der Kritischen Psychologie eng verbunden sind, es also keinen gegenüber inhaltlichen Bestimmungen abstrakten Methodenkanon geben kann. Mit anderen Worten: Gegenstandsadäquatheit ist das zentrale Methodenkriterium der Kritischen Psychologie. Und: Die Besonderheit kritisch-psychologischer Methodenvorstellungen ergibt sich nicht aus den Eigenarten der dafür in Frage kommenden Einzelmethoden (wie Interview, Beobachtung, Gruppendiskussion). Sie ergibt sich auch nicht aus übergreifenden methodischen Orientierungen, wie sie vor allem in der Entgegensetzung »qualitativ« vs. »quantitativ« zum Ausdruck kommt. Sie ergibt sich vielmehr aus den begrifflich-theoretischen und daraus folgenden methodologischen Voraussetzungen psychologischer Forschung und auch Praxis vom Standpunkt des Subjekts. 13.2 Zum Verhältnis historisch-empirischer und aktual-empirischer Forschung oder die kategoriale Grundlegung des SubjektivitätsObjektivitäts-Problems in der Psychologie Es gibt also radikal unterschiedliche Annäherungen an Methoden: Die erste definiert Methodenstandards (orientiert an Naturwissenschaften) und passt den Gegenstand den Methoden an, mit denen Theorien geprüft werden sollen; mit welchen Einbußen das verbunden ist, wurde diskutiert. Die zweite Annäherung definiert (wie auch immer) kategorial den Gegenstand und schaut dann nach angemessenen Methoden, mit denen Theorien gebildet oder konkretisiert, jedenfalls empirisch verankert werden sollen. Dies ist nicht nur die Herangehensweise der Kritischen Psychologie; alle qualitativen Ansätze, seien sie nun mit einer bestimmten inhaltlichen Ausrichtung wie etwa der Psychoanalyse oder der narrativen Psychologie verbunden oder bloß allgemein der Auffassung, dass Menschen (im Unterschied zu Tieren und Dingen) »sümhaft« handeln, wollen in Rechnung stellen, dass Menschen nicht wie »Objekte« analysiert werden können. Dabei gehört zur Beschäftigung mit Methoden auch, die jeweiligen Ansätze (einschließlich des eigenen) auf ihre Ansprüche, deren Realisierbarkeit und die ent-
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sprechenden Erkenntnismöglichkeiten und -begrenzungen hin zu analysieren. Deswegen ist immer mit zu bedenken, was von den im Folgenden geschilderten Charakteristika subjektwissenschaftlicher Forschung jeweils realisiert werden kann und was nicht. Die Erzeugung von Wissen statt bloßen Meinens und Dafürhaltens, d.h. die Objektivierung untersuchter Sachverhalte, ist wesentliches Kriterium wissenschaftlicher Forschung. Wie diese Objektivierung aussehen kann und muss, ist allerdings nicht einfach ansatzübergreifend zu bestimmen, sondern abhängig vom Forschungsgegenstand und den kategorialen Voraussetzungen der Forschenden. Diesbezüglich ist für die Kritische Psychologie ein wichtiges Ergebnis der kategorialen Analyse des Psychischen, dass Objektivität und Subjektivität nicht durch eine methodologische Wand getrennt sind. Die problematische - gedankliche - Trennung von Subjektivität und Objektivität hat in der Psychologie zwei Ursachen: erstens die Verbannung des Subjektiven in die berühmte »black box« im Zuge experimentell-statistischen Denkens und zweitens in der Ideologie der »Innerlichkeit«, die wir exemplarisch an der Emotionalität und der Privatheit des bürgerlichen Individuums diskutiert haben. Dagegen ist es gerade Ergebnis der kritisch-psychologischen Kategorialanalysen, »dass >je mein< Standpunkt als Ausgangspunkt meiner eigenen Erfahrung seinerseits der Endpunkt einer phylogenetischen bzw. gesellschaftlich-historischen Entwicklung ist, durch welchen er selbst als Aspekt des materiellen gesellschaftlichen Lebensgewinnungsprozesses erst notwendig und möglich wurde: als Charakteristikum der bewussten >Möglichkeitsbeziehung< von Individuen zu gesellschaftlichen Verhältnissen bei gesamtgesellschaftlicher Vermitteltheit ihrer Existenz.<< (Holzkamp 1983,538, Herv. entf., M.M.) Nur in diesem Verhältnis zu objektiven Lebensbedingungen ist menschliche Subjektivität (in der Kritischen Psychologie) denkbar. Damit schließt eine Psychologie vom Standpunkt des Subjekts die >>Berücksichtigung objektiver Bedingungen keineswegs aus, sondern ein: Ausgeschlossen ist damit lediglich die Verkürzung meines Realitätsbezugs auf meine >Bedingtheit< unter Absehung von meiner Verfügungsmöglichkeit«. Insofern kann Holzkamp auch schlussfolgern, dass »wir das generelle Problem der objektiven Erkennbarkeit von Subjektivität/Intersubjektivität nicht erst hier [bei der Erörterung von Methodenfragen, M.M.] lösen müssen, sondern dass wir diese Erkennbarkeit, durch den Aufweis der objektiven Struktur und Bedingtheit der Subjektivität, bereits während unserer gesamten Kategorialanalysen quasi >praktiziert< haben« (a.a.O., 539; Herv. entf., M.M.). Darin ist eine Absage an alle Konzeptionen enthalten, die wissenschaftliche Objektivitätsforderungen subjektivistisch ablehnen (a.a.O., 533ff; vgl. dazu auch die kurze Übersicht zur Ablehnung von Objektivierungskriterien bei Steinke 2000).
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13.3 Methodologische Rahmenbestimmungen subjektwissenschaftlicher Forschung Dies die historisch-empirische Voraussetzung für die Lösung des Subjektivitäts-Objektivitäts-Problems in der Psychologie. Der Zusammenhang von Lebensbedingungen und Subjektivität ist dagegen als aktual-empirisch zu lösende Aufgabe schon in Kap. 9.7.3 behandelt worden: Welche Bedingungen es sind, mit denen das Individuum zu tun hat, und wie es sie als bedeutungsvoll erfährt und zu seinen Prämissen macht, aus denen sein Erleben und Handeln verständlich wird, das ist Gegenstand der »BedingungsBedeutungs-Begründungsanalyse«. Dabei ist, wie in Kap. 9.7.3 gesagt, der konkrete aktual-empirische Weg nicht der einer zunehmenden Konkretisierung allgemeiner gesellschaftlicher und dann institutioneller Bedingungen auf das jeweilige Problem hin, sondern umgekehrt- problemzentriert-der Weg von ungelösten Aspekten des Problems hin zu Bedingungen, die für die Analyse und Lösung des Problems von Bedeutung sein können. Welche Bedingungen es sind, die problemzentriert aufzuschließen sind, ist eine Frage des jeweiligen Forschungsprozesses und nicht unabhängig von ihm zu beantworten. Dabei ist zu berücksichtigen: Bedingungen, die nicht analysiert werden (oder deren Analyse nicht zur Kenntnis genommen wird), können auch nicht in den Blick geraten und nicht für psych9logische Analysen genutzt werden. 13.3.1 Intersubjektivität und Objektivierung
Die Objektivierung wissenschaftlicher Sachverhalte ist zwar- generell- Sache der professionell Forschenden, in der Psychologie aber, wie Holzkamp es formuliert, »primär intersubjektiver Art« (1983, 540), wobei er - neben der Kritischen Psychologie - zwei Varianten sieht damit umzugehen: Die experimentell-statistische Psychologie stellt - mit den geschilderten Folgen - die intersubjektive Beziehung mit dem Ziel der Gewinnung von Objektivität vorübergehend ein, subjektivistische Konzeptionen dagegen verabschieden sich vom Objektivierungsgedanken zugunsten der Aufrechterhaltung intersubjektiver Beziehungen. Nach allem Gesagten muss die Kritische Psychologie Beides zu erreichen versuchen: die Aufrechterhaltung der Intersubjektivität der Beziehungen zwischen den am Forschungsprozess Beteiligten und gleichzeitig die Möglichkeit der Objektivierung dabei gewonnener Einsichten. Dies bedeutet im Kern, die jeweils eigene Befindlichkeit mit Hilfe subjektwissenschaftlicher Kategorien zu reflektieren: das heißt, den Zusammenhang zwischen eigenen Lebensbedingungen (»Lage«, Position«) bzw. deren Bedeutungen in den eigenen Prämissen-Gründe-Konstellationen zu begreifen und gegebene Handlungsmöglichkeiten/-behinderungen auf potenziell restriktive Umgangsweisen damit zu analysieren (mit dem Ziel,
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restriktive Verstrickungen zu überwinden). Darin unterscheiden sich professionell Forschende und andere am Forschungsprozess Beteiligte grundsätzlich nicht. Holzkamp weist in diesem Zusammenhang aber darauf hin, dass sich die analytischen Möglichkeiten der kritisch-psychologischen Kategorien zunächst bei der Selbstklärung der professionell Forschenden zu bewähren haben- weil dieser die Kategorien kennt- und: wenn sie sich bei ihm nicht bewähren, wieso sollte dies dann bei Anderen gelingen? Dieser Bezug auf Selbstklärung ist also nicht im Sinne der psychoanalytischen Lehranalyse gemeint: Danach muss selber >durchanalysiert< sein, wer therapeutisch kompetent arbeiten will. In der Kritischen Psychologie geht es allein darum, dass die analytischen Kategorien grundsätzlich auch für die Selbstklärung der professionell Forschenden taugen und für diese ihre Relevanz erweisen müssen, soweit ihre eigene Problemlage thematisiert ist. Bevor wir zum Verhältnis von professionell Forschenden und anderen am Forschungsprozess Beteiligten kommen (Kap. 13.3.3), soll dargestellt werden, in welchem Verhältnis Selbstklärung und Intersubjektivität stehen: »Selbstklärung« verweist nicht nur darauf, dass das jeweilige Subjekt die letzte Instanz bei der Beurteilung der subjektiven Relevanz psychologischer Analysen ist, sondern auch darauf, dass die Konzeption der »Intersubjektivität« nicht an die »gleichzeitige Anwesenheitzweier [oder mehr, M.M.] Personen, die hier wirklich >intersubjektiv< in Beziehung treten, gebunden<< ist: »Der Grund hierfür ist die eigentümliche Art und Weise, in der einzelne Menschen zu interessenfundierten Handlungsintentionen/Handlungen kommen können: Die Entstehung solcher Begründungsfiguren ist nämlich so eng an die Intersubjektivität des Erwägens, Planens und Aushandeins gebunden, dass bei Abwesenheit anderer Menschen das Individuum quasi mit sich selbst in Dialog tritt, Selbstgespräche führt und sich so quasi in innerem Sprechen >verdoppelt«< (Holzkamp 1996, 61). Eine Arbeit, in der dieser >Dialog mit sich selber< methodische Leitlinie war, hat Oona Laisney (2008) vorgelegt, die (im Wissen um theoretische Konzepte zu Rassismus) in einem Tagebuch vorab präzise definierte >»Situationen mit rassistischem Potential<«, denen sie begegnete, detailreich schilderte und reflektierte. Zusätzlich enthalten die Aufzeichnungen als zweite Reflexionsebene Kommentare (ggf. mit einem anderen Datum als dem der [Selbst-] Beobachtung). Mit einer dritten »analytischen«- aber natürlich nicht als >abschließend< zu betrachtenden - Reflexionsebene versuchte Laisney, das eigene Verhalten auch unter Einbezug von Diskussionen mit anderen (Verwandten, Freunden, Uni-Projekt), insbesondere mit ihrem (>farbigen<) Lebensgefährten, zu betrachten. Hier lässt sich m.E. sehr gut verdeutlichen, wie Holzkamp das Intersubjektivitätskonzept methodologisch meint: Der genuin gesellschaftliche/soziale Charakter der Selbstverständigung besteht auch dann, wenn diese Selbstverständigung nicht unmit-
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telbar sozial ist- unbeschadet dessen, dass in den meisten Forschungsfällen mehrere Individuen tatsächlich gleichzeitig zusammen sind. Dabei ist die Grundkonstellation die Dyade, zu der, nur mit entsprechender Formierung, auch die Konstellation von Versuchsleiter/in und Versuchsperson gehört (vgl. zu diesen Überlegungen auch meine Skizze der »Introspektion« in Kap. 3.2.7 und die Überlegungen zum Lernen vom Standpunkt des Subjekts in Kap. 12.4). 13.3.2 Exkurs: Verborgene Prämissen-Gründe-Zusammenhänge (»Begründungsmuster«) in experimental-statistisch formulierten Hypothesen
Wenn die Behauptung, Psychologie müsse aus inhaltlichen Erwägungen im Begründungsdiskurs stattfinden, zutrifft, ist zu überlegen, ob sich nicht auch in der experimentell-statistisch orientierten Psychologie >Spuren< des Begründungsdiskurses finden lassen. Genau dies hat Holzkamp (1986a) mit seiner Analyse von verborgenen Prämissen-Gründe-Zusammenhängen (»Begründungsmustern«) in experimentell-statistisch formulierten Zusammenhangsaussagen am Beispiel sozialpsychologischer Theorien und später an Lerntheorien (1993; 1994) herausgearbeitet. Dabei ging es ihm auch darum zu zeigen, dass der Bezug auf die Begründetheit menschlichen Handeins nicht in eine »>hermeneutische< Exklave« (1986a, 24) abgeschoben werden kann, sondern sich in psychologischen Theorien wiederfindet, die >offiziell< nicht im Begründungsdiskurs, sondern als Bedingungs-Ereignis-Relationen formuliert sind. Sowohl Bedingungs-Ereignis-Relationen als auch Prämissen-GründeZusammenhänge sind formal Wenn-Dann-Beziehungen: >Wenn diese Voraussetzung, dann diese Folge<. Ein simples Beispiel für eine BedingungsEreignis-Relation: Wenn Wasser sich erwärmt, dehnt es sich aus; ein ebenso simples Beispiel für einen Prämissen-Gründe-Zusammenhang: Wenn ich friere, ziehe ich einen Pullover an. Beide Zusammenhänge lassen sich durch externe Beobachtung >überprüfen<. Aber: Der zentrale Unterschied zwischen beiden Zusammenhängen besteht darin, dass im zweiten, dem Pullover-Fall, die Wenn-Dann-Beziehung sinnhaftvermittelt ist, im ersten Fall, dem Wasser-Fall, dagegen nicht. Holzkamp (a.a.O., 31) hat nun darauf aufmerksam gemacht, dass man im Pullover-Fall zwischen die Wenn- und die Dann-Komponente ein »vernünftigerweise« einfügen kann, während dies im Wasser-Fall nicht geht: >Wenn ich friere, ziehe ich vernünftigerweise einen Pullover an<; dagegen fällt die Aussage: >Wenn Wasser sich erwärmt, dehnt es sich vernünftigerweise aus<, aus dem (Bedingtheits- )Diskurs. Dass dies im Pullover-Fall möglich ist, ist Ausdruck des allgemeinen Umstands, dass menschliches Handeln eben in dem Sinne >vernünftig< ist, dass es in Prämissen begründet ist. »Vernünftigerweise<< steht hier also nicht für ein externes Rationalitätskriterium, sondern für subjektive Begründetheit und Funktionalität. Inwieweit diese subjektive Begründetheit auch externen
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Rationalitätskriterien entspricht oder nicht, ist für den Begründungsdiskurs eine nachgeordnete Frage: Dass menschliches Handeln begründet ist, hängt nicht davon ab, ob es auch nach subjekt-externen Kriterien rational ist. In diesem Sinne ist menschliches Handeln unter gegebenen subjektiven Prämissen per se »begründet«, »Verständlich«, (subjektiv) »vernünftig«. Der Zusammenhang zwischen Prämissen und subjektiven Gründen/ Handlungsintentionen ist sinnhaft und nicht »kontingent«, nicht >empirisch offen<: Das heißt: Er könnte nicht genauso gut anders sein, er ist in diesem Sinne nicht >empirisch offen<. Formal gesehen handelt es sich bei einem Prämissen-Gründe-Zusammenhang »um eine i.w.S. definitorische Bestimmung >vernünftigen< Verhaltens unter den gesetzten Ausgangsbedingungen« (ebd.), die vom Individuum als Prämissen übernommen sind. In diesem Sinne sind - rein formal gesehen - Prämissen-Gründe-Zusammenhänge »implikativ«. Wenn keine unberücksichtigten Bedingungen/ Prämissen vorliegen, ist der Prämissen-Gründe-Zusammenhang quasi definitorisch gesetzt und deswegen auch einer .empirischen Prüfung weder
bedürftig noch fähig. Das Wort >>Vernünftigerweise« (als Einschub in Wenn-Dann-Zusammenhänge) hat sich insofern als unglücklich erwiesen, als es entgegen Holzkamps Intention den Bezug auf externe Rationalitätskriterien nahelegt. Dieser Bezug lässt sich leichter vermeiden, wenn man »vernünftigerweise« durch »subjektiv funktionalerweise<< ersetzt. Was ist nun, wenn jemand friert, aber dennoch keinen Pullover anzieht, obwohl er einen zur Verfügung hat? Mögliche Gründe dafür sind, dass er sich abhärten will oder anderen seine Genügsamkeit vorführen will. Dann würden neue, bis dahin unberücksichtigte Prämissen/Gründe ins Spiel kommen, die aber nichts daran ändern, dass wir im Begründungsdiskurs bleiben und nur erweiterte »sinnvolle« - formal: definitorische - Zusammenhänge herstellen, die wieder einer empirischen Prüfung weder fähig noch bedürftig sind. Die Aussage, dass man vernünftigerweise einen Pullover anzieht, wenn man friert, wird nicht dadurch widerlegt, dass man unter denselben Umständen (also bei derselben Kälte bzw. Kälteempfindung) keinen Pullover anzieht, weil man sich abhärten oder mit seiner Genügsamkeit oder Härte angeben will. Es handelt sich lediglich um Prämissenspezifizierungen im Begründungsdiskurs. Die unterschiedlichen Aussagen widerlegen sich nicht und sie stehen auch nicht in Konkurrenz zueinander: Es sind differierende und differenzierte Bestimmungen subjektiver Vernünftigkeit. Das alles hat, wie sich schon andeutete, zentrale Bedeutung für das Verhältnis von theoretischen Zusammenhangsaussagen und Daten: Bei Prämissen-Gründe-Zusammenhängen haben empirische Daten nicht die Funktion, Zusammenhangsaussagen (Hypothesen/Theorien) zu prüfen, sondern sie zu veranschaulichen bzw. zu konkretisieren:
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»Das Verhältnis zur Empirie hat sich damit quasi umgekehrt: Es hängt nicht von >empirischen< Verhältnissen ab, wie weit die >theoretische< Bestimmung >bewährt< ist, sondern es hängt von der >Begründungstheorie< als implikativer Struktur ab, welche Art von >empirischen< Verhältnissen zu ihrem >Anwendungsfall< taugen: Nämlich solche, in denen die gesetzten definitorischen Bestimmungen erfüllt sind« (Holzkamp 1986a, 31).
Sofern es nun möglich ist, in experimentell-statistische Zusammenhangsaussagen ein »vernünftigerweise« einzuschieben, können diese Zusammenhangsaussagen nicht mehr als kontingente Bedingungs-Ereignis-Relationen gelten, sondern sie sind als verborgene »Prämissen-Gründe-Zusammenhänge« >entlarvt< - und damit eben auch einer empirischen Prüfung weder bedürftig noch fähig. Anders formuliert: Annahmen über Handlungsgründe können dann nicht in eine hermeneutische Exklave der Psychologie abgeschoben werden. Vielmehr erweist sich dann der psychologische Mainstream in seinem experimentell-statistischen Offizialdiskurs als sowohl theoretisch also auch methodologisch irrig, seine Empirie als Pseudo-Empirie. Und genau so ist es, wie hier an jeweils einem Beispiel aus der Sozialpsychologie und aus der Lernpsychologie gezeigt werden soll. Sozialpsychologie: »Bei lohnenden Gewinnaussichten neigen die Vpn [ ... ] dazu, Lösungen anzustreben, die ihnen einen möglichst hohen Gewinn bringen« (a.a.O., 46). Es ist einleuchtend, dass hier zwischen »Wenn« (lohnende Gewinnaussichten) und »Dann« (Gewinnorientierung) zwanglos ein »vernünftigerweise« eingeschoben werden kann, und dass, wenn die die Vpn sich anders verhielten, sie andere, vom VI nicht berücksichtigte Gründe hätten. Bei der Lernpsychologie beziehe ich mich auf den in anderen Zusammenhängen (Kap. 5.2.2) schon erwähnten Zusammenhang von intermittierender Verstärkung und Löschungsresistenz, wonach ein definiertes Verhalten nicht jedes Mal, sondern (nach bestimmten Plänen) unregelmäßig belohnt (»verstärkt«) wird und es bei einem dauerhaften Ausbleiben der Belohnung länger dauert, bis auch das entsprechende Verhalten ausbleibt (»gelöscht« ist): Ein Angler, der mit jedem Angelwurf einen Fisch fangt, wird jedes Mal belohnt, einer, der nur ab und zu einen Fisch an der ausgeworfenen Angel hat, »intermittierend«. Man kann sich leicht vorstellen, dass der erste- vernünftigerweiseschneller aufgibt, wenn überhaupt kein Fisch mehr anbeißt als der zweite, der javernünftigerweise -länger hoffen kann. Das Anglerbeispiel steht für einen Fall, in dem Prämissen extrem reduziert sind, der betreffende Mensch also keine Einsicht in das Geschehen (im See) hat; damit zeigt es auch (erneut; vgl. Kap. 3.2.6), dass der Begründungsdiskurs nicht daran gebunden ist, dass die entsprechenden psychischen Vorgänge bewusst sein müssen: erforderlich ist nur, dass sie in entsprechender Reflexion bewusst gemacht werden können (und dann ihre subjektive Funktionalität erweisen). Ich will hier nicht alle Aspekte der Analysen zur Aufdeckung verborgener Prämissen-Gründe-Zusammenhänge wiedergeben, sondern nur zwei weitere anfüh-
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ren: ( 1) Beim Bezug auf Bedürfnisse (etwa das Bedürfnis nach Dissonanzreduktion) ist zu fragen, inwieweit es sich dabei um maskierte Prämissen-Gründe-Zusammenhänge handelt: Unter welchen Prämissen will man Informationen unterdrücken, unter welchen sucht man- ganz im Gegenteil- nach ihnen? Die Vermeidung oder Reduktion von Dissonanzen oder deren Aufsuchen (bei »Neugier«) sind weniger Ausdruck von allgemeinen »Bedürfnissen« als vielmehr von bestimmten Prämissen-Gründe-Konstellationen. Interessant ist, dass derartige Fragen dann auftauchen, wenn Experimente erwartungswidrige Ergebnisse zeitigen. Dann wird nach spezifischen Konstellationen und Gründen gefragt, unter Bezug auf die die erwartungswidrigen Ergebnisse >Sinn machen<. (2) Ebenso sind typisierte Unterschiede (Männer/Frauen; Eigenschaften) daraufhin zu analysieren, inwieweit es sich hier tatsächlich um Seins-Aussagen handelt oder ob sich diese Typisierungen nicht in Prämissen-Gründe-Zusammenhänge überführen lassen (vgl. dazu Holzkamp 1986a, 36ft"), wonach >ich< mich zu (impliziten) geschlechtsbezogeilen Eigenschaftszuschreibungen verhalte oder sie wie (angeborene) >Eigenschaften< übernehme. Holzkamp (a.a.O., 54f) hält allerdings die analysierten experimentellen Anlagen und Befunde nicht für bedeutungslos, soweit sie, vor allem bei unerwarteten Befunden, zu Prämissenspekulationen anregen. Die Grenze des Begründungsdiskurses wird in dem Maße erreicht, in dem man sich physiologischen Dimensionen nähert, etwa einfachen Wahrnehmungsprozessen (Tiefensehen bei Ein- und Zweiäugigkeit) oder beim Nachlassen des Gedächtnisses in höherem Alter- ein Vorgang, zu dem man sich durch Gedächtnistrainings, Gedächtnisstützen etc. verhalten kann, der aber selber kaum »vernünftigerweise<< stattfindet. Holzkamp resümiert seine Analysen so, »dass in dem Maße, in dem die Identifikation und Explikation von Begründungsmustern weniger überzeugend möglich ist, auch der eigentlich >psychologische< Gehalt der jeweils betrachteten Theorien abnimmt und die Grenzfälle, in denen man etwaige verborgene BGM [Begründungsmuster, M.M.) mit Sicherheit ausschließen kann, gleichzeitig Grenzfälle psychologischer Theorienbildung darstellen<< (l986a, 44). 22 Festzuhalten bleibt, dass, wer im experimentell-statistischen Paradigma Theorien prüfen will, den Nachweis zu erbringen hat, dass diese Theorien keine verborgenen Prämissen-Gründe-Zusammenhänge enthalten (zu weiteren Diskussionen dieses Problems vgl. Brandtstädter et al.l994; Markard 2000c). Die von Holzkamp vorgelegten Analysen von Pseudoempirie sind nicht die einzigen (vgl. vor allem Smedslund [ 1984)). Holzkamp selber hat sich in seinen Überlegungen auf zwei Arbeiten Brandtstädters (1982, 1984) bezogen, in denen 22 Dies verweist - heutzutage- auf das Verhältnis von subjektwissenschaftlicher Psychologie und Hirnforschung, das ich hier nicht weiter verfolgen will. Anfänge und Leitlinien einer diesbezüglichen (und notwendigen) kritisch-psychologischen Debatte finden sich bei Maiers (2008).
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dieser allerdings nicht aus inhaltlichen, sondern aus formal-logischen Erwägungen heraus argumentiert. In attributionstheoretischen Untersuchungen etwa, so Brandtstädter (1984), werden Zusammenhänge zwischen Kognitionen (Wahrnehmung positiver Ereignisse, etwa einer Leistung, die auf eigene Fähigkeiten zurückgeführt wird) und Emotionen (darauf stolz sein) als »empirische [im Sinne kontingenter, M.M.] Kausalhypothesen vorgestellt<<. Dagegen argumentiert Brandtstädter, dass die dafür erforderliche Voraussetzung, dass >>kognitive >Antezedentien< und emotionale >Konsequenzen< begrifflich voneinander unabhängig seien<<, >>hinfallig<< sei: »Der Umstand, dass z.B. Freude nicht bei der Wahrnehmung personal negativ bewerteter Sachverhalte auftritt, ist wohl nicht aufgrund von Naturgesetzen, sondern aus begrifflichen Gründen auszuschließen.<< (A.a.O., 154f) Der hier beispielhaft angeführte Zusammenhang von internal attribuierter Leistung und Stolz ist nicht kontingent (und damit auch nicht einer empirischen Prüfung bedürftig oder fähig), sondern eine - in diesem Falle - begriffsstrukturelle Implikation. Welche Ereignisse von einer Person als positiv wahrgenommen und bewertet werden, ist, so auch Brandtstädter, dabei empirisch offen (allerdings »kaum mit dem Anspruch auf nomologische Allgemeingeltung<< [a.a.O., 155] zu beantworten). Er begründet dies mit der Widerlegung eines von ihm selbst formulierten Einwands (ebd.), >>es sei doch z.B. keineswegs begriffsnotwendig, dass ein Schüler auf eine gute Note mit positiven Emotionen reagiere, dass jemand für fremde Hilfe dankbar sei [er kann sie z.B. als Einmischung empfinden, M.M.] und so fort. Damit wird freilich nicht mehr gesagt, als dass eine gute Note eben nicht regelmäßig als positives Ereignis betrachtet wird (sie mag z.B. den Status des Schülers in einer Freundschaftsclique bedrohen)<<. Man werde solche Einwände aber >>nicht als Widerlegung der angesprochenen emotionstheoretischen Kernannahmen, sondern als Scheitern bestimmter empirischer Interpretationen der in diesen Annahmen verwendeten Begriffe betrachten<< (ebd.).
13.3.3 Prinzip der Partizipation der Betroffenen (»Mitforscher«-Konzept) Wie ist nun das Verhältnis der professionell Forschenden zu anderen am Forschungsprozess Beteiligten zu sehen? Hierzu fassen wir einige Charakteristika der Kritischen Psychologie zusammen, die in verschiedenen Teilen dieses Buches schon dargestellt wurden. Erstens: Die Kennzeichnung der Kritischen Psychologie als einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts ist nicht metaphorisch gemeint; sondern in dem Sinne wörtlich zu nehmen, dass individuelle Subjekte nicht beforscht werden, sondern auf der Forschungsseite stehen (sollen). Zweitens: Der übergreifende Gesichtspunkt ist dabei der der Theoriensprache oder der Charakteristika von Theorien: Auf der einen Seite haben wir Theorien im Bedingtheitsmodus (der nicht auf das Experiment als dessen Paradefall beschränkt ist): Die Fragestellung ist die, wie Bedingungen auf Menschen wirken - eine »kontrollwissenschaftliche« Fragestellung/Herangehensweise im »Bedingtheitsdiskurs«. Auf der anderen, der subjektwissenschaftlichen Seite sollen Theorien zur Selbstverständigung der Beteiligten dienen. Statt um die »Wirkung« von Bedingungen geht es im kritisch-psychologischen »Begründungsdiskurs«
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um die Erfahrung von Bedeutungen, die Bedingungen für die jeweiligen Menschen haben, und um das Verhältnis von objektiver Bestimmtheit (Leben unter Bedingungen) und subjektiver Bestimmung (Einfluss auf Bedingungen). Vor diesem Hintergrund hat Holzkamp die nicht als Professionelle am Forschungsprozess Beteiligten (die »Betroffenen«) als »Mitforscher« bezeichnet, die als »Mitsubjekte« mit den (professionellen) »Forschern« im Forschungsprozess zusammen arbeiten, daran partizipieren (1983, 544ff). Ist bei dieser Formulierung trotz des Partizipationsgedankens eine Hierarchie mit gedacht, wie sie ja auch mitschwingt in der Rede vom Verhältnis zwischen (deutschen) Bürgern und (ausländischen) Mitbürgern? Keine Hierarchie, wohl aber eine Differenz, die sich darin erweist, dass die »Forscher« ( l) wesentliche Arbeiten ausführen, von denen die Mitforscher verschont bleiben: etwa Transkribieren von Gesprächen, und dass (2) die »Forscher« wissenschaftliche Kenntnisse, Ergebnisse wissenschaftlichen Arbeitensund wissenschaftlicher Recherchen einbringen, die den »Mitforschern« im Normalfall nicht ohne Weiteres geläufig sind. (3) Diese wiederum bringen Kenntnisse und Erfahrungen aus ihren Lebensumständen mit, ohne die eine subjektwissenschaftliche Forschung nicht möglich ist. Insofern ist das Verhältnis von »Forschern<< und >>Mitforschern<< komplementär und damit keineswegs statisch, da sich die jeweiligen Kompetenzen im Laufe eines Forschungsprozesses verschieben - und auch verschieben müssen, da und soweit sich die »Mitforscher<< und >>Forscher<< qualifizieren müssen: Die »Forscher« insofern, als sie die Lebensumstände der >>Mitforscher<< kennen lernen müssen, die für die in Frage stehenden Probleme bedeutsam sind. Die »Mitforscher<< müssen sich insofern qualifizieren, als sie sich, soweit die Forschungsprobleme es erfordern, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen befassen müssen. Was heißt das? Es ist sinnvoll, dass sich die Mitforscher in einem für sie nützlichen Ausmaße mit Erkenntnissen vertraut machen, die zu ihren Problemen vorliegen, die dafür relevant sind. Dazu gehört auch, dass sie sich wieder am Maßstab des Problems- die kritisch- psychologischen Kategorien zu eigen machen müssen, wenn sie deren- dem Anspruch nach -klärende Potenz nutzen möchten: Wenn ich mich als Mitforscher bspw. über die Umgangweisen mit Kindern im >>Trotzalter<< verständigen und dabei bestimmte Einsichten der Kritischen Psychologie nutzen will, werde ich kaum umhin kommen, die in Kap. 12.2.1 referierten Überlegungen zum Verhältnis von Sozialintentionalität und Bedeutungsverallgemeinerung zur Kenntnis zu nehmen- wobei es zur Qualifikation von >>Forschern« gehört, dies in einer angemessenen Weise zu ermöglichen. Diese für >>Forscher<< und >>Mitforscher<< angegebenen Qualifikationsnotwendigkeiten setzen spezifische Akzente, die nicht ausschließen, dass auch die >>Forscher<< sich wissenschaftlich (weiter) qualifizieren müssen, dass >>Mitforscher<< eigenes wissenschaftliches Wissen einbringen und dass sie ggf. auch über die Lebensum-
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stände der >>Forscher« Bescheid wissen müssen (etwa über deren institutionelle Zwänge oder >schicht<-spezifischen Argumentationen). Die Qualifikation »der« oder zum »Mitforscher« ist übrigens kein Spezifikum allein der Kritischen Psychologie; auch wer sich einer psychoanalytischen »Kur« unterzieht, wird sich über kurz oder lang mit Grundzügen psychoanalytischen Denkens vertraut machen müssen. Dass im Übrigen auch »Nicht-Professionelle« allein, also ohne »professionelle« Forscher/innen den kritisch-psychologischen Ansatz in unterschiedlich systematischer Weise für sich nutzen, ist unbenommen. Vor dem Hintergrund des Verhältnisses von »Forschern« und »Mitforschern« ist nun genauer zu klären, was Holzkamp mit dem Konzept der »Metasubjektivität« meint: Da das Niveau intersubjektiver Verständigung in einem subjektwissenschaftlichen Forschungsprozess nicht unterschritten werden darf, muss auch die wissenschaftliche Objektivierung die eines »intersubjektiven Verständigungsrahmens sein: Der Verständigungsrahmen selbst muss durch die Forschungsaktivität in Richtung auf die wissenschaftliche Nachprüfbarkeit/Geltungsbegründung/Verallgemeinerbarkeit der Forschungsresultate, also [... ] sozusagen auf ein Niveau wissenschaftlicher >Metasubjektivität<, die die intersubjektive Beziehung zwischen Forscher und Betroffenem einschließt und übersteigt, entwickelbar sein.« (Holzkamp 1983, 541) Dies ist eine Voraussetzung für das oben genannte Ziel subjektwissenschaftlicher Forschung, dass alle am Forschungsprozess Beteiligten sich in die Lage versetzen, den Zusammenhang zwischen eigenen Lebensbedingungen bzw. deren Bedeutungen in den eigenen Prämissen-Gründe-Konstellationen zu begreifen und gegebene Handlungsmöglichkeiten/-behinderungen auf restriktive Umgangsweisen damit und Lösungsmöglichkeiten zu analysieren. Aus den bisher dargelegten Bestimmungen subjektwissenschaftlicher Forschung ergibt sich auch zwanglos, dass die Probleme der Forschung (auch) die der »Betroffenen« oder »Mitforscher« sein müssen, da diese sonst kaum ein persönliches Interesse haben dürften, am Forschungsprozess zu partizipieren. Hierbei ist allerdings in Rechnung zu stellen, dass sowohl >etwas als Problem zu sehen (oder zu haben)< als auch >Interesse zu haben< nicht statisch, sondern veränderlich ist. Ich kann während eines Forschungsprozesses mein Interesse daran verlieren, weil die Forschung doch daran vorbeigeht oder weil ich mein eigenes Problem als gelöst ansehe; ich kann aber auch, während ich anfänglich nur mehr oder weniger halbherzig teilgenommen habe, zunehmen Interesse entwickeln, dass ggf. auch über meine unmittelbaren Probleme hinausgeht. Aus all dem folgt, »dass die Betroffenen - soweit durch die jeweilige Fragestellung erfordert selbst auch ihre subjektive Befindlichkeit in Aneignung der subjektwissenschaftlichen Kategorien durchdringen und so auf die Ebene metasubjektiver Verallgemeinerbarkeit bringen: Dadurch werden, indem hier die Differenz zwischen Wissenschaftssubjekt und betroffenen Subjekten partiell aufgehoben ist, die
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Betroffenen zu realen Kommunikationspartnern des Forschers auf dem Niveau des metasubjektiv-wissenschaftlich qualifizierten intersubjektiven Verständigungsrahmens, womit die auf metasubjektiver Ebene zu explizierenden Objektivierungskriterien erst ihren realen aktualempirischen Bezug erhalten können.
Dies schließt ein, dass auch die methodologischen Prinzipien selbst als Aspekte der Kategorien nicht nur solche des >Forschers< bleiben können, sondern auch solche der Betroffenen werden müssen, womit auch die danach zu konzipierenden aktualempirischen Methoden zu Methoden in der Hand der Betroffenen werden. Dieses (allen spezielleren methodologischen Prinzipien verordnete) Prinzip der Partizipation der Betroffenen am Forschungsprozess markiert einen zentralen Unterschied subjektwissenschaftlichen Vorgehens gegenüber variablenpsychologisch-kontrollwissenschaftlichen Verfahren: Subjektwissenschaftliche Kategorien, Theorien, Methoden sind nicht Theorien und Methoden etc. iiber die Betroffenen, sondern fiir die Betroffenen. Sie werden diesen zur Klärung ihrer Befindlichkeit bzw. Beteiligung an der Klärung der jeweiligen Fragestellung selbst in die Hand gegeben. Dies ist auch hier nicht das Resultat einer irgendwie gearteten moralischen, humanitären oder politisch-emanzipatorischen Vorentscheidung, sondern ergibt sich mit Notwendigkeit aus dem methodologischen Grundkriterium der Gegenstandsadäquatheit von Methoden zur Erfassung der Spezifik des Psychischen als Befindlichkeit/Handlungsfähigkeit unter gesamtgesellschaftlichen Bedingungen individueller Existenz.« (Holzkamp, a.a.O., 543f) 13.3.4 Forschungsprinzipien und Forschungspraxis: Alles oder nichts?
Mit dieser prägnanten Passage stellen sich zwei immer wieder auftauchende Probleme: Erstens: Was bedeutet es, dass die Kategorien, Theorien, Methoden nicht solche über, sondern für die Betroffenen sind? Die Frage stellt sich deswegen, weil, wenn ich psychologisch etwas für mich kläre, auch etwas über mich weiß. Und wenn zwei Menschen zwischen ihnen bestehende Probleme für sich klären, wissen sie auch etwas übereinander, also über die jeweils andere Person, etc. Vor allem, wenn es darum geht (s.u.) derartige Selbst-Klärungen zu verallgemeinern, ist damit auch potenzielles Wissen über Andere bzw. über deren Handlungsmöglichkeiten oder -behinderungen verbunden. Es sind damit sogar tendenziell Manipulationsmöglichkeiten verbunden: »Verstehen« kann ich auch zum Manipulieren (von »Prämissen«) nutzen: Davor sind subjektwissenschaftliche Forschungsprozesse bzw. deren Resultate nicht gefeit. Die- m.E. etwas unglückliche Gegenüberstellung »für Betroffene«- »über Betroffene« drückt die Intention subjektwissenschaftlicher Forschung aus, verdunkelt aber deren ggf. intentionswidrigen Effekte. Außerdem kann der Umstand, dass jemand etwas über andere weiß oder wissen kann, durchaus nützlich sein: dass Erwachsene etwas über den spezifischen Weltzugang von Kindern wissen (vgl. den »Trotz« in Kap. 12.2.1), dürfte auch in deren Interesse liegen.
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Zweitens: Was bedeutet es denn, wenn sich das Niveau intersubjektiver Verständigung in Forschungsprozessen nicht (im gewünschten Ausmaß) aufrecht erhalten lässt, wie es in vielen Forschungsaktivitäten der Fall ist (vgl. Markard & Ausbildungsprojekt 2000; Bebrens 2002; Bibouche & Held, 2002; Huck 2009). Gilt dann das Prinzip des »Alles-oder-nichts«, bei dem folglich »nichts« herauskäme oder herauszukommen hätte? Wohl kaum, denn das würde kritisch-psychologische Forschung faktisch zu einer normativen bzw. normativ-selbstgefälligen Nullnummer machen. Die geschilderten subjektwissenschaftlichen Forschungsregulative haben nicht den Sinn, Forschung zu verhindern, sondern zu optimieren, bzw. Reflexionen darüber zu ermöglichen, welcher Erkenntnismöglichkeiten man sich begibt, soweit die geschilderten methodologischen Vorstellungen oder Regulative nicht realisiert werden können. Ich habe dieses Problem am Beispiel studentischer Praktika erläutert, die - als Feld studentischer Praxisforschung - Pflichtpraktika sind, deren Ort (und Personal) sich die Studierenden oft nicht nach eigenen Wünschen aussuchen können (Markard 2009, 17ff). Eines der Probleme studentischer Praxisforschung besteht dabei darin, dass die Praktikant/inn/en mit ihren Fragen, Kritiken, Vorschlägen nicht immer auf Praktiker/innen treffen, die bereit oder in der Lage sind, sich ihrer anzunehmen bzw. sich mit ihnen gemeinsam über Probleme bei der Arbeit zu verständigen. Inwieweit sich Praktiker/innen auf einen Praxisforschungsprozess einlassen, ist damit eine immer wieder neue und empirisch offene Frage (die natürlich auch vom Verhalten der Praktikant!inn/en abhängt). Soweit sich nun keine diesbezügliche Kooperation zwischen Praktikant/innen und Praktiker/innen herstellen lässt, sind die Praktikant/inn/en in der Auswertung ihrer Erfahrungen letztlich auf >Spekulationen< über die Handlungsprämissen der Praktiker/ innen angewiesen. Die Studierenden könnten natürlich auch den Praktikerinnen und Praktikern Eigenschaften wie »Arschloch« oder »Muffkopp« zuschreiben oder sich überhaupt nicht fragen, warum die Praktiker so reden und handeln, wie sie es tun. Das heißt, sie können Erkenntnisinteresse und Fragestellung der kritisch-psychologischen Praxisforschung aufgeben. Nur: Solange sie das nicht tun, bleibt ihnen in der geschilderten Lage nichts als Prämissenspekulation, die allerdings wegen der von ihnen analysierten institutionellen Bedingungen einen bedeutungsanalytischen Bezugspunkt hat. Es geht also darum, institutionelle Bedingungen, aber auch theoretische Orientierungen etc. als potenzielle Prämissen in Rechnung zu stellen. Wenn, wie mehrfach festgestellt (etwa in Kap. 11.3.1.1), der Begründungsdiskurs unhintergehbar ist, ist »Prämissenspekulation« der selbstkritische Ausdruck dafür, die Wissenschaftssprache der Psychologie auch dann nicht aufzugeben, wenn soziale Selbstverständigung nicht erreicht werden kann.
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13.3.5 Subjektwissenschaftliche Forschung als Einheit von Erkennen und Verändern (Handlungsforschung): »kontrolliert-exemplarische Praxis« und die »Entwicklungsfigur« 13.3.5.1 Entwicklung und Konzept der Entwicklungsfigur Die bisher dargelegten Rahmenbestimmungen bzw. Prinzipien subjektwissenschaftlicher Forschung sind methodologische Konsequenzen der kategorialen, inhaltlichen Bestimmungen des Psychischen in dessen Ausprägung der empirischen Subjektivität in der kapitalistischen Gesellschaft. Diese Bestimmungen waren immer so angelegt, (scheinbar bloß) >innerpsychische< Sachverhalte/Probleme in ihrem Zusammenhang zu objektiven Lebensbedingungen und deren Restriktionen zu betrachten. Das bedeutet, dass aktualempirische subjektwissenschaftliche Forschung es in erster Linie mit kritischen Situationen der Betroffenen zu tun hat, in denen Gründe und Konsequenzen ihres Handeins nicht auf der Hand liegen, sondern gegen Vordergründigkeiten, Selbsttäuschungen etc. in Richtung auf hypothetische und praktisch zu erprobende Handlungsoptionen erst herausgearbeitet werden müssen. Aus diesem Handlungsbezug wiederum ergibt sich als ein »zentraler Grundzug« der Forschung die »gemeinsame Praxis des Forschers und der Betroffenen in Richtung auf [... ) Möglichkeiten der Erweiterung der Bedingungsverfügung. Nur im wirklichen, praktischen Versuch der Möglichkeitsrealisierung können nämlich deren je realhistorisch gegebenen objektiven und psychischen Besonderungen und Beschränkungen an der widerständigen Realität empirisch erfahrbar werden, was gleichbedeutend ist mit der >metasubjektiven< Diskutierbarkeit der speziellen Mittel, die hier zur Überwindung der Realisierungsbehinderungen etc. erfordert sind, und der Umsetzung in neue Änderungshypothesen als Anleitung des nächsten praktischen Schrittes versuchter Verfügungserweiterung etc.<< (Holzkamp 1983, 562)
Diese für die Betroffenen/Mitforscherexistenzielle >>reale Erweiterung ihrer Bedingungsverfügung, damit Verbesserung ihrer Befindlichkeit/Handlungsfähigkeit<< ist aber >>nicht das primäre Ziel der Forschungsaktivität, sondern nur notwendiges Implikat des Umstandes, dass ich nur über die wirkliche Erweiterung meiner Bedingungsverfügung [... ] die Umstände aufweisen kann, unter denen die entgegenstehenden Behinderungen von mir überwunden werden konnten<< (a.a.O., 563). Unter diesem Aspekt schlägt Holzkamp unter Bezug auf einen schon früh (1970b, 129 [136]) von ihm eingebrachten Terminus vor, aktualempirische subjektwissenschaftliche Forschung als >>kontrolliert exemplarische Praxis<< zu charakterisieren. Der Prototyp dieser Forschungs-Praxis ist die >>Entwicklungsfigur<<, die im Zuge des Projekts >>Subjektentwicklung in der frühen Kindheit« (SUFKI) (1985) konzipiert (Markard 1985b, 103ff) und später für andere Gegenstandshereiche weiterentwickelt wurde (Holzkamp l996c, l55ff; Markard
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2000c, 233ff). Mit »Entwicklungsfigur« wird- idealtypisch- ein Problemlöseprozess in vier Etappen (»Instanzen«) beschrieben, dessen Ausgangspunkt ( 1. Instanz) eine Problematik in der Lebenspraxis von Betroffenen ist. Im Projekt SUFKI waren die »Betroffenen« Eltern in ihrem Zusammenleben mit ihren Kindern. Die drei weiteren Instanzen sind: 2. theoretische Aufschlüsselung der Problematik, 3. Versuch der Veränderung der Lebenspraxis in Richtung Problemlösung, 4. Analyse der Veränderung bzw. ihres Scheiterns. Bevor diese Instanzen genauer beschrieben werden, soll zunächst das SUFKI skizziert werden, das im Herbst 1977 von 12 Personen gegründet wurde, von denen als »Mit-Forscher/innen« neun Eltern neu geborener Kinder mitwirkten; als Langzeitstudie lief es bis 1983; es wurde nur zu Beginn kurzzeitig gefördert; eine systematische Auswertung konnte deswegen nicht erfolgen; Gisela Ulmanns Buch Über den Umgang mit Kindern (1987) basiert wesentlich auf den Erfahrungen dieses Projekts; auch viele der hier im Kap. 12. referierten Konzepte und Überlegungen Holzkamps und anderer zu Entwicklung und Erziehung sind in Zusammenhang mit diesem Projekt entstanden. · Das Projekt knüpfte am Interesse der Eltern an, wie es wohl mit ihren Kindern >laufen< würde, welche Probleme es geben könnte, was sie davon hätten, in einem diesbezüglich kontinuierlichen Diskussionszusammenhang zu stehen; das damit verknüpfte Forschungsinteresse war, wie auf der Basis der kritisch-psychologischen Kategorien (verallgemeinerte/restriktive Handlungsfähigkeit, Subjekt- vs. Instrumentalbeziehungen etc.) kindliche »Subjektwicklung« empirisch untersucht werden könnte. Dass in kritisch-psychologischen Projekten die Frage des Erkenntnisinteresses »nirgends« gestellt worden wäre, wie Holzkamp in einem seiner posthum veröffentlichten Aufsätze meint (1996, 98), trifft nachweislich nicht zu. Sowohl im SUFKI als auch in den Projekten zu Rassismus und beruflicher Praxis wurden bzw. werden die betreffenden Erkenntnisinteressen reflektiert; auch in den oben geschilderten allgemeineren methodologischen Ausführungen wird das Problem behandelt. Statt einzelner zahlreicher Nachweise sei hier nur auf Holzkamps eigene (zusammen mit anderen publizierte) Reflexion der Entwicklung des Erkenntnisinteresses kritisch-psychologischer Praxisforschung verwiesen (Holzkamp et al. 1985, 62; Markard & Holzkamp 1989, 5ff; vgl. hier auch Kap. 15.5).
In der Regel tagte das Projekt vierzehntäglich etwa 2 bis 3 Stunden; zu Beginn dienten die Sitzungen einem ersten Erfahrungsaustausch über das (neue) Leben mit Kindern und der Verständigung über die Arbeit und Ziele des Projekts. Sie dienten dabei auch der Qualifizierung der Mitforscher/ innen, vor allem unter folgenden Gesichtspunkten: Herstellung einer gegenseitigen Vertrauensbasis, die es erlaubte, »private« Probleme in die Projektöffentlichkeit zu bringen, Diskussion von Sichtweisen auf Entwicklung und Erziehung, dabei auch kritisch-psychologischer Sichtweisen. Einen
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großen Stellenwert hatten Diskussionen über Möglichkeiten und Sinn des Tagebuch-Schreibens über das Zusammenleben mit den Kindern (Markard 1985, 89ff), weil die Eltern-Tagebücher eine zentrale Datenquelle des Projekt werden sollten (und auch wurden). In den Projektsitzungen wurden ausgewählte Teile der Tagebücher diskutiert; die Auswahl erfolgte oft nach der (subjektiven) Dringlichkeit der dort niedergelegten Probleme, aber auch nach Unähnlichkeiten/Ähnlichkeiten in den verschiedenen Tagebüchern, nach theoretischen Interessen etc. Das Konzept der Entwicklungsfigur ergab sich in diesem Kontext als methodische »Abstraktion« >geglückter< Problemlöseprozesse. In der ersten Formulierung der Entwicklungsfigur von 1985 ist die Notwendigkeit der Bedingungs-Bedeutungs-Analyse noch nicht enthalten (vgl. die aus unterschiedlichen Zusammenhängen heraus gleichsinnig formulierte Kritik von Holzkamp 1996c, 158ff, und Markard 2000c, 238). Diese erste Fassung war zwar auf eine bestimmte Forschungskonstellation und ein bestimmtes Forschungsfeld bezogen (»Kleinfamilie« bzw. ähnliche Konstellationen), ohne dass dies aber auch in der Konzeption selber hinreichend reflektiert worden wäre, so dass die Entwicklungsfigur in dieser Hinsicht »konzeptionell >allgemein< daherkam« (Markard, ebd.). Inhaltlich wurde im Projekt zwar berücksichtigt, dass die Probleme, um die es ging, mit der Institution »Familie« vermittelt waren, die im Kontext der Kritischen Psychologie vor allem von Dreier (1980) untersucht wurde23 ; dies wurde aber nicht systematisch in das Konzept der Entwicklungsfigur einbezogen. Bei deren Nutzung müssen also die konkreten gesellschaftlichen und institutionellen Umstände, unter denen die betreffenden psychologischen Probleme auftauchen, und unter Bezug auf die sie verständlich und ggf. lösbar werden können, systematisch mit analysiert werden; das ist ja der Sinn der Bedingungs-Bedeutungs-Analyse. Kaipein (2005) hat in diesem Zusammenhang bezüglich der Problematiken in der sozialen Arbeit vorgeschlagen, die Entwicklungsfigur um eine Vorinstanz zu erweitern, in der auch das Zustandekommen der Aufträge für die Sozialarbeiter/ innen etc. systematisch zu reflektieren ist. Um der Spezifik dieser beruflichen Praxis und darin intendierter Veränderungen Rechnung zu tragen, hat er darüber hinaus »>freie Kooperation< als heuristisches Prinzip bei der Bedeutungsanalyse von Machtanordnungen« vorgeschlagen (Kalpein 2007, 90ff), was ich hier im Einzelnen nicht diskutieren will. In beiden Fällen wird aber dem Umstand Rechnung getragen, dass subjektwissenschaftliche Ansprüche nicht von vorneherein aufgegeben werden sollen, wenn »Betroffene« nicht als Mit-Forscher/innen agieren. (Zum Problem, was die neoliberale Umstrukturierung der Sozialen Arbeit u.a. für das Verhältnis von Sozialarbeiter/inne/n und Klient/inn/en aus der Sicht der Sozialarbeiter/inne/n bedeutet, hat Eiehinger [2009] eine Arbeit vorgelegt).
23 Die Bedeutung der Familienform für systemische Therapie untersuchte Priele (2008).
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13.3.5.2 Erste Instanz der Entwicklungsfigur: Problemkonstellation
Die erste Instanz steht für das Ausgangsproblem von Betroffenen - um im SUFKI-Bereich zu bleiben, von Eltern, die etwa Kindern »Grenzen setzen« wollen oder setzen zu müssen meinen und Widerstand ernten. Einige Schwierigkeiten dieser Instanz liegen auf der Hand: »Das Problem<<, von dem die Rede ist, ist selber schon eine Deutung, und zwar insofern, als es- als Problem - aus dem Bezug zu anderen Konstellationen herausgelöst ist; die Schilderung ist möglicherweise >einseitig< oder unvollständig; Dritte erleben und interpretieren die geschilderte(n) Szene(n) anders etc. Hier ist auch fraglich, was eigentlich die Analyse-Einheit ist: das Verhalten des Kindes, das des Erwachsenen, ihre Koordination, ihre Koordination in bestimmten Konstellationen etc. Wo muss weiter- und nachgefragt werden? Sind die beigebrachten Daten überhaupt hinreichend, ist das Problem als Problem zu verstehen. Gibt es andere Sichtweisen in der Familie, werden die - gg( vorsprachliehen - Äußerungsweisen des Kindes möglichst authentisch geschildert? Dies ist deswegen besonders wichtig, weil die Kinder ja nicht in der Lage waren, als »Mitforschende« an diesem Projekt teilzunehmen. Grundsätzlich ging es um »Scenen alltäglicher Lebensführung<<, wie Holzkamp dies später in seiner posthumen Arbeit über Lebensführung formuliert hat (1996, 39ff). Im Vordergrund stehen dabei Probleme, in denen sich in ihrer Dynamik unbegriffene Machtverhältnisse niederschlagen. Kategorialer Hintergrund derartiger Problematisierungen ist dann die kritisch-psychologische >Leitannahme<, dass problematische Verstrickungen restriktiv funktional sind, das heißt, dass die Bewältigungsversuche, mit denen die Betroffenen ihre Verfügungsmöglichkeiten zu erweitern versuchen, kontraproduktiv sind, ohne dass ihnen dies bewusst ist oder ohne, dass sie dazu Alternativen sehen. Dies schließt natürlich weder aus, auch andere Probleme zu verhandeln (welche Schuhe passen sich am besten der Fußform an?), noch schließt es aus, dass es kontraproduktive Lösungen jenseits restriktiver Verstickungen gibt (falsche Schuhempfehlung). 13.3.5.3 Zweite Instanz der Entwicklungsfigur und Datenfunktionen und -modalitäten: Reformulierung des Problems als Prämissen-GründeZusammenhang
In der zweiten Instanz wird diese Problematisierung systematisiert mit dem Ziel, die gerade schon angedeutete Interpretationsvielfalt einerseits zum Zuge kommen zu lassen, sie aber andererseits auch so zu reduzieren, dass alternative und praktikable Handlungsmöglichkeiten herausgearbeitet werden können. Soweit die Grundannahme einer restriktiven Verstrickung bei den dargestellen Problemen zutrifft und auch thematisiert wird, ist im Konzept der Entwicklungsfigur mitgedacht und vorausgesetzt, dass die Qualifikation der Betroffenen zu Mitforscher/inne/n auch bedeutet, dass
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sie bereit sind, ihre eigenen Sichtweisen in Frage stellen zu lassen. Diese Infragestellung/Klärung bezieht sich allgemein auf die Herausarbeitung und Diskussion der kategorialen Grundlagen der Sichtweisen der Betroffenen (und der anderen Diskutierenden): Ist etwa »Grenzen setzen« mit der Kategorie der »Subjektivität/Intersubjektivität« vereinbar oder wird hier schon auf dieser Ebene die Subjektivität des Kindes negiert, wird es zum Objekt von Erziehungsbemühungen gemacht? Jedenfalls müssen die Klärungen zum Verhältnis »Grenzen setzen«- »kindlicher Widerstand« sich mit der Frage befassen, ob dieser Widerstand sich gegen die Negation kindlicher Subjektivität richtet oder nicht. Wie tief reichen die Differenzen zwischen den Diskutierenden? Auf welcher Ebene liegen die Auseinandersetzungen? Betreffen sie Techniken des Grenzen-Setzensoder das Grenzen-Setzen überhaupt? Sind >Erklärungs-< bzw. Verstehensversuche und Handlungsvorschläge mit Grundansichten der Betroffenen vereinbar, auf welcher Ebene muss was geändert werden? Sind die Betroffenen der Ansicht, dass (s.o., Kap. 12) Kinder geborene Schädlinge sind, denen ihre Gesellschaftlichkeit beigebogen werden muss, oder haben sie eine andere Vorstellung von subjektiven Entwicklungsnotwendigkeiten von Kindern? Derartige inhaltliche Fragen sind unter dem Aspekt methodisch bedeutsam, weil mit ihrer Formulierung und Diskussion die Sichtweisen der Betroffenen herausgearbeitet werden können. In diesem Zusammenhang bekommt auch die Analyse der beigebrachten Daten auf ihre (l) »Funktion« und (2) »Modalität« Bedeutung: Zu (1): Mit dem Konzept der »Datenfunktion« sollen die beigebrachten empirischen Daten unter folgenden Gesichtspunkten durchdacht werden: Welche sind die Daten, ohne die der problematische Sachverhalt überhaupt nicht verständlich werden kann, in denen jene Widerständigkeit der Realität im Besonderen zum Ausdruck kommt, um derentwillen die Theoriebildung überhaupt erforderlich ist: primär-fundierende Daten. Also: Wann und wie tauchen konkrete Konflikte des »Grenzen Setzens« und des Widerstands dagegen auf? Wie klar sind sie geschildert? Ist davon auszugehen, dass dies den Kern des Konfliktes ausmacht? Als sekundär-fundierend gelten Daten, aus denen sich ergibt, dass durch »problem-externe Ereignisse« das thematisierte Problem sich verschiebt (bestimmte Grenzen müssen gar nicht mehr gesetzt werden, weil sich das Kind weiter entwickelt hat). Als stützend-konkretisierend haben wir Daten bezeichnet, mit denen die Klärung aus anderen als den bisher berücksichtigten Bereichen empirisch weiter abgesichert werden kann (»Grenzen setzen« auch bei Tischmanieren). Die beiden letztgenannten Datenfunktionen sensibilisieren im Übrigen für die schon genannte Schwierigkeit, dass »das Problem« immer eine Abstraktion vom stream of behavior ist. Veranschaulichende Daten schließlich sind solche, die der Verständigung in der Diskussion dienen; es sind weitere Beispiele, die aber auch wegfallen könnten, ohne dass die Diskussion substan-
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ziell an empirischer Verankerung verlöre (>Am nächsten Tag war er schon wieder rotzfrech<). Zu (2): Beigebrachte Beobachtungen werden auf ihre »Modalität« hin analysiert: Der »stärkste« Modus ist der der Realbeobachtung, wobei zu differenzieren ist, wer in welcher Form und in Bezug auf welche Situation welche Dinge berichtet. Darstellungen von Beobachtungen können Klischees enthalten und sie können, soweit sie unvollständig (erinnert) sind, durch Alltagswissen >komplettiert< werden: Wo dies naheliegt, ist zu fragen, inwieweit die Daten im Modus der allgemeinen Beobachtbarkeit beigebracht werden. Es stellt sich also immer die Frage, ob und wieweit Beobachtung in diesem Modus in Realbeobachtungen überführt werden können. Der Modus der allgemeinen Beobachtbarkeit macht auch dafür sensibel, dass das (gehäufte) Vorkommen von Ereignissen oder die Alltags-Redeweise des »man« durchaus keinen subjektwissenschaftlichen Strukturzusammenhang darstellen, wohl aber Vorurteile und illusorische Korrelationen bedienen können. Dies ist wichtig, weil das (mit dem »man« operierende) Vorurteil die bezüglich des Induktionsproblems unbekümmerte und alltagsmilitante Verallgemeinerung ist: Schluss von einzelnen Ereignissen auf allgemeine Eigenschaften, Haltungen etc. (>Der ist so< wie seine Oma väterlicherseits). Diese Daten-Analysen haben die Funktion, eine gewisse Ordnung in die Daten zu bringen, was deswegen erforderlich ist, weil es ja keine Datenrestriktionen gibt, zunächst alles als Daten eingebracht werden kann. Ziel der zweiten Instanz der Entwicklungsfigur ist es, diejenigen Prämissen-Gründe-Zusammenhänge herauszupräparieren, in denen die restriktive Funktionalität der- (bis dahin jedenfalls) erfolglosen -Versuche der Bewältigung der thematisierten Probleme durch die Betroffenen (vor allem diesen selber) verständlich wird. Im Beispiel des Grenzeu-Setzens könnte die restriktive Funktionalität darin liegen, dass Anpassungstenzen und die Angst um die eigene Tadellosigkeit als Erzieher(in) (verborgene) Gründe für ein elterliches Verhalten darstellen, das gleichzeitig auf kindlichen Widerstand stößt (vgl. Kap. 12.2.5). 13.3.5.4 Dritte Instanz der Entwicklungsfigur: Alternative Prämissenakzentuierung und praktische Erprobung
An diesen Prämissen-Gründe-Zusammenhängen setzen nun die Überlegungen an, die in der dritten Instanz gefasst werden: Handlungsvorschläge herauszuarbeiten, mit denen die Probleme einer Lösung näher gebracht werden können. Anders formuliert: Es geht darum, Handlungsprämissen zu akzentuieren, unter denen die Betroffenen andere als die bisherigen Handlungsmöglichkeiten sehen bzw. Handlungsblockierungen auflösen können. Es könnte im »Grenzen-Setzen«-Beispiel also darum gehen, die Prämisse, dass, wenn ich nicht permanent reguliere, das Kind über die Stränge schlägt und mir den lieben langen Tage auf der Nase herumtanzt,
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so aufzulösen, dass die Stränge, über die das Kind meint schlagen zu sollen, vor allem die Grenzen sind, die die Erwachsenen meinen setzen zu müssen, etc. Sofern diese nun meinen, Routinen durchbrechen und zu einer anderen Umgangsweise mit dem Kind finden zu können, geht es darum, diese Möglichkeiten praktisch zu erproben, ein Versuch, der mit den Komplikationen belastet ist, die Entwicklungen immer mit sich bringen können. Entwicklungen sind vorläufig, inselartig, immer gefährdet, nie endgültig, wobei das Bemühen um Überwindung der Grenzen und (damit) um Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten und der Lebensqualität das Risiko des Scheiterns bzw. noch weiter einengende Rückschläge in sich birgt. Wann kann ich mir das Ausbrechen aus Routine(n) leisten, für eine unsichere Verbesserung die demgegenüber sicherer erscheinende, wenn auch problematische, Routine aufzugeben? Was passiert wirklich, wenn ich keine »Grenzen setze«? Die dritte Instanz will den Prozess fassen, in dem das Ausprobieren von Neuem, von Alternativen praktisch vonstatten geht- mit Erfolg oder nicht. Dies auszuwerten, ist Gegenstand der vierten Instanz Bevor ich auf diese Auswertung eingehe, will ich noch darauf verweisen, dass nicht alle kritisch-psychologischen Forschungsprojekte dergestalt auf Problemlösungen, kontrolliert-exemplarische Praxis und Entwicklungsfigur aus sind. So formulierte Huck, Mitarbeiter in der» Forschungsgruppe Lebensführung« (2004): »Probleme, die einer individuell umsetzbaren Lösung zugänglich sind, interessieren im Rahmen des Forschungsprojekts nicht - was nicht heißt, dass es solche Probleme nicht gibt, oder dass sie wissenschaftlich uninteressant wären.« (2006, 126f) Huck stellt das Ziel der »Forschungsgruppe Lebensführung« so dar: »Im >Forschungsprojekt Lebensführung< werden Probleme diskutiert, die in der Lebenspraxis der Beteiligten auftreten. Dies geschieht aber nicht mit dem >alltagspraktischen< Ziel, nach Rat und Ermutigung zu suchen bzw. diese zu spenden; vielmehr geht es darum, zunächst die realen Bedingungen und Konsequenzen problematischen Verhaltens möglichst genau auf den Begriff zu bringen. Damit ist die Notwendigkeit praktischer Veränderung, die der >alltagspraktischen< Beschäftigung mit Problemen zugrunde liegt, nicht außer Kraft gesetzt, sondern auf anderer Ebene angesprochen: Es geht nicht um die unmittelbare Veränderung problematischen Verhaltens, sondern um die Veränderung der Verhältnisse, die solches Verhalten alternativlos erscheinen lassen. Die subjektive Notwendigkeit dieser Veränderung kann aber m.E. nur erkannt werden, wenn Verständigung darüber zt1 erzielen ist, wie gesellschaftliche Verhältnissevermittelt über bestimmte subjektiv erfahrbare Konstellationen -je >mir< problematisches Verhalten aufnötigen. Auch in unserem Arbeitszusammenhang werden immer wieder direkt umsetzbare Lösungen ersonnen und diskutiert. Unsere Annahme ist jedoch, dass diese scheinbaren Lösungen häufig zu Lasten anderer gehen, also Probleme nur verschieben- ein Umstand, der von den Problemlöser/inne/n nicht erkannt wird, wenn sie sich, wie vielfach nahegelegt, gegen die Kritik dieser anderen abschotten. Lösungsansätze interessieren uns
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von daher nur unter dem Aspekt ihrer (relativen) Unzulänglichkeit, sofern aus ihrem Scheitern etwas darüber zu lernen ist, wie man Probleme gerade dadurch verfestigt, dass man sie auf der falschen Ebene angeht.<< Im konzeptionellen Kontext der Entwicklungsfigur ist das ein Fall, der in der Entwicklungsfigur als »Stagnationsfigur« gefasst ist. Wie aktualempirisch bzw. »subjektwissenschaftlich« zu forschen ist, in welcher Art und Weise Bedingungs-Bedeutungs-Analysen eine Rolle spielen müssen und welche Relevanz forschungspraktischer Lösungsorientierung zukommt, ist in der Kritischen Psychologie also nicht eindeutig und einheitlich beantwortet. 24 13.3.5.5 Vierte Instanz der Entwicklungsfigur: Auswertung der veränderten Praxis und das Konzept der Stagnationsfigur
Sofern die veränderte und verändernde Praxis für die Betroffenen »eine reale Erweiterung ihrer Bedingungsverfügung, damit Verbesserung ihrer Befindlichkeit/Handlungsfähigkeit, d.h. auch Erfahrung/Erkenntnis der Bedingungen und Gründe für deren Grenzen« (Holzkamp 1983, 563f) erbracht hat, kann dies auf die diskutierten Umakzentuierungen der Prämissen, auf die veränderten subjektiven Funktionalitäten, den >neuen< Prämissen-Gründe-Zusammenhang zurückgeführt werden. Was aber ist, wenn die Veränderung der Praxis nicht >klappt< oder gar nicht erst zustande kam? Dies soll mit dem Konzept der »Stagnationsfigur« analysiert werden, die als eine Art Strategie zur Fehlersuche-auf alle vier Instanzen der Entwicklungsfigur zu beziehen ist: Zur ersten und zweiten Instanz: Wenn die Betroffenen die aus dem Forschungsprojekt kommenden Deutungen/Interpretationen als für sich nicht zutreffend zurückweisen, entsteht eine Art Pattsituation, die entweder weiter zu analysieren ist oder zu einem (vorläufigen) Abbruch des Prozesses führt. Unklar ist, ob und warum die Betroffenen die Deutungen/Interpretationen nicht übernehmen können oder wollen: Fragen dazu beziehen sich auf eine dynamische Abwehr anderer Sichtweisen und/oder die Abstraktheit von Sichtweisen bzw. Lösungsvorschlägen gegenüber den konkreten Problemen. Haben genug - primär-fundierende - Daten zur Verfügung gestanden; wurde der Kategorialbezug der Daten/Argumente hinreichend berücksichtigt? Werden weitere Daten benötigt? Überwogen Daten im Modus der allgemeinen Beobachtbarkeit, so dass man gar nicht konkret genug an das Problem herankam? Ziel ist bei diesen Fragen, die Eindeutigkeit der verhandelten Interpretation zu erhöhen. 24 Vgl. dazu die Diskussionen zum Projekt >>Rassismus/Diskriminierung« (Grundlage: Osterkamp 1996: Kritik: Fried 2002; Antwort: Osterkamp et al. 2002) oder um Praxisforschung (Grundlagen: Holzkamp & Markard 1989; Markard & ASB 2000; Kritik: Osterkamp 2008a, 19ff: Antwort: Markard 2009).
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Zur dritten und vierten Instanz: Hier ist vorausgesetzt, dass die beiden ersten Instanzen so durchlaufen wurden, dass überhaupt versucht wurde, die dritte zu realisieren. Waren die Praxisversuche subjektiv doch zu riskant, waren die Vorschläge zu grobmaschig, gingen sie an (nicht) erwartbaren (Zusatz- )Problemen vorbei? Gab es im Sinne der Fragilität von Entwicklungen entmutigende Rückfälle etc.? 13.4 Geltungs- und Verallgemeinerungsfragen
13.4.1 Vorbemerkung In unserer weiteren Argumentation besinnen wir uns auf die in Kap. 13.3.5.1 zitierte Feststellung Holzkamps (1983, 563), dass eine »reale Erweiterung (der) Bedingungsverfügung« der Betroffenen »nicht das primäre Ziel der Forschungsaktivität« sei, sondern nur »notwendiges Implikat« diesbezüglicher wissenschaftlicher und verallgemeinerbarer Erkenntnisse. Was bedeuten also Forschungsprozesse wie die mit der Entwicklungsfigur geschilderten hinsichtlich der wissenschaftlichen Geltung und Verallgemeinerbarkeit, für die »Validität«, »Reliabilität« und »Objektivität« der so gewonnenen empirischen Ergebnisse? Diesen Fragen soll im folgenden Teilkapitel nachgegangen werden (zugrundeliegende und weiterführende Literatur: Holzkamp 1983, Kap. 9.4; Markard 1991, 1993, 2000c; Reimer 2004; Geffers 2008). Die grundsätzliche Bedeutung von Methoden besteht in der Regelung des Verhältnisses zwischen Daten, Interpretationen und Theorien, wobei Zweifel und Misstrauen gegenüber unmittelbaren Evidenzen erkenntnisleitend sind. Wesentlich ist dabei erstens die Frage, ob meine Ergebnisse »stimmen«. Wesentlich ist zweitens das Problem der Induktion, also die Unmöglichkeit, von einzelnen Sätzen auf allgemeine, von Einzelfällen auf viele oder gar alle anderen zu schließen. Wie mit diesen Fragen/Problem umgegangen wird, wie der organisierte Zweifel operationalisiert wird, ist wiederum ansatzabhängig. Aus unseren bisherigen Ausführungen ergibt sich schon, dass traditionelle Theorieprüfungen ausscheiden, da subjektwissenschaftliche Resultate die Form von Prämissen-Gründe-Zusammenhängen haben, deren Datenbezug, wie ausgeführt, nicht die Prüfung, sondern die Veranschaulichung bzw. Konkretisierung der betreffenden Zusammenhangsaussagen jeweils am Einzelfall ist. Was dies aber für die Verallgemeinerbarkeit der Aussagen bedeutet, haben wir noch nicht erörtert. Es geht dabei um die Frage, ob in einer nicht am Geschehenstypus der Zufallsvariabilität und an Häufigkeitsaussagen (in denen die Subjekte als Verteilungs-Elemente aufgehen) orientierten Psychologie gleichwohl Erkenntnisse möglich sind, die über die je untersuchten individuellen Fälle hinausgehen. Um dies zu klären, möchte
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ich zunächst andere Modelle der Verallgemeinerung in der Psychologie darstellen, um die subjektwissenschaftliche Herangehensweise vor diesem Hintergrund zu erörtern. Das hat den Vorteil, dass die subjektwissenschaftlichen Lösungen/Probleme dann gleich in Relation zu anderen dargestellt werden können.
13.4.2 Zur subjektwissenschaftlichen Gegenstandslosigkeit messtheoretischer Gütekriterien Was - vorab gesagt - die mit der traditionellen Psychologie überkommenen Gütekriterien der »Validität«, »Objektivität« und »Reliabilität« betrifft, so sind diese messtheoretisch begründet und hier im wahrsten Sinne des Wortes gegenstandslos, weil in den beschriebenen subjektwissenschaftlichen Forschungsprozessen nichts gemessen wird. Die Messtheorie beschäftigt sich damit, wie empirische Phänomene und ihre Relationen untereinander (»empirisches Relativ«) numerisch so abgebildet werden können, dass die empirischen Relationen erhalten bleiben (»numerisches Relativ«, vgl. etwa Bortz & Döring 2006, 6Sff). Das empirische Relativ besteht dabei aus mit einschlägigen Erhebungsverfahren gewonnenen Daten und ist damit von vorneherein schon theoretisch und methodisch in Richtung auf Quantifizierbarkeit angelegt. Messtheoretische Fragen sind die Folge einer vorab getroffenen grundsätzlichen theoretischen Entscheidung über die theoretische Relevanz der quantitativen Erfassung des Gegenstands. Während die Messtheorie damit befasst ist, die Folgen eben dieser Entscheidung bezüglich des Verhältnisses von empirischem und numerischem Relativ zu klären, steht hier diese Entscheidung selber zur Disposition bzw. es ist eine andere Entscheidung getroffen (deren Begründung sich durch diesen ganzen Band zieht). Eine »quantitative Orientierung« bedeutet nicht, sich aus der jeweiligen Fragestellung ergebende gegenständliche quantitative (Häufigkeits- oder Verteilungs-)Aspekte zu berücksichtigen, sondern unabhängig von Gegen-
stand, Kontext und besonderer Fragestellung grundsätzlich eine quantifizierende Herangehensweise zu realisieren, sei es in der Forschung, sei es in der psychologischen Praxis (in der dann etwa Tests zur Anwendung gelangen). So werden grundsätzlich bei dieser Herangehensweise angenommenen >Merkmalen< von Menschen Zahlen auf eine Weise zugeordnet, dass sie auf einer damit auch zu konstituierenden Dimension (oder mehreren) vergleichbar werden. Die damit sich ergebenden numerischen Werte wiederum können auf ihre quantitativen Verteilungen hin analysiert, und damit verbundene Hypothesen können inferenzstatistisch geprüft werden. Dabei bildet, da der erreichbare Grad von Wissenschaftlichkeit mit dem erreichbaren Grad der quantitativen Präzision, Differenziertheit etc. gleichgesetzt wird, nach der Logik dieses Herangehens die Möglichkeit der Quantifizierbarkeit von Merkmalen überhaupt die Voraussetzung ihrer wissenschaftlichen Erfassbarkeit und Bearbeitbarkeit - unabhängig davon, inwieweit - metho-
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disch realisierbare- quantitative Gegenstandsaspekte inhaltlich-Dcgrif:L:::: (in ihrer Relevanz) ausgewiesen oder ausweisbar sind. Damit ist nicht per se gegen die Verwendung quantitatiYer :\Ic:hoic:: Front gemacht, sondern gegen eine quantitative Orientierung, die sich ;_::-n die Gegenstandsangemessenheit quantitativer Methoden nicht schert oich komme darauf beim »historisch-aggregativen« Verallgemeinerungstyp zurück). Diese Unterscheidung ist auch das zentrale Kriterium dafür, ob und inwieweit in einer Untersuchung quantitative und qualitative Methoden zu »kombinieren« sind (vgl. dazu die Überlegungen aus dem Arbeitszusammenhang von Josef Held: Held 1994, Bibouche & Held 2002). 13.4.3 Der universalistische Verallgemeinerungstyp (Fallibilismus)
Die in der Psychologie wohl bedeutendste Konsequenz aus dem erwähnten Problem der Induktion ist die Falsifikationsstrategie Poppers (»Fallibilismus« ). Popper will den induktiven Momenten des Forschungsprozesses dadurch die methodische Relevanz nehmen, dass er sie auf die Hypothesenbildung beschränkt, in der Forscherinnen und Forscher ihrer Kreativität freien Lauflassen können und sollen, sofern sie bestimmte Regeln beachten: so sollen sich wissenschaftliche Hypothesen auf den Stand der Forschung beziehen, logisch konsistent und grundsätzlich widerlegbar sein. I.e.S. methodisch bedeutsam ist dagegen allein die Prüfungvon Theorien (Popper 1996, 6). Dabei ist festzustellen, ob einzelne Ereignisse den zu prüfenden Hypothesen widersprechen. Die Grundlage dieser Argumentation besteht darin, dass zwar der Versuch der Verifikation (Bestätigung) von allgemeinen Sätzen nur durch Induktion möglich ist, ihre Falsifikation (Widerlegung) aber ohne Induktion auskommt: Allgemeine Sätze sind zwar »nie aus besonderen Sätzen ableitbar«, sie können aber dazu »in Widerspruch« stehen (a.a.O., 16). Sofern ein solcher Widerspruch nicht gefunden wird, gelten die Aussagen nicht als verifiziert, weil dies ja wieder eine induktive Schlussfigur enthielte, jedoch als (allerdings nur vorläufig) »bewährt«. Natürlich ist auch die Falsifikation einer Hypothese mit Unsicherheiten behaftet, da nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann, dass andere als in der Hypothese thematisierte Faktoren dazu führen, dass die Hypothese nur scheinbar falsifiziert wurde. Derartige mögliche Fehler ändern aber nichts an der Logik der Argumentation Poppers. Auch nicht der Umstand, dass hier eine streng deterministische Position Pate steht, wonach ein einzelner Fall eine allgemeine Behauptung widerlegt, was den üblicherweise mit Wahrscheinlichkeiten daher kommenden psychologischen Theorien widerspricht: Hier ist dann, salopp formuliert, das »Signifikanzniveau<< eine Vereinbarung darüber, wie viele Fälle der Hypothese widersprechen dürfen, ohne dass sie als widerlegt gilt. Für unsere Argumentation ist bedeutsam, dass das Falsifikationsmodell mit einem bestimmten Typ wissenschaftlicher Aussagen verbunden ist, dass nämlich der in der Hypothese formulierte Zusammenhang unter den dort
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angegebenen Bedingungen/Voraussetzungen generell gilt. Als eigenständiger Aspekt des fachwissenschaftliehen Forschungsprozesses tritt das Verallgemeinerungsproblem gar nicht zutage. Denn der Allgemeinheitsanspruch
der Hypothese ergibt sich aus der Setzung eines- gesetzmäßigen -Zusammenhangs. Dabei ist vor allem hervorzuheben, dass dessen theoretische Geltung unabhängig von der Häufigkeit bzw. Verbreitung seines empirischen Auftretens ist. Aussagen dieses Typs zielen auf gesetzmäßige Zusammenhänge von Variablen, nicht darauf, wie verbreitet und häufig diese Zusammenhänge auftreten: Nehmen wir an, dass zwischen Frustration und Aggression ein gesetzmäßiger, experimentell nicht widerlegter Zusammenhang bestehe. Dann wissen wir, dass, wenn Menschen frustriert werden (und keine anderen >störenden< Umstände hinzu kommen), sie mit Aggression reagieren. Was wir aber nicht wissen, ist, wo und wie häufig das vorkommt. Dazu müssten wir ein zusätzliches Wissen über die Häufigkeit und Verbreitung von Frustrationen (also über die Verbreitung und Häufigkeit der unabhängigen Variable) haben. (Auch unser Wissen über den Zusammenhang von Blitz und Donner sagt uns ja nicht, wo und wie häufig es gewittert.) Klar ist auch, dass eine derartige Geltungsbestimmung an ein Forschungssetting gebunden ist, in dem die Vpn nicht in ihrer individuellen Lebensbewältigung interessieren, sondern nur als grundsätzlich austauschbare Elemente, an denen der in der theoretischen Aussage gemachte gesetzmäßige Zusammenhang - experimentell und im Bedingtheitsdiskurs- zu realisieren ist. Festzuhalten ist, dass der mit dem experimentell-statistischen Forschungsvorgehen verbundene Verallgemeinerungstyp kein allgemeines Verallgemeinerungs-Modell ist, sondern nur ein bestimmter- »universalistisch« (vgl. Markard 1993, 31 ff) zu nennender - Verallgemeinerungstyp, der auf einen bestimmten, in der nomothetisch orientierten Psychologie privilegierten Typ von Fragestellung und Aussage zielt. Dieser Typ von Fragestellung und Verallgemeinerung ist mit psychologiespezifischen, gegenstandsbezogenen Überlegungen nicht vermittelt und erlaubt keine Aussagen über die Verbreitung und Häufigkeit der formulierten Zusammenhänge.
13.4.4 Der historisch-aggregative Verallgemeinerungstyp (repräsentative Erhebung) Sehr wohl auf die Verbreitung von (Merkmals-)Zusammenhängen (oder auch nur einzelnen Merkmalen) in raumzeitlich konkreten Populationen zielt ein anderer Typ von Verallgemeinerung, der mit Untersuchungen mit repräsentativen Stichproben (Umfragen) verbunden ist. Auch hier aber ist das individuelle Mitglied der Stichprobe in seiner Individualität uninteressant und austauschbar, soweit durch seinen Austausch nicht die Auswahlkriterien für die betreffende Stichprobe verletzt werden. Ich habe diesen Typ der Verallgemeinerung »historisch-aggregativ« genannt (a.a.O., 33ff).
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Die Genauigkeit des (Induktions- )Schlusses von der Stichprobe auf die Population hängt u.a. von der Variabilität der untersuchten Merkmale in der Population und dem Umfang der Stichprobe im Verhältnis zur Population ab. Vorausgesetzt ist, dass in der Stichprobe dieselben Bedingungen vorliegen wie in der Population. Auch hier ist die angestrebte Verallgemeinerung kein inhaltlicher und prozessualer Aspekt der fachwissenschaftliehen Fragestellung, sondern Aspekt der einschlägigen Statistik. Da derartige Erhebungen auf die Feststellung von Verbreitetheit, Verteilung und auf den Zusammenhang von Merkmalen zielen, sind neben >psychologischen< Variablen, wie etwa >Einstellungen<, demographische Daten wie Alter, Geschlecht, Beruf von Bedeutung. Der hierbei entstehende Bezug psychologischer auf demographische Daten impliziert für psychologische Fragestellungen Probleme: Die Interpretation derartiger Variablen legt das Denken im Bedingtheitsdiskurs nahe: Unter welchen Bedingungen reagieren, verhalten sich Menschen so und so? Anders formuliert: Die subjektive Bedeutungshaftigkeit von Bedingungen (und damit die zwangsläufige Mehrdeutigkeit und Interpretierbarkeit von »Items«) ist eins der Grundprobleme derartiger Umfragen - und die Basis dafür, dass man Umfragen, deren Ergebnisse einem nicht passen, unter Verweis auf eben diesen Umstand leicht kritisieren kann. Insofern sind Resultate repräsentativer Erhebungen, in denen psychologische Variablen in Korrelationen eingehen, selber psychologisch aufklärungsbedürftig, und zwar noch über die theoretischen Vor-Annahmen hinaus, die den Korrelationsberechnungen zugrunde liegen. Ein Beispiel: Männliche Bewohner im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, die in in Plattenbauweise erstellten Neubaugebieten großstädtischer Randbezirke leben, seien >ausländerfeindlicher< als ihre statistischen Pendants in kleinstädtischen Altbauwohnungen. Die mögliche Plausibilität derartiger Annahmen (man korreliert ja kaum das Verhältnis von Schuhgröße und Ausländerfeindlichkeit) ersetzt deren psychologische Klärung nicht. Denn statistische Verteilungsaussagen sagen nichts über einzelne Individuen- es sei denn, man meint, im Modus von Vorurteilen argumentieren zu können. In diesem Zusammenhang argumentiert Kempf (1992, 106), dass (im interpretativen Paradigma) Korrelationen »nicht als statistisch-induktive Erklärungen hingenommen werden, sondern lediglich als Beschreibungen eines erklärungsbedürftigen Sachverhalts« angesehen würden, wobei Signifikanzen nur darauf verwiesen, dass beobachtete Regelmäßigkeiten einer weiteren Beachtung würdig seien. Die statistische Verteilung von Sinngehalten sieht er als Voraussetzung dafür, die Verbreitung etwa antisemitischer Vorurteile zu erheben; deren Zustandekommen sieht er allerdings als nur qualitativ untersuchbar an. Die psychologische Unaufgeklärtheit von Korrelationen wie den geschilderten bedeutet übrigens nicht, dass sie deswegen für je einzelne Menschen verhaltensirrelevant wären: Wenn etwa ein Individuum, das aufgrund seiner äußeren
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Erscheinung zur bevorzugten Zielgruppe rassistischer Angriffe gehört, Gegenden wie die im Beispiel angeführte meidet, verhält es sich- sinnvoll und pragmatischzu subjektiv relevanten Ereigniswahrscheinlichkeiten. Halten wir fest, dass für beide der bisher angeführten Forschungsstrategien die untersuchten Subjekte in ihrer individuellen Besonderheit und in ihren lebensweltlichen Bezügen keine konstitutive Rolle spielen. Und besinnen wir uns an dieser Stelle zum Abschluss der Diskussion des Universalistischen und des historisch-aggregativen Verallgemeinerungstyps auf den Umstand, dass die experimentell-statistisch orientierte Psychologie theoretisch durchaus subjektive Handlungszusammenhänge thematisiert, diese dann aber methodisch unterschreitet. Das ist deswegen möglich, weil es kaum einen Aspekt menschlicher Handlungen gibt, der nicht variablenpsychologischer Bedingungsanalyse zugänglich gemacht werden könnte. Es ist praktisch immer möglich, Prämissen-Gründe-Zusammenhänge auf BedingungsEreignis-Relationen zu reduzieren; umgekehrt aber funktioniert das nicht: Ich kann zwar von dem, was ich weiß, abstrahieren, aber ich kann nicht Nicht-Gewusstes einfach dazuerfinden - es sei denn um den Preis wilden Spekulierens. Holzkamp (1986; vgl. hier Kap. 3.2.4) hat in seiner Rekonstruktion der Arbeitslosenforschung gezeigt, dass man die konkrete Erfahrung der Arbeitslosigkeit entspezifizierend- in das Konzept »Stress« auflösen, von Stresskonzepten aus aber keinen Zugang zum historisch-konkreten Problem der >>Arbeitslosigkeit« bzw. deren subjektiver Erfahrung gewinnen kann. Ich bezeichne das als das Zahnpastatuben- oder Colgate-Problem psychologischer Forschung: Was ich (methodisch) rausgedrückt habe, kriege ich (theoretisch) nicht mehr rein- es sei denn über Prämissenspekulationen. Worüber dabei sinnvoll spekuliert werden kann, sind dabei allerdings nicht die statistischen Verteilungen, sondern nur die davon völlig unabhängigen theoretisch gesetzten (impliziten) Prämissen-Gründe-Zusammenhänge und zwar deswegen, weil in den Verteilungen jede subjektive Sinneinheit des je einzelnen Falles zerstört wird, während Prämissen-Gründe-Zusammenhänge auf den Einzelfall beziehbare Aussagen sind. Wenn in experimentellen Daten verborgene Prämissen-Gründe-Zusammenhänge expliziert werden, stellt sich die »Interpretations-Lage« so dar: Ein theoretischer Zusammenhang wird formuliert und unter kontrollierten Bedingungen realisiert. Die für die Interpretation erforderlichen Bezugsgrößen (Variablen) sind im Setting hergestellt und somit praktisch definiert. Der Unterschied zu Meinungserhebungen in Fragebögen ist nun der: Hier trifft dieser Setting-Bezug (unabhängige/abhängige Variablen unter kontrollierten Bedingungen) nicht zu, so dass für Prämissenspekulationen kein der experimentellen Anordnung entsprechendes Bezugs-Material vorhanden ist, diese Spekulationen ihre Bezüge also weitestgehend hinzu erfinden müssen.
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13.4.5 Subjektwissenschaftliche Verallgemeinerung als historisch-struktureller Verallgemeinerungstyp 13.4.5.1 Möglichkeitsverallgemeinerung Aus unseren bisherigen Darlegungen über die Grundlagen subjektwissenschaftlicher Methodik, die Entwicklungsfigur und den Universalistischen bzw. historisch-aggregativen Verallgemeinerungstyp ergeben sich folgende Eigenarten subjektwissenschaftlichen Forschens, die bei der Frage der Geltung/Verallgemeinerung zu berücksichtigen sind (und die ich deswegen kurz resümiere): (l) Eine Psychologie vom Standpunkt des Subjekts kann die Einzelnen nicht zu austauschbaren Exemplaren machen und muss insofern einzelfallbezogen sein. Subjekte existieren zwar im Plural, aber nicht im Durchschnitt. Einzelfälle können zueinander ins Verhältnis gesetzt, aber nicht gegeneinander »verrechnet« werden. Es sind die individuellen Spezifikationen, die interessieren, nicht die Nivellierungen des Durchschnitts. Die einzelnen, subjektiven Fälle sind keine Abweichungen, sie sind nicht als Bestandteile einer Streuung zu denken, sondern der Gedanke der Abweichung weicht selber ab vom Gedanken der Subjektivität (vgl. Holzkamp 1983, 546ff). (2) Subjektwissenschaftliche Theorien dienen der sozialen Verständigung, und die an der Forschung Beteiligten stehen in einem Forscher-/Mitforscher- bzw. intersubjektiven Verhältnis zueinander. Die Beteiligten müssen sich die Theorien, die im Forschungsprozess eine Rolle spielen, zu eigen machen, um entweder damit verbundene blinde Wirkungen außer Kraft zu setzen bzw. mindestens in Rechnung stellen zu können oder um sie positiv zur Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten zu nutzen. (3) Im Begründungsdiskurs werden Aussagen über Prämissen-Gründe-Zusammenhänge formuliert, nicht über Bedingungs-Ereignis-Relationen. (Bedingungs-Ereignis-Relationen können zwar in Prämissen eingehen, sie sind selber aber keine i.e.S. psychologischen Aussagen.) Empirische Daten haben bei Prämissen-Gründe-Zusammenhängen keine Prüfungs-, sondern Veranschaulichungs- bzw. Konkretisierungsfunktion. Deswegen widerlegen sich unterschiedliche Prämissen-Gründe-Zusammenhänge nicht, sie stehen auch nicht in Theorien-Konkurrenz zueinander. (4) Der methodisch praktische Bezugspunkt des Begründungsdiskurses ist das Verhältnis von objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung, also Handlungsfähigkeit als Verfügung über die eigenen Lebensumstände in Teilhabe an gesellschaftlichen Verfügungsmöglichkeiten, damit in einem Ensemble von Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen.
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Unter diesen Voraussetzungen scheiden Objektivierungs- und Verallgemeinerungsvorstellungen, die menschliches Handeln als bedingt ansehen, als zufallsvariablen Prozess modellieren wollen und einzelne Fälle als Ausnahmen meinen behandeln zu können, aus, damit sowohl Ansätze, die experimentelle Geltungsprüfungen unter der Voraussetzung kontingenter Theorien vorschlagen (universalistischer Verallgemeinerungstyp ), als auch Vorgehensweisen, die im Sinne repräsentativer Erhebungen von Stichproben auf Grundgesamtheiten schließen und entsprechende Verbreitungsaussagen machen wollen (historisch-aggregativer Verallgemeinerungstyp ). Daraus folgt auch: Subjektwissenschaftliche Aussagen können weder Aussagen zur Häufigkeit der in ihnen behandelten Phänomene machen, noch sind sie durch beliebig viele Fälle zu beweisen oder zu widerlegen. Der Umstand, dass sie durch beliebig viele Fälle nicht zu beweisen sind, ergibt sich schon aus dem Problem induktiven Schließens ohne repräsentative Stichproben; dass sie auch nicht durch einen oder auch beliebig viele Fälle zu widerlegen sind, ergibt sich dagegen aus ihrer Charakterisierung als Prämissen-Gründe-Zusammenhänge.
Die Charakterisierung subjektwissenschaftlicher Geltung und Verallgemeinerung muss sich auf die praktischen Lebensvollzüge der Individuen in historisch-konkreten Konstellationen beziehen. Dabei wird in Rechnung gestellt, dass in individuellen Handlungen über-individuelle, nämlich gesellschaftliche Bedingungen/Bedeutungen in der jeweiligen Lage und Position fallspezifisch realisiert werden, indem sich die Individuen - in doppelter Möglichkeit - unter diesen und zu diesen Bedingungen/Bedeutungen verhalten. Holzkamp hat hierfür den Begriff »Möglichkeitsverallgemeinerung« ( 1983, 545) vorgeschlagen, die sich eben nicht auf Merkmale von Menschen bezieht, sondern deren »subjektive Möglichkeitsräume« (vgl. Kap. 11.3 ). Sie hat eine »gänzlich andere Struktur« als eine auf »Fakten« beruhende Verallgemeinerung. Es geht darum, je meine Befindlichkeit bzw. (begrenzte) Handlungsmöglichkeit als »Verhältnis zwischen allgemeinen gesellschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und meiner besonderen Weise ihrer Realisierung, Einschränkung, Mystifikation« zu begreifen. »Damit stehen die vielen verschiedenen Individuen hier nicht mehr scheinhaft isoliert nebeneinander, sondern es ist ihre reale Beziehung untereinander expliziert, in der sie aufgrund gemeinsamer gesellschaftlicher Handlungsmöglichkeiten [... ] stehen, und ihre personalen Unterschiede lassen sich für sie selbst als ullterschiedliche Formen der subjektiven Realisierung dieser gemeinsamen Verfügungsmöglichkeiten fassen.<< (A.a.O., 548f)
Verallgemeinerung bedeutet also nicht, Unterschiede (zugunsten zentraler Tendenzen) zu nivellieren oder auf Gruppenniveau statistisch zu fassen, sondern sie als »verschiedene Erscheinungsformen des gleichen Verhältnisses« zu begreifen (a.a.O., 549). In diesem Sinne sind Theorien und Hypo-
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thesen, wie an der Entwicklungsfigur erörtert, fallspezifische Annahmen über subjektive Möglichkeitsräume. Wie das Verhältnis von »Typ« als typischer Möglichkeit und »Einzelfall« als je meiner Möglichkeit aussieht, ist dabei nicht festgelegt, sondern Teil des subjektwissenschaftlichen Erkenntnisprozesses, wobei die Betroffenen als Mitforscherinnen und Mitforscher an dieser Klärung beteiligt sind: Sie müssen für sich klären, inwieweit ihre Handlungsprämissen und realen Handlungen sich entsprechen, ähneln oder sich unterscheiden (vgl. auch Dreier 2008). Man könnte das auch so formulieren: Sie müssen für sich klären, ob und wie viel sie voneinander bzw. ihren jeweiligen Erfahrungen lernen können -was eben gleich bedeutend damit ist, ihre jeweilige Prämissenlage(n) zu klären. Verallgemeinern ist unter diesen Voraussetzungen »prinzipiell ein unabgeschlossener und unabschließbarer Prozess«, in dem sich die Beteiligten selber unter den entsprechenden Möglichkeitstyp subsumieren bzw. ihn differenzieren, wobei die individuellen Verschiedenheiten eben nicht in eine »Störvarianz abgeschoben« werden, sondern »als individuelle Realisierungs-/Behinderungsbedingungen von Verfügungsmöglichkeiten ausdrücklich in das theoretische Konstrukt aufzunehmen sind« (a.a.O., 554).
13.4.5.2 Analytische Induktion und Grounded Theory im Verhältnis zur Möglichkeitsverallgemeinerung Formal ähnelt die Logik der Möglichkeitsverallgemeinerung der der ))Analytischen Induktion« (vgl. Markard 1993, 38f). In diesem Verfahren wird der Konzeption nach ein Phänomen definiert, hypothetisch erklärt und an einem Fall empirisch untersucht. Weicht der Fall von der Erklärung ab, werden Phänomen oder Hypothese so umdefiniert, dass dieser Fall ausgeschlossen ist, d.h. nicht mehr ein Fall eben dieses Phänomens oder dieser Hypothese ist. Auf diese Weise wird mit weiteren Fällen verfahren, bis sich eine vorläufige stabile Definition und Erklärung ergeben hat. Die Vorgehensweise der Analytischen Induktion ist also die, ein Phänomen und seine theoretische Fassung so lange mit Daten zu konfrontieren, bis eine Passung zwischen beiden erreicht ist, die abweichende Fälle (vorläufig) als hier nicht einschlägig ausschließen. Dann sind diese abweichenden Fälle eben keine Fälle dieser Hypothese. Gelingen derartige Klärungen nicht, ist die Hypothese unzutreffend oder unzureichend. In einer klassischen Studie kam Lindesmith (1947) mit dieser Herangehensweise zu dem Ergebnis, dass Drogensucht an folgende Umstände gebunden sei: die betreffende Person muss die Droge nehmen, unter Entzugserscheinungen leiden und diese Entzugserscheinungen als solche identifizieren; sie muss erkennen, dass eine erneute Einnahme der Droge die Entzugserscheinungen vorübergehend reduziert, und sie muss tatsächlich in diesem Zusammenhang die Droge nehmen und dadurch Erleichterung verspüren. Gegen diese Untersuchung wurde u.a. eingewendet, die Formulierung der Drogenabhängigkeit besage nicht, wer mit welcher
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Wahrscheinlichkeit abhängig werde und welche sozialen und personalen Faktoren dabei eine Rolle spielten. Interessant sind solche Einwände deswegen, weil sie an der Logik der von Lindesmith getroffenen Aussage vorbeigehen, sofern sie sich auf das Fehlen empirischer Verteilungsaussagen beziehen. Die Frage, wer süchtig wird, ist eine verbreitungs- und häufigkeitsorientierte Aussage, auf die im Sinne der Analytischen Induktion nur geantwortet werden kann: Jede Person, soweit sie die vorgetragenen Entwicklungsschritte realisiert. Mit den Daten ist weder >vorherzusagen<, wer im Einzelnen süchtig wird, noch wie viele es sein werden. Jeder Versuch in eine solche Richtung wäre nichts weiter als die Reproduktion alltäglicher Vorurteilsstrukturen, von bekannten Fällen auf unbekannte zu schließen. Die Analytische Induktion zielt auf Strukturzusammenhänge (und nicht auf Häufigkeits- und Verbreitungsaussagen) - im geschilderten Fall auf die Rekonstruktion einer kognitiven, emotionalen und handlungsbezogenen Entwicklungslogik der Suchtentstehung. Das heißt: Die dabei erwähnten Schritte müssen in eben dieser Reihenfolge alle realisiert sein, damit von Drogensucht als deren Resultat die Rede sein kann.
In subjektwissenschaftlicher Sicht fehlt im erwähnten Beispiel die gesellschaftsbezogene Bedingungs-Bedeutungs-Begründungs-Analyse, mit der die subjektive Funktionalität des Drogengebrauchs auf die jeweiligen Lebensumstände zu beziehen und damit nachvollziehbar zu machen ist. Diese Analyse würde aber ebenfalls nicht bedeuten, vorhersagen zu können, wer drogensüchtig wird, und wie viele es sein werden, sondern nur erlauben, die, wenn man so will, Psycho-Logik des untersuchten Phänomens historisch zu konkretisieren. In der Analytischen Induktion werden Datenerhebung und -analyse als einheitlicher Prozess gesehen, in dessen Verlauf sich inhaltliche Gesichtspunkte ergeben, unter welchen Aspekten ggf. welche Fälle zusätzlich zu den schon untersuchten Fällen herangezogen werden müssen, damit die entsprechenden Fragestellungen weiter verfolgt werden können. Dies gilt auch für den Ansatz der »Grounded Theory« (vgl. etwa Strauss & Corbin 1996; Markard 1993, 35ff) mit ihrem »theoretical sampling« und ihrer Strategie der Vergleichsanalyse: Die Untersuchung eines Sachverhalts beginnt mit einigen Fällen, in deren Analyse theoretische Konzeptionen entwickelt werden, womit sich auch Gesichtspunkte ergeben, unter denen zu Differenzierungszwecken neue Fälle erhoben werden: »theoretical sampling« als eine Einheit von Datengewinnung und Theorieentwicklung (wobei der Ausdruck sampling eher metaphorische Bedeutung hat und verwirrend ist, weil Stichproben im statistischen Sinne gar nicht gezogen werden). Die drei Vorgehensweisen, die Möglichkeitsverallgemeinerung, die Analytische Induktion und die Grounded Theory haben gemeinsam, dass es weder um eine universalistische, auf Gesetzmäßigkeiten bezogene Verallgemeinerung über Bedingungs-Ereignis-Relationen, noch um eine historisch-aggregative, also Häufigkeitsverallgemeinerung, geht. Wesentliche Unterschiede zwischen der Möglichkeitsverallgemeinerung auf der einen und Analytischer Induktion und Grounded Theory auf der
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anderen Seite bestehen darin, dass die beiden letzteren kein :\ii:iv:rs-e:c::::::;skonzept und keine Handlungsorientierung haben, und dass sie im '\."e:-1:3.::nis von Theorien und Daten nicht zwischen kontingenten und im?G~J. tiven Wenn-Dann-Zusammenhängen unterscheiden, so dass sie die f:rage. ob Fälle Theorien widerlegen oder nicht, unter diesem Gesichtspunkt nicht klären können (was ich hier nicht weiter verfolgen will). Alle drei Vorgehensweisen beruhen weder auf einer von realen Verbreitungen und Häufigkeiten unabhängigen Gesetzesgeltung noch auf einem Repräsentationsschluss im Sinne repräsentativer Erhebungen. Sie betreffen vielmehr raumzeitliche, historisch konkrete Dimensionen und Strukturen, über deren Verbreitetheit bei Strafe induktiver Spekulationen nichts gesagt werden kann; deswegen habe ich diese Aussagen bzw. den damit verbundenen Verallgemeinerungstyp als »historisch-strukturell« bezeichnet (1993, 35). Es sind- differenziert nach den Besonderheiten der Ansätze- fallübergreifend - hypothetische Aussagen der Art ermöglicht, dass überall da, wo die je herausgearbeiteten Dimensionen zu finden sind, sich auch die entsprechenden Zusammenhänge ergeben. Darüber, wo und wie häufig das der Fall ist, kann aufgrund der Daten keine Aussage getroffen werden. Allerdings können ggf. aus anderen Quellen (etwa über die Häufigkeit bestimmter, bedeutungsanalytisch aufgeschlüsselter institutioneller Bedingungen, in Bezug auf die die Aussage formuliert wird) Vermutungen über die quantitative Relevanz der untersuchten Phänomene angestellt werden (s.o.). Dies ist aber etwas anderes, als aus den gegebenen qualitativen Daten Häufigkeitsschlussfolgerungen im Sinne von Repräsentationsschlüssen zu ziehen. Insofern ist die Möglichkeitsverallgemeinerung in ihrer subjektwissenschaftlichen Spezifik gleichzeitig eine Variante des historisch-strukturellen Verallgemeinerungstyps (zu dem, was hier nicht weiter verfolgt werden soll, auch die Psychoanalyse gehört [vgl. Kap. 12.3; Markard 1991, 228f; vgl. auch Holzkamp 1984b, 31]). 13.5 Die Bedeutung der (Gewinnung der) Fragestellung für die Forschung In der Skizze des Universalistischen Verallgemeinerungstyps hatten wir festgestellt, dass dort die Gewinnung der Fragestellung nicht von systematischer (methodischer) Bedeutung ist. Anderseits hat sich im Zuge meiner Darlegungen von Anfang an und immer wieder gezeigt, dass es wesentliches Moment kritischer Wissenschaft (nicht nur der Kritischen Psychologie) ist, die gesellschaftlichen Bezüge von Wissenschaft systematisch zu reflektieren. Entsprechend ist darüber nachzudenken, woher wissenschaftliche Fragestellungen kommen, wie Sachverhalte zu wissenschaftlichen Problemen werden, welche Funktion ihre Bearbeitung und Lösung für wen hat (vgl. bezüglich der Evaluationsforschung Köbberling & Lux 2007). Folgende Aspekte sind dabei mindestens zu berücksichtigen (Markard 1991, 223f):
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1. Aus welcher wissenschaftlichen Tradition kommt eine Fragestellung (vgl. exemplarisch zum ADHS-Problem die Analyse von Weber [2001])? 2. Inwieweit ist sie methodisch vorgeprägt (etwa durch lerntheoretische Verstärkungsanordnungen)? 3. In welchem gesellschaftlichen Kontext sind Fragestellungen mit welchen gesellschaftlichen Interessen verbunden? 4. Welche Interessen haben die Forscherinnen und Forscher selber, und (wie) sind diese mit denen der von Forschung Betroffenen vermittelt? 5. Ist es möglich, im Verlauf der Forschung die Fragestellung zu modifizieren? Auf jeden Fall ist die Reflexion der (Genese der) Fragestellung ein Moment
kritisch-gnostischer Distanz der Forscherin/des Forschers gegenüber ihrer Forschung mit dem Ziel zu klären, warum ein vorfindlieber Sachverhalt frag-
würdig wurde. Wenn man die mit den einschlägigen methodologischen Forschungsaspekten verbundenen Aussage(arte)n als Antworten auf bestimmte Frage(stellunge)n auffasst (vgl. Jäger 1985), müsste sich der oben schon angedeutete Zusammenhang von Verallgemeinerungstypen und Typen von Fragestellungen systematisieren lassen, wobei im Verallgemeinerungstyp Intention und Reichweite der Aussagen am klarsten hervortreten. So haben im Universalistischen Verallgemeinerungstyp die Untersuchten als Subjekte nichts verloren, auch der Fragestellungstyp ist universalistisch, abstrakt gegenüber den» Vpn«. Die Fragestellung des historisch-aggregativen Verallgemeinerungstpys bezieht sich zwar auf raumzeitlich-konkrete Populationen, nicht aber auf konkrete Individuen, deren Interessen entsprechend auch keine Rolle spielen. Inwieweit dies beim historisch-strukturellen Verallgemeinerungstyp anders ist, hängt davon ab, auf welchem kategorialen Fundament die betreffende Forschung beruht, ob und wie die Betroffenen in den Forschungsprozess einbezogen sind, ihn ggf. selber initiiert haben. Wenn wir uns diesbezüglich auf das kategoriale Fundament der Kritischen Psychologie beziehen, geht es aber nicht mehr darum, aus Verallgemeinerungstypen Typen der Fragestellung zu ermitteln, sondern umgekehrt darum, dass aus dem Fragestellungstyp der Verallgemeinerungstyp folgt: Die Durchdringung der Unmittelbarkeitsverhaftetheit menschlicher Lebensbezüge ist es, auf die sich die Fragestellung subjektwissenschaftlicher Aktualempirie richtet. Psychologische Fragestellungen vom Standpunkt des Subjekts aus schließen die Reflexion des Alltags, bezogen auf >psychologisch relevante< Probleme der Betroffenen, als Basis psychologischer Forschung ein. Diese Probleme bilden den Ausgangspunkt subjektwissenschaftlicher Forschung, deren Fluchtpunkt die - exemplarische - Lösung dieser Probleme ist: Subjektwissenschaftliche Problemstellungen sind so an subjektive Handlungsproblematiken gebunden. Entsprechend ist die Theorienbildung darauf gerichtet, unmittelbarkeitsfixierte Vorstellungen und Problemsich-
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ten so zu reformulieren, dass andere Handlungsmöglichkeiten konzipierbar werden. Dabei kann sich allerdings auch ergeben, dass die Probleme im gegebenen Rahmen nicht zu lösen sind, sondern dass es dazu weiterer Veränderungen in gesellschaftlicher Größenordnung und damit kollektiver Zusammenschlüsse bedürfte. Für den Einzelnen bedeutet das zu verstehen, warum >seine< Probleme nicht auf bloß individueller oder unmittelbar interpersoneller Ebene zu lösen sind. Dies kann - jenseits von Resignation auch einschließen, sich nicht immer wieder neu zu verstricken, sondern eine »gnostische Distanz« zu diesen Verstrickungen zu gewinnen, die deren blindes >Wirken< ermäßigt- und damit zugleich aber auf weiter reichende Veränderungen verweist. Der Fallbezug kritisch-psychologischer Forschung schließt weder aus, dass dabei vorher erarbeitete Konzepte benutzt werden, noch, dass fallübergreifend oder in Absehung von konkreten Fällen Theoriearbeit betrieben wird. Deren theoretische wie praktische Relevanz ist aber von den damit verbundenen Möglichkeiten individueller wie gesellschaftlicher Emanzipation nicht zu trennen. 13.6 Der Zusammenhang von Kritik und Weiterentwicklung 13.6.1 Reinterpretation
Die Kritische Psychologie konnte zwar nur mit interdisziplinären Bezügen entstehen. Im Kern aber ist sie ein psychologischer Ansatz, der seine Konzepte und Einsichten auch in stetiger Auseinandersetzung mit Konzepten, Theorien und Methoden anderer Ansätze (aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen) gewinnt. Die Art und Weise, wie sich die Kritische Psychologie auf andere Konzepte, Theorien und Methoden bezieht, ist als Erkenntnisprinzip der Einheit von Kritik und Weiterentwicklung, kurz: als Reinterpretation zu charakterisieren. Das von »Vorbegriffen« (Kap. 7.2) ausgehende historische Verfahren folgt diesem Erkenntnisprinzip; die damit gewonnen Resultate sind dann Grundlage für weitere Reinterpretationen. In Monographien vorgelegte Beispiele sind die Auseinandersetzungen mit Wahrnehmungs- und Lerntheorien (Holzkamp 1973, 1994; Ulmann 1975), der Psychoanalyse Freuds (Holzkamp-Osterkamp 1976; Holzkamp 1984b; Aumann 2003), der Denkpsychologie (Seidel 1976), der Einstellungspsychologie (Markard 1984) und der Attributionsforschung (Fahl-Spiewack 1995). Auf diese und andere Reinterpretationen habe ich in dieser Einführung immer wieder Bezug genommen. Vor diesem Hintergrund will ich noch einmal gesondert auf Verfahrensfragen der Reinterpretation zurückkommen, die sich beim Umgang mit vorfindlichen, noch nicht reinterpretierten Konzepten (»Vorbegriffen« und
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damit verbundenen empirischen Untersuchungen) stellen und Vorschläge machen, wie man sich vom Standpunkt subjektwissenschaftlicher Psychologie darüber ein Urteil bilden kann (Markard 1994). Es ist ja nicht selten der Fall, dass man vor theoretischen und praktischen Problemen, vor Fragestellungen steht, zu denen es seitens der Kritischen Psychologie noch keine speziellen Ausführungen gibt. Wie ist dann die Ebene zu gewinnen, auf der diese in ihrem Erkenntnisgehalt beurteilbar sind? Durchgeführte Reinterpretationen sind in sich schlüssig. Im Nachhinein, im Sog der Retrospektion, wirkt alles klar; die Mühen des Anfangs, die Unklarheiten des Weges, die Unschlüssigkeiten darüber, wo man die Recherche abbrechen muss oder kann, verschwinden in der abgerundeten Darstellung. Das Resultat kann so wirken, als habe nur das, was da steht, herauskommen können. Der Gang einer Reinterpretation (wie übrigens auch der Lösung einer praktischen Frage) enthält aber unterschiedliche Möglichkeiten, wie man weitermacht, wo man weiterfragt, welche Literatur man heranzieht. Es ist ja nicht vorgegeben, an welche Literatur man gerät, welche neuen Fragen diese aufwirft. Vielfältig sind immer wieder neue Alternativen, bezüglich derer die Entscheidung nicht eindeutig ist. Das kann auch nicht anders sein: denn wäre das Resultat eines Reinterpretationsversuches nicht offen, wäre die Reinterpretation so langweilig wie überflüssig. Dabei ergibt sich der jeweilige Sinn von Reinterpretationen aus der Fragestellung der Reinterpretierenden. Reinterpretation dient dazu, den »relativen« Erkenntnisgehalt von Konzepten und Theorien - gemäß deren eigenen Ansprüchen - herauszuarbeiten, um diesen Erkenntnisgehalt nutzen zu können. Dazu gehört in gewissem Ausmaße eine historisch-systematische Rekonstruktion der Theorie- (oder Konzept- )Geschichte bis hin zu den eigenen Fragestellungen, die ja dieser Geschichte nicht völlig äußerlich sind (sonst ergäbe sich ein derartiger systematisch-historischer Bezug ja gar nicht). Beim wissenschaftshistorischen Durchgang durch thematisch einschlägige Konzepte und Theorien braucht man in der Regel keineswegs »bei Null« anzufangen, weil die Rekonstruktion der Geschichte von Theorien und Konzepten mit der Geschichte der Rekonstruktion ihrer Kritiken verbunden ist. Der von »oben« nach »unten«, zeitlich also rückwärts erfolgende Durchgang durch die Geschichte von Theorien und Konzepten zeigt i.d.R., dass diese Geschichte eine Geschichte von (unerledigten) Kontroversen ist; er eröffnet damit eine Fülle Mainstream-interner wie -externer kritischer Aspekte, akzentuiert von den Standpunkten der jeweiligen Kritik aus. In diesen Kontext der Beschäftigung mit der Geschichte vorgängiger Kritik gehört auch die Frage danach, aufgrund welcher theoretischer Entwicklung oder Kontroverse eine Problemstellung, die zu bestimmten Konzeptualisierungen führte, überhaupt »frag-würdig«, d.h. wissenschaftlich
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relevant wurde (bzw. welche Problemaspekte eliminiert wurden). Dabei ist in Rechnung zu stellen, dass wissenschaftliche Fragestellungen und Untersuchungen nicht allein aus binnenwissenschaftlich entwickelten Problemkonstellationen entstehen, sondern dass diese mit außertheoretischen Gegebenheiten, gesellschaftlichen Problemstellungen, vermittelt sind. Die Reflexion der Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Fragestellung ist somit ein wichtiges Moment der Reinterpretation. Der Umstand, dass der Erkenntnisgehalt von Konzepten und Theorien sich nicht allein aktual-empirisch bestimmen lässt, bedeutet allerdings nicht, dass aktual-empirische Datenbezüge bei der Reinterpretation keine Rolle spielten. Die Notwendigkeit der speziellen Berücksichtigung methodischer Gesichtspunkte bei der Reinterpretation von Theorien und Konzepten ergibt sich insbesondere daraus, dass Methoden ggf. spezielle Reduktionen und Formierungen enthalten, die auf das Konzept selber zurückwirken bzw. konzeptuelle Fragen durch empirische Sachverhalte ersetzen. Wie immer man im Einzelnen individuelle »rassistische Haltungen<< konzeptualisieren mag, eine datenbezogene Diskussion der einschlägigen Konzepte muss in Rechnung stellen, ob das, was als »Rassismus<< imponiert, z.B. in Form von Skalen erhoben wurde, die den Befragten zumuten, Nationalitäten (z.B. »Türken<<) Eigenschaften zuzuordnen - und damit methodisch schon konstituieren, was zu untersuchen sie vorgeben: stereotype Urteile. Oder: Den Umstand, dass methodische Anordnungen theoriengenerierende Funktion haben, kann man mit Holzkamp ( 1993) an der Geschichte der Lerntheorien verfolgen: Die Standardanordnung zur instrumentellen Konditionierung einmal gegeben, lassen sich etwa Form, Intervall und Ausmaß der Belohnung! Bestrafung nahezu beliebig variieren. Am besonderen Hergestelltheitscharakter der experimentellen Anordnung wird die allgemeine theoretische Konstituiertheit der Daten am deutlichsten sichtbar: Im Experiment wird die Untersuchungs-Anordnung ja so gestaltet, dass die theoretische (Zusammenhangs-) Behauptung möglichst rein zum Tragen kommen kann. Auf jeden Fall werden Daten im Lichte von Theorien produziert, was bei einer Reinterpretation in Rechnung gestellt werden muss.
13.6.2 Ein Leitfaden zur Reinterpretation Aus den Debatten und Fragestellungen zur Reinterpretation habe ich einen Leitfaden entwickelt, den ich hier einfüge. • Was interessiert mich an dem Konzept, an der Theorie? Wie gewichte ich dementsprechend unterschiedliche Aspekte? • Welches Problem definiert das Konzept/die Theorie, oder welches Problem greifen sie auf? Kann ich diese Problemstellung nachvollziehen, finde ich sie sinnvoll, verkürzt, perspektivenreich? • Was leistet das Konzept/die Theorie, gemessen an der eigenen Problemdefinition bzw. dem eigenen Anspruch? Wie beurteile ich diesen Anspruch?
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• In welchem theoretischen oder praktischen Zusammenhang tauchte das Konzept/die Theorie auf, welche Funktion hatte das Konzept/die Theorie dort? Wie bin ich ggf. selber in diese (praktischen) Zusammenhänge (mit welcher Funktionalität) involviert? • Welche Bezüge zu anderen Theorien/Konzepten werden in den einschlägigen Zusammenhängen explizit hergestellt oder werden von mir vermutet? • Welche kategorialen Bezüge lassen sich in den Konzepten/Theorien ausmachen (etwa Kognitivismus; Psychoanalyse; Wirkung vs. Erfahrung von Therapie)? Argumentiert die Theorie/das Konzept (methodisch) auf subhumanem Spezifitätsniveau? Unter welche allgemeinen Bezugsebenen kann ich die interessierenden Konzepte/Theorien ggf. subsumieren (ohne ihnen Gewalt anzutun)? Wie zentral ist das Konzept/die Theorie in dem mich interessierenden Zusammenhang; tauchen sie nur als eins/eine unter vielen auf; kann ich das Konzept/ die Theorie aus diesem Zusammenhang zu Reinterpretationszwecken herauslösen? • Welche empirischen Bezüge werden in der Darstellungen der Konzepte/Theorien explizit hergestellt bzw. welche lassen sich ausmachen? Sind diese Bezüge methodenkritisch zu analysieren? Wie sähen angemessenere Methoden aus? Desavouieren die Methoden Erkenntnismöglichkeiten? (Wie) ist ggf. einzubringen, dass die Einhaltung methodischer Regeln Theorienkonkurrenz nicht auflöst? • Lassen sich einzelne (Moderator-) Variablen (Frauen, Männer) als Prämissen reformulieren? Gibt es zu dem Konzept/der Theorie schon entwickelte Debatten und Kritiken (»historischer Durchgang durch die Konzepte/Theorien<<), wie kann ich diese für meine eigenen Überlegungen fruchtbar machen? • Wie vermeide ich, der kritisierten Theorie/dem kritisierten Konzept einfach abstrakt eine andere/ein anderes entgegenzusetzen? Kann meine Reinterpretation Probleme, die sich aus den kritisierten Konzepten/Theorien ergeben (haben), mindestens verdeutlichen, ggf.lösen oder auf neuem Niveau formulieren? • Welchen gesellschaftlichen, damit auch geschlechtsspezifischen Bezüge oder Funktionen werden in den Konzepten/Theorien thematisiert bzw. welche lassen sich ausmachen (Parteilichkeit)? • Welche gesellschaftlich-politischen Dimensionen gehen mehr oder weniger direkt in die Konzepte/Theorien ein (Liberalismus- Erziehungsdebatte; neoliberale Marginalisierung- >>Identität<< [vgl. Markard 2003] )? • Muss ich bei der Reinterpretation interdisziplinäre Bezüge herstellen, haben die Konzepte in anderen Disziplinen einen andern Akzent (>>Identität<< in der Rollentheorie oder in der Postmoderne-Diskussion)? • Wie ist das Verhältnis von Alltags- und wissenschaftlicher Benutzung des Konzepts (Verdrängung)? • Lassen sich in den Theorien Prämissen-Gründe-Zusammenhänge ausmachen (und damit Geltungsansprüche >relativieren<): etwa >>Vermeiden dissonanter Kognitionen<< (Dissonanztheorie) vs. Aufsuchen neuer und dissonanter Kognitionen (>>Neugier-Verhalten<<)?
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• Bildet das Konzept/die Theorie »richtig« eine verkehrte Realität/Oberfläche ab? Lässt sich eine Begrenzung des Konzepts/der Theorie durch den Bezug auf schon vorhandene andere, das Mögliche im Wirklichen thematisierender Konzepte/Theorien ausmachen? • Gibt es seitens der Kritischen Psychologie schon Arbeiten/Konzepte/Theorien, die sich mit den Thema befasst haben? • Wie weit kann/muss ich das wissenschaftliche Problem, dessen konzeptionelle/ theoretische Fassung ich reinterpretieren will, verfolgen? Wo und wann ist Schluss? • Lassen sich hinsichtlich kategorialer Bezugsebenen der Kritischen Psychologie Vermittlungen mit dem Konzept/der Theorie ausmachen: Ausdifferenzierung der allgemeinsten Ebene der Handlungsgründe: Intentionalität, lntersubjektivität, Handlungsgründe, Bedingungen, Bedeutungen, Prämissen, Verständlich. keit, Perspektivität, Erfahrung? • Kann ich bestimmte Leitannahmen kritisch-psychologischer Analyse nutzen: (Situative) Beziehungsorientiertheit statt Eigenschafts- oder Seinsunterstellungen Überblick statt Unmittelbarkeitsfixiertheit Leugnung eines Subjektstandpunktes bzw. »Wirkungs<
Diese Fragestellungen zeigen, dass die Antwort auf die Frage, inwieweit vorfindliehe Konzepte und Theorien in der eigenen Arbeit fruchtbar gemacht werden können, mit dem Problem belastet ist, selber ansatz-abhängig zu sein. Denn der Beurteilungs-Maßstab ist ja nicht ansatz-unabhängig. >Ansatz-freie< Maßstäbe sind nicht denkbar, und dieser >Immanenz< des Maßstabs entspricht die Relativität der Reinterpretation selber, deren Rationalität wesentlich von der Ausweisbarkeit des dabei zugrunde gelegten Kategorialbezugs abhängt. Grundsätzlich ist für eine Reinterpretation unverzichtbar, den eigenen Beurteilungsmaßstab, die eigene Erkenntnisperspektive und die des analysierten Konzepts oder der analysierten Theorie zu explizieren. Das ist aber nur eine andere Formulierung für die Explikation des jeweiligen Kategorialbezugs, wobei gilt, dass der eigene Standpunkt der Kritik nicht der Kritik enthoben ist. Insofern sind Kritik und Selbstkritik zwei Seiten einer Medaille, und insofern ist die Weiterentwicklung der Kritischen Psychologie ein so weites wie spannendes Feld.
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Theorie und Experiment in der Psychologie Eine grundlagenkritische Untersuchung Schriften II, 2005, ISBN 978-3-88619-398-1
Wissenschaft als Handlung Versuch einer neuen Grundlegung der Wissenschaftslehre Schriften III, 2006, ISBN 978-3-88619-399-8
Sinnliche Erkenntnis Historischer Ursprung und gesellschaftliche Funktion der Wahrnehmung Schriften IV, 2006, ISBN 978-3-88619-405-6
Kontinuität und Bruch Aufsätze 1970-1972 Schriften V, 2009, ISBN 978-3-88619-406-3
Einzelpreis je Band: 33 €, bei Subskription: 24,90 €
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