Joseph Conrad
Geschichten vom Hörensagen
S. Fischer
JOSEPH CONRAD
GESAMMELTE WERKE IN EINZELBÄNDEN
S. FISCHER VERL...
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Joseph Conrad
Geschichten vom Hörensagen
S. Fischer
JOSEPH CONRAD
GESAMMELTE WERKE IN EINZELBÄNDEN
S. FISCHER VERLAG
JOSEPH CONRAD
GESCHICHTEN VOM HÖRENSAGEN
S. FISCHER VERLAG
Die englischen Originaltitel der sieben Erzählungen: ›Falk. A Reminiscence‹, ›Amy Foster‹, ›To-Morrow‹, ›e Black Mate‹, ›Prince Roman‹, ›e Warrior’s Soul‹, ›e Tale‹. Die ersten drei Erzählungen erschienen in dem Band ›Typhoon and Other Stories‹. , posthum, erschienen ›Tales of Hearsay‹, enthaltend ›e Warrior’s Soul‹, ›Prince Roman‹, ›e Tale‹, ›e Black Mate‹.
Deutsch von Fritz Lorch
Deutsche Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main Satz und Druck: Georg Wagner, Nördlingen Einband: G. Lachenmaier, Reutlingen Printed in Germany ---
GESCHICHTEN VOM HÖRENSAGEN
DER AUTOR ZU FALK, AMY FOSTER, MORGEN Dies sind keine Erlebnisgeschichten im genauen Sinn des Wortes. Erlebnis ist bei ihnen bloß die Leinwand für das vorschwebende Bild. Jede Geschichte enthält mehr als eine Absicht. Bei einer jeden stellt sich die Frage, was der Schristeller aus der sich ihm bietenden Gelegenheit gemacht hat; und jede beantwortet die Frage für sich selbst – mit Worten, die, wenn ich es, ohne ungebührlich feierlich zu werden, so sagen darf, unter gewissenhaester Beachtung der Wahrheit meiner eigenen Empfindungen niedergeschrieben wurden. Und jede dieser Geschichten muß sich, wenn sie überhaupt etwas bedeuten will, auf ihre eigene Weise rechtfertigen vor dem Gewissen eines jeden ihrer Leser. ›Falk‹ beleidigte durch einige Absonderlichkeiten des emas das Zartgefühl mindestens eines meiner Kritiker. Aber welches ist eigentlich das ema von ›Falk‹? Ich persönlich bin mir darüber nie klar geworden. Der Leser möge es selbst herausfinden. Meine Absicht bei der Niederschri von ›Falk‹ war nicht, zu schockieren. Wie in den meisten meiner Schrien geht es mir nicht um die Ereignisse selbst, sondern um deren Wirkung auf die Personen in der Erzählung. Aber mit allem, das ich geschrieben habe, war immer die eine unabänderliche Absicht verknüp, des Lesers Aufmerksamkeit dadurch zu wecken, daß ich sein Interesse fesselte und sein Mitgefühl aufrief für den behandelten Gegenstand, welcher Art er auch sein mochte, innerhalb der Grenzen der sichtbaren Welt und im Bereich menschlichen Fühlens. Ich darf wohl sagen, daß Falk genau meiner Erfahrung mit
gewissen freimütigen Menschen entspricht, die eine vollkommen natürliche Rücksichtslosigkeit mit einem bestimmten Maß an moralischem Zartgefühl verbinden. Falk gehorcht dem Gesetz der Selbsterhaltung ohne den geringsten Zweifel an seinem Recht; doch an einem kritischen Punkt dieses so rücksichtslos sich erhaltenden Lebens lehnt er es ab, der Wahrheit auszuweichen. Da er als feinfühlig genug hingestellt wird, um für alle Zeiten durch ein bestimmtes ungewöhnliches Erlebnis gezeichnet zu sein, mußte ich dieses Erlebnis dem Leser möglichst lebha vor Augen führen, aber es ist nicht das ema der Geschichte. Kümmerten wir uns bloß um Fakten, dann ginge es in der Geschichte vor allem um Falks Bestreben, zu heiraten, in welches Bestreben mit seiner Rücksichtslosigkeit und seinem Zartgefühl gleichermaßen der Erzähler der Geschichte sich unerwartet einbezogen sieht. Falk genießt zusammen mit einer anderen Geschichte von mir (›Die Rückkehr‹ in ›Geschichten der Unrast‹) die Auszeichnung, nie in Fortsetzungen veröffentlicht worden zu sein. Das Manuskript wurde zwar dem Redakteur irgendeiner Zeitschri vorgelegt, doch wies dieser es empört zurück mit der einzigen Begründung, »das Mädchen sage nie etwas«. Das stimmt. Von Anfang bis Ende der Geschichte äußert Hermanns Nichte kein Wort – und zwar nicht, weil sie stumm wäre, sondern aus dem einfachen Grund, weil sie immer, wenn sie ins Blickfeld des Erzählers tritt, entweder nichts zu sagen hat oder zu tief bewegt ist, um etwas sagen zu können. Der Redakteur, der die Geschichte offensichtlich gelesen hatte, hätte das erkennen müssen. Anscheinend tat er es nicht, und ich nahm davon Abstand, ihn auf die Unmöglichkeit solchen Sprechens hinzuweisen, denn da er immerhin nicht zu behaupten wagte, »das Mädchen« sei nicht lebendig, scherte mich seine Entrüstung weiter nicht.
Alle anderen Geschichten wurden in Fortsetzungen veröffentlicht. ›Amy Foster‹ erschien in e Illustrated London News mit einer schönen Zeichnung von Amy an ihrem freien Tag, wie sie zu Hause, einen Hut mit großer Feder auf dem Kopf, den Kindern den Tee reicht. ›Morgen‹ erschien erstmals im Fall Mall Magazine. Von dieser Geschichte möchte ich nur soviel sagen, daß vielen Leuten ihre Übertragbarkeit auf die Bühne auffiel, was mich darauf brachte, sie zu dramatisieren – bis zum heutigen Tag mein einziger Versuch in dieser Richtung. Ich möchte noch erwähnen, daß verschiedene Kritiker eine jede Geschichte bei Erscheinen des Bandes als die »beste der Reihe« herausgestellt und das Buch mit einer Wärme der Wertschätzung und des Verständnisses, einer sympathievollen Einsicht und einer Freundlichkeit der Ausdrucksweise besprochen haben, für die ich nicht dankbar genug sein kann.
J. C.
FALK Eine Erinnerung
Einige von uns, sämtlich mehr oder weniger der See verbunden, speisten in einem kleinen Gasthaus am Flußufer, nicht weiter als dreißig Meilen von London entfernt und keine zwanzig von jenem seichten und gefährlichen Tümpel, dem die Küstenfahrer den hochtrabenden Namen »Deutscher Ozean« geben. Und durch die großen Fenster bot sich uns ein Blick auf die emse; ein Blick, der die ganze Länge der Lower Hope Reach beherrschte. Aber das Essen war miserabel – einen Festschmaus hatten nur die Augen. Der Du des Salzwassers, des Lebenswassers für so viele von uns, durchströmte unser Gespräch. Wer einmal die Bitternis des Ozeans gekostet hat, der wird den Geschmack für alle Zeiten auf der Zunge behalten. Aber einer oder zwei unter uns, vom Leben an Land Verwöhnte, klagten über Hunger. Es war unmöglich, das Zeug zu essen. Und tatsächlich haete allem eine sonderbare Muffigkeit an. Der hölzerne Speiseraum stak wie ein Pfahlbau im schlammigen Flußufer; die Bodendielen wirkten morsch; ein klappriger alter Kellner wankte trübselig vor einem vorsintflutlichen, wurmstichigen Büffet auf und ab; die angestoßenen Teller hätten sehr wohl aus der Müllgrube in der Nähe einer Pfahlbausiedlung stammen können; und das Fleisch darauf gemahnte an noch ältere Zeiten. Der Gedanke an die Nacht der Vorzeit drängte sich auf, als der Urmensch aus seinem trüben Bewußtsein die ersten Ansätze zu einer Kochkunst entwickelte und daranging, über brennenden Holzscheiten Stücke Fleisches zu schmoren, in Gesellscha anderer guter Kerle; hernach, gesättigt und
glücklich, lehnte er sich zurück zwischen den abgenagten Knochen, um seine Erlebnisse zu erzählen – simple Geschichten von Hunger und Jagd – oder auch von Frauen, wer weiß! Aber glücklicherweise war der Wein so alt wie der Kellner. Und darum geschah es, daß wir uns, vergleichsweise leeren Magens, aber im Ganzen doch einigermaßen glücklich, zurücklehnten und uns unsere simplen Geschichten erzählten. Wir redeten von der See und allen ihren Werken. Die See ändert sich nie, und ihre Werke, ungeachtet des Geredes der Menschen, sind von Geheimnis umhüllt. Aber wir waren einer Meinung darüber, daß sich die Zeiten geändert hatten. Und wir redeten von alten Schiffen, von Unfällen auf See, von Schiruch, Entmastung; und von einem, der mittels eines Notruders sein Schiff sicher den ganzen Weg vom Rio de la Plata nach Liverpool brachte. Wir redeten von Wracks, von knappen Rationen und von Heldenmut – oder doch von dem, was die Zeitungen Heldentum auf See nennen – eine Bekundung von Tugenden durchaus anderer Art als die des Heldentums primitiver Zeiten. Und dann und wann verstummten wir alle und schauten hinaus auf das, was der Fluß unseren Blicken bot. Ein P. & O.-Schiff fuhr stromabwärts vorüber. »Hübsche Menüs gibt es auf diesen Schiffen«, bemerkte einer aus unserer Schar. Ein Mann mit scharfen Augen las den Namen des Schiffes am Bug: Arcadia. »Ein Bild von einem Schiff!« murmelten einige. Ihm folgte ein kleiner Frachtdampfer, und die Flagge, die man gerade einholte, während wir zuschauten, wies das Schiff als einen Norweger aus. Es entwickelte einen fürchterlichen Qualm, und ehe der sich verzogen hatte, erschien vor den Fenstern eine kurze hölzerne Bark mit viel Freibord, in Ballast und im Tau eines Schaufelrad-Schleppers. Die ganze Mannscha war auf dem Vorschiff mit dem Klarmachen des laufenden Gutes für das Segelsetzen beschäigt; und achtern, ganz allein dort mit dem Mann am Steuer, schritt
eine Frau in roter Kappe die Länge der Poop auf und ab, ihr graues Strickzeug in den Händen. »Vermutlich deutsch«, murmelte einer. »Der Kapitän hat seine Frau an Bord«, bemerkte ein anderer, und der Glanz des purpurnen Sonnenuntergangs, flammend hinter dem Londoner Dunst, warf ein bengalisches Licht auf die Masten der Bark und verdämmerte über der Lower Hope Reach. Dann sagte einer von uns – er hatte bisher geschwiegen, ein Mann von gut fünfzig Jahren, der ein Vierteljahrhundert lang Schiffe befehligt hatte –, während er der Bark nachblickte, die nun schon in weiter Ferne dahinglitt, schwarz auf dem schimmernden Fluß: Das erinnert mich an eine groteske Episode in meinem Leben vor vielen Jahren, als ich erstmals das Kommando einer Eisenbark erhalten hatte, die in einem bestimmten östlichen Hafen Fracht nahm. Der Hafen war zugleich Hauptstadt eines orientalischen Königreiches und lag an einem Fluß, so wie London an unserer alten emse liegt. Mehr braucht über die Lokalität nicht gesagt zu werden; denn derlei hätte sich zutragen können, wo immer es Schiffe, Kapitäne, Schlepper und verwaiste Nichten von unbeschreiblicher Schönheit gibt. Und das Groteske an der Episode betri nur mich, meinen Feind Falk und meinen Freund Hermann. Eine besondere Betonung schien auf den Worten ›Mein Freund Hermann‹ zu liegen, was einen von uns bewog (denn wir hatten soeben über Heldentum auf See gesprochen), nachlässig und beiläufig zu fragen: »Und dieser Hermann war ein Held?« Keineswegs, sagte unser angegrauter Freund. Ganz und gar kein Held. Er war ein Schiffsführer. So nennen sie in Deutschland, was bei uns der Master Mariner ist. Ich ziehe unsere Bezeichnung vor. Die Alliteration ist gut, und diese Nomenklatur enthält das, was uns, als einer Gemeinscha, den Sinn
eines korporativen Daseins vermittelt: Matrose, Maat, Meister, in dem alten, ehrwürdigen Handwerk der See. Was meinen Freund Hermann anlangt, hätte er sehr gut als ein vollkommener Meister des ehrwürdigen Handwerks gelten können, aber er wurde offiziell Schiffsführer genannt und hatte die schlichte, schwerfällige Erscheinung eines wohlhabenden Bauern in Verbindung mit der gutmütigen Schlauheit eines Kleinkrämers. Mit seinem glattrasierten Kinn, seinen plumpen Gliedmaßen und den schweren Augenlidern wirkte er nicht eben wie ein Schwerarbeiter und noch weniger wie ein Abenteurer der See. Indessen arbeitete er schwer auf den Meeren, in seiner Weise, ungefähr so, wie sich ein Krämer abarbeitet hinter seinem Ladentisch. Und sein Schiff war das Mittel, mit dem er seine wachsende Familie ernährte. Es war ein schweres, starkes Ding mit stumpfem Bug, das Gedanken an urtümliche Festigkeit weckte, gleich dem hölzernen Pflug unserer Vorväter. Und es wies auch noch andere Züge rustikal heimeliger Natur auf. Die enorme hölzerne Heckgalerie, wie sie mir bei keinem Schiff sonst begegnet ist, ließ mir sein wuchtiges viereckiges Heck wie die Hinterseite eines Müllereifuhrwerkes erscheinen. Aber die vier Heckfenster der Kajüte, von denen ein jedes mit sechs kleinen grünlichen Scheiben verglast und deren hölzernes Rahmenwerk braun gestrichen war, hätten sehr wohl die Fenster eines kleinen Landhauses sein können. Die weißen Vorhängchen und das Grün der Blumentöpfe hinter den Scheiben machten die Ähnlichkeit vollkommen. Bei ein, zwei Gelegenheiten, als ich unter dem Heck des Schiffes vorüberfuhr, entdeckte ich von meinem Boot aus einen runden Arm, der gerade mit einer Kanne die Blumen goß, und den geneigten, glattgekämmten Kopf eines Mädchens, das ich stets Hermanns Nichte nennen werde, weil ich tatsächlich nie seinen Namen erfahren habe, ungeachtet meines höchst vertraulichen Verkehrs mit der Familie.
Dieser Verkehr ergab sich jedoch erst später. Einstweilen wurde ich – wie der Rest der Schiffahrt in jenem östlichen Hafen – nicht im Zweifel gelassen über Hermanns Begriff von hygienischer Bekleidung. Offensichtlich glaubte er an guten, festen Flanell unmittelbar auf der Haut. Meistens waren auf seinem Schiff kleine Röcke und Schürzen zu sehen, die in der Besan-Takelage trockneten, oder eine Reihe winziger Socken, die am Flaggenfall flatterten; aber einmal alle vierzehn Tage wurde die Familienwäsche in voller Stärke vorgeführt. Sie bedeckte die Poop ganz und gar. Die Nachmittagsbrise brachte dann eine unheimliche, schlacksige Bewegung in diese Bekleidungsformationen, die entfernt an eine ertrunkene, verstümmelte, plattgewalzte Menschheit erinnerten. Rümpfe ohne Köpfe winkten mit Armen ohne Hände; Beine ohne Füße schlugen in phantastischen, in sich zusammenfallenden Schlenkern aus; und da gab es lange weiße Gewänder, die, wenn sie den Wind richtig durch ihre spitzenbesetzten Halsöffnungen einließen, sich für einen Moment gewaltig aulähten, wie wenn ein dickwanstiger, aber unsichtbarer Körper hindurchgeschlüp wäre. An solchen Tagen konnte man das Schiff schon von weitem an dem bunten grotesken Aufruhr erkennen, der achtern des Besanmastes im Gange war. Das Schiff hatte gerade vor mir seinen Liegeplatz, und es hieß Diana – Diana nicht von Ephesus, sondern von Bremen. Das wurde in weißen, fußhohen Lettern kundgetan, die mit weiten Abständen (nicht unähnlich der Schri auf einem Ladenschild) unter den Landhausfenstern über das Heck liefen. Dieser lächerlich unpassende Name wirkte wie eine Beleidigung jener bezauberndsten unter den Göttinnen; denn abgesehen von dem Umstand, daß das alte Schiff physisch zu einer Jagd, in welcher Form immer, unfähig war, gehörte auch noch eine Schar von vier Kindern zu ihm. Sie spähten über die Reling nach den vorüberfahrenden Booten und ließen bisweilen die
sonderbarsten Gegenstände in diese hineinfallen. So erhielt ich, einige Zeit bevor ich mit Hermann in Verbindung trat, eine gräßliche Lumpenpuppe auf den Hut, die Hermanns ältester Tochter gehörte. Indessen, diese Kinder waren im Ganzen recht wohl geraten. Sie hatten blonde Haare, runde Augen, runde kleine Knollennasen, und sie ähnelten sehr ihrem Vater. Die Diana von Bremen war ein höchst unschuldiges altes Schiff und schien nichts zu wissen von den Tücken der See, wie es an Land Haushalte gibt, die nichts wissen von der verderbten Welt. Und die Empfindungen, die das Schiff weckte, waren alles andere als ungewöhnlich, vielmehr vor allem häuslichen Charakters. Sie war ein Heim. Alle diese lieben Kinder hatten auf dem Achterdeck gehen gelernt. Solchen Vorstellungen haet etwas Hübsches, sogar Rührendes an. Ihre Zähne, denke ich, bissen sie an den ausgefransten Enden des laufenden Gutes durch. Ich habe omals das Baby (Nikolaus mit Namen) beobachtet, wie es damit beschäigt war, an dem hanfenen Fall der Fore-Royal zu knabbern. Nikolaus’ Lieblingsplatz war unter der Nagelbank des Großmastes. Sobald er losgelassen wurde, krabbelte er dorthin, und der erste Matrose, der ihm in die Quere kam, brachte ihn, mit teerigen Händen sorgsam das Kind in die Höhe haltend, zur Kabinentür zurück. Ich vermute, daß es da eine stehende Dienstanweisung dieses Inhalts gab. Im Verlauf solcher Überführungen versuchte das Baby, das die einzige hitzige Person an Bord war, den standhaen jungen deutschen Matrosen kräig ins Gesicht zu schlagen. Frau Hermann, eine einnehmende, behäbige Hausfrau, trug an Bord stets weite, blaue Kleider mit weißen Punkten. Wenn ich sie, was ein-, zweimal geschah, an einem eleganten kleinen Waschzuber dabei betraf, wie sie energisch weiße Kragen, Babystrümpfe und Hermanns Sommerkrawatten schrubbte, errötete sie in mädchenhaer Verwirrtheit, hob die nassen
Hände und grüßte mich von Weitem mit freundlichem Kopfnicken. Ihre Ärmel waren über die Ellbogen hochgerollt, und ihr goldener Ehering blitzte durch den Seifenschaum. Ihre Stimme war angenehm, sie hatte eine heitere freie Stirn, weiches, sehr blondes Haar und gutmütig dreinblickende Augen. Sie war mütterlich und maßvoll gesprächig. Wenn diese schlichte Matrone lächelte, bildeten sich jugendliche Grübchen auf ihren breiten, frischen Wangen. Hermanns Nichte hingegen, eine Waise und sehr schweigsam, sah ich nie lächeln, auch nicht andeutungsweise. Dies war aber nicht einer Düsternis ihres Gemütes zuzuschreiben, sondern der Zurückhaltung jugendlichen Ernstes. Sie hatten die Waise während der letzten drei Jahre bei sich gehabt, damit sie bei den Kindern helfe und Frau Hermann Gesellscha leiste, wie Hermann mir gegenüber einmal bemerkte. Das sei auch dringend nötig gewesen, solange die Kinder klein waren, fügte er mit verdrossener Miene hinzu. Es war ihr Arm, ihr Kopf mit dem glatt gescheitelten Haar gewesen, den ich eines Morgens durch die Heckfenster erspäht hatte, als sie sich über die Fuchsien und Reseden beugte; doch als ich sie zum ersten Mal in voller Größe erblickte, kapitulierte ich vor ihren Körperproportionen. Mit diesen prägte sie sich meinem Gedächtnis ein, so wie sonst große Schönheit, große Klugheit, Schlagfertigkeit oder Herzensgüte eine Frau erinnernswert machen können. Bei ihr waren es Form und Größe. Es war ihre physische Person, die diesen eindrucksvollen Zauber ausübte. Vielleicht war sie überdies in außerordentlichem Maß witzig, klug und gütig. Ich weiß es nicht, und es kommt nicht darauf an. Ich weiß nur, daß sie großartig gebaut war. Gebaut ist das einzig passende Wort hier. Sie war gleichsam mit königlicher Großzügigkeit angelegt und ausgeführt. Es verschlug einem den Atem, wenn man diese unbekümmerte Verschwendung kost
barer Materialien auf so ein junges Ding sah. Sie war jugendlich und doch vollkommen reif, als sei sie eine glückha Unsterbliche gewesen. Vielleicht war sie dabei auch wuchtig von Gestalt, aber das hatte nichts zu besagen. Es erhöhte nur den Eindruck des Dauerhaen. Sie war kaum neunzehn. Aber was für Schultern! Was für runde Arme! Welch geheimnisvolle Andeutung mächtiger Gliedmaßen, wenn sie mit drei langen Schritten das Deck überquerte, um den umgepurzelten Nikolaus aufzuheben – schier unbeschreiblich! Sie schien ein gutes, stilles Kind zu sein, sorgsam zu wachen über Lenas Bedürfnisse, Gustavs Purzelbäume, Karls aufgeschlagene liebe kleine Nase – war gewissenha, fleißig und all das. Aber was für prachtvolles Haar sie hatte! Üppig, lang, dicht, von goldbrauner Farbe. Es hatte den Schimmer kostbaren Metalls. Sie trug es fest zu einem einzigen Zopf geflochten, der ihr mädchenha den Rücken hinabhing und bis zum Gürtel reichte. Die Festigkeit des Zopfes war überraschend. Wahrhaig, er gemahnte an einen Knüppel. Ihr Gesicht war groß, lieblich, von gelassenem Ausdruck. Sie hatte eine glatte Haut, und ihre blauen Augen waren so fahl, daß es schien, als blicke sie mit der leeren, weißen Aufrichtigkeit einer Statue in die Welt. Hübsch konnte man sie nicht nennen. Es war etwas viel Eindrucksvolleres. Die Schlichtheit ihrer Gewandung, die Fülle ihrer Formen, ihre erstaunliche Figur und die Ahnung unerhörter Lebenskra, die von ihr ausging wie der einer Blume entströmende Du, verliehen ihr eine Schönheit von erdhafter und olympischer Art. Ihr zuzusehen, wenn sie zur Wäscheleine emporlangte, die Arme hoch über den Kopf erhoben, ließ einen in heidnisch frommer Andacht vergehen. Die sackartigen Baumwollgewänder der ausgezeichneten Frau Hermann hatten noch einige andeutungsweise Rüschen an Kragen und Saum; die Kattunkleider der Nichte aber wiesen nicht das mindeste Gekräusel auf; nichts als ein paar gerade
Falten in ihrem bis zu den Füßen reichenden Rock; und diese hatten, wenn sie still stand, ein strenges, statuenhaes Aussehen. Von Natur aus neigte sie zur Stille, ob sie nun saß oder stand. Ich möchte jedoch damit nicht sagen, daß sie statuenha war. Dafür war sie von zu strotzender Lebendigkeit; aber sie hätte für eine allegorische Statue der Erde Modell stehen können. Ich meine nicht die ausgelaugte Erde, die wir besitzen, sondern eine junge Erde, einen jungfräulichen Planeten, ohne Ahnung von einer Zukun, die von monströsen Ausgeburten des Lebens wimmelt und erfüllt ist vom Lärm der grausamen Schlachten des Hungers und des Denkens. Der wackere Hermann selbst war nicht sehr unterhaltend, wiewohl sein Englisch einigermaßen verständlich war. Frau Hermann, die jedesmal, wenn ich kam, mindestens eine Rede in einladend herzlichem Ton (auf Plattdeutsch, nehme ich an) über mich ausschüttete, konnte ich nicht verstehen. Ihre Nichte, wie wohltuend ihr Anblick auch wirkte (und sie gab einem irgendwie eine hoffnungsvolle Vorstellung von dem Schicksal der Menschheit ein), leistete uns bescheiden und schweigsam Gesellscha. Meistens war sie mit Nähen beschäigt; nur dann und wann verfiel sie, wie ich bemerkte, über dieser Arbeit in einen Zustand mädchenhaen Sinnens. Die Tante saß ihr gegenüber, gleichfalls mit Nähen beschäftigt, die Füße auf einem kleinen Schemel. Auf der anderen Seite des Decks hatten Hermann und ich uns auf zwei aus der Kabine geholten Stühlen zu einer Raucher-Partie niedergelassen, während derer wir dann und wann friedlich ein paar Worte wechselten. Ich kam beinahe jeden Abend hin. Hermann traf ich dann in Hemdsärmeln. Sobald er von Land auf sein Schiff zurückkehrte, war sein Erstes, daß er den Rock auszog; dann setzte er eine gestickte, runde Mütze mit Quaste auf und tauschte seine Stiefel mit einem Paar Stoffpantoffeln. Hernach rauchte er seine Pfeife an der Kabinentür und schaute
den Kindern zu – ein Bild bürgerlicher Tugendhaigkeit –, bis eines nach dem anderen eingefangen und in den verschiedenen Wohnräumen zu Bett gebracht wurde. Zuletzt trank er sein Glas Bier in der Kabine, die mit einem hölzernen Tisch auf gekreuzten Beinen und mit schwarzen geradlehnigen Stühlen eingerichtet war – mehr wie eine Bauernküche als ein Schiffssalon. Die See und alle nautischen Belange schienen sehr weit fortgerückt von der Gastlichkeit dieser vorbildlichen Familie. Und mir behagte das, weil ich damals eine recht aufreibende Zeit auf meinem eigenen Schiff durchlebte. Ich war ex officio durch den britischen Konsul als Kapitän dieses Schiffes eingesetzt worden, nachdem dort plötzlich ein Mann gestorben war und seinem Nachfolger zu dessen Orientierung nur einige verdächtig unquittierte Rechnungen zurückgelassen hatte, ein paar Aufstellungen über Dockungen im Trockendock, die Bestechung argwöhnen ließen, und eine stattliche Anzahl von Belegen für übertrieben hohe Ausgaben während dreier Jahre; all das hatte durcheinandergeworfen in einem staubigen alten Geigenkasten mit rotem Samtfutter gelegen. Ich stieß außerdem auf ein großes Kontobuch, das ich aber, als ich es hoffnungsvoll öffnete, zu meiner unendlichen Verblüffung angefüllt mit Versen fand – Seite um Seite mit gereimten Knittelversen von heiter unpassender Art, aufgezeichnet in der zierlichsten Handschri, die sich denken laßt. In jenem Fiedelkasten fand sich auch noch eine Photographie meines Vorgängers, unlängst aufgenommen in Saigon, vor einem Gartenprospekt, in Begleitung eines sonderbar gewandeten weiblichen Wesens – ein ältlicher, untersetzter vierschrötiger Mann, mit strengem Blick in schlecht sitzendem Anzug aus feinem schwarzen Wollstoff, und das Schläfenhaar derart nach vorn gebürstet, daß es an die Hauer eines Ebers erinnerte. Von der Fiedel fehlte an Bord, außer ihrer leeren Hülse, jede Spur;
von den Frachtgeldern, die das Schiff in letzter Zeit zweifellos verdient hatte, waren jedoch nicht einmal die Hülsen übrig. Es war unmöglich festzustellen, wo all das Geld hingewandert war. Es war nicht an Bord, es war nicht nach Hause überwiesen worden; denn in einem Brief des Eigentümers, der durch reinen Zufall in einer Tischschublade erhalten geblieben war, wurde milde genug beklagt, daß man während der letzten achtzehn Monate keines Schrizuges von der Hand des Kapitäns gewürdigt worden sei. Es gab nahezu keine Vorräte an Bord, keinen Zoll Reservetauwerk oder Segeltuch. Das Schiff hatte nie den Verbrauch ergänzt, war aller Vorräte bar, und ich sah Schwierigkeiten ohne Ende voraus, ehe ich es wieder seeklar haben würde. Da ich damals jung war – keine dreißig Jahre alt –, nahm ich mich und meine Probleme sehr wichtig. Der alte Steuermann, der bei der Beerdigung des Kapitäns als Hauptleidtragender aufgetreten war, zeigte sich nicht sehr erbaut über mein Erscheinen. Aber der Bursche war nun einmal für eine Kapitänsstelle nicht gesetzlich qualifiziert, und der Konsul war verpflichtet, wenn möglich einen ordentlich ausgewiesenen Mann einzusetzen. Was den Zweiten anlangte, so kann ich von ihm nur sagen, daß er Tottersen oder ähnlich hieß. Er hatte die Angewohnheit, in diesem tropischen Klima eine räudige Pelzmütze auf dem Kopf zu tragen. Ohne Zweifel war er der törichtste Mensch, der mir je an Bord eines Schiffes begegnet ist. Und so sah er auch aus. Er sah so unbeschreiblich töricht aus, daß ich schon überrascht war, wenn er, beim Namen gerufen, antwortete. Ich zog, gelinde gesagt, keinen großen Trost aus solcher Gesellscha; und die Aussicht auf eine Seereise mit diesen beiden Burschen war einigermaßen bedrückend. Die anderen Gedanken, denen ich in meiner Einsamkeit nachhing, waren auch nicht gerade heiter. Die Mannscha kränkelte. Die
Ladung kam nur sehr langsam herein. Ich sah großen Verdruß mit den Charterern voraus und bezweifelte, daß sie mir genügend Geld vorschießen würden, um die Ausgaben für das Schiff zu decken. Ihr Verhalten mir gegenüber war nicht wohlwollend. Kurz gesagt, ich kam nicht voran. Immer wieder beschlich mich die Erkenntnis (gewöhnlich gegen Mitternacht), daß ich völlig unerfahren sei, in Geschäsdingen höchst unwissend, hoffnungslos ungeeignet für eine Kapitänsstelle; und als auch noch der Steward ins Krankenhaus mußte, wegen choleraähnlicher Symptome, fühlte ich mich des einzigen anständigen Menschens auf dem Achterdeck beraubt. Zwar wurde fest damit gerechnet, daß er sich erhole, er mußte aber in der Zwischenzeit durch irgendeinen Diener ersetzt werden. Und auf Empfehlung eines gewissen Schomberg, Besitzers des kleineren der beiden Hotels am Platze, stellte ich einen Chinesen ein. Schomberg, ein stämmiger, haariger Elsässer und ein schreckliches Klatschmaul, versicherte mir, daß ich eine gute Wahl getroffen hätte. »Ausgezeichneter Boy. Kam in der suite Seiner Exzellenz, des Regierungskommissars Tseng hierher – Sie wissen doch. Seine Exzellenz logierten drei Wochen bei mir.« Er sprach sehr salbungsvoll von der chinesischen Exzellenz, aber das Exemplar aus seiner suite machte keinen vielversprechenden Eindruck. Damals wußte ich freilich noch nicht, welch ein unzuverlässiger Aufschneider Schomberg war. Der »Boy« hätte vierzig aber auch hundertundvierzig Jahre alt sein können, wer mochte das sagen – einer jener Chinesen mit totenkopfähnlichem Gesicht und absolut undurchschaubar. Ehe drei Tage verstrichen waren, stellte sich heraus, daß er ein notorischer Opiumraucher, ein Spieler, ein verwegener Dieb und ein erstklassiger Schnelläufer war. Als er in höchster Geschwindigkeit und mit zweiunddreißig Gold-Sovereigns meiner sauer verdienten Ersparnisse abzog, gab mir das den
Rest. Ich hatte mir das Geld für den Fall beiseitegelegt, daß meine Schwierigkeiten unüberwindlich würden. Nun war es fort, und ich kam mir so arm und nackt vor wie ein Fakir. Ich hing an meinem Schiff, ungeachtet all des Verdrusses, den es mir bereitete. Was ich aber nicht ertragen konnte, das waren die langen einsamen Abende in der Kajüte, wo die Atmosphäre, verstänkert durch eine leckende Lampe, auch noch von dem Schnarchen des Steuermanns aufgerührt wurde. Dieser Bursche schloß sich Punkt acht in seine stickige Kammer und hub an, widerliche, unflätige Geräusche von sich zu geben, ähnlich denen aus einer vollgelaufenen Posaune. Es war abscheulich, sich nicht einmal in Ruhe Sorgen machen zu können auf seinem eigenen Schiff. Alles auf dieser Welt, dachte ich, sogar die Kapitänsstelle auf einer netten kleinen Bark, konnte zum Irrsinn ausschlagen, zum Fallstrick werden, wenn der unvorsichtige Geist des Stolzes einen Menschen regierte. Vor solchen Gedanken flüchtete ich mich gern auf das Deck jener Bremer Diana. Dort hatte offensichtlich nie das Flüstern weltlicher Schändlichkeiten Einlaß gefunden. Und doch fuhr das Schiff auf der weiten See: und die tragische, komische See, die See mit ihren Schrecken und besonderen Ärgernissen, die See, die von Menschen bevölkert und von eiserner Notwendigkeit regiert wird, ist unzweifelha ein Teil dieser Welt. Aber dieser patriarchalische alte Kasten ließ, einer heiligen Klause gleich, in sich nichts von alledem widerhallen. Das Schiff war undurchlässig gegen die Welt. Seine ehrwürdige Unschuld schob den brüllenden Begierden der See anscheinend einen Riegel vor. Und doch kannte ich die See zu lange, um an ihren Respekt vor Wohlanständigkeit zu glauben. Eine elementare Gewalt ist unerbittlich, schonungslos. Es mochte selbstverständlich Hermanns geschickter Seemannskunst zuzuschreiben sein – aber mich dünkte, als hätten die vereinigten Ozeane aus reiner Zurückhaltung bisher davon abgese
hen, diese hohen Schiffswände einzuschlagen, das klotzige Ruder loszureißen, die Kinder zu schrecken und der Familie insgesamt die Augen zu öffnen. Es sah nach Zurückhaltung aus. Die rücksichtslose Enthüllung wurde am Ende einem Mann überlassen, einem Mann, der stark und selber elementar genug war, um, getrieben von der Macht einer schlichten und elementaren Begierde, einige der Geheimnisse der See zu lüen. Dies jedoch geschah viel später, und einstweilen suchte ich frühabendlich Zuflucht auf dem freundlichen alten Schiff. Die einzige Person an Bord, die ihre Kümmernisse hatte, war die kleine Lena, und ich begriff sehr bald, daß der Gesundheitszustand ihrer Lumpenpuppe äußerst labil war. Dieses Ding führte eine Art Dasein »in extremis«, in einem hölzernen Kasten, der gegen den Steuerbord-Doppelpoller gelehnt war, und es wurde mit der größten Teilnahme und Sorgfalt von allen Kindern gepflegt, die es genossen, ernste Gesichter zu machen und auf Zehenspitzen zu gehen. Nur das Baby – Nikolaus – sah der Sache mit einem kalten, spitzbübischen Lächeln zu, als gehe sie ihn nichts an. Lena grämte sich unausgesetzt, über die Schachtel gebeugt, und alle waren sie todernst. Es war wunderbar, wie diese Kinder sich in ihr Mitleid mit diesem verschmierten Ding steigerten, das ich auch mit einer Zange nicht hatte anrühren wollen. Ich nehme an, sie übten und entwickelten an dieser Puppe die ihrem Volk eigene Sentimentalität. Wie Frau Hermann zulassen konnte, daß Lena diesen Lumpenbalg, der doch gar zu liederlich und unsauber war, in solchem Maße herzte und koste, setzte mich immer wieder in Erstaunen. Aber wenn Frau Hermann ihre scharfen, mütterlichen Augen von der Näharbeit hob, um mit belustigter Sympathie den Kindern zuzuschauen, dann schien sie irgendwie gar nicht zu erfassen, daß dieses Objekt der Zärtlichkeit ein Makel an der Reinheit des Schiffes war. Reinheit,
nicht Sauberkeit, ist das richtige Wort. Sie wurde so weit getrieben, daß ich auch hierin schließlich einen Auswuchs des Sentimentalen zu entdecken meinte, als sei Schmutz durch Liebe getilgt worden. Es ist unmöglich, Ihnen einen Begriff von der peinlichen Ordnung dort zu geben. Es war, als werde das ganze Schiff allmorgendlich energisch ausgeputzt – mit einer Zahnbürste. Sogar dem Bugsprit wurde dreimal in der Woche Toilette gemacht mit einem Stück Seife und einem weichen Flanelltuch. Geschmückt – ich muß sagen: geschmückt –, kunstlos geschmückt mit blendendem Weiß am Holzwerk und dunklem Grün an den Eisenteilen, weckte diese einfältige Farbverteilung in mir Bilder arglosen Friedens, arkadischer Glückseligkeit; und die kindische KrankenbettKomödie erschien mir bisweilen wie ein abscheulich realer Fleck auf diesem idealen Zustand. Ich genoß ihn sehr – und brachte von meiner Seite eine kleine, sane Erregung hinein. Unser vertraulicher Verkehr nämlich entsprang der gemeinsamen Verfolgung jenes Diebes. Es war Abend, und Hermann, der entgegen seiner Gewohnheit an jenem Tag länger an Land geblieben war, wand sich gerade rückwärts aus einer kleinen Kutsche am Flußufer, seinem Schiff gegenüber, als die Jagd an ihm vorüberstürmte. Er begriff, als hätte er Augen in den Schulterblättern gehabt, sogleich die Situation, schloß sich mit einem Satz uns an und übernahm die Führung. Der Chinese floh schweigend wie ein fliegender Schatten über den Staub einer äußerst orientalischen Straße dahin. Ich folgte. Weit hinter mir keuchte und zeterte mein Steuermann wie ein Wilder, Ein junger Mond warf sein verschämtes Licht über die Ebene, die einer riesigen öden Fläche glich: die Gebäudemasse eines buddhistischen Tempels zeichnete sich weit vor uns in stumpfem Schwarz gegen den Himmel ab. Selbstverständlich entkam der Dieb; aber noch in meiner Enttäuschung mußte ich die Geistesge
genwart Hermanns bewundern. Die Geschwindigkeit, die dieser untersetzte Mann im Interesse eines ihm vollkommen fremden Menschen entwickelt hatte, verdiente meine wärmsten Dank – in diesem Kräeeinsatz lag etwas von ehrlicher Herzlichkeit. Er schien, wie ich selbst, betrübt über unseren Mißerfolg zu sein und achtete kaum auf meine Dankesworte. »Keine Ursache«, sagte er und lud mich unverzüglich ein, auf sein Schiff zu kommen und ein Glas Bier mit ihm zu trinken. Wir stocherten noch eine Weile ungewiß in den Büschen herum und spähten ohne Hoffnung in ein, zwei Gräben. Kein Laut war zu hören: Schlammlachen schimmerten schwach zwischen dem Röhricht herauf. Langsam trotteten wir zurück, mit hängenden Köpfen, unter der kleinen Sichel des Mondes, und ich hörte, wie er vor sich hinmurmelte: »Himmel! Zwei-unddreißig-Pfund!« Er war beeindruckt von der Summe des verlorenen Geldes. Das Keuchen und Zetern des Steuermanns vernahmen wir schon lange nicht mehr. Dann sagte er zu mir: »Jeder hat seine Plage«, und während wir weitergingen, bemerkte er noch, daß er nie etwas von der meinigen erfahren hätte, wäre er nicht durch einen Zufall von Kapitän Falk an Land aufgehalten worden. Er sei nicht gern so spät noch an Land – fügte er mit einem Seufzer hinzu. Den Anflug von Schmerzlichkeit in seinem Ton erklärte ich mir selbstverständlich mit seiner Teilnahme an meinem Mißgeschick. An Bord der Diana drückten Frau Hermanns klare Augen mir viel Interesse und Mitgefühl aus. Wir trafen die beiden Frauen beim Nähen, einander gegenüber, unter dem geöffneten Deckslicht, beim hellen Schein einer Lampe sitzend. Hermann schritt voraus, zog noch in der Tür seine Jacke aus und ermunterte mich mit lautem, einladendem Rufen: »Treten Sie ein! Hier! Treten Sie ein, Kapitän!« Sogleich, die Jacke in der
Hand, begann er, seiner Frau den ganzen Hergang zu erzählen. Frau Hermann faltete die rundlichen Hände im Schoß; ich lächelte und verneigte mich mit schwerem Herzen: die Nichte erhob sich von ihrer Näharbeit, um Hermann seine Pantoffeln und die gestickte Kalotte zu bringen, die er sich mit päpstlicher Feierlichkeit aufs Haupt setzte, ohne seine Mitteilung (über mich) zu unterbrechen. Wogen weißen Stoffes lagen auf dem Kabinenboden zwischen den Stühlen; ich hörte, wie die Worte »Zwei-und-dreißig Pfund« mehrmals wiederholt wurden, und dann kam sogleich das Bier, das ich köstlich fand, mit meiner vom Rennen und der Erregung der Jagd ausgedörrten Kehle. Ich ging erst nach Mitternacht fort, lange nachdem die Frauen sich zurückgezogen hatten. Hermann hatte drei Jahre oder mehr im Osten Handel getrieben. Meistens hatte er Reis oder Holz geladen. Sein Schiff war in den Häfen von Wladiwostok bis Singapur bekannt. Es gehörte ihm selbst. Die Einküne waren zwar bescheiden, aber der Handel warf genügend ab – solange die Kinder klein waren, hieß das. Übers Jahr, so hoe er, würde er in der Lage sein, die Diana für einen guten Preis an eine japanische Firma zu verkaufen. Er beabsichtigte dann heimzukehren, nach Bremen, im Postschiff, zweiter Klasse, mit Frau Hermann und den Kindern. Er erzählte mir das alles einigermaßen umständlich, zwischen langen Zügen an seiner Pfeife. Ich bedauerte sehr, als er, nachdem er die Pfeife ausgeklop hatte, begann, sich die Augen zu reiben. Ich hätte noch bis zum nächsten Morgen dort sitzen mögen. Warum sollte ich an Bord meines eigenen Schiffes zurückeilen? Um die aufgebrochene, ausgeplünderte Schublade in meinem Kajütsraum anzustarren? Puh! Der bloße Gedanke bereitete mir Übelkeit. Ich wurde täglicher Gast dort, wie Sie schon wissen. Ich glaube, Frau Hermann betrachtete mich von Anfang an als
eine romantische Figur. Gewiß raue ich mir nicht coram populo das Haar über meinen Verlust, und sie hielt eben das für noble Gelassenheit. Später habe ich ihnen wohl einige meiner Abenteuer erzählt – was die auch wert sein mochten –, und sie verwunderten sich höchlich über den Reichtum meiner Erfahrungen. Hermann pflegte die Stellen, die ihn am erstaunlichsten dünkten, zu übersetzen. Er stand dann auf und wandte sich, als wolle er einen Vortrag über ein bestimmtes ema halten, gestikulierend an die beiden Frauen, die ihre Handarbeit langsam in den Schoß sinken ließen. Währenddessen saß ich vor einem Glas von Hermanns Bier und versuchte, bescheiden dreinzublicken. Frau Hermann sah rasch zu mir hinüber und stieß leise einige »Ach!« aus. Die Nichte brachte nie einen Laut über die Lippen. Nie. Aber auch sie hob bisweilen die fahlen Augen, um mich anzuschauen auf ihre nichts wahrnehmende, sane Art. Ihr Blick war keineswegs töricht; er leuchtete san und weit wie der Mond über einer Landscha – anders als das forschend eindringende Blitzen der Sterne. Man tauchte ein in ihn, kam sich selbst wie ausgelöscht vor. Und doch muß dieser Blick, wenn er sich auf Christian Falk richtete, so wirkungsvoll gewesen sein wie das Suchlicht eines Schlachtschiffes. Falk war der andere ausdauernde Besucher an Bord, wiewohl man, seinem Benehmen nach zu urteilen, hätte denken können, er sei bloß gekommen, um sich das Achterdeck-Gangspill anzuschauen. Er starrte es auch wirklich ziemlich ausgiebig an, wenn er uns Gesellscha leistete dort vor der Kabinentür, den einen seiner muskulösen Arme über die Stuhllehne geworfen und die mächtigen, wohlgeformten Beine in sehr engen weißen Hosen lang ausgestreckt. Diese Beine endeten in einem Paar schwarzer Schuhe, die geräumig waren wie ein Flußkahn. Beim Eintreffen schüttelte er murmelnd Hermanns Hand, verbeugte sich gegen die Frauen und nahm neben uns
mit seiner teilnahmslosen und misanthropischen Miene Platz. Abrupt brach er dann auf, sprang in die Höhe, ließ einige Grunzlaute hören, schüttelte allen die Hand, verneigte sich, das Ganze wie in Panik. Bisweilen näherte er sich in einer diskreten und krampaen Anstrengung den Frauen und wechselte einige leise Worte mit ihnen, höchstens ein halbes Dutzend. Bei diesen Gelegenheiten wurde Hermanns gewohnter Blick ausgesprochen glasig, und Frau Hermanns freundliches Gesicht rötete sich. Das Aussehen des Mädchens indessen veränderte sich nicht im mindesten. Falk war Däne oder vielleicht auch Norweger, ich weiß es nicht. Jedenfalls Skandinavier, und ein anmaßend ausbeuterischer Monopolist. Möglich, daß ihm das Wort unbekannt war, aber von der Sache selbst hatte er eine klare Vorstellung. Sein Gebührentarif für das Herein- und Hinausschleppen von Schiffen war das brutalste und rücksichtsloseste derartige Dokument, das mir je vor Augen gekommen ist. Er war der Kapitän und Eigentümer des einzigen Schleppers auf dem Fluß, eines sehr schmucken, weißen Fahrzeugs von Tonnen oder mehr, elegant wie eine Yacht gebaut, mit einem rund gehaltenen Ruderstand, der sich wie eine verglaste Kanzel hoch über den schnittigen Bug erhob, und mit einem einzigen schlanken, lackierten Pfahlmast auf dem Vorschiff. Ich möchte meinen, daß es noch ein paar Kapitäne auf See gibt, die sich an Falk und seinen Schlepper erinnern. Er knüpe einem jeden von uns Handelsschiffen seine anderthalb Pfund Fleisch mit einer unerbittlichen Rücksichtslosigkeit ab, die ihn zu einem verhaßten, ja sogar gefürchteten Menschen werden ließ. Schomberg pflegte zu sagen: »Ich rede nicht mit dem Kerl. Er trinkt keine sechs Glas bei mir von einem Ende des Jahres zum andern. Doch, meine Herren, sehen Sie zu, daß Sie, wenn irgend möglich, nichts mit ihm zu tun haben, das ist mein Rat.« Diesem Rat war, abgesehen von den unvermeidlichen
Geschäsbeziehungen, leicht Folge zu leisten, denn Falk drängte sich niemandem auf. Der Vergleich eines Schlepperkapitäns mit einem Zentaur mag abwegig erscheinen; aber er erinnerte mich entfernt an einen Stich in einem meiner Knabenbücher, auf dem Zentauren an einem Bach dargestellt waren – und da war insbesondere einer im Vordergrund, der mit Pfeil und Bogen in der Hand einherstolzierte. Er hatte gleichmäßige, strenge Züge und einen gewaltigen, lockigen Bart, der ihm über die Brust floß. Falks Gesicht erinnerte mich an diesen Zentaur. Zudem war er auch ein Mischwesen. Kein Pferd-Mensch, das stimmt zwar, aber ein Boot-Mensch. Er lebte auf seinem Schlepper, der immer den Fluß hinauf- und hinunterjagte vom frühen Morgen bis zum tauigen Abend. Im letzten Strahl der untergehenden Sonne sah man ihn noch weit draußen in der Mündung, mit wehendem Bart, hoch auf dem weißen Gebilde, wie er den Fluß heraufdampe, um für die Nacht vor Anker zu gehen. Da waren der weißgekleidete Körper des Mannes und das tieraune Haar und nichts unterhalb seines Gürtels als die querschiffs verlaufenden weißen Linien der Brückenverschanzung, an denen der Blick weiterlief zu den schnittigen weißen Linien des Bugs, der das lehmige Wasser des Flusses durchpflügte. Getrennt von seinem Boot schien er, mir wenigstens, unvolständig. Der Schlepper, ohne seinen Kopf und Torso auf der Brücke, wirkte wie verstümmelt. Doch er verließ sein Schiff sehr selten. Während der Zeit, da ich im Hafen lag, sah ich ihn nur zweimal an Land. Das erste Mal bei meinen Charterern, bei denen er menschenverächterisch eintrat und Bezahlung für das Hinausschleppen einer französischen Bark forderte. Das zweite Mal traute ich kaum meinen Augen, denn ich gewahrte ihn, zurückgelehnt unter seinem Bart in einem Korbstuhl des Billardzimmers in Schombergs Hotel. Es war sehr lustig zu beobachten, wie Schomberg ihn geflis
sentlich ignorierte. Die Künstlichkeit dieses Benehmens kontrastierte deutlich mit Falks natürlicher Unbeteiligtheit. Der massige Elsässer redete laut mit seinen anderen Gästen, während er von einem Tischchen zum andern schritt, doch an Falks Platz ging er, den Blick geradeaus gerichtet, vorüber. Falk saß da, ein unberührtes Glas Bier neben sich. Er mußte jeden Weißen im Raum vom Sehen und vom Namen her gekannt haben, aber er wechselte mit niemandem ein Wort. Er quittierte mein Erscheinen mit dem Senken seiner Augenlider, und das war alles. Hingeflegelt in seinem Sessel, fuhr er sich von Zeit zu Zeit mit beiden Handflächen über das Gesicht, und dabei erfaßte ihn jeweils ein leichter, kaum wahrnehmbarer Schauder. Es war eine Angewohnheit, und ich war selbstverständlich mit ihr vertraut, da man, wenn man während einer Stunde in seiner Gesellscha weilte, nicht umhin konnte, sich über solch eine leidenschaliche und unerklärliche Gebärde zu verwundern, die eine lange anhaltende Reglosigkeit unterbrach. Er pflegte diese Gebärde bei jeder Gelegenheit zu machen; bestimmt beispielsweise, wenn er der kleinen Lena und ihrem Geplapper über die leidende Puppe zugehört hatte. Die Kinder Hermanns belagerten seine Beine stets ziemlich heig, obschon er sich ihrer Zudringlichkeit auf sane Weise zu entziehen suchte. Er schien jedoch eine große Zuneigung zu der ganzen Familie zu hegen. Zu Hermann insbesondere. Er suchte seine Gesellscha. In diesem Fall beispielsweise mußte er nur auf ihn gewartet haben, denn sobald Hermann eintrat, erhob sich Falk hastig, und sie gingen miteinander hinaus. Danach entwickelte Schomberg in Hörweite von mir vor drei oder vier Leuten seine eorie, daß Falk hinter Kapitän Hermanns Nichte her sei, daß aber, so versicherte er vertraulich, nichts daraus werde. Letztes Jahr sei es dasselbe gewesen, als Kapitän Hermann hier Ladung aufgenommen habe.
Natürlich schenkte ich Schomberg keinen Glauben, aber ich muß gestehen, daß ich doch eine Zeitlang genau beobachtete, was vorging. Alles was ich entdeckte, war eine gewisse Ungeduld auf Hermanns Seite. Wurde er Falks ansichtig, wenn dieser über die Gangway herüberkam, fing der vorzügliche Mann zu brummen an und zischte etwas wie ein deutsches Fluchwort. Ich bin jedoch, wie ich schon sagte, nicht vertraut mit der Sprache, und Hermanns saner, rundäugiger Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Während er ungerührt geradeaus blickte, grüßte er Falk mit »Wie geht’s« oder in kehligem Englisch mit »How are you?« Das Mädchen blickte dann kurz auf und bewegte leise die Lippen. Frau Hermann ließ die Hände in den Schloß sinken, um einige Minuten lang wortreich und in freundlichem Ton mit ihm zu plaudern, bevor sie sich wieder ihrer Näharbeit zuwandte. Falk warf sich in einen Stuhl, streckte seine langen Beine aus und fuhr sich, so sicher wie das Amen in der Kirche, mit den Händen leidenschalich über das Gesicht. Mir gegenüber verhielt er sich nicht ausgesprochen unverschämt: es war geradezu, als könne er mit einer Lapalie wie meiner Existenz unmöglich behelligt werden; und da er ein Monopol besaß, stand er schließlich nicht unter dem Zwang, sich freundlich zu erweisen. Er war sicher, seine erpresserischen Schleppgebühren aus mir herauszuholen, ob er nun lächelte oder die Stirn runzelte. Tatsächlich tat er keines von beidem: doch ehe einige Tage ins Land gegangen waren, gelang es ihm, mich nicht wenig in Erstaunen und Schombergs Plappermaul mehr denn je in Bewegung zu setzen. Das kam so. Vor der Mündung des Flusses befand sich eine seichte Barre, die hätte niedergehalten werden müssen; aber die Regierungsstellen jenes Staates waren gerade zu dieser Zeit gottesfürchtig damit beschäigt, die große buddhistische Pagode frisch zu vergolden, und hatten kein Geld übrig für
Baggerarbeiten. Ich weiß nicht, wie es jetzt ist, aber zu der Zeit, von der ich spreche, war diese Sandbank für die Schifffahrt ein großes Ärgernis. Ihr war es zu danken, daß Schiffe von bestimmtem Tiefgang nicht im Fluß zuende beladen werden konnten. Nachdem sie soviel wie möglich geladen hatten, mußten sie auslaufen, um draußen ihre Ladung zu komplettieren. Die ganze Prozedur war ein einziger Verdruß. Wenn man der Meinung war, man habe so viel an Bord, wie das Schiff sicher über die Barre bringen könnte, gab man seinem Agenten Bescheid. Der wiederum verständigte Falk, daß Kapitän So-und-so zum Auslaufen bereit sei. Dann erschien Falk (angeblich, wenn es sich mit seinen anderen Arbeiten vereinbaren ließ, in Wirklichkeit aber, wenn es seinem launenhaen Sinn so paßte und nachdem er sich vorher auf dem Kontor sorgsam versichert hatte, daß hinreichend Geld zur Begleichung seiner Rechnung verfügbar war) mürrisch längsseits, starrte einen aus seinen gelben Augen von der Brücke her an und schleppte einen, wie unklar die Takelage und die Decks auch sein mochten, mit gefühlloser Eile hinaus, so als gehe es zum Richtplatz. Und er bestand darauf, daß man das Ende seiner eigenen Schlepptrosse heraufnahm, wofür dann selbstverständlich eine Sondergebühr erhoben wurde. Auf die Einwände, die man gegen diese Beutelschneiderei hinüberbrüllte, schüttelte dieser hochragende Torso, die eine Hand auf dem Maschinentelegraphen, nur den bärtigen Kopf über dem Platschen, dem Gestrudel, dem Lärm und den Rauchwoken, in denen der Schlepper, mit den Schaufelrädern zurückgehend und die Schlepptrosse spannend, sich wie ein wildes und ungebärdiges Wesen aufführte. Seine Mannscha bestand aus der unverschämtesten Bande von Laskars, die mir je vorgekommen ist. Ihnen war erlaubt, einem die beleidigendsten Schimpfworte an den Kopf zu werfen; und sobald man fest war, zerrte einen Falk aus dem Liegeplatz, als schere es ihn
nicht, was dabei zu Bruch gehe. Achtzehn Meilen mußte man hinter ihm den Fluß hinunterfahren und dann nochmal drei, die Küste entlang dorthin, wo eine Gruppe unbewohnter felsiger Eilande einen geschützten Ankerplatz umschloß. Hier mußte man dann liegen bleiben, vor einem einzigen Anker, die Masten mit ihren Rahen und den festgemachten Segeln seewärts gekehrt über jene kahlen Landkrümel hinweg, die auf dem tielauen Meer verstreut waren. Es gab nichts zu sehen außer einem langweiligen Ufer, dem schlammigen Rand der braunen Ebene, in der sich fahlgrün die Windungen des soeben verlassenen Flusses abzeichneten, und der Großen Pagode, die sich einsam und massig erhob mit schimmernden Kurven und Spitzen, wie die prunkvoll steinerne Blüte eines tropischen Felsens. Man hatte nichts zu tun, als ungeduldig auf den Rest der Ladung zu warten, der mit der größten Unregelmäßigkeit den Fluß hinuntergesandt wurde. Und es stand einem frei, sich mit dem Gedanken zu trösten, diese Phase des Verdrusses bedeute immerhin, daß die Stunde des Abschieds von jenem Gestade näher rücke. Wir mußten beide durch diese Phase hindurch, Hermann und ich, und es gab eine Art geheimen Wettstreits zwischen unseren Schiffen, welches wohl als erstes zum Auslaufen bereit sei. Wir blieben Kopf an Kopf beinahe bis zum Ende, als ich das Rennen dadurch gewann, daß ich persönlich vormittags zum Agenten ging und Bescheid gab; während Hermann, der sich nicht so schnell entschließen konnte, an Land zu gehen, erst am späten Nachmittag in das Kontor des Agenten kam. Die Leute teilten ihm dort mit, daß mein Schiff am nächsten Morgen als erstes an der Reihe sei; und ich glaube, er sagte ihnen, er habe es nicht eilig. Es passe ihm besser, tags darauf auszulaufen. An jenem Abend saß er, an Bord der Diana, auf seinem Stuhl, die plumpen Schenkel gespreizt, starrte vor sich hin und sog
an dem gebogenen Mundstück seiner Pfeife. Plötzlich sagte er mit einiger Ungeduld zu seiner Nichte, sie möge die Kinder zu Bett bringen. Frau Hermann, die mit Falk sprach, unterbrach sich und sah beunruhigt zu ihrem Mann hinüber. Aber das Mädchen erhob sich sogleich und trieb die Kinder vor sich her in die Wohnung. Bald darauf mußte Frau Hermann uns verlassen, um drinnen eine, den herausdringenden Geräuschen nach zu urteilen, gefährliche Meuterei niederzuwerfen. Das veranlaßte Hermann, vor sich hin zu brummen. Während einer weiteren halben Stunde rutschte Falk, mit uns allein gelassen, auf seinem Stuhl hin und her, seufzte leise, sprang schließlich, nachdem er sich mit den Händen über das Gesicht gestrichen, vom Stuhl und sagte, als lasse er alle Hoffnung fahren, sich uns verständlich zu machen (er hatte nicht ein einziges Mal den Mund aufgetan), auf Englisch: »Dann … Gute Nacht, Kapitän Hermann.« Er blieb einen Augenblick vor meinem Stuhl stehen und sah mich unentwegt an, ja, starrte mich an und ging gar so weit, ein tiefes Geräusch in seiner Kehle hören zu lassen. All das war derart auffällig, daß er in mir zum ersten Mal während unseres auf Kopfnicken und Brummlaute beschränkten Verkehrs etwas wie Interesse erregte. Aber im nächsten Augenblick enttäuschte er mich wieder – denn er schritt eilig von dannen, ohne auch nur mit dem Kopf genickt zu haben. Sein Benehmen war zwar immer absonderlich gewesen, und ich hatte ihm gleichwohl wenig Aufmerksamkeit gezollt, diese Art dunkler Vorsätzlichkeit aber, die da unter seiner Teilnahmslosigkeit zu lauern schien wie ein wachsamer alter Karpfen im Teich, war bisher noch nie so dicht an die Oberfläche gekommen. Entschieden hatte er Erwartungen in mir geweckt. Ich könnte nicht sagen, was ich erwartete, jedenfalls nicht die unglaublichen Ereignisse, mit denen er mich sogleich in der Frühe des nächsten Tages überraschte.
Ich erinnere mich nur noch, daß sein Verhalten an jenem Abend bemerkenswert genug war, um mich, nachdem er gegangen war, laut die Überlegung anstellen zu lassen, was er wohl damit habe zum Ausdruck bringen wollen. Hierauf antwortete Hermann, der die Beine übereinander schlug und grimmig seinen Stuhl zurückschob: »Der Bursche weiß nicht, was er will.« Diese Bemerkung mochte eine wahre Einsicht enthalten. Ich sagte nichts darauf, und noch immer abgewandt, fügte Hermann hinzu: »Als ich letztes Jahr hier lag, war es dasselbe mit ihm.« Eine Eruption von Tabaksqualm verhüllte seinen Kopf, als sei sein Mißmut wie Schießpulver explodiert. Ich war im Begriff, ihn geradeheraus zu fragen, ob er nicht wenigstens den Grund wisse, weshalb Falk, der doch ein notorisch ungeselliger Mensch war, Gefallen daran fand, ihn derart ausgiebig auf seinem Schiff zu besuchen. Nach allem, mußte ich plötzlich denken, war das doch höchst erstaunlich. Ich überlege mir jetzt, was wohl Hermann geantwortet hätte. Aber er ließ mich nicht dazu kommen, die Frage zu stellen. Er hatte anscheinend Falk ganz vergessen und begann einen Monolog über seine Zukunspläne: den Verkauf des Schiffes, die Heimkehr; und dann kam er ins Sinnen und Kalkulieren und murmelte zwischen Wolken ausgespienen Rauches etwas von den Kosten. Die Notwendigkeit, das Überfahrtsgeld für seine ganze Sippe auf den Tisch zu legen, schien ihn in einer Weise zu beunruhigen, die um so mehr verblüe, als er sonst keine Spuren von Geiz auf wies. Und doch verweilte er bei dem Vorhaben dieser Heimreise im Postschiff, als sei er ein Gemüsehändler, der sich in den Kopf gesetzt hat, die Welt kennen zu lernen. Er war, nehme ich an, von seiner Nationalität her haushälterisch, und es mag ihm etwas völlig Neues gewesen sein, für Reisen zahlen zu müssen – für das Reisen auf See, das doch für die Familie das normale Lebenselement war – von der
Wiege an, was die Mehrzahl ihrer Mitglieder betraf. Ich erkannte, daß ihm jeder Shilling leid tat, den er so widersinnig ausgeben sollte. Komisch. Er geriet ins Lamentieren darüber, und dann wieder seufzte er verdrießlich und kam zu dem Schluß, daß ihm nun nichts anderes übrig bleibe, als drei Schiffskarten zweiter Klasse zu kaufen – und daneben noch für die vier Kinder zu zahlen. Ein Batzen Geld, der da aufzubringen sei. Ein hübscher Batzen. Ich blieb bei ihm sitzen und lauschte (nicht zum ersten Mal) diesen Grübeleien, bis ich sehr schläfrig wurde; und dann verließ ich ihn und ging an Bord meines Schiffes zu Bett. Bei Tagesanbruch wurde ich vom Gekreisch schriller Stimmen geweckt, begleitet von einem mächtigen Wassergestrudel und den kurzen, tyrannischen Stößen einer Dampfpfeife. Falk mit seinem Schlepper war erschienen, um mich zu holen. Ich kleidete mich an. Erstaunlich war, daß die antwortenden Stimmen an Bord meines Schiffes wie auch das Getrappel der Füße über meinem Kopf plötzlich verstummten. Aber ich hörte entferntere kehlige Rufe, die Überraschung und Ärger auszudrücken schienen. Dann drangen laute Proteste, die mein Steuermann einer entfernteren Person zurief, an mein Ohr. Andere, offensichtlich entrüstete Stimmen mischten sich hinein; ein Chor von Schmährufen, so klang es, antwortete. Dann und wann kreischte die Dampfpfeife dazwischen. Dieser unnötige Aufruhr war höchst verwirrend; doch ich nahm ihn unten in meiner Kabine gelassen hin. Im nächsten Augenblick, dachte ich, würde ich diesen elenden Fluß hinabfahren, und in spätestens einer weiteren Woche hätte ich diesen widerwärtigen Ort mit all seinen widerwärtigen Menschen vollends hinter mir. Überaus beflügelt von diesem Gedanken, griff ich zu den Haarbürsten, besah mich im Spiegel und begann mich zu bürsten. Plötzlich verstummte der Lärm draußen, und ich hörte
(die Bullaugen meiner Kammer waren aufgestoßen) – hörte eine tiefe, ruhige Stimme, die auf Englisch, aber mit deutlich fremdländischem Akzent energisch rief: »Voll voraus!« Es mag Gezeitenströme in den menschlichen Dingen geben, die, sobald Flut eintritt… und so weiter. Ich persönlich bin noch immer auf der Suche nach jener entscheidenden Wende. Ich fürchte jedoch, daß die meisten von uns dazu verurteilt sind, für alle Zeiten in einem stehenden Gewässer umherzuzappeln, dessen Ufer wahrlich nicht reizvoll sind. Aber ich weiß auch, daß es in den menschlichen Dingen – unerwarteter, ja unsinniger Weise – erhellende Augenblicke gibt, wenn ein sonst belangloser Laut, vielleicht nur eine völlig alltägliche Gebärde genügt, um uns die ganze Unvernun, die alberne Unvernun unserer Selbstgefälligkeit vor Augen zu führen. »Voll voraus!«, auch mit fremdländischem Akzent ausgesprochen, sind keine besonders eindrucksvollen Worte; aber sie ließen mich zu Stein erstarren, gerade als ich mir im Spiegel entgegenlächeln wollte. Und dann rannte ich, da ich meinen Ohren nicht mehr traute und bereits vor Wut kochte, zur Kabine hinaus und an Deck. Es stimmte unglaublicher Weise. Es stimmte vollkommen. Ich hatte nur noch Augen für die Diana. Sie war es, die geholt wurde. Sie war schon von ihrem Liegeplatz abgetaut und schoß quer über den Fluß. »Die Art und Weise, wie dieser Verrückte das Schiff herausgezerrt hat, ist unheimlich«, sagte die verschüchterte Stimme meines Steuermanns dicht neben mir. »He! Hallo! Falk! Hermann! Was soll der Schabernack?« rief ich wutentbrannt. Niemand hörte mich. Falk konnte mich selbstverständlich gar nicht hören. Sein Schlepper drehte in voller Fahrt von dem gegenüberliegenden Ufer ab. Die Schlepptrosse zwischen ihm und der Diana kam so steif, daß sie gespannt wie eine Harfensaite war und beängstigend vibrierte.
Das hochbordige schwarze Fahrzeug krängte unter diesem furchtbaren Zug sehr stark über. Ein lautes Krachen drang herüber, gefolgt von dem Geräusch brechenden und splitternden Holzes. »Da!« sagte die verängstigte Stimme an meiner Seite. »Er hat ihnen einen hölzernen Klotz fortgerissen.« Und dann jubelnd: »O! Sehen Sie bloß! Sehen Sie, Sir! Sehen Sie, wie diese Deutschen auf dem Vordeck zur Seite springen. Ich hoffe nur, der bricht einigen von ihnen das Schienbein, ehe er mit ihnen fertig ist.« Ich schrie meine nutzlosen Proteste hinüber. Die Strahlen der aufgehenden Sonne erwärmten über die Ebene hin meinen Rücken, aber ich war schon erhitzt genug vor Wut. Ich hätte nicht geglaubt, daß ein schlichter Schleppvorgang so unverhohlen an Entführung, an Vergewaltigung gemahnen könnte. Falk rannte einfach mit der Diana davon. Der weiße Schlepper dampe in die Flußmitte zurück. Die roten Schaufeln der Räder, die sich mit wahnwitziger Geschwindigkeit drehten, peitschten das Fahrwasser schäumend auf. Die Diana führte in der Mitte des Stromes einen Tanz auf, so graziös wie ein alter Schuppen, und flog hinter ihrem Entführer her. Durch Rauchfetzen, die über das Wasser trieben, konnte ich Falks breite, reglose Schultern sehen unter seinem weißen Hut, der so groß wie ein Wagenrad war, sein rotes Gesicht, seine gelben starrenden Augen, seinen mächtigen Bart. Anstatt nach vorn zu sehen, wandte er der Flußmündung geflissentlich den Rücken und starrte auf seine Schlepptrosse. Das hohe, schwere Schiff, das noch nie in seinem Leben derart mißhandelt worden war, mochte allen Verstand verloren haben; es schien aus dem Ruder zu laufen und einen Moment lang direkt auf uns zuzukommen, drohend und ungeschlacht wie ein durchgebrannter Bergriese. Es staute eine fließende, zischende, brodelnde Woge bis zu halber Höhe seines plumpen Vorstevens vor sich auf; meine Mannscha
stieß einen Schrei aus – und dann hielten wir den Atem an. Es ging um Haaresbreite. Aber Falk hatte das Schiff im Griff! Er hielt es fest in seinen Klauen. Ich bildete mir ein, ich könnte die Stahltrosse schwirren hören, als sie über das Vordeck der Diana schrammte, während die Leute dort in alle Richtungen vor ihr davonstoben. Es ging noch eben klar. Hermann, mit zerzaustem Haar, in einem verschmierten Flanellhemd und senffarbenen Hosen, war ans Ruder gestürzt, um einzugreifen. Ich sah sein schreckensbleiches rundes Gesicht; ich sah sogar die Zähne, die ein gespenstisch starres Lächeln freilegte; und in einem mächtigen, zwischen den beiden Schiffen aufspritzenden Wasserschwall fegte die Diana so dicht vorüber, daß ich Hermann wohl meine Haarbürste an den Kopf hätte werfen können, denn die hatte ich anscheinend die ganze Zeit in der Hand behalten. Währenddessen saß Frau Hermann seelenruhig auf dem Deckslicht mit einem wollenen Schal um die Schultern. Als Antwort auf mein entrüstetes Gefuchtel winkte die ausgezeichnete Frau nur mit dem Taschentuch und nickte mir freundlich zu. Die Jungen sprangen, halb bekleidet, mit ihren bunten Hosenträgern höchst ausgelassen auf der Poop umher; und Lena in einem kurzen rosa Unterrock mit spitzigen Ellenbogen und dünnen nackten Armen wiegte hingebungsvoll die Flickenpuppe. Die ganze Familie glitt an meinen Augen vorüber, als wäre sie von einer beispiellosen Gewalt über die Szene gezerrt worden. Als letzte erblickte ich Hermanns Nichte mit dem Baby auf dem Arm. Sie stand abseits. Sie war mächtig in ihrem anliegenden Kattunkleid, entfaltete in der augenfälligen Vollkommenheit ihrer Figur etwas derart Gebieterisches, daß die Sonne allein ihretwegen aufgegangen zu sein schien. Der Schwall des Lichtes verklärte die Üppigkeit ihrer Gestalt und die Lebenskra ihrer Jugend. Sie glitt vollkommen reglos, wie in Gedanken versunken, an mir vorüber; nur der Saum ihres Kleides bewegte sich im
Fahrtwind; die Sonnenstrahlen brachen sich an ihrem glatten, goldbraunen Haar; Nikolaus, der kahlköpfige Rüpel, schlug auf ihre Schultern ein. Ich sah, wie sich sein winziger, feister Arm hob und nach Handwerkerart auf sie niedersauste. Und dann kamen die vier Landhausfenster der Diana in Sicht und entfernten sich rasch den Fluß hinunter. Die Läden waren hochgestellt, und aus einem der Fenster flatterte waagrecht, gleich einem Wimpel, ein Nesselvorhang über dem aufgewühlten Kielwasser. Auf diese Weise übergangen zu werden, war ein unerhörtes Vorkommnis. Im Kontor meines Agenten, zu dem ich mich sogleich begab, um Beschwerde zu führen, beteuerte man mir unter vielen Entschuldigungen, man begreife nicht, wie es zu diesem Irrtum habe kommen können; aber Schomberg, bei dem ich später einkehrte, um einen Imbiß zu nehmen, hatte, obschon überrascht, mich wiederzusehen, eine Erklärung bei der Hand. Ich fand ihn am Ende einer langen schmalen Tafel sitzend, seiner Frau gegenüber – einer dürren kleinen Person mit langen Ringellocken und einem schwarzen Zahn, die töricht übers ganze Gesicht lächelte und erschrocken dreinsah, wenn man sie anredete. Zwischen ihnen wedelten ein PunkahFächer zwanzig leeren Korbstühlen und zwei Reihen blitzender Teller Kühlung zu. Drei Chinesen in weißen Jacketts lungerten mit Servietten in der Hand um diese einsame Stätte. Schombergs table-d’hôte, diese seine Lieblingsidee, war damals kein Erfolg. Er schlang wütend das Essen in sich hinein und schien von Bitterkeit überzufließen. Mit lauter Stimme befahl er, den Braten noch einmal für mich aufzutragen, dann wandte er sich auf seinem Stuhl herum: »Irrtum, sagte man Ihnen? Nicht im mindesten. Glauben Sie bloß das nicht, Kapitän! Falk ist nicht der Mann, der einen Irrtum begeht, es sei denn mit Absicht.« Er war der festen Überzeugung, Falk habe nur versucht, sich auf billige Weise in
Hermanns Gunst einzuschleichen. »Auf billige Weise – wohlgemerkt! Es kostet ihn keinen Cent, Ihnen so übel mitzuspielen, und Kapitän Hermann hat Ihrem Schiff einen Tag voraus. Zeit ist Geld! Nicht wahr? Sie stehen, glaube ich, mit Kapitän Hermann auf sehr freundschalichem Fuß, aber man muß froh über jeden kleinen Vorteil sein, den man ergattern kann. Kapitän Hermann ist ein guter Geschäsmann, und beim Geschä hört die Freundscha auf. Oder nicht?« Er lehnte sich vor und begann, mir wie üblich verstohlene Blicke zuzuwerfen. »Aber Falk ist und bleibt ein armseliger Wicht. Ich würde ihn verachten.« Ich murmelte verdrießlich, daß ich keine besonders hohe Meinung von Falk hätte. »Ich würde ihn verachten«, beharrte er mit ängstlicher Dringlichkeit, die mich belustigt hätte, wäre ich nicht klaertief in meinem Mißmut versunken gewesen. Einem jungen Mann, der einigermaßen gewissenha und strebsam ist, wie eben nur die Jungen sind, erscheinen die üblichen Mißhandlungen, die das Leben austeilt, als besonders grausam. Jugend, die unverdorben genug ist, um an Verfehlung, an Unschuld, an sich selbst zu glauben, wird sich immer zweifelnd fragen, ob sie nicht ihr Los verdient habe. Mit verdüstertem Sinn und ohne Appetit kämpe ich mit dem Stück Fleisch auf meinem Teller, während Mrs. Schomberg unentwegt lächelnd dasaß und Schombergs Redestrom mehr und mehr in Gang kam, wie ein Haufen Unrat, der eine Müllhalde hinabrutscht. »Lassen Sie sich gesagt sein: Das alles geschieht jenes Mädchens wegen. Ich weiß nicht, was Kapitän Hermann erwartet, aber wenn er mich fragt, ich kann ihm einiges erzählen über Falk. Er ist ein armseliger Wicht. Er ist ein Arbeitstier. Nichts sonst. Ja, ein Arbeitstier. Letztes Jahr führte ich meine tabled’hôte ein, verschickte Karten – Sie wissen schon. Meinen Sie, daß er einmal hier gegessen hatte? Nicht ein einziges Mal. Er
hat sich jetzt einen Koch aus Madras genommen – einen elenden Betrüger, den ich mit dem Stock aus meiner Küche gejagt habe. Er war einfach nicht würdig, für Weiße zu kochen. Nein, nicht einmal für die Hunde von Weißen; aber sehen Sie, jeder verdammte Eingeborene, der einen Topf Reis zu kochen versteht, ist recht für Mr. Falk. Reis und ein bißchen Fisch, den er sich für ein paar Cent draußen von den Fischerbooten kau, – davon lebt er. Sie werden es kaum glauben, nicht wahr? Und das ein Weißer …« Er wischte sich die Lippen, benutzte voll Empörung die Serviette und sah mich an. In meiner Niedergeschlagenheit durchfuhr mich der Gedanke, wenn alles Fleisch in der Stadt so war wie dieser table-d’hôte-Braten, könne man Falk deshalb wirklich keinen Vorwurf machen. Ich war im Begriff, diesen Gedanken auszusprechen; aber Schombergs Blick schüchterte mich ein. »Er ist vielleicht Vegetarier«, murmelte ich stattdessen. »Er ist ein Geizhals. Ein armseliger Geizhals«, versicherte mir der Hotelbesitzer mit Nachdruck. »Das Fleisch ist hier nicht so gut wie zu Hause – das stimmt. Und noch dazu teuer. Aber schauen Sie: Ich verlange nur einen Dollar für das Mittagessen und einen Dollar und fünfzig Cent für das Abendessen. Gibt es etwas Billigeres? Warum tue ich das? Der Profit dabei ist gering genug. Falk will nichts davon wissen. Ich tue es einigen jungen weißen Leuten zuliebe, die sonst nicht wüßten, wo sie hier eine ordentliche Mahlzeit in anständiger Gesellscha serviert bekämen. An meinem Tisch ist immer erstklassige Gesellscha.« Die Überzeugung, mit der er über die leeren Stühle hinblickte, gab mir das Gefühl, ich sei ungebeten in eine Tischrunde von Geistererscheinungen geraten. »Ein Weißer sollte wie ein Weißer essen, zum Kuckuck«, stieß er ungestüm hervor. »Sollte Fleisch essen, muß Fleisch essen.
Mir gelingt es, meinen Gästen das ganze Jahr Fleisch vorzusetzen. Oder nicht? Ich bestelle meine Tafel doch nicht für eine elende Schar von Kulis! Nehmen Sie noch ein Stück Fleisch, Kapitän… Nein? Boy! – Räum’ ab!« Er lehnte sich zurück und wartete grimmig auf den Reis. Die halb herabgelassenen Jalousien verdunkelten den nach frischer Tünche riechenden Raum; ein Schwarm von Fliegen summte umher oder ließ sich auf dem Tisch nieder; und Mrs. Schombergs Lächeln schien die Quintessenz all des Schwachsinns auszudrücken, der je hier gesprochen worden, je hier geatmet, der je zwischen diesen nackten Wänden mit widerlichem Büffelfleisch gefüttert worden ist. Schomberg öffnete erst wieder den Mund, als er einen Löffel mit fettigem Reis hineinschieben konnte. Er verdrehte auf lächerliche Weise die Augen, bevor er das heiße Zeug hinunterschluckte, und dann hub er von neuem zu schimpfen an. »Es ist erniedrigend. Sie bringen ihm seinen Teller ins Ruderhaus, mit einem Deckel darauf, und dann verschließt er beide Türen, ehe er zu essen beginnt. Tatsache! Schämt sich wohl. Fragen Sie den Maschinisten. Er kommt nicht ohne einen Maschinisten aus – wissen Sie –, und da nicht zu erwarten ist, daß sich ein anständiger Mensch mit solchem Fraß zufrieden gibt, zahlt er ihm fünfzehn Dollar zusätzlich als Mess-Geld. Ich versichere Ihnen, es ist so! Fragen Sie nur Mr. Ferdinand da Costa. Das ist sein derzeitiger Maschinist. Sie sind ihm vielleicht in diesem Haus begegnet, einem zierlichen, dunklen jungen Mann mit sehr edlen Augen und einem kleinen Schnurrbart. Er kam vor einem Jahr aus Kalkutta hierher. Unter uns – ich vermute, daß ihm die Gläubiger im Nacken saßen. So o sich die Gelegenheit bietet, eilt er zu mir, um ein anständiges Mahl zu bekommen, denn, bitte, kann es einen wohlerzogenen jungen Mann befriedigen, wenn er seine Nahrung allein in seiner Kabine zu sich nehmen muß – wie ein
wildes Tier? Denn das erwartet Falk von seinen Maschinisten, für die fünfzehn Dollar extra. Und das Gezeter, das an Bord entsteht jedes Mal, wenn ein leiser Küchengeruch an Deck dringt! Sie würden es nicht glauben! Neulich brachte da Costa den Koch dazu, ihm ein Steak zu braten – ein SchildkrötenSteak, nicht etwa eines vom Rind – mit dem Bratenfett dazu, oder so etwas. Der junge da Costa hat es mir selbst erzählt, hier in diesem Raum. ›Mr. Schomberg‹ – sagt er –, ›wäre mir durch Fahrlässigkeit ein Zylinderdeckel in die Lu geflogen, Kapitän Falk hätte sich nicht wütender gebärden können. Er jagte dem Koch einen derartigen Schrecken ein, daß der sich von nun an weigert, jemals wieder etwas für mich aufs Feuer zu stellen.‹ Dem armen Costa standen die Tränen in den Augen. Versetzen Sie sich in seine Lage, Kapitän: ein feinsinniger, gebildeter junger Mensch. Soll er seine Nahrung roh zu sich nehmen? Aber da haben Sie Falk, wie er ist. Fragen Sie, wen Sie wollen. Ich nehme an, die fünfzehn Dollar, die er zusätzlich zahlen muß, machen ihm schwer zu schaffen – hier drinnen.« Schomberg schlug sich gegen die männliche Brust. Ich saß da wie betäubt von diesem belanglosen Gequassel. Plötzlich ergriff er auf eindrucksvolle und behutsame Art, so als geleite er mich in die tiefsten Abrunde seines Vertrauens, am Arm. »Es ist nur Neid«, sagte er mit verhaltener Stimme, die belebend auf mein ermüdetes Gehör wirkte. »Ich glaube, es gibt niemanden in dieser Stadt, auf den er nicht neidisch wäre. Ich sage Ihnen, er ist gefährlich. Sogar ich bin nicht sicher vor ihm. Ich weiß mit Bestimmtheit, daß er mich zu vergien trachtete …« »Aber, nun machen Sie einen Punkt«, rief ich angewidert. »Ich weiß es mit Bestimmtheit. Die Leute selbst haben es mir
gesagt. Er erzählte überall, ich sei eine schlimmere Plage für diese Stadt als die Cholera. Er hat mir Übles nachgesagt, seitdem ich dieses Hotel eröffnete. Und er hat auch Kapitän Hermanns Sinn vergiet. Das letzte Mal, als die Diana hier Ladung faßte, pflegte Kapitän Hermann täglich auf ein Glas oder eine Zigarre hereinzuschauen. Jetzt ist er kaum zweimal in der Woche dagewesen. Worauf führen Sie das zurück?« Er drückte meinen Arm so lange, bis er mir ein Gemurmel entlockt hatte. »Falk verdient zehnmal soviel wie ich. Ich habe hier Konkurrenz, aber ein anderes Schleppboot gibt es auf dem Fluß nicht. Ich bin ihm nicht im Wege, oder? Er wäre gar nicht fähig, ein Hotel zu leiten, auch wenn er wollte. Aber das ist es gerade. Er kann den Gedanken nicht ertragen, daß ich ausreichend zu leben habe. Ich hoffe nur, er ärgert sich noch grün und blau. In allem ist er so. Er würde sich schon gerne an einen gepflegten Tisch setzen. Aber nein – der paar Cent wegen läßt er es bleiben. Es ist zuviel für ihn. Das nenne ich ein Arbeitstier. Andererseits ist er niederträchtig genug, Streit anzufangen, wenn ihm irgend etwas gegen den Strich geht. Sie verstehen? Es paßt alles zusammen. Geizig und neidisch. Sonst gibt es keine Erklärung, oder? Ich habe ihn drei Jahre lang studiert.« Er war eifrig darauf bedacht, daß ich seiner eorie zustimmte. Und wahrlich, wenn ich sie bedachte, sie hätte schlüssig genug scheinen können, wäre nicht Schombergs Gerede immer so gründlich falsch und gewissenlos gewesen. Gleichviel, ich war nicht geneigt, Falks Seelenlage zu erforschen. Ich war gerade dabei, mutlos ein Stück faden Holländer-Käses hinabzuwürgen, und viel zu bedrückt, um Notiz von dem zu nehmen, was ich aß, ganz zu schweigen davon, mir Gedanken über Falks Vorstellungen von Gastronomie zu
machen. Ich konnte aus ihnen keinen Aufschluß über sein Geschäsgebaren gewinnen, das jeder Zügelung durch Moralbegriffe oder auch nur durch primitivste Anstandsregeln zu entbehren schien. Wie unbedeutend, wie verächtlich mußte ich in seinen Augen dastehen, daß der Bursche es wagte, mich derart zu behandeln, dachte ich plötzlich und wand mich in stiller Seelenqual. Und ich wünschte Falk samt all seiner Absonderlichkeiten mit solcher Inbrunst zum Teufel, daß ich Schombergs Anwesenheit ganz vergaß, bis er mich dringlich am Arm packte. »Sie mögen noch so viel darüber grübeln, Kapitän, grübeln, bis Ihnen die Haare vom Kopfe fallen; aber Sie werden keine andere Erklärung finden.« Um des lieben Friedens willen und um meine Ruhe zu haben, beeilte ich mich zuzugeben, daß ich keine fände, in der Hoffnung, er werde nun von Falk ablassen. Aber der Erfolg war, daß sein feuchtes Gesicht aufleuchtete vor Stolz auf seine Schlauheit. Er zog für einen Moment seine Hand fort, um einen Schwärm schwarzer Fliegen von der Zuckerschale fortzuscheuchen, und ergriff dann wieder meinen Arm. »Sehen Sie. Und so weiß inzwischen auch jedermann, daß er sich verheiraten möchte. Nur bringt er es nicht über sich. Ich will Ihnen ein Beispiel erzählen. Vor zwei Jahren kam eine Miss Vanlo aus der Heimat her, um ihrem Bruder Fred das Haus zu führen. Er betrieb hier am Hafen eine IngenieursWerkstatt für kleinere Reparaturen. Plötzlich nimmt Falk die Gewohnheit an, allabendlich nach dem Essen zu ihrem Bungalow hinauszugehen und stundenlang bei ihnen auf der Veranda zu sitzen, ohne ein Wort zu sagen. Die arme Frau weiß um die Welt nicht, was sie mit solch einem Mann anfangen soll; darum setzt sie sich ans Klavier und spielt und singt ihm Abend für Abend etwas vor, bis sie schier umfällt. Und sie war gar keine starke junge Frau. Sie war dreißig, und das Klima machte ihr zu schaffen. Dann mußte begreiflicherweise Fred
bei ihnen sitzen, des Anstandes wegen, und kam auf diese Weise wochenlang nicht vor Mitternacht ins Bett. Das war nicht angenehm für einen müden Mann, nicht wahr? Abgesehen davon hatte Fred gerade damals große Sorgen, weil seine Werkstatt nicht genügend einbrachte und er mehr und mehr Geld mit ihr verlor. Er sehnte sich danach, von hier fortzukommen und sein Glück anderswo zu versuchen; aber seiner Schwester wegen blieb er. Bis über die Ohren war er schließlich verschuldet – das kann ich Ihnen sagen. Ich hatte selbst eine Handvoll seiner Bons für Mahlzeiten und Getränke in meiner Schublade. Ich habe nie richtig begriffen, woher er schließlich all das Geld nahm. Kann eigentlich nur sein, daß er etwas von seinem Bruder bekam, einem Kohlenhändler in Port Said. Jedenfalls zahlte er überall seine Schulden, bevor er ging, aber der Schwester brach beinahe das Herz. Enttäuschung, natürlich, und in ihrem Alter, verstehen Sie… Mrs. Schomberg hier nahm sich ihrer rührend an, und sie könnte Ihnen allerlei erzählen. Schreckliche Verzweiflung. Ohnmachtsanfälle. Es war ein Skandal. Ein stadtbekannter Skandal. Die Entrüstung ging soweit, daß der alte Mr. Siegers – nicht Ihr gegenwärtiger Charterer, sondern Mr. Siegers, der Vater, der alte Herr, der sich mit einem Vermögen aus dem Geschä zurückzog und dann auf See bestattet wurde, als er nach Hause fuhr – daß er eine Unterredung mit Falk in seinem Privatkontor hatte. Er war ein Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm, und im übrigen hatte die Firma Siegers Falk am Anfang mit einer hübschen Summe Geldes beigestanden. Ja, man kann sagen, Siegers machte ihn zu dem, was er jetzt ist. Das ergab sich so: Gerade damals, als Falk hier auauchte, charterte die Firma alljährlich sehr viele Segelschiffe, und ihr war daran gelegen, daß auf dem Fluß ein geregelter Schleppdienst eingeführt wurde. Verstehen Sie? … Gut – aber da ist immer ein Ohr, das am Schlüsselloch mithört – nicht wahr? In
diesem Fall«, er senkte vertraulich die Stimme, »war es ein guter Freund von mir; Sie können ihm hier jeden Abend begegnen; nur wurde die Unterhaltung sehr leise geführt. Jedenfalls versichert mein Freund, Falk habe versucht, allerlei Ausflüchte zu machen, und der alte Mr. Siegers habe viel gehustet. Und dabei wollte Falk doch wirklich heiraten. Ja! Es ist stadtbekannt, daß er sich seit Jahren danach sehnt, ein eigenes Heim zu haben. Nur scheut er die Kosten. Wenn es dahin kommt, das Portemonnaie zu öffnen – macht er einen Rückzieher. Das ist die Wahrheit, und sonst nichts. Ich habe es immer gesagt, und jedermann pflichtet mir inzwischen bei. Was meinen Sie – wie?« Er appellierte vertraulich an mich und meine Entrüstung; aber ich legte es darauf an, ihn zu ärgern, und bemerkte: »Das erscheint mir sehr erbarmungswürdig – wenn es stimmt.« Er sprang von seinem Stuhl in die Höhe, als hätte ich ihn mit einer Nadel gestochen. Ich weiß nicht, was er zu sagen im Begriff war, denn in diesem Augenblick hörten wir durch die halb geöffnete Tür des Billardzimmers die Schritte zweier Männer, die von der Veranda her eingetreten waren, das Murmeln zweier Stimmen; bei dem scharfen Pochen einer Münze auf die Tischplatte erhob sich Mrs. Schomberg zögernd. »Bleib sitzen«, herrschte er sie an, und dann rief er mit gastfreundlicher, aufgeräumter Stimme, die höchst wundersam mit dem zornigen Blick kontrastierte, unter dem seine Frau wieder auf ihren Stuhl zurückgesunken war, sehr laut hinüber: »Mittagessen wird noch serviert hier drinnen, meine Herren.« Es kam keine Antwort, aber das Gemurmel verstummte unverzüglich. Der chinesische Oberkellner ging hinaus. Wir horten, wie Eisstücke in Gläser fielen, wie eingeschenkt wurde, wie Füße scharrten und Stuhlbeine. Schomberg, der
sich leise murmelnd überlegt hatte, wer zum Teufel um diese Tageszeit dort eingekehrt sein mochte, stand schließlich auf und spähte, das Mundtuch in der Hand, behutsam durch die Tür. Er kehrte sogleich auf Zehenspitzen zurück und meldete flüsternd hinter vorgehaltener Hand, es sei Falk, Falk persönlich, der dort sitze, und was noch erstaunlicher sei, er habe Kapitän Hermann bei sich. Die Rückkehr des Schleppers von der Reede war unerwartet, aber möglich, denn Falk hatte die Diana um halb sechs Uhr früh geholt, und jetzt war es zwei Uhr. Schomberg wies mich besonders auf den Umstand hin, daß keiner dieser beiden Männer einen Dollar für ein Mittagsmahl auszugeben gedachte, obwohl sie hungrig sein müßten. Aber als ich dann fertig war und den Speiseraum verlassen wollte, war Falk bereits gegangen. Ich hörte als Letztes noch den Tritt seiner schweren Schuhe auf den Dielen der Veranda. Hermann saß ganz allein in dem großen, hölzernen Raum mit den beiden leblosen, von gestreien Tüchern verhüllten Billardtischen und wischte sich bedächtig das Gesicht. Er trug seinen besten Ausgehanzug – steifer Kragen, schwarzes Jackett, große weiße Weste, graue Hosen. Ein weißer Kattun-Sonnenschirm mit Bambusgriff lehnte zwischen seinen Knien, sein Backenbart war sorgsam gebürstet, sein Kinn frisch rasiert; und er ähnelte nur entfernt dem zerzausten und erschrockenen Mann in braunem Nachthemd und unwürdigen alten Hosen, den ich morgens am Ruder der Diana gesehen hatte. Bei meinem Eintritt zuckte er zusammen und redete mich sogleich mit einiger Verwirrtheit, doch in aufrichtigem Mitteilungsbedürfnis an. Ihm lag daran, klarzustellen, daß er, wie er sich in seinem krausen Englisch ausdrückte, nichts mit »der verdammten Angelegenheit« von heute morgen zu tun hatte. Sie bringe ihn in größte Verlegenheit. Er habe noch einen weiteren Tag in der Stadt vorgesehen, um seine Rechnungen
zu begleichen und gewissen Papierkram zu erledigen. Es sollten auch noch einige Frachtgüter kommen, und Verschiedenes von »meinem Eisengeschirr«, wie er sich absonderlicherweise ausdrückte, sei noch zur Reparatur an Land und fehle. Nun werde er ein Eingeborenenboot mieten müssen, um das alles hinaus an Bord zu schaffen. Das würde ihn vielleicht fünf oder sechs Dollar kosten. Er habe keinerlei Vorankündigung von Falk erhalten. Nichts … Er schlug mit seiner plumpen Faust auf die Tischplatte … Der verfluchte Kerl sei im Morgengrauen gekommen wie ein ruchloser Räuber, habe einen großen Radau vollführt und ihn abgeschleppt. Sein Steuermann sei gar nicht vorbereitet gewesen, das Schiff noch festgetaut – er sagte, es sei eine Schande, so überrascht zu werden. Eine Schande! Doch so groß war die Macht, die Falk auf dem Fluß ausübte, daß Hermann, als ich in kühlem Ton andeutete, er hätte ja bloß die Annahme der Schlepptrosse zu diesem Zeitpunkt zu verweigern brauchen, von dem Gedanken allein schon verblü wurde. Mir war zuvor nie so deutlich zu Bewußtsein gekommen, daß wir in einem Zeitalter des Dampfes lebten. Der ausschließliche Besitz eines Schiffsdampessels hatte Falk die Peitsche über uns alle in die Hand gegeben. Hermann, der sich langsam wieder erholte, hielt mir entgegen, wie gefährlich es sei, solch einem Burschen zu widersprechen. Darauin lächelte ich nur distanziert. »Der Kerl!« rief er. Er bereue, daß er sich nicht geweigert hatte. Wirklich. Der Schaden, den er angerichtet! Der Schaden! Wie sah es mit dem aus! Es hätte doch gar keinen Schaden geben dürfen. Ob ich wisse, welchen Schaden er ihm zugefügt hatte? Ich zog einige Befriedigung daraus, ihm sagen zu können, ich hätte wohl gehört, wie die alte Kutsche von einem Schiff vorn und hinten gekracht habe, als sie vorübergefahren sei. »Sie fuhren ja dicht genug an mir vorbei«, fügte ich bedeutsam hinzu.
Er schlug beide Hände über dem Kopf zusammen bei dieser Erinnerung. Mit einer hielt er den weißen Sonnenschirm in der Mitte umfaßt, und er erinnerte seltsam an die Karikatur eines Ladenbesitzers in einem dieser deutschen Witzblätter. »Ach! Das war gefährlich«, rief er. Ich war belustigt. Doch sogleich fügte er einfältig hinzu: »Die Bordwand Ihres eisernen Schiffes wäre eingedrückt worden wie – wie eine Zündholzschachtel.« »Meinen Sie?« brummte ich und war nun viel weniger belustigt. Doch als ich schließlich begriff, daß diese Bemerkung nicht als eine Stichelei gegen mich gedacht war, hatte er sich bereits in einen wütenden Groll gegen Falk hineingesteigert. Seine Verlegenheit, der Schaden, die Kosten! Gottverdammt! Der Teufel möge den Burschen holen. Hinter der Bar gab sich Schomberg, eine Zigarre zwischen den Zähnen, den Anschein, als mache er mit einem Bleisti Eintragungen auf einem großen Kontoblatt; und während sich Hermanns Erregung steigerte, wurde ich mir behaglich meiner eigenen Ruhe und Überlegenheit bewußt. Doch mußte ich beim Anhören seiner Schimpfreden denken, daß der gute Mann immerhin in Falks Schlepper zurückgekehrt sei. Er hatte allerdings – da er in die Stadt kommen mußte – keine andere Wahl gehabt. Aber offensichtlich hatte er mit Falk ein Glas getrunken, entweder angenommen oder angeboten. Wie stand es damit? Deshalb unterbrach ich ihn mit der kühlen Bemerkung, ich hoe nur, er werde Falk für jeden Penny des ihm zugefügten Schadens habar machen. »Jawohl! Jawohl! Geben Sie es ihm zurück«, rief Schomberg von der Bar her, warf seinen Bleisti fort und rieb sich die Hände. Wir ignorierten seinen Lärm. Aber Hermanns Aufregung hörte plötzlich auf zu brodeln, so wie wenn man einen kochenden Saucentopf vom Feuer nimmt. Ich erinnerte ihn daran,
daß er von nun an nicht mehr auf Falk und Falks elenden Schlepper angewiesen sei. Er, Hermann, werde vielleicht auf Jahre hin nicht mehr in diesen Teil der Welt zurückkehren, da er doch die Diana nach dieser Fahrt zu verkaufen gedenke (»um als Passagier auf einem Postschiff heimzufahren«, murmelte er mechanisch). Er sei deshalb vor Falks Bosheit sicher. Er brauche nur schnell zu seinen Kommissionären zu laufen und die Zahlung der Vertauungsrechnung verweigern zu lassen, ehe es Falk möglich wäre, selbst dort vorbeizukommen und das Geld einzukassieren. Nichts hätte weniger im Sinn meines Rates sein können als die nachdenkliche Art, mit der er versuchte, seinen Sonnenschirm so an den Tisch zu lehnen, daß er stehen blieb. Während ich seiner auf dieses Ziel konzentrierten Anstrengung zusah, warf er mir ein, zwei ratlose, halbscheue Blicke zu. Dann setzte er sich hin. »Das ist alles schön und gut«, sagte er nachdenklich. Es stand außer Frage, der Mann war durch das gegen seinen Willen erfolgte Hinaustauen aus dem Hafen um sein Gleichgewicht gebracht worden. Seine Unempfindlichkeit mußte erheblich aufgewühlt worden sein, sonst wäre er nie darauf verfallen, mich unvermutet zu fragen, ob ich bemerkt hätte, daß Falk ein Auge auf seine Nichte geworfen habe. »Genauso wie ich selbst«, antwortete ich, der Wahrheit gemäß. Die Nichte war von der Art, daß man in gewisser Weise ein Auge auf sie werfen mußte. Sie gab zwar keinen Laut von sich, aber sie füllte auf höchst anmutige Weise ein hübsches Stück Raum aus. »Aber Sie, Kapitän, sind nicht vom selben Menschenschlag wie er«, bemerkte Hermann. Ich sah mich glücklicherweise nicht genötigt, dies zu bestreiten. »Was sagt denn die Dame selbst dazu?« konnte ich nicht umhin zu fragen. Hier blickte er mir lange Zeit ernst ins
Gesicht und schien das ema wechseln zu wollen. Unerwartet begann er, etwas von seinen Kindern zu murmeln, daß sie bald alt genug seien, um auf die Schule zu gehen. Er werde sie an Land bei ihrer Großmutter zurücklassen müssen, wenn er die neue Kapitänstelle antrete, die er in Deutschland zu erhalten hoe. Dieses beständige Herumreiten auf seinen häuslichen Verhältnissen war schon sonderbar. Ich nehme an, ihn beschäftigte die Aussicht auf den vollkommenen Wandel in seinen Lebensverhältnissen. Eine Epoche. Und überdies war er im Begriff, sich von der Diana zu trennen! Er hatte jahrelang auf ihr gedient. Er hatte sie geerbt. Von einem Onkel, wenn ich mich recht erinnerte. Und die Zukun ragte groß vor ihm auf, füllte seine Gedanken vollkommen aus mit all ihren Aspekten, als stehe er am Vorabend einer abenteuerlichen Unternehmung. Er saß da, runzelte die Stirn und biß sich auf die Lippen, und plötzlich begann er vor Wut zu schäumen. Belustigt entdeckte ich, daß er der Meinung war, ich könnte, sollte oder müßte Falk auf irgendeine Weise bewegen, sich zu erklären. Solch eine Hoffnung war unbegreiflich, aber komisch. Dann jedoch verdroß mich die Berührung mit diesem ganzen Irrsinn. Ich sagte schroff, ich hätte keinerlei Anzeichen bemerkt, aber wenn es welche gäbe – wie er, Hermann, meine –, dann sei das um so schlimmer. Welches Vergnügen Falk daran finde, Menschen auf diese besondere Weise an der Nase herumzuführen, könne ich nicht sagen. Es sei indessen meine heilige Pflicht, ihn zu warnen. Mir sei, sagte ich, kürzlich zu Ohren gekommen, daß es (und nicht einmal vor allzu langer Zeit) einem anderen Manne ähnlich wie ihm ergangen sei. Die ganze Unterhaltung war bisher flüsternd geführt worden, und an diesem Punkt verließ Schomberg, wütend über unsere Heimlichkeit, das Lokal und schlug hinter sich mit solchem Krachen die Tür zu, daß wir buchstäblich von den Stühlen
gerissen wurden. Das, oder auch was ich gesagt hatte, ärgerte Hermann. Er sprach die Vermutung aus, mit einer verächtlichen Kopewegung zur noch zitternden Tür hin, ich hätte wohl eine der albernen Geschichten dieses Mannes aufgeschnappt. Es hatte wirklich den Anschein, als habe ihn jemand gründlich gegen Schomberg aufgebracht. »Seine Geschichten sind – sie sind«, er suchte nach einem passenden Wort – »Quatsch«. Sie seien Quatsch, wiederholte er, und überdies sei ich noch sehr jung … Diese haarsträubende Verleumdung (schade, daß ich solchen Beleidigungen nicht mehr ausgesetzt bin) brachte mich meinerseits in Harnisch. Ich fühlte mich bereit, jedweder Behauptung Schombergs zu welchem ema immer zu sekundieren. Im Nu, der Teufel weiß warum, blickten Hermann und ich einander überaus feindselig in die Augen. Er nahm ohne weitere Umstände seinen Hut, um zu gehen, und ich machte mir ein Vergnügen daraus, ihm nachzurufen: »Hören Sie auf meinen Rat und lassen Sie Falk für den Schaden zahlen, den er auf Ihrem Schiff angerichtet hat. Sie werden sonst vermutlich doch nichts aus ihm herausholen.« Als ich an Bord meines Schiffes kam, bemerkte mein alter Steuermann, noch ganz erfüllt von den Ereignissen des Morgens: »Ich sah den Schlepper von der Reede zurückkommen kurz vor zwei P. M.« (Er verwandte nie die Worte morgens oder nachmittags. Immer P. M. oder A. M. Logbuch-Terminologie.) »Hübsche Leistung. Der Mann ist wohl immer in Eile. So ein richtiger Rausschmeißer. Ich kenne ein paar Kneipen im Londoner Ostend. Wenn die so einen an der Bar hätten, die könnten froh sein.« Er kicherte über seinen Witz. »Ein richtiger Rausschmeißer. Heute hat er den Deutschen Hals über Kopf hinausgefeuert; ich nehme an, morgen früh sind wir an der Reihe.«
Bei Tagesanbruch waren wir alle an Deck (sogar die Kranken – die armen Teufel – waren heraufgekommen), bereit, im Nu abzutauen. Nichts kam. Falk kam nicht. Schließlich, als ich schon dachte, irgend etwas sei in seinem Maschinenraum zu Bruch gegangen, erblickten wir den Schlepper in Windeseile an uns vorüber den Fluß hinabdampfen, als hätten wir gar nicht existiert. Einen Augenblick gab ich mich der kühnen Hoffnung hin, er werde nach der nächsten Flußbiegung kehrtmachen. Später sah ich dann seinen Rauch über der Ebene einmal hier, einmal dort aufsteigen, je nach den Windungen des Flusses. Er verschwand. Dann, ohne ein Wort zu sagen, ging ich hinunter, um zu frühstücken. Ich ging einfach hinunter, um zu frühstücken. Keiner von uns sagte ein Wort, bis der Steuermann, nachdem er – mittels Schlürfens aus dem Unterteller – seine zweite Tasse Tee zu sich genommen hatte, ausrief: »Was, zum Kukkuck, hat der Mann vor?« »Einem Mädchen den Hof zu machen!« brüllte ich mit so teuflischem Lachen, daß der alte Bursche nicht mehr wagte, seinen Mund aufzutun. Ich begab mich vollkommen ruhig ins Kontor. Ruhig vor unbändiger Wut. Dort wußten sie offensichtlich schon alles; und sie behandelten mich mit gespielter Entrüstung. Der Direktor, ein leisetreterischer, feister, kurzatmiger Mann, stand auf, um mich zu begrüßen, während mir rundherum im Raum die jungen Schreiber, über ihre Tische gebeugt, sonderbare Blicke zuwarfen. Der fette Mann eröffnete mir, ohne meine Beschwerde abzuwarten, keuchend und in einem Ton, als könne er es selbst nicht fassen, die Neuigkeit, daß Falk – Kapitän Falk – es abgelehnt habe – absolut abgelehnt –, mein Schiff hinauszutauen – überhaupt etwas mit meinem Schiff zu tun zu haben – heute oder wann auch immer. Nie! Ich gab mir alle Mühe, eine ungerührte Miene zu bewahren,
aber gleichwohl muß ich gezeigt haben, wie erschüttert ich war. Wir redeten mitten im Zimmer stehend. Plötzlich schneuzte hinter meinem Rücken irgendein Esel mit großer Lautstärke die Nase, und gleichzeitig stand ein anderer Federfuchser auf und trat hastig auf den Korridor hinaus. Ich verlangte zornig, den Prinzipal in seinem Privatzimmer zu sprechen. Mr. Siegers’ Kopaut trat totenähnlich weiß zwischen den eisgrauen Strähnen seiner Haare zum Vorschein, die, wie ein Verband von einem Ohr zum anderen gelegt, gleichmäßig über den Schädel verteilt waren. Sein schmales, eingesunkenes Gesicht hatte stets dieselbe matte Terrakottafarbe, wie eine Tonscherbe. Er war kränklich, dünn und von kleiner Statur, mit Handgelenken wie die eines zehnjährigen Knaben. Aber aus diesem hinfälligen Körper drang eine herrische Stimme, unerhört laut, hart und hallend, als werde sie von einer mechanischen Vorrichtung nach Art eines Nebelhorns erzeugt. Ich weiß nicht, was er im Privatleben zu Hause mit dieser Stimme anstellte, aber in der weiteren Sphäre des Geschäes brachte sie ihm den Vorteil, Argumente ohne die geringste Verstandesarbeit durch bloßes Tonvolumen zu widerlegen. Wir lieferten einander ein gehöriges Wortgefecht. Es erforderte all meinen Scharfsinn, die Interessen meiner Eigner – die ich, nota bene, nie zu Gesicht bekommen hatte – zu vertreten, während Siegers (der ihre Bekanntscha vor einigen Jahren auf einer Geschäsreise nach Australien gemacht hatte) vorgab, mit ihren geheimsten Absichten vertraut zu sein, und sie mir unter der Bezeichnung »unsere sehr werten Freunde«, beständig an den Kopf warf. Er sah mich mit mißgünstigem Auge an (zwischen ihm und mir bestand kein Band der Liebe) und erklärte alsbald, die Sache sei sonderbar, sehr sonderbar. Seine Aussprache des Englischen war so eigenwillig, daß ich nicht einmal den Ver
such unternehme, sie wiederzugeben. In Verbindung mit der bellenden Intonation ließ sie mir die eigene Muttersprache verblüffend gespenstisch erscheinen; und auch wenn ich diese Sprache als eine Art bedeutungsloses Geräusch betrachtete, erfüllte sie mich anfangs mit Staunen. »Sie ständen«, fuhr er fort, »seit sehr vielen Jahren mit Kapitän Falk in Beziehung und hätten nie Grund gehabt…« »Deshalb komme ich zu Ihnen«, unterbrach ich ihn. »Ich habe ein Recht zu wissen, was der Grund all dieses Unsinns ist.« In dem durch die Baumkronen vor dem Fenster hereinsickernden grünlichen Halblicht sah ich, wie seine mageren Schultern zuckten. Mir kam in den Sinn – und solch zusammenhanglose Gedanken stellen sich ein, wann sie wollen –, daß dieses höchstwahrscheinlich das Zimmer war, in welchem, wenn die Geschichte stimmte, Mr. Siegers, der Vater, Falk die Leviten gelesen hatte. Mr. Siegers’ (des Sohnes) überwältigende Stimme nun, die klang, als gelte es, die Worte mittels Trompete zu artikulieren, gab einem tiefen Bedauern über ein Benehmen Ausdruck, das sich durch einen erstaunlichen Mangel an Diskretion auszeichne … Auch mir sollten anscheinend die Leviten gelesen werden! Seinem ohrenbetäubenden Gequassel war schwer zu folgen, aber es war fraglos mein Benehmen – meines! –, welches … Zum Teufel! Das ließ ich mir nicht gefallen. »Worauf spielen Sie an?« fragte ich mit Ungestüm. Ich setzte meinen Hut auf (er bot nie jemandem einen Stuhl an), und da ihm meine Respektlosigkeit für den Augenblick die Stimme zu verschlagen schien, kehrte ich ihm den Rücken und schritt zum Zimmer hinaus. Sein Stimmapparat plärrte mir einige Drohungen nach, wie: er werde sich wegen überzogener Liegezeit der Leichter an mein Schiff halten und alle anderen Unkosten infolge von Verzug wegen meiner Keckheiten in Rechnung stellen.
Draußen im Sonnenschein drehte sich mir der Kopf. Es war nicht länger eine Frage bloßen Verzuges. Ich sah mich in hoffnungslose und demütigende Abgeschmacktheiten verwickelt, die mich zu etwas hinführten, das einer Katastrophe sehr ähnlich sah. »Wir wollen die Ruhe bewahren«, murmelte ich mir zu und eilte in den Schatten einer abblätternden Mauer. Von dieser kurzen Nebenstraße aus konnte ich in die breite Hauptverkehrsstraße blicken, die sich, zugleich verrottet und strotzend von Lebenslust, schnurgerade dahinzog, dahinzog zwischen baufälligem Mauerwerk, Bambuszäunen, Backsteinarkaden, Elendsquartieren aus Latten und Lehm, hohen Tempelportalen mit geschnitztem Holzwerk und Hütten aus fauligen Matten – eine schier unendlich lange Straße, die, soweit das Auge reichte, locker übersät war mit einer braunen, barfüßigen, durch knöcheltiefen Staub watenden Menschenmenge. Einen Augenblick lang war mir, als verlöre ich vor Unruhe und Verzweiflung den Verstand. Den Gefühlen eines jungen Mannes, für den Verantwortung etwas Neues ist, muß man schon einiges nachsehen. Ich dachte an meine Mannscha. Die Häle war krank, und ich begann zu fürchten, einige von ihnen könnten schließlich noch an Bord sterben, wenn ich sie nicht bald hinaus auf das Meer brachte. Offensichtlich würde ich mein Schiff den Fluß hinunter führen müssen, entweder unter Segel oder mit Hilfe eines Wartankers; Maßnahmen, die mir, wie vielen anderen Seeleuten von heute, nur theoretisch vertraut waren. Und ich scheute mich, diese Maßnahmen mit unzureichender Mannscha und ohne genaue Kenntnis des Fahrwassers zu treffen, die für die sichere Führung eines Schiffes unerläßlich ist. Es gab keine Lotsen, keine Baken, keine Tonnen irgendwelcher Art; aber es gab eine teuflische Strömung, wie jeder sehen konnte, viele Untiefen und mindestens zwei offenkundig sehr unangenehme Verengungen der Fahrrinne zwischen mir und
dem Meer. Aber wie gefährlich diese Stellen waren, konnte ich nicht ermessen. Ich wußte nicht einmal, wozu mein Schiff alles fähig war! Ich hatte es ja noch nie in meinem Leben in der Hand gehabt. Ein Mißverständnis zwischen einem Mann und seinem Schiff in einem gefährlichen Fahrwasser ohne Raum für eine Korrektur muß unweigerlich dem Mann Verdruß einbringen. Andererseits bestand für mich, zugegebenermaßen, wenig Grund, mich auf mein Glück zu verlassen. Und wie, wenn ich das Schiff schließlich hoch und trocken auf solch eine elende Sandbank aufsetzte? Das hätte dann das endgültige Scheitern dieser Reise bedeutet. Wenn Falk sich weigerte, mich hinauszutauen, würde er sich erst recht weigern, mich loszuschleppen. Das würde bedeuten – was? Günstigstenfalls einen verlorenen Tag; wahrscheinlich aber ganze vierzehn Tage, die man in solch einer verpesteten Schlammzone zu schmoren hätte, vierzehn Tage verzweifelten Arbeitens, um das Schiff zu leichtern; wahrscheinlich bedeutete es auch, daß Geld aufgenommen werden mußte, zu einem enormen Zinssatz – auch von diesen Siegers’. Sie stellten eine Macht im Hafen dar. Und jener ältere Matrose, Gambril, hatte mich ziemlich gespenstisch angeblickt, als ich ihm heute morgen seine Dosis Chinin verabreichte. Er würde bestimmt sterben – zu schweigen von zwei oder drei anderen, mit denen es beinahe ebenso schlimm stand, und dem Rest der Mannscha, die alle Voraussetzungen aufwies, sich eine tropische Krankheit zuzuziehen. Schrecken, Ruin und ewige Reue. Und keine Hilfe. Keine. Ich war unter eine Schar mißgünstiger Tollhäusler geraten. Jedenfalls mußte ich mein Schiff selbst den Fluß hinunterfahren, dann war es meine Pflicht, wenn möglich, einen Ortskundigen zur Unterstützung heranzuziehen. Aber den zu finden, war nicht einfach. Die einzige hier Anfrage kommende Person, die mir einfiel, war ein gewisser Johnson, früher Kapitän eines
hiesigen Küstenfahrers, jetzt verbunden mit einer hiesigen Frau und restlos vor die Hunde gegangen. Ich hatte nur in den unbestimmtesten Andeutungen von ihm reden gehört: er lebe verborgen in der Masse dieser zweihunderttausend Eingeborenen und tauche nur ans Tageslicht, um sich Branntwein zu besorgen. Ich stellte mir vor, ich würde ihn, wenn ich ihn nur zu fassen bekäme, an Bord meines Schiffes schon soweit ernüchtern, daß er als Lotse zu verwenden wäre. Besser als nichts. Einmal ein Seemann, immer ein Seemann – und er verfügte über jahrelange Erfahrung mit dem Fluß. Aber auf unserem Konsulat (in dem ich schweißtriefend nach einem forschen Lauf eintraf) konnte man mir keine Auskun geben. Die trefflichen jungen Leute des Stabes, obschon bereit, mir zu helfen, gehörten einer Gesellschasschicht an, für die Subjekte wie Johnson nicht existierten. Sie rieten mir, ich solle den Mann selbst aufspüren mit Unterstützung des KonsulatsWachtmeisters, eines ehemaligen Regiments-Hauptfeldwebel bei den Husaren. Dieser Mann nun, dessen Dienst offenbar darin bestand, an einem kleinen Tisch im Vorzimmer der Konsulatskanzlei zu sitzen, entfaltete, als er den Aurag erhielt, mir bei der Suche nach Johnson behilflich zu sein, große Energie und erstaunliche Ortskenntnis besonderer Art. Aber er verhehlte mir nicht, welch abgründige, skeptische Verachtung er für diese Unternehmung hegte. Wir durchforschten zusammen an jenem Nachmittag eine Unzahl übelbeleumdeter Schnapsbuden, Spiellokale, Opiumhöhlen. Wir schritten schmale Gassen hinauf, die unsere Mietskutsche, ein winziger Kasten auf Rädern mit einem störrischen Burma-Pony davor, nicht hätte passieren können. Der Wachtmeister schien auf verachtungsvoll vertrautem Fuß mit Maltesern, mit Eurasiern, mit Chinesen, mit Indern und mit den Tempelkulis zu stehen, mit denen er sich am Tor unterhielt. Wir befragten auch durch das Gitter in
einer Lehmwand, die eine Sackgasse abschloß, einen ungeheuer beleibten Italiener, der, wie der ehemalige Hauptfeldwebel beiläufig erwähnte, »letztes Jahr einen Mann umgebracht hatte.« Darauin redete er ihn mit »Antonio« und »Alter Haudegen« an, obwohl dieser aufgedunsene Kadaver, der die Zelle, in der er saß, anscheinend mehr als zur Häle ausfüllte, eher wie ein dickes Schwein in einem Koben wirkte. Gutmütig, aber ohne seine Reserve je aufzugeben, kraulte der Feldwebel eine gräßlich faltige, verhutzelte, alte, auf einen Stock gestützte Hexe unterm Kinn – ja, kraulte sie regelrecht unterm Kinn –, nachdem sie ihm irgendeine Auskun gegeben; und mit derselben undurchdringlichen Miene besprach er sich angeregt mit einigen verhüllten braunen Frauen, die auf den Türschwellen einer Reihe von Lehmhütten Zigarren rauchten. Wir verließen unsere Kutsche und kletterten in Wohnungen, die so luig wie Lattenkisten waren, oder stiegen hinab an Orte, düster wie Verliese. Wir setzten uns wieder in die Kutsche, fuhren weiter, stiegen wieder aus, zu dem einzigen Zweck, wie es schien, hinter einen Haufen Unrat zu spähen. Die Sonne sank; mein Genösse war kurz und zynisch in seinen Antworten, und es hatte den Anschein, als würden wir Johnson weiterhin immer um ein weniges verfehlen. Schließlich hielt unser Gefährt mit einem Ruck, der Kutscher sprang herab und öffnete den Schlag. Ein schwarzes Schlammloch versperrte den Weg. Ein Müllhaufen, gekrönt von einem Hundekadaver, vermochte uns nicht aufzuhalten. Eine leere australische Rindfleischdose hüpe lustig vor meiner Schuhspitze in die Höhe. Unversehens zwängten wir uns durch einen Spalt in einem stacheligen Zaun… Es war ein sehr reinliches Eingeborenen-Anwesen: und die große Eingeborenenfrau, mit nackten braunen Beinen, dick wie Bettpfosten, die auf allen Vieren einem Silberdollar nach
krabbelte, der von irgendwo daherrollte, war Mrs. Johnson persönlich. »Ihr Mann, Sir, ist zu Hause«, sagte der ehemalige Feldwebel und trat mit vollendeter und betonter Gleichgültigkeit gegen alles, was folgen mochte, beiseite. Johnson – zu Hause – stand mit dem Rücken gegen ein auf Pfosten gebautes Eingeborenenhaus mit Mattenwänden. In seiner linken Hand hielt er eine Banane. Seine rechte warf einen weiteren Dollar in den Raum. Den erhaschte die Frau im Flug und sank dann auf den Boden, um uns bequemer zu betrachten. »Mein Mann« war fahl im Gesicht, grauhaarig, unrasiert, an Ellenbogen und Rücken verschmutzt. Wo die Nähte seiner Serge-Jacke klaen, kam die nackte weiße Haut zum Vorschein. Die Reste eines Papierkragens hingen ihm um den Hals. Er blickte uns mit ernster, schwankender Überraschung an. »Wo kommen Sie her?« fragte er. Mir sank der Mut. Wie hatte ich nur so töricht sein können, wegen dieses Subjektes Energie und Zeit zu vergeuden! Aber da ich schon so weit gegangen war, trat ich noch einen Schritt näher und erklärte die Absicht meines Besuches. Er möge sogleich mit mir kommen, an Bord meines Schiffes schlafen und mir morgen früh, bei erster Ebbe, helfen, mein Schiff hinunter zum Meer zu bringen, ohne Dampf. Eine Sechshundert-Tonnen-Bark, mit neun Fuß Tiefgang achtern. Ich bot ihm achtzehn Dollar für seine Ortskenntnis; und während ich sprach, betrachtete er aufmerksam von allen Seiten die Banane, die er sich zunächst mit dem einen Ende, dann mit dem anderen vor die Augen hielt. »Sie haben vergessen, sich zu entschuldigen«, sagte er schließlich mit außerordentlicher Präzision. »Da Sie selbst kein Gentleman sind, wissen Sie anscheinend nicht, daß Sie sich einem Gentleman aufdrängen. Ich bin einer. Ich möchte Sie darauf hinweisen, daß ich, wenn ich liquide bin, nicht zu arbeiten pflege, und im übrigen …«
Ich hätte ihn für vollkommen nüchtern gehalten, hätte er sich nicht in seiner Rede unterbrochen und bekümmert versucht, ein Loch vom Knie seiner Hose fortzuwischen. »Ich habe Geld – und Freunde. Jeder Gentleman hat Freunde. Vielleicht möchten Sie wissen, wer mein Freund ist? Er heißt Falk. Sie könnten in die Verlegenheit kommen, Geld borgen zu müssen. Versuchen Sie, sich an ihn zu erinnern. F-A-L-K. Falk.« Plötzlich wandelte sich sein Ton. »Ein edles Herz«, sagte er benebelt. »Hat Falk Ihnen Geld gegeben?« fragte ich, angewidert von der Abgefeimtheit dieser dunklen Verschwörung. »Geliehen, guter Mann, nicht gegeben«, korrigierte er mich verbindlich. »Begegnete mir, als ich mich an der frischen Lu erging, gestern abend, und war wie stets bemüht, mir gefällig zu sein – Wie wäre es, wenn Sie sich jetzt hinausscherten und zum Teufel gingen?« Und hier ließ er ohne weitere Ankündigung seine Banane fliegen, die meinen Kopf verfehlte, aber den Wachtmeister gerade unter dem linken Auge traf. Der stürzte sich nun, stammelnd vor Wut, auf den elenden Johnson. Sie fielen zu Boden … Doch warum bei der Erbärmlichkeit, der Atemlosigkeit, der Entwürdigung, der Sinnlosigkeit, der Lästigkeit, der Lächerlichkeit und Demütigung und – und – dem Schweiß dieser Augenblicke verweilen? Ich zerrte den einstigen Husar fort. Er gebärdete sich wie ein wildes Tier. Anscheinend verdroß es ihn sehr, meinetwegen seinen freien Nachmittag verloren zu haben. Der Garten seines Bungalows bedure seiner persönlichen, aufmerksamen Pflege, und bei der leichten Berührung durch die Banane war die Bestie in ihm erwacht. Wir verließen Johnson auf dem Rücken liegend, blau im Gesicht, aber langsam wieder zu sich kommend. Währenddessen war die große Frau auf der Erde sitzen geblieben, anscheinend gelähmt von äußerstem Schrecken.
Eine halbe Stunde lang holperten wir in unserem fahrenden Kasten nebeneinander dahin, ohne ein Wort zu reden. Der ehemalige Feldwebel war bemüht, das Blut eines langen Kratzers auf seiner Backe zu stillen. »Ich hoffe, Sie sind jetzt zufrieden«, sagte er plötzlich. »Das kommt von all dem närrischen Getue. Hätten Sie sich nicht mit diesem Schlepperkapitän wegen eines Mädchens angelegt, wäre das alles nicht passiert.« »Haben Sie diese Geschichte gehört?« fragte ich. »Natürlich habe ich sie gehört. Und sollte mich nicht wundern, dem Generalkonsul komme sie auch noch zu Ohren. Wie ich morgen vor den hintreten soll mit dieser Schramme auf der Backe – das möchte ich wissen. Sie hätten das abbekommen sollen!« Hierauf, bis zu dem Augenblick, da die Mietskutsche anhielt und er ohne Gruß hinaussprang, fluchte er ohne Unterlaß vor sich hin; gewaltige, gräßlich ausgetüelte Landser-Flüche, denen gegenüber das Schlimmste, das ein Seemann vorbringt, reines Kindergeplapper ist. Was mich betri, so hatte ich nur eben noch die Kra, in Schombergs Kaffeeraum unterzutauchen und dort an einem kleinen Tisch eine Mitteilung an meinen Steuermann zu schreiben mit der Anweisung, alles für die Fahrt den Fluß hinunter am nächsten Morgen bereit zu machen. Ich getraute mich nicht, vor mein Schiff zu treten. Einen sauberen Kapitän hatte das arme Ding! Was für eine Bescherung! Ich vergrub meinen Kopf in den Händen. Daß meine Unschuld so klar zu Tage lag, trieb mich nur noch mehr zur Verzweiflung. Was hatte ich denn getan? Hätte ich etwas getan, das mich in diese Lage gebracht, so wüßte ich wenigstens, was künig zu unterlassen sei. Aber ich fühlte mich schuldlos bis zum Irrsinn. Das Lokal war noch leer; nur Schomberg schlich umher mit Kulleraugen und einer Art scheu-ehrfürchtiger Neugier. Zweifellos hatte er selbst die
Geschichte in Umlauf gesetzt; aber er war ein treuherziger Bursche, und ich bin der festen Überzeugung, daß er an all meinen Kümmernissen Anteil nahm. Er tat, was er konnte, für mich. Rückte den schweren Zündholzständer fort, schob einen Stuhl zurecht, stieß mit dem Fuß an einen Spucknapf – so wie man einem Freund in großer Not kleine Zeichen der Aufmerksamkeit gibt. Er seufzte und schließlich sagte er, unfähig, länger den Mund zu halten: »Ich habe Sie gewarnt, Kapitän. Das kommt davon, wenn man Mr. Falk die Stirn bietet. Der schreckt vor nichts zurück.« Ich saß da, ohne mich zu rühren, und nachdem er mich eine Weile mitleidig angeschaut, fuhr es in heiserem Flüsterton aus ihm heraus: »Ist aber auch ein bildhübsches Ding, wirklich ein bildhübsches Ding.« Er schnalzte laut mit der Zunge. »Das hübscheste Ding, das mir je …« Er schien sich weiter in solch salbungsvollen Reden ergehen zu wollen, brach dann aber aus irgendeinem Grund plötzlich ab. Ich überlegte, was ich ihm an den Kopf werfen könnte. »Ich kann Sie verstehen, Kapitän. Zum Henker, ja«, sagte er herablassend. »Danke«, sagte ich resigniert. Es hatte keinen Sinn, gegen dieses falsche Schicksal anzukämpfen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich selbst wußte, wo die Wahrheit in dieser Geschichte anfing. Daß sie katastrophal ausgehen werde – diese Überzeugung war mir durch all die Erschütterungen, denen mein Sinn für Sicherheit ausgesetzt gewesen, nach und nach förmlich aufgedrängt worden. Ich begann, den Agenten, die doch selbst machtlos waren, einen außerordentlichen Einfluß zuzutrauen. Mir schien, als habe Schombergs haltloses Geschwätz die Macht gehabt, jener Geschichte Realität zu geben, oder als hätte die gegenstandslose Feindscha Falks mein Schiff allein schon aufsitzen lassen können. Ich habe bereits dargelegt, wie fatal letzteres gewesen wäre.
Für mein weiteres Tun muß meine Jugend, meine Unerfahrenheit, meine redliche Sorge um das Wohl meiner Mannscha als Entschuldigung dienen. Dieses Tun selbst war schließlich durch und durch impulsiv. Es wurde völlig undiplomatisch und einfach dadurch in Gang gebracht, daß Falk in der Tür des Kaffeeraumes erschien. Der Raum hatte sich inzwischen gefüllt, und ein Gesumm von Stimmen durchzog ihn. Jedermann hatte mich neugierig angesehen; aber wie soll ich die Sensation beschreiben, die das Aureten Falks bewirkte, der da plötzlich in der Tür stand? Das Ausmaß erwartungsvoller Spannung war an der Tiefe des Schweigens abzulesen, das sich einstellte und sogar das Klikken der Billardkugeln verstummen ließ. Was Schomberg anlangte, so blickte er höchst besorgt drein; ihm war jegliche Art von Radau (er nannte das fracas) in seinem Lokal verhaßt. Fracas war schlecht für das Geschä, versicherte er; in Wahrheit aber besaß dieses Exemplar behäbigen Mannestums mittleren Alters eine furchtsame Natur. Ich weiß nicht, was sich die Leute in Anbetracht meiner Gegenwart im Lokal Außerordentliches versprachen. Vielleicht eine Art Hirschkampf. Oder sie mögen sich vorgestellt haben, Falk sei nur gekommen, um mir restlos den Garaus zu machen. In Wirklichkeit war er gekommen, weil Hermann ihn gebeten hatte, sich nach seinem kostbaren weißen Kattunsonnenschirm zu erkundigen, den er in der Aufregung des vergangenen Tages an jenem Tisch stehen gelassen hatte, an dem unsere kleine Auseinandersetzung stattfand. Dieser Umstand bot mir meine Gelegenheit. Ich glaube nicht, daß ich Falk aufgesucht hätte. Nein, ich glaube, ich hätte es nicht getan. Es gibt Grenzen. Aber da bot sich nun diese Gelegenheit, und ich nahm sie wahr – warum, das habe ich schon erklärt. Jetzt möchte ich nur noch hinzufügen, daß meiner Meinung nach einem Kapitän, der seine kranke Mannscha in
die frische Seelu hinausbringen und eine rasche Abfertigung seines Schiffes erwirken möchte, abgesehen von regelrechtem Verbrechen, alles gestattet ist. Er mag getrost seinen Stolz fallen lassen; mag sich Vertraulichkeiten anhören; mag seine Unschuld bekennen, als sei sie ein Vergehen; er mag Vorteil aus Mißverständnissen, aus Begierden, aus Schwächen ziehen; er sollte sein Entsetzen und andere Gemütsregungen verbergen, und wenn seltsam das Schicksal eines Menschenwesens berührt wird, und zumal das einer großartigen jungen Frau, – nun, so soll er dieses Schicksal (was es auch wert sei) bedenken, ohne mit der Wimper zu zucken. Und all diese Dinge habe ich getan; das Bekennen, das Zuhören, das Vorgeben – sogar das Verschwiegensein – und niemand, nicht einmal Hermanns Nichte, glaube ich, hat jetzt Grund, Steine auf mich zu werfen. Schomberg schon gar nicht, denn von Anfang bis Ende, kann ich glücklicherweise sagen, gab es nicht den mindesten »fracas«. Ungeachtet einer nervösen Kontraktion meiner Luröhre, gelang es mir schließlich »Kapitän Falk!« zu rufen. Sein erstauntes Auorchen war vollkommen echt; aber dem folgte weder ein Lächeln noch ein Stirnrunzeln. Er wartete einfach. Als ich dann sagte: »ich muß mit Ihnen sprechen«, und auf einen Stuhl an meinem Tisch wies, trat er auf mich zu, wenn er sich auch nicht setzte. Schomberg indessen, ein hohes Glas in der Hand, näherte sich uns behutsam; und hier entdeckte ich das einzige Zeichen von Schwäche bei Falk, das ich überhaupt an ihm wahrgenommen. Schomberg erfüllte ihn mit einem Abscheu, vergleichbar nur jener Art physischer Angst, die manche Menschen beim Anblick einer Kröte erfaßt. Vielleicht mußte einem Mann, der so gründlich und schweigsam auf sich selbst konzentriert war (obschon er sehr wohl zu reden verstand, wie ich sogleich feststellte), des anderen unüberwindliche Geschwätzigkeit, die jegliches Geschöpf in
Reichweite seiner Zunge einbezog, unnatürlich, abstoßend, monströs vorkommen. Plötzlich zeigte er sich widerspenstig – wie ein Pferd, das im Begriff ist, sich aufzubäumen – und murmelte hastig, wie unter einem großen Schmerz; »Nein. Ich kann den Kerl nicht ertragen.« Und er schien im Begriff, davonzustürmen. Diese Schwäche verschae mir gleich zu Anfang einen Vorteil. »Veranda«, schlug ich vor, als leiste ich ihm einen Dienst, nahm ihn beim Arm und schritt mit ihm hinaus. Wir stolperten in der Dunkelheit draußen über einige Stühle; wir hatten das Gefühl offenen Raumes vor uns, spürten die frische Brise vom Fluß – frisch, aber verpestet. Die chinesischen eater jenseits des Flusses bildeten in der von kaum ein paar Fünkchen durchwobenen geballten Düsternis, in die sich eine orientalische Stadt bei Nacht verwandelt, Zentren gleißenden Lichts und fernen, kreischenden Aufuhrs. Ich spürte, wie er plötzlich wieder fügsam wurde, gleich einem Tier, einem lammfrommen Pferd, wenn der Gegenstand, der es schreckte, beseitigt ist. Ja. Ich spürte in der Dunkelheit dort, wie fügsam er war, ohne doch im mindesten meine Überzeugung von seiner Unbeugsamkeit, oder auch seiner Hartnäckigkeit, aufzugeben. Schon sein Arm, der sich meinem Griff überließ, war hart wie Marmor – ein Eisenarm. Aber ich vernahm von drinnen das Lärmen scharrender Schuhsohlen. Diese unbeschreiblich idiotischen Menschen dort drängten sich an die Fenster, kletterten hinter den Läden einander auf die Schultern, mit Billardstöcken und was sonst noch in der Hand. Irgend jemand zertrümmerte eine Fensterscheibe, und bei dem Geräusch des zu Boden fallenden Glases, das so eng verbunden ist mit der Vorstellung von Aufuhr und Verwüstung, taumelte Schomberg hinter uns auf die Veranda hinaus, derart verstört, daß er sogar vergaß, sein Glas Branntwein-Soda abzustellen. Er zitterte wie Espenlaub. Die Eisstücke in dem hohen Glas, das er in der Hand hielt, klapperten,
wie Zähne klappern. »Aber meine Herren, ich bitte Sie«, stieß er heiser hervor. »Wirklich, ich muß darauf bestehen …« Wie stolz bin ich auf meine Geistesgegenwart! »Hallo«, sagte ich sogleich in lautem, arglosem Ton, »da wir jemand Ihre Fensterscheiben ein, Schomberg. Würden Sie, bitte, einem Ihrer Boys sagen, er möchte uns einen Packen Spielkarten und ein, zwei Lichter herausbringen. Und zwei große Glas Brandy. Ja?« Die Bestellung tat unverzüglich ihre beruhigende Wirkung. Es war Geschä. »Aber gewiß«, sagte er in höchst erleichtertem Ton. Es war eine regnerische Nacht mit gelegentlichen Windstößen, und während wir auf die Lampen warteten, sagte Falk, wie um seine panische Furcht zu rechtfertigen: »Ich mische mich in niemandes Angelegenheiten. Ich gebe keinen Anlaß zu Gerede. Ich bin ein achtbarer Mann. Aber dieser Kerl findet in allem etwas Anrüchiges und ruht nicht eher, als bis er jemanden dahin gebracht hat, ihm Glauben zu schenken.« Das gab mir den ersten Aufschluß über Falk. Dieses Verlangen nach Achtbarkeit, danach, wie jeder andere zu sein, stellte die einzige Anerkennung dar, die er der Menschheit als Organisation entgegenbrachte. Im übrigen hätte er ebensogut Glied einer Herde sein können, nicht einer Gesellscha. Selbsterhaltung war sein einziges Anliegen. Nicht Selbstsucht, sondern reine Selbsterhaltung. Selbstsucht setzt das Zurkenntnisnehmen, die Auswahl, die Gegenwart anderer Menschen voraus. Aber sein Instinkt agierte, als sei er der einzige Überlebende der Menschheit, der dieses Gesetz der Selbsterhaltung wie den letzten Funken eines heiligen Feuers hütete. Ich will nicht sagen, daß ihn nacktes Vegetieren in einer Höhle befriedigt hätte. Offensichtlich war er das Geschöpf der Verhältnisse, in die er hineingeboren worden. Zweifellos bedeutete Selbsterhaltung auch die Erhaltung dieser Verhältnisse. Aber
im Tiefsten bedeutete sie etwas viel Einfacheres, Natürlicheres und Mächtigeres. Wie soll ich mich ausdrücken? Sie bedeutete – sagen wir einmal – die Erhaltung der fünf Sinne seines Leibes in der engsten wie der weitesten Auslegung des Wortes. Ich denke, Sie werden die Richtigkeit dieses Urteils über kurz oder lang erkennen. Indessen, während wir dort auf der dunklen Veranda beieinander standen, war ich noch zu keinem Urteil gelangt – und ich hatte gar nicht das Bedürfnis zu urteilen –, ohnehin ein müßiges Tun. Es dauerte lange, bis das Licht kam. »Freilich«, sagte ich, als verstünden wir einander schon, »freilich ist es nicht meine Absicht, mit Ihnen Karten zu spielen.« Ich sah ihn sich mit den Händen übers Gesicht fahren – das vage Zucken jener leidenschalichen, sinnlosen Gebärde; aber er wartete in geduldigem Schweigen. Erst als die Lichter herausgebracht worden waren, öffnete er den Mund. Ich entnahm seinem Gemurmel, daß »er gar nichts vom Kartenspiel verstehe.« »Auf diese Weise halten wir uns jenen Schomberg und all die übrigen Narren vom Leib«, erwiderte ich und mischte die Karten. »Haben Sie gehört, daß man allgemein annimmt, wir würden uns wegen eines Mädchens zanken? Sie wissen selbstverständlich – welches. Ich schäme mich wirklich, danach zu fragen, aber ist es möglich, daß Sie mir die Ehre erweisen, mich in diesem Zusammenhang für gefährlich zu halten?« Während ich das sagte, fühlte ich, wie absurd das alles war, und doch fühlte ich mich auch geschmeichelt – denn was konnte sonst der Grund sein? Seine Antwort, vorgebracht in der ihm eigenen nüchternen Tonlosigkeit, machte mir deutlich, daß es sich so verhielt, wenn auch nicht gerade auf so schmeichelhae Weise, wie ich gedacht hatte. Er hielt mich
für gefährlich mehr im Hinblick auf Hermann als auf dessen Nichte; aber was ›Zanken‹ anlangt, begriff ich sogleich, wie unangemessen das Wort war. Es gab keinen Zank zwischen uns. Naturmächte sind nicht zänkisch. Ich kann nicht mit dem Wind zanken, der mich dadurch, daß er mir auf belebter Straße den Hut vom Kopf reißt, in eine mißliche und demütigende Lage bringt. Falk zankte nicht mit mir. Auch ein Felsblock, der mir auf den Kopf gefallen wäre, hätte nicht mit mir gezankt. Er fiel mich an, dem Gesetz gemäß, nach dem er sich bewegte – dem Gesetz nicht der Gravitation wie ein sich lösender Stein, sondern der Selbsterhaltung. Gewiß, diese Auslegung mag nachgerade etwas weit gehen. Genau genommen, hatte er auch bisher unverheiratet gelebt und konnte unverheiratet weiterleben. Doch er erklärte mir, daß es ihm immer schwerer werde, allein zu leben. Ja. Er erklärte mir das in seiner leisen, gleichmütigen Stimme – soweit war das Vertrauen zwischen uns gediehen, als eine halbe Stunde herum war. Ich benötigte eben diese Zeit, um ihn davon zu überzeugen, daß mir nie im. Traum eingefallen wäre, Hermanns Nichte zu heiraten. Kann man sich eine absurdere Zwangslage vorstellen? Und die Schwierigkeit wurde noch erhöht, weil es ihn selbst derart gepackt hatte, daß er sich nicht vorzustellen vermochte, wie jemand hier im Zustand der Gleichgültigkeit zu verharren vermöge. Jeder Mann mit Augen im Kopf könne nicht umhin, solche körperliche Pracht für sich zu begehren. Dieser abgründige Glaube zeigte sich schon an der Art, wie er zuhörte, seitlich am Tisch sitzend und geistesabwesend ein paar Karten befingernd, die ich aufs Geratewohl ausgeteilt hatte. Und je mehr ich in ihn hineinsah, desto mehr sah ich von ihm. Der Wind ließ die Lichter flackern, so daß sein sonnverbranntes Gesicht, das bis zu den Augen von einem Backenbart bedeckt war, abwechselnd rot vor mir aufflammte und
wieder erlosch. Ich gewahrte die außerordentliche Breite seiner hohen Backenknochen, die lotrechte Ausprägung seiner Gesichtszüge, die wuchtige Stirn, steil wie ein Kliff, frei oben und auch an den Schläfen weitgehend kahl. Tatsächlich hatte ich ihn früher nie ohne Hut gesehen; aber jetzt, als hätte ihn meine Inbrunst erhitzt, hatte er den Hut abgenommen und san auf den Boden gelegt. Etwas Besonderes im Schnitt und der Gestalt seiner gelben Augen gab ihnen die beschwörende, stille Intensität, die seinen Blick auszeichnete. Aber das Gesicht war schmal, zerfurcht, verwittert; ich entdeckte dies durch den Wust seiner Haare, wie man die knorrige Gestalt eines Baumstammes durch dichtes Unterholz erkennt. Diese überwachsenen Wangen waren eingefallen. Er hatte den knochigen Kopf eines Anachoreten, ausgerüstet mit einem Kapuzinerbart und angepaßt an einen herkulischen Leib. Ich meine nicht einen athletischen. Herkules, denke ich, war kein Athlet. Er war ein starker Mann, weiblichen Reizen zugänglich und sich vor Schmutz nicht scheuend. Und so verhielt es sich mit Falk, der ein starker Mann war. Er war außerordentlich stark; so wie die junge Frau (da ich an sie beide zusammen denken muß) glorreich anziehend war durch die gebieterische Macht von Fleisch und Blut, wie sie sich in Gestalt, Größe, Haltung ausdrückt – will sagen: anziehend durch unmittelbaren Sinnenreiz. Währenddessen erzitterte sein Geist, der mit seiner Achtbarkeit beschäigt war, vor Schombergs Zunge und erwies sich als absolut unzugänglich für meine Beteuerungen, obwohl ich so weit ging, ihm zu gestehen, daß ich ebensogut die treue Köchin meiner Mutter, der lieben alten Frau, hätte heiraten mögen als Hermanns Nichte. Eher noch, beteuerte ich in meiner Verzweiflung, viel eher; aber es hatte nicht den Anschein, daß er etwas Haarsträubendes an der Behauptung fand, und in seiner skeptischen Ungerührtheit dachte er wohl, die Köchin sei schließlich sehr, sehr weit vom
Schuß. Überdies hatte ich kurz zuvor den Fehler begangen, ihn auf mein Benehmen an Bord der Diana zu verweisen, das für sich sprach. Hatte ich doch nie versucht, mich der jungen Frau zu nähern, mit ihr zu reden, oder sie auch nur in irgendeiner besonderen Weise anzusehen. Gab es etwas Überzeugenderes? Aber da seine eigene Vorstellung von – sagen wir – Liebesdienst genau darin zu bestehen schien, daß man stundenlang still dasaß in der Nähe des geliebten Gegenstandes, erregte dieses Argument nur sein Mißtrauen. Er starrte auf seine lang ausgestreckten Beine und stieß einen Grunzton aus – als wollte er sagen: »Alles ganz schön, aber mir können Sie keinen Sand in die Augen streuen.« Schließlich reizte es mich zu sagen: »Warum klären Sie die Sache nicht dadurch, daß Sie mit Hermann reden?«, und dann fügte ich spöttisch hinzu: »Oder erwarten Sie, daß ich für Sie mit ihm spreche?« Hierauf antwortete er ungewöhnlich laut: »Würden Sie das tun?« Und zum ersten Mal hob er den Kopf, um mich staunend und ungläubig anzublicken. Und so jäh hob er den Kopf, daß es keinen Zweifel geben konnte: Ich hatte an die Triebfeder in ihm gerührt. Ich sah, welche Gelegenheit sich mir da bot, und ich konnte es kaum fassen. »Wie denn! Sprechen mit … Ja, gewiß«, fuhr ich in meiner Rede sehr langsam fort und beobachtete ihn aufmerksam, denn ich fürchtete wahrhaig, es sei ein Scherz. »Vielleicht nicht gerade mit der jungen Dame selbst. Ich spreche nicht deutsch, wissen Sie. Aber …« Er unterbrach mich mit der ernsten Versicherung, daß Hermann eine hohe Meinung von mir habe; und sogleich begriff ich, es sei an diesem heiklen Punkt die größtmögliche diplomatische Behutsamkeit geboten. So machte ich einige Einwendungen, um ihn weiter aus sich herauszulocken. Er ging
mir in die Schlinge; aber außer einer deutlich erkennbaren Erweiterung der Pupillen, die die Iris seiner Augen zu zwei schmalen gelben Ringen werden ließ, vermochte sein Gesicht, wie mir schien, kein Zeichen der Erregung hervorzubringen. »Doch, doch! Hermann hat die höchste…« »Nehmen Sie Ihre Karten auf, Schomberg späht durch den Fensterladen nach uns!« sagte ich. Wir vollführten ein paar Stiche, als spielten wir Ecarte. Sogleich verzog sich der elende Schwätzer, wahrscheinlich um seinen Gästen im Billardzimmer zu berichten, wir spielten auf der Veranda wie wahnsinnig gegeneinander. Wir spielten nicht, und doch war es ein Spiel; ein Spiel, bei dem ich, das spürte ich, die Trümpfe in der Hand hielt. Auf dem Spiel stand, grob gesagt, der Erfolg der Reise – für mich; und er, das wurde mir bewußt, hatte nichts zu verlieren. Unsere Vertraulichkeit reie rasch, und es bedure nicht vieler Worte, um mir klar werden zu lassen, daß Hermann mich gegen ihn ausgespielt hatte. Dieser schlichte und durchtriebene Teutone hatte mich Falk gegenüber als Rivalen hingestellt. Ich war noch jung genug, um über solche Doppelzüngigkeit schockiert zu sein. »Hat er Ihnen das gesagt?« fragte ich voll Entrüstung. Das hatte Hermann nicht getan. Er hatte lediglich Andeutungen gemacht; und freilich brauchte es nicht viel, um Falk in Unruhe zu versetzen; aber anstatt sich zu erklären, hatte er Schritte unternommen, um die Familie aus meinem Einflußbereich zu entfernen. Er war absolut aufrichtig – so aufrichtig wie ein Dachziegel, der einem auf den Kopf fällt. In diesem Mann gab es keine Doppelzüngigkeit; und als ich ihm zu der Umsicht seiner Anordnungen gratulierte – die bis zur Bestechung des jämmerlichen Johnson gingen –, protestierte er ehrlich. Nicht bestochen. Er wußte, daß der Mann nie arbeiten würde, solange er ein paar Cent in der Tasche hatte, genug,
um sich damit zu betrinken, und so war es nur natürlich (er sagte: »natürlich«), daß er ihm ein, zwei Dollar zusteckte. Er war ja selber Seemann und sah voraus, was ein anderer Seemann wie ich unternehmen werde. Andererseits war er sicher, daß ich zu Schaden kommen mußte. Er war nicht umsonst während der letzten sieben Jahre den Fluß hinauf- und hinuntergefahren. Es wäre keine Schande für mich gewesen – aber, so versicherte er mir im Vertrauen, ich hätte mein Schiff fraglos an einer bestimmten Stelle zwei Meilen unterhalb der Großen Pagode sehr unangenehm auf Grund gesetzt … Und bei all dem hegte er keinen bösen Willen. Das war offenkundig. Hier handelte es sich um eine Krisis, in der er allein darauf bedacht war, Zeit zu gewinnen – denke ich mir. Und plötzlich erwähnte er, daß er Schmuck bestellt habe, wirklich echten Schmuck, daß er nach Hongkong deswegen geschrieben habe. Er werde in ein, zwei Tagen eintreffen. »Dann«, sagte ich munter, »ist doch alles geklärt. Sie brauchen ihn nur noch der Dame zu überreichen, zusammen mit Ihrem Herzen, und glücklich leben bis ans Ende aller Tage.« Er schien weitgehend diese Ansicht zu teilen, was das Mädchen betraf. Aber seine Lider senkten sich. Es stand noch immer etwas im Wege. Zum einen hegte Hermann eine gar so große Abneigung gegen ihn. Mich jedoch könnte Hermann nicht genug loben. Auch Frau Hermann. Er wußte nicht, warum sie diese Abneigung gegen ihn hatten. Durch diese werde alles so überaus schwierig. Ich hörte ungerührt zu und fühlte mich immer mehr wie ein Diplomat. Der Sinn seiner Worte lag nicht klar zu Tage. Er war einer jener Menschen, die in einer Art geistigen Zwielichts zu leben, fühlen, leiden scheinen. Aber seine Fasziniertheit von der jungen Frau, sein Ergriffensein von einer Sehnsucht nach häuslichem Glück mit ihr – die waren klar wie
Sonnenschein. Da für ihn so viel auf dem Spiel stand, fürchtete er sich vor dem Risiko einer Erklärung. Übrigens war da noch etwas anderes. Und da Hermann so gegen ihn eingenommen war … »Ich verstehe«, sagte ich gedankenvoll, während mein Herz laut klope in der Aufregung meines diplomatischen Vorgehens. »Ich werde mich nicht scheuen, Hermann auszuhorchen. Übrigens, um Ihnen zu zeigen, wie sehr Sie sich im Irrtum über mich befinden, bin ich bereit, in dieser Sache alles, was ich vermag, für Sie zu tun.« Ein leiser Seufzer entrang sich ihm. Er strich sich mit den Händen über sein Gesicht, und es tauchte dann wieder auf – hart, mit unveränderter Miene, als sei alles Gewebe daran verknöchert. Die Leidenscha lag allein in jenen großen, braunen Händen. Er war beruhigt. Dann war da noch jene andere Sache. Wenn es irgend jemanden gäbe auf der Erde, so sei ich es, der Hermann überreden könnte, diese Sache vernünig zu betrachten! Ich hätte Weltkenntnis, hätte meine Erfahrungen gesammelt. Hermann sage das selbst. Und dann sei ich ein Seemann, das komme hinzu. Falk meinte, daß ein Seemann gewisse Dinge am besten verstehe … Er redete, als hätte die Familie Hermann ihr Dasein in einem Dorf auf dem Land verbracht und ich allein sei dank meiner Lebenserfahrung befähigt, gewisse Vorkommnisse großzügig und nachsichtig zu betrachten. Das hatte mir meine Diplomatie eingetragen! Plötzlich war ich sie von Herzen leid. »Ich bitte Sie, Falk«, fragte ich ziemlich brüsk, »Sie haben doch nicht am Ende schon irgendwo eine Frau sitzen?« Die Schmerzlichkeit, der Abscheu, mit denen er dies in Abrede stellte, waren eindrucksvoll. Ob ich nicht begriffe, daß er so ehrbar wie jeder andere Weiße hier sei; daß er redlich sein Brot verdiene. Er litt unter meinem Mißtrauen, und der leise, gedämpe Ton seiner Stimme gab seinen Beteuerungen etwas
Ergreifendes. Einen Augenblick lang beschämte er mich; aber dann begann sich, meines diplomatischen Wesens ungeachtet, die Überzeugung in mir durchzusetzen, daß es wahrhaig in meiner Macht liege, über Erfolg oder Mißerfolg seiner ehelichen Unternehmung zu entscheiden. Wir müssen nur kräig genug etwas heucheln, dann glauben wir am Ende selber daran – wenn es uns zum Vorteil gereicht. Und ich hatte kräig geheuchelt, weil ich schließlich doch noch sicher den Fluß hinabgetaut werden wollte. Aber aus Gewissenhaigkeit oder Torheit konnte ich mich plötzlich nicht enthalten, auf die Vanlö-Geschichte anzuspielen. »Was Sie da machten, war ziemlich übel, oder nicht?« Das zu sagen, nahm ich mir tatsächlich heraus – denn die Logik unseres Verhaltens ist immer ein Spielball dunkler, unvorhersehbarer Impulse. Seine erweiterten Pupillen schweien von meinem Gesicht ab und richteten sich mit einer Art angstvoller Wut auf das Fenster. Wir hörten hinter den Läden das fortgesetzte, kurze Aneinanderschlagen der Elfenbeinkugeln, ein aufgeräumtes Murmeln vieler Stimmen und Schombergs tiefes, männliches Lachen. »Dieses verdammte Waschweib von einem Hotelbesitzer. Kann es denn diese Sache nie, nie zur Ruhe kommen lassen!« rief Falk. Ja schön! Das sei vor zwei Jahren gewesen. Als es dann soweit war, habe er es nicht über sich bringen können, Fred Vanlo ins Vertrauen zu ziehen – kein Seemann, dazu ein bißchen närrisch. Er habe ihm einfach nicht vertrauen können; aber damit er nicht weiter Lärm schlage, habe er ihm genügend Geld geborgt, um alle seine Schulden zu begleichen, bevor er abzog. Ich war höchlich erstaunt, das zu hören. Dann konnte Falk doch nicht solch ein Geizkragen sein. Desto besser für das Mädchen. Eine Weile saß er schweigend da; dann nahm er eine Karte auf, und während er sie anschaute, sagte er:
»Sie müssen nicht an etwas Übles denken. Es war ein Mißgeschick. Ich habe dieses eine Mal Unglück gehabt.« »Dann verschweigen Sie doch, um Himmels willen, die Sache.« Sobald diese Worte ausgesprochen waren, fühlte ich, daß ich etwas Unmoralisches gesagt hatte. Er schüttelte verneinend den Kopf. Es mußte gesagt werden. Er hielt es für geziemend, daß die Verwandten der Auserwählten Bescheid wüßten. Zweifellos – dachte ich im Stillen – wäre Miss Vanlo nicht dreißig Jahre alt und vom Klima verwüstet gewesen, er hätte es über sich gebracht, Fred Vanlo sein Vertrauen zu schenken. Und dann trat die Gestalt von Hermanns Nichte vor mein geistiges Auge, in der Üppigkeit ihrer Formen, ihrer reichen Jugendlichkeit, ihrer verschwenderischen Krafülle. Mit solch machtvoller, makelloser Vitalität mußte ihre mädchenhae Figur für diesen Mann wie der mächtig tönende Ruf des Lebens gewesen sein, während die arme Miss Vanlo nur sentimentale Liedchen zum Geklimper eines Klaviers hatte singen können. »Und dieser Hermann haßt mich, ich weiß es!« rief er in seiner verhaltenen Stimme, mit einem erneuten plötzlichen Aufflackern seiner Ängstlichkeit. »Ich muß es Ihnen sagen. Es schickt sich so, daß sie davon erfahren. Sie selbst würden es auch sagen.« Dann spielte er murmelnd und absolut geheimnisvoll auf die Notwendigkeit besonderer häuslicher Anordnungen an. Wenn auch meine Neugier erwacht war, wollte ich doch keine Vertraulichkeiten hören. Ich fürchtete, er könnte mir Mitteilungen machen, die die mir übertragene Rolle des Heiratsvermittlers zu einer höchst widerwärtigen werden ließen – so unwirklich sie sein mochte. Ich wußte ja, daß er das Mädchen ohne die geringste Mühe gewinnen könnte. Ich mußte mich zusammennehmen, um ihm nicht ins Gesicht zu lachen, als
ich ihm sagte, ich sei zuversichtlich, daß es mir gelingen werde, Hermann diese Abneigung gegen ihn auszureden. »Ich bin überzeugt, daß ich alles zum Besten wenden kann«, sagte ich. Er blickte sehr zufrieden drein. Und als wir uns erhoben, war nicht ein einziges Wort über das Hinaustauen gesagt worden! Nicht ein Wort! Das Spiel war gewonnen und die Ehre gerettet. O! segensreicher weißer Kattun-Sonnenschirm! Wir schüttelten einander die Hände, und ich mußte an mich halten, um nicht in einen Freudentanz auszubrechen, als er noch einmal zurückkam, die ganze Länge der Veranda und zweifelnd fragte: »Sagen Sie, Kapitän, ich habe Ihr Wort? Sie – Sie – fallen mir nicht in den Rücken?« Himmel! Was für einen Schrecken er mir einjagte. Hinter seinem zweifelnden Ton tauchte etwas Rasendes und Bedrohliches auf. Ich verblendeter Esel! Aber ich war der Lage gewachsen. »Mein lieber Falk«, sagte ich und begann mit einer Geläufigkeit und Unverfrorenheit zu lügen, die mich damals selbst erstaunte – »Geständnis gegen Geständnis.« (Er hatte mir keine Geständnisse gemacht.) »Ich will Ihnen sagen, daß ich schon mit einem überaus reizenden Mädchen zu Hause verlobt bin, und so werden Sie verstehen …« Er ergriff meine Hand und schüttelte sie mit einem zermalmenden Druck. »Verzeihen Sie mir. Ich fühle, wie es mir von Tag zu Tag schwerer fällt, allein zu leben…« »Bei Reis und Fisch«, unterbrach ich ihn keck und kicherte vor Nervosität, da ich dieser Gefahr entronnen war. Er ließ meine Hand fallen, als sei sie plötzlich glühend heiß geworden. Ein Augenblick tiefer Stille folgte, als wäre etwas Außerordentliches geschehen. »Ich verspreche Ihnen, Hermanns Einverständnis zu erwir
ken«, stotterte ich dann, und mir schien, er müsse endlich dieses verlogene Versprechen durchschauen. »Wenn es noch irgend etwas sonst gibt, das zu bewältigen ist, so werde ich, wenn ich’s vermag, auch hierbei zu Ihnen stehen«, versprach ich weiterhin und fühlte mich irgendwie besiegt und überwunden; »aber Sie müssen auch selbst Ihr Bestes tun.« »Ich habe einmal Unglück gehabt«, murmelte er unbewegt, wandte mir den Rücken und ging langsam, langsam über den Dielenboden stapfend, als seien seine Füße mit Eisen beschlagen. Am nächsten Morgen jedoch zeigte er sich munter genug – als Mann-Schiff: dieses Kompositum aus Platschen und Brüllen, aus unverschämtem Gewühle unten und dem steten, herrischen Blick des stillen Kopeils oben. Er taute uns unnötigerweise zu einer unmenschlich frühen Stunde hinaus, aber es war beinahe elf Uhr vormittags, als er mich eine Kabellänge von Hermanns Schiff entfernt loswarf. Und er machte es obendrein sehr ungeschickt, hastig, und verpaßte am Ende beinahe noch den Bereich guten Ankergrundes, weil er wahrhaig Hermanns Nichte auf dem Achterdeck erspäht hatte. Und ich auch; wahrscheinlich im selben Moment, da er sie sah. Ich sah die demütige, strahlende Herrlichkeit ihres goldbraunen Kopfes und die üppig graue Wohlgestalt ihres mädchenhaen, bedruckten Rockes, den sie in Vollkommenheit mit ihren verführerischen, untadeligen Formen ausfüllte – wahrlich eine Nymphe Dianas, der Jägerin. Und Diana, das Schiff, lag hochbordig und so handfest wie eine Institution auf dem glatten Spiegel der See, das langweiligste, ehrbarste Fahrzeug der Meere, nützlich und häßlich, der Fristung häuslicher Tugendsamkeit geweiht wie jeder Gemüseladen an Land. Falk dampe unverzüglich davon; denn er hatte noch anderes zu tun. Er würde abends wiederkommen. Er passierte uns, glitt langsam hinaus, ohne Abschiedssignal.
Der Schlag der Schaufelräder hallte von den felsigen Inselchen wie von den zerstörten Mauern einer riesigen Arena wider, erfüllte den Ankerplatz mit wirren, klatschenden Lauten gleich denen eines gewaltigen, anhaltenden Applauses. Vor dem Bug von Hermanns Schiff stoppte Falk die Maschine; und tiefes Schweigen legte sich über Felsen, Küste und Meer, solange er seinen Hut hoch emporhob vor der Nymphe im grauen Kattunrock. Ich hatte mein Fernglas an die Augen gerissen und kann versichern, sie rührte kein Glied, stand dort an der Reling, stattlich und aufrecht, mit der Hand sich an einem Tau über ihrem Kopf festhaltend, während der Schlepper auf seinem Kurs langsam die sehnsüchtige und tiefe Huldigung dieses Mannes an ihr vorübertrug. Die Szene hatte für mich eine ungeheure Bedeutung; es war, als sei ich Zeuge einer feierlichen Erklärung geworden. Die Würfel waren gefallen. Nach solch einer Kundgabe konnte er nicht mehr zurück. Und ich überlegte, daß mich das Ganze, was immer geschehen mochte, jetzt nichts mehr anging. In einer Wolke schwarzen Rauches, die plötzlich aus dem Schornstein quoll, und einem wilden Gewirbel der Schaufelräder, die ein unheimliches, hastiges Geklapper verursachten, schoß der Schlepper aus der einsamen Arena hinaus. Die felsigen Inseln lagen da wie Haufen zyklopischer Ruinen auf einer Ebene; die Tausendfüßler und Skorpione hielten sich unter den Steinen verborgen; nicht ein Grashalm war zu sehen weit und breit, nicht eine Eidechse, die sich auf einem Felsblock am Wasser gesonnt hätte. Als ich wieder zu Hermanns Schiff hinüberblickte, war das Mädchen verschwunden. Ich konnte nicht den winzigsten Punkt eines Vogels an dem unermeßlichen Himmel entdecken, und die Flachheit des Meeres setzte sich in der Flachheit des Landes fort bis zur nackten Linie des Horizontes. Dies ist die Szenerie, die jetzt untrennbar mit meinem Wissen um Falks Unglück verknüp ist. Meine Diplomatie hatte mich
hierher gebracht, und nun mußte ich nur den richtigen Augenblick abwarten, um meine Rolle als Gesandter zu übernehmen. Meiner Diplomatie war Erfolg beschieden gewesen; mein Schiff war sicher; der alte Gambril würde wahrscheinlich überleben. Ein schwaches Geräusch klopfender Hämmer drang unregelmäßig von der Diana herüber. Im Laufe des Nachmittags blickte ich wiederholt zu dem alten heimeligen Schiff hinüber, dem treuen Beschützer von Hermanns Nachkommenscha, oder ich gähnte den fernen Buddha-Tempel an, der sich wie ein einsamer Hügel über der Ebene erhob, wo kahlrasierte Priester dem Gedanken an völlige Vernichtung nachhingen, die als angemessene Belohnung unser aller harrt. Unglück! Einmal Unglück gehabt. Dann hatte er gar nicht so schlecht abgeschnitten. Und welcher Art, zum Kuckuck, mochte dieses Unglück gewesen sein? Ich erinnerte mich, einmal einen Mann kennengelernt zu haben, der von sich sagte, er sei von einem Unglück heimgesucht worden; dieses Unglück, das in seinen Auswirkungen endgültig war (er machte einen verzweifelt jämmerlichen Eindruck), mußte, nüchtern betrachtet, mit einem Vertrauensbruch identisch gewesen sein. War es etwas dieser Art? Aber abgesehen von der Unwahrscheinlichkeit, daß er sich hierüber je aussprechen würde, nicht einmal bei seinem zukünigen Schwiegeronkel, hatte ich das sonderbare Gefühl, als mache Falks Körperlichkeit ihn zu solch einem Vergehen untauglich. Wie die Person von Hermanns Nichte den tiefen körperlichen Reiz weiblicher Form ausströmte, so verkörperte die mächtige Gestalt ihres Verehrers die harte, gerade Männlichkeit, die möglicherweise töten, aber niemals sich zu einem Betrug hergeben würde. Das lag klar auf der Hand. Ich hätte ebensogut das Mädchen einer Rückgratverkrümmung verdächtigen können. Und ich gewahrte, daß sich die Sonne dem Horizont zuneigte. Der Rauch von Falks Schlepper kam in Sicht, weit entfernt in
der Flußmündung. Es war für mich an der Zeit, als Gesandter aufzutreten, und die Verhandlungen würden nicht schwierig sein – außer darin, eine ernste Miene zu bewahren. Alles war so maßlos unsinnig, und ich erkannte, daß ich gut daran tat, selbst ein würdig ernstes Benehmen zur Schau zu tragen. Ich übte mich in solchem Benehmen, während ich in meinem Boot übersetzte, aber die Schüchternheit, die mich insgeheim überkam im Augenblick, da ich das Deck der Diana betrat, ist mir unerklärlich. Sobald wir einander begrüßt hatten, erkundigte sich Hermann eifrig, ob Falk wohl seinen weißen Sonnenschirm gefunden habe. »Er wird ihn sogleich herbringen«, sagte ich mit großer Feierlichkeit. »Inzwischen habe ich Ihnen eine wichtige Botscha auszurichten, für die er Ihre geneigte Aufmerksamkeit erbittet. Er liebt Ihre Nichte…« »Ach so!« zischte er mit einer Feindseligkeit hervor, die aus meinem gespielten würdigen Benehmen eines echter Teilnahme werden ließ. Was mochte dieser Ton bedeuten? Und ich fuhr eilig fort: »Er möchte, sofern Sie einverstanden sind, Ihre Nichte bitten, ihn unverzüglich zu heiraten – das heißt, bevor Sie aurechen. Er würde deshalb mit seinem Konsul sprechen.« Hermann setzte sich und zog energisch an seiner Pfeife. Fünf Minuten vergingen mit dieser wütenden Meditation, und dann, die lange Pfeife aus dem Mund nehmend, brach er in eine erbitterte Schmährede gegen Falk aus – gegen seine Habsucht, seine Dummheit (der Bursche war kaum zu bewegen, auf die einfachste Frage mit »ja« oder »nein« zu antworten) – gegen sein schändliches Umspringen mit der Schiffahrt im Hafen (weil er sah, daß alle auf ihn angewiesen waren) – und gegen seine Art zu gehen, die seiner (Hermanns) Meinung nach nur bewies, wie unerträglich eingebildet er war. Der Schaden, den er auf der Diana angerichtet hatte, wurde selbst
verständlich nicht vergessen; und was immer Falk sagte oder tat (sogar die Einladung zu einer Erfrischung neulich im Hotel), war so, daß es einer Beleidigung gleichzukommen schien. »Er hatte doch die Frechheit«, ihn (Hermann) in jene Kaffeestube zu zerren; als könnte ein von ihm spendiertes Glas die siebenundvierzig Dollar und fünfzig Cent Unkosten allein für Holz – die beiden Arbeitstage des Zimmermannes gar nicht gerechnet – wieder gutmachen. Natürlich werde er dem Mädchen nicht im Weg stehen. Er fahre schließlich heim nach Deutschland. Und in Deutschland liefen genug arme Mädchen umher. »Er ist sehr verliebt in Ihre Nichte«, war alles, was ich darauf zu sagen wußte. »Ja«, rief er. »Und es ist höchste Zeit, nachdem er sich und mich an Land ins Gerede gebracht hat, schon auf meiner letzten Reise, als ich hier war, und nun wieder; kommt jeden Abend an Bord, verdreht dem Mädchen den Kopf und sagt nichts. Was ist das für ein Benehmen?« Die siebentausend Dollar, von denen der Bursche immer redete, rechtfertigten seiner Meinung nach solch ein Verhalten nicht. Zudem hatte niemand sie zu sehen bekommen. Er (Hermann) bezweifelte ernstlich, daß Falk auch nur siebentausend Cent besaß. Und der Schlepper war bestimmt bis über den Schornstein mit Hypotheken der Firma Siegers belastet. Aber das möge sein, wie es wolle. Er werde seiner Nichte gewiß nicht im Wege stehen. Ihr Kopf sei so durcheinander, daß sie in der letzten Zeit ohnehin zu nichts mehr nütze war. Gänzlich unfähig, die Kinder abends ohne ihre Tante zu Bett zu bringen. Es sei auch schlecht für die Kinder; sie würden ungebärdig; und gestern habe er tatsächlich Gustav eine Tracht Prügel versetzen müssen. Das wurde offensichtlich gleichfalls Falk zur Last gelegt. Und wenn ich mir Hermanns schweres, gedunsenes, gutmütiges
Gesicht ansah, begriff ich, daß er schon sehr aufgebracht sein mußte, bevor er in Aktion trat, und daß darum die Prügel besonders hart ausfallen würden und er, weil er dick war, diese Notwendigkeit verabscheute. Wie Falk es fertig gebracht hatte, der Nichte den Kopf zu verdrehen, war schwieriger zu begreifen. Ich nehme an, Hermann wußte es. Und dann, war es nicht Miss Vanlo ähnlich ergangen? Es konnte nicht seiner silbrigen Zunge oder seinem subtil verführerischen Benehmen zuzuschreiben sein; er hatte nicht mehr von dem, was »Benehmen« heißt, als ein Tier – das andererseits nie vulgär genannt werden kann. Darum mußte es seine körperliche Erscheinung gewesen sein, die in ihr zum Ausdruck kommende Manneskra, die so gewaltig war wie sein Bart und die wie beständige Grobheit wirkte. Das war schon an der Art abzulesen, wie er sich in einen Stuhl rekelte. Er wollte niemanden verletzen, aber sein Verkehr mit anderen Menschen war durch jene freimütige Mißachtung aller Empfindlichkeiten gekennzeichnet, die einem großen Menschen, der in einer Welt von Zwergen lebt, auf natürliche Weise zukommt, auch wenn er nicht im mindesten unfreundlich zu sein wünscht. Unter Menschen seiner eigenen Statur, oder doch angenähert der seinen, verursachte indessen das unverfrorene Ausnutzen seines Vorteils, beispielsweise im Erheben dieser enormen Schleppgebühren, viel ohnmächtiges Zähneknirschen. Unvoreingenommen beobachtet, erschienen diese Dinge in der Tat bisweilen abstoßend. Er war ein sonderbares wildes Tier. Aber vielleicht mochten Frauen das. So gesehen, war er es schon wert, gebändigt zu werden; und ich glaube, jede Frau hält sich im Grunde ihres Herzens für eine Bändigerin absonderlicher Tiere. Da sprang Hermann jäh von seinem Stuhl auf, um seiner Frau die Neuigkeit mitzuteilen. Ich hatte kaum Zeit, ihn, als er zur Kabinentür stürzte, am Hosenboden festzuhalten. Ich bat ihn, doch zu warten, bis Falk persönlich mit ihm
gesprochen habe. Es sei da noch eine kleine Angelegenheit, die, wenn ich recht verstünde, vorher zu bereden sei. Er setzte sich sogleich wieder, voller Argwohn. »Was für eine Angelegenheit?« fragte er verdrießlich. »Ich habe genug von seinem Unsinn. Da ist keine Angelegenheit. Das weiß er ganz genau. Das Mädchen besitzt nichts auf der Welt. Es kam in seinem dünnen Kleidchen zu uns, als mein Bruder starb, und ich habe eine anwachsende Familie.« »Es kann sich nicht um eine Sache dieser Art handeln«, meinte ich. »Er liebt Ihre Nichte abgöttisch. Ich weiß nicht, warum er sich ihr nicht schon früher erklärt hat. Offengestanden, ich glaube, er tat es deshalb nicht, weil er fürchtete, möglicherweise des Glückes beraubt zu werden, allabendlich hier auf dem Achterdeck in ihrer Nähe zu sitzen.« Ich äußerte meine Überzeugung, Falks Liebe sei so groß, daß sie ihn in gewissem Sinne feige mache. Die Auswirkungen einer großen Leidenscha seien seltsam. Es sei bekannt, daß sie einen Mann furchtsam machen könne. Aber Hermann sah mich bloß an, als phantasierte ich; und das Dämmerlicht schwand rasch. »Sie glauben nicht an Leidenscha, Hermann, nicht wahr?« fuhr ich heiter fort. »Die Leidenscha der Angst kann eine in die Enge getriebene Ratte mutig machen. Falk ist in die Enge getrieben. Er wird Ihnen die Nichte vom Halse schaffen – mit ihrem einen dünnen Kleidchen, so wie sie zu Ihnen kam. Und das nach zehn Jahren Dienst ist kein schlechtes Geschä«, fügte ich hinzu. Weit entfernt davon, beleidigt zu sein, nahm er wieder die Miene bürgerlicher Tugendhaigkeit an. Die Nacht senkte sich auf ihn herab, während er wohlgefällig über das Deck sah, das gebogene Mundstück seiner Pfeife an seine dicken Lippen führte und es dann wieder fortnahm, wenn diese ein Rauchwölkchen hervorbliesen. Die Nacht umfing ihn und begrub
eilig seinen Backenbart, seine Kulleraugen, sein gedunsenes bleiches Gesicht, seine fleischigen Knie und die großen Pantoffeln an seinen väterlichen Füßen. Nur seine kurzen Arme in den wohlanständigen weißen Hemdsärmeln blieben sehr deutlich sichtbar, aufgestützt wie die Flossen eines am Strande liegenden Seehundes. »Falk wollte sich wegen der Reparaturkosten noch nicht binden. Sagte mir, ich solle zunächst feststellen, wieviel Holz ich benötigte, dann werde er weitersehen«, bemerkte Hermann; und nachdem er friedlich in die Dunkelheit ausgespuckt, hörten wir über dem Wasser den Schlag der Radschaufeln des Schleppers näherkommen. Nichts könnte in einer stillen Nacht eindringlicher die Vorstellung wütender, ungestümer Hast hervorrufen als das eilig klappernde Geräusch, das von den Schaufelrädern eines Schiffes ausgeht, welches seinen Kurs durch eine ruhige See nimmt; und Falk schien, getrieben von einer ungeduldigen und leidenschalichen Begierde, seinem Schicksal entgegenzufahren. Die Maschine mußte auf vollen Touren laufen. Wir hörten, wie sie schließlich auf langsam ging, und verschwommen tauchte der weiße Rumpf des Schleppers auf, der sich auf die schwarzen Inseln zubewegte, während sich ein gemächliches, rhythmisches Klatschen, wie von tausend Händen, auf allen Seiten erhob. Es verstummte plötzlich, und gleich darauf brachte Falk sein Schiff längsseits. Einem einzigen brüsken Aufplatschen folgte ein anhaltendes Rasseln eiserner Kettenglieder, die durch die Ankerklüse glitten. Dann senkte sich eine feierliche Stille über die Reede. »Er wird bald hier sein«, murmelte ich; und danach warteten wir, ohne daß ein einziges Wort fiel. Ich hob den Blick und gewahrte das Geflimmer eines weiten, erhabenen Himmels über den Masttoppen der Diana. Unzählige Sterne, versammelt zu Haufen, zu Reihen, zu Linien, zu Massen, zu Gruppen, glänzten alle zugleich, einmütig herab – und die wenigen
vereinzelten, die für sich inmitten dunkler Flecken leuchteten, schienen von höherer Art und von unauslöschlichem Wesen. Aber lange, schwere Schritte waren nun zu hören, die über das Deck hasteten; das hohe Schanzkleid der Diana vertiee noch die Dunkelheit. Wir erhoben uns rasch von unseren Stühlen, und Falk, der ganz in Weiß vor uns auauchte blieb stehen. Zunächst sprach niemand, als hätte sich eine Verwirrung unser aller bemächtigt. Seine Ankun war feurig, aber seine weiße Masse – von unbestimmter Gestalt und ohne Gesicht – ließ ihn wie einen Schneemann aufragen. »Der Kapitän hier hat mir gesagt …« fing Hermann mit seiner gemütlichen, freundlichen Stimme an; und Falk ließ ein leises, nervöses Lachen hören. Seine kühle, nachlässige, dumpfe Stimme kannte keine Modulationen, aber die Gewaltsamkeit einer Empfindung ließ ihn in seiner Rede schweifend werden. Er habe sich immer nach einem Heim gesehnt. Es sei schwierig, allein zu leben, obschon er nicht Schuld daran trage. Er sei häuslich; es habe Mißlichkeiten gegeben; aber seitdem er Hermanns Nichte gesehen, habe er entdeckt, daß es ihm unmöglich geworden sei, länger allein zu leben. »Ich meine – unmöglich«, wiederholte er ohne allen Nachdruck und nach kaum einer Pause; aber das Wort prägte sich mir mit der Gewalt einer neuen Idee ein. »Ich habe noch nichts zu ihr gesagt«, bemerkte Hermann ruhig. Und Falk schob diese Bemerkung mit einem »Schon gut. Gewiß. Ganz in der Ordnung« beiseite. Vollkommene Aufrichtigkeit sei unbedingt notwendig – beim Heiraten vor allem. Hermann schien aufzuhorchen, aber er ergriff gleichwohl die erste Gelegenheit, uns in die Kabine zu bitten. »Und übrigens, Falk«, sagte er einfältig, während wir eintraten, »das Holz kam mich immerhin auf siebenundvierzig Dollar und fünfzig Cent zu stehen.«
Falk, der seinen Hut abnahm, verweilte im Eingang. »Ein andermal«, sagte er; und Hermann versetzte mir zornig einen Rippenstoß – ich weiß nicht, warum. Die Nichte saß allein im Zimmer, ein wenig entfernt vom Tisch, und nähte. Falk blieb in der Tür stehen. Ohne ein Wort, ohne ein Zeichen, ohne die geringste Neigung seines knochigen Kopfes – durch die schweigende Intensität seines Blickes allein schien er ihr seine herkulische Gestalt zu Füßen zu legen. Die Hände sanken ihr langsam in den Schoß, und die klaren Augen hebend, hüllte sie ihn mit ihrem sanen, strahlenden Blick von Kopf bis Fuß in eine behutsame, bleiche Liebkosung. Er war sehr erhitzt, als er sich setzte; sie, mit gesenktem Haupt, fuhr in ihrer Arbeit fort; ihr Hals war schneeweiß im Licht der Lampe; aber Falk, der sein Gesicht unter den Handflächen verbarg, schauderte leicht. Er zog die Hände hinab, bis zum Bart hinab, und die entblößten Augen verblüen mich durch ihren gespannten, leeren Ausdruck – als hätte er soeben einen großen Schluck Alkohol genommen. Der Ausdruck schwand, während er uns zur Verschwiegenheit verpflichtete. Nicht, daß er sich darum kümmere; aber er schätze es nicht, wenn über ihn gesprochen werde; und ich schaute zu dem erstaunlichen, dem wundervollen, dem königlichen Haar der Nichte hinüber, das festgeflochten in jenem einen merkwürdigen, mädchenhaen Zopf zusammengefaßt war. Sobald sie ihren wohlgeformten Kopf bewegte, schaukelte der Zopf steif auf ihrem Rücken hin und her. Der dünne Kattunärmel paßte sich der untadeligen Rundung ihrer Arme an wie eine Haut; und sogar das Kleid, das sich über ihrer Brust spannte, schien wie lebendes Gewebe zu atmen unter der machtvollen Vitalität, die ihren Körper erfüllte. Wie gut ihre Gesichtsfarben waren, der Umriß ihrer weichen Wange und die kleine gewundene Muschel ihres rosigen Ohres! Um die Nadel besser durchziehen zu können, hielt sie den kleinen Finger ein wenig abgespreizt; es schien eine
Kravergeudung, sie dort nahen zu sehen – ewig nähen – mit dieser emsigen und genauen Bewegung ihres Armes, die sie ewig, auf allen Meeren, unter allen Himmelsstrichen, in unzähligen Häfen, fortzusetzen schien. Und plötzlich hörte ich Falks Stimme sagen, er könne nicht eine Frau heiraten, es sei denn, sie wisse um etwas in seinem Leben, das sich vor zehn Jahren zugetragen habe. Es sei ein Unfall gewesen. Ein unglückseliger Unfall. Er würde die häuslichen Anordnungen ihres Heimes beeinträchtigen, aber einmal zur Sprache gebracht, brauchte er für den Rest des Lebens nicht wieder erwähnt werden. »Ich möchte, daß meine Frau mit mir fühlt«, sagte er. »Es hat mich unglücklich gemacht.« Und wie könne er das Wissen darum für sich behalten – fragte er uns – vielleicht durch Jahre und Jahre der Gemeinsamkeit hin? Was wäre das für eine Gemeinsamkeit? Er habe darüber nachgedacht. Eine Frau müsse Bescheid wissen. Warum dann nicht gleich? Er zähle auf Hermanns Freundlichkeit, die Angelegenheit im bestmöglichen Licht erscheinen zu lassen. Und Hermanns Gesichtsausdruck, der vorher schon ratlos gewesen war, wurde sehr grämlich. Er warf mir verstohlen einen fragenden Blick zu. Ich schüttelte hilflos den Kopf. Manche meinten, fuhr Falk fort, daß ein solches Erlebnis einen Menschen für den Rest seines Lebens verändere. Er wisse es nicht. Es sei hart, schrecklich und unvergeßlich, aber er halte sich nicht für einen schlechteren Menschen als vordem. Nur – bisweilen rede er jetzt im Schlaf, glaube er … Schließlich kam mir der Gedanke, er habe durch Zufall jemanden getötet, vielleicht einen Freund – gar seinen leiblichen Vater. Doch er fuhr fort, wir wüßten wahrscheinlich, daß er nie Fleisch anrühre. Die ganze Zeit sprach er englisch, natürlich meinetwegen. Er schwankte wuchtig nach vorn. Die Nichte, ihre Hände zu den fahlen Augen erhoben, fädelte
ihre Nadel ein. Er sah sie an, und sein mächtiger Leib beschattete den Tisch, während seine breiten Schultern uns näherkamen, sein starker Nacken und jener unwahrscheinliche, anachoretenhae Kopf, der gedörrt schien in einer Wüste, ausgehöhlt und hager von übermäßigen Nachtwachen und Fasten. Sein Bart floß eindrucksvoll hinab, dem Blick entgleitend zwischen seinen braunen Händen, die die Tischkante umklammert hielten, und sein beharrlicher Blick, den die erweiterten Pupillen verdüsterten, faszinierte uns. »Stellen Sie sich vor«, sagte er mit seiner gewöhnlichen Stimme, »ich habe Mensch gegessen.« Ich vermochte nur ein schwaches »Ach!« vollkommenen Begreifens auszustoßen. Hermann hingegen, der wie betäubt war von dem Schock, murmelte nun wirklich: »Himmel! Wozu das!« »Das zu tun, war mein schreckliches Unglück«, sagte Falk mit gemessen leiser Stimme. Die Nichte nähte ahnungslos weiter. Frau Hermann war nicht zugegen. Sie befand sich in einer der Kabinen an Lenas Bett, die fieberte. Aber Hermann fuhr plötzlich ruckha mit beiden Händen in die Höhe. Die gestickte Kappe fiel ihm vom Kopf, und im Handumdrehen hatte er sein Haar auf die wüsteste Weise zerrau, so daß es nach allen Seiten abstand. In dieser Gemütsverfassung versuchte er zu sprechen; bei jeder neuen Anstrengung schienen seine Augen weiter aus ihren Höhlen vorzuquellen; sein Kopf sah wie ein Puschel aus. Er würgte, keuchte, schluckte und brachte schließlich schreiend das eine Wort hervor: »Bestie!« Von nun an bis zu seinem Fortgehen aus der Kabine wandte die Nichte, deren Hände gefaltet auf ihrer Arbeit im Schoß lagen, keinen Blick mehr von Falk. Sein eigener irrte, in der Blindheit seines Herzens, über den ganzen Raum hin, und suchte nur das Bild von Hermanns Toben zu vermeiden. Es
war lächerlich und wurde beinahe furchtbar durch die Stille, in der alle sonst verharrten. Es war verächtlich, abstoßend, weil des Mannes übermächtiges Grauen vor solch schrecklicher Aufrichtigkeit zum Vorschein kam – vor einer Aufrichtigkeit, die unvermittelt Solches gestehen konnte. Er ging mit großen Schritten auf und ab; er keuchte. Er wollte wissen, wie Falk es wagen könne, herzukommen und ihm das zu sagen? Halte er sich für berechtigt, hier in dieser Kabine zu sitzen, wo seine Frau und seine Kinder lebten? Solle er, Hermann, das seiner Nichte sagen? Erwarte er von ihm, daß er das seiner Nichte sage? Der Tochter seines leiblichen Bruders! Schamlos! Ob ich je von solcher Unverschämtheit gehört hätte? – er wandte sich an mich. »Dieser Mann solle gehen und sich vor den Blicken verbergen, anstatt …« »Aber es ist ein großes Unglück für mich. Aber es ist ein großes Unglück für mich«, rief Falk von Zeit zu Zeit dazwischen. Hermann indessen rannte weiter auf und ab und stieß gegen die Ecken des Tisches. Schließlich verlor er einen Pantoffel und trat, die Arme übereinandergeschlagen, mit einem bestrumpen Fuß sehr dicht an Falk heran, um ihn zu fragen, ob er meine, es gebe irgendwo auf Erden eine Frau, die verworfen genug sei, sich solch einem Ungeheuer anzutrauen. »Denke er das? denke er, denke er das?« Ich versuchte, ihn zu beschwichtigen. Er riß sich aus meinen Händen los; er fand seinen Pantoffel, und während er versuchte, ihn anzuziehen, polterte er, auf einem Bein stehend, weiter – und Falk preßte mit ungerührtem Gesicht und abgewandtem Blick seinen mächtigen Bart in seiner riesigen Hand zusammen. »Wäre es denn richtig gewesen, ich wäre selbst gestorben?« fragte er nachdenklich. Ich legte meine Hand auf seine Schulter. »Gehen Sie«, flüsterte ich gebieterisch, ohne irgendeinen kla
ren Grund für diesen Rat zu haben, außer den, daß ich Hermanns abstoßendem Gezeter ein Ende machen wollte. »Gehen Sie.« Er sah einen Augenblick forschend Hermann an, bevor er aufbrach. Ich verließ mit ihm die Kabine, um ihn vom Schiff zu geleiten. Aber er zögerte auf dem Achterdeck. »Das ist mein Unglück«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Es war töricht von Ihnen, die Sache in dieser Art hinauszuschreien. Schließlich hören wir solche Geständnisse nicht alle Tage.« »Was meint der Mann?« sagte er sinnend mit tiefer Stimme. »Einer mußte sterben – aber warum ich?« Eine Weile verharrte er unbeweglich in der Dunkelheit – schweigend; beinahe unsichtbar. Plötzlich packte er mich an den Ellenbogen und preßte sie gegen meinen Leib. Ich fühlte mich gänzlich wehrlos in seinem Griff, und seine Stimme, die dicht an meinem Ohr flüsterte, zitterte. »Es ist schlimmer als Hunger. Kapitän, wissen Sie, was das heißt? Ich konnte töten damals – oder getötet werden. Ich wünschte, das Brecheisen hätte meinen Schädel zertrümmert, vor zehn Jahren. Und jetzt soll ich leben. Ohne sie. Begreifen Sie das? Vielleicht viele Jahre. Aber wie? Was läßt sich tun? Wenn ich mir schon erlaubte, sie einmal anzusehen, hätte ich sie in meinen Händen davontragen sollen vor den Augen dieses Mannes – so.« Ich fühlte mich vom Deck hochgehoben, dann plötzlich wieder fallen gelassen – und ich stolperte zurück, fühlte mich verwirrt, zerschlagen. Welch ein Mann! Alles war still; er war gegangen. Ich hörte Hermanns Tiraden und ging hinein. Zunächst verstand ich kein Wort; aber Frau Hermann, die, angezogen von dem Lärm, vor einer Weile schon hereingekommen war und der ein Ausdruck des Staunens und milden Vorwurfs deutlich ins Gesicht geschrieben stand, bekundete
nun Anzeichen tiefer, hilfloser Unruhe. Ihr Gemahl schleuderte ihr eine Reihe kehliger Worte entgegen, und sogleich streckte sie eine Hand nach dem Schott aus, wie um nicht hinzufallen, mit der anderen Hand griff sie sich an den lockeren Ausschnitt ihres Kleides. Er redete mit einem unglaublichen Wortschwall auf die beiden Frauen ein. Das Hemd hing ihm aus der Hose, er stampe mit dem Fuß auf, wandte sich von einer Frau zur anderen, warf mitunter die Arme hoch, schlug die Hände über dem arg zerzausten Kopf zusammen und verharrte in dieser Stellung, während er eine Salve lauter Drohungen hervorsprudelte; oder aber er kreuzte die Arme fest über seiner Brust – und zischte dann vor Entrüstung, zog die Schultern in die Höhe und schob den Kopf vor. Die Nichte weinte. Sie hatte nicht ihre Haltung geändert. Aus ihren ruhigen Augen, die Falk beim Hinausgehen gefolgt waren und seitdem sehnsüchtig der Kabinentür zugewandt geblieben waren, fielen rasch die Tränen, flössen auf ihre Hände, auf die Arbeit in ihrem Schoß, warm und mild wie ein Regenschauer im Frühjahr. Sie weinte ohne Gesichtsverzerrung, ohne Geräusch – sehr rührend, sehr still, mit einem Ausdruck mehr des Erbarmens als des Schmerzes auf ihrem Antlitz; wie einer eher aus Mitleid denn aus Kummer Tränen vergießt – und Hermann, vor ihr, redete. Ich fing mehrere Male das Wort »Mensch« auf; und auch »fressen«, das ich später in meinem Lexikon nachschlug. Hermann schien von ihr eine Antwort zu fordern; sein ganzer Leib schwankte. Sie blieb stumm und vollkommen unbeweglich; schließlich schien seine Erregung auf sie überzugreifen; sie legte ihre Hände zusammen, ihre vollen Lippen öffneten sich, kein Laut kam hervor. Seine Stimme schalt schrill, die Arme bewegten sich wie Windmühlenflügel – plötzlich drohte er ihr mit geballter Faust. Sie brach in lautes Schluchzen aus. Er schien wie betäubt.
Frau Hermann stürzte hastig plappernd dazwischen. Die beiden Frauen fielen einander um den Hals, und den einen Arm um die Hüe ihrer Nichte gelegt, führte Frau Hermann sie fort. Auch aus ihren Augen stürzten Tränen; ihr Gesicht schwamm. Nach mir zurückblickend, schüttelte sie verneinend den Kopf; weshalb, weiß ich bis zum heutigen Tage nicht zu sagen. Der Kopf des Mädchens lehnte schwer an ihrer Schulter. Sie verschwanden zusammen. Dann setzte sich Hermann und starrte auf den Kabinenboden. »Wir kennen nicht die näheren Umstände«, wagte ich das Schweigen zu brechen. Er erwiderte barsch, ihm liege nichts daran, sie kennen zu lernen. Nach seiner Auffassung konnten Umstände nicht ein Verbrechen entschuldigen – und schon gar nicht solch ein Verbrechen. Das entsprach der herrschenden Meinung. Es war Pflicht eines Menschen, zu verhungern. Darum war Falk ein Vieh, ein Tier; gemein, niedrig, schmutzig, verächtlich, schamlos, hinterlistig. Er hatte ihn seit letztem Jahr getäuscht. Andererseits neigte er zu der Auffassung, Falk habe vor kurzem den Verstand verloren; denn kein vernüniger Mensch gäbe ohne Zwang, ohne Sinn und Verstand, ohne ersichtlichen Grund und ohne Rücksicht auf die Selbstachtung und den Seelenfrieden anderer zu, er habe Menschenfleisch vertilgt. »Warum es sagen?« rief er. »Wer hat ihn danach gefragt?« Das zeige nur, von welcher Brutalität Falk sei; denn habe er ihm (Hermann) nicht selbstsüchtig argen Schmerz zugefügt? Er hätte vorgezogen, nicht zu wissen, daß solch ein unreines Wesen seine Kinder gestreichelt habe. Er hoffe nur, ich erwähne nichts von alledem an Land. Es wäre ihm peinlich, wenn ruchbar würde, daß er sich mit einem, der Menschen aß, eingelassen habe – einem gemeinen Kannibalen. Was die Szene anlange, die er selber aufgeführt (und die ich als gänzlich unnötig betrachtete), so denke er nicht daran, ihretwegen verlegen zu sein und sich Zwang anzutun eines
Burschen wegen, der dahergelaufen kam, um Mädchen den Hof zu machen und den Kopf zu verdrehen, während er genau wußte, daß kein anständiges, hausfrauliches Wesen ihn heiraten werde. Er (Hermann) jedenfalls könne sich nicht vorstellen, daß sich ein Mädchen dazu hergäbe. »Denken Sie, Lena!… Nein, es ist unmöglich. Was den Frauen jedesmal durch den Kopf gehen müßte, wenn sie sich zu Tisch setzten. Furchtbar! Furchtbar!« »Sie sind zimperlich, Hermann«, sagte ich. Er schien zu denken, es sei nur schicklich, zimperlich zu sein, wenn dieses Wort Abscheu vor Falks Aufführung bedeute; und mit einem sentimentalen Augenaufschlag lenkte er meine Aufmerksamkeit auf das entsetzliche Schicksal der Opfer – der Opfer dieses Falk. Ich sagte, ich wisse nichts über sie. Er schien erstaunt. Könnte sich nicht jedermann ihr Schicksal ausmalen, ohne etwas zu wissen? Er – beispielsweise – fühle in sich das Bedürfnis, sie zu rächen. Aber wie – fragte ich –, wenn es gar keine gegeben habe? Sie mochten ebenso gut eines natürlichen Todes gestorben sein – vor Hunger. Er schauderte. Aber gegessen zu werden – nach dem Tod! Gefressen! Er schauderte noch einmal und fragte unvermittelt: »Halten Sie es für wahr?« Seine Entrüstung und seine Person zusammen hätten genügt, die Realität auch des Verbürgtesten fragwürdig erscheinen zu lassen. Wenn ich ihn ansah, kamen mir Zweifel an der Geschichte. Aber die Erinnerung an Falks Worte, Blicke, Gebärden verlieh ihr nicht nur die Atmosphäre des Realen, sondern auch das Gepräge gültiger Wahrheit, ursprünglicher Leidenscha, »Es ist so wahr, wie Sie fähig sind, es als wahr zu begreifen, und in der Weise, wie zu begreifen Sie belieben. Was mich betri, so glaube ich, wenn ich Ihr Geschrei höre, nicht im mindesten an dessen Wahrheit.«
Ich ließ ihn über meine Worte nachdenken und ging. Die Matrosen in meiner Gig, die unten an der Lotsentreppe der Diana lag, berichteten mir, der Kapitän des Schleppers sei vor einiger Zeit davongefahren. Ich ließ meine Leute einen langsamen Schlag rudern. Wegen des schweren Taues schien der klare Glanz der Sterne kalt und nässend auf mich herabzufallen-. Eine Ahnung schauerlichen Grauens hatte mich beschlichen, und sie war durchwoben mit deutlichen und grotesken Bildern. Schombergs gastronomischem Geschwätz war das zuzuschreiben; und ich hoe halb, Falk nie wieder zu sehen. Aber das erste, das meine Ankerwache mir meldete, war, der Kapitän des Schleppers sei an Bord. Er habe sein Boot fortgeschickt und warte auf mich in der Kabine. Er lag ausgestreckt auf der Kajütsbank, das Gesicht in die Kissen gedrückt. Ich hatte erwartet, daß sein Gesicht verstört, verzerrt, verzweifelt wirke. Nichts dergleichen; es war genau so, wie ich es schon zwanzig Mal gesehen hatte, wenn es ruhig und starr von der Brücke des Schleppers herüberblickte. Es war unbeweglich in seinen Zügen und hungrig, beherrscht, wie der ganze Mann, von der Ausschließlichkeit eines Instinktes. Er wollte leben. Immer hatte er leben wollen. Wir wollen das alle – nur fügt sich bei uns der Instinkt in ein komplexes Erfahrensmuster, während in ihm dieser Instinkt allein existierte. In solch einfacher Entfaltung liegt eine gewaltige Macht, ähnlich dem Pathos in der naiven, unbeherrschten Begierde eines Kindes. Er wollte dieses Mädchen, und das Äußerste, das zu seinen Gunsten gesagt werden könnte, ist, daß er ausschließlich dieses Mädchen wollte. Mich dünkt, ich erblickte damals den dunklen Anfang, das Keimen des Samens im Boden unbewußter Triebe, den ersten Schößling jenes Baumes, der jetzt einer reifen Menschheit Blüte und Frucht
unserer wählerischen Liebe in ihren unendlichen Schattierungen von Farbe und Aroma trägt. Er war ein Kind. Er war auch offenherzig wie ein Kind. Er war hungrig nach dem Mädchen, entsetzlich hungrig, wie er entsetzlich hungrig nach Nahrung gewesen war. Erschrecken Sie nicht, wenn ich sage, daß es meiner Meinung nach derselbe Trieb, derselbe Schmerz, dieselbe Folter ist. Uns ist verstattet, an seinem Fall die Grundlage aller Emotionen zu studieren – jene eine Freude, die Leben ist, und jene eine Trauer an der Wurzel der unzähligen Qualen dieses Lebens. Das zeigte sich an der Art, wie er sprach. Noch nie habe er derart gelitten. Es zehre an ihm, es sei Feuer; es sitze dort, so! Er deutete unter sein Brustbein und vollführte mit den Händen die Bewegung des Auswringens. Und ich versichere Ihnen – wie ich es mit diesen meinen leiblichen Augen sah, war das alles andere als lächerlich. Und dann wieder (in Anspielung an ein früheres Ereignis auf jener unheilvollen Reise, als verdorbenes Fleisch über Bord geworfen werden mußte), sagte er, daß alsbald die Zeit kam, da sein Herz schmerzte (das war sein Ausdruck) und er sich am liebsten die Haare ausgerau hätte beim Gedanken an all das verfaulte Rindfleisch, das fortgeworfen worden war. Ich hörte das alles an; wurde Zeuge seines physischen Ringens, sah seine Folterqualen, vernahm die Stimme der Pein. All dessen wurde ich geduldig Zeuge, denn im Augenblick, da ich in die Kabine trat, forderte er mich auf, zu ihm zu halten – wie ich anscheinend, diplomatisch, versprochen hatte. Seine Erregung war beeindruckend und beunruhigend in dem kleinen Raum, wie das Umsichschlagen eines großen, in eine seichte Bucht getriebenen Wales. Er stand auf; er warf sich längelang hin; versuchte mit den Zähnen das Kissen zu zerreißen, drückte es dann wieder ungestüm gegen sein Gesicht
und ließ sich schließlich auf das Sofa fallen. Das ganze Schiff schien die Erschütterung seiner Verzweiflung zu spüren; und ich betrachtete, wundersam berührt, die hohe Stirn, die noblen Spuren der Zeit an seinen freien Schläfen, den unverändert hungrigen Ausdruck des Gesichtes – das so sonderbar asketisch war und so unfähig, eine Gefühlsregung zu spiegeln. Was sollte er tun? Daß er ihr nah war, hatte ihn leben lassen. Er hatte dort gesessen – des Abends – wisse ich es nicht? – sein ganzes Leben! Sie nähte. Ihr Haupt war gebeugt – so. Ihr Haupt – in dieser Weise – und ihre Arme. Ah! Hatte ich die nicht gesehen? Diese Arme. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen, neigte den mächtigen, geröteten Nacken und stichelte mit den Fingern in die Lu – absurd, grandios, unsinnig und begreiflich. Und nun sollte er sie nicht haben? Nein! Das war zuviel. Und auch noch, nachdem er … Was hatte er denn getan? Was riete ich ihm? Sie mit Gewalt fortzuführen? Nein? Müsse er es nicht tun? Wer sollte ihn hindern? Zum ersten Mal gewahrte ich eine Bewegung seiner Gesichtszüge: ein kämpferisches, zähnebleckendes Kräuseln der Lippen … »Hermann doch nicht etwa?« Er verlor sich in Gedanken, als wäre er der Welt entglitten. Ich möchte erwähnen, daß der Gedanke an Selbstmord ihm offenbar nie in den Sinn gekommen ist. Einer Eingebung folgend, fragte ich: »Wo hat dieser Schiruch stattgefunden?« »Unten im Süden«, sagte er ungenau und fuhr auf. »Sie sind hier nicht unten im Süden«, sagte ich. »Gewalt nutzt hier nichts. Man würde sie Ihnen sehr bald wieder fortnehmen. Und wie hieß das Schiff?« »Borgmester Dahl«, sagte er. »Es war kein Schiruch.«
Er schien nach und nach aus dem Trance-Zustand zu erwachen, beruhigt zu erwachen. »Kein Schiruch? Was dann?« »Maschinenschaden«, antwortete er und kam mehr und mehr zu sich. Nur so erfuhr ich, daß es sich um einen Dampfer handelte. Ich hatte bisher angenommen, sie seien in Rettungsbooten oder auf einem Floß verhungert – oder vielleicht auf einem nackten Felsen. »Sie sank demnach gar nicht?« fragte ich erstaunt. Er nickte. »Wir sichteten das südliche Eis«, sagte er träumerisch. »Und Sie allein überlebten?« Er setzte sich. »Ja. Es war ein furchtbares Unglück für mich. Alles ging zu Grunde. Die Mannscha ging zu Grunde. Ich überlebte.« In Gedanken an all das, was man so liest, fiel es mir schwer, die wahre Bedeutung seiner Antworten zu erfassen. Ich hätte sie begreifen müssen, unverzüglich – aber ich tat es nicht; wie schwer fällt es unserem Verstand, der so vieles erinnert, so ausgiebig instruiert und informiert ist, in Berührung zu treten mit der Wirklichkeit vor uns. Und mit meinem Kopf voller vorgefaßter Ansichten, wie einem Fall von »Kannibalismus und Leiden auf See« zu begegnen sei, sagte ich: »Sie waren immerhin recht glücklich beim Ziehen Ihres Loses.« »Ziehen eines Loses?« fragte er. »Welchen Loses? Meinen Sie, ich hätte über mein Leben durchs Los entscheiden lassen?« Nicht, wenn es sich umgehen ließ, erkannte ich, gleichgültig, wie viele andere Leben dabei drauf gingen. »Es war ein großes Unglück. Schrecklich. Furchtbar«, sagte er. »Viele gingen zu Grunde, aber die Besten wollten leben.« »Die Zähesten, meinen Sie«, sagte ich. Er bedachte das Wort. Vielleicht war es ihm fremd, obschon sein Englisch gut war.
»Ja«, gab er schließlich zu. »Die Besten. Am Ende dachte jeder nur an sich selbst, und das Schiff mochte zu allem taugen.« So bekam ich von Frage zu Frage die ganze Geschichte zu hören. Ich glaube, nur auf diese Weise konnte ich in jener Nacht zu ihm halten. Äußerlich zumindest war er wieder er selbst; erstes Anzeichen hierfür war die Rückkehr seiner unangemessenen Angewohnheit, sich mit beiden Händen über das Gesicht zu fahren – und nun hatte sie ihre Bedeutung: in jenem leisen Erschauern der ganzen Gestalt und der leidenschalichen Gequältheit dieser Hände, die ein hungerndes, regloses Gesicht freilegten, in den weiten Pupillen dieser durchdringenden, stillen faszinierenden Augen. Es war ein Eisendampfer von höchst achtbarer Herkun. Der Bürgermeister von Falks Vaterstadt hatte ihn gebaut. Er war der erste Dampfer, der je dort vom Stapel gelaufen war. Die Tochter des Bürgermeisters hatte ihn getau. Landleute waren meilenweit auf ihren Wagen hereingekommen, um das Schiff anzustaunen. Das alles erzählte er mir. Er erhielt die Stelle des Ersten Steuermannes, wie wir sagen würden. Er schien sehr stolz auf sie zu sein; und dieser das Leben inbrünstig Liebende stammte aus einer angesehenen Familie, dort in seinem Winkel der Welt. Der Bürgermeister hatte fortschrittliche Schiffahrtsideen. Zu jener Zeit verfügten nicht viele über genügend Kenntnisse, um darauf zu verfallen, einen Frachtdampfer in den Pazifik zu schicken. Aber er belud das Schiff mit Pitch-Pine-Brettern und schickte es in See, auf daß es sein Glück versuche. Wellington sollte, glaube ich, der erste Hafen sein. Aber das besagt nichts, denn auf ° südlicher Breite und ungefähr auf halbem Weg zwischen Kap der Guten Hoffnung und Neuseeland brach die Propellerwelle, und das Schiff verlor die Schraube. Sie fuhren gerade mit frischem Backstagswind unter vollen
Segeln, um die Maschine zu entlasten. Aber die Segel allein vermochten das Schiff nicht in Fahrt zu halten. Als sich die Schraube löste, luvte das Schiff sogleich auf, und die Masten wurden über Bord gefegt. Das Übel der Entmastung lag vor allem darin, daß sie nun nicht mehr in der Lage waren, mit Flaggen ein Notsignal zu geben, um sich auf größere Entfernung bemerkbar zu machen. Im Laufe der ersten Tage fuhren mehrere Schiffe an ihnen vorbei, ohne sie zu sichten, und der Wind trieb sie von der üblichen Seeroute ab. Die Reise war von Anfang an weder sehr erfolgreich noch sehr harmonisch verlaufen. Es hatte an Bord Zänkereien gegeben. Der Kapitän war ein schlauer, melancholischer Mensch, der seine Mannscha nicht übermäßig fest im Griff hatte. Das Schiff war zwar für die Überfahrt reichlich mit Proviant versehen worden, aber schon bald nach dem Auslaufen erwiesen sich einige Fleischfässer beim Öffnen als verdorben und mußten aus Gründen der Hygiene über Bord geworfen werden. Später erinnerte sich die Mannscha des Borgmester Dahl dieses verfaulten Fleisches mit Tränen des Verdrusses, der Gier und der Verzweiflung. Das Schiff trieb südwärts. Zunächst hatte noch ein Schein von Ordnung geherrscht, aber bald lockerten sich die Bande der Disziplin. Ein grimmiger Müßiggang war die Folge. Mit trüben Blicken starrten die Männer den Horizont an. Die Sturmböen nahmen zu; das Schiff befand sich in einem Tief, und die Brecher fegten über Deck. Eines Nachts, als sie schon damit rechneten, das Schiff werde jeden Augenblick kentern, ging ein schwerer Brecher über Deck, überflutete den Vorratsraum und verdarb den größten Teil des noch verbliebenen Proviants. Anscheinend war die Luke nicht richtig gesichert gewesen. Dieses Beispiel von Fahrlässigkeit ist bezeichnend für die allgemeine Entmutigung, die an Bord herrschte. Falk versuchte, seinen Kapitän ein wenig anzufeuern, aber vergebens.
Von jener Zeit an zog er sich mehr und mehr in sich zurück und versuchte, das Beste aus der Lage zu machen. Diese verschlimmerte sich indessen nur noch. Ein Sturm folgte dem andern, und schwarze Wasserberge rannten gegen die Borgmester Dahl an. Einige Matrosen verließen gar nicht mehr ihre Kojen; viele wurden streitsüchtig. Der Obermaschinist, ein alter Mann, weigerte sich, überhaupt noch mit jemandem zu reden. Andere schlössen sich ein und weinten. An ruhigen Tagen schlingerte der Dampfer träge auf einer bleiernen See unter düsterem Himmel dahin oder zeigte im Sonnenschein den Schmutz und Unrat des Meeres an sich, die weißen Salzspuren, den Rost, die zerbrochenen Blechteile. Dann kamen wieder die Stürme. Sie hielten Seele und Leib zusammen bei mageren Rationen. Einmal versuchte ein im Sturm lenzendes englisches Schiff beherzt, im Lee von ihnen beizudrehen. Die Wellen spülten über die Decks; die Matrosen in ihren Ölanzügen klammerten sich an das Tauwerk und blickten zu ihnen herüber; und sie selbst machten verzweifelte Zeichen über ihr zerschlagenes Schanzkleid hinweg. Plötzlich flog in einer fürchterlichen Sturmbö das Großsegel mitsamt Rah und allem davon; das Schiff mußte mit nackten Masten abhalten und verschwand. Andere Schiffe hatten sie schon vorher angesprochen, aber zunächst hatten sie es abgelehnt, sich übernehmen zu lassen, hoffend auf Unterstützung durch einen vorüberkommenden Dampfer. Es fuhren in jenen Breiten damals nur wenige Dampfschiffe; und als sie schließlich diesen treibenden Kadaver verlassen wollten, kam kein Schiff mehr in Sicht. Sie waren nach Süden getrieben und dem menschlichen Kenntnisbereich entschwunden. Die Aufmerksamkeit eines einsamen Walfangschiffes auf sich zu ziehen, mißlang ihnen: und bald darauf erhob sich der Rand der antarktischen Tafeleisberge vor ihnen aus dem Meer und schloß den südlichen Horizont wie
eine Mauer ab. Eines Morgens entdeckten sie zu ihrem Schrecken, daß sie sich zwischen treibenden Eisschollen befanden. Aber die Furcht unterzugehen schwand wie ihre Lebenskra, wie ihre Hoffnung; die Stöße der Eisschollen, die gegen den Schiffsrumpf prallten, vermochten sie nicht aus ihrer Lethargie aufzurütteln; und die Borgmester Dahl trieb wieder unbeschädigt hinaus ins freie Gewässer. Sie bemerkten kaum den Unterschied. Der Schornstein war in einer schweren See über Bord gegangen; zwei der drei Rettungsboote waren verschwunden, fortgespült in stürmischem Wetter; die Davits schwangen unbefestigt hin und her, und die zerfaserten Taue pendelten im Seegang. Nichts wurde mehr getan an Bord; und Falk erzählte mir, wie er o auf das schwappende Wasser im Maschinenraum gelauscht habe, wo die für immer abgestellte Maschine langsam zu einem Haufen Rost zerfiel, so wie ein stehengebliebenes Herz in einem leblosen Körper langsam sich auflöst. Anfangs, nach dem Verlust der Antriebskra, war die Ruderpinne durch Tauwerk gründlich befestigt worden, aber im Laufe der Zeit war dieses verfault, zerfasert, verrottet und hatte sich nach und nach aufgelöst; und das befreite Ruder schwang nun Tag und Nacht wuchtig hin und her und erschütterte den ganzen Bau des Schiffes. Das war gefährlich. Niemand indessen machte sich die Mühe, deshalb auch nur den kleinen Finger zu rühren. Er sagte mir, noch heute gelegentlich, wenn er nachts aufwache, bilde er sich ein, die dumpf dröhnenden Schläge zu hören. Die Drehbolzen wurden herausgerissen, und schließlich fiel das Ruder ab. Die endgültige Katastrophe ereignete sich, als das letzte ihnen verbliebene Rettungsboot ausgesandt werden sollte. Falk war es zu danken gewesen, daß es bisher intakt erhalten geblieben war, und nun kam man überein, daß einige der Leute in ihm auf die Schiffahrtsroute zurücksegeln sollten, um nach Bei
stand Ausschau zu halten. Das Boot wurde mit allem Proviant ausgerüstet, den man für die sechs Mann, die fahren sollten, entbehren konnte. Man wartete einen schönen Tag ab. Der kam lange nicht. Schließlich ließen sie eines Morgens das Boot zu Wasser. Sogleich brach Unruhe in diesem demoralisierten Haufen aus. Zwei Matrosen, die dort nichts zu suchen hatten, waren in das Boot gesprungen unter dem Vorwand, die Taljen loszuhaken, während an Deck irgendein Gezänk unter dieser schwachen klapprigen Gepensterschar von einer Schiffsmannscha ausbrach. Der Kapitän, der seit Tagen eingeschlossen und unnahbar im Navigationsraum gelebt hatte, kam an die Reling. Er befahl den beiden Matrosen, an Bord heraufzukommen, und drohte ihnen mit dem Revolver. Sie gaben vor zu gehorchen, aber plötzlich kappten sie die Bootsleine, stießen vom Schiffsrumpf ab und machten sich daran, das Segel zu setzen. »Schießen Sie, Sir! Schießen Sie die beiden nieder!« rief Falk»und ich springe über Bord und hole das Boot zurück.« Aber der Kapitän, der schon mit unentschlossenem Arm gezielt hatte, drehte sich um. Ein Wutgeheul erhob sich. Falk stürmte in seine Kabine, um seine eigene Pistole zu holen. Als er zurückkam, war es zu spät. Zwei weitere Matrosen waren ins Wasser gesprungen, doch die Leute im Boot wehrten sie mit den Rudern ab, setzten das Luggersegel und fuhren davon. Nie wieder hat man etwas von ihnen gehört. Bestürzung und Verzweiflung herrschten unter der verbliebenen Schiffsmannscha, bis sich wieder die Stumpeit schierer Hoffnungslosigkeit durchsetzte. An jenem Tag beging ein Heizer Selbstmord. Er kam an Deck gestürzt, nachdem er sich die Kehle von einem Ohr zum anderen durchgeschnitten hatte, zum Schrecken der Mannscha. Er wurde über Bord geworfen. Der Kapitän hatte sich in den Navigationsraum ein
geschlossen, und Falk, der vergeblich anklope und Einlaß begehrte, hörte ihn ein um das andere Mal die Namen seiner Frau und Kinder aufsagen, aber nicht so, als wende er sich an sie oder empfehle sie Gottes Huld, sondern mit leiernder Stimme, wie eine Gedächtnisübung. Am nächsten Tag schwangen die Türen des Navigationsraumes im Seegang hin und her, und der Kapitän war verschwunden. Er mußte während der Nacht ins Meer gesprungen sein. Falk verschloß beide Türen und nahm die Schlüssel an sich. Das geordnete Leben auf dem Schiff hatte aufgehört. Das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Männern war verschwunden. Sie wurden einander gleichgültig. Falk hatte die Verteilung der wenigen noch vorhandenen Nahrungsmittelvorräte selbst in die Hand genommen. Bisweilen hörte man Haßgezischel zwischen den matten Skeletten, die da endlos hin und her schlichen nach Nord und Süd, Ost und West auf diesem Schiffskadaver. Und hierin liegt das groteske Grauen dieser düsteren Geschichte. Die äußerste, die Todesnot, wenn sie den Seemann in einem kleinen Boot, einem schwachen Fahrzeug ereilt, scheint leichter zu ertragen wegen der unmittelbaren Gefahr des Meeres. Der beengte Raum, die Körpernähe, die drohende Gewalt der Wellen scheinen die Menschen zusammenzunehmen, trotz Wahnsinn, Leiden und Verzweiflung. Aber hier handelte es sich um ein Schiff – sicher, bequem, geräumig: ein Schiff mit Betten, Bettzeug, Messern, Gabeln, wohl ausgestatteten Kabinen, Kristall, Porzellan und kompletter Küchenausrüstung –, in dem das erbarmungslose Gespenst des Hungertodes umging, regierte und Besitz ergriff. Das Lampenöl war ausgetrunken, die Dochte waren zu Nahrungszwecken zerschnitten, die Kerzen aufgegessen. Nachts trieb das Schiff, finster in allen seinen Schlupfwinkeln und voller Ängste dahin. Eines Tages stieß Falk auf einen Mann, der an
einem Scheit Kiefernholz nagte. Plötzlich warf er das Holzstück fort, schwankte an die Reling und fiel hinüber. Falk, der zu spät kam, um es zu verhüten, sah, wie der Mann sich verzweifelt an der Schiffswand festzukrallen versuchte, bevor er versank. Am nächsten Tag tat ein anderer dasselbe, nachdem er fürchterliche Verwünschungen ausgestoßen hatte. Aber diesem gelang es irgendwie, die zerrissene Ruderkette zu erwischen, und dort hing er schweigend. Falk machte sich daran, ihn zu retten, und die ganze Zeit sah ihn der Mann, der sich mit beiden Händen festhielt, aus seinen eingesunkenen Augen angstvoll an. Dann, da Falk die Hand nach ihm ausstreckte, ließ der Mann die Kette los und versank wie ein Stein. Falk dachte über diese Bilder nach. Sein Herz revoltierte gegen das Grauen des Todes, und er sagte sich, daß er um jede kostbare Minute seines Lebens kämpfen werde. Eines Nachmittags – als die Überlebenden auf dem Achterdeck umherlagen – sprach der Schiffszimmermann, ein großer Mensch mit schwarzem Bart, vom letzten Opfer. Es war nichts Eßbares mehr an Bord. Niemand sagte ein Wort dazu; aber jene Gesellscha löste sich rasch auf; diese schlaffen, schwachen Gepenster schluren eines nach dem anderen davon, um sich aus Furcht voreinander zu verbergen. Falk und der Zimmermann blieben zusammen an Deck. Falk mochte den großen Zimmermann. Er war der Beste unter der Mannscha gewesen, tüchtig und hilfsbereit, solange es etwas auszurichten gab – derjenige, der am längsten hoffnungsvoll gewesen war und der bis zuletzt sich einige Lebenskra und Geistesgegenwart erhalten hatte. Sie sprachen nicht miteinander. Von nun an waren auf diesem Schiff keine Stimmen mehr zu hören, die traurig zueinander geredet hätten. Nach einer Weile schwankte der Zimmermann in Richtung des Vorderschiffes davon; aber als Falk später an jenem Tag zur Trinkwasserpumpe ging, um seinen Durst zu
löschen, hatte er die Eingebung, den Kopf umzuwenden. Der Zimmermann hatte sich von hinten herangeschlichen und holte, unter Auietung all seiner Kra, mit dem Brecheisen zum Schlag auf Falks Schädel aus. Falk sprang noch gerade rechtzeitig zur Seite, entkam und eilte in seine Kabine. Während er dort seinen Revolver lud, hörte er das Geräusch schwerer Schläge von der Brücke her. Die Schlösser an den Türen des Navigationsraumes waren schwach; sie gaben nach, und der Schiffszimmermann, der sich den Revolver des Kapitäns angeeignet hatte, feuerte einen Schuß der Herausforderung in die Lu. Falk hatte zunächst daran gedacht, an Deck zu gehen und die Entscheidung sogleich herbeizuführen; aber dann bemerkte er, daß eines der Bullaugen seiner Kammer den Weg zur Trinkwasserpumpe beherrschte. Anstatt hinauszutreten, blieb er in der Kabine und verriegelte die Tür. »Der beste Mann soll überleben«, sagte er zu sich selbst – und der andere, überlegte er, müsse über kurz oder lang dorthin zum Trinken kommen. Diese verhungernden Männer tranken sehr häufig, um ihre Hungerqualen zu betäuben. Aber auch der Zimmermann mußte die besondere Lage des Bullauges erkannt haben. Sie waren die beiden besten Männer an Bord, und das Spiel mußte zwischen ihnen ausgetragen werden. Während des restlichen Tages sah Falk niemanden mehr und hörte kein Geräusch. In der Nacht strengte er seine Augen an. Es war dunkel – einmal hörte er ein raschelndes Geräusch, aber er war sicher, daß sich niemand der Pumpe genähert haben konnte. Sie befand sich zur Linken seines Decksbullauges, und er hätte einen Mann, der dort hinging, sehen müssen, denn die Nacht war sternenklar. Er sah nichts. Gegen Morgen machte ihn ein neuerliches schwaches Geräusch mißtrauisch. Behutsam und ruhig schloß er seine Tür auf. Er hatte nicht geschlafen und dem Grauen seiner Lage nicht nachgegeben. Er wollte leben.
Indessen war es dem Zimmermann während der Nacht gelungen, ohne auch nur der Pumpe sich zu nähern, leise am Steuerbordschanzkleid entlangzukriechen, bis er sich schließlich, ohne gesehen worden zu sein, unmittelbar unter Falks Decksbullauge befand. Als es Tag wurde, erhob er sich plötzlich, blickte hinein und schoß auf Falk aus einem Zoll Entfernung. Der Schuß ging fehl – und Falk, anstatt den Arm zu packen, der die Waffe hielt, riß unerwartet die Tür auf und erschoß – die Mündung seines Revolvers berührte beinahe des anderen Leib – den Zimmermann. Der beste Mann hatte überlebt. Sie beide hatten zunächst nur eben Kra genug besessen, um auf ihren Füßen zu stehen, und beide hatten unerbittliche Entschlossenheit, Ausdauer, List, erbarmungslosen Mut bewiesen – die Merkmale klassischen Heldentums. Sogleich warf Falk den Revolver des Kapitäns über Bord. Er war der geborene Monopolist. Nach den beiden Schüssen, gefolgt von tiefer Stille, kam in die kalte, grausame Morgendämmerung antarktischer Regionen aus den verschiedensten Schlupfwinkeln dieses abgetakelten, auf grauer See dahintreibenden, von eiserner Notwendigkeit mit einem eisigen Herzen regierten Schiffskadavers eine Bande hungriger, fahler, schmutziger Skelette, eines nach dem anderen, vorsichtig, langsam, gierig, mit starrem Blick herausgekrochen. Falk stand ihnen gegenüber, der Besitzer der einzigen Feuerwaffe an Bord; und der zweitbeste Mann – der Schiffszimmermann – lag tot zwischen ihm und ihnen. »Er wurde selbstverständlich verspeist«, sagte ich. Falk senkte langsam den Kopf, schauderte leise, fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und sagte: »Ich hatte nie Streit gehabt mit diesem Mann. Aber zwischen ihm und mir ging es um das Leben.« Warum fortfahren mit der Geschichte dieses Schiffes, dieser Geschichte – mit ihrer Trinkwasserpumpe, die zum Todes
quell wird, ihrem Mann mit der Schußwaffe, der von eiserner Notwendigkeit regierten See, der gespenstischen, von Schrekken und Hoffnung hin- und hergeworfenen Menschenschar, dem stummen, abweisenden Himmel – dieser Geschichte, vor der die Sage vom Fliegenden Holländer mit ihrem konventionellen Schema von Verbrechen und sentimentaler Vergeltung verblaßt und zergeht wie ein anmutiges Blumengebinde, ein weißer Nebelstreif. Ware noch etwas zu sagen, das sich nicht jeder selbst ausdenken könnte? Ich glaube, Falk begann damit, durch das Schiff zu gehen, den Revolver in der Hand, und alle Zündhölzer zu konfiszieren. Diese hungernden armen Teufel hatten Unmengen von Zündhölzern! Ihm lag nicht daran, daß das Schiff unter seinen Füßen in Brand gesetzt wurde, aus Haß oder aus Verzweiflung. Er lebte im Freien, kampierte auf der Brücke, beherrschte das ganze Achterdeck und den einzigen Zugang zur Pumpe. Er lebte! Einige der anderen lebten gleichfalls – verborgen, angstvoll – und kamen nur beim verführerischen Schall eines Schusses aus ihren Schlupfwinkeln zaudernd hervorgekrochen. Er war nicht eigensüchtig. Alle bekamen ab. Aber nur drei waren noch am Leben, als ein Walfangboot, von seinen Jagdgründen heimkehrend, beinahe den mit Wasser vollgelaufenen Rumpf der Borgmaster Dahl gerammt hätte, die anscheinend in ihren beiden Laderäumen leck geworden, aber, da sie mit Holz befrachtet war, nicht sinken konnte. »Sie starben alle«, sagte Falk. »Auch diese drei, später. Doch ich wollte nicht sterben. Alle starben, alle! Unter diesem schrecklichen Unglück. Aber sollte ich auch mein Leben fortwerfen? Konnte ich? Sagen Sie selbst, Kapitän. Ich stand allein dort, ganz allein, so wie die anderen. Ein jeder war allein auf sich gestellt. Hätte ich meinen Revolver hergeben sollen? Wem denn? Oder hätte ich ihn über Bord werfen sollen? Was hätte das für einen Sinn gehabt? Nur der beste Mann sollte
überleben. Es war ein großes, schreckliches und grauenhaes Unglück.« Er hatte überlebt! Ich sah ihn vor mir, bewahrt als Zeuge für die gebieterische Wahrheit eines unumstößlichen, ewigen Prinzips. Große Schweißtropfen standen ihm auf der Stirn. Und plötzlich schlug diese Stirn mit lautem Krachen auf die Tischplatte, als er sich mit ausgestreckten Händen vorwarf. »Und das ist schlimmer«, rief er. »Das ist schlimmere Pein. Das ist schrecklicher.« Mir klope laut das Herz, berührt von der abgründigen Überzeugungskra dieses Rufes. Und nachdem er mich verlassen hatte, um sich an Bord seines Schiffes zu begeben, rief ich mir das Bild des Mädchens vor Augen, das leise weinte, überströmend, geduldig und gleichsam unwiderstehlich. Ich dachte an das goldbraune Haar dieser jungen Frau. Ich dachte daran, wie es, aufgelöst, sie bis zu den Hüen hinab verhüllen würde wie das Haar einer Sirene. Und sie hatte ihn verzaubert. Man stelle sich einen Mann vor, der sich sein Leben mit der Unbeugsamkeit eines erbarmungslos unbeirrbaren Schicksals bewahrt hatte und der dahin gebracht worden war zu beklagen, daß einst das Brecheisen seinen Schädel verfehlt hatte! Die Sirenen singen und locken in den Tod; aber diese hier weinte leise, wie von Mitleid ergriffen für sein Leben. Sie war die sane, stumme Sirene dieses schreckenerregenden Seefahrers. Er wollte offensichtlich seinen ganzen Begriff vom Leben mit Leben ausfüllen. Etwas anderes gab es nicht. Und auch sie war eine Dienerin jenes Lebens, das, mitten im Tod, laut unser Fühlen aufru. Sie war ungemein geeignet, ihm den weiblichen Aspekt des Lebens zu deuten. Und auf ihre Weise, mit der Überfülle ihres sinnlichen Zaubers, schien sie gleichfalls die ewige Wahrheit eines unbeirrbaren Prinzips darzutun. Ich weiß nicht, welche Art von Prinzip Hermann dartat, als er
früh am nächsten Morgen mit sehr verwirrter Miene auf mein Schiff kam. Ich mußte unwillkürlich denken, daß auch er sein Äußerstes tat, um zu überleben. Er schien weitgehend beruhigt über das ema Falk, aber noch immer erfüllt von ihm zu sein. »Was sagten Sie gestern abend? Sie wissen schon – – – «, fragte er nach einigen Umschweifen. »Zu – – zu – – ich weiß nicht, was. Ein sehr komisches Wort.« »Zimperlich?« riet ich. »Ja. Was bedeutet das?« »Daß Sie Dinge übertreiben, sie vor sich selber übertrieben hinstellen. Ohne ihnen auf den Grund gegangen zu sein, und so weiter.« Er schien darüber nachzudenken. Wir redeten weiter. Dieser Falk sei die Pest. Wie er alle durcheinanderbringe! Frau Hermann fühle sich heute morgen unwohl. Seine Nichte weine immer noch. Niemand sei da, der sich um die Kinder kümmere. Er stieß mit seinem Schirm auf das Deck. Das Mädchen werde monatelang so weitermachen. Ich möge nur bedenken, während der langen Heimfahrt, zweiter Klasse, ein vollkommen nutzloses Geschöpf, das die ganze Zeit weine. Überdies sei es für Lena schlecht, habe er festgestellt. Aus welchem Grund, vermochte ich nicht zu erraten. Vielleicht des schlechten Beispieles wegen. Das Kind sorgte sich und weinte schon genug über seiner Lumpenpuppe. Nikolaus war am Ende noch die am wenigsten sentimentale Person in der Familie. »Warum weint Ihre Nichte?« fragte ich. »Aus Mitleid«, rief Hermann. Es sei unmöglich, aus Frauen klug zu werden. Frau Hermann war die einzige, die er zu verstehen meinte. Sie sei sehr, sehr aufgebracht und habe ihre Zweifel. »Zweifel weshalb?« fragte ich. Er wandte sein Gesicht ab und antwortete nicht. Es sei unmög
lich, aus Frauen klug zu werden. Beispielsweise, da weine nun seine Nichte um Falk. Er (Hermann) dagegen würde ihm am liebsten den Hals umdrehen – andererseits … Vermutlich habe er, Hermann, ein weiches Herz. »Sagen Sie ehrlich«, fragte er schließlich, »Was halten Sie von den Dingen, die wir gestern abend zu hören bekamen, Kapitän?« »Bei diesen Geschichten«, bemerkte ich, »ist allemal viel Übertreibung.« Und ohne ihm Zeit zu lassen, sich von seinem Staunen zu erholen, versicherte ich ihm, daß ich alle Einzelheiten kennte. Er bat mich, sie nicht noch einmal herzuzählen. Sein Herz sei zu zart besaitet. Sie würden ihm Übelkeit bereiten. Dann meinte er, den Blick zu Boden gesenkt und sehr langsam sprechend, er brauche die beiden wohl nicht mehr o zu sehen, wenn sie erst einmal verheiratet seien. Denn, wahrhaftig, er könne Falks Anblick nicht ertragen. Hinwiederum sei es unsinnig, ein Mädchen mit nach Hause zu nehmen, dem der Kopf verdreht worden sei. Ein Mädchen, das die ganze Zeit weine und seiner Tante nicht zur Hand gehe. »Nun werden Sie auf der Heimreise mit einer Kabine auskommen«, sagte ich. »Ja, daran habe ich auch schon gedacht«, erwiderte er beinahe fröhlich. Ja! Er selbst, seine Frau, die vier Kinder – da werde eine Kabine ausreichen. Während er, wenn seine Nichte mitführe… »Und was sagt Frau Hermann dazu?« erkundigte ich mich. Frau Hermann sei im Zweifel, ob ein Mann dieses Schlages ein Mädchen glücklich machen könne – sie habe sich gründlich in Kapitän Falk geirrt. Sie habe eine sehr schlechte Nacht hinter sich. Diese guten Leute schienen nicht in der Lage zu sein, an einem Eindruck ganze zwölf Stunden festzuhalten. Ich versicherte
ihm aus meiner persönlichen Kenntnis des Mannes, daß Falk alle Eigenschaen besitze, um seiner Nichte eine Zukun in Wohlhabenheit zu bieten. Er sagte, das zu hören, freue ihn, und er werde es seiner Frau mitteilen. Dann brachte er den Grund seines Besuches vor. Er wünschte, daß ich ihm hülfe, die Beziehungen zu Falk wieder anzuknüpfen. Seine Nichte, sagte er, habe die Hoffnung geäußert, ich in meiner Güte würde das tun. Offensichtlich lag ihm viel daran, daß ich mich für ihn verwandte, denn obschon neun Zehntel seiner Ansichten vom Abend zuvor und das ganze Ausmaß seiner Entrüstung vergessen zu sein schienen, fürchtete er anscheinend doch, er könnte zum Teufel geschickt werden. »Sie sagten mir, er sei sehr verliebt«, schloß er bauernschlau und gleichsam bukolisch blinzelnd. Sobald er mein Schiff verlassen hatte, rief ich Falk durch Flaggensignal an Bord – da der Schlepper noch immer auf der Reede lag. Er nahm die Neuigkeit mit ernster Ruhe zur Kenntnis, als habe er immer darauf vertraut, daß die Sterne in ihrem Lauf ihm günstig seien. Ich sah sie noch einmal zusammen, und nur ein einziges Mal – auf dem Achterdeck der Diana. Hermann rauchte, in Hemdsärmeln, den einen Arm über die Rückenlehne seines Stuhles geworfen. Frau Hermann nähte allein. Als Falk über die Lotsentreppe herauam, glitt Hermanns Nichte, mit einem leichten Schwung ihres Rockes und freundlich mir zunickend, an meinem Stuhl vorüber. Die beiden kamen im vollen Sonnenlicht am Großmast zueinander. Er hielt ihre Hände in den seinen und blickte auf sie hinab, und sie sah zu ihm auf mit ihrem offenen leeren Blick. Mir schien, sie seien zueinander gekommen wie voneinander angezogen, wie zueinander hingeleitet durch eine geheimnisvolle Kra. Sie waren ein vollkommenes Paar. In ihrem grauen Kleid, pulsierend vor Leben, großartig von Gestalt,
olympisch und schlicht, war sie tatsächlich die Sirene, die diesen düsteren, rücksichtslos seinen fünf Sinnen folgenden Seefahrer zu bezaubern vermochte. Von weitem glaubte ich die männliche Stärke zu fühlen, mit der er die Hände faßte, die sie ihm mit weiblicher Flinkheit entgegengestreckt hatte. Lena, die ein wenig bleich wirkte und ihr geliebtes Bündel schmutziger Lappen im Arm hielt, rannte ihrem großen Freund entgegen; und dann erscholl in der schläfrigen Stille des guten alten Schiffes Frau Hermanns Stimme so verändert, daß ich in meinem Stuhl auffuhr, um zu sehen, was der Grund hierfür sei. »Lena, komm her!« schrie sie. Und diese gutmütige Matrone warf mir einen unsicheren Blick zu, der dunkel und voll ängstlichen Mißtrauens war. Das Kind rannte, überrascht, zurück zu ihren Knien. Aber die beiden, die voreinander standen im Sonnenlicht, mit verschlungenen Händen, hatten nichts gehört, nichts und niemanden gesehen. Drei Zoll von ihnen entfernt saß im Schatten ein Matrose auf einer Spiere, emsig damit beschäigt, einen Stropp zu splissen, und dabei seine Finger in einen Teertopf tunkend, als habe er nicht im mindesten auf ihre Anwesenheit acht. Als ich, nun Kapitän eines anderen Schiffes, ungefähr fünf Jahre später zurückkehrte, hatten Mr. und Mrs. Falk den Ort verlassen. Mich sollte nicht wundern, wenn es Schombergs Schwatzhaigkeit schließlich gelungen wäre, sie für immer zu verscheuchen; und zweifellos kursierte in der Stadt damals noch die Geschichte von einem gewissen Falk, Eigentümer eines Schleppers, der seine Frau im Kartenspiel vom Kapitän eines englischen Schiffes gewonnen hatte.
AMY FOSTER
Kennedy ist Landarzt und lebt in Colebrook, an der Küste der Eastbay. Das unvermittelt hinter den roten Dächern der kleinen Stadt ansteigende Gelände drängt die malerischen Häuser der Hauptstraße dicht an die Mauer heran, die den Ort gegen das Meer schützt. Jenseits der Ufermauer beschreibt der öde, meilenlange Kiesstrand einen weiten regelmäßigen Bogen bis hin zu dem Dorf Brenzett, das sich über dem Wasser dunkel abhebt: ein Kirchturm in einer Gruppe von Bäumen. Und noch weiter draußen markiert die senkrechte Säule eines Leuchtturms, der, aus der Ferne gesehen, nicht größer als ein Bleisti wirkt, das Ende des Festlandes. Hinter Brenzett ist das Land tiefliegend und flach; aber die Bucht ist einigermaßen gegen das Meer geschützt, und gelegentlich macht ein großes Schiff, das ungünstige Winde an der Ausfahrt hindern oder die Unbilden des Wetters hierher verschlagen haben, von dem Ankerplatz Gebrauch, der sich anderthalb Meilen entfernt genau im Norden befindet, wenn man in der Hintertür der Brenzetter »Schiffsschenke« steht. Eine baufällige Windmühle in der Nähe, die von einem aufgeworfenen Hügel, kaum höher als ein Unrathaufen, ihre zerbrochenen Flügel ausstreckt, und ein Martelloturm, der sich gedrungen eine halbe Meile südlich der Baracken des Küstenwachdienstes über den Rand des Wassers erhebt, sind den Schiffern der kleinen Küstenfahrer wohlbekannt. Es sind dies auch die offiziellen Seemarken für das Stück zuverlässigen Meeresgrund, das auf den Seekarten durch ein unregelmäßiges, mit Punkten übersätes ovales Feld bezeichnet wird, welches einige Sechsen
mit einem winzigen Anker dazwischen einschließt und für alles die Beschriung »Schlick und Muscheln« trägt. Das höhergelegene Terrain überragt den gedrungenen Turm der Kirche von Colebrook. Der Abhang ist grün, und eine weiße Straße schlängelt sich an ihm empor. Wenn man diese Straße entlanggeht, öffnet sich vor einem ein breites, flaches Tal, eine weite, grüne Senke, mit Weideland und Hecken, die sich landeinwärts in einer Tiefe rosiger Farbtöne und fließender Linien auflöst, die schließlich den Blick begrenzt. In diesem von Brenzett und Colebrook hinauf nach Darnford, dem vierzehn Meilen entfernten Marktflecken, führenden Tal hält mein Freund Kennedy seine Praxis. Angefangen hat er als Marinearzt und war dann Begleiter eines berühmten Forschungsreisenden in den Tagen, da es noch Kontinente mit unerschlossenem Innern gab. Seine Arbeiten über das Tierund Pflanzenreich machten ihn in wissenschalichen Gesellschaen bekannt. Und nun hat er eine Landarztpraxis übernommen – aus freien Stücken. Die durchdringende Kra seines Verstandes wird, gleich einer ätzenden Flüssigkeit, seinen Ehrgeiz zerfressen haben. Seine Intelligenz hat wissenschaliches Gepräge, eine Veranlagung zum Forschen, und sie besitzt jene unstillbare Neugier, die den Glauben nährt, in jedem Geheimnis stecke ein Teilchen der ganzen Wahrheit. Vor einigen Jahren nun lud er mich, bei meiner Rückkehr von Übersee, ein, bei ihm zu wohnen. Gar zu gern folgte ich dieser Einladung, und da mein Freund nicht gut seine Patienten vernachlässigen konnte, um mir Gesellscha zu leisten, nahm er mich auf seine Besuchsrunden mit – die ihn bisweilen dreißig Meilen über Land führten an einem Nachmittag. Ich wartete dann draußen; das Pferd reckte den Kopf nach den belaubten Zweigen, und ich, der ich hoch im Dogcart saß, konnte Kennedys Lachen durch die halbgeöffnete Tür irgendeines Landarbeiterhauses hören. Er hatte ein volles, herzliches Lachen,
das zu einem Mann von doppelt so großer Statur gepaßt hätte, ein lebhaes Wesen, ein gebräuntes Gesicht und ein Paar grauer, nachdenklich aufmerksamer Augen. Er besaß die Gabe, die Menschen zum Sprechen zu bringen, und er verstand es, ihren Geschichten mit unendlicher Geduld zuzuhören. Eines Tages, als wir aus einem großen Dorf auf ein schattiges Straßenstück hinaustrabten, bemerkte ich zu unserer Linken eine niedrige, schwarze Hütte mit rautenförmigen Fensterscheiben, einem am Ende der Hauswand hinaufrankenden Schlinggewächs, einem Schindeldach und einigen Kletterrosen am wackligen Gitterwerk der kleinen Veranda. Kennedy zog die Zügel an, so daß das Pferd in Schritt fiel. Im vollen Sonnenlicht warf dort eine Frau eine tropfnasse Decke über eine zwischen zwei alten Apfelbäumen aufgespannte Leine. Und da der langhalsige Braune mit dem gestutzten Schwanz ungeduldig wurde und bei dem Versuch, vom Zügel freizukommen, die linke, in einem dicken Hundslederhandschuh steckende Hand des Arztes vorriß, rief dieser rasch über die Hecke: »Was macht das Kind, Amy?« Mir blieb Zeit genug, um in ihr ausdrucksloses, rotes Gesicht zu blicken – rot, nicht von verhüllender Scham, sondern wie von einem derben Schlag auf die flache Wange –, Zeit genug, um ihre untersetzte Figur, das schüttere, stumpfe, braune, in einem festen Knoten im Nacken zusammengefaßte Haar zu sehen. Sie wirkte jung. Ein deutlich vernehmbares Stocken im Atem ließ die Stimme leise und schüchtern klingen. »Es geht ihm gut, danke.« Wir trabten weiter. »Eine junge Patientin von Ihnen?« fragte ich; und der Arzt, der geistesabwesend den Braunen mit der Peitsche berührte, murmelte: »Ihr Mann war einmal mein Patient.« »Scheint ein recht ödes Geschöpf zu sein«, bemerkte ich teilnahmslos.
»Genau das«, sagte Kennedy. »Sie ist ein sehr passives Menschenkind. Es genügt, diese roten Hände anzusehen, die da am Ende der kurzen Arme herabbaumeln, diese verschlafenen, vorquellenden braunen Augen, um der Trägheit ihres Verstandes inne zu werden – einer Trägheit, die sie, so möchte man meinen, für alle Zeiten gegen jede Überraschung der Einbildungskra feien müßte. Aber wer von uns ist schon gefeit? Sie besaß, wie Sie sie da stehen sahen, immerhin genug Einbildungskra, um sich zu verlieben. Sie ist die Tochter eines gewissen Isaac Fester, der vom Kleinbauern zum Schäfer herabgesunken ist und dessen ganzes Unglück von seiner Mißehe mit der Köchin seines verwitweten Vaters herrührt – eines wohlhabenden, schlagflüssigen Viehzüchters, der in einem Leidenschasausbruch den Namen des Sohnes von seinem Testament strich und sogar Drohungen gegen dessen Leben geäußert haben soll. Aber diese alte Geschichte, mochte sie auch skandalös genug sein, um das Motiv für eine griechische Tragödie abzugeben, entsprang doch letztlich einer Ähnlichkeit der Charaktere. Andere Tragödien – weniger skandalös in ihrer Art und von einer feineren Bitterkeit gekennzeichnet – ergeben sich indessen aus unversöhnlichen Gegensätzen und jener Furcht vor dem Unbegreiflichen, das drohend über unser aller Häupter hängt – über unser aller Häupter …« Der müde Braune fiel in Schritt; und die an einem wolkenlosen Himmel stehende rote Sonne berührte auf altgewohnte Weise den geraden oberen Rand eines gepflügten Hanges nahe der Straße – nicht anders als ich sie unzählige Male den fernen Horizont des Meeres hatte berühren sehen. Das eintönige Braun des umgebrochenen Feldes erglühte in rosigem Schimmer, als hätten die zerkrümelten Erdschollen die Plage ungezählter Pflüger in winzigen Blutströpfchen ausgeschwitzt. Von einem kleinen Gehölz her rollte ein mit zwei Pferden bespannter Wagen sacht den Rand des Abhangs entlang. Über
unseren Köpfen, gegen den Himmel sich abhebend, ragte er siegha vergrößert in die rote Sonne – gewaltig wie ein Riesenkampfwagen und gezogen von zwei langsam dahinschreitenden Rössern fabelhaen Ausmaßes. Und die ungeschlachte Figur des Mannes, der vor dem Leitpferd einhertrottete, zeichnete sich in heroischer Plumpheit vom Hintergrund des Unermeßlichen ab. Die Spitze seiner Kutscherpeitsche zitterte hoch im Blau. Kennedy erzählte. »Sie ist die Älteste aus einer großen Kinderschar. Als Fünfzehnjährige wurde sie zur Arbeit auf die New Barns Farm geschickt. Ich behandelte damals Mrs. Smith, die Frau des Bauern, und dort sah ich das Mädel zum erstenmal, Mrs. Smith, eine Frau, die auf Formen hält und eine spitzige Nase hat, ließ sie jeden Nachmittag ein schwarzes Kleid anziehen. Ich weiß nicht, was mich bewog, überhaupt von ihr Notiz zu nehmen. Es gibt Gesichter, die einem durch sonderbaren Mangel an Entschiedenheit in ihrer ganzen Bildung auffallen, so wie man, wenn man durch Nebel geht, aufmerksam einen vagen Umriß anstarrt, der schließlich nichts Merkwürdigeres oder Befremdlicheres sein mag als ein Wegweiser. Die einzige Besonderheit, die ich bei ihr feststellte, war ein leichtes Zögern beim Sprechen, ein gewisses einleitendes Stammeln, das mit dem ersten Satz verging. Richtete man brüsk das Wort an sie, verlor sie sogleich den Kopf; doch ihr Herz war die Güte selbst. Nie hat man sie abfällig über einen Menschen sich äußern hören, und jeglichem Lebewesen begegnete sie mit Liebe. Sie hing an Mrs. Smith, an Mr. Smith, an deren Hunden, Katzen, Kanarienvögeln, und was Mrs. Smiths grauen Papageien betraf, so übten dessen Eigentümlichkeiten geradezu eine Faszination auf sie aus. Dennoch, als dieser fremdländische Vogel von der Katze angefallen wurde und in menschlichen Tönen um Hilfe zu schreien begann, rannte sie mit zugehaltenen Ohren in den Hof hinaus und verhütete
nicht die Untat. Mrs. Smith galt dies als ein weiterer Beweis ihrer Dummheit; andererseits war ihr Mangel an Liebreiz bei Smiths allbekanntem Schwerenötertum ein nicht gering zu achtender Vorzug. Ihre kurzsichtigen Augen konnten in Tränen des Mitleids stehen angesichts einer armen Maus, die in die Falle gegangen war, und einige Jungen sahen sie einmal im nassen Grase knien, um einer Kröte aus einer mißlichen Lage zu helfen. Wahr ist, daß es, wie schon irgendein Deutscher gesagt hat, ohne Phosphor keinen Gedanken gäbe, noch wahrer aber, daß es keine Herzensgüte gäbe ohne ein gewisses Maß an Einbildungskra. Sie hatte welche. Sie hatte sogar mehr davon, als nötig ist, um das Leiden zu verstehen und von Mitgefühl bewegt zu werden. Sie verliebte sich unter Bedingungen, die hierüber keinen Zweifel lassen; denn es braucht schon einige Einbildungskra, um überhaupt einen Begriff von Schönheit zu entwickeln, und noch mehr, um das Ideal, das man sich geschaffen, in einer ungewohnten Gestalt zu entdecken. Woher diese Begabung stammte, woraus sie gespeist wurde, ist ein nicht zu ergründendes Geheimnis. Amy war im Dorf geboren worden und hatte sich nie weiter von diesem entfernt als bis Colebrook oder allenfalls Darnford. Sie wohnte seit vier Jahren bei den Smiths. New Barns ist ein abgelegenes Gehö, eine Meile entfernt von der Straße, und sie war es zufrieden, Tag für Tag auf dieselben Felder, Senken, Anhöhen zu blicken, auf dieselben Bäume und Hecken, in die Gesichter der vier Menschen auf dem Bauernhof, in immer dieselben – Tag für Tag, Monat für Monat, Jahr für Jahr. Nie bekundete sie ein Verlangen nach Konversation und wußte, so scheint mir, nicht einmal zu lächeln. Manchmal, an einem schönen Sonntagnachmittag, zog sie ihr bestes Kleid an, dazu ein Paar derbe Stiefel und einen großen grauen, mit schwarzer Feder geschmückten Hut (ich habe sie in diesem Staat gesehen),
nahm ein aberwitzig zerbrechliches Ding von Sonnenschirm in die Hand, kletterte über zwei Zauntritte, trottete über drei Felder und dann zweihundert Meter die Straße hinauf – nie weiter. Dort stand das Häuschen der Fosters. Sie half der Mutter die jüngeren Kinder mit Tee versorgen, spülte das Geschirr, küßte die Kleinen und ging nach New Barns zurück. Das war alles. Die ganze Erholung, die ganze Abwechslung, die ganze Entspannung. Nie schien sie sich mehr zu wünschen. Und dann verliebte sie sich. Sie verliebte sich schweigend, eigensinnig – hilflos vielleicht. Die Liebe kam sie langsam an, aber als sie kam, hatte sie die Wirkung eines machtvollen Zaubers; es war Liebe, wie die Alten sie verstanden: ein unwiderstehlicher und schicksalhaer Trieb – eine Besessenheit! Ja, es lag in ihr, heimgesucht zu werden und wie verhext zu sein von einem Gesicht, der Gegenwart eines Menschen, schicksalha, so als wäre sie eine heidnische Anbeterin des Schönen unter jauchzendem Himmel gewesen – und schließlich aufgerüttelt zu werden aus dieser geheimnisvollen Selbstvergessenheit, aus diesem Zauber, aus dieser Hingerissenheit; aufgestört von einer Angst, die der unbeherrschbaren Panik des wilden Tieres gleichkam …« Die von den Wällen des ansteigenden Geländes eingefaßten Weideflächen nahmen im Licht der tiefstehenden Sonne ein grandioses und unheimliches Aussehen an. Ein Gefühl ergreifender Traurigkeit gleich der, die ernste Musik in einem auslöst, stieg aus der Stille der Felder auf. Die Männer, die uns begegneten, schritten langsam, ohne Lächeln, mit niedergeschlagenen Augen vorüber, gleichsam als habe die Melancholie einer bedrückten Erde auf ihnen gelastet, ihre Schultern gebeugt, ihren Blick abwärts gerichtet. »Ja«, sagte der Arzt auf meine Bemerkung hin. »Man könnte meinen, die Erde stehe unter einem Fluch, da doch von allen ihren Kindern diejenigen, die sich am festesten an sie klam
mern, plump von Gestalt sind und einen Gang haben, der so bleiern ist, als wäre ihr Herz in Ketten geschlagen. Aber hier auf dieser Straße hätten Sie einst unter all den schwerfälligen Menschen einen sehen können, der geschmeidig, biegsam und langgliedrig war, gerade gewachsen wie eine Föhre, mit etwas Aufwärtsstrebendem in seiner Erscheinung, als wäre ihm das Herz in der Brust von Lebenslust beflügelt gewesen. Vielleicht war es nur die Macht des Gegensatzes – aber wenn er an einem dieser Dörfler vorüberschritt, schienen die Sohlen seiner Füße nicht mehr den Staub der Straße zu berühren. Er sprang über die Zauntritte, ging mit großen, elastischen Schritten, die ihn schon von weitem kenntlich machten, die Hänge hinan und hatte leuchtende, schwarze Augen. Seine Art war so verschieden von der des hiesigen Menschenschlages, daß er mich mit der Ungebundenheit seiner Bewegungen, seinem weichen – ein wenig erstaunten – Blick, dem Olivton seiner Haut an ein Tier des Waldes erinnerte. Er kam von dort her.« In der Richtung, in der der Arzt seine Peitsche ausstreckte, war, von der Anhöhe aus, auf der wir fuhren, über die wogenden Wipfel eines neben der Straße gelegenen Parks hinweg tief unter uns, gleich dem Boden eines gewaltigen Bauwerks, das Meer zu sehen, durchzogen von Bändern dunklen Gekräusels und von Streifen stillen Glanzes, die schließlich in einem Gürtel glasigen Wassers am Fuß des Himmelszeltes ausliefen. Das zarte Rauchwölkchen eines unsichtbaren Dampfers verging vor der großen Klarheit des Horizontes wie der Atemhauch auf einem Spiegel; und uferwärts glitten die weißen Segel eines Küstenfahrers, gleichsam als befreiten sie sich aus dem Geäst der Bäume, langsam unter den Laubkronen hervor. »Gestrandet in der Bucht?« fragte ich. »Ja – ein Schirüchiger. Ein armer Auswanderer von Mitteleuropa, der unterwegs nach Amerika war und hier von einem
Sturm an Land gespült wurde. Für ihn, der nichts von dieser Erde wußte, war England ein unentdecktes Land. Es verging geraume Zeit, ehe er dessen Namen erfuhr; und mich würde nicht wundern, wenn er fest damit gerechnet hätte, hier auf wilde Tiere oder wilde Menschen zu stoßen, als er in der Finsternis, nachdem er die Ufermauer erklommen, in einen Wassergraben auf deren anderer Seite kollerte, in welchem er, wie durch ein weiteres Wunder, nicht ertrank. Aber er schlug um sich, instinktiv wie ein Tier unterm Netz, und dieses blinde Gestrampel beförderte ihn schließlich aufs Trockene. Er muß in der Tat zäher gewesen sein, als es den Eindruck machte, da er solchen Püffen standhielt, ohne sein Leben dranzugeben, und solche verzweifelte Anstrengungen und Ängste ertrug. Später erzählte er mir selbst in seinem gebrochenen Englisch, das auf so merkwürdige Weise an die Sprache eines kleinen Kindes erinnerte, er habe sein Vertrauen in Gott gesetzt, da er geglaubt, nicht mehr auf dieser Welt zu weilen. Und wahrlich – dies fügte er noch hinzu –, wie hätte er es wissen sollen? Auf allen vieren kämpe er gegen den Regen, den Sturm an und drückte sich schließlich zwischen einige Schafe, die sich im Windschatten einer Hecke zusammengekauert hatten. Sie stoben in alle Richtungen auseinander, blökend in der Dunkelheit, und er begrüßte diesen ersten vertrauten Laut, den er an diesem Gestade vernahm. Es muß damals zwei Uhr morgens gewesen sein. Und das ist alles, was wir über die Art seiner Landung wissen, obschon er durchaus nicht ohne Begleitung eintraf. Nur begannen seine schauerlichen Weggenossen erst zu viel späterer Stunde an Land einzutreffen …« Der Arzt nahm die Zügel auf, schnalzte mit der Zunge; und im Trab ging es den Hügel hinab. Bald bogen wir, nach einer scharfen Kurve, in die Hauptstraße ein, ratterten über die Pflastersteine und waren zu Hause. Spät am Abend kehrte er, sich aus einem Zustand der Düster
nis befreiend, der über ihn gekommen war, zu der Geschichte zurück. Die Pfeife im Mund, durchmaß er das langgestreckte Zimmer von einem Ende zum andern. Eine Leselampe sammelte das Licht über den Papieren, die auf dem Tisch lagen; und ich blickte nach diesem windstillen, glühendheißen Tag durch eines der offenen Fenster, an denen ich saß, auf die kühle Pracht des dunstigen Meeres hinaus, das da reglos unter dem Mond lag. Kein Flüsterlaut, kein Plätschern, kein Knirschen des Kieses, kein Schritt, kein Seufzer drang herauf von der Erde drunten – kein Lebenszeichen außer dem Du des rankenden Jasmins: und Kennedys Stimme, der hinter mir redete, tönte durch den weiten Raum und verhallte draußen in einem Schauer prunkender Stille. »… Die Berichte über Schiffsuntergänge aus früherer Zeit künden von viel Leid. O verhungerten die, die dem Tod in den Wellen entronnen waren, elend an einem unfruchtbaren Gestade, andere starben eines gewaltsamen Todes oder wanderten in die Sklaverei und führten jahrelang ein gefährdetes Dasein unter Menschen, denen ihre Fremdheit Mißtrauen, Abneigung und Furcht einflößte. Wir lesen von diesen Dingen, und sie berühren uns sehr schmerzlich. Es ist wahrlich hart für einen Menschen, sich als verlorenen Fremdling betrachten zu müssen, irgendwo in einem dunklen Winkel der Erde, hilflos, von niemandem verstanden, scheinbar einem geheimnisvollen Geburtsland entstammend. Doch von allen schirüchigen, in die unwirtlichsten Gegenden der Welt verschlagenen Abenteurern hat keiner, will mir scheinen, ein so schlicht-tragisches Los zu erdulden gehabt wie jener Mann, von dem ich hier berichte, der Unschuldigste der Abenteurer, den damals das Meer in unserer Bucht an Land warf, fast im Blickfeld dieses Fensters. Er kannte nicht den Namen des Schiffes. Ja, er wußte, wie wir im Laufe der Zeit erfuhren, nicht einmal, daß Schiffe Namen
tragen – ›wie Christenmenschen‹; und als er eines Tages vom Gipfel des Talfourd Hill das vor ihm ausgebreitete Meer sah, schweie sein Auge mit dem selbstvergessenen Blick ungestümen Staunens über es hin, als sei ihm so etwas noch nie begegnet. Und das war es ihm vermutlich auch noch nicht. Anscheinend war er zusammen mit vielen anderen an Bord eines in der Elbmündung liegenden Auswandererschiffes geschoben worden – viel zu verwirrt, um von seiner Umgebung Notiz zu nehmen, viel zu erschöp, um überhaupt etwas zu sehen, viel zu bange, um sich irgendwelche Gedanken zu machen. Sie waren ins Zwischendeck hinuntergetrieben worden, und dann hatte man die Luke über ihnen verschalkt. Es sei ein niedriger hölzerner Wohnraum gewesen – so sagte er – mit einer Balkendecke, wie die Häuser in seiner Heimat sie hatten, aber man sei mit einer Leiter von oben hineingestiegen. Er sei sehr weitläufig, sehr kalt, feucht und düster gewesen, dieser Raum, und habe kistenartige Verschlage gehabt, in denen man habe schlafen sollen, einer über dem andern, und er habe fortgesetzt geschwankt, nach allen Richtungen zugleich. Er kroch in einen dieser Kästen, legte sich in seinen Kleidern, mit denen er vor vielen Tagen sein Elternhaus verlassen, nieder und drückte Stock und Bündel an sich. Die Menschen stöhnten, die Kinder schrien. Von der Decke trope Wasser, das Licht erlosch, die Wände des Raumes knarrten, und alles wurde so durchgerüttelt, daß man in seinem Bettkasten kaum den Kopf zu heben wagte. Seinen einzigen Gefährten hatte er aus den Augen verloren (einen jungen Mann aus demselben Tal), und die ganze Zeit toste draußen ein fürchterlicher Sturm, und schwere Schläge krachten gegen die Wände – Bums! Bums! Ihm wurde entsetzlich übel, so übel, daß er schier zu beten vergaß. Allerdings vermochte man auch kaum auszumachen, ob es Morgen oder Abend war. Es schien an diesem Ort beständig Nacht zu sein.
Zuvor war er lange, lange auf den Eisenbahnschienen gefahren. Er hatte durch die wunderbar klare Scheibe des Fensters geschaut; und die Bäume, die Häuser, die Felder, die langen Straßen hatten ihn umwirbelt, daß ihm schwindelig wurde. Er gab mir zu verstehen, er habe unterwegs ungezählte Scharen von Menschen gesehen – ganze Völkerschaen – und alle seien sie gekleidet gewesen wie zu Hause die Reichen. Einmal habe er aus dem Eisenbahnwagen steigen müssen und die Nacht, sein Bündel unterm Kopf, auf der Bank in einem Backsteingebäude zugebracht; und ein andermal habe er viele Stunden lang auf einem Boden aus Steinplatten gesessen, vor sich hindämmernd, die Knie hochgezogen und sein Bündel zwischen den Füßen haltend. Über ihm sei ein Dach ausgespannt gewesen, das aus Glas zu sein schien und so hoch war, daß auch die größte Bergfichte, die er je gesehen, darunter Platz gehabt hätte. Dampfmaschinen seien zum einen Ende herein- und zum andern hinausgerollt. Mehr Menschen seien umhergeschwärmt, als man an Festtagen vor dem wundertätigen Heiligenbild im Hof des Karmeliterklosters drunten in der Ebene zu sehen bekomme, wohin er, ehe er von zu Hause aufgebrochen, seine Mutter in einem hölzernen Karren gefahren habe – eine fromme alte Frau, die hatte beten und ein Gelübde zu seiner Sicherheit ablegen wollen. Ich könne mir gar nicht vorstellen, wie weit und hoch und erfüllt von Lärm und Rauch und Düsternis und Eisengeklirr das Ganze gewesen sei; aber irgend jemand habe ihm erklärt, der Ort heiße Berlin. Dann habe es geläutet, wieder sei eine Dampfmaschine hereingefahren; und weiter sei es gegangen, durch ein Land, das seine Augen ermüdete, da es so flach war und nicht die Andeutung eines Hügels aufwies. Wieder habe er eine Nacht, eingeschlossen in einem Gebäude, verbracht, auf dessen Fußboden wie in einem ordentlichen Stall Stroh ausgebreitet war; und er habe sorgsam auf sein Bündel achtgegeben, unter all
diesen Menschen, von denen niemand auch nur ein Wort von ihm verstand. Am Morgen seien sie alle zum steinernen Ufer eines ordentlich breiten, lehmigen Flusses hinausgeführt worden, der nicht zwischen Hügeln, sondern zwischen riesigen Häusern dahinströmte. Da habe es nun eine Dampfmaschine gegeben, die über das Wasser fuhr, und sie hätten alle dicht gedrängt darauf gestanden; nur daß jetzt auch noch Frauen mit lärmenden Kindern hinzugekommen seien. Ein kalter Regen sei niedergegangen, der Wind habe ihm ins Gesicht geschlagen. Er sei durchnäßt worden, und die Zähne hätten ihm geklappert. Er und der junge Mann aus seinem Tal hätten einander bei der Hand gefaßt. Sie hätten gemeint, sie würden nun geradenwegs nach Amerika gebracht, allein die Dampfmaschine sei plötzlich gegen die Wand eines Dinges gestoßen, das wie ein großes Haus auf dem Wasser aussah. Die Wände seien glatt und schwarz gewesen und darüber hätten sich, gleichsam aus dem Dache wachsend, kahle Bäume in Kreuzesgestalt zu außerordentlicher Höhe erhoben. So sei ihm das damals erschienen, denn er habe ja noch nie ein Schiff gesehen gehabt. Dies sei nun das Schiff gewesen, das den weiten Weg nach Amerika schwimmen sollte. Rufe seien erschollen, alles habe geschwankt; da sei eine Leiter gewesen, die sich gehoben und gesenkt habe. Er sei sie auf Händen und Knien hinaufgekrochen, in Todesangst, er könne in das fürchterlich gurgelnde Wasser darunter fallen. Hier sei er von seinem Gefährten getrennt worden, und als er dann ins Innere des Schiffes hinabgestiegen sei, da habe er gemeint, das Herz bleibe ihm stehen. Damals hatte er auch, wie er mir erzählte, für immer den Kontakt mit einem jener drei Männer verloren, die im Sommer zuvor durch das Städtchen am Fuße der Berge in seiner Heimat gezogen waren. Sie waren an den Markttagen in einem Bauernwagen angefahren gekommen und hatten in
einer Schenke oder im Haus eines anderen Juden eine Schreibstube eröffnet. Sie waren zu dritt oder viert gewesen, und einer von ihnen, der einen langen Bart getragen, hatte sehr würdig ausgesehen; sie hatten rote Kragen und an den Ärmeln Goldlitzen wie Regierungsbeamte gehabt. Stolz hatten sie hinter ihrem langen Tisch gesessen; und im anstoßenden Zimmer, damit das gemeine Volk nichts höre, war ein komplizierter Telegraphenapparat aufgestellt gewesen, durch den sie mit dem Kaiser von Amerika hatten sprechen können. Die Väter waren an der Türe stehen geblieben, aber die jungen Männer von den Bergen hatten sich an den Tisch gedrängt und viele Fragen gestellt, denn dort drüben in Amerika sollte es das ganze Jahr hindurch Arbeit geben, bezahlt mit drei Dollar pro Tag, und überdies keine Militärdienstpflicht. Aber der amerikanische Kaiser hatte nicht jeden genommen. Oh, nein! Der Fremde selbst hatte die größte Mühe gehabt, zugelassen zu werden, und der ehrwürdige Mann in Uniform hatte mehrmals aus dem Zimmer gehen und seinetwegen den Telegraphen bedienen müssen. Der amerikanische Kaiser hatte ihn schließlich zu drei Dollar pro Tag angestellt, da er jung und stark war. Viele tüchtige junge Männer waren aber am Ende doch noch zurückgetreten, weil sie sich vor der großen Entfernung gefürchtet hatten. Ohnedies waren nur solche angenommen worden, die über einiges Geld verfügten. Da waren welche gewesen, die ihre Hütten und ihr Land verkau hatten, denn man brauchte viel Geld, um nach Amerika zu gelangen; aber war man erst einmal dort, bekam man drei Dollar den Tag, und wenn man es schlau anstellte, so fand man Orte, an denen das pure Gold vom Boden aufzulesen war. Seines Vaters Haus war ohnehin mittlerweile zu eng geworden. Zwei seiner Brüder waren verheiratet und hatten Kinder. Er hatte versprochen, ihnen aus Amerika Geld zu schicken, mit der Post, zweimal im Jahr. Sein Vater hatte an den jüdi
schen Schankwirt eine alte Kuh, ein Paar gescheckter Gebirgsponys eigener Zucht und ein wohlgerodetes Stück Weideland auf der Sonnenseite eines von Fichten gekrönten Bergsattels verkau, um die Schiffsleute zu bezahlen, die die Menschen nach Amerika schaen, damit sie dort in kurzer Zeit reich würden. Im Herzen muß er ein Abenteurer gewesen sein, denn bei wie vielen der größten Unternehmungen, die der Eroberung der Erde dienten, stand nicht am Anfang der Verkauf der väterlichen Kuh für das eingebildete oder echte Gold, das aus der Ferne lockte! Ich habe Ihnen mehr oder weniger in meinen eigenen Worten wiedergegeben, was ich bruchstückweise im Laufe der zwei, drei Jahre erfuhr, während welcher ich selten eine Gelegenheit zu einem freundschalichen Plausch mit ihm ungenutzt ließ. Er erzählte mir diese Geschichte seiner Abenteuer, die von manch einem Aulitzen seiner weißen Zähne, manch einem ungestümen Blick seiner schwarzen Augen begleitet wurde, zunächst in einer Art verängstigter Kindersprache, dann, als er des Englischen mächtig geworden, mit großer Flüssigkeit, doch immer in jenem ihm eigenen singenden, sanen und gleichzeitig bebenden Tonfall, der dem Klang auch der vertrautesten Vokabeln eine sonderbar durchdringende Kra verlieh, so als hätten sie einer überirdischen Sprache angehört. Und immer endete er, während er emphatisch den Kopf schüttelte, bei jenem entsetzlichen Gefühl, welches er beim Betreten jenes Schiffes empfunden hatte: daß ihm das Herz stehenbleibe. Späterhin scheint für ihn eine Zeit restlosen Unwissens gekommen zu sein, zumindest hinsichtlich dessen, was sich um ihn her begab. Zweifellos muß er scheußlich seekrank und scheußlich unglücklich gewesen sein, als er dort in seiner Auswandererkoje lag – dieser sanmütige und leidenschaliche Abenteurer, der so verständnislos war und so schmerzlich seine Einsamkeit empfand; denn er war
von äußerst feinfühliger Natur. Das nächste, was wir mit Bestimmtheit über ihn wissen, ist dies, daß er sich in Hammonds Schweinepferch an der Nortoner Landstraße verborgen hielt, sechs Meilen vom Meer entfernt, der Lulinie nach. Von diesen Erlebnissen sprach er ungern: sie scheinen seiner Seele eine düstere Verwunderung und Empörung eingebrannt zu haben. Aus dem Gerede, das hier noch eine gute Weile nach seiner Ankun fortdauerte, wissen wir, daß die Fischersleute von West Colebrook aufgestört und alarmiert wurden durch schwere Schläge gegen die Wände ihrer Bretterhütten sowie durch eine scharfe Stimme, die absonderliche Worte in die Nacht schrie. Einige von ihnen streckten sogar die Köpfe heraus, aber zweifellos war er da schon geflohen, erschrocken über die heiseren, zornigen Stimmen, mit denen sie einander durch die Dunkelheit zuriefen. Eine Art rasender Angst muß ihm geholfen haben, den steilen Berg von Norton zu erklimmen. Unzweifelha war er es, den der Fuhrmann aus Brenzett früh am nächsten Morgen an der Straße im Grase liegend fand (in einer Ohnmacht, möchte ich meinen). Der Fuhrmann stieg sogar von seinem Wagen, um sich den Mann näher zu besehen, suchte dann aber schleunigst das Weite, eingeschüchtert von der absoluten Reglosigkeit und etwas Sonderbarem im Aussehen dieses Herumtreibers, der da gar so still unter den Regengüssen schlief. Zu späterer Stunde kamen einige Kinder so verängstigt in die Schule von Norton gerannt, daß sich die Schulmeisterin bemüßigt fühlte, hinauszugehen und einem ›zum Fürchten aussehenden Mann‹ auf der Landstraße entrüstet die Leviten zu lesen. Er zog sich hierauf mit hängendem Kopf ein paar Schritte zurück und rannte dann unvermittelt und mit außerordentlicher Behendigkeit davon. Der Fahrer von Mr. Bradleys Milchwagen verhehlte nicht, daß er mit seiner Peitsche nach einem langhaarigen Zigeunerlümmel geschlagen habe, als dieser an einer Straßenbiegung unweit
des Posthauses den Versuch machte aufzuspringen und dabei die Zügel des Ponys ergriff. Er habe einen tüchtigen Hieb abbekommen, quer über das ganze Gesicht, der ihn viel hurtiger in den Straßenkot zurückbeförderte, als er hinaufgesprungen war; das Pony habe er allerdings erst nach einer guten halben Meile wieder zu zügeln vermocht. Daß der arme Teufel versucht hatte, den Karren anzuhalten, war vielleicht in dem verzweifelten Bestreben geschehen, sich Hilfe zu verschaffen, in dem Bedürfnis, mit jemandem in Berührung zu kommen. Später gestanden auch noch drei Jungen, sie hätten Steine nach einem komischen Landstreicher geworfen, der ganz durchnäßt, mit Schlamm beschmiert und, wie es schien, völlig betrunken auf dem schmalen, tief eingeschnittenen Pfad an den Kalköfen umhertorkelte. All dies bildete tagelang den Gesprächsstoff dreier Dörfer; aber überdies haben wir Mrs. Finns (sie ist die Frau des Fuhrknechts von Smith) unbezweifelbare Aussage, daß sie gesehen habe, wie er über die niedrige Mauer von Hammonds Schweinepferch setzte und geradenwegs auf sie zutaumelte, wobei er lallende Töne hervorbrachte, die genügten, einen vor Angst ins Grab zu bringen. Weil sie einen Säugling im Kinderwagen bei sich hatte, rief Mrs. Finn ihm zu, er solle verschwinden, aber da er dennoch beharrlich näherkam, traktierte sie ihn mutig mit ihrem Regenschirm und rannte dann, ohne sich ein einziges Mal nach ihm umzusehen, wie der Wind mit ihrem Kinderwagen bis zum ersten Haus des Dorfes. Dort hielt sie an, ganz außer Atem, und sprach mit dem alten Lewis, der dort gerade Steine behämmerte; und der alte Bursche nahm seine mächtige schwarze Drahtbrille ab und erhob sich auf seine schwankenden Beine. Gemeinsam folgten sie mit ihren Blicken der Gestalt des Mannes, der über ein Feld rannte; sie sahen, wie er hinfiel, sich wieder aufrae und in Richtung der New Barns Farm weiterlief, stolpernd und die langen Arme emporwerfend.
Von diesem Augenblick an hing er deutlich in den Schlingen seines dunklen und rührenden Geschickes. Nach dem, was ihm dann zustieß, kann hierüber kein Zweifel mehr bestehen. Alles ist jetzt klar: Mrs. Smiths Schrecken; Amy Fosters phlegmatische, gegen jeglichen nervösen Einwurf der andern aufrechterhaltene Überzeugung, daß der Mann ›nichts Böses im Schilde führe‹; Smiths Verdruß, als er bei seiner Rückkehr vom Darnforder Markt einen wie rasend bellenden Hund, eine verschlossene Hoür und eine hysterische Frau vorfand; und das alles wegen eines Hungerleiders und ungewaschenen Landstreichers, der vermutlich noch immer im Unterbau seines Heuschobers herumlungerte, wie? Nun, er wollte ihn schon lehren, Frauen zu erschrecken! Smith ist als Draufgänger bekannt; aber der Anblick eines unsäglichen, verschmutzten Geschöpfes, das da mit gekreuzten Beinen auf einem Haufen losen Strohs hockte und hin und her schwankte wie ein Bär in einem Käfig, ließ ihn doch innehalten. Dann erhob sich dieser Landstreicher schweigend vor ihm, von Kopf bis Fuß eine einzige Kot- und Schmutzmasse. Smith, der da zwischen seinen Heuschobern allein dieser Erscheinung gegenüberstand, im gewittrigen Zwielicht, durch welches das wütende Gebell des Hundes hallte, fühlte, wie ihn die Angst vor etwas Unbeschreiblichem, Fremdem ankam. Als dann jenes Wesen mit seinen geschwärzten Händen die langen, verfilzten, über sein Gesicht herabhängenden Locken teilte, so wie man Gardinen auseinanderschiebt, und ihn mit blitzenden, wilden schwarzen Augen ansah, ließ ihn das Gespenstische dieser schweigenden Begegnung schier zurücktaumeln. Er hat inzwischen zugegeben (die Geschichte bildete nämlich hierherum jahrelang einen rechtmäßigen Gesprächsgegenstand), daß er mehr als nur einen Schritt zurückgewichen sei. Dann aber gab ein plötzlich hervorsprudelnder Strom sinnloser Worte ihm miteins die Überzeugung, daß er
es mit einem ausgebrochenen Irrsinnigen zu tun habe. In der Tat hat sich dieser Eindruck nie ganz verloren. In seinem innersten Herzen hat Smith bis auf den heutigen Tag nicht von seiner geheimen Überzeugung gelassen, daß dieser Mann im Grunde geisteskrank war. Da jenes Geschöpf ihm mit seinem höchst beunruhigenden Gequassel immer näher rückte, fuhr Smith (der ja nicht wußte, daß er mit ›gnädiger Herr‹ tituliert und, in Gottes Namen, um Kost und Obdach angefleht wurde) fort, ihm energisch, aber begütigend zuzureden und in Richtung des anderen Hofes zurückzuweichen. Schließlich aber ging er, eine günstige Gelegenheit nutzend, blitzartig zum Angriff über, stieß den andern kopfüber in einen Holzschuppen und schob sogleich den Riegel vor. Hiernach wischte er sich den Schweiß von der Stirn, wiewohl es ein kalter Tag war. Er hatte, indem er einen umherlungernden und wahrscheinlich gefährlichen Irren hinter Schloß und Riegel setzte, nur seine Schuldigkeit der Gemeinde gegenüber getan. Smith ist keineswegs ein herzloser Mensch, aber er hatte in seinem Hirn nur für diese eine Vorstellung von Verrücktheit Platz. Er war nicht einbildungsreich genug, um sich zu fragen, ob der Mann dort drinnen nicht vielleicht vor Hunger und Kälte sterben werde. Unterdessen vollführte der Irre in dem Schuppen zunächst einmal einen Heidenlärm; oben im Haus, wo sie sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen hatte, zeterte Mrs. Smith; und Amy Fester schluchzte herzzerreißend an der Küchentür, rang die Hände und murmelte: ›Laßt ihn! Laßt ihn!‹ Smith wird es recht schwer gehabt haben an jenem Abend mit dem Geplärr der einen wie der andern; und diese irrsinnige, verwirrende Stimme, die da so eigensinnig durch die Tür scholl, wird seinen Ingrimm nur noch vermehrt haben. Es fiel ihm nicht ein, diesen lästigen Wahnsinnigen mit dem gesunkenen Schiff in der Eastbay in Verbindung zu brin
gen, von dem auf dem Darnforder Markt die Rede gewesen. Und ich möchte meinen, der Mann hinter der verriegelten Tür kam in jener Nacht dem Wahnsinn sehr nahe. Ehe seine Erregung sich legte und er bewußtlos wurde, warf er sich wütend umher in der Finsternis, fiel über schmutzige Säcke, biß sich in die Faust vor Raserei, Kälte, Hunger, Ratlosigkeit, Verzweiflung. Er war ein Gebirgsbewohner der östlichen Karpatenkette, und bei dem Schiff, das in der Nacht zuvor in der Eastbay gesunken war, handelte es sich um das Hamburger Auswandererschiff Herzogin Sophie-Dorothea schlimmen Angedenkens. Einige Monate später lasen wir in der Zeitung den Bericht über die schwindlerische ›Auswanderer-Agentur‹, die unter dem slawischen Bauernvolk in den östlichen Provinzen Österreichs ihr Unwesen getrieben hatte. Das Ziel dieser Schurken war es gewesen, den Grundbesitz der armen unwissenden Leute an sich zu bringen, und sie waren im Bunde gewesen mit den ortsansässigen Wucherern. Sie verschickten ihre Opfer meist über Hamburg. Was das Schiff betri, so hatte ich von diesem Fenster aus zugesehen, wie es, hart am Wind, unter wenig Tuch an einem dunklen, drohenden Nachmittag in die Bucht einfuhr. Es ging genau nach der Seekarte vor der Brenzetter Küstenwachstation vor Anker. Ich erinnere mich noch, vor Einbruch der Nacht zu seinen Masten und seiner Takelage hinübergeblickt zu haben, die sich dunkel und scharf gegen eine Kulisse zerfetzter, schieferfarbener Wolken wie ein zweiter, schmächtiger Kirchturm links neben dem von Brenzett abzeichnete. Am Abend erhob sich der Wind. Um Mitternacht hörte ich in meinem Bett die fürchterlichen Stöße, das Heulen des rasenden Unwetters. Um diese Zeit meinten die Männer der Küstenwache, die Lichter eines Dampfers über dem Ankerplatz gesehen zu haben.
Gleich darauf waren sie wieder verschwunden; doch es ist erwiesen, daß irgendein anderes Schiff in jener fürchterlichen, sichtlosen Nacht Schutz in der Buch gesucht, daß es das deutsche Schiff mittschiffs gerammt hat (ein Spalt, ›breit genug‹ – wie einer der Taucher mir später sagte – ›um mit einem emse-Kahn hindurchzufahren‹) und umgekehrt ist, entweder heil oder beschädigt – wer vermöchte das zu sagen; umgekehrt ist es jedenfalls, unbekannt, ungesehen und dazu verurteilt, geheimnisvoll auf dem Meer zu Grunde zu gehen. Nichts kam von diesem Schiff je an den Tag, und doch hätte die Untersuchung, die mit so viel Lärm und Geschrei über die ganze Welt hin aufgenommen wurde, es ausfindig machen müssen, wäre es noch irgendwo auf der Meeresoberfläche anzutreffen gewesen. Etwas in seiner Unentschlüsselbarkeit Vollkommenes, eine Heimlichkeit und ein Schweigen wie bei einem sauber ausgeführten Verbrechen kennzeichnen dieses mörderische Unheil, das, wie Sie sich erinnern werden, zu so grauenhaer Berühmtheit gelangte. Auch der lauteste Schrei hätte bei jenem Sturm das Ufer nicht erreicht; für Notsignale blieb offensichtlich keine Zeit. Es war Tod ohne viel Federlesens. Das Hamburger Schiff, das sogleich vollief, kenterte beim Sinken; und bei Tagesanbruch zeigte sich nicht einmal eine Mastspitze über dem Wasser. Es wurde selbstverständlich vermißt, und zunächst vermuteten die Männer der Küstenwache, entweder sei es vor Anker abgetrieben, oder das Ankerseil sei in der Nacht gerissen und das Schiff sei auf das Meer hinausgefegt worden. Dann, nach dem Wechsel des Gezeitenstroms, muß sich das Wrack ein wenig bewegt und einige der Leichen freigegeben haben, denn ein Kind – ein kleines blondhaariges Mädchen mit rotem Rock – wurde bei dem Martelloturm an Land gespült. Nachmittags sah man dann drei Meilen weit die Küste hinauf dunkle Gestalten mit nackten Beinen in die her
anrollenden Gischtwogen springen und wieder zurück an den Strand; und steif und tropfend wurden struppige Männer, Frauen mit harten Gesichtern und meist blondhaarige Kinder auf Bahren, zusammengebundenen Ruten und Leitern in langem Zug an der Tür der ›Schiffsschenke‹ vorübergetragen und in einer Reihe unter der Nordwand der Kirche von Brenzett ausgelegt. Dem offiziellen Bericht zufolge ist das kleine Mädchen im roten Rock das erste Ding gewesen, das von jenem Schiff an Land gelangte. Ich habe indessen meine Patienten unter der seefahrenden Bevölkerung von West Colebrook, und – inoffiziell – hat man mich davon unterrichtet, daß sehr früh an jenem Morgen zwei Brüder, die hinunter ans Meer gingen, um nach ihrem oben am Ufer festgemachten Cobble, einem in dieser Gegend üblichen flachen Fischerboot, zu sehen, ein gutes Stück von Brenzett entfernt auf einen gewöhnlichen Schiffs-Hühnerstall stießen, der auf dem Trockenen, hoch oben am Ufer, lag und elf ertrunkene Enten enthielt. Ihre Familien verspeisten die Tiere, und der Hühnerstall wurde mit dem Beil zu Feuerholz zerhackt. Ein Mann nun (sofern er sich zur Zeit des Unfalls an Deck befand) hätte sehr wohl auf diesem Hühnerstall an Land schwimmen können. Er hätte … Ich gebe zu, daß es unwahrscheinlich ist; aber da war der Mann – und tage-, nein: wochenlang wollten wir nicht begreifen, daß wir den einzigen Überlegenden dieser Katastrophe in unserer Mitte hatten. Der Mann selbst konnte uns, auch als er gelernt hatte, sich verständlich auszudrücken, nur sehr wenig sagen. Er erinnerte sich noch daran, daß er sich wohler gefühlt (vermutlich nachdem das Schiff vor Anker gegangen), und daß ihm dann die Dunkelheit, der Wind und der Regen den Atem geraubt hatten. Dies deutet darauf hin, daß er sich in jener Nacht zeitweilig an Deck auielt. Aber wir dürfen nicht vergessen, daß er wie vor den Kopf gestoßen, daß er seekrank
gewesen war und die letzten vier Tage unter verschlossener Luke zugebracht hatte, daß er keine allgemeinen Vorstellungen von einem Schiff oder dem Meer hatte und sich darum auch keinen bestimmten Begriff von dem bilden konnte, was ihm widerfuhr. Den Regen, den Wind, die Dunkelheit – die kannte er; er verstand das Blöken der Schafe, und er erinnerte sich der Schmerzlichkeit seines Elends und seiner Not, seines trostlosen Erstaunens darüber, daß seine Bedrängnis, seine Verzweiflung weder gesehen noch verstanden wurden; denn er begegnete ja nur erbosten Männern und grimmigen Frauen. Er habe sich ihnen als Bettler genähert, das stimme, sagte er; aber in seiner Heimat spreche man san mit den Bettlern, auch wenn man ihnen nichts gab. Die Kinder werden in seiner Heimat nicht gelehrt, mit Steinen nach denen zu werfen, die um Erbarmen flehen. Smiths Vorgehen brachte ihn vollends zur Verzweiflung. Der Holzschuppen hatte für ihn das grausige Aussehen eines Verlieses. Was würde man ihm als nächstes antun? … Kein Wunder, daß ihm Amy Foster dann wie in der Aureole eines Lichtengels erschien. Das Mädchen hatte in jener Nacht keinen Schlaf gefunden, da es beständig an den armen Mann hatte denken müssen; und in der Frühe, ehe die Smiths aufgestanden waren, schlüpe sie über den Hof. Sie spähte durch die einen Spalt breit geöffnete Tür des Holzschuppens und hielt ihm einen halben Laib Weißbrot hin – ›Brot, wie es in meiner Heimat nur die Reichen essen‹, pflegte er zu sagen. Bei ihrem Anblick erhob er sich langsam aus einem Wust von Gerumpel, mit steifen Gliedern, hungrig, elend und voller Zweifel. ›Könnt Ihr das essen?‹ fragte Amy Foster ihn mit ihrer weichen, schüchternen Stimme. Er muß sie für eine ›barmherzige Frau‹ gehalten haben. Er schlang das Brot mit Ungestüm hinunter, und Tränen benetzten es. Plötzlich ließ er das Brot fallen, ergriff ihren Arm und drückte einen Kuß
auf ihre Hand. Sie fürchtete sich nicht. Durch die Jämmerlichkeit seines Aufzugs hindurch hatte sie erkannt, daß er von sehr stattlicher Gestalt war. Sie verriegelte wieder die Tür und ging langsam zur Küche zurück. Viel später erzählte sie alles Mrs. Smith, die bei dem bloßen Gedanken an eine Berührung dieses Scheusals erschauerte. Durch diesen Akt impulsiver Barmherzigkeit wurde er in den Schoß menschlicher Beziehungen zurückgeführt. Er vergaß das nie – nie. An jenem Vormittag kam der alte Mr. Swaffer herüber (Smiths nächster Nachbar), um Rat zu geben, und alles endete damit, daß er den Fremdling mit sich nahm. Dieser stand da, auf schwankenden Beinen, demütig, und von Kopf bis Fuß mit halb getrocknetem Schlamm bedeckt, während vor ihm die beiden Männer in einer unverständlichen Sprache konferierten. Mrs. Smith weigerte sich, herunterzukommen, solange der Wahnsinnige nicht das Gehö verlassen hatte; Amy Fester sah von weitem, durch die halb geöffnete Türe der dunklen Küche, zu; und er gehorchte, so gut er es vermochte, den Zeichen, die man ihm gab. Aber Smith war voller Mißtrauen. ›Passen Sie auf! Das ist vielleicht alles nur Berechnung‹, rief er immer wieder mit warnender Stimme. Als Mr. Swaffer sein Pferd antrieb, fiel das beklagenswerte Geschöpf, das demütig an seiner Seite saß, vor Schwäche beinahe rittlings über die Lehne des hohen zweirädrigen Gefährts. Swaffer brachte ihn geradewegs zu sich nach Hause. Und erst dort trat ich in Aktion. Ich wurde gerufen – einfach dadurch, daß mir der alte Mann mit dem Zeigefinger über das Tor seines Hauses zuwinkte, als ich vorüberfuhr. Ich stieg natürlich vom Wagen. ›Ich habe hier etwas‹, murmelte er und führte mich zu einem kleinen Nebenhaus, das etwas abseits von den anderen Gebäuden des Hofes lag.
Dort sah ich ihn zum erstenmal, in einem langen, den ganzen Raum dieses Kutscherhauses einnehmenden, ziemlich niedrigen Zimmer. Die Wände waren kahl und weiß getüncht, und am einen Ende befand sich eine kleine viereckige Fensteröffnung mit einer zerbrochenen, verschmutzten Scheibe. Er lag auf einem Strohsack. Man hatte ihm ein paar Pferdedecken gegeben, und er schien seine letzten Kräe aufgebraucht zu haben bei der Anstrengung, sich zu reinigen. Er brachte fast keinen Laut hervor; sein fliegender Atem, sein pochendes Herz unter den bis ans Kinn hinaufgezogenen Decken, seine glitzernden schwarzen Augen erinnerten mich an einen in einer Schlinge gefangenen wilden Vogel. Während ich ihn untersuchte, stand der alte Swaffer schweigend in der Tür und strich sich mit den Fingerspitzen über die glattrasierte Oberlippe. Ich gab einige Anordnungen, versprach, eine Flasche Medizin zu schicken und stellte selbstverständlich einige Fragen. ›Smith hat ihn in seinem Heuschober auf New Barns gefangen‹, sagte der alte Knabe in seiner bedächtigen, ungerührten Art, als handele es sich hier in der Tat um ein wildes Tier. ›So bin ich zu ihm gekommen. Ein Wunderding, was? Sagen Sie mal, Doktor – Sie haben sich doch weit in der Welt umgetan – finden Sie nicht, daß der Mann den wir da erwischt haben, etwas von einem Hindu an sich hat?‹ Ich war höchlich erstaunt. Sein langes schwarzes Haar, das über den Strohsack floß, kontrastierte mit dem Olivton seines blassen Gesichtes. Mir kam der Gedanke, er sei vielleicht ein Baske, was nicht unbedingt bedeutet hätte, daß er Spanisch verstand. Aber ich versuchte es immerhin einmal mit den wenigen spanischen Brocken, die ich kannte, und auch mit einigem Französisch. Die geflüsterten Laute, die ich auffing, als ich mein Ohr zu seinen Lippen hinabbeugte, verwirrten mich außerordentlich. Am Nachmittag versuchten dann die
jungen Damen aus dem Pfarrhaus, die gekommen waren, um Miss Swaffer zu besuchen (eine las Goethe mit dem Lexikon und eine mühte sich seit Jahren schon mit Dante ab), von der Tür aus ihr Deutsch und Italienisch bei ihm anzubringen. Sie zogen sich wieder zurück, einigermaßen entsetzt über die Flut leidenschalicher Worte, die er ihnen, sich auf seinem Strohsack herumdrehend, entgegenschleuderte. Sie gaben zu, daß die Laute angenehm, san und melodisch anzuhören gewesen seien; aber darum seien sie – vielleicht verbunden mit seinem Aussehen – nicht weniger beunruhigend gewesen: so aufgeregt, so völlig unähnlich allem, was sie je gehört. Die Dorfjungen kletterten den Abhang hinauf, um einen Blick durch das kleine viereckige Fensterloch zu werfen. Jedermann fragte sich, was Mr. Swaffer mit ihm anfangen werde. Er behielt ihn einfach bei sich. Swaffer würde als Exzentriker gelten, wäre er nicht so hoch angesehen. Man wird Ihnen erzählen, daß Mr. Swaffer noch um zehn Uhr abends aufsitze und Bücher lese, und man wird Ihnen fernerhin berichten, daß er einen Scheck über zweihundert Pfund ausstellen könne, ohne es sich zweimal zu überlegen. Er selbst erklärt Ihnen, daß die Swaffers seit nunmehr dreihundert Jahren zwischen Colebrook und Darnford Land besessen hatten. Er muß jetzt fünfundachtzig sein, aber er sieht nicht im mindesten älter aus als zu der Zeit, da ich hierher kam. Er ist ein großer Schafzüchter und betreibt einen ausgedehnten Viehhandel. Meilenweit im Umkreis besucht er die Märkte, bei Wind und Wetter, und kutschiert seinen Wagen, tief über die Zügel gebeugt, eingehüllt in seinen warmen Mantel, über dessen Kragen das strähnige graue Haar herabfällt, und die Beine in eine grüne Wolldecke gewickelt. Die Ruhe des hohen Alters gibt seinem Benehmen Feierlichkeit. Er ist glatt rasiert; seine Lippen sind fein und sensibel; etwas Starres und Mönchisches in seinen Zügen verleiht der
Bildung seines Gesichtes eine gewisse Erhabenheit. Es ist schon vorgekommen, daß er viele Meilen durch Regen fuhr, nur um eine neue Rosensorte in irgend jemandes Garten oder einen monströsen Kohlkopf, den ein Landarbeiter gezogen hatte, zu besichtigen. Er liebt es, etwas erzählt oder gezeigt zu bekommen, das er ›fremdartig‹ nennt. Vielleicht war es eben das Fremdartige an dem Mann, das den alten Swaffer anzog. Vielleicht war es auch bloß eine unerklärliche Grille. Ich weiß nur, daß ich nach Ablauf dreier Wochen Smiths Irren in Swaffers Küchengarten graben sah. Man hatte herausgefunden, daß er mit dem Spaten umzugehen wußte. Er grub barfuß. Seine schwarzen Haare flössen ihm über die Schultern. Vermutlich war es Swaffer gewesen, der ihm das gestreie Baumwollhemd gegeben hatte; aber er trug noch immer die braunen Tuchhosen seiner Nationaltracht, in denen er an Land gespült worden war und die beinahe so eng anlagen wie ein Trikot; dazu einen breiten Ledergürtel, der mit vielen kleinen Messingknöpfen beschlagen war. Und er hatte sich noch nicht ins Dorf getraut. Das Land, das er ringsherum sah, schien ihm so sauber bestellt wie die Äcker um das Gehö eines Gutsbesitzers; die Größe der Zugfperde setzte ihn in Erstaunen; die Straßen machten auf ihn den Eindruck von Gartenwegen, und der Anblick der Menschen, vor allem an Sonntagen, deutete auf Wohlhabenheit hin. Er fragte sich, was sie wohl so hartherzig machte und ihre Kinder so dreist. Er nahm seine Mahlzeiten an der Hoüre in Empfang, trug sie vorsichtig in beiden Händen zu seinem Nebenhaus, setzte sich auf den Strohsack und schlug, bevor er mit Essen begann, das Kreuz darüber. Auch kniete er neben diesem Strohsack in der früh hereinbrechenden Dunkelheit der kurzen Tage nieder und sagte laut das Vaterunser, ehe er sich zu schlafen anschickte. Jedesmal wenn er Swaffer sah, verneigte er sich tief und voll Ehrfurcht und
blieb danach aufrecht stehen, während der alte Mann, seine Finger über die Oberlippe streichend, ihn schweigend betrachtete. Er verneigte sich auch vor Miss Swaffer, die ihrem Vater eine sparsame Haushälterin war – eine breitschultrige, knochige Person von fünfundvierzig Jahren, die in der Tasche ihres Kleides stets eine Menge Schlüssel trug und graue, ruhige Augen hatte. Sie war Hochkirchlerin – wie die Leute hier herum sagen (während ihr Vater einer der Vorstände der Baptistengemeinde war) – und trug ein kleines stählernes Kreuz am Gürtel. Sie kleidete sich in strenges Schwarz zur Erinnerung an einen der unzähligen Bradleys aus der Nachbarscha, mit dem sie vor einigen fünfundzwanzig Jahren verlobt gewesen – einem jungen Bauern, der sich am Vorabend ihrer Hochzeit bei der Jagd das Genick gebrochen hatte. Sie hatte den unbeweglichen Gesichtsausdruck der Tauben, sprach selten ein Wort, und ihre Lippen, die dünn waren wie die ihres Vaters, überraschten einen bisweilen durch ein ironisches Kräuseln. Dies waren die Menschen, denen er Untertanentreue schuldig war, und einen überwältigende Einsamkeit schien von dem bleiernen Himmel jenes sonnenlosen Winters auf ihn herabzusinken. Alle Gesichter waren traurig. Er vermochte mit niemandem zu reden und hatte keine Hoffnung, je irgendwen zu verstehen. Es war, als hätten diese Gesichter zu Menschen aus einer anderen Welt gehört – toten Menschen –, so erklärte er mir Jahre später. Wahrhaig, ich wundere mich, daß er nicht irrsinnig wurde. Er wußte nicht, wo er war. Irgendwo, sehr weit entfernt von seinen Bergen – irgendwo jenseits des Meeres. War dies Amerika? fragte er sich. Ohne das stählerne Kreuz an Miss Swaffers Gürtel hätte er, so gestand er mir, nicht gewußt, ob er sich überhaupt in christlichen Landen befand. Er pflegte verstohlene Blicke darauf zu werfen und hierbei Trost zu empfinden. Nichts war hier so wie
in seiner Heimat! Die Erde, das Wasser waren anders; am Wegrand stand kein Gekreuzigter. Sogar das Gras unterschied sich, sogar die Bäume – alle Bäume außer den drei alten Amerikanischen Rotkiefern auf dem Rasenplatz vor Swaffers Haus. Sie wenigstens erinnerten ihn an seine Heimat. Einmal traf man ihn dabei, wie er, nach Einbruch der Dämmerung, schluchzend, die Stirn gegen einen der Stämme gedrückt, mit sich selber redete. Die Bäume seien ihm damals wie Brüder gewesen, bestätigte er mir. Alles andere war fremd. Man stelle sich ein derartiges Dasein vor, das überschattet, das beschwert wird von alltäglichen realen Erscheinungen, die sich wie Bilder eines Alptraums ausnehmen! Des Nachts, wenn er nicht schlafen konnte, dachte er weiterhin an das Mädchen, das ihm das erste Stück Brot gereicht, welches er an diesem fremden Gestade gegessen hatte. Sie war weder grimmig noch erbost noch ängstlich gewesen. Ihr Gesicht war ihm im Gedächtnis geblieben als das einzige begreifliche unter allen diesen Gesichtern, die so verschlossen, so geheimnisvoll und so stumm waren wie die Gesichter der Toten, die von einem Wissen erfüllt sind, das über alle Begriffe der Lebenden hinausgeht. Ich frage mich, ob nicht die Erinnerung an ihre Barmherzigkeit ihn davor bewahrt hat, sich die Kehle durchzuschneiden. Aber da haben wir’s! Am Ende bin ich bloß ein alter Sentimentaler und vergesse die instinktive Liebe zum Leben, die zu ›überwinden‹ es der ganzen Gewalt äußerster Verzweiflung bedarf. Er verrichtete die Arbeiten, die man ihm gab, mit einer Umsicht, die den alten Swaffer überraschte. Nach und nach fand man heraus, daß er beim Pflügen zu helfen vermochte, daß er Kühe melken, die Ochsen im Stall füttern konnte und bei der Schafzucht zu gebrauchen war. Er begann, einzelne Wörter zu erlernen, und zwar sehr schnell; und dann errettete er eines schönen Morgens im Frühling unvermutet ein Enkelkind des alten Swaffer vor dem unzeitigen Tod.
Swaffers jüngste Tochter ist mit Willcox verheiratet, einem Anwalt und Stadtsyndikus von Colebrook. Regelmäßig zweimal im Jahr kommen sie herüber und verbringen einige Tage bei dem alten Mann. Ihr einziges Kind, ein kleines Mädchen von damals kaum drei Jahren, rannte in ihrem weißen Schürzchen allein aus dem Haus, torkelte durch das Gras des terrassenförmig angelegten Gartens und stürzte, den Kopf voran, über eine niedrige Mauer in die darunter gelegene Pferdeschwemme. Unser Mann war mit dem Pflüger draußen auf dem Feld, das dem Gehö zunächst lag, und als er das Gespann herumführte, um mit einer neuen Furche zu beginnen, sah er durch eine Zaunlücke, was jedem anderen als ein bloßes Geflatter von irgend etwas Weißem erschienen wäre. Er hatte offene, wache, scharfe Augen, die nur vor der Unermeßlichkeit des Meeres sich verschlossen und dann ihre erstaunliche Kra zu verlieren schienen. Er war barfuß und sah so fremdartig aus, wie es Swaffer nur sich wünschen konnte. Zum unaussprechlichen Verdruß des Pflügers ließ er die Pferde an der Kehre stehen, sprang davon, rannte in großen Sätzen über das gepflügte Land, erschien plötzlich vor der Mutter, warf ihr das Kind in die Arme und ging wieder fort. Die Schwemme war nicht sehr tief; aber dennoch – hätte er nicht so gute Augen gehabt, das Kind wäre umgekommen, wäre elend erstickt in der ungefähr ein Fuß dicken Schlammschicht am Grund des Teiches. Der alte Swaffer begab sich langsam aufs Feld hinaus, wartete, bis der Pflug in seine Nähe kam, warf dem Mann einen langen Blick zu und ging, ohne ein Wort zu sagen, wieder ins Haus. Aber von der Zeit an deckten sie ihm am Küchentisch; und anfangs kam Miss Swaffer, ganz in Schwarz gekleidet und mit ihrer undurchdringlichen Miene, o heraus und blieb in der Tür des Wohnzimmers stehen, um zuzusehen, wie er sein großes Kreuz schlug, ehe er
zu essen begann. Ich glaube, von diesem Tag an zahlte ihm Swaffer auch einen regelmäßigen Lohn. Ich kann seiner Entwicklung nicht Stufe für Stufe folgen. Er schnitt sich das Haar, man konnte ihn im Dorf und auf der Landstraße zu seiner Arbeit gehen sehen wie jeden anderen auch. Die Kinder hörten auf, hinter ihm dreinzurufen. Er wurde sich der gesellschalichen Unterschiede bewußt, aber er staunte noch lange Zeit über die Ärmlichkeit der kahlen Kirchen bei all dem Reichtum. Auch begriff er nicht, warum sie werktags geschlossen blieben. Es war ja nichts zu stehlen in ihnen. Sollten die Menschen am Ende von allzu häufigem Beten abgehalten werden? Das Pfarrhaus wandte ihm damals seine volle Aufmerksamkeit zu, und ich glaube, die jungen Damen versuchten den Boden für seine Konversion zu bereiten. Sie brachten ihn zwar nicht davon ab, sich zu bekreuzen, er ließ sich aber herbei, die Schnur mit den zwei Messingmedaillons von der Größe eines Sixpence, dem winzigen metallenen Kreuz und dem breiten Skapulier, die er um den Hals getragen hatte, abzulegen. Er hängte sie an die Wand neben seine Lagerstatt, und man hörte ihn allabendlich das Vaterunser in unverständlichen Worten, langsam und inbrünstigen Tones davor aufsagen, wie er seinen Vater es hatte beten hören vor der versammelten knieenden Familie, groß und klein, an jedem Abend seines Lebens. Und wenn er nun auch Manchesterhosen zur Arbeit und am Sonntag einen schlecht sitzenden Pfeffer-und-Salz-Anzug trug, so wandten sich doch die Fremden auf der Straße nach ihm um und sahen ihm nach. Seine Fremdartigkeit hatte ein besonderes und untilgbares Gepräge. Schließlich gewöhnten sich die Menschen an seinen Anblick. Aber an ihn selbst gewöhnten sie sich nie. Sein rascher, beflügelter Gang, seine dunkle Gesichtsfarbe, seine schief über dem linken Ohr sitzende Mütze; seine Gewohnheit, an warmen Abenden die Jacke wie einen Husarendolman
über der einen Schulter zu tragen; seine Art und Weise, über die Zauntritte zu springen, nicht als Geschicklichkeitsprobe, sondern als gewöhnliche Form der Fortbewegung – all diese Absonderlichkeiten erregten, so darf man wohl sagen, bei den Bewohnern des Dorfes höchste Verachtung und Mißbilligung. Sie legten sich in ihrer Mittagspause nicht ins Gras und starrten zum Himmel auf. Auch gingen sie nicht durch die Felder und grölten trübselige Lieder in die Gegend. Viele Male habe ich seine hohe Stimme über den Rücken einer schräg abfallenden Schafweide gehört, eine leichte, zum Himmel aufsteigende Stimme gleich der einer Lerche, aber mit einem schwermütigen menschlichen Klang – dort über unseren Feldern, die sonst nur den Gesang der Vögel hörten. Und ich war dann selbst allemal überrascht davon. Ja! Er war anders; unschuldig im Herzen und voller guter Absichten, nach denen freilich niemand fragte – dieser Schirüchige, der, wie ein auf einen anderen Planeten Verschlagener, durch eine riesige Klu von seiner Vergangenheit und eine ungeheure Ahnungslosigkeit von seiner Zukun getrennt war. Seine rasche, feurige Redeweise empörte jedermann. ›Einen hitzigen Satan‹ nannten sie ihn. Eines Abends in der Schankstube der ›Postkutsche‹ brachte er sie alle miteinander (nachdem er einige Glas Whisky getrunken hatte) dadurch gegen sich auf, daß er ein Liebeslied seiner Heimat sang. Man pfiff ihn aus, und er wurde bestra; Preble, der lahme Stellmacher, und Vincent, der fette Hufschmied, wollten ihr abendliches Glas Bier in Frieden trinken. Bei einer anderen Gelegenheit wollte er ihnen zeigen, wie man tanzt. Der Staub wirbelte in Schwaden von dem mit Sand bestreuten Boden auf; er sprang zwischen den Bohlentischen kerzengerade in die Höhe, schlug in der Lu die Hacken zusammen, ging dann vor dem alten Preble in die Hocke nieder und ließ ein Bein ums andere vorschnellen, stieß dazu wilde, jubelnde Schreie aus, sprang wieder auf, wir
belte auf einem Fuß herum und ließ die Finger über seinem Kopfe knallen – und da begann ein nicht aus der Gegend stammender Fuhrmann, der hier sein Glas trank, zu fluchen und begab sich, sein halbes Maß vor sich hertragend, in die Bar. Als der Fremde aber plötzlich auf einen der Tische sprang und dort zwischen den Gläsern weitertanzte, schritt der Wirt ein. Er wollte nichts von ›Akrobatenkunststücken in seiner Schankstube‹ wissen. Sie packten ihn. Und da Mr. Swaffers Ausländer ein, zwei Glas getrunken hatte, versuchte er zu protestieren, worauin er gewaltsam hinausgeworfen wurde und ein blaues Auge davontrug. Ich glaube, er spürte die Feindscha der Menschen um ihn her. Aber er war zäh – zäh von Geist wie von Körper. Nur die Erinnerung an das Meer ängstigte ihn, flößte ihm jenen namenlosen Schrecken ein, den ein böser Traum hinterläßt. Seine Heimat lag in weiter Ferne; und er wollte jetzt nicht mehr nach Amerika gehen. Ich hatte ihm des öeren erklärt, es gebe keinen Ort auf dieser Welt, an dem sich reines Gold finde, das man nur aufzulesen brauchte, ohne sich dafür schinden zu müssen. Wie aber, fragte er, könnte er je mit leeren Händen heimkehren, da doch eine Kuh, zwei Ponies und ein Stück Land verkau worden waren für seine Reise? Seine Augen füllten sich mit Tränen, und er warf sich, den Blick vom unermeßlichen Glanz des Meeres abwendend, mit dem Gesicht ins Gras. Doch bisweilen widersprach er auch, die Mütze mit leiser Siegermiene in den Nacken schiebend, meiner Weltweisheit. Er habe ja sein Stück puren Goldes gefunden. Nämlich Amy Fosters Herz; das ›ein goldenes Herz war und voll Erbarmen mit der Menschen Elend‹, wie er im Ton bezwingender Überzeugung zu sagen pflegte. Er hieß Janko. Er hatte den Leuten erklärt, dies bedeute ›kleiner John‹; aber da er sie überdies beständig darauf hinwies, daß er ein Gebirgsbewohner sei (ein Wort, das im Dialekt
seiner Heimat ungefähr wie ›Goorall‹ klang), erhielt er dieses Wort als Nachnamen. Und das ist die einzige Spur, die spätere Zeitalter im Eheregister der Gemeinde von ihm finden werden. Dort steht nämlich zu lesen – Janko Goorall –, in der Handschri des Pastors. Das zittrige Kreuz, das der Schirüchige dahintersetzte, – welche Handlung ihm zweifellos als der feierlichste Teil der ganzen Zeremonie erschien –, ist alles, was die Erinnerung an seinen Namen wachhalten könnte. Seine Freite hatte sich lange hingezogen – seit jener Zeit, da er so unsicher Fuß gefaßt in der Gemeinde. Sie begann damit, daß er Amy Foster in Darnford ein grünes Seidenband kaue. So machte man es in seiner Heimat. Man kaue seinem Mädchen auf dem Jahrmarkt an der Bude eines Juden ein Band. Ich bezweifle, daß Amy Foster etwas mit dem Band anzufangen wußte, aber er schien zu meinen, seine ehrbaren Absichten seien nicht mißzuverstehen. Erst als er mir erklärte, er gedenke zu heiraten, begriff ich restlos, wie verhaßt – soll ich’s so nennen? –, wie aus hundert lächerlichen, gleichgültigen Gründen verhaßt er gewesen sein muß in dieser Gegend. Jedes alte Weib im Dorf geriet in Harnisch gegen ihn. Smith, der ihm in der Nähe seines Gehöes über den Weg lief, drohte ihm an, der werde ihm den Schädel einschlagen, sofern er sich noch einmal dort blicken lasse. Aber der Mann zwirbelte seinen kleinen schwarzen Schnurrbart mit so kriegerischer Miene und rollte so fürchterlich die großen, schwarzen, feurigen Augen, daß es bei der Drohung blieb. Smith indessen erklärte dem Mädchen, sie müsse wahnsinnig sein, sich mit einem Manne einzulassen, der nicht richtig im Kopfe sei. Gleichviel – sobald sie ihn nur in der Dämmerung hinter dem Obstgarten einige Takte einer unheimlichen und klagenden Melodie pfeifen hörte, ließ sie alles, was sie gerade in der Hand hatte, liegen – ließ Mrs. Smith mitten in einem Satze stehen – und rannte hinaus zu ihm. Mrs.
Smith schimpe sie eine liederliche Dirne. Sie sagte nichts dazu. Sie sagte überhaupt zu niemandem etwas und ging ihrer Wege, als wäre sie taub gewesen. Sie und ich allein im ganzen Land, nehme ich an, hatten ein Auge für seine wahre Schönheit. Er sah wirklich sehr stattlich aus, hatte überaus anmutige Bewegungen und besaß in seinem Wesen etwas von der Wildheit der Waldtiere. Ihre Mutter jammerte dem Mädchen, so o es an seinen freien Tagen nach Hause kam, die Ohren voll. Ihr Vater war mürrisch, tat aber, als wisse er von nichts; und Mrs. Finn erklärte ihr rundheraus: ›dieser Mann, mein Liebes, wird dir noch einmal etwas Schlimmes antun.‹ Und so ging es fort. Man sah die beiden miteinander auf den Landstraßen: sie, trotzig dahintrottend in ihrem Sonntagsstaat – graues Kleid, Hut mit schwarzer Feder, derbe Stiefel, auffällige weiße Baumwollhandschuhe, die schon auf hundert Meter die Blicke auf sich zogen; und er, die Jacke malerisch über die eine Schulter geworfen, einherschreitend an ihrer Seite, ritterlich, und mit sanen Augen auf das Mädchen niederblikkend, das ein Herz von Gold hatte. Ich frage mich, ob er sah, wie unschön sie war. Vielleicht ging ihm bei Menschentypen, die so verschieden von denen waren, mit denen er bis dahin umgegangen, überhaupt jedes Urteilsvermögen ab; vielleicht auch hatte ihn die göttliche Eigenscha ihres Mitleids betört. Unterdessen befand sich Janko in der größten Verlegenheit. In seiner Heimat nahm man sich einen alten Mann als Unterhändler in Heiratsangelegenheiten. Er wußte nicht, wie er in seiner Sache fortfahren sollte. Indessen, eines Tages, mitten unter den Schafen auf dem Felde (er war jetzt Swaffers Unterschäfer zusammen mit Foster) nahm er seine Mütze vor dem Vater des Mädchens ab und bat demütig um Amys Hand. ›Ich möchte meinen, sie ist närrisch genug, dich zu nehmen‹, war alles, was Foster sagte. ›Und dann‹, pflegte Janko später zu
berichten, ›setzt er seine Mütze wieder auf, sieht mich finster an, als wolle er mir den Hals umdrehen, pfei dem Hund, geht fort und läßt mich die ganze Arbeit allein tun.‹ Die Fosters verloren selbstverständlich ungern den Lohn, den das Mädchen verdiente: Amy pflegte nämlich all ihr Geld der Mutter abzuliefern. Aber Foster hatte ohnedies von Anfang an eine gründliche Abneigung gegen diese Ehe empfunden. Er meinte, der Bursche verstehe sich zwar sehr gut auf Schafe, aber der richtige Mann, ein Mädchen zu heiraten, sei er nicht. Einmal gehe er die Heckenzäune entlang und murmele vor sich hin wie so ein elender Trottel; und dann benähmen sich diese Ausländer Frauen gegenüber o sehr merkwürdig. Vielleicht wollte er sie irgendwohin entführen – vielleicht selber davonrennen. Nein, sicher war die Sache nicht. Beständig predigte er seiner Tochter, der Bursche könnte sie auf irgendeine Weise mißhandeln. Sie antwortete nicht. Es war, heißt es im Dorf, als hätte dieser Mann sie verhext. Die Leute diskutierten den Fall. Er war eine rechte Sensation, und die beiden fuhren fort, miteinander ›auszugehen‹, aller Opposition zum Trotz. Dann geschah etwas Unerwartetes. Ich weiß nicht, ob Swaffer je begriff, in welchem Maße er von seinem ausländischen Gefolgsmann als Vater betrachtet wurde. Wie dem auch sei, das Verhältnis war sonderbar feudal. Als darum Janko förmlich um eine Unterredung einkam – ›und auch mit der Miss‹ (er nannte die strenge, taube Miss Swaffer einfach Miss) – geschah dies, um die Erlaubnis zur Heirat einzuholen. Swaffer hörte ihn mit unbeweglicher Miene an, entließ ihn dann durch ein Kopfnicken und brüllte Miss Swaffer die Neuigkeit in das weniger taube Ohr. Sie zeigte sich nicht überrascht und bemerkte bloß grimmig mit ihrer verschleierten, ausdruckslosen Stimme: ›Er hätte allerdings auch keine andere gefunden, die ihn heiraten würde.‹
Großzügigkeit wird im allgemeinen nur Miss Swaffer nachgerühmt – aber sehr bald wurde bekannt, daß Mr. Swaffer Janko eine Landarbeiterhütte geschenkt (das Häuschen, das Sie heute morgen sahen) und ungefähr einen Morgen Land dazu – ihm beides als uneingeschränktes Eigentum übertragen hatte. Willcox fertigte die Urkunde aus, und ich erinnere mich noch, daß er mir sagte, es sei ihm dies eine große Freude gewesen. Die Urkunde stellte fest, die Übertragung geschehe ›als Gegenleistung für die Rettung des Lebens meines geliebten Enkelkindes, Bertha Willcox.‹ Hiernach konnte selbstverständlich keine Macht sie daran hindern zu heiraten. Amys Vernarrtheit hielt an. Die Leute sahen sie des Abends ihm entgegengehen. Unverwandten, faszinierten Blickes starrte sie die Landstraße hinauf, wo er auauchen, mit großen Schritten und schwingendem Oberkörper daherkommen mußte, ein Liebeslied der Heimat auf den Lippen. Als der Junge geboren wurde, geriet er in der ›Postkutsche‹ wieder einmal in Hochstimmung, versuchte es abermals mit einem Lied und einem Tanz und wurde abermals hinausgeworfen. Die Leute gaben ihrem Mitgefühl mit einer Frau Ausdruck, die solch einen Springteufel zum Gemahl hatte. Ihm war das gleichgültig. Jetzt gab es ja einen Mann (so sagte er mir prahlerisch), mit dem er singen und reden konnte in der Sprache seines Landes und dem er mit der Zeit auch das Tanzen beibringen würde. Aber ich weiß nicht. Mir wollte scheinen, als sei sein Gang nicht mehr so elastisch, sein Körper schwerer, sein Auge weniger scharf gewesen. Einbildung, zweifellos; aber wenn ich jetzt zurückdenke, so ist mir, als habe sich die Schlinge des Schicksals schon damals enger um seinen Hals zusammengezogen. Einmal begegnete ich ihm auf dem Fußweg über den Talfourd
Hill. Er erklärte mir, ›Frauen sind doch sonderbar.‹ Ich hatte schon von häuslichen Zwistigkeiten gehört. Man tuschelte, Amy Foster begreife langsam, was für einen Mann sie da geheiratet habe. Er schaute mit teilnahmslosen, blicklosen Augen aufs Meer. Seine Frau habe ihm dieser Tage den Säugling aus den Armen gerissen, als er mit ihm auf der Türschwelle gesessen und ihm ein Lied vorgesummt habe, wie es die Mütter in seinen Bergen ihren kleinen Kindern vorsangen. Sie schien zu denken, er wolle ihm etwas zuleide tun. Frauen seien doch sonderbar. Und sie habe Einwände dagegen erhoben, daß er des Abends laut bete. Warum nur? Er hoffe, daß der Junge ihm das Gebet eines Tages laut nachsprechen werde, wie er selbst es seinem alten Vater nachgesprochen habe, als er noch ein Kind gewesen – damals in seiner Heimat. Und ich entdeckte, daß er die Zeit herbeisehnte, da sein Sohn herangewachsen sein und er einen Menschen haben würde, mit dem er sich in der Sprache unterhalten konnte, die unseren Ohren so verwirrend, so leidenschalich und so wunderlich klang. Warum seiner Frau diese Vorstellung mißfiel, konnte er nicht sagen. Aber es werde schon vorübergehen, meinte er. Und mit einer bedeutsamen Neigung des Kopfes tippte er sich gegen das Brustbein zum Zeichen dafür, daß sie ein gutes Herz habe: nicht hart, nicht grimmig, offen vielmehr dem Mitleid, wohltätig gegen die Armen! Nachdenklich ging ich von dannen; ich fragte mich, ob seine Andersartigkeit, seine Fremdheit dieses stumpfsinnige Wesen nunmehr mit Abscheu erfüllten, nachdem es einmal so unwiderstehlich von ihnen angezogen worden war, fragte mich …« Der Arzt trat ans Fenster und blickte in die kühle Pracht des Meeres hinaus, das so unermeßlich dalag in seiner Verschleiertheit, gleichsam als umschlösse es die Erde samt allen Herzen, die in den Leidenschaen der Liebe und der Furcht verlorengingen.
»Nun physiologisch«, sagte er plötzlich und wandte sich ab, »ist so etwas durchaus möglich, durchaus möglich …« Er schwieg. Dann fuhr er fort: »Jedenfalls, als ich ihn wiedersah, war er krank – die Lunge. Er war zäh, aber er hatte sich doch nicht so gut akklimatisiert, wie ich angenommen hatte. Es war ein schlimmer Winter; und freilich überkommt diese Bergbewohner bisweilen das Heimweh. Und solch ein Zustand der Niedergeschlagenheit machte ihn anfällig. Er lag halb angezogen auf dem Sofa im Erdgeschoß. Ein Tisch mit einer dunklen Wachstuchdecke nahm die ganze Mitte des kleinen Zimmers ein. Auf dem Boden stand eine Korbwiege. Aus einem Wasserkessel auf dem Kamineinsatz zischte Dampf hervor, und über dem Kaminvorsetzer trocknete Kinderwäsche. Das Zimmer war warm, aber die Tür führt unmittelbar in den Garten, wie Sie vielleicht bemerkt haben. Er fieberte und murmelte vor sich hin. Sie saß auf einem Stuhl und starrte ihn unverwandt mit ihren braunen, trüben Augen über den Tisch hinweg an. ›Warum legen Sie ihn nicht hinauf?‹ fragte ich. Mit einem verwirrten Gestammel antwortete sie: ›Oh, ach! Ich könnte oben nicht bei ihm sitzen.‹ Ich gab ihr bestimmte Anweisungen. Im Hinausgehen sagte ich noch einmal, er gehöre ins Bett hinauf. Sie rang die Hände. ›Ich kann nicht. Ich kann nicht. Er sagt beständig etwas – ich weiß nicht. was.‹ Ich sah sie scharf an und dachte an all das abfällige Geschwätz, das sie fortgesetzt über ihren Mann zu hören bekam. Ich sah in ihre kurzsichtigen Augen, in diese blöden Augen, die einmal wohl in ihrem Leben einer verführerischen Gestalt inne geworden waren, jetzt aber, da sie mich anstarrte, überhaupt nichts mehr zu sehen schienen. Aber ich merkte, daß ihr etwas auf der Seele lag. ›Was ist mit ihm?‹ fragte sie mit einer Art ausdruckslosen
Bebens. ›Er macht gar keinen sehr kranken Eindruck. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so aussieht …‹ ›Glauben Sie denn‹, fragte ich ungehalten, ›er simuliere?‹ ›Ja, ich kann mir nicht helfen‹, sagte sie trotzig. Und plötzlich schlug sie die Hände zusammen und blickte nach rechts und nach links. ›Und da ist das Kind. Ich habe solche Angst. Er wollte eben noch, daß ich ihm das Kind reiche. Ich verstehe nicht, was er zu ihm sagt.‹ ›Können Sie nicht einen Nachbarn bitten, die Nacht hier zu verbringen?‹ fragte ich. ›Verzeihung, Herr, aber niemand kommt jetzt gern hierher, wie es scheint‹, murmelte sie tonlos und mit einem Mal ganz ergeben. Ich schäre ihr ein, daß äußerste Vorsicht geboten sei, und mußte dann gehen. Es gab viele Kranke in jenem Winter. ›Oh, hoffentlich redet er nicht!‹ rief sie noch leise, als ich aurach. Ich weiß nicht, wie es kam – aber ich bemerkte nichts. Und doch, als ich mich, in meine Schabracke gewickelt, noch einmal umwandte, sah ich sie an der Türe stehen, sehr still, gleichsam als sinne sie auf Flucht die morastige Straße hinauf. Gegen Abend stieg das Fieber. Er warf sich hin und her, stöhnte und klagte dann und wann leise. Und sie saß da und beobachtete über den Tisch hinweg jede seiner Bewegungen, jeden Laut, den er von sich gab – mit entsetzlicher Angst, unsinniger Angst vor diesem Mann, den sie nicht verstand. Sie hatte die Korbwiege dicht an sich herangezogen. Nun gab es nichts mehr in ihr als den Mutterinstinkt und jene unberechenbare Furcht. Plötzlich kam er zu sich und bat um einen Schluck Wasser, da er wie ausgedörrt war. Sie rührte sich nicht. Sie hatte nicht verstanden, wiewohl er meinte, Englisch gesprochen zu
haben. Er wartete, sah sie an, lodernd vor Fieber, erstaunt über ihre Unbeweglichkeit; und dann brüllte er ungeduldig: ›Wasser! Gib mir Wasser!‹ Sie sprang auf, packte das Kind und blieb wie angewurzelt stehen. Er redete mit ihr, und seine leidenschalichen Proteste vermehrten nur ihre Angst vor diesem sonderbaren Mann. Ich glaube, er sprach lange auf sie ein, flehend, fragend, drängend, befehlend, so vermute ich. Sie sagt, sie habe es ertragen, solange sie konnte. Und dann packte ihn die helle Wut. Er setzte sich auf und schrie etwas Gräßliches – irgendein Wort. Dann erhob er sich von seinem Lager, als wäre er überhaupt nicht krank gewesen, so sagt sie. Und als er, in fiebernder Verzweiflung, Empörung, Verwunderung, versuchte, um den Tisch herum zu ihr zu gelangen, öffnete sie einfach die Tür und rannte hinaus, das Kind auf dem Arm. Sie hörte, wie er ihr zweimal nachrief, die Straße hinunter, mit schrecklicher Stimme – und sie floh … Ah! Sie hätten sehen sollen, wie hinter dem trüben, verschleierten Glanz dieser Augen das Gespenst der Angst sich regte, das sie denn auch in jener Nacht dreieinhalb Meilen weit bis zur Tür der Fosters trieb! Ich sah es am nächsten Tag. Und ich war es auch, der ihn längelang, das Gesicht nach unten, in einer Pfütze liegend fand unmittelbar vor dem Gartentor. Ich war in jener Nacht zu einem dringlichen Fall ins Dorf gerufen worden und kam auf dem Heimweg im Morgengrauen an der Hütte vorüber. Die Tür stand offen. Mein Diener half mir, ihn hineinzutragen. Wir legten ihn auf das Sofa. Die Lampe blakte, das Feuer war erloschen, die Kälte der stürmischen Nacht sickerte aus der tristen, gelben Tapete. ›Amy!‹ rief ich laut, und meine Stimme schien in der Leere dieses winzigen Hauses zu verhallten, als hätte ich in eine Wüste
gerufen. Er öffnete die Augen. ›Fortgegangen!‹ sagte er vernehmlich. ›Ich hatte sie nur um Wasser gebeten – nur um einen Schluck Wasser …‹ Er war mit Schlamm beschmiert. Ich deckte ihn zu und stand abwartend und schweigend da, nur dann und wann ein schmerzvoll hervorgestoßenes Wort auffangend. Es war nicht mehr in seiner eigenen Sprache. Das Fieber war gewichen und hatte seine Lebenshitze mit sich fortgenommen. Und mit der keuchenden Brust, den glanzlosen Augen erinnerte er mich abermals an ein Tier im Netz, an einen in der Schlinge gefangenen wilden Vogel. Sie hatte ihn verlassen. Sie hatte ihn – krank – hilflos – durstig – verlassen. Der Speer des Jägers war ihm in die Seele gedrungen. ›Warum?‹ rief er mit der durchdringenden empörten Stimme eines Menschen, der Rechenscha von seinem Schöpfer heischt. Ein Windstoß und ein Regenguß waren die Antwort. Als ich mich umwandte, um die Tür zu schließen, sprach er das Wort ›Barmherzigkeit!‹ und verschied. Ich attestierte schließlich Herzveragen als die unmittelbare Todesursache. Und das Herz muß ihm in der Tat versagt haben, sonst hätte er auch diese Nacht des Sturmes und der Bedrängnis überstanden. Ich drückte ihm die Augen zu und fuhr davon. Nicht weit von der Hütte stieß ich auf Foster, der zwischen den tropfenden Hecken rüstig daherkam, gefolgt von seinem Collie. ›Wissen Sie, wo Ihre Tochter steckt?‹ fragte ich. ›Allerdings!‹ rief er. ›Ich muß mal ein Wörtchen mit dem Kerl reden. Der armen Frau einen solchen Schrecken einzujagen!‹ ›Er wird ihr keinen Schrecken mehr einjagen‹, sagte ich. ›Er ist tot.‹ Er stieß seinen Stock in den Straßenkot. ›Und das Kind –?‹
Dann fügte er, nachdem er eine Weile tief in Gedanken versunken gewesen, hinzu: ›Wer weiß, ob es nicht besser so ist.‹ Das waren seine Worte. Und sie selbst sagt jetzt überhaupt nichts mehr. Erwähnt ihn mit keiner Silbe. Nie. Ist sein Bild so restlos aus ihrem Gedächtnis geschwunden, wie seine biegsame und weit ausschreitende Gestalt, seine singende Stimme von unseren Feldern verschwunden sind? Er steht ihr nicht mehr vor Augen, um Liebesleidenscha oder Furcht in ihrem Denken zu entfachen; und die Erinnerung an ihn scheint aus ihrem stumpfen Hirn gewichen, wie ein Schatten, der über eine weiße Leinwand huscht. Sie wohnt in der Hütte und arbeitet für Miss Swaffer. Jedermann nennt sie Amy Foster, und das Kind ist ›Amy Fosters Junge‹. Sie ru ihn Johnny – Kleiner John. Unmöglich zu sagen, ob dieser Name irgend etwas in ihr wachru. Denkt sie je an die Vergangenheit? Ich habe sie mit einer wahren Inbrunst mütterlichen Gefühls über die Wiege des Jungen sich beugen sehen. Der kleine Bursche lag auf dem Rücken, blickte mir ein wenig verängstigt entgegen, mit seinen großen schwarzen Augen, dem aufgeregten Wesen eines in der Schlinge gefangenen wilden Vogels. Und da ich ihn anschaute, schien ich den andern wieder zu sehen – den Vater, der auf so geheimnisvolle Weise vom Meer ausgespieen worden war, um zu enden in der höchsten Not von Einsamkeit und Verzweiflung.«
MORGEN
Das, was man in dem kleinen Seehafen Colebrook über Kapitän Hagberd wußte, sprach nicht eigentlich zu seinen Gunsten. Er gehörte nicht hierher. Er hatte sich unter Umständen hier niedergelassen, die zwar nicht im mindesten geheimnisvoll waren – er selbst teilte sich damals sehr bereitwillig darüber mit –, aber doch äußerst fragwürdig und unvernünig. Er befand sich offensichtlich im Besitz einigen Geldes, denn er hatte ein Grundstück erworben und auf diesem in minderwertiger Bauweise zwei häßliche gelbe Backsteinhäuser errichten lassen. Er selbst bewohnte das eine und vermietete das andere an Josiah Carvil – den blinden Carvil, ehemaligen Bootsbauer, einen Mann mit dem üblen Leumund eines Haustyrannen. Diese Häuser hatten eine Mauer gemeinsam, teilten sich in ein Eisengeländer, das die beiden Vorgärten voneinander trennte; und zwischen den beiden Hintergärten war ein Holzzaun gezogen. Miss Bessie Carvil dure, als sei dies ein verbriees Recht, gelegentlich eine Tischdecke, blaue Tücher oder eine Schürze zum Trocknen über diesen Zaun hängen. »Das Holz wird faulen, Bessie, mein Kind«, pflegte der Kapitän von seiner Seite aus san zu mahnen, wenn er sie jenes Vorrecht ausüben sah. Sie war ein großes Mädchen; der Zaun war niedrig, und sie konnte die Ellbogen daraufstützen. Die Hände waren gewöhnlich rot von der soeben beendeten Wäsche, aber die Unterarme wohlgeformt, und sie sah den Hausherrn ihres Vaters schweigend an – mit einem erfahrenen Schweigen, in dem Wissen, Erwartung und Sehnsucht wohnten.
»Das Holz wird faulen«, wiederholte Kapitän Hagberd. »Es ist die einzige leichtsinnige, unachtsame Gewohnheit, die ich an Ihnen kenne. Warum spannen Sie nicht eine Wäscheleine im Hinter garten?« Miss Carvil sagte nichts darauf – sie schüttelte nur verneinend den Kopf. Der winzige Hintergarten auf ihrer Seite enthielt ein paar von Steinen eingefaßte kleine Beete schwarzer Erde, auf denen die einfachen Blumen, die anzupflanzen sie Zeit fand, ungeheuer ins Kraut geschossen waren, so als entstammten sie einer exotischen Zone; und Kapitän Hagberds aufrechte, rüstige Gestalt, von Kopf bis Fuß in erstklassiges Segeltuch gekleidet, tauchte aus dem kniehoch wuchernden Unkraut auf seiner Seite des Zaunes auf. Er wirkte, angesichts der Färbung und störrigen Steieit des Materials, in das er sich zu kleiden beliebte – »vorerst einmal«, so pflegte er auf diesbezügliche Bemerkungen zu antworten – wie ein Mann, der aus Granit gehauen war und in einer Wildnis stand, die nicht einmal die Ausmaße eines anständigen Billardraumes hatte. Ein wuchtig gestalteter steinerner Mann mit einem roten einnehmenden Gesicht, blauen unsteten Augen und einem mächtigen weißen Bart, der ihm bis zum Gürtel herabfloß und, soweit man in Colebrook wußte, niemals geschnitten wurde. Sieben Jahre zuvor hatte er ernst geantwortet: »Nächsten Monat, denke ich«, als der Witzbold der Stadt, der Barbier von Colebrook, sich bei ihm angebiedert hatte, um ihn als Kunden zu gewinnen. Der Barbier hatte mit herausfordernder Miene im Schankraum des Neuen Wirtshauses am Hafen gesessen, als der Kapitän dort eingetreten war, um eine Unze Tabak zu kaufen. Nachdem er für seinen Kauf mit drei Halbpennystükken gezahlt hatte, aus einem Taschentuch gewickelt, das er in seinem Ärmelaufschlag trug, war Kapitän Hagberd wieder hinausgegangen. Sobald die Tür ins Schloß gefallen war, fing
der Barbier zu lachen an. »Der Alte und der Junge werden nun wohl bald Arm in Arm hereinspaziert kommen, um sich bei mir rasieren zu lassen. Der Schneider bekommt Arbeit wie der Barbier und der Kerzenständermacher; glorreiche Zeiten werden für Colebrook anbrechen, bestimmt werden sie das. Früher hieß es ›nächste Woche‹, nun heißt es ›nächsten Monat‹ – bald wird es ›nächstes Frühjahr‹ sein, was weiß ich.« Da er einen Fremden bemerkte, der ihm mit verständnislosem Lächeln zuhörte, erklärte er, die Beine verächtlich von sich streckend, dieser komische alte Hagberd sei früher Kapitän eines Küstenfahrers gewesen und warte nun auf die Rückkehr seines Sohnes. Der Junge sei wahrscheinlich daheim zur Tür hinausgejagt worden, sei davongelaufen, um zur See zu gehen, und seitdem habe man nichts mehr von ihm gehört. Liege, möchte er wetten, seit Jahr und Tag friedlich auf dem Grund des Meeres. Dieser alte Mann nun sei vor drei Jahren unversehens in Colebrook eingetroffen. Ganz in Schwarz gekleidet {hatte damals gerade seine Frau verloren), sei er aus einem Raucherabteil dritter Klasse gesprungen, als sitze ihm der Teufel im Nacken; und das, was ihn hergebracht, sei nichts als ein Brief gewesen – wahrscheinlich ein Schwindel. Irgendein Spaßvogel habe ihm von einem Seemann gleichen Namens geschrieben, der angeblich hier in Colebrook oder der Nachbarscha den Mädchen nachstelle. »Komisch, nicht wahr?« Der alte Bursche hatte in den Londoner Zeitungen wegen Harry Hagberd inseriert und Belohnung für jeglichen Hinweis in Aussicht gestellt. Und der Barbier fuhr fort, mit höhnischem Behagen zu schildern, wie der Fremde in Trauerkleidung die Gegend abgesucht habe, in Fuhrwerken oder zu Fuß; wie er jedermann ins Vertrauen gezogen, wie er Meilen im Umkreis in jedem Gasthof und jeder Schenke vorgesprochen, die Leute auf der Straße mit seinen Fragen angehalten, beinahe jeden Graben untersucht habe; anfangs in der größten
Hast, dann mit einer Art mühsam sich dahinschleppender Beharrlichkeit, langsamer und langsamer werdend; dabei habe er nicht einmal genau angeben können, wie sein Sohn aussah. Bei dem fraglichen Seemann sollte es sich um einen von zwei Matrosen handeln, die von einem Holzfrachtschiff kamen und die man den Mädchen hatte nachsteigen sehen; der alte Mann aber habe einen Knaben von vierzehn Jahren oder so beschrieben – »ein aufgeweckter, munterer Junge.« Und wenn die Leute hierzu nur lächelten, habe er sich verwirrt die Stirn gerieben und sei wie beleidigt davongeschlichen. Er habe natürlich nichts gefunden, keine Spur – habe jedenfalls nie etwas Glaubwürdiges gehört; aber irgendwie sei es ihm nicht mehr gelungen, sich von Colebrook loszureißen. »Vielleicht war es der Schock dieser Enttäuschung, so bald nach dem Verlust seiner Frau, der ihn damals verrückt gemacht hat«, meinte der Barbier mit der Miene großer psychologischer Einsicht. Nach einer Weile habe der alte Mann die Suche aufgegeben. Sein Sohn sei offensichtlich weitergezogen; aber er habe sich hier niedergelassen, um zu warten. Sein Sohn hatte zumindest einmal Colebrook den Vorzug gegeben vor seiner Vaterstadt. Das müsse seinen Grund haben, schien er zu denken – ein starker Anreiz, der ihn vielleicht nach Colebrook zurückbringen werde. »Ha, ha, ha! Natürlich nach Colebrook. Wohin sonst? Das ist der einzige Ort im Vereinigten Königreich, an dem langverlorene Söhne wieder auauchen. Darum verkaue er sein altes Heim in Colchester und zog hierherunter. Ja, es ist so verrückt wie möglich. Denken Sie, ich würde verrückt, wenn einer meiner Jungen davonliefe? Ich habe acht zu Hause.« Der Barbier demonstrierte seine Verstandesschärfe mit einem Lachen, das den Schankraum erzittern ließ. Sonderbar, immerhin, gestand er mit dem Freimut des überlegenen Kopfes, daß diese Sache ansteckend wirke. Sein
Geschä befinde sich in der Nähe des Hafens, und jedes Mal, wenn ein Matrose hereinkomme, um sich die Haare schneiden oder rasieren zu lassen – müsse er, sofern es ein fremdes Gesicht sei, sogleich denken, »ob der nun des alten Hagberd Sohn ist?« Er mußte dabei über sich selbst lachen. Diese Verrücktheit gehe schon sehr weit! Er erinnerte sich noch der Zeit, da die ganze Stadt davon erfüllt war. Aber er habe bei dem alten Burschen die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Er werde ihn schon noch kurieren mit einer regelmäßigen Verabreichung wohldosierter Neckereien. Er beobachte den Fortschritt der Behandlung. Nächste Woche – nächsten Monat – nächstes Jahr! Wenn der alte Schiffsführer erst einmal das Datum jener Rückkehr bis zum nächsten Jahr hinausschiebe, sei er auf dem besten Weg, gar kein Wort mehr darüber zu verlieren. In anderen Dingen sei er nämlich ganz vernünig, so daß diese Wendung abzusehen sei. Dies war die feste Überzeugung des Barbiers. Niemand hatte ihm je widersprochen; sein eigenes Haar war in der Zwischenzeit ergraut, und Kapitän Hagberds Bart war weiß geworden und hatte sich zu jener majestätisch über den Anzug aus erstklassigem Segeltuch fließenden Fülle ausgewachsen, diesen Anzug, den er sich heimlich mit geteertem Zwirn genäht und angelegt hatte und mit dem er dann eines schönen Morgens aus dem Haus trat, nachdem er noch am Abend zuvor in Trauerkleidung dort hineingegangen war. Das verursachte eine Sensation auf High Street – die Ladenbesitzer traten vor die Türen, die Leute in den Häusern ergriffen ihre Hüte und rannten hinaus – ein Aufruhr, der den Kapitän merkwürdigerweise zunächst sehr erstaunte und dann erschreckte; aber seine einzige Antwort auf die verwunderten Fragen war jenes bestürzte und ausweichende »Für diesmal«. Diese Sensation war längst vergessen; und Kapitän Hagberd selbst, wenn auch nicht vergessen, wurde schließlich nicht
mehr beachtet – der Preis der Alltäglichkeit – wie auch die Sonne nicht mehr beachtet wird, wenn ihre Kra sich nicht mit Gewalt fühlbar macht. An Kapitän Hagberds Bewegungen war kein Zeichen von Schwäche festzustellen: er schritt steif aus in seinem Segeltuchanzug, eine sonderbare und einprägsame Figur; nur seine Blicke wanderten vielleicht verstohlener umher als früher. Sein Benehmen außer Haus hatte die reizbare Wachsamkeit eingebüßt; es war verlegen und schüchtern geworden, als werde er den Verdacht nicht los, etwas leicht Kompromittierendes hae ihm an, etwas peinlich Wunderliches; und doch war er im Dunkeln darüber geblieben, was denn so verkehrt an ihm sei. Er redete jetzt nur noch unwillig mit den Leuten der Stadt. Ihm haete der Ruf eines schrecklichen Knickers an, eines Geizhalses in seiner Lebensführung. In den Läden murmelte er bedauernd und kaue nach langem Zögern armselige Stücke Fleisch; und alle Anspielungen auf seine Kleidung schnitt er ab. Es war so, wie der Barbier vorausgesagt hatte. Er hatte sich, soweit man sehen konnte, von der Krankheit der Hoffnung wieder erholt; und nur Miss Bessie Carvil wußte, daß er über die Rückkehr seines Sohnes deshalb nichts sagte, weil er sie nicht mehr »nächste Woche«, »nächsten Monat« oder gar »nächstes Jahr« erwartete, sondern »morgen«. In der Intimität des Hinter- und Vorgartens sprach er väterlich zu ihr, vernünig, bisweilen auch sentenzenha, ja sogar launig. Sie trafen sich auf dem Boden uneingeschränkten Vertrauens, das durch ein herzliches Augenzwinkern dann und wann nur noch bekräigt wurde. Miss Carvil wartete nun schon beinahe auf dieses Zwinkern. Anfang hatte es sie beunruhigt: der Arme war nicht bei Trost. Später hatte sie darüber zu lachen begonnen: er führte nichts Böses im Schilde. Nun empfand sie eine uneingestandene, angenehme, ungläubige Gefühlsregung, die in einem leisen Erröten zum Ausdruck
kam. Er zwinkerte nicht im mindesten vulgär; sein mageres, gerötetes Gesicht mit der gebogenen, wohlgeformten Nase hatte etwas Vornehmes – um so mehr als, wenn er mit ihr redete, sein Blick steter und wacher wurde. Ein schöner, rüstiger, aufrechter, kräiger Mann mit weißem Bart. Man sah ihm sein Alter nicht an. Sein Sohn, versicherte er, habe ihm erstaunlich ähnlich gesehen, von der Wiege an. Harry werde nächsten Juli einunddreißig Jahre alt, erklärte er. Das richtige Alter, sich mit einem netten, vernünigen Mädchen zu verheiraten, das ein gutes Heim zu schätzen wisse. Er sei ein sehr munterer Junge. Mit munteren Ehemännern fahre man am besten. Es seien diese erbärmlichen, weichen Laffen, denen man nicht zutraue, daß ihnen die Butter im Mund schmelze, die einer Frau das Leben sauer machten. Und es gehe doch nichts über ein Heim – einen Herd – ein gutes Dach über dem Kopf: nicht aus dem warmen Bett zu müssen bei Wind und Wetter. »Stimmt’s, meine Liebe?« Kapitän Hagberd hatte zu jenen Seeleuten gehört, die ihrem Beruf in Sichtweite des Festlandes nachgehen. Eines von vielen Kindern eines bankerotten Bauern, war er überstürzt bei einem Küstenschiffer in die Lehre geschickt worden, und er war während seines ganzen Lebens auf See an der Küste geblieben. Dieses Leben muß anfangs sehr hart für ihn gewesen sein; und er hat auch später nie Gefallen an ihm gefunden. Seine Liebe neigte dem Land zu, mit seinen unzähligen Häusern, dem ruhigen Leben der Menschen, die sich um das Herdfeuer scharen. Viele Seeleute empfinden und bekunden eine bewußte Abneigung gegen das Meer, ihn aber beherrschte eine tiefe und gefühlsmäßige Feindseligkeit – als sei ihm die Liebe zum festeren Element eingeboren gewesen durch viele Generationen hin. »Die Menschen wissen nicht, was sie tun, wenn sie ihre Söhne zur See gehen lassen«, verkündete er Bessie gegenüber. »Sie
könnten auch gleich Sträflinge aus ihnen machen.« Er glaubte nicht, daß man sich je an das Meer gewöhne. Die Mühseligkeit solch eines Lebens nehme nur zu, je älter man werde. Was sei das für ein Beruf, bei dem man während mehr als der Häle der Zeit sein Haus nicht betrete. Sobald man draußen auf See sei, sehe man sich außerstande zu wissen, das daheim vorgehe. Man hätte denken können, er sei des weiten Reisens müde; aber die längste Reise, die er je unternommen, hatte vierzehn Tage gedauert, von denen der größte Teil vor Anker verbracht worden war, des schlechten Wetters halber. Als seine Frau ein Haus und so viel Geld erbte, daß sich davon leben ließ (von einem unverheirateten Onkel, der im Kohlenhandel zu einigem Vermögen gekommen war), hatte er die Kapitänsstelle auf einem Kohlendampfer an der Ostküste mit dem Gefühl abgegeben, einer Galeere entkommen zu sein. Nach all diesen Jahren zur See hätte er an seinen zehn Fingern die Tage abzählen können, die er nicht in Sichtweite Englands verbracht hatte. Nie hatte er erfahren, was es hieß, auf nicht mehr lotbarem Wasser zu fahren. »Ich bin nie weiter als achtzig Faden von Land entfernt gewesen«, verkündete er stolz. Bessie Carvil hörte sich das alles an. Vor ihrem Haus stand eine Esche von kümmerlichem Wuchs; und an Sommernachmittagen brachte sie einen Stuhl auf den kleinen Rasenplatz hinaus und setzte sich mit ihrer Näharbeit dorthin. Kapitän Hagberd, im Segeltuchanzug, lehnte auf einem Spaten. Er grub jeden Tag in seinem Vorgarten. Mehrmals alljährlich wühlte er ihn um und um, hatte aber nicht im Sinn, etwas zu pflanzen, »vorerst einmal.« Er erklärte das Bessie Carvil ausführlicher: »Nicht bevor unser Harry heimkommt, morgen.« Und sie hatte diese Formel der Hoffnung so o gehört, daß sie in ihrem Herzen nur noch das unbestimmteste Mitleid mit dem hoffenden Mann weckte.
Alles wurde in dieser Weise aufgeschoben, und alles wurde gleicherweise vorbereitet für »morgen«. Es gab eine Schachtel voll Tüten mit den verschiedensten Blumensamen zur Auswahl für den Vorgarten. »Er wird Ihnen da zweifellos freie Hand lassen, meine Liebe«, vertraute ihr Kapitän Hagberd über das Geländer hinweg an. Miss Bessies Kopf blieb über ihre Arbeit geneigt. Sie hatte das alles schon so o gehört. Aber dann und wann stand sie auf, legte ihre Arbeit aus der Hand und trat langsam an den Zaun. Dieser Irrsinn hatte einen eigenen Zauber. Der Kapitän war entschlossen, seinen Sohn nicht wieder fortgehen zu lassen, weil es sonst kein Haus gab, das ganz für ihn bereit war. Er hatte das von ihm bewohnte Haus mit allen möglichen Möbelstücken ausgestattet. Sie stellte es sich neu hergerichtet vor, frisch gestrichen, alles aufgestapelt wie in einem Lagerhaus. Da mußte es Tische geben, die in Sackleinwand gepackt waren; dicke Teppichrollen, aufrechtstehend wie Säulenschäe, und schimmernde weiße Marmoraufsätze in der Düsternis der herabgelassenen Vorhänge. Kapitän Hagberd beschrieb ihr stets umständlich seine Käufe, als müsse sie ein berechtigtes Interesse an ihnen haben. Der verwilderte Garten hinter seinem Haus könnte mit Steinplatten belegt werden … übermorgen. »Der Zaun ließe sich ebensogut entfernen. Dann könnten Sie Ihre Wäscheleine abseits von Ihren Blumen spannen.« Er zwinkerte, und sie errötete leicht. Dieser Wahnsinn, der da mit den freundlichen Regungen ihres Herzens in ihr Leben eingezogen war, hatte auch vernünige Seiten. Wie, wenn sein Sohn wirklich eines Tages heimkehrte? Aber sie war sich nicht einmal sicher, ob es je einen Sohn gegeben hatte; und wenn es ihn irgendwo gab, dann war er wohl doch allzu lange schon fortgeblieben. Wenn sich Kapitän Hagberd bei seinen Reden ereiferte, besänigte
sie ihn dadurch, daß sie sich den Anschein gab, als schenke sie ihm Glauben, und dann lachte sie ein wenig, um ihr eigenes Gewissen zu beschwichtigen. Nur einmal hatte sie mitleidig versucht, den Schatten eines Zweifels auf diese Hoffnung zu werfen, die doch dazu verurteilt war, enttäuscht zu werden; aber die Wirkung dieses Versuches war erschreckend gewesen. Plötzlich hatte sich über das Gesicht dieses Mannes ein Ausdruck des Entsetzens und Unglaubens gebreitet, als hätte sich vor seinen Augen ein Spalt im Firmament auf getan. »Sie – Sie – Sie meinen doch nicht, er sei ertrunken?« Einen Augenblick lang wollte ihr scheinen, als werde er nun gleich den Verstand verlieren; denn in seinem gewöhnlichen Zustand hielt sie ihn für vernüniger als die meisten Leute wahrhaben wollten. Bei diesem Vorkommnis löste sich das Ungestüm des Gefühlsausbruches dann in eine Anwandlung sehr väterlichen Wohlwollens auf. »Beunruhigen Sie sich nicht, meine Liebe«, sagte er verschmitzt: »das Meer konnte ihn nicht halten. Er gehört nicht dorthin. Keiner von uns Hagberds hat je dem Meer angehört. Sehen Sie mich an; ich bin nicht ertrunken. Und überdies ist er gar kein Seemann; und wenn er kein Seemann ist, muß er notwendigerweise zurückkommen. Es gibt nichts, das ihn davon abhalten könnte, heimzukehren …« Seine Blicke begannen zu schweifen. »Morgen.« Sie machte nie wieder solch einen Versuch, aus Furcht, der Mann könnte auf der Stelle den Verstand verlieren. Er war auf sie angewiesen. Sie schien der einzige vernünige Mensch in der Stadt; und er pflegte ihr freimütig ins Gesicht zu erklären, er gratuliere sich dazu, für seinen Sohn solch eine patente Frau gefunden zu haben. Der Rest der Stadt, vertraute er ihr einmal in einem Aufwallen seines Unmutes an, sei wahrlich sonder
bar. Die Art, wie die Leute einen ansähen – die Art, wie sie mit einem redeten! Er hatte sich nie mit jemandem aus der Stadt befreunden können. Mochte die Leute nicht. Er hätte nie seine Gegend verlassen, wäre es nicht klar gewesen, daß sein Sohn eine Vorliebe für Colebrook hatte. Sie heiterte ihn auf mit ihrem Schweigen; hörte ihm am Zaun geduldig zu, während sie mit niedergeschlagenen Augen weiterhäkelte. Ihr bleiches Gesicht errötete nicht leicht unter der nachlässig zusammengeflochtenen Fülle ihres mahagonifarbenen Haares. Der Vater war eindeutig rotblond. Von fülliger Gestalt, hatte sie ein müdes, schlaffes Gesicht. Als Kapitän Hagberd die Notwendigkeit und Schicklichkeit eines Heimes und die Freuden eines eigenen Kaminfeuers rühmte, lächelte sie nur ein wenig mit den Lippen. Ihre häuslichen Freuden waren während der zehn besten Jahre ihres Lebens auf die Pflege ihres Vaters beschränkt gewesen. Ein tierisches Gebrüll, das aus einem Fenster des oberen Stockwerkes drang, unterbrach ihr Gespräch. Sie begann sogleich, ihre Häkelei zusammenzurollen oder die Näharbeit in Falten zu legen, doch ohne die geringste Hast. Währenddessen erscholl das Schreien und Rufen ihres Namens weiter und ließ die Fischer, die auf der Ufermauer jenseits der Straße dahinschlenderten, den Kopf nach den beiden Häusern umwenden. Sie ging dann langsam durch die Haustür, und einen Augenblick später trat tiefes Schweigen ein. Bald darauf erschien sie wieder. An der Hand führte sie einen massigen, wie ein Nilpferd schwerfälligen Mann mit übellaunigem, düsterem Gesicht. Er war ein verwitweter Bootsbauer, der vor Jahren, auf der Höhe beruflichen Erfolges, von Blindheit ereilt worden war. Gegen seine Tochter benahm er sich, als trage sie die Schuld an der Unheilbarkeit des Übels. Laut, als wolle er den Himmel herausfordern, hatte man ihn schreien gehört, daß er
sich nichts aus seiner Blindheit mache. Er habe schließlich Geld genug, um sich jeden Morgen Schinken und Eier zum Frühstück leisten zu können. Er danke Gott dafür – er tat das in teuflisch bösartigem Ton, als stoße er einen Fluch aus. Kapitän Hagberd hatte von seinem Mieter einen so unvorteilhaen Eindruck, daß er einmal zu Miss Bessie sagte: »Er ist wirklich ein Sonderling, meine Liebe.« Sie strickte an jenem Tag, beendete ein Paar Socken für ihren Vater, der streng darauf achtete, daß sie den Vorrat ergänzte. Sie haßte das Stricken, und da sie gerade an der Ferse angelangt war, mußte sie die Blicke auf ihre Nadeln gerichtet halten. »Natürlich wäre es etwas anderes, wenn er für einen Sohn zu sorgen hätte«, fuhr Kapitän Hagberd geistesabwesend fort. »Mädchen brauchen nicht so viel – hm – hm. Sie laufen nicht von zu Hause fort, meine Liebe.« »Nein«, sagte Miss Bessie ruhig. Kapitän Hagberd, der da zwischen den Schollen der umgebrochenen Erde stand, lächelte stillvergnügt in sich hinein. In seiner seemännischen Kleidung, mit seinem wettergezeichneten Gesicht, seinem Vater-Neptun-Bart wirkte er wie ein abgedankter Seegott, der den Dreizack für einen Spaten eingetauscht hat. »Und er wird Sie als schon in gewisser Weise versorgt betrachten. Das ist das Gute mit Mädchen. Die Ehemänner …« Er zwinkerte. Miss Bessie, in ihre Strickerei vertie, errötete san. »Bessie! Mein Hut!« brüllte der alte Carvil plötzlich. Er hatte stumm und reglos wie der Götze eines besonders greulichen Aberglaubens unter dem Baum gesessen. Er öffnete nie den Mund, es sei denn, um nach ihr zu schreien, sie anzuschreien oder bisweilen auch um über sie zu schreien; und dann kannte
er kein Maß in seinen Schmähungen. Ihre Methode war, überhaupt nicht zu antworten; und er schrie und schrie, bis auf seine Wünsche eingegangen wurde – bis sie ihn am Arm schüttelte, oder ihm das Mundstück seiner Pfeife zwischen die Zähne stieß. Er gehörte zu den wenigen Blinden, die rauchten. Als er den Hut auf seinem Kopf spürte, hörte er sogleich zu brüllen auf. Dann erhob er sich, und sie schritten gemeinsam durch das Gartentor. Er hing schwer an ihrem Arm. Während ihres langsamen, mühseligen Spazierganges schien sie die Bürde dieser hinfälligen Körpermasse wie eine ihr auferlegte Buße mit sich zu schleppen. Meist überquerten sie den Fahrweg (die beiden Häuser standen in den Feldern nahe dem Hafen, zweihundert Meter vom Ende der Straße entfernt), und sie blieben lange, lange in Sicht, während sie unwahrnehmbar die hölzernen Stufen erklommen, die zu der Ufermauer hinaufführten. Diese verlief von Ost nach West und nahm den Blick auf den Kanal, gleich einem verwahrlosten Eisenbahndamm, über den seit Menschengedenken kein Zug mehr gerollt ist. Gruppen stämmiger Fischersleute tauchten dort am Himmel auf, schritten ein Stück auf der Mauer hin und versanken ohne Eile wieder. Ihre braunen Netze lagen wie gigantische Spinnweben ausgebreitet auf dem dürigen Gras des Abhanges; und wenn die Leute von der Straße aulickten, erkannten sie die beiden Carvils an der schneckenhaen Langsamkeit ihres Ganges. Kapitän Hagberd, der ziellos um seine Häuser schlenderte, hob den Kopf, um zu sehen, wie weit sie mit ihrer Promenade gekommen waren. Er inserierte noch immer in den Sonntagszeitungen wegen Harry Hagberds. Diese Blätter würden in fremden Landen bis ans Ende der Welt gelesen, unterrichtete er Bessie. Dabei schien er der Ansicht zu sein, sein Sohn befinde sich in England – so nahe bei Colebrook, daß er bestimmt »morgen«
daherkommen werde. Ohne sich auf diese Meinung festlegen zu wollen, hielt ihm Bessie entgegen, daß dann die Ausgabe für das Inserat unnötig sei; Kapitän Hagberd möge die halbe Krone allwöchentlich lieber für sich selbst verwenden. Sie wisse ohnehin nicht, wovon er lebe. Ihr Argument verwirrte ihn, und für eine Weile war er niedergeschlagen. »Alle tun das«, erwiderte er. Eine ganze Spalte sei solchen Erkundigungen nach unauffindbaren Verwandten vorbehalten. Er wolle die Zeitung holen und es ihr zeigen. Er und seine Frau hätten jahrelang inseriert; nur sei sie eine so ungeduldige Frau gewesen. Die Nachricht aus Colebrook sei einen Tag nach ihrer Beerdigung eingetroffen; wäre sie nicht so ungeduldig gewesen, hatte sie nur einen Tag länger gewartet, könnte sie jetzt hier sein. »Sie sind kein ungeduldiges Wesen, meine Liebe.« »Bisweilen verliere ich mit Ihnen die Geduld«, sagte sie. Wenn er auch noch immer seines Sohnes wegen inserierte, bot er doch keine Belohnung mehr für Ausküne; denn mit der undurchschaubaren Klarheit geistiger Wirrnis war er zu der bestimmtesten Überzeugung gelangt, daß er alles erreicht hatte, was in dieser Richtung möglich war. Was wollte er mehr? Colebrook war der Ort, und es bestand kein Grund, weiterzufragen. Miss Carvil lobte ihn für seine Verständigkeit, und ihn beruhigte ihre Teilnahme an seiner Hoffnung, die für ihn zu einem Wahn geworden war; an jener Idee, die seinen Geist blind machte gegen Wahrheit und Wahrscheinlichkeit, so wie der alte Mann im Haus nebenan durch eine andere Krankheit blind gemacht worden war gegen Licht und Schönheit der Welt. Aber alles, was er als Zweifel auslegen konnte – eine Kühle im Beipflichten oder auch nur eine schlichte Unaufmerksamkeit gegenüber seinen Plänen für einen gemeinsamen Haushalt mit dem heimgekehrten Sohn und dessen Frau –, brachte ihn
außer Rand und Band und ließ ihn wüste Blicke in die Runde werfen. Dann schleuderte er seinen Spaten zu Boden und schritt vor diesem auf und ab. Miss Bessie nannte das seinen Koller. Sie drohte ihm mit dem Finger. Wenn sie schließlich wieder aus dem Haus trat, nachdem er sich im Zorn von ihr getrennt hatte, sah er sie aus den Augenwinkeln an und wartete auf das geringste aufmunternde Zeichen, um an das Eisengeländer zu treten und seine väterlich wohlwollende Beziehung zu ihr wieder aufzunehmen. Ungeachtet ihres vertraulichen Austausches während nun schon so vieler Jahre hatten sie doch nie miteinander geredet, ohne Zaun oder Geländer zwischen sich zu haben. Er beschrieb ihr all die zusammengetragenen Herrlichkeiten für die Ausstattung ihres Haushaltes, hatte sie aber nie zu deren Besichtigung eingeladen. Kein menschliches Auge sollte von ihnen Kenntnis nehmen, bevor Harry den ersten Blick auf sie geworfen hatte. Tatsächlich hatte bisher niemand sein Haus betreten; er verrichtete seine Hausarbeit selbst, und er hütete das Vorrecht seines Sohnes so eifersüchtig, daß die kleinen Gegenstände des häuslichen Gebrauches, die er gelegentlich in der Stadt erwarb, unter seiner Segeltuchjacke rasch durch den Vorgarten zur Haustür geschmuggelt wurden. Dann, wenn er wieder heraustrat, pflegte er entschuldigend zu bemerken: »Es war nur ein kleiner Kessel, meine Liebe.« Und war sie nicht zu müde von ihrer Plackerei, hatte ihr Vater sie nicht gar zu unerträglich gequält, dann lachte sie ihn an und sagte errötend: »Schon gut, Kapitän Hagberd; ich bin nicht ungeduldig.« »Ja, meine Liebe, Sie müssen nun nicht mehr lange warten«, antwortete er dann mit einer plötzlich auretenden Schüchternheit und sah sich beklommen um, als habe er den Verdacht, irgend etwas stimme nicht. Jeden Montag zahlte sie ihm die Miete über das Geländer.
Gierig umklammerte er die Shillinge. Ihm tat jeder Penny leid, den er für seinen Unterhalt ausgeben mußte; und wenn er fortging, um seine Besorgungen zu machen, änderte sich, sobald er auf die Straße trat, seine Haltung. Einmal der Bestätigung durch Bessies Mitleid entrückt, fühlte er sich schutzlos preisgegeben. Er drängte sich mit der Schulter gegen die Hauswände. Er mißtraute der Schrulligkeit der Menschen; doch inzwischen hatten sogar die Kinder in der Stadt aufgehört, hinter ihm herzurufen, und die Geschäsleute bedienten ihn wortlos. Die geringste Anspielung auf seine Kleidung insbesondere genügte, ihn zu verwirren und zu erschrecken, als geschehe damit etwas ganz und gar Ungerechtfertigtes und Unbegreifliches. Im Herbst trommelten die Regenschauer gegen seinen Segeltuchanzug, der vor Nässe beinahe steif wie Blech war und an dem das Wasser herabfloß. Wenn das Wetter gar zu schlecht wurde, zog er sich unter das kleine Vordach zurück, drückte sich eng an die Tür und blickte auf seinen Spaten, den er in der Mitte des Vorgartens zurückgelassen hatte. Der Boden war so häufig umgegraben, daß er sich mit fortschreitender Jahreszeit in einen Sumpf verwandelte. Wenn der Boden fror und fest wurde, machte das Kapitän Hagberd untröstlich. Was würde Harry sagen? Und da ihm zu dieser Zeit des Jahres Bessies Gesellscha seltener zuteil wurde, verdroß ihn das Gebrüll des alten Carvil, das gedämp durch die geschlossenen Fenster drang und sie hereinrief, nur noch mehr. »Warum stellt dieser Sonderling nicht ein Dienstmädchen für Sie an?« fragte er ungeduldig an einem milden Nachmittag. Sie hatte einen Schal über den Kopf geworfen, um für eine Weile hinauszutreten. »Ich weiß es nicht«, sagte die bleiche Bessie müde und wandte unter den schweren Lidern den Blick ihrer grauen, erwartungslosen Augen ab. Schattenflecke hatten sich unter ihren
Augen gebildet, und sie schien keinen Wandel und kein Ende dieses Lebens abzusehen. »Warten Sie, bis Sie verheiratet sind, meine Liebe«, sagte ihr einziger Freund und trat näher an den Zaun heran. »Harry wird Ihnen ein Dienstmädchen verschaffen.« Sein hoffnungsvoller Irrsinn schien ihre Hoffnungslosigkeit mit so bitterer Treffsicherheit zu höhnen, daß sie in der Gereiztheit, in der sich ihr Gemüt befand, hätte aufschreien mögen. Doch sie sagte nur, über sich selbst spottend und wie zu einem verständigen Menschen sprechend: »Aber Kapitän Hagberd, Ihr Sohn würdigt mich vielleicht keines Blikkes.« Er warf den Kopf zurück und ließ ein kehliges, kakelndes, affektiertes Zorneslachen hören. »Was! Der Junge? Keines Blickes würdigen? Sie, das einzige vernünige Mädchen meilenweit im Umkreis? Was denken Sie, wozu ich hier bin, meine Liebe – meine Liebe – meine Liebe? … Wie? Warten Sie, Warten Sie nur. Sie werden sehen, morgen. Eher will ich – – –« »Bessie! Bessie! Bessie!« heulte der alte Carvil im Haus. »Bessie! – Meine Pfeife!« Dieser fette blinde Mann überließ sich gänzlich der Lust des Nichtstuns. Er hob nicht die Hand, um nach den Gegenständen zu greifen, die sie mit Bedacht neben ihn gestellt hatte. Er machte keinen Finger krumm; er stand nicht vom Stuhl auf, setzte keinen Fuß vor den anderen (obwohl er sich in jener Wohnstube so gut auskannte, als wenn er sehend gewesen), ohne sie an seine Seite zu rufen und sich mit seinem ganzen grausamen Gewicht an ihre Schulter zu klammern. Er führte keinen Bissen zum Mund, ohne ihre Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Er hatte sich, mehr als sein Leiden es gebot, von ihr abhängig gemacht, um sie besser versklaven zu können. Sie blieb noch einen Augenblick, die Zähne zusammengepreßt, in der Abenddämmerung ste
hen; dann wandte sie sich um und ging langsam ins Haus. Kapitän Hagberd kehrte zu seinem Spaten zurück. Die Rufe in Carvils Haus verstummten, und nach einer Weile leuchtete das Fenster des Wohnzimmers unten auf. Ein Mann kam vom Ende der Straße, mit festem, gemächlichem Schritt heran, ging vorüber, schien aber Kapitän Hagberd erblickt zu haben, denn er wandte sich alsbald um. Ein kaltes, weißes Licht lag zögernd über dem westlichen Himmel. Der Mann lehnte sich mit einer interessierten Miene über das Gartentor. »Sie müssen Kapitän Hagberd sein«, sagte er mit lässiger Selbstsicherheit. Der alte Mann drehte sich hastig herum und zog seinen Spaten aus der Erde, überrascht von der fremden Stimme. »Ja, der bin ich«, antwortete er unruhig. Der andere lächelte ihm ins Gesicht und sagte langsam: »Sie haben wegen Ihres Sohnes inseriert, glaube ich?« »Mein Sohn Harry«, murmelte Kapitän Hagberd und vergaß dieses eine Mal seine Wachsamkeit. »Er kommt heim, morgen.« »Was Sie nicht sagen«, erwiderte der andere höchlich verwundert und fuhr dann mit leicht verändertem Ton fort: »Hast dir ja einen Bart zugelegt wie der Weihnachtsmann.« Kapitän Hagberd trat ein wenig näher und lehnte sich auf seinen Spaten. »Gehen Sie weiter«, sagte er wütend und gleichzeitig schüchtern, denn er hatte Angst, ausgelacht zu werden. Jeder geistige Zustand, auch der Wahnsinn, hat sein eigenes, in Selbstachtung gründendes Gleichgewicht. Die Störung dieses Gleichgewichtes verursacht Qual; Kapitän Hagberd lebte in einem Schema fester Begriffe, und es schmerzte ihn, wenn er dieses durch das Grinsen der Menschen gestört sah. Ja, das Grinsen der Menschen war fürchterlich. Sie deuteten damit an, daß da etwas nicht stimmte. Aber was stimmte
nicht? Er konnte es nicht sagen; und dieser Fremde grinste offensichtlich – war nur gekommen, um zu grinsen. Es war schlimm genug auf der Straße; aber derart war er noch nie beleidigt worden. Der Fremde, der sich nicht der Gefahr bewußt wurde, den Schädel mit dem Grabscheit gespalten zu bekommen, sagte ernst: »Ich trete hier draußen doch wohl niemandem zu nahe? Ich glaube, mit dem, was Sie da sagen, stimmt etwas nicht. Lassen Sie mich vielleicht hineinkommen?« »Sie hereinkommen lassen!« murmelte der alte Hagberd mit unaussprechlichem Grausen. »Ich könnte Ihnen einige wahrheitsgemäße Ausküne über Ihren Sohn geben – die letzten Neuigkeiten, wenn Sie die hören wollen.« »Nein«, schrie Hagberd. Er begann ungestüm hin und her zu gehen. Er schulterte seinen Spaten, er fuchtelte mit dem freien Arm. »Hier ist einer – ein grinsender Kerl, der behauptet, etwas stimme nicht. Ich besitze mehr Ausküne, als Sie wissen. Ich habe alle Ausküne, die ich brauche. Ich habe sie seit Jahren – seit Jahren – seit Jahren – genug, um bis morgen damit auszukommen. Sie eintreten lassen, wahrhaig! Was würde Harry sagen?« Bessie Carvils Gestalt erschien als schwarzer Umriß an dem Wohnzimmerfenster; dann schlüpe sie mit dem Geräusch der sich öffnenden Tür aus dem Haus, schwarz, doch mit etwas Weißem über dem Kopf. Diese beiden Stimmen, die so plötzlich draußen zu sprechen begannen (sie hatte sie drinnen gehört), verursachten in ihr eine solche Gemütswallung, daß sie keinen Laut über die Lippen brachte. Kapitän Hagberd schien den Weg aus einem Käfig zu suchen. Seine Füße platschten durch die Schlammpfützen, die von seiner Emsigkeit herrührten. Er rutschte in die Löcher des aufgewühlten Rasenplatzes. Er rannte blind gegen den Zaun.
»Schon gut, fassen Sie sich ein bißchen!« sagte der Mann am Gartentor ruhig, streckte den Arm aus und ergriff Kapitän Hagberds Ärmel. »Irgend jemand möchte Sie zum Narren halten. Hallo! Was haben Sie denn da auf dem Leib! SturmSegeltuch, weiß der Himmel!« Er lachte laut. »Sie sind mir eine komische Figur!« Kapitän Hagberd riß sich los und begann scheu zurückzuweichen. »Vorerst einmal«, murmelte er in niedergeschlagenem Ton. »Was ist mit ihm?« Der Fremde wandte sich mit äußerster Vertraulichkeit an Bessie, bedächtig und gleichsam erklärend. »Ich wollte den Alten nicht erschrecken.« Er senkte die Stimme, als sei Bessie ihm seit Jahren bekannt. »Ich schaute auf meinem Weg bei einem Barbier hinein, um mich für zwei Pennies rasieren zu lassen, und man sagte mir dort, er sei so eine Art komische Figur. Das ist der Alte sein Leben lang gewesen.« Kapitän Hagberd, eingeschüchtert durch die Anspielung auf seine Kleidung, hatte sich, den Spaten mit sich nehmend, in das Haus zurückgezogen; und die beiden am Gartentor, die bei dem unerwarteten Zuschlagen der Haustür aufgefahren waren, hörten, wie die Riegel vorgeschoben wurden, das Schloß einschnappte; und dann vernahmen sie den Widerhall eines affektierten, gurgelnden Lachens von drinnen. »Ich wollte ihn nicht aufregen«, sagte der Mann nach kurzem Schweigen. »Was soll das alles heißen? Er ist nicht ganz verrückt.« »Er hat sich lange Zeit um seinen verlorenen Sohn geängstigt«, sagte Bessie mit leiser, entschuldigender Stimme. »Ich bin sein Sohn.« »Harry!« rief sie – und versank in tiefes Schweigen. »Sie kennen meinen Namen? Mit dem Alten befreundet, ja?«
»Er ist unser Hausherr«, brachte Bessie stotternd hervor und hielt sich an dem Eisengeländer. »Ihm gehören diese beiden Kaninchenställe, wie?« kommentierte der junge Hagberd verächtlich. »Auf so etwas ist er stolz. Wissen Sie, wer der Bursche ist, der morgen kommen soll? Sie müssen etwas über ihn wissen. Ich sage Ihnen, es ist ein Schwindel, der da mit dem Alten getrieben wird – nichts sonst.« Sie antwortete nicht. Sie stand hilflos vor einer unüberwindlichen Schwierigkeit, entsetzt vor der Notwendigkeit, der Unmöglichkeit, der Abscheulichkeit einer Erklärung, in der sie selbst und der Wahnsinn miteinander verquickt zu sein schienen. »Oh – wie leid mir das tut«, murmelte sie. »Was?« sagte er ruhig. »Denken Sie nicht, Sie brächten mich aus der Fassung. Den anderen Burschen mag es aus der Fassung bringen, wenn er es am wenigsten erwartet. Was liegt mir daran; aber es wird lustig zugehen, wenn er morgen seine Visage hier blicken läßt. Mir liegt nicht so viel an dem Krempel des Alten, aber Recht muß Recht bleiben. Sie werden mal sehen, wie ich dem schlauen Fuchs den Kopf wasche – wer er auch sei!« Er war näher herangetreten und überragte sie auf der anderen Seite des Zauns. Er blickte auf ihre Hände. Sie schien zu zittern, und ihm kam in den Sinn, daß sie vielleicht an dem Spielchen beteiligt sei, das da morgen mit seinem alten Herren aufgeführt werden sollte. Er war gerade noch rechtzeitig gekommen, um ihnen den Spaß zu verderben. Ihn belustigte der Gedanke – an den vereitelten Plan, der ihm so verächtlich schien. Aber sein ganzes Leben hindurch war er voll Nachsicht gewesen gegen die Winkelzüge der Frauen. Sie zitterte wirklich sehr; das Tuch war ihr vom Kopf geglitten. »Armer Teufel!« dachte er, »Sorgen Sie sich nicht um diesen Burschen.
Ich denke, er besinnt sich eines Besseren bis morgen. Aber wie steht es mit mir? Ich kann nicht bis morgen hier um das Gartentor herumstreichen.« Sie platzte heraus: »Sie – Sie selbst sind es, auf den er wartet. Sie sind es, der morgen kommt.« Er murmelte verwirrt: »Oh! Ich bin es«, und nun schienen sie beide nach Atem zu ringen. Offensichtlich dachte er über das Gehörte nach; denn, ohne Verärgerung, aber deutlich verwirrt, sagte er schließlich: »Ich verstehe nicht. Ich hatte ihm doch gar nicht geschrieben. Mein Kamerad sah es in der Zeitung und erzählte mir davon – erst heute morgen … Wie? Was sagen Sie?« Er neigte den Kopf herab. Sie flüsterte hastig, und er hörte eine Weile zu, murmelte dann und wann »ja« und »ich verstehe«. Schließlich fragte er: »Aber warum kann es nicht auch heute sein?« »Sie begreifen nicht!« rief sie ungeduldig. Im Westen erlosch der helle Lichtstreif unter den Wolken. Abermals bückte er sich leicht vor, um besser zu hören; und die Tiefe der Nacht verhüllte alles an der flüsternden Frau und an dem aufmerksam lauschenden Mann außer dem vertraulich nahen Beieinander ihrer Gesichter, über denen ein Ausdruck der Heimlichkeit und Liebkosung lag. Er dehnte seine Schultern; der breitrandige Schatten eines Hutes saß ihm keck auf dem Kopf. »Fatal ist das, nicht wahr?« Er wartete auf eine Antwort. »Morgen? Nun ja! Habe so etwas noch nie gehört. Es muß demnach immer morgen sein, ohne irgendein heute, soweit ich verstehe.« Sie blieb reglos und stumm. »Und Sie haben ihn in dieser komischen Vorstellung bestärkt«, sagte er. »Ich habe ihm nie widersprochen.« »Warum nicht?«
»Weshalb sollte ich?« verteidigte sie sich. »Es hätte ihn nur elend gemacht. Er hätte seinen Verstand verloren.« »Seinen Verstand!« murmelte er, und es folgte ein kurzes nervöses Lachen von ihr. »Was schadete es? Sollte ich mit dem armen alten Mann Streit anfangen? Es war einfacher, selber halb daran zu glauben.« »Ja, ja«, überlegte er einsichtig. »Ich nehme an, der Alte bestrickte Sie irgendwie mit seinem sanen Gerede. Sie haben ein weiches Herz.« Ihre Hände hoben sich unstet in der Dunkelheit. »Und es hätte doch wahr sein können. Es war wahr. Es ist so eingetroffen. Hier ist es. Dies ist das Morgen, auf das wir warteten.« Sie atmete tief, und er sagte gutmütig: »Ja, vor verschlossener Tür. Ich würde gar nichts sagen, wenn … Und Sie meinen, er könnte dazu gebracht werden, mich wiederzuerkennen … Wie? Was? … Sie brächten es fertig? In einer Woche, sagen Sie? Hm, nehme schon an, daß Sie es fertigbrächten – aber bilden Sie sich ein, ich hielte es eine Woche hier aus an diesem tödlich langweiligen Ort? Ich nicht! Ich brauche harte Arbeit, oder einen Höllenradau, oder mehr Raum, als es in ganz England gibt. Ich bin allerdings schon einmal hier gewesen, und für mehr als eine Woche. Der alte Herr hatte damals meinetwegen inseriert, und ein Kamerad, den ich bei mir hatte, kam auf die Idee, ihm ein bißchen Zaster dadurch zu entlocken, daß er ihm in einem Brief allerhand Unsinn schrieb. Aber daraus wurde damals nichts. Wir mußten verduen – war höchste Zeit. Dieses Mal nun habe ich einen Kameraden, der auf mich in London wartet, und übrigens …« Bessie Carvil atmete schnell. »Wie, wenn ich versuchte, an die Tür zu klopfen?« meinte er.
»Versuchen Sie es«, sagte sie. Kapitän Hagberds Gartentor quietschte, und der Schatten seines Sohnes bewegte sich auf das Haus zu. Dann blieb er mit einem kehligen Lachen stehen, das so sehr an das des Vaters erinnerte, nur daß es saner klang, das Herz der Frau erbeben ließ und ihr aufrüttelnd in den Ohren tönte. »Er ist doch nicht allzu hitzig, oder? Ich hätte Angst, mich mit ihm anzulegen. Die Kerle sagen immer, ich wisse gar nicht, wie stark ich sei.« »Er ist das harmloseste Geschöpf, das es gibt«, unterbrach sie ihn. »Das würden Sie nicht sagen, wenn Sie gesehen hätten, wie er mich mit einem harten Lederriemen die Treppe hinauf jagte«, sagte er. »Ich habe es nicht vergessen in sechzehn Jahren.« Es überlief sie warm von Kopf bis Fuß bei seinem neuerlichen sanen, gedämpen Lachen. Das Rat-tat-tat des Türklopfers ließ ihr das Herz in die Kehle steigen. »He! Papa! Laß mich ein. Ich bin Harry. Ich bin’s. Bestimmt! Bin einen Tag früher heimgekommen.« Eines der Fenster im Obergeschoß wurde hochgestoßen. »Ein grinsender Kerl, der Ausküne gibt«, sagte die Stimme des alten Hagberd oben in der Dunkelheit. »Lassen Sie sich bloß nicht mit ihm ein. Alles wird sonst verdorben.« Sie hörte Harry Hagberd sagen: »Hallo, Papa«, und dann ein Geklirr. Das Fenster rasselte herab, und er stand wieder vor ihr. »Genau wie früher. Damals prügelte er mir die Seele aus dem Leib, um mich am Fortgehen zu hindern, und nun, da ich zurückkomme, schleudert er mir eine verdammte Schaufel an den Kopf, um mir den Einlaß zu verwehren. Das Ding streie meine Schulter.« Sie schauderte. »Mir wäre es ja gleichgültig«, begann er wieder. »Nur habe
ich meinen letzten Shilling für das Eisenbahnbillett ausgegeben und meine letzten Pennies für die Rasur – aus Rücksicht auf den alten Herrn.« »Sind Sie wirklich Harry Hagberd?« fragte sie hastig. »Können Sie es beweisen?« »Ob ich es beweisen kann? Kann das jemand?« sagte er vergnügt. »Womit beweisen? Wozu beweisen? Ich wüßte keinen einzigen Winkel in der Welt, ausgenommen vielleicht England, in dem Sie nicht einen Mann fänden, oder besser noch eine Frau, die in mir Harry Hagberd wiedererkennte. Ich ähnele Harry Hagberd mehr als jeder andere unter den Lebenden. Und ich kann es Ihnen sogleich beweisen, wenn Sie mich zu Ihrem Gartentor hineinlassen.« »Kommen Sie herein«, sagte sie. Er betrat den Vorgarten der Carvils. Sein großer Schatten schritt elastisch aus. Sie stellte sich mit dem Rücken zum Fenster und wartete, beobachtete die Gestalt, an der die Schritte einstweilen das Deutlichste waren. Das Licht fiel auf einen schiefsitzenden Hut; eine kravolle Schulter, die die Dunkelheit zu zerteilen schien; auf ein vorwärtsschreitendes Bein. Er drehte sich um und stand still, dem erhellten Stubenfenster hinter ihr voll zugewandt. Er bewegte den Kopf hin und her und lachte san in sich hinein. »Stellen Sie sich einen Augenblick lang vor, der Bart des Alten hinge mir am Kinn. Wie? Sagen Sie selbst. Von Kindheit an war ich ihm ähnlich, wie aus dem Gesicht geschnitten.« »Es stimmt«, murmelte sie vor sich hin. »Aber damit hört die Ähnlichkeit auch auf. Er war immer einer von diesen Stubenhockern. Ich erinnere mich, wie er umherschlich und jämmerlich dreinblickte schon Tage, bevor er zu einer seiner Reisen mit Kohleladung nach South Shields aurach. Er hatte ein festes Charter-Abkommen mit den Gaswerken. Man hätte denken können, er gehe auf Walfang – für
drei Jahre und mehr. Ha, ha! Nichts dergleichen. Zehn Tage draußen. Der Renner der Meere war ein schnittiges Schiff. Schöner Name, nicht wahr? Gehörte dem Onkel meiner Mutter …« Er unterbrach sich und fragte dann mit gedämper Stimme: »Hat er Ihnen je gesagt, woran Mutter gestorben ist?« »Ja«, sagte Miss Bessie bitter: »an Ungeduld.« Eine Weile gab er keinen Laut von sich; dann sagte er brüsk: »Sie hatten solche Angst, ich könnte auf Abwege kommen, daß sie mich förmlich aus dem Haus trieben. Mutter hackte auf mir herum, weil ich faul sei; und der alte Herr sagte, er werde mir eher die Seele aus dem Leib prügeln, als mich zur See gehen lassen. Es schien tatsächlich, als mache er Ernst – und so ging ich. Bisweilen muß ich denken, ich sei durch einen Irrtum bei ihnen zur Welt gekommen – in jenem anderen Hühner stall von einem Haus.« »Wo hatten Sie von Rechts wegen geboren werden sollen?« unterbrach ihn Bessie Carvil trotzig. »Im Freien, am Strand, in stürmischer Nacht«, antwortete er blitzschnell. Dann fuhr er sinnend fort: »Sie waren schon komische Figuren, die Beiden, weiß der Himmel; und der Alte scheint es geblieben zu sein – nicht wahr? Eine verdammte Schaufel an den Kopf – Hören Sie nur! Wer macht den Radau? ›Bessie, Bessie.‹ Es ist in Ihrem Haus.« »Ich werde gerufen«, sagte sie gleichgültig. Er trat zur Seite, aus dem Lichtschein heraus. »Ihr Mann?« erkundigte er sich im Tonfall eines, der an ungesetzliche Verabredungen gewöhnt ist. »Nette Stimme, das Richtige für ein Schiffsdeck bei schwerem Donnerwetter.« »Nein, mein Vater. Ich bin nicht verheiratet.« »Sie sind ein feines Mädchen, Miss Bessie, meine Liebe«, sagte er sogleich. Sie wandte ihr Gesicht ab.
»Oh, hören Sie nur – was hat das zu bedeuten? Bringt ihn einer um?« »Er will seinen Tee.« Sie stand vor ihm stumm aufgerichtet, mit abgewandtem Kopf, die Hände herabhängend ineinander verkramp. »Sollten Sie nicht besser hineingehen?« riet er, nachdem er eine Weile ihren Nacken, die blendend weiße Haut und die weichen Schatten über der dunklen Linie ihrer Schultern betrachtet hatte. Der Umhang war über ihre Ellbogen herabgeglitten. »Sonst läu noch die ganze Stadt zusammen. Ich warte solange hier.« Ihr Umhang fiel zu Boden, und er bückte sich, ihn aufzuheben; sie war verschwunden. Er nahm ihn über den Arm, und sich breit dem Fenster zukehrend, sah er drinnen die unförmige Gestalt eines fetten Mannes in einem Lehnstuhl, eine schirmlose Lampe, das Gähnen eines riesigen Mundes in einem großen, flachen Gesicht, umgeben von einem Kranz zerzausten Haares – und er sah Miss Bessies Kopf und Brust. Das Schreien horte auf; die Jalousie wurde herabgelassen. Er verlor sich in Gedanken darüber, wie elend das alles war. Der Vater verrückt; unmöglich, ins Haus zu gelangen. Kein Geld für die Rückfahrt; ein hungriger Kamerad in London, der wohl anfing zu denken, er wolle ihn lossein. »Verdammt!« murmelte er. Gewiß, er könnte die Tür aurechen; aber dafür würde man ihn möglicherweise einlochen, ohne lange zu fragen – nicht weiter schlimm, nur hatte er eine scheußliche Angst vor dem Eingesperrtwerden, wenn auch einem irrtümlichen. Ihn fröstelte bei dem bloßen Gedanken. Er stampe mit den Füßen auf das nasse Gras. »Was sind Sie – Matrose?« sagte eine erregte Stimme. Sie war herausgeschlüp, ein Schatten, angezogen von dem verwegenen Schatten, der da unter der Mauer ihres Hauses wartete.
»Was Sie wollen. Jedenfalls genug von einem Matrosen, um vor dem Mast meinen Mann zu stehen. Kam so nach Hause dieses Mal.« »Wo kommen Sie her?« fragte sie. »Gerade jetzt von einer sehr lustigen Zechtour«, sagte er, »mit dem Londoner Zug – verstehen Sie? O, wie ich es hasse, in einem Zug eingeschlossen zu sein. Ein Haus ist nicht so schlimm.« »Ah«, sagte sie, »zum Glück.« »Weil man bei einem Haus jederzeit die verflixte Tür aufreißen und geradenwegs hinausmarschieren kann.« »Um nie zurückzukehren?« »Nach sechzehn Jahren frühestens«, sagte er lachend. »In einen Kaninchenstall, um eine elende alte Schaufel an den Kopf geschleudert zu bekommen …« »Ein Schiff ist nicht eben sehr groß«, stichelte sie. »Nein, aber das Meer ist groß.« Sie ließ den Kopf sinken, und als seien ihre Ohren aufgesperrt worden für die Stimmen der Welt, als hörte sie jenseits der Ufermauer das von dem gestrigen Sturm aufgewühlte Meer gegen den Strand anbranden mit seinem monotonen und feierlichen Brausen, als sei die ganze Erde zu einer läutenden Glocke geworden. »Und, nun ja, ein Schiff ist ein Schiff. Man liebt es und verläßt es; und eine Reise ist keine Ehe«, zitierte er das MatrosenSprichwort. »Sie ist keine Ehe«, flüsterte sie. »Ich habe nie einen falschen Namen angenommen, und ich habe nie eine Frau belogen. Warum lügen? Denn die Lüge – –. Nimm mich oder laß mich, sage ich; und wenn du mich nimmst, so heißt das …« Er summte, gegen die Mauer gelehnt, leise eine Melodie.
O, ho, nach Rio! Und du leb wohl, Mein Mädchen, mein Lieb, Rio Grande ist unser Ziel. »Seemannslied«, erklärte er. Ihre Zähne klapperten. »Sie frieren«, sagte er. »Hier ist Ihr Zeug. Ich habe es aufgehoben.« Sie fühlte seine Hände, fühlte sich von ihnen in das Tuch gehüllt. »Halten Sie vorn die Zipfel zusammen«, befahl er. »Warum kamen Sie hierher?« fragte sie und unterdrückte ein Zittern. »Wegen fünf Pfund«, antwortete er ohne Zögern. »Wir haben unsere Zechtour ein wenig zu lange ausgedehnt und sitzen auf dem Trockenen.« »Sie haben getrunken?« fragte sie. »Und wie. Sternhagelvoll, drei Tage lang; mit Bedacht. Ich bin nicht unbeherrscht – denken Sie das nicht. Nichts und niemand kann mich zu etwas bewegen, es sei denn, ich habe Lust danach. Ich kann so fest wie ein Fels sein. Mein Kamerad schaut heute morgen in die Zeitung und sagt zu mir: ›Da lies, Harry: Liebender Vater. Das bedeutet fünf Pfund auf die Hand.‹ Wir durchsuchten unsere sämtlichen Taschen nach dem nötigen Reisegeld. Verteufeltes Glück!« »Sie haben ein hartes Herz, fürchte ich«, seufzte sie. »Warum? Weil ich fortgerannt bin? Wie denn! Er wollte einen Kanzleidiener aus mir machen – weil es ihm so gefiel. War doch Herr in seinem Haus; und meine arme Mutter bestärkte ihn darin – zu meinem Besten, nehme ich an. Deshalb – auf Wiedersehen! und ich ging. Nein, ich sage Ihnen: am Tag, da ich das Weite suchte, war ich am ganzen Körper blau und schwarz von den Beweisen seiner großen Liebe. Ah! er war immer schon so etwas wie eine komische Figur, Sehen Sie nur die Schaufel, vorhin. Verrückt im Kopf? Nicht sehr. Das war ganz mein Vater. Er will mich hier, damit er jeman
den hat, den er kommandieren kann. Aber nun – wir beiden sind arg in der Klemme; und was sind für ihn fünf Pfund – einmal alle sechzehn Jahre?« »Oh, Sie tun mir leid. Hatten Sie denn je heimkommen wollen?« »Um Kanzleidiener zu werden und hier zu verschimmeln – in diesem Nest?« rief er verachtungsvoll. »Wenn mein alter Herr mich heute in ein Haus setzte, ich würde es in Trümmer legen – oder darin sterben, ehe noch drei Tage um wären.« »Und wo sonst hoffen Sie zu sterben?« »Im Busch, irgendwo; im Meer; am liebsten auf so einem Berggipfel. Zu Hause? Ja! die Welt ist mein Haus; aber, ich werde wohl irgendwann in einem Hospital sterben, denke ich. Was soll es auch? Jeder Platz ist mir recht, wenn ich nur gelebt habe; und ich bin so ziemlich alles gewesen, was Sie sich denken können, außer Schneider und Soldat. Ich war Heckenreiter; ich habe Schafe geschoren, bin mit meinem Bündel über Land gezogen; habe einen Wal harpuniert. Ich habe Schiffe getakelt und Gold geschür und tote Büffel abgehäutet – und ich habe mehr Geld ausgegeben, als der Alte je in seinem ganzen Leben zusammengekratzt hat. Ha, ha!« Sie war überwältigt von ihm. Sie rae sich auf, murmelte: »Zeit, um zur Ruhe zu gehen.« Er reckte sich, stieß sich von der Wand ab und sagte streng: »Zeit, fortzugehen.« Aber er rührte sich nicht. Er lehnte sich wieder zurück und summte gedankenverloren ein, zwei Takte einer fremdländischen Weise. Sie fühlte, wie ihr die Tränen kamen. »Das ist wieder eines Ihrer grausamen Lieder«, sagte sie. »Habe es in Mexiko gelernt – in Sonora.« Er sprach unbekümmert. »Es ist das Lied der Gambucinos. Sie wissen nicht? Das Lied der ruhelosen Männer. Nichts kann sie an einem Ort
halten – nicht einmal eine Frau. In früheren Tagen stieß man dann und wann auf einen von ihnen, am Rande des Goldreviers, dort im Norden, jenseits des Rio Gila. Ich war dort. Ein Minen-Ingenieur in Mazatlan nahm mich mit; ich sollte ihm bei den Fuhrwerken helfen. Ein Seemann ist immer zu gebrauchen. Alles ist Wüste dort: Risse in der Erde, tief, daß man nicht auf den Grund sehen kann; und Berge – nackte Felsen, die aufragen wie Mauern und Kirchtürme, nur hundertmal höher. Die Täler sind voller Felsen und schwarzem Geröll. Kein Hälmchen weit und breit; und die Sonne geht röter über diesem Land unter, als ich sie irgendwo sonst gesehen habe – blutrot und zornig. Es ist schön.« »Sie wollen doch nicht dorthin zurück?« stammelte sie. Er lachte ein wenig. »Nein. Das ist das verdammte Goldrevier. Es schauderte mich zuweilen, wenn ich es vor mir sah – und wir waren eine große Schar von Männern, wohlgemerkt; die Gambucinos aber wanderten allein. Sie kannten dieses Land, lange bevor irgend jemand sonst davon gehört hatte. Sie hatten eine besondere Begabung für das Schürfen; und das Schürf-Fieber hatte auch sie gepackt; auf das Gold selbst schienen sie gar nicht so sehr erpicht. Sie fanden eine ergiebige Stelle und kehrten ihr dann den Rücken; lasen vielleicht einiges Gold auf – genug für eine Zechtour – und zogen fort, um weiter zu suchen. Sie hielten sich nie lange dort auf, wo Häuser standen. Sie hatten keine Frau, kein Kind, kein Heim, nie einen Kameraden. Man konnte nicht Freund werden mit einem Gambucino; sie waren allzu ruhelos – heute hier und, Gott weiß, wo morgen. Sie erzählten niemandem von ihren Funden, und es hat nie einen wohlhabenden Gambucino gegeben. Nicht um das Gold ging es ihnen. Das Umherwandern, das Suchen nach Gold in dem steinigen Gelände – das hatte es ihnen angetan und ließ sie nicht zur Ruhe kommen: so daß es keiner leiblichen Frau je gelungen ist, einen Gambucino länger
als eine Woche bei sich festzuhalten. Das erzählt dieses Lied. Es handelt von einem hübschen Mädchen, das nach Kräen bemüht war, einen Gambucino-Liebhaber festzuhalten, damit er ihr haufenweise Gold bringe. Keine Angst! Er ging davon, und das Mädchen sah ihn nie wieder.« »Was wurde aus dem Mädchen?« hauchte sie. »Das erzählt das Lied nicht. Wird ein bißchen geweint haben. So sind diese Burschen: küssen und gehen. Und es ist das Suchen nach einem Ding – ein etwas … Manchmal denke ich, ich sei selbst solch ein Gambucino.« »Dann kann keine Frau Sie halten«, begann sie mit metallischer Stimme, die vor dem Ende des Satzes plötzlich zu zittern begann. »Nicht länger als eine Woche«, scherzte er, und der fröhliche, zarte Ton seines Lachens spielte über die Saiten ihres Herzens. »Und doch mag ich sie alle. Was gebe ich nicht für eine Frau von der rechten Sorte. In was für Verlegenheiten haben sie mich gebracht, und aus was für Verlegenheiten herausgeholt! Ich liebe sie auf den ersten Blick. Ich habe mich bereits in Sie verliebt, Miss – Bessie ist Ihr Name – nicht wahr?« Sie wich ein wenig zurück und sagte mit zitterndem Lachen: »Sie haben noch nicht einmal mein Gesicht gesehen.« Er beugte sich ritterlich über sie. »Ein bißchen bleich: das steht manchen gut. Aber Sie haben eine wundervolle Figur, Miss Bessie.« Sie erzitterte am ganzen Leib. Das hatte ihr noch niemand gesagt. Sein Ton änderte sich. »Aber ich bin einigermaßen hungrig. Hatte kein Frühstück heute. Könnten Sie nicht ein paar Brote, die vom Tee übrig geblieben sind, für mich zusammenkratzen, oder –« Sie war schon fort. Ihm hatte auf der Zunge gelegen, sie zu fragen, ob sie ihn ins Haus kommen lasse. Gleichviel. Jeder
Ort war ihm recht. Es war eine verteufelte Lage! Was würde sein Kamerad denken? »Ich bat Sie nicht als Bettler«, sagte er scherzend und nahm sich ein Butterbrot vom Teller, den sie ihm hinhielt. »Ich bat als Freund. Mein Papa ist reich, Sie wissen es.« »Er hungert um Ihretwillen.« »Und ich habe um seiner Laune willen gehungert«, sagte er und nahm sich ein weiteres Brot. »Alles was er auf der Welt besitzt, ist für Sie bestimmt«, sagte sie flehend. »Ja, wenn ich herkomme und mich darauf hocke wie eine verdammte Kröte in ihrem Loch. Danke schön; und wie war es mit der Schaufel? Er hatte immer eine eigentümliche Art, seine Liebe zu bekunden.« »Ich könnte ihn umstimmen, in einer Woche«, schlug sie schüchtern vor. Er war allzu hungrig, um ihr zu antworten; und während sie ihm demütig den Teller hinhielt, begann sie hastig, mit atemloser Stimme, zu ihm hinaufzuflüstern. Er lauschte aufmerksam, aß langsamer und langsamer, bis sein Kauen ganz aufhörte. »Darauf hat er es abgesehen?« sagte er laut, mit schneidender Verachtung. Eine unbezähmbare, wütende Armbewegung ließ den Teller aus ihren Fingern gleiten. Er stieß einen fürchterlichen Fluch aus. Sie wich vor ihm zurück, preßte die Hände gegen die Hauswand. »Nein!« raste er. »Er erwartet! Erwartet von mir – wegen seines elenden Geldes! … Wer will denn sein Haus? Verrückt – er nicht! Denken Sie das bloß nicht. Er wollte, daß ich ein jämmerlicher Kanzleidiener werde, und nun will er ein verdammtes zahmes Kaninchen in einem Käfig aus mir machen. Aus mir! Aus mir!« Sein unterdrücktes zorniges Lachen erschreckte sie nun.
»Die ganze Welt ist gerade groß genug, um mir die nötige Ellbogenfreiheit zu geben, das kann ich Ihnen sagen – wie heißen Sie? – Bessie –; was soll mir da eine lumpige Stube in einem Stall? Heiraten! Er will, daß ich heirate und mich niederlasse! Und wahrscheinlich hat er auch schon die Frau ausgesucht – daß mich der Teufel hole! Kennen Sie diese Judy, frage ich Sie?« Sie zitterte am ganzen Leib in lautlosem, tränenlosem Schluchzen. Aber er wütete und raste zu sehr, um ihre Qual zu bemerken. Er biß sich, bei dem bloßen Gedanken, vor Wut auf den Finger. Ein Fenster wurde rasselnd hochgeschoben. »Ein grinsender Kerl mit Auskünen«, verkündete der alte Hagberd belehrend in gemessenem Ton. Und Bessie schien es, als lasse der Klang seiner Stimme die Nacht selbst verrückt werden – ströme Wahnsinn und Unheil über die Erde aus. »Nun weiß ich, was mit diesen Leuten hier nicht stimmt, meine Liebe. Ja, natürlich! Wenn da so ein verrückter Kerl umherläu. Lassen Sie sich bloß nicht mit ihm ein, Bessie. Bessie, hören Sie!« Sie stand wie sprachlos da. Der alte Mann machte sich an dem Fenster zu schaffen und murmelte vor sich hin. Plötzlich schrie er durchdringend: »Bessie – ich sehe Sie. Ich werde es Harry sagen.« Sie vollführte eine Bewegung, als wollte sie davonlaufen, dann hielt sie inne und hob ihre Hände an die Schläfen. Der junge Hagberd stand schattenha und groß da, unbeweglich, als wäre er ein Bronzebild. Über ihren Köpfen wimmerte und schalt die verrückt gewordene Nacht mit der Stimme eines alten Mannes. »Schicken Sie ihn fort, meine Liebe. Er ist nur ein Landstreicher. Was Sie brauchen, das ist ein gutes, eigenes Heim. Die
ser Bursche hat kein Heim – er ist nicht wie Harry. Er kann nicht Harry sein. Harry kommt morgen. Hören Sie? Noch einen Tag«, plapperte er aufgeregter: »Nur keine Angst – Harry wird Sie heiraten.« Seine Stimme erhob sich schrill und wahnwitzig über das gleichmäßige, tiefe Rauschen der Dünung, die schwer gegen die Außenwand der Ufermauer brandete. »Er muß. Ich werde ihn zwingen, und wenn er nicht einwilligt«, er stieß eine mächtige Verwünschung aus – »enterbe ich ihn morgen und hinterlasse alles Ihnen. Das werde ich tun. Ihnen. Soll er verhungern.« Das Fenster rasselte herab. Harry holte tief Lu und trat einen Schritt auf Bessie zu. »Sie sind es also. Sie sind das Mädchen«, sagte er mit leiser Stimme. Sie hatte sich nicht gerührt und blieb halb abgewandt vor ihm stehen, die Hände an die Schläfen gepreßt. »Wahrhaig!« fuhr er mit einem unsichtbaren halben Lächeln auf den Lippen fort. »Ich hätte nicht übel Lust zu bleiben …« Ihre Ellbogen zitterten heig. »Für eine Woche«, beendete er nach einer Pause den Satz. Sie schlug die Hände vors Gesicht. Er trat dicht an sie heran und ergriff san ihre Handgelenke. Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr. »Ich bin in einer rechten Verlegenheit – und Sie müssen mir heraushelfen.« Er versuchte, ihr Gesicht bloßzulegen. Sie widerstand. So ließ er ab und trat einen Schritt zurück. »Haben Sie Geld?« fragte er. »Ich muß jetzt gehen.« Sie nickte rasch und voll Scham. Er wartete und blickte fort, während sie, am ganzen Leibe zitternd und mit gesenktem Nacken, versuchte, die Tasche ihres Kleides zu finden. »Hier ist es!« flüsterte sie. »Oh, gehen Sie! gehen Sie, um Gottes Willen! Hätte ich mehr – mehr – ich würde Ihnen
alles geben, um zu vergessen – um Sie vergessen zu lassen.« Er streckte die Hand aus. »Keine Angst! Ich habe keine von Euch vergessen in dieser Welt. Manche gaben mir mehr als Geld – aber ich bin jetzt ein Bettler – und ihr Frauen habt mich schon aus so mancher Verlegenheit herausgeholt.« Er schlenderte zum Wohnzimmerfenster und betrachtete im schwachen Licht, das durch die Vorhänge sickerte, die Münze in seiner Hand. Es war ein halber Sovereign. Er schob ihn in die Tasche. Sie stand ein wenig abseits, ließ den Kopf hängen, wie verwundet; die Arme hingen reglos an ihr herab, wie tot. »Sie können mich nicht ankaufen«, sagte er, »und Sie können sich nicht loskaufen.« Mit einem leichten Schlag drückte er den Hut fester auf den Kopf, und im nächsten Augenblick fühlte sie sich hochgehoben in seiner kravollen Umarmung. Ihre Füße verloren den Boden; der Kopf sank ihr zurück; er überschüttete ihr Gesicht mit Küssen, in schweigender, herrischer Glut, als habe er es eilig, bis zu ihrer Seele vorzudringen. Er küßte ihre bleichen Wangen, ihre harte Stirn, ihre schweren Augenlider, die verblaßten Lippen; und das gemessene Stampfen und Seufzen der steigenden Flut begleitete die umschlingende Kra seiner Arme, die überwältigende Macht seiner Liebkosung. Es war, als hätte das Meer, den Wall durchbrechend, der alle Häuser dieser Stadt beschützte, sie mit seiner Woge überflutet. Es ging vorüber; sie stolperte zurück, lehnte sich gegen die Mauer, wie gestrandet dort nach einem Sturm und einem Schiruch. Sie öffnete nach einer Weile die Augen; und auf die festen gemächlichen Schritte lauschend, die sich mit ihrer Eroberung entfernten, nahm sie, immer vor sich hinstarrend, langsam ihre Röcke zusammen. Dann stürzte sie plötzlich durch das
geöffnete Gartentor auf die dunkle, verlassene Straße hinaus. »Halt!« rief sie. »Geh nicht!« Und lauschend, den Kopf aufmerksam vorgestreckt, konnte sie nicht sagen, ob es der Schlag der Dünung oder sein schicksalhaer Schritt war, der grausam auf ihr Herz zu fallen schien. Plötzlich wurden alle Geräusche schwächer, als verwandle sie selbst sich langsam in Stein. Eine Furcht vor dieser entsetzlichen Stille überkam sie – schlimmer als die Furcht vor dem Tod. Sie rae ihre verebbende Kra zu einem letzten Appell auf: »Harry« Nicht einmal das ersterbende Echo eines Schrittes. Nichts. Das Donnern der Brandung, die Stimme der ruhelosen See schienen verstummt. Da war kein Laut – kein Flüstern des Lebens, als sei sie allein und verloren in jenem steinigen Land, von dem sie gehört hatte, wo Wahnsinnige nach Gold suchten und ihren Fund verachteten. Kapitän Hagberd in seinem Haus war wachsam geblieben. Das Fenster rasselte hoch; und in das Schweigen des steinigen Landes sprach über ihrem Kopf eine Stimme, hoch in der schwarzen Lu – eine Stimme des Wahnsinns, der Lüge und Verzweiflung – die Stimme unauslöschlicher Hoffnung. »Ist er schon fort – dieser Kerl mit seinen Auskünen? Hören Sie ihn noch, meine Liebe?« Sie brach in Tränen aus. »Nein! nein! nein! ich höre ihn nicht mehr«, schluchzte sie. Er begann dort oben triumphierend vor sich hinzukichern. »Sie haben ihn verscheucht. Braves Mädchen. Nun ist alles gut. Seien Sie nicht ungeduldig, meine Liebe. Ein Tag noch,« In dem anderen Haus rekelte sich der alte Carvil herrisch in seinem Lehnstuhl, die brennende Kugellampe neben sich auf
dem Tisch, und schrie mit teuflischer Stimme: »Bessie! Bessie! Du, Bessie!« Sie hörte ihn schließlich und begann, wie überwältigt vom Schicksal, schweigend zurückzutaumeln in ihr stickiges kleines häusliches Inferno. Es hatte kein hohes Portal, keine schreckliche Inschri verwirkter Hoffnungen – sie begriff nicht, worin sie gesündigt. Kapitän Hagberd dort oben hatte sich nach und nach in einen Zustand lärmender Glückseligkeit gesteigert. »Schließen Sie das Fenster! Seien Sie ruhig!« rief sie ihm schluchzend von der Türschwelle aus zu. Er rebellierte gegen ihre Autorität in seiner großen Freude darüber, daß er schließlich dieses Etwas, das »nicht stimmte«, wieder los geworden war. Es schien, als sei der ganze hoffnungsvolle Wahnsinn dieser Welt ausgebrochen, um Schrekken über ihr Herz zu bringen mit der Stimme dieses alten Mannes, der sein Vertrauen auf ein immerwährendes Morgen hinausschrie in die Nacht.
DER SCHWARZE STEUERMANN
Es ist nun schon viele Jahre her, da lagen am Pier des London Dock mehrere Schiffe, um Ladung aufzunehmen. Ich spreche hier von den Achtzigerjahren des vorigen Jahrhunderts, von jener Zeit, da London eine Menge schöner Schiffe in seinen Docks liegen hatte, wenn auch nicht so viele schöne Gebäude an seinen Straßen. Die Schiffe am Pier waren wirklich schön; sie lagen eines hinter dem anderen; und die Sapphire, das drittletzte, war so gut wie die übrigen, nicht besser und nicht schlechter. Jedes Schiff am Pier hatte natürlich seinen Ersten Offizier. Wie jedes andere Schiff im Hafen. Der Polizist am Hafentor kannte sie alle vom Sehen, vermochte jedoch nicht sogleich, nicht ohne vorheriges Besinnen, anzugeben, zu welchem Schiff ein jeder von ihnen gehörte. In der Tat waren die Steuermänner der damals im London Dock liegenden Schiffe nicht anders als die Mehrzahl der Offiziere in der Handelsmarine – von einem ruhigen, arbeitsamen, zuverlässigen, in seinem Äußern unromantischen Schlag, zwar aus verschiedenen Gesellschasschichten stammend, aber derart vom Beruf geprägt, daß die persönlichen, ohnehin nicht hervorstechenden Merkmale ausgelöscht schienen. Letzteres galt für alle mit Ausnahme des Steuermanns der Sapphire. Über ihn konnten die Polizisten nicht im Zweifel sein. Der machte Figur. Schon von weitem erkannten sie ihn auf der Straße; und wenn er des Morgens den Pier hinab zu seinem Schiff schritt, bemerkten die Schauerleute und Hafenarbeiter, die ihre Ballen
wälzten und die Ladekisten auf ihren Karren vor sich herrollten, zueinander: »Da geht der schwarze Steuermann.« Das war der Name, den sie ihm gaben, da sie eine ungeschliffene Schar waren, die keinen Sinn aurachte für das würdige Gebaren des Mannes. Und ihn schwarz zu nennen, bewies nur die oberflächliche Wahrnehmungsweise des Ignoranten. Selbstverständlich war Mr. Bunter, der Steuermann der Sapphire, nicht schwarz. Er war nicht schwärzer als Sie oder ich und bestimmt so weiß wie jeder andere Erste Steuermann auf einem Schiff im Hafen von London. Seine Hautfarbe war von der Art, die nicht leicht bräunt; und zufällig wußte ich, daß der arme Bursche, bevor er auf die Sapphire kam, einen Monat krank gelegen hatte. Hieraus werden Sie entnehmen, daß ich Bunter kannte. Gewiß kannte ich ihn. Und was mehr ist, ich kannte damals schon sein Geheimnis, dieses Geheimnis, das dann – aber genug davon fürs erste. Um zu Bunters persönlicher Erscheinung zurückzukehren, so zeugte es von schierem Vorurteil des Unwissenden, wenn der Stauerbaas verkündete, wie er es in meiner Gegenwart getan hatte: »Ich wette, das ist irgend so ein Ausländer.« Schließlich kann ein Mann schwarzes Haar haben und muß deshalb noch lange kein Hidalgo sein. Ich bin einem Matrosen aus Westengland begegnet, Bootsmann eines Prachtschiffes, der spanischer aussah als je ein Spanier, der mir auf See vorgekommen ist. Er sah wie ein Spanier aus dem Bilderbuch aus. Sachverständige, Autoritäten ihres Faches, versichern uns, die Erde werde eines Tages das Erbe der Menschen mit dunklem Haar und braunen Augen sein. Schon jetzt scheint der überwiegende Teil der Menschheit dunkelhaarig in verschiedenen Schattierungen zu sein. Aber wie selten Menschen mit wirklich schwarzem, ebenholzschwarzem Haar sind, das erkennen
Sie erst, wenn Sie einem begegnen. Bunters Haar war vollkommen schwarz, schwarz wie Rabenschwingen. Überdies trug er einen Bart (gestutzt zwar, aber gleichwohl ziemlich lang), und seine Augenbrauen waren dick und buschig. Fügen Sie stahlblaue Augen hinzu, bei einem blondhaarigen Mann nichts außergewöhnliches, zu solch finsterem Rahmen aber in markantem Kontrast stehend, und Sie werden ohne weiteres begreifen, daß Bunter bemerkenswert war. Wären seine Bewegungen nicht so ruhig, wäre sein Benehmen nicht von so steter Nüchternheit gewesen, man hätte seinem Wesen wilde Leidenschalichkeit zugetraut. Freilich stand er nicht mehr in erster Jugendblüte; aber wenn der Ausdruck »in der Vollkra seiner Mannesjahre« irgendeine Bedeutung hat – er verkörperte sie restlos. Dazu war er hochgewachsen, wenn auch eher mager. Als ihn Kapitän Ashton von dem Klipper Elsinor, der geradezu vor der Sapphire lag, vom Achterdeck aus seine Arbeit mit unermüdlicher Emsigkeit verrichten sah, bemerkte er zu seinem Freund, da habe »Johns aber jemanden bekommen, der ihm sein Schiff schön in Schuß halte.« Kapitän Johns, von der Sapphire, befehligte schon seit vielen Jahren Schiffe und war wohl bekannt, wenn auch nicht sehr geachtet oder gar beliebt. In Gesellscha seiner Berufsgenossen wurde er entweder links liegen gelassen oder gehänselt. Das Hänseln besorgte im allgemeinen Kapitän Ashton, ein zu boshaem Spott neigender Mann. Und Kapitän Ashton hatte sich einmal den unfreundlichen Scherz erlaubt, in Gesellscha zu verkünden, »Johns sei der Ansicht, jeder Seemann über vierzig sollte vergiet werden – aktive Schiffskapitäne ausgenommen.« Das hatte sich in einem Restaurant in der City zugetragen, wo einige bekannte Schiffskapitäne gemeinsam zu Mittag aßen. Da war Kapitän Ashton gewesen, blühend und aufgeräumt, in
einer prächtigen weißen Weste und mit gelber Rose im Knopfloch; Kapitän Seilers in einem losen Jackett, mager und bleich, mit eisgrauem, glatt hinter die Ohren gekämmtem Haar, der, wenn auch ohne Brille, wie ein asketischer, sanmütiger Bücherwurm aussah; Kapitän Bell, ein großmäuliger alter Seebär mit behaarten Fingern, in blauem Serge-Anzug, den schwarzen Filzhut weit aus der geröteten Stirn nach hinten geschoben. Schließlich war da noch ein sehr junger Schiffskapitän mit einem blonden Schnurrbärtchen und ernsten Augen, der wenig sagte und von Zeit zu Zeit schwach lächelte. Erstaunt hob Kapitän Johns seinen verlegenen und gutgläubigen Blick, der zusammen mit der niedrigen, von waagerechten Falten durchzogenen Stirn nicht eben ein intelligentes ensemble bildete. Dieser Eindruck wurde von der ein wenig spitzigen Form seines Schädels keineswegs gemildert. Alles lachte laut, was schließlich Kapitän Johns zu einem ziemlich säuerlichen Lächeln veranlaßte und einem Versuch, sich zu rechtfertigen. Scherze seien ja ganz schön, aber heutzutage, da Schiffe, wenn sie überhaupt etwas abwerfen sollten, schnell vorangebracht werden mußten, sowohl unterwegs wie im Hafen, sei die See nicht mehr der rechte Platz für ältere Männer. Nur junge Männer und Männer in der Blüte ihrer Jahre seien den modernen Anforderungen, dem Gestoße und Gehetze, gewachsen. Wie machten es denn die großen Firmen; beinahe jede entledige sich doch der Männer, die Spuren von Alter aufwiesen. So wolle er eben auch keine Alten mehr auf seinem Schiff. Und in der Tat stand Kapitän Johns mit seiner Meinung nicht allein. Damals liefen sich eine Menge Seeleute, denen nichts Schlimmeres als ihre Grauhaarigkeit vorzuwerfen war, auf dem Pflaster der City die Sohlen ihres letzten Paares Schuhe durch bei der herzzermürbenden Suche nach einer Heuer. Kapitän Johns fügte noch mit übellauniger Unschuldsmiene
hinzu, von dieser Meinung zum Gedanken an das Vergien von Mitmenschen sei doch ein sehr weiter Schritt. Das schien unwiderlegbar, aber Kapitän Ashton wollte seinen Scherz nicht preisgeben. »Doch, doch. Ich bin überzeugt, Sie denken daran. Sie sagten deutlich ›nichts nütze‹. Was soll mit Menschen geschehen, die ›nichts nütze‹ sind? Sie sind ein gutmütiger Kerl, Johns. Ich bin sicher, Sie würden, wenn Sie nur alles sorgsam bedächten, einwilligen, daß man sie auf schmerzlose Weise vergiet.« Kapitän Seilers kräuselte die gebogenen Lippen. »Machen Sie doch Geister aus ihnen«, empfahl er bissig. Bei der Erwähnung von Geistern wurde Kapitän Johns auf seine verlegene, heimliche und unangenehme Weise schüchtern. Kapitän Ashton zwinkerte. »Ja. Und dann hätten Sie vielleicht Gelegenheit, mit der Geisterwelt in Verbindung zu treten. Geister von Seeleuten würden bestimmt Schiffe heimsuchen. Sicher gäbe es da den einen oder anderen alten Schiffskameraden zu besuchen.« Kapitän Seilers bemerkte trocken: »Machen Sie ihm nicht den Mund wäßrig. Das ist grausam. Er wird natürlich nichts sehen. Sie wissen doch, Johns, niemand hat je einen Geist gesehen.« Angesichts dieser unerträglichen Herausforderung gab Kapitän Johns seine Reserve auf. Ohne alle Verlegenheit, vielmehr mit einer wahrha leidenschalichen Gläubigkeit, die seine trüben kleinen Augen einen Moment lang aufleuchten ließ, berief er sich auf eine Menge verbürgter Beispiele. Es gebe Bücher genug, angefüllt mit Beispielen. Es sei grober Unverstand, übernatürliche Erscheinungen zu leugnen. Fälle solcher Erscheinungen würden jeden Monat in einer besonderen Zeitschri veröffentlicht. Professor Cranks sehe täglich Geister. Und Professor Cranks sei schließlich kein kleiner Fisch im Teich. Einer der größten lebenden Wissenschaler. Und da sei
noch dieser Zeitungsfritze – wie heiße er gleich? –, der immer Besuch von einem Jung-Mädchen-Geist erhalte. Er drucke in seiner Zeitung Dinge ab, die das Mädchen sage. Und nach all dem zu behaupten, es gebe keine Geister! »Sie sind ja sogar photographiert worden! Was wollen Sie mehr an Beweisen?« Kapitän Johns war empört. Kapitän Beils Lippen zuckten; aber nun protestierte Kapitän Ashton. »Um Himmels willen, lassen Sie ihn nicht so weitermachen. Und übrigens, Johns, wer ist der haarige Seeräuber, den Sie sich da als neuen Steuermann genommen haben? Niemand im Dock scheint ihn je gesehen zu haben.« Beruhigt über den Wechsel des Gesprächsthemas, antwortete Kapitän Johns schlicht, es sei Willy, der Tabakhändler, Ecke Fenchurch Street gewesen, der ihn geschickt habe. Willy, sein Laden und auch das Haus in der Fenchurch Street sind heute, glaube ich, verschwunden. Mit gramgezeichneter, geistesabwesender Miene und bläßlichem Gesicht versorgte Willy seinerzeit viele der vom Londoner Hafen nach Süden gehenden Schiffe mit Tabak. Zu bestimmten Tageszeiten war der Laden voll von Kapitänen. Sie saßen auf Kisten, lehnten an der eke. Manch ein Junger machte von hier aus seinen ersten Sprung ins Leben; manch einer fand hier die ihm so bitter nötige Stelle einfach dadurch, daß er wegen vier Penny Feinschnitt in einem günstigen Moment hereinschaute. Sogar Willys Gehilfe, ein rothaariger, teilnahmsloser, sehr zart wirkender junger Bursche, reichte einem bisweilen über die eke hinweg zusammen mit der Schachtel Zigaretten einen wertvollen Hinweis, flüsternd und dabei kaum die Lippen bewegend: »Die Bellona, Süddock, sucht Zweiten Offizier. Sie kommen vielleicht noch rechtzeitig, wenn Sie sich sputen.« Und wie man dann rannte!
»Oh, Willy schickte ihn«, sagte Kapitän Ashton. »Ein sehr eindrucksvoller Mann. Wenn Sie ihm eine rote Schärpe um den Leib und ein rotes Tuch um den Kopf binden, sieht er wie einer jener freibeuterischen Gesellen aus, die die Männer von der Planke springen ließen und die Frauen in die Gefangenscha davontrugen. Passen Sie nur auf, Johns, daß er Ihnen nicht eines Tages die Kehle durchschneidet und mit der Sapphire auf und davon geht. Von welchem Schiff kommt er?« Kapitän Johns, der wie gewöhnlich in seiner töricht leichtgläubigen Weise aufgeblickt hatte, runzelte die Stirn und sagte ruhig, der Mann habe bessere Tage gesehen. Er heiße Bunter. »Vor einigen Jahren war er Kapitän eines Schiffes aus Liverpool, der Samaria. Er verlor das Schiff im Indischen Ozean, und sein Patent wurde für ein Jahr eingezogen. Seitdem ist es ihm nicht mehr gelungen, eine Kapitänsstelle zu bekommen. Zuletzt hat er sich bei der Transatlantik-Schiffahrt herumgeschlagen.« »Deshalb kennt ihn kein Mensch hier im Hafen«, beschloß Kapitän Ashton die Unterhaltung, als sie von Tisch aufstanden. Nach dem Mittagessen schritt Kapitän Johns zum Hafen hinab. Er war klein von Statur und ein wenig O-beinig. Seine Erscheinung erregte bei den Menschen im allgemeinen keine Hochachtung. Nur bei seinen Dienstherren muß das anders gewesen sein. Er stand in dem Ruf, ein ungemütlicher Kapitän zu sein, peinlich genau in Belanglosigkeiten, immer irgendeinen Groll hegend und beständig nörgelnd. Er war nicht einer, der einen fürchterlichen Krach macht und es dabei bewenden läßt, sondern einer, der Ihnen mit winselnder Stimme unangenehme Dinge sagt; ein Mann, der einem Offizier, wenn er ihm nicht gewogen ist, das Leben zur Holle machen kann.
An jenem Abend besuchte ich Bunter an Bord und bekundete ihm meine Sympathie angesichts all dessen, was ihm auf dieser Reise bevorstehe. Er wirkte bedrückt. Ich glaube, ein Mann, der in seiner Brust ein Geheimnis verschließt, büßt seine Lebenslust ein. Und da war noch ein anderer Grund, der mir verbot, von Bunter die Bekundung großer geistiger Unbeschwertheit zu erwarten. Zunächst einmal hatte er sich in letzter Zeit sehr elend gefühlt. Und dann – aber davon später. Kapitän Johns hatte diesen Nachmittag an Bord verbracht, war um seinen Ersten Steuermann in einer Weise schnüffelnd herumgeschlichen, die Bunter aufs Äußerste verdrossen hatte. »Was mag das bedeuten?« fragte er mit ruhigem Ingrimm. »Man könnte meinen, er verdächtige mich, etwas gestohlen zu haben, und suche herauszubekommen, in welche Tasche ich es gestop habe; oder jemand habe ihm weisgemacht, ich trüge einen Schweif, und er wolle sehen, wie ich es anstellte, ihn zu verstecken. Ich werde nicht gern mehrmals an einem Nachmittag von hinten angegangen in dieser kriechenden Weise und lasse mir plötzlich unter dem Ellenbogen hervor ins Gesicht spähen. Ist das ein neues Versteckspiel? Es behagt mir nicht. Ich bin kein Baby mehr.« Ich versicherte ihm, sollte es jemandem einfallen, Kapitän Johns weiszumachen, er – Bunter – trage einen Schweif, Johns wäre fähig, der Geschichte auf geheimnisvolle Weise Glauben zu schenken. Er täte es. Er war in ungeheuerlichstem Maße zugleich mißtrauisch und gutgläubig. Er würde jede alberne Geschichte glauben, einen Menschen des Schlimmsten verdächtigen und mit seinem Verdacht umherkriechen, darüber brütend, ihn hin- und herwälzend in seiner elenden, innerlich greinenden Unsicherheit. Am Ende würde er zu der gemeinsten Ansicht von der Sache gelangen und, vermöge einer
natürlichen Begabung für derlei, auf deren denkbar gemeinste Behandlung verfallen. Bunter erzählte mir des weiteren, das gemeine Geschöpf sei auf seinen kleinen krummen Beinen mit ihm über das ganze Schiff gekrochen, um eine Menge lächerlicher Kleinigkeiten jammernd und greinend zu beanstanden. Krabbelte auf dem Deck herum wie ein widerliches Insekt – eine Küchenschabe, nur nicht so flink. So drückte sich der besonnene Bunter mit großem Abscheu aus. Dann fuhr er in seiner gewohnten würdigen Bedächtigkeit fort, die durch das Zusammenziehen seiner pechschwarzen Augenbrauen einen finsteren Ausdruck annahm. »Und der Kerl ist obendrein wahnsinnig. Er versuchte, ein bißchen gesellig zu sein, und ihm fiel nichts Besseres ein, als mich mit großen Augen anzustarren und zu fragen, ob ich an eine ›Kommunikation über das Grab hinaus‹ glaubte. Kommunikation über – ich wußte zunächst gar nicht, was er meinte; wußte nichts darauf zu antworten. ›Ein sehr ernstes ema, Mr. Bunter‹, sagte er. ›Ich habe mich lange damit beschäigt.‹« Hätte Johns an Land gelebt, er wäre das prädestinierte Opfer manches betrügerischen Mediums gewesen; aber auch dann noch, wenn sich zwischen den Reisen geeignete Gelegenheiten hierfür geboten hätten. Zum Glück für ihn wohnte er, wenn er in England weilte, irgendwo weit fort in Leytonstone bei einer unverheiratet gebliebenen Schwester, die zehn Jahre älter war als er – ein Teufelsweib, zweimal so groß wie er; er zitterte vor ihr. Es hieß, sie tyrannisiere ihn schrecklich, und in dem besonderen Punkt seiner spiritistischen Neigungen beharre sie strikt auf ihren eigenen Ansichten. Diese Neigungen waren in ihren Augen einfach satanisch. Sie soll erklärt haben, »mit Gottes Hilfe werde sie zu verhüten wissen, daß sich dieser Narr dem Teufel ausliefere.« Es
bestand kein Zweifel, daß Johns’ geheime Absicht dahin ging, in persönliche Verbindung mit den Geistern der Toten zu treten – wenn seine Schwester ihn nur ließe. Aber sie war eisern. Man erzählte sich, wenn er nach London fahre, müsse er über jeden Penny, den er morgens mitnahm, und über jede Stunde, die er dort verbrachte, Rechenscha ablegen. Und sie führte auch das Kontobuch. Bunter (er war ein wüster Jüngling gewesen, stammte aber von guter Familie; hatte Vorfahren; und irgendwo in den Grafschaen um London gab es ein Familiengrab) – Bunter war empört, vielleicht wegen seiner eigenen Toten. Die stahlblauen Augen blitzten geradezu wild aus seinem schwarzbärtigen Gesicht. Er beeindruckte mich – in seiner gemessenen Verachtung war so viel dunkle Leidenscha. »Die Frechheit dieses Kerls! In Beziehung treten mit … Das gemeine kleine Vieh! Eine unverschämte Aufdringlichkeit. Er möchte in Beziehung treten! … Was soll das? Eine neue Art von Snobismus oder was?« Ich lachte laut über diese originelle Auslegung des Spiritismus – oder wie dieser Geister-Schwachsinn sonst genannt wird. Bunter selbst geruhte zu lächeln. Aber es war ein herbes, schnell verfliegendes Lächeln. Von einem Mann in seiner beinahe, möchte ich sagen, tragischen Position war nichts anderes zu erwarten – Sie verstehen. Er war wirklich beunruhigt. Er machte sich auf alle möglichen üblen Streiche während der Reise gefaßt. Auf viel Nachsicht war nicht zu rechnen, sollte man sich je einem Kerl wie Johns ausgeliefert sehen. Pech war Pech, und damit basta. Aber sich miese, erbärmliche, alberne Geistergeschichten im Johns-Stil anhören zu müssen den ganzen Weg nach Kalkutta und zurück, das war eine unerträgliche Vorstellung. Spiritismus war in der Tat ein ernstes ema, wenn man ihn unter diesem Gesichtswinkel sah. Ein furchtbares sogar!
Armer Kerl! So wenig wir vermuten konnten, daß in Bälde er selbst… Indessen, ich konnte ihm keinen Trost bieten. Ich selbst war viel zu entsetzt. Bunter hatte noch einen weiteren Verdruß an jenem Tag gehabt. Ein elender Kaimeister war an Bord gekommen unter irgendeinem Vorwand – in Wirklichkeit aber, so meinte Bunter, einer lästigen Neugier folgend – lästig für Bunter, heißt das. Nachdem der Mann eine Weile um die Sache herumgeredet hatte, sagte er plötzlich: »Ich kann mir nicht helfen. Irgendwo habe ich Sie früher schon gesehen, Herr Steuermann. Wenn ich Ihren Namen erführe, vielleicht …« Bunter – das ist das Schlimmste an einem Leben, in dem es ein Geheimnis gibt – war höchst beunruhigt. Es war sehr wahrscheinlich, daß der Mann ihn früher schon gesehen hatte – der Nachteil eines guten Gedächtnisses. Von Bunter selbst konnte man nicht verlangen, daß er sich an jedes Großmaul im Hafen erinnere, mit dem er einmal zu tun gehabt hatte. Bunter ließ sich indessen nicht irre machen. Er wandte sich dem Mann zu, setzte jene eindrucksvolle Miene auf, grimmig wie die finstere Nacht, zu der ihn sein ungewöhnlich schwarzes Haar befähigte, und sagte: »Ich heiße Bunter, Sir. Erleuchtet das Ihren wißbegierigen Verstand? Und ich erkundige mich nicht nach Ihrem Namen, will ihn gar nicht wissen. Keine Verwendung für ihn, Sir. Ein Individuum, das mir seelenruhig ins Gesicht sagt, es sei sich nicht sicher, ob es mich schon gesehen habe, hat entweder eine Frechheit im Sinn oder ist nicht besser als ein Wurm, Sir. Ja, ich sagte Wurm – ein blinder Wurm!« Tapferer Bunter. So mußte man es machen. Er jagte den armen Wicht förmlich vom Schiff, als wäre jedes Wort ein Peitschenhieb gewesen. Aber die Hartnäckigkeit des abgebrühten Schnüfflers war erstaunlich. Natürlich räumte er das
Feld vor Bunters Zorn, ohne noch etwas zu sagen, und versuchte nur, seinen Rückzug mit einem grämlichen Lächeln zu decken. Aber sobald er auf dem Pier stand, drehte er sich unverfroren um und starrte todernst das Schiff an. So blieb er angewurzelt stehen wie ein Poller, vollkommen reglos, und seine dümmlichen Augen zwinkerten nicht mehr als zwei Kabinenfenster. Was sollte Bunter tun? Es war peinlich für ihn. Er konnte nicht davongehen und seinen Kopf in den Brotkasten stecken. Er entschloß sich am Ende, Stellung hinter der Besantakelung zu beziehen und ebenso unverwandt wie der andere zurückzustarren. So blieben sie stehen, und ich weiß nicht, wer von ihnen als erster nervös wurde; aber da der Mann auf dem Pier insofern benachteiligt war, als er sich nicht anlehnen konnte, wurde er als erster müde, zuckte die Achseln, gab den Kampf auf und ging davon. Bunter sagte mir, er sei froh, daß die Sapphire, »dieses Juwel von einem Schiff«, wie er sich sarkastisch ausdrückte, am nächsten Tag auslaufen sollte. Er hatte genug von dem Dock. Ich begriff seine Ungeduld. Er hatte sich für jedes mögliche Ungemach, das die Reise ihm bescheren mochte, gerüstet, obschon er erwiesenermaßen nicht vorbereitet war auf jene außerordentliche Erfahrung, die seiner harrte, und zwar im Indischen Ozean, eben der Weltgegend, in der der arme Kerl sein Schiff verloren hatte, in der sein Glück zerbrochen war – für immer, wie es damals schien. Was die Gewissensbisse betraf, die er hinsichtlich einer bestimmten heimlichen Handlung in seinem Leben empfand, so verstehe ich, daß ein Mann von Bunters edlem Charakter deretwegen nicht wenig litt. Immerhin kann, nebenbei bemerkt und ohne die leiseste Absicht, zynisch zu sein, nicht bestritten werden, daß gerade für die Nobelsten unter uns die Furcht, bloßgestellt zu werden, eine wichtige Rolle beim
Zustandekommen von Gewissensbissen spielt. Das sagte ich zu Bunter zwar nicht so ausführlich; doch als der arme Bursche gar zu viel von seinem Gewissen hermachte, erinnerte ich ihn daran, daß so mancher ehrbare Keller eine Leiche berge, und was seine persönliche Schuld anlange, so sei ihm diese nicht gerade in großen Lettern, allen sichtbar, auf die Stirn geschrieben – darum brauche er sich ihretwegen auch nicht zu beunruhigen. Im übrigen sei er bereits in gut zwölf Stunden, von nun an gerechnet, unterwegs. Er erwiderte, dieser Gedanke habe etwas Tröstliches, und dann ging er, um den letzten Abend für viele Monate mit seiner Frau zu verbringen. Denn all seiner Wildheit zum Trotz hatte Bunter klug geheiratet. Er hatte eine Dame geheiratet. Eine vollkommene Dame. Überdies war sie eine liebe kleine Frau, Und was ihren Mut betri, so kann ich den nicht genug bewundern, denn ich weiß, welch schwere Zeiten die beiden durchgestanden hatten: wirklich unverwüstlichen, tagaus tagein sich bewährenden Mut, dessen nur eine Frau von der rechten Sorte fähig ist, von der unerschrockenen Sorte, möchte ich sagen. Dem schwarzen Steuermann wurde dieser Abschied von seiner Frau schwerer als jeder frühere in all den Jahren ihres Unglückes. Aber sie war eine von den Unerschrockenen und zeigte weniger Schmerz in ihrem sanen Gesicht als der schwarzhaarige, freibeuterähnliche, aber würdige Steuermann der Sapphire. Vielleicht war ihr Gewissen weniger belastet als das ihres Mannes. Natürlich gab es keinen geheimen Punkt für sie in seinem Leben; aber das Frauengewissen ist geschickter im Finden guter, stichhaltiger Entschuldigungen. Auch spielt eine große Rolle, wer die Person ist, die dieser Entschuldigungen bedarf. Sie hatten verabredet, daß sie nicht zum Dock kommen werde, um ihn ausfahren zu sehen. »Ich frage mich, ob dir überhaupt
daran liegt, mich anzusehen«, sagte der empfindliche Mann. Und sie lachte nicht. Bunter war sehr empfindlich; er verließ sie schließlich beinahe brüsk. Er kam rechtzeitig an Bord und machte den bewußten Eindruck auch auf den Flußlotsen mit dem eingedrückten Strohhut, der die Sapphire aus dem Dock brachte. Er war sehr höflich zu dem würdigen Ersten Steuermann mit dem auffallenden Äußeren. »Bitte die Fünf-Zoll-Manilla-Leine als Querleine, Mr. – Bunter, danke – Mr. Bunter.« Der Seelotse, der das »Juwel von einem Schiff« auf der Höhe von Dover verließ, von wo aus es bequem den Kanal hinabsegelte, erzählte seinen Freunden, daß die Sapphire auf dieser Reise einen Ersten Steuermann habe, der, wie es schien, viel zu gut für den alten Johns sei. »Bunter ist sein Name. Weiß der Himmel, wo er herkommt. Noch nie gesehen auf irgendeinem Schiff, das ich in all diesen Jahren herein- oder hinausgelotst habe. Er ist ein Mann, den man nicht wieder vergißt. Unmöglich. Und ein ausgezeichneter Seemann dazu. Wenn ihn nur der alte Johns nicht bis zur Weißglut ärgert! Es sei denn, der alte Narr bekommt Angst vor seinem Steuermann – denn der scheint nicht zu denen zu gehören, die sich auf der Nase herumtanzen lassen, ohne ihre Meinung zu äußern. Und genau davor hat der alte Johns mehr Angst als vor sonst etwas.« Da dies hier ja nun als Bericht einer spiritistischen Erfahrung gedacht ist, die nicht so sehr Kapitän Johns selbst, als vielmehr sein Schiff machte, bedarf es nicht einer genauen Aufzählung aller weiteren Ereignisse der Reise. Es war eine gewöhnliche Fahrt, die Mannscha war eine gewöhnliche Mannscha, das Wetter war das übliche. Des schwarzen Steuermanns ruhige, besonnene Art, seine Arbeit zu verrichten, hatte dem Leben des Schiffes einen nüchternen Ton gegeben. Sogar in Stürmen ging alles irgendwie ruhig weiter. Nur einmal kam es zu einem harten Schlag, der alle Mann
während ganzer vierundzwanzig Stunden gehörig in Atem hielt. Das war vor der Küste von Afrika, nachdem das Kap der Guten Hoffnung passiert war. Der Höhepunkt dieses Zwischenfalles war, daß mehrere schwere Sturzseen über das Schiff hinwegrollten, ohne ernsten Schaden anzurichten; nur in der Küche und den Offizierskammern ging mancherlei zu Bruch. Mr. Bunter, dem an Bord so viel Respekt gezollt wurde, fand sich vom Indischen Ozean ausgesprochen schäbig behandelt, da dieser wie ein wüster Räuber die Tür zu seiner Kammer aurach, einige nützliche Dinge mit sich nahm und alles übrige gehörig durchnäßte. Später, am selben Tag, brachte der Indische Ozean die Sapphire derart ungeniert ins Schlingern, daß die beiden Schubladen unter Mr. Bunters Schlaoje herausflogen und ihren gesamten Inhalt auf den Boden entleerten. Natürlich hätten die Schubladen abgeschlossen gehört, und Mr. Bunter hatte die Schuld an dem, was geschehen war, allein bei sich zu suchen. Er hätte bloß die Schlüssel an einer jeden herumdrehen müssen, bevor er an Deck ging. Seine Bestürzung war groß. Der Steward, der die ganze Zeit mit dem Schrubber herumhantiert hatte in dem Versuch, die überschwemmte Kombüse wieder trocken zu bekommen, hörte ihn ein erschrockenes und entsetztes »Hallo!« ausrufen. Mitten in seiner eigenen Arbeit empfand der Steward Mitleid mit dem Verdruß des Steuermanns. Kaptiän Johns freute sich insgeheim, als er von diesem Mißgeschick hörte. Er fürchtete sich in der Tat vor seinem Ersten Steuermann, wie der Seelotse vorausgesagt, und er fürchtete sich aus eben dem Grund, den der Seelotse als den wahrscheinlichsten angeführt hatte. Kapitän Johns wäre es darum sehr lieb gewesen, wenn er diesen schwarzen Steuermann auf irgendeine Weise in seine Gewalt gebracht hätte. Aber der Mann war untadelig, kam der
Vollkommenheit so nahe, wie das nur möglich ist. Und Kapitän Johns war sehr verärgert, obschon er sich gleichzeitig zu der Tüchtigkeit seines Ersten Offizieres beglückwünschte. Er tat sich viel zugute auf seinen geselligen Umgang mit dem Steuermann, nach dem Grundsatz, je freundlicher man einem Menschen begegne, um so leichter erwische man ihn bei einer Entgleisung; und auch weil er jemanden brauchte, der seinen Erzählungen von Manifestationen, Erscheinungen, Geistern und sonstigem verrücktem Spuk-Kram zuhörte. Er hatte das alles immer parat; er spann dieses Gespenstergarn mit beharrlicher, monotoner Stimme und verlieh ihm damit einen ihm eigentümlichen Zug des Unerheblichen. »Ich unterhalte mich gern mit meinen Offizieren«, pflegte er zu sagen. »Es gibt Kapitäne, die kaum je den Mund auun vom Anfang einer Reise bis zu deren Ende aus Furcht, sich etwas zu vergeben in ihrer Würde. Was hat es schon mit der auf sich – mit dem bißchen Rang, den man hat.« Seine Leutseligkeit war am meisten zur Zeit der zweiten Abendwache zu fürchten, weil er einer der Menschen war, die erst gegen Abend lebendig werden, und der wachhabende Offizier dann keine Entschuldigung fand, das Achterdeck zu verlassen. Kapitän Johns flitzte plötzlich die Kajütstreppe herauf, machte sich auf seine kriechende Weise an den armen hin- und herschreitenden Bunter heran und feuerte eine spiritistische Behauptung auf ihn ab wie: »Geister, männliche wie weibliche, bekunden im allgemeinen ein erstaunliches Maß an Vornehmheit, nicht wahr?« Worauin Bunter sein schwarzbärtiges Gesicht zum Himmel wandte und murmelte: »Ich weiß nicht.« »Ah! Sie wollen bloß nicht wissen. Sie sind der widerspenstigste, voreingenommenste Mensch, der mir je begegnet ist, Mr. Bunter. Ich sagte Ihnen doch, Sie könnten jedes Buch aus
meinem Bücherschrank haben. Sie brauchen nur in meine Kammer zu gehen und sich einen Band zu holen.« Und wenn Bunter erwiderte, er sei während der Freiwache unten zu müde, um seine Zeit mit Lesen zu verbringen, lächelte Kapitän Johns hämisch hinter seinem Rücken und bemerkte, gewiß, manche Leute brauchten mehr Schlaf als andere, um sich gesund für ihre Arbeit zu erhalten. Wenn Mr. Bunter Angst habe, nicht richtig wach zu bleiben während seines Dienstes bei Nacht, sei das etwas anderes. »Aber mich dünkt, erst kürzlich hätten Sie sich vom Zweiten Steuermann einen Roman zum Lesen ausgeliehen – einen nichts würdigen Packen Lügen«, seufzte Kapitän Johns. »Ich fürchte, Sie sind einfach kein spirituell gesinnter Mann, Mr. Bunter. Das ist der Grund.« Bisweilen tauchte er mitten in der Nacht an Deck auf, sehr grotesk und O-beinig in seinem Schlafanzug. Bei diesem Anblick rang der geplagte Bunter heimlich die Hände, und Schweiß brach ihm auf der Stirn aus. Verschlafen blieb Kapitän Johns neben dem Kompaßgehäuse stehen, kratzte sich unziemlich und fing dann unweigerlich von dem einen oder anderen Aspekt seines einzigen emas zu reden an. Er ließ sich zum Beispiel über die Hebung der Moral aus, die von Einrichtungen zu allgemeinerem und näherem Austausch mit den Geistern der Abgeschiedenen zu erwarten sei. Die Geister, so meinte Kapitän Johns, würden sich gewiß zu vertrautem Umgang mit den Lebenden herbeilassen, wäre da nicht der Unglaube der großen Masse. Er selbst würde nichts zu tun haben wollen mit einer Menge, die nicht an seine – Kapitän Johns’ – Existenz glaubte. Warum sollten es dann die Geister? Das war zu viel verlangt. Tief atmend stand er neben dem Kompaßgehäuse und versuchte, sich ans Schulterblatt zu langen; dann erklärte er mit heiserer, schläfriger Strenge:
»Der Unglaube, Sir, ist das Übel dieses Zeitalters.« Dieses Zeitalter verwarf die Beweise, die Professor Cranks und jener Zeitungsschreiber geliefert hatten. Es sperrte sich sogar gegen das Zeugnis der Photographie. Denn Kapitän Johns glaubte fest daran, daß gewisse Geister photographiert worden seien. Er hatte darüber in den Zeitungen gelesen. Und die Idee, daß so etwas bewerkstelligt worden sei, hatte ihn in Bann geschlagen, weil er einen unkritischen Verstand besaß. Bunter sagte später, nichts sei unheimlicher gewesen als dieser kleine Mann, eingewickelt in einen drei Nummern zu großen Schlafanzug, aufgeregt im Mondlicht um das Steuerrad schlurfend und die Fäuste gegen das friedliche Meer schüttelnd. »Photographien! Photographien!« wiederholte er mit einer Stimme, die wie eine rostige Türangel kreischte. Sogar der Rudergänger hinter ihm wurde unruhig bei dieser Veranstaltung, weil er unfähig war, genau zu begreifen, »worüber der Alte mit dem Steuermann Krach anfing.« Dann begann Johns, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte, von neuem. »Die lichtempfindliche Platte kann nicht lügen. Nein, Sir.« Nichts mochte komischer sein als dieses lächerlichen kleinen Mannes Überzeugung – sein dogmatischer Ton. Bunter schritt auf dem Achterdeck hin und her wie ein bedächtiges, würdevolles Pendel. Er sagte kein Wort. Aber der arme Kerl hatte, wie Ihnen bekannt, nicht wenig, das ihm auf der Seele lag; und wenn ihm dann noch verrückte Geistergeschichten vorgesetzt wurden, zu all seiner eigenen Kümmernis, dann trieb ihn das schier zur Raserei. Er wußte, daß er sich o am Rand des Wahnsinns befand, weil er halbirren Zwangsvorstellungen frönte – wie er beispielsweise Kapitän Johns am Genick packe und über die Heckreling ins Kielwasser des Schiffes fallen lasse – etwas, das auch nur einer Katze oder sonst einem Tier anzu
tun sich kein vernüniger Seemann einfallen ließe. Er stellte sich vor, wie Kapitän Johns dann wieder auauchte – ein winziger schwarzer Fleck, weit hinter ihnen auf dem mondbeschienenen Meer. Ich glaube, daß Bunter auch in den schlimmsten Augenblicken den Kapitän nicht zu ertränken wünschte. Ich bilde mir ein, seine durcheinandergeratene Phantasie sehnte sich nur danach, dem spukha leeren Geschwätz des Kapitäns Einhalt zu tun. Aber gleichwohl: diese Art des Sichgehenlassens war gefährlich. Man stelle sich jenes Schiff vor auf dem Indischen Ozean, in einer klaren tropischen Nacht, die Segel voll Wind und still, die Deckswache abseits und außer Sicht; und auf dem von Mondschein überfluteten Achterdeck der schwarze Steuermann, der gemessenen, würdigen Schrittes auf- und abgeht und ein schreckliches Schweigen bewahrt, und jene groteske, niederträchtige kleine Gestalt in gestreiem Flanell, die von »persönlichem Verkehr über das Grab hinaus« abwechselnd greint und schnurrt. Mir läu es kalt den Rücken hinunter, wenn ich an all das denke. Und bisweilen zeigte sich Kapitän Johns’ Narrheit im Gewand eines gespenstischen Utilitarismus. Wie praktisch wäre es, wenn die Geister der Abgeschiedenen bewogen werden könnten, Interesse an den Angelegenheiten der Lebenden zu nehmen! Welche Hilfe, sagen wir beispielsweise, für die Polizei bei der Aufdeckung von Verbrechen! Die Zahl der Morde würde sich jedenfalls drastisch vermindern, schloß er mit einer Miene großen Scharfsinns. Dann überließ er sich einer Anwandlung grotesker Mutlosigkeit. Was nütze der Versuch, mit Menschen zu kommunizieren, die ohne Glauben waren und wahrscheinlich die angebotenen Ausküne verachteten? Geister hätten ihr Gefühl. In gewisser Weise seien sie ganz Gefühl. Aber er sei erstaunt über die
Schonung, die Mördern von ihren Opfern zuteil würde. Das seien Erscheinungen, über die kein Schuldiggewordener geringschätzig hinwegzugehen vermöchte. Und vielleicht würden die unentdeckten Mörder – ob sie glaubten oder nicht – heimgesucht. Sie würden sich wohl kaum damit brüsten, nicht wahr? »Ich persönlich«, fuhr er mit einer Art rächerisch mißgünstigen Gewimmers fort, »sollte mich jemand ermorden, würde das den Mann nie vergessen lassen. Ich würde ihn verzehren – ich würde ihn zu Tode ängstigen.« Der Gedanke, der Geist des Kapitäns könnte jemanden ängstigen, war so absurd, daß der schwarze Steuermann, wenn auch kaum zu Scherzen aufgelegt, ein müdes Gelächter nicht zu unterdrücken vermochte. Und dieses Lachen, die einzige Reaktion auf eine lange, ernsthae Erörterung, beleidigte Kapitän Johns. »Was gibt es da so selbstgefällig zu lachen, Mr. Bunter?« fauchte er. »Übernatürliche Heimsuchungen haben schon bessere Menschen als Sie erschreckt. Billigen Sie mir nicht genug Seele zu, um daraus einen Geist zu machen?« Vermutlich war es der ekelhae Ton, der Bunter veranlaßte, stehen zu bleiben und sich umzudrehen. »Mich sollte nicht wundern«, fuhr dieser Fanatiker des Geisterglaubens zornig fort, »wenn Sie zu jenen zählten, für die ein Mensch nicht besser ist als ein Tier. Sie wären fähig, daran zweifle ich nicht, sogar Ihrem leiblichen Vater den Besitz einer unsterblichen Seele abzusprechen.« Und da verlor Bunter, vielleicht weil er über alles erträgliche Maß hinaus verdrossen war und auch weil ihn zu viel Eigenes bedrückte, die Selbstbeherrschung. Plötzlich trat er auf Kapitän Johns zu, neigte sich ein wenig vor, um diesem gerade ins Gesicht zu blicken, und sagte mit leiser, ruhiger Stimme:
»Sie wissen gar nicht, wessen ein Mann wie ich fähig ist.« Kapitän Johns riß zwar den Kopf zurück, aber er rührte sich nicht vom Fleck, so erstaunt war er. Bunter nahm seinen Gang über Deck wieder auf; und lange Zeit waren seine gemessenen Schritte und das leise Plätschern des Wassers gegen den Rumpf die einzigen Laute, die die über dem großen Meer lastende Stille störten. Dann räusperte sich Kapitän Johns verlegen, und nachdem er, einem Sicherheitsbedürfnis nachgebend, zur Kajütstreppe geschlichen war, rae er genug Courage auf, um seinen Rückzug mit einem gebieterischen Akt zu krönen: »Gaien Sie doch bitte das Steuerbord-Schothorn des Großsegels und holen Sie die Rahen quer, Mr. Bunter. Sehen Sie nicht, daß der Wind beinahe direkt von achtern kommt?« Bunter antwortete sogleich: »Ay, ay, Sir«, dachte aber, es bestehe nicht die geringste Notwendigkeit, die Rahen anzurühren, zumal der Wind nicht achterlich war. Während er die Anordnungen ausführte, verweilte Kapitän Johns noch auf den Treppenstufen und brummte vor sich hin: »Stolziert wie ein Admiral auf dem Achterdeck herum und sieht nicht, daß die Rahen getrimmt werden müssen!« Sein Gebrumm war aber laut genug, daß der Rudergänger es hören konnte. Dann sank er langsam rückwärts aus dem Blickfeld des Mannes; und als er am Fuß der Treppe angelangt war, blieb er stehen und dachte im Stillen: »Er ist ein gräßlicher Rüpel, bei all seinem vornehmen Gehabe. Nie wieder einen vornehmen Steuermann!« Zwei Nächte danach schlief er friedlich in seiner Koje, als ihn ein lautes Getrampel über seinem Kopf (ein wohlverstandenes Zeichen, daß er auf Deck gebraucht werde) sogleich hellwach aus dem Bett springen ließ. »Was ist los?« murmelte er, als er barfuß hinausrannte. Im Kajütsraum warf er einen Blick auf die Uhr. Es war Mittelwa
che. »Teufel auch, für was mag der Steuermann mich wohl brauchen?« dachte er. Als er über die Kajütstreppe hinaufstürzte, kam er in eine klare, tauige, mondhelle Nacht mit einer kräigen, beständigen Brise. Er blickte sich wild um. Auf dem Achterdeck war niemand außer dem Rudergänger, der ihn sogleich anredete. »Ich war es, Sir. Ich verließ für eine Sekunde das Steuerrad, um über Ihnen auf das Deck zu stampfen. Ich fürchte, mit dem Steuermann ist etwas passiert.« »Wo ist er?« fragte der Kapitän mit Schärfe. Der Mann, offensichtlich nervös, sagte: »Ich sah ihn zuletzt, wie er die Backbord-Achterdecks-Treppe hinunterfiel.« »Die Backbord-Achterdecks-Treppe hinunterfiel! Wozu das? Was veranlaßte ihn?« »Ich weiß nicht, Sir. Er schritt backbords über das Deck. Dann, gerade als er sich mir zuwandte, um achtern zu kommen …« »Sie haben ihn gesehen?« unterbrach ihn der Kapitän. »Ja. Ich blickte zu ihm hinüber. Und ich hörte es auch krachen – fürchterlich. Als ginge der Großmast über Bord. Es war, als hätte ihn etwas getroffen.« Kapitän Johns wurde sehr unbehaglich und beklommen zumute. »Bitte, wie?« sagte er schroff. »Hat ihn jemand gestoßen? Was haben Sie gesehen?« »Nichts, Sir, Gott steh mir bei! Es war nichts zu sehen. Er gab bloß eine Art leisen Schrei von sich, warf die Hände hoch und fiel kopfüber hinunter – Krach. Dann konnte ich nichts mehr hören. So ließ ich für eine Sekunde das Rad los, um sie heraufzurufen.« »Sie haben Angst!« sagte Kapitän Johns.
»Jawohl, Sir, große!« Kapitän Johns starrte ihn an. Das Schweigen des seinen Kurs fahrenden Schiffes barg eine Gefahr – ein Geheimnis. Er scheute sich, selbst nach seinem Steuermann zu suchen im Schatten des so still, so ruhig daliegenden Hauptdecks. Er ging nur bis an den Rand des Achterdecks und rief die Deckswache herbei. Als die verschlafenen Matrosen schließlich in einem Trüppchen achtern kamen, fauchte er sie an: »Schauen Sie am Fuß der Backbord-Achterdecks-Treppe nach. Sehen Sie den Steuermann dort liegen?« Ihre verblüen Ausrufe zeigten ihm sogleich an, daß sie ihn gefunden hatten. Jemand schrie sogar unbeherrscht: »Er ist tot!« Mr. Bunter wurde in seine Schlaoje gelegt, und als die Lampe in der Kammer entzündet war, sah er wirklich wie tot aus; aber offenkundig atmete er noch. Der Steward war geweckt, der Zweite Steuermann gerufen und an Deck geschickt worden, um das Schiff zu führen, und eine Stunde lang bemühte sich Kapitän Johns schweigend, Bunter ins Bewußtsein zurückzurufen. Endlich öffnete dieser die Augen, aber er konnte nicht sprechen. Er war benommen und träge. Der Steward verband eine häßlich klaffende Schädelwunde, während Kapitän Johns eine zusätzliche Lampe hielt. Sie mußten eine Menge von Mr. Bunters pechschwarzem Haar wegschneiden, um den Verband richtig anzulegen. Als das getan war und nachdem sie ihren Patienten eine Weile betrachtet hatten, gingen sie beide aus der Kammer. »Eine komische Geschichte, Steward«, sagte Kapitän Johns im Gang. »Ja, Sir.« »Ein nüchterner Mann, der richtig im Kopf ist, fällt doch nicht wie ein Kartoffelsack die Achterdecks-Treppe hinunter. Das Schiff ist so ruhig wie eine Kirche.«
»Ja, Sir. Irgendein Anfall, sollte mich nicht wundern.« »Mich schon. Er sieht nicht aus, als litte er unter Anfällen oder Schwindel. Der Mann ist in der Vollkra seiner Jahre. Ich wollte keine andere Sorte von Steuermann – wenn’s nach mir ginge. Sie meinen doch nicht, daß er einen Vorrat an Alkohol bei sich hatte, wie? Sein Benehmen schien mir in letzter Zeit ein bißchen sonderbar. Auch Appetitlosigkeit ist mir bei ihm aufgefallen.« »Sir, wenn er je ein, zwei Flaschen Schnaps in seiner Kammer hatte, so müssen die schon lange hin sein. Ich sah, wie er einiges zerbrochene Glas über Bord warf, nach dem Sturm neulich; aber das war wirklich nicht der Rede wert. Jedenfalls, Sir, Sie können Mr. Bunter unmöglich einen Trinker nennen.« »Nein«, gab der Kapitän nachdenklich zu. Und der Steward verriegelte die Kombüsentüre und versuchte, aus dem Gang zu entschlüpfen, in der Hoffnung, noch eine Stunde Schlaf zu finden, bevor es für ihn Zeit war, aufzustehen, um sein Tagwerk zu beginnen, Kaptiän Johns schüttelte den Kopf. »Da steckt etwas Geheimnisvolles dahinter.« »Immerhin ist es eine besondere Fügung des Schicksals, daß er sich nicht den Schädel wie eine Eierschale an den Pollern des Quarterdecks eingeschlagen hat. Die Leute sagen, er habe sie kaum um einen Zoll verfehlt.« Und der Steward verschwand behend. Kapitän Johns verbrachte den Rest der Nacht und den ganzen darauffolgenden Tag abwechselnd in seiner eigenen Kammer und der des Steuermanns. In seiner Kammer saß er, die Hände auf den Knien, die Stirn in tiefe waagerechte Falten gelegt. Dann und wann hob er mit langsamer, geradezu behutsamer Bewegung den Arm und kratzte sich leicht auf dem kahlen Schädel. In der Kammer des
Steuermanns stand er o lange da, die Hand an den Lippen, in den Anblick des halb bewußtlosen Mannes versunken. Während dreier Tage äußerte Mr. Bunter nicht ein einziges Wort. Wohl sah er die Menschen verständig an, schien aber nicht in der Lage zu sein, eine an ihn gerichtete Frage zu hören. Man schnitt ihm weiteres Haar ab und hüllte den Kopf in nasse Tücher. Er nahm einige Nahrung zu sich und wurde so gut wie möglich versorgt. Bei Tisch am dritten Tag bemerkte der Zweite Steuermann im Zusammenhang mit der Affäre: »Diese halbrunden Messingplättchen auf den Stufen der Achterdecks-Treppe sind auch wirklich verteufelt gefährlich!« »Finden Sie?« erwiderte Kapitän Johns säuerlich. »Da muß schon mehr dahinterstecken als Messingplättchen, wenn ein kräiger Mann auf solche Weise, wie ein toter Ochse, die Treppe hinabstürzt.« Der Zweite Offizier war beeindruckt von dieser Art, die Sache zu betrachten. Etwas Wahres sei daran, dachte er. »Und bei schönem Wetter, alles trocken, das Schiff so ruhig wie eine Kirche!« fuhr Kapitän Johns mürrisch fort. Da Kapitän Johns weiterhin sehr übellaunig dreinblickte, tat der Zweite Steuermann während der Mahlzeit nicht noch einmal den Mund auf. Kapitän Johns war verdrossen und fühlte sich beleidigt wegen der harmlosen Bemerkung, weil das Anbringen des Messingbleches auf seine Anregung hin erfolgt war, um der Achterdecks-Treppe etwas mehr Glanz zu verleihen. Am vierten Tag sah Mr. Bunter entschieden besser aus; natürlich noch sehr matt, aber er hörte und begriff, was zu ihm gesagt wurde, und er konnte auch mit schwacher Stimme ein paar Worte reden. Kapitän Johns betrachtete ihn beim Eintreten aufmerksam und ohne sichtliche Sympathie.
»Können Sie uns jetzt wohl Ihre Darstellung des Unfalls geben, Mr. Bunter?« Bunter bewegte ein wenig den verbundenen Kopf und richtete seinen kalten blauen Blick auf Kapitän Johns’ Gesicht, als mache er eine Bestandsaufnahme und registriere den Wert jedes einzelnen Gesichtszuges – der verwirrten Stirn, der leichtgläubigen Augen, der geistlos hängenden Unterlippe. Er beobachtete ihn so lange, daß Kapitän Johns nervös wurde und über die Schulter zur Tür spähte. »Kein Unfall«, hauchte Bunter in sonderbarem Ton. »Sie wollen doch nicht sagen, Sie hätten die Fallsucht«, bemerkte Kapitän Johns. »Was sollte das heißen: sich als Erster Steuermann auf einem Klipperschiff verdingen und so etwas an sich haben?« Bunter antwortete ihm mit einem finsteren Blick. Der Kapitän trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. »Wie kam es dann zu dem Sturz?« Bunter richtete sich ein wenig auf und sagte, dem Kapitän fest in die Augen blickend, mit deutlicher Stimme: »Sie – hatten – recht!« Er sank zurück und schloß die Augen. Kapitän Johns vermochte kein weiteres Wort aus ihm herauszubringen; und da der Steward eintrat, zog sich der Kapitän zurück. Aber unbemerkt in jener Nacht öffnete Kapitän Johns behutsam die Tür und trat abermals in die Kammer des Steuermannes. Er konnte nicht länger warten. Der heimliche Eifer, die Aufregung, die in der ganzen niederträchtigen, kriecherischen kleinen Person zum Ausdruck kamen, entgingen dem Ersten Steuermann nicht, der wach lag, furchtbar abgezehrt und gänzlich teilnahmslos dreinschauend. »Sie kommen wohl, um sich an meinem Anblick zu weiden«, sagte Bunter, ohne sich zu rühren und doch dem Kapitän einen fühlbaren Hieb versetzend.
»Gott behüte!« rief Kapitän Johns auffahrend und tat sehr gelassen. »Wie können Sie so etwas sagen!« »Gut, dann weiden Sie sich eben! Sie und Ihre Geister haben es fertiggebracht, einen lebendigen Mann zu besiegen.« Bunter sagte auch das völlig reglos, mit leiser Stimme ohne Ausdruck. »Wollen Sie sagen«, erkundigte sich Kapitän Johns in ehrfürchtigem Flüsterton, »Sie hätten ein übernatürliches Erlebnis gehabt in jener Nacht? Sie sahen also eine Erscheinung auf meinem Schiff?« Widerwille, Scham, Abscheu hätten sich auf des armen Bunters Antlitz abgezeichnet, wäre nicht dessen größter Teil mit Watte und Mullbinden umwickelt gewesen. Die ebenholzschwarzen Augenbrauen, die in all dem weißen Linnen finsterer denn je wirkten, zogen sich zusammen, als er mit großer Anstrengung zu sagen versuchte: »Ja, ich habe sie gesehen.« Das Schmerzliche in seinen Augen hätte das Mitleid eines jeden anderen, nur nicht das Kapitän Johns’ erregt. Der war nun vollkommen elektrisiert von einer triumphierenden Begeisterung. Ein bißchen furchtsam war er freilich auch. Er blickte auf den ungläubigen Spötter, der da zur Strecke gebracht worden war, und vermutete nicht im entferntesten dessen tiefes, demütigendes Elend. Überhaupt war er unfähig, am Leid seiner Mitmenschen teilzunehmen. Dieses Mal war er zudem äußerst begierig zu erfahren, was geschehen war. Seine töricht leichtgläubigen Augen auf den verbundenen Kopf richtend, fragte er leise zitternd: »Und hat es – hat es Sie umgeworfen?« »Kommen Sie! Bin ich der Mann, der von einem Geist umgeworfen wird?« protestierte Bunter mit ein wenig stärkerer Stimme. »Erinnern Sie sich nicht an das, was Sie selbst neulich nachts gesagt haben? Schon bessere Leute als ich – – – Na!
Sie können lange suchen, ehe Sie einen besseren Steuermann für Ihr Schiff finden.« Kapitän Johns wies feierlich mit seinem Finger auf Bunters Bettstatt. »Sie sind erschreckt worden«, sagte er. »Das war es. Sie sind erschreckt worden. Sogar der Mann am Steuerrad war verängstigt, obschon er nichts hatte sehen können. Er fühlte das Übernatürliche. Sie sind für Ihren Unglauben bestra worden, Mr. Bunter. Sie wurden erschreckt.« »Und angenommen, ich wurde es«, sagte Bunter. »Wissen Sie, was ich gesehen habe? Können Sie sich den Geist vorstellen, der einen Mann wie mich heimsucht? Denken Sie, das sei so eine damenhae Nachmittagsbesucher-Bitte-noch-eineTasse-Tee-Erscheinung gewesen, wie sie bei Ihrem Professor Cranks und jenem Zeitungsschreiber vorspricht, den Sie immerfort erwähnen? Nein; ich kann Ihnen nicht sagen, wie sie war. Jedermann hat seinen eigenen Geist. Sie können sich nicht vorstellen …« Bunter hielt inne, außer Atem; Kapitän Johns sagte darauf, und die Glut innerer Befriedigung wurde spürbar in seinem Ton: »Ich habe immer gewußt, Sie seien einer, dem alles zuzutrauen ist, vom Würfelspiel bis zum vorbedachten Mord, wie man wohl sagt. Also gut! Sie waren erschrocken.« »Ich trat zurück«, sagte Bunter unwirsch. »Weiter erinnere ich mich an nichts.« »Der Mann am Steuerrade sagte mir, Sie seien einen Schritt zurückgewichen, als habe Sie ein Schlag getroffen.« »Es war ein innerer Schlag«, erklärte Bunter. »Etwas, das zu tief ist für Sie, Kapitän Johns, als daß Sie es begriffen. Ihr Leben und das meine sind nicht dasselbe. Sind Sie zufrieden, mich bekehrt zu sehen?« »Und mehr können Sie mir nicht sagen?« fragte Kapitän Johns begierig.
»Nein, ich kann nicht. Ich täte es auch nicht. Es hätte keinen Sinn, wenn ich davon redete. Derartige Erfahrungen müssen durchgemacht werden. Sagen Sie, ich sei gestra. Gut, die Strafe nehme ich auf mich. Aber darüber zu sprechen, weigere ich mich.« »Schön«, sagte Kapitän Johns, »Sie wollen nicht. Aber denken Sie daran, ich kann meine eigenen Schlüsse ziehen.« »Ziehen Sie, was Sie wollen; aber seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie sagen. Sie erschrecken mich nicht. Sie sind kein Geist.« »Noch eines. Hat es irgend etwas zu tun mit dem, wovon Sie sprachen, als wir uns damals über Spiritismus unterhielten?« Bunter sah müde und verwirrt aus. »Was habe ich damals gesagt?« »Sie sagten, ich wisse gar nicht, wessen ein Mann wie Sie fähig sei.« »Ja, ja. Genug!« »Also gut. Ich bin im Bilde«, bemerkte Kapitän Johns. »Ich kann nur sagen, daß ich herzlich froh bin, nicht in Ihrer Haut zu stecken, obwohl ich beinahe alles gegeben hätte für die Gunst einer persönlichen Kommunikation mit der Geisterwelt. Ja, Sir, aber nicht in dieser Weise.« Der arme Bunter stöhnte kläglich. »Ich fühle mich um zwanzig Jahre gealtert.« Kapitän Johns zog sich still zurück. Ihn freute es mitanzusehen, wie dieser anmaßende Grobian in den Staub getreten worden war von der sittlichen Gewalt der Geister. Das ganze Vorkommnis war ein Quell des Stolzes und der Befriedigung; und er begann, eine Art Hochachtung vor seinem Ersten Steuermann zu empfinden. In der Tat zeigte sich Bunter bei späteren Unterredungen sehr milde und ehrerbietig. Er schien an seinem Kapitän zu hängen, als bedürfe er seines geistigen
Beistandes. Er ließ bisweilen nach ihm rufen und sagte dann: »Ich fühle mich nervös«, und Kapitän Johns hielt stundenlang geduldig bei ihm aus in der kleinen heißen Kammer und war stolz darauf, gerufen worden zu sein. Denn Mr. Bunter war krank und konnte während vieler Tage seine Koje nicht verlassen. Er wurde zu einem überzeugten Spiritisten, keinem begeisterten, das war bei ihm nicht zu erwarten – aber einem grimmig unerschütterlichen. Man konnte nicht gerade behaupten, er sei den entkörperten Bewohnern unseres Erdballs freundlich gesonnen gewesen, wie Kapitän Johns das war. Aber er konnte nun als ein erprobter, wenn auch mißmutiger Adept des Spiritismus gelten. Eines Nachmittags, als sich das Schiff schon ziemlich weit nördlich im Golf von Bengalen befand, klope der Steward an die Tür der Kapitänskammer und sagte, ohne sie zu öffnen: »Der Steuermann läßt anfragen, Sir, ob Sie einen Augenblick für ihn Zeit hätten, Sir. Er scheint in einem schlimmen Zustand zu sein.« Kapitän Johns sprang sogleich von seinem Sofa auf. »Ja. Sagen Sie ihm, ich komme.« Er dachte: Ist es möglich, daß eine weitere Geistererscheinung stattgefunden hat – noch dazu bei Tag! Ihn entzückte diese Hoffnung. Es war dann aber doch nicht das. Immerhin hatte Bunter, den er zusammengebrochen auf einem Stuhl sitzen sah – er war seit mehreren Tagen auf, war aber noch nicht an Deck gegangen –, immerhin hatte der arme Bunter Aufregendes genug zu berichten. Die Hände bedeckten sein Gesicht. Die Beine hielt er ausgestreckt. »Was gibt es Neues?« krächzte Kapitän Johns nicht gerade unfreundlich, denn in Wahrheit behagte es ihm sehr, Bunter – wie er sich ausdrückte – gebändigt zu sehen. »Neues!« rief der gebrochene Skeptiker unter seinen Händen
hervor. »Ah, Neues genug, Kapitän Johns. Wer kann das Schreckliche, das Einmalige leugnen? Ein anderer wäre tot umgefallen. Sie wollen wissen, was ich gesehen habe? Ich kann Ihnen nur sagen, seitdem ich es gesehen habe, ist mein Haar weiß geworden.« Bunter nahm die Hände vom Gesicht und ließ sie wie tot zu beiden Seiten des Stuhls herabhängen. Er wirkte wie zerbrochen in der dämmrigen Kammer. »Was Sie nicht sagen!« stammelte Kapitän Johns. »Weiß geworden! Warten Sie einen Augenblick. Ich hole die Lampe!« Nachdem die Lampe angezündet war, zeigte sich das Phänomen deutlich genug. Als sei die Furcht, der Schrecken, die Qual des Übernatürlichen durch die Poren seiner Haut gesikkert, hatte sich ein silbriger Film über die Wangen und den Kopf des Steuermanns gebreitet. Sein kurzer Bart, die geschnittenen Haare waren nicht schwarz, sondern grau – beinahe weiß. Als Mr. Bunter, hager und schwankend, wieder seinen Dienst an Deck versah, war er glatt rasiert, und sein Kopf war weiß. Die Matrosen waren wie vom Donner gerührt. »Ein anderer Mensch«, flüsterten sie untereinander. Es wurde auf geheimnisvolle Weise allgemein angenommen, der Steuermann habe »etwas gesehen«. Dem widersprach nur der Mann, der seinerzeit am Steuerrade gestanden hatte und der behauptete, der Steuermann sei »von etwas getroffen worden.« Diese Präzisierung machte kaum einen Unterschied. Andererseits mußte jeder zugeben, daß er, nachdem er erst einmal wieder zu Kräen gekommen war, eher schneidiger wirkte in seinen Bewegungen als vorher. Eines Tages in Kalkutta sagte Kapitän Johns zu einem Besucher, den er auf seinen weißhaarigen, neben der Hauptluke stehenden Ersten Steuermann hinwies, orakelha:
»Dieser Mann steht in der Blüte seines Lebens.« Natürlich besuchte ich während Bunters Abwesenheit regelmäßig jeden Samstag Mrs. Bunter, nur um zu hören, ob sie meiner Dienste bedürfe. Das war so ausgemacht. Sie verfügte für ihren Lebensunterhalt nur über seinen Halbsold – und der belief sich auf ungefähr ein Pfund die Woche. Sie hatte ein einziges Zimmer an einem ruhigen kleinen Platz im Ostend gemietet. Und das war Überfluß verglichen mit dem Wenigen, von dem das Paar, wie ich wohl wußte, einige Zeit hatte leben müssen, als Bunter den Atlantik-Handel aufgegeben hatte – er diente als Steuermann auf allen möglichen Frachtschiffen, nachdem er sein eigenes und zusammen mit diesem sein Glück verloren hatte – es war Überfluß verglichen mit dem Wenigen jener Zeit, als Bunter um sieben Uhr in der Frühe mit nichts als einem Glas heißen Wassers und einer Kruste trockenen Brotes im Leib aufzubrechen pflegte. Man darf gar nicht daran denken, vor allem nicht, wenn man Mrs. Bunter kennt. Ich hatte damals manches mitangesehen, und ich erinnere mich schaudernd daran, mit was allem diese Dame fertig zu werden hatte. Doch genug! Die gute Mrs. Bunter sorgte sich nicht wenig, als die Sapphire nach Kalkutta ausgefahren war. Sie sagte o: »Es muß schrecklich für den armen Winston sein« – Winston ist Bunters Vorname –, und ich versuchte, so gut ich konnte, sie zu trösten. Später erteilte sie ein paar kleinen Kindern Unterricht und verbrachte den halben Tag in deren Familie, und diese Beschäigung tat ihr gut. Im ersten Brief, den sie aus Kalkutta erhielt, berichtete ihr Bunter, er sei die Achterdecks-Treppe hinuntergestürzt und habe sich den Kopf aufgeschlagen, aber keine Knochen gebrochen, Gott sei Dank. Das war alles. Natürlich bekam sie noch weitere Briefe von ihm, aber mir ließ der ausgemachte Vaga
bund nicht eine einzige Zeile zukommen während dieser langen elf Monate. Natürlich dachte ich, alles verlaufe nach Plan. Wer könnte sich auch vorstellen, was da geschah? Dann erhielt Mrs. Bunter eines Tages von einem Anwaltsbüro in der City einen Brief, mit dem ihr angezeigt wurde, daß ihr Onkel gestorben sei – der alte Geizkragen: ein ehemaliger Börsenmakler, ein herzloses, versteinertes Urweltwesen, das fort und fort gelebt hatte. Er war beinahe neunzig, glaube ich; und wenn ich je seinem ehrwürdigen Geist begegnen sollte, ich würde ihn unverzüglich an der Gurgel packen und zu erdrosseln suchen. Das alte Untier hatte seiner Nichte nie verziehen, daß sie Bunter geheiratet hatte; und noch Jahre später, als wohlmeinende Leute ihn darauf hinwiesen, daß sie in London wohne und dem Verhungern nahe sei – mit ihren vierzig Jahren –, sagte er nur: »Geschieht der kleinen Närrin recht!« Ich glaube, er legte es darauf an, daß sie verhungere. Und siehe da, der alte Kannibale starb ohne Testament und ohne einen anderen Verwandten als diese kleine Närrin. Nun waren die Bunters wohlhabende Leute. Freilich weinte Mrs. Bunter, als müsse ihr das Herz zerspringen. Bei jeder anderen Frau wäre es bare Scheinheiligkeit gewesen. Sie wollte die Neuigkeit natürlich sogleich ihrem Winston nach Kalkutta kabeln, aber ich zeigte ihr, da ich die Gazette bei mir trug, daß das Schiff bereits seit über einer Woche auf der Liste der heimreisenden Schiffe stand. So schickten wir uns darein zu warten und redeten Tag für Tag von dem guten alten Winston. Immerhin vergingen ganze hundert solcher Tage, bevor die Sapphire von einem hereinkommenden Postdampfer als »in guter Verfassung« den Kanal heraufsegelnd gemeldet wurde. »Ich fahre nach Dünkirchen, um ihn abzuholen«, sagte sie. Die Sapphire hatte eine Ladung Jute für Dünkirchen. Selbst
verständlich mußte ich die liebe Frau begleiten in meiner Eigenscha als ihr »ingeniöser Freund«. Sie nennt mich bis zum heutigen Tag »unseren genialen Freund«; und ich habe schon gemerkt, wie mich Leute – Fremde – scharf ansehen, auf der Suche nach Anzeichen von Ingenium, vermutlich. Nachdem ich Mrs. Bunter in einem guten Hotel in Dünkirchen untergebracht hatte, schritt ich zum Hafen, es war spät am Nachmittag, und wie überrascht war ich, als ich das Schiff bereits am Kai festgemacht liegen sah. Johns oder Bunter oder auch beide zusammen mußten es förmlich den Kanal heraufgejagt haben. Jedenfalls war es schon seit zwei Tagen da, und die Besatzung war bereits abgemustert. Ich sah zwei der Schiffsjungen, die auf Urlaub nach Hause gingen, fröhlich wie die Lerchen, ihr Gepäck im Schubkarren eines Franzosen; und ich fragte sie, ob der Steuermann an Bord sei. »Da steht er auf dem Kai und sieht nach der Vertäuung«, sagte einer der Burschen, als er an mir vorübereilte. Sie können sich vorstellen, was für einen Schrecken ich erlebte, als ich das weiße Haupt sah. Ich vermochte Bunter nur zu sagen, seine Frau sei in einem Hotel in der Stadt. Er ließ mich stehen, um sogleich an Bord zu gehen und seinen Hut zu holen. Ich war außerordentlich erstaunt über die Forschheit seiner Bewegungen, als er die Gangway hinaufstürmte. Während der schwarze Steuermann auf die Menschen einen bedächtigen und für einen Mann in der Blüte seiner Jahre sonderbar würdigen Eindruck gemacht hatte, schien dieser weißhaarige Geselle der behendeste alte Mann zu sein. Ich glaube nicht, daß Bunter flinker auf seinen Beinen war als früher. Es muß die Haarfarbe gewesen sein, die den ganzen Unterschied in der Beurteilung machte. Das Gleiche galt für die Augen. Diese Augen, die einen so stählern, so grimmig und so faszinierend angesehen hatten, hervor aus dem buschigen, piratenha schwarzen Haar, sie
besaßen nun, in ihrer gutmütigen Helligkeit, unter jenen weißen Augenbrauen einen unschuldigen, beinahe knabenhaen Ausdruck. Ich geleitete ihn unverzüglich in Mrs. Bunters Salon. Nachdem sie eine Träne über den verstorbenen Kannibalen vergossen hatte, drückte sie ihren Winston an die Brust und erklärte ihm, er müsse sich unbedingt seinen Backenbart wieder wachsen lassen. Dann zog die gute Frau die Füße auf das Sofa, und ich ging Bunter aus dem Weg. Denn er begann sogleich, ungestüm und mit ausholenden Armbewegungen im Zimmer auf- und abzugehen. Er steigerte sich in einen richtigen Wutanfall hinein und zerriß Johns mehrmals an diesem Abend, Glied für Glied. »Hinuntergefallen? Natürlich fiel ich hinunter, weil ich rückwärts auf dem Messingblech dieses Idioten ausglitt. Wahrhaftig, ich war auf dem Achterdeck auf- und abgeschritten, hatte die Verantwortung für das Schiff und war mir doch nicht sicher, ob ich mich auf dem Indischen Ozean oder auf dem Mond befände. Ich war von Sinnen. Mir drehte sich alles im Kopf vor lauter Sorgen. Ich hatte zum letzten Mal das wunderbare Zeug Ihres Drogisten angewendet.« (Das galt mir.) »Der ganze Vorrat an Flaschen, den Sie mir mitgegeben hatten, ging zu Bruch, als bei dem letzten Sturm jene Schubladen herausrutschten. Ich holte mir ein paar trockene Sachen heraus, da hörte ich den Ruf ›Alle Mann an Deck!‹, und mit einem Satz war ich draußen, ohne die Schubladen auch nur richtig zuzuschieben. Esel, der ich war! Als ich zurückkam und die Bescherung mit den Scherben sah, hätte ich in Ohnmacht fallen können. Nein; sehen Sie – Täuschung ist schlimm; aber sie nicht aufrechterhalten zu können, wenn man schon zu ihr gezwungen war, das ist noch schlimmer. Sie wissen ja, daß ich, nachdem ich einmal von jüngeren Leuten aus den Atlantikfrachtern
verdrängt worden war, keine Chance mehr hatte, je wieder ein Schiff zu bekommen, nur wegen meiner graubärtigen Visage. Und keine Menschenseele, an die man sich hätte wenden können! Wir waren ein einsames Paar, wir beiden – sie, die alles für mich dahingegeben hatte –; und dann mit ansehen zu müssen, wie sie nicht einmal mehr ein Stück trockenes Brot zu essen hatte – – –« Er schlug mit der Faust auf den französischen Tisch, und es war ein Wunder, daß er nicht zu Bruch ging. »Ihretwegen wäre ich zu einem blutrünstigen Piraten geworden. Statt dessen verfiel ich darauf, mich durch gefärbtes Haar in eine Steuermannsstelle zu mogeln. Und als dann Sie mit dem Wunderzeug Ihres Drogisten daherkamen – – –« Er hielt inne. »Übrigens, der Bursche könnte ein Vermögen damit machen, wenn er wollte. Es ist wirklich ein Wunderzeug. Sagen Sie ihm, Salzwasser könne dem Zeug nichts anhaben. Es hält, so lange Ihr Haar hält.« »Gut«, sagte ich. »Weiter.« Darauin fiel er wieder über Johns her, mit einem Ungestüm, das seine Frau entsetzte und mich lachen ließ, bis mir die Tränen kamen. »Versuchen Sie, sich auszumalen, was es bedeutet hätte, diesem niederträchtigsten Geschöpf, das je ein Schiff befehligte, ausgeliefert zu sein! Denken Sie nur, wie dieser kriechende Johns mir das Leben sauer gemacht hätte! Und ich wußte, daß sich in ungefähr einer Woche das weiße Haar zeigen würde. Und die Mannscha. Haben Sie je an die gedacht? Vor allen Matrosen als nichtswürdiger Betrüger hingestellt zu werden. Was für ein Leben hätte ich geführt, bis wir nach Kalkutta gekommen wären. Und einmal dort, wäre ich hinausgeschmissen worden. Der Halbsold wäre fortgefallen. Annie hätte hier allein gesessen, ohne einen Penny – hätte verhun
gern können; und ich, auf der anderen Seite des Erdballs, desgleichen. Begreifen Sie? Ich dachte daran, mich zweimal am Tag zu rasieren? Aber konnte ich mir denn auch den Kopf rasieren? Es gab keinen Ausweg – keinen. Es sei denn, ich warf Johns über Bord; und selbst dann – – – Wundern Sie sich nun noch, daß ich, mit allem, was mir im Kopf brodelte, nicht mehr wußte, wo ich hintrat in jener Nacht? Ich fühlte mich einmal fallen – dann: Krach, und alles war schwarz. Als ich wieder zu mir kam, schien dieser Schlag auf den Kopf meinen Verstand irgendwie gefestigt zu haben. Ich hatte alles so satt, daß ich zwei Tage lang überhaupt mit niemandem sprechen wollte. Sie meinten, es sei eine leichte Gehirnerschütterung. Dann dämmerte mir langsam der Gedanke, als ich jenen gespenstersüchtigen, elenden Tropf vor mir sah. ›Ah, du bist doch so versessen auf deine Geister‹, dachte ich. ›Gut, sollst etwas haben von jenseits des Grabes.‹ Ich machte mir nicht einmal die Mühe, eine Geschichte zu erfinden. Ich konnte mir keinen Geist vorstellen, auch wenn ich gewollt hätte. Ich war nicht fähig, zusammenhängend zu lügen, auch wenn ich es versucht hätte. Ich trieb ihn einfach darauf zu. Wissen Sie, er kam ganz von selbst auf die Idee, ich hätte irgendwann einmal eines Menschen Tod verursacht, so oder so, und ich – – –« »Oh, dieses Scheusal!« rief Mrs. Bunter vom Sofa. Ein Schweigen folgte. »Und hat er mich nicht auf Händen getragen während der Heimfahrt!« begann Bunter abermals mit müder Stimme. »Er liebte mich. Er war stolz auf mich. Ich war bekehrt. Ich hatte eine Materialisation erlebt. Wissen Sie, worauf er aus war? Er wollte, daß ich und er ›eine séance veranstalteten‹, daß wir versuchten, jenen Geist heraufzubeschwören (denjenigen, der mich hatte weiß werden lassen – der Geist meines vermutli
chen Opfers) um, wie er sagte, die Sache mit ihm auf gütliche Weise zu bereinigen – mit dem Geist! ›Oder, Bunter‹, sagte er, ›Sie erleben eine weitere Materialisation, wenn Sie es am wenigsten vermuten, und stürzen mir vielleicht noch über Bord oder sonst wohin. Sie sind nicht wirklich sicher, bevor wir die Geisterwelt nicht auf irgendeine Weise besänigt haben.‹ Können Sie sich etwas Schwachsinnigeres vorstellen? Nein – nicht wahr?« Ich sagte nichts hierzu. Aber Mrs. Bunter äußerte sich in sehr entschiedenem Ton. »Winston, ich möchte nicht, daß du je wieder an Bord dieses Schiffes gehst.« »Meine Liebe«, sagte er, »ich habe noch alle meine Sachen an Bord.« »Du brauchst diese Sachen nicht. Geh überhaupt nicht mehr in die Nähe des Schiffes.« Er blieb stehen. Dann, die Augen mit einem schwachen Lächeln senkend, sagte er langsam mit verträumter Stimme: »Das Spukschiff.« »Und Ihr letztes«, fügte ich hinzu. Wir brachten ihn, so wie er vor uns stand, mit dem Nachtzug fort. Er war sehr ruhig; aber beim Überqueren des Kanals, während wir beide an Deck rauchten, wandte er sich mir plötzlich zu und flüsterte mit knirschenden Zähnen: »Er wird nie erfahren, wie nahe er daran war, über Bord zu fliegen!« Er meinte Kapitän Johns. Ich sagte nichts dazu. Aber Kapitän Johns machte, wie ich erfuhr, viel Auebens vom Verschwinden seines Ersten Steuermanns. Er veranlaßte die französische Polizei, das Land nach der Leiche abzusuchen. Am Ende, glaube ich, erhielt er Anweisung von seinem Reeder, keinen weiteren Lärm zu schlagen – alles habe sich auf
geklärt. Ich bezweifle, daß er je irgendetwas von diesem geheimnisvollen Vorkommnis begriff. Noch heute versucht er gelegentlich (er lebt jetzt im Ruhestand, und was er sagt, entbehrt o des Zusammenhangs) – versucht er, die Geschichte eines schwarzen Steuermanns zu erzählen, den er einmal auf seinem Schiff gehabt habe, »eines blutrünstigen, rüpelhaen Herren«, mit rabenschwarzem Haar, das auf einmal weiß wurde infolge einer Materialisation von jenseits des Grabes. Es sei eine rachsüchtige Erscheinung gewesen. – All diese Hinweise auf schwarzes Haar und weißes Haar, auf Achterdecks-Treppen, auf seine eigenen Empfindungen und Anschauungen hatten weder Hand noch Fuß, und schwer konnte man sich einen Reim darauf machen. Wenn aber seine Schwester (noch immer äußerst rüstig) zugegen war, schnitt sie ihm gebieterisch das Wort ab: »Nehmen Sie nicht ernst, was er sagt. Ihm spuken Teufel im Hirn.«
PRINZ ROMAN
»Ereignisse, die sich vor siebzig Jahren zugetragen haben, liegen vielleicht zu weit ab, um noch zum ema einer Unterhaltung zu taugen. Gewiß, das Jahr ist für uns ein historisches Datum, eines jener verhängnisvollen Jahre, da wir im Angesicht der tatenlosen Entrüstung und beredten Sympathiekundgebungen dieser Welt wieder einmal gezwungen waren, ›vae victis‹ zu murmeln und kummervoll den Schaden zu überdenken. Nicht daß wir je sehr tüchtig im Kalkulieren gewesen wären, sei es in Wohl oder Wehe. Das haben wir nie gelernt, zur großen Erbitterung unserer Feinde, die uns mit dem Beiwort ›unbelehrbar‹ belegten …« Der das sagte, war polnischer Nationalität, Angehöriger jener nicht so sehr lebenden als überlebenden Nation, die in ihrem von Millionen Bajonetten umfriedeten und mit den Siegeln dreier großer Reiche dreifach versiegelten Grab unbeirrbar fortfuhr zu denken, zu atmen, zu sprechen, zu hoffen und zu leiden. Die Unterhaltung drehte sich um Aristokratentum. Wie war dieses neuerdings in Verruf geratene ema zur Sprache gekommen? Seither sind einige Jahre vergangen, und mir ist die genaue Erinnerung an die Einzelheiten entschwunden. Aber ich weiß noch, daß Aristokratie nicht geradezu als Bestandteil des gesellschalichen Ganzen behandelt wurde; wir erwähnten ihrer vielmehr nach einem Austausch von Meinungen über Patriotismus – ein gleichfalls einigermaßen verpöntes Sentiment, seitdem ihn der Zartsinn unserer Humanitätsapostel als ein Relikt aus barbarischer Zeit einstu. Doch
weder der große Florentiner Maler, der, da er die Augen für immer schloß, zuletzt seiner Stadt gedachte, noch der heilige Franziskus, der mit seinem letzten Atemzug die Stadt Assisi segnete, waren Barbaren. Es bedarf einer gewissen Seelengröße, um Patriotismus würdig zu interpretieren – oder doch einer Aufrichtigkeit des Gefühls, wie sie der vulgären Spitzfindigkeit modernen Denkens versagt ist, das die erhabene Schlichtheit eines dem innersten Wesen von Ding und Mensch entspringenden Empfindens gar nicht verstehen kann. Die Aristokratie, von der wir sprachen, war die allerhöchste; es waren die großen Familien Europas, nicht verarmt, nicht bekehrt, nicht liberalisiert – diese ausgeprägteste und eigentümlichste aller Klassen, für die nicht einmal Ehrgeiz zu den üblichen Handlungsantrieben und Verhaltensregulativen zählte. Nachdem ihnen aber das unbestrittene Recht auf Führerscha entglitten war, mußten ihnen, so schlössen wir, ihre großen Vermögen, ihr durch weitgespannte Verbindungen bewirktes Weltbürgertum, ihr hoher Rang, bei dem so wenig zu gewinnen und so viel zu verlieren war, das Dasein in Zeiten politischer Bewegung und nationaler Umwälzungen zu einem äußerst prekären gemacht haben. Da sie nicht mehr zum Befehlen ausersehen waren – das doch geradezu das Wesen des Aristokratischen ausmacht –, wurde es für die Adligen in zunehmendem Maße problematisch, noch etwas anderes zu tun, als sich über die großen Aufwallungen der Volksleidenscha erhaben zu zeigen. Zu diesem Schluß waren wir gerade gekommen, als die Bemerkung über fernliegende Ereignisse fiel und des Jahres Erwähnung getan wurde. Und der Sprecher fuhr fort: »Ich will damit nicht sagen, ich hätte Prinz Roman zu jener fernen Zeit gekannt. Zwar fühle ich mich allmählich recht alt;
aber so alt bin ich doch noch nicht. Prinz Roman verheiratete sich nämlich im selben Jahr, da mein Vater geboren wurde. Das war . Das Neunzehnte Jahrhundert war noch jung und der Prinz sogar noch jünger als das Jahrhundert; aber um wieviel genau, das weiß ich nicht. Jedenfalls war es eine frühe Heirat. Eine ideale Verbindung in jeder Hinsicht. Die Braut war jung und schön, eine Waise, Erbin eines große Namens und großen Vermögens. Der Prinz, damals Offizier im Garderegiment und ausgezeichnet unter seinen Kameraden durch etwas Reserviertes und Nachdenkliches in seinem Wesen, hatte sich Hals über Kopf in ihre Schönheit, ihre Anmut und den Ernst ihres Sinnes und Herzens verliebt. Er war ein ziemlich schweigsamer junger Mann; aber seine Blicke, sein Benehmen, seine ganze Person drückten die absolute Hingabe aus, die er für die Frau seiner Wahl empfand – eine Hingabe, die sie auf ihre offene und bezaubernde Art erwiderte. Die Flamme dieser reinen jungen Leidenscha versprach ewig zu lodern; und während einer Saison erhellte sie die verstaubte zynische Atmosphäre der großen Welt von St. Petersburg. Kaiser Nikolaus, der Großvater des gegenwärtigen Kaisers, der Zar, dem der Krimkrieg den Tod brachte, der letzte vielleicht jener Selbstherrscher mit einem mystischen Glauben an den göttlichen Charakter ihrer Sendung, bekundete einiges Interesse an diesem verheirateten Liebespaar. Es stimmt, daß Nikolaus alle Handlungen der großen polnischen Adligen mit wachsamem Auge beobachtete. Die jungen Leute führten ein ihrem Rang gemäßes Leben und gingen offensichtlich ganz ineinander auf. Und die Gesellscha, der die Aufrichtigkeit solch eines von der Künstlichkeit ihrer betriebsamen, albernen Sensationen unberührten Gefühls zur Faszination wurde, betrachtete die Beiden mit wohlwollender Nachsicht und belustigter Rührung. Die Hochzeit war für die Hauptstadt das gesellschaliche
Ereignis von . Genau vierzig Jahre später weilte ich in dem Landhaus des Bruders meiner Mutter in einer der südlichen Provinzen. Es war tiefer Winter. Die große Rasenfläche vor dem Haus war so rein und glatt wie ein alpines Schneefeld, eine weiße, flaumige Ebene, funkelnd unter der Sonne, als sei sie mit Diamantstaub bestreut, und sich sacht zum See hin neigend – einem sich schlängelnden, gefrorenen Gewässer, das bläulich und fester als der Erdboden wirkte. Eine kalte strahlende Sonne glitt über einen welligen Horizont hinter tiefen Schneefalten, in denen die Dörfer der ukrainischen Bauern dem Blick verborgen waren wie Boote, die in den Wellentälern einer bewegten See unsichtbar bleiben. Und alles war sehr still. Ich weiß nicht mehr, wie ich es fertigbrachte, um elf Uhr morgens aus dem Schulzimmer zu entwischen. Ich war ein Knabe von acht Jahren; das kleine Mädchen, meine Kusine, ein paar Monate jünger als ich, war, obschon leidenschalicher veranlagt, weniger abenteuerlustig. So entwischte ich allein; und unversehens stand ich in der großen, mit Steinfliesen ausgelegten und von einem gewaltigen weißen Kachelofen erwärmten Halle. Die war ein viel angenehmerer Aufenthaltsort als das Schulzimmer, das aus irgendeinem Grund, vielleicht einem hygienischen, stets auf niedriger Temperatur gehalten wurde. Wir Kinder wußten, daß ein Gast im Haus weilte. Am Abend zuvor war er eingetroffen, gerade als wir ins Bett gescheucht wurden. Wir hatten die Linien der Treiber durchbrochen und dann eilig unsere Nasen an den schwarzen Fensterscheiben plattgedrückt; aber wir waren zu spät gekommen, um den Gast aussteigen zu sehen. Wir hatten nur, in einem rötlichen Glanz, die große, auf Schlittenkufen gestellte Reisekutsche gesehen, bespannt mit sechs Pferden; eine schwarze Masse
gegen den Schnee, die sich zu den Ställen hinbewegte, geführt von einem Reiter, der am Ende eines langen, auf den vorderen Sattelbaum gestützten Stockes einen lodernden Ball aus Werg und Harz in einem schwankenden Eisenkorb trug. Zwei Stalljungen waren am frühen Nachmittag die Schlittenspuren entlang ausgeschickt worden, um den erwarteten Gast bei Einbruch der Dämmerung in Empfang zu nehmen und ihm mit diesen Fackeln den Weg zu leuchten. Damals, müssen Sie bedenken, gab es in unseren südlichen Provinzen noch keine Eisenbahn. Züge und Dampfmaschinen kannten meine Kusine und ich nur aus Bilderbüchern – als etwas ziemlich Unbestimmtes, überaus Fernes, eigentlich nicht Interessantes, höchstens für Erwachsene, wenn sie ins Ausland reisten. Unsere Vorstellung von Prinzen, vielleicht ein wenig ausgeprägter als die von Dampfmaschinen, war hauptsächlich literarisch, und ihr eignete ein Glanz, wie er vom Licht der Märchen ausgeht, in denen Prinzen immer als jung, bezaubernd, heldenha und glücklich erscheinen. Doch wir vermochten, so gut wie andere Kinder, eine klare Linie zwischen dem Realen und dem Idealen zu ziehen. Wir wußten, daß Prinzen historische Figuren waren; und auch dieses Faktum umgab ein Glanz. Was mich indessen veranlaßt hatte, behutsam durch das Haus zu streifen wie ein entwichener Sträfling, das war die Hoffnung auf eine Unterhaltung mit meinem besonderen Freund, dem Oberförster, der sich allmorgendlich zu dieser Stunde einstellte, um Bericht zu erstatten. Ich lechzte nach Neuigkeiten von einem bestimmten Wolf. Sie wissen, in einem Landstrich, in dem Wölfe vorkommen, bringt beinahe jeder Winter ein Exemplar hervor, das sich durch die besondere Verwegenheit seiner Missetaten auszeichnet, durch etwas gleichsam in vollkommenerer Ausprägung Wölfisches. Ich wollte eine neue aufregende Geschichte von diesem Wolf hören – vielleicht den dramatischen Hergang seines Todes …
Aber in der Halle war niemand. Um meine Hoffnungen betrogen, fühlte ich mich sehr niedergeschlagen. Außerstande, im Triumph zu meinen Schulaufgaben zurückzukehren, entschloß ich mich, unlustig in das Billardzimmer zu schlendern, wo ich bestimmt nichts zu suchen hatte. Auch dort war niemand, und ich fühlte mich sehr verloren und trostlos unter der hohen Decke dieses Zimmers, so ganz allein mit dem wuchtigen englischen Billardtisch, der in schwerem, geradlinigem Schweigen die Störung durch den kleinen Jungen zu mißbilligen schien. Als ich bereits den Rückzug erwog, hörte ich Schritte im benachbarten Wohnzimmer; und ehe ich noch das Hasenpanier ergreifen konnte, erschienen mein Onkel und sein Gast in der Tür. Fortzulaufen, nachdem man mich gesehen hatte, wäre in höchstem Maße ungehörig gewesen; so blieb ich stehen. Mein Onkel schien erstaunt, mich hier zu erblicken; der Gast an seiner Seite war ein magerer Mann mittlerer Größe, in einem bis oben zugeknöpen schwarzen Gehrock, sehr aufrecht, in straff soldatischer Haltung. Aus den Falten eines feinen, weißen Halstuches schauten die Spitzen eines den glattrasierten Wangen eng anliegenden Kragens hervor. Einige Strähnen dünnen grauen Haares waren behutsam über den kahlen Schädel gebürstet. Das Gesicht, das einmal sehr schön gewesen sein mußte, hatte auch im Alter die ausgeglichene Klarheit seiner Züge bewahrt. Erstaunt war ich über dessen gleichmäßige, beinahe totenähnliche Blässe. Er schien mir unsäglich alt. Ein feines Lächeln, eine bloße flüchtige Bewegung seiner dünnen Lippen, zeigte mir an, daß er mein verwirrtes Erröten bemerkt hatte; und große Neugier packte mich, als ich ihn in die innere Brusttasche seines Rockes greifen sah. Er zog einen Bleisti und einen Block hervor, die er meinem Onkel mit einer beinahe unwahrnehmlichen Verneigung überreichte.
Ich war sehr erstaunt; aber mein Onkel nahm die Dinge wie etwas Selbstverständliches entgegen. Er schrieb ein paar Worte nieder, auf die der Gast, mit dem Kopf nickend, rasch einen Blick warf. Eine schmale, runzelige Hand – die Hand war älter als das Gesicht – strich mir über die Wange und blieb leicht auf meinem Kopf liegen. Eine tonlose Stimme, eine Stimme, farblos wie das Gesicht, kam von den eingesunkenen Lippen, während die dunklen, ruhigen Augen freundlich auf mich herabblickten. ›Und wie alt ist dieser schüchterne kleine Junge?‹ Noch ehe ich antworten konnte, schrieb mein Onkel das Alter auf den Block. Ich war sehr beeindruckt. Was bedeutete diese Zeremonie? War diese Person so erlaucht, daß man sie nicht anreden dure? Abermals blickte er auf den Schreibblock, abermals nickte er, und abermals ließ sich diese unpersönliche, mechanische Stimme vernehmen: ›Er ähnelt seinem Großvater.‹ Ich erinnerte mich an meinen Großvater väterlicherseits. Er war nicht lange zuvor gestorben. Auch er war ungeheuer alt gewesen. Und mir schien es vollkommen natürlich, daß zwei derart hochbetagte und ehrwürdige Personen einander gekannt hatten in grauer Vorzeit, ehe ich geboren worden war. Aber mein Onkel war sich dieses Umstandes offensichtlich nicht bewußt. So offensichtlich, daß die mechanische Stimme zu erklären hatte: ›Ja, ja. Kameraden Anno ’. Er war einer derjenigen, die es wußten. Ferne Zeiten, mein lieber Herr, ferne Zeiten …‹ Er machte eine Geste, wie um ein zudringliches Gespenst zu verscheuchen. Und nun blickten sie beide auf mich herab. Ich überlegte, ob etwas von mir erwartet werde. Auf meinen großen fragenden Blick antwortete mein Onkel: ›Er ist vollkommen taub.‹ Und die beziehungslose, ausdruckslose Stimme sagte: ›Gib mir deine Hand.‹
Da ich mich wegen meiner Tintenfinger genierte, reichte ich sie ihm nur zögernd. Ich war nie zuvor einem tauben Menschen begegnet, und ich war einigermaßen verwirrt. Er drückte sie fest und strich mir ein letztes Mal über den Kopf. Mein Onkel sagte bedeutsam zu mir: ›Du hast Prinz Roman S – – – die Hand geschüttelt. Das ist etwas, woran du dich später erinnern wirst.‹ Ich war von seinem Ton beeindruckt. Ich besaß genug Geschichtskenntnis, um ungefähr zu wissen, daß die Fürsten S – – – zu den herrschenden Fürsten Rutheniens bis zu dessen Vereinigung mit dem Königreich Polen Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts gehört hatten. Dann wurden diese Fürsten zu bedeutenden polnischen Magnaten. Aber was mich am meisten verwunderte, das war das Fehlen jeglichen Märchenzaubers. Entsetzlich, einen Prinzen entdecken zu müssen, der taub, kahlköpfig, dürr und so ungeheuer alt war. Ich kam nie auf den Gedanken, daß dieser eindrucksvolle, aber enttäuschende Mann einmal jung, reich, schön gewesen sei; ich konnte nicht wissen, daß ihm das Glück einer höchst vollkommenen Ehe zuteil geworden – einer Ehe, die zwei junge Herzen verband, zwei große Namen und zwei große Vermögen; ein Glück, dem bestimmt zu sein schien, wie im Märchen ewig zu währen … Aber es währte nicht ewig. Es war dazu verurteilt, nicht einmal sehr lange zu währen, nach dem Maß der Tage, die menschlichem Wandel hier auf Erden vergönnt sind, wo dauerndes Glück nur in Märchenschlüssen sich findet. Ihnen wurde eine Tochter geboren, und bald darauf begann die junge Prinzessin zu kränkeln. Eine Weile hielt sie noch mit heiterer Unerschrockenheit stand, gestärkt durch das Gefühl, ihr Dasein sei nun für das Glück zweier Leben notwendig. Aber
schließlich erlangte ihr Gemahl, zutiefst beunruhigt über den raschen Wandel in ihrem Aussehen, einen unbefristeten Urlaub und brachte sie aus der Hauptstadt fort zu seinen Eltern auf das Land. Der Fürst und die Fürstin, das alte Paar, waren in höchster Sorge wegen des Zustandes ihrer geliebten Schwiegertochter. Sie trafen Anstalten zu einer Reise ins Ausland. Aber es hatte den Anschein, als sei alles schon zu spät; und die Kranke selbst widersetzte sich dem Vorhaben mit saner Hartnäckigkeit. Mager und bleich saß sie in dem großen Lehnstuhl, in dem das tückische, verborgene Nervenleiden sie von Tag zu Tag kleiner und zerbrechlicher erscheinen ließ, ohne doch das Lächeln ihrer Augen oder die zauberhae Anmut ihres abgezehrten Gesichtes auslöschen zu können. Sie hing an ihrer Heimat und wünschte nichts als die heimatliche Lu zu atmen. Nirgends sonst könne sie sich so rasch erholen; nirgends sonst werde es ihr so leicht sein zu sterben. Sie starb, bevor ihre kleine Tochter zwei Jahre alt war. Der Gram des Mannes war schrecklich und für seine Eltern um so besorgniserregender, als es ein vollkommen stiller, tränenloser war. Nach der Trauerfeier, als die riesige Menge der mit entblößten Häuptern die Kapelle umstehenden Bauern sich schon verlaufen hatte, bedeutete der Prinz durch eine Handbewegung Freunden und Verwandten, ihn allein zu lassen, damit er den Maurern des Gutes zusehe, wie sie die Familiengru wieder schlössen. Als der letzte Stein gesetzt war, entrang sich ihm ein Stöhnen – der erste Schmerzenslaut, den er seit Tagen von sich gegeben hatte. Dann schritt er mit gesenktem Haupt davon und schloß sich in seine Zimmer ein. Vater und Mutter fürchteten um seinen Verstand. Seine äußere Ruhe war ihnen schrecklich. Sie konnten ihre Hoffnung auf nichts als seine Jugend setzen, die seine Verzweiflung so selbstversunken und intensiv hatte werden lassen.
Der alte Fürst Johann wiederholte beständig gereizt und besorgt: ›Der arme Roman müßte irgendwie aufgerüttelt werden. Er ist so jung.‹ Aber sie fanden nichts, das ihn hätte aufrütteln können. Und die alte Fürstin wischte sich die Augen und wünschte sich im Stillen, daß er noch jung genug wäre, um zu ihr zu kommen und sich an ihren Knien auszuweinen. Nach und nach überwand sich Prinz Roman und kehrte gelegentlich in den Familienkreis zurück. Aber es war, als seien ihm Herz und Sinn mit der Frau, die er verloren, in der Familiengru versenkt worden. Er begann, mit seiner Flinte die Wälder zu durchstreifen, heimlich beobachtet vom Wildhüter, der dann des Abends Bericht erstattete: ›Seine Durchlaucht haben während des ganzen Tages keinen Schuß abgegeben.‹ Bisweilen schritt er morgens zu den Stallungen, gab leise Befehl, ein Pferd möge gesattelt werden, stieg wortlos auf und ritt im Schritt zum Tor hinaus. Er blieb dann den ganzen Tag fort. Die Leute sahen ihn auf den Fahrwegen, wie er nicht nach rechts und links schaute, mit bleichem Gesicht, starr im Sattel sitzend wie ein steinerner Reitersmann auf einem lebendigen Roß. Die Bauern, die auf den Feldern arbeiteten, den weiten, uneingefriedeten Feldern, schauten ihm von ferne nach. Und bisweilen fühlte sich ein mitleidiges altes Weib auf der Schwelle seiner niedrigen, strohgedeckten Hütte veranlaßt, hinter dem Rücken des Prinzen das Kreuz zu schlagen; als sei er einer von ihnen, ein schlichter Dörfler, den schwerer Kummer niederdrückte. Er ritt weiter, vor sich hinstarrend, ohne irgendwen zu sehen, als sei die Erde leer, die ganze Menschheit begraben in jenem Grab, das sich so plötzlich aufgetan hatte an seinem Weg, um all sein Glück zu verschlingen. Was waren ihm noch die Menschen mit ihren Kümmernissen, Freuden, Mühen, Leiden
schaen, aus deren Kreis sie, die ihm die Welt bedeutet hatte, so früh herausgerissen worden war? Die Menschen existierten nicht für ihn; und er hätte sich so restlos einsam und verloren gefühlt wie ein von fürchterlichsten Alpträumen gequälter Mann, wäre nicht diese Landscha gewesen, in der er geboren war und in der er die glücklichen Jahre seines Knabenalters verbracht hatte. Er kannte sie wohl, diese Landscha, jede kleinste baumgekrönte Anhöhe zwischen den bestellten Feldern, jede Bodensenke, in der ein Dorf verborgen lag. Die gestauten Bäche bildeten eine Kette von kleinen Seen in den grünen Wiesen. Weit im Norden stand der große litauische Forst der Sonne entgegen, nicht höher als eine Hecke; und nach Süden erstreckten sich die weiten braunen, ebenen Flächen der Erde bis hin zum Blau des Himmels. Und diese vertraute Landscha, die verwoben war mit den Tagen, da es für ihn keine Gedanken, keinen Kummer gegeben hatte, dieses Land, dessen Zauber er spürte, auch wenn er es nicht ansah, linderte seinen Schmerz wie die Gegenwart eines alten Freundes, der schweigend und unbeachtet neben einem sitzt in dunklen Stunden des Lebens. Eines Nachmittags, als der Prinz den Kopf seines Pferdes schon heimwärts gewandt hatte, bemerkte er eine niedrige, dichte, dunkle Staubwolke, die einen Teil seines Blickfeldes schräg durchschnitt. Er brachte auf einer Anhöhe das Pferd zum Stehen und spähte in die Runde. In der Staubwolke war hier und dort das schlanke Aulitzen von Stahl zu sehen, und sie enthielt sich bewegende Formen, die sich schließlich als eine langsam in Doppelreihe dahinfahrende, von berittenen Kosaken eskortierte Kette von Bauernkarren entpuppte, angefüllt mit Soldaten. Die Erscheinung glich einem riesigen Reptil, das über die Felder kroch: der Kopf, schon nicht mehr sichtbar, hinab in eine
kleine Senke geschoben, und der Schwanz, sich dahinschlängelnd und immer kürzer werdend, als fräße sich das Ungetüm langsam in das Herz des Landes hinein. Der Prinz nahm seinen Heimweg durch ein Dorf, das etwas abseits lag. Das Wirtshaus, welches Pferdestall, Kuhstall und Scheune unter einem mächtigen Strohdach vereinigte, glich einem unförmigen, buckligen, zerlumpten Riesen, der sich zwischen den kleinen Bauernhütten ausgestreckt hatte. Der Wirt, ein stattlicher, würdiger Jude, in einen schwarzen, seidigen, bis zu den Füßen reichenden Kaan gekleidet und mit einer roten Schärpe gegürtet, stand vor der Tür und strich sich über den langen silbrigen Bart. Er beobachtete des Prinzen Näherkommen und verneigte sich tief. Er rechnete nicht damit, auch nur beachtet zu werden, da allgemein bekannt war, daß der Prinz in seinem Schmerz für nichts und niemanden ein Auge hatte. So erschrak er geradezu, als der Prinz anhielt und ihn fragte: ›Was soll das alles, Yankel?‹ ›Das ist, wenn Euer Durchlaucht belieben, ein Trupp Fußsoldaten, der eilig nach Süden zieht.‹ Er blickte behutsam nach rechts und links; aber nur ein paar Kinder waren in der Nähe, die im Staub der Dorfstraße spielten. So trat er dicht an den Steigbügel heran. ›Wissen denn Euer Durchlaucht nicht? Da unten hat es schon begonnen. Alle Grundbesitzer, große und kleine, sind in Waffen, und sogar das gemeine Volk hat sich erhoben. Erst gestern kam der Sattler von Grodek (einem winzigen Marktflecken in der Nähe) mit seinen beiden Lehrburschen hier durch, um sich denen dort unten anzuschließen. Er ließ sogar seinen Karren bei mir stehen. Ich habe ihm einen Führer mitgegeben durch unsere Gegend. Euer Durchlaucht wissen, unsere Leute reisen viel, sie sehen alles, was vor sich geht, und kennen die Wege.‹
Er versuchte seine Erregung im Zaum zu halten, denn er, der Jude Yankel, Schankwirt und Pächter aller Mühlen auf dem Gut, war ein polnischer Patriot. Mit noch leiserer Stimme fügte er hinzu: ›Ich war schon verheiratet, als die Franzosen und all die anderen Nationen hier vorbeizogen mit Napoleon. T’ja, t’ja. Das war eine große Ernte für den Tod. Nu! Vielleicht hil Gott dieses Mal.‹ Der Prinz nickte. ›Vielleicht‹ – und in tiefes Nachdenken versinkend, ließ er sich von seinem Pferd nach Hause tragen. In dieser Nacht schrieb er einen Brief, und früh am nächsten Morgen sandte er einen berittenen Boten zur Poststation. Im Laufe des Tages tauchte er, zur großen Freude der Familie, aus seiner Schweigsamkeit auf und unterredete sich mit seinem Vater über die jüngsten Ereignisse – die Revolte in Warschau, die Flucht des Großfürsten Konstantin, die ersten bescheidenen Erfolge der polnischen Armee (damals gab es eine polnische Armee); die Aufstände in den Provinzen. Der alte Fürst Johann, bewegt und besorgt, beurteilte die Vorgänge von einem rein aristokratischen Standpunkt aus. Er mißtraute den popularistischen Ursprüngen des Aufruhrs, bedauerte dessen demokratische Tendenz und glaubte nicht an die Möglichkeit eines Erfolges. Er war traurig und innerlich erregt. ›Ich beurteile das alles ungerührt. Es gibt säkulare Grundsätze der Legitimität und Ordnung, die bei diesem leichtfertigen Unternehmen verletzt worden sind zu Gunsten umstürzlerischer Illusionen. Wenn natürlich auch die patriotischen Regungen des Herzens…‹ Prinz Roman hatte nachdenklich zugehört. Er nutzte die Pause, um seinem Vater in ruhigem Ton zu sagen, er habe an jenem Morgen einen Brief nach St. Petersburg geschickt und seinen Abschied von der Garde eingereicht. Der alte Fürst schwieg. Er dachte, er hätte vorher darüber
befragt werden sollen. Sein Sohn war zugleich kaiserlicher Ordonnanzoffizier, und er wußte, daß der Zar dieses Zeichen der Abtrünnigkeit bei einem polnischen Adligen nie verziehen werde. In unzufriedenem Ton wies er seinen Sohn darauf hin, daß er doch ohnehin unbefristeten Urlaub gehabt habe. Das Sinnvollste wäre gewesen, sich still zu verhalten. Man habe bei Hof zu viel Takt, um einen Mann seines Namens zurückzubeordern. Schlimmstenfalls hätte er eine Mission nach einem entlegenen Platz zu gewärtigen gehabt – nach dem Kaukasus vielleicht – weit ab von diesem unseligen Kampf, der vom Grundsatz her falsch und darum zum Scheitern verurteilt sei. ›Es wird noch dahin kommen, daß du dich ohne irgendein Interesse am Leben und ohne sinnvolle Betätigung siehst. Aber du brauchst etwas, das dich beschäigt, mein armer Junge. Du hast unbedacht gehandelt, fürchte ich.‹ Prinz Roman murmelte: ›Ich hielt es für besser so.‹ Der Vater wurde unsicher unter dem festen Blick seines Sohnes. ›Ja, ja – vielleicht! Aber als Ordonnanzoffizier des Kaisers und in Gunst bei der ganzen kaiserlichen Familie …‹ ›Von diesen Leuten hatte noch nie ein Mensch gehört, als unser Haus schon ruhmreich war‹, bemerkte der junge Mann verächtlich. Solch eine Bemerkung war nach dem Sinn des alten Fürsten. ›Ja – vielleicht ist es besser so‹, pflichtete er schließlich bei. Vater und Sohn wünschten einander mit Herzlichkeit gute Nacht. Am nächsten Tag schien Prinz Roman wieder in die Tiefen seiner Stumpeit zurückgefallen zu sein. Er ritt wie gewöhnlich aus. Er erinnerte sich, tags zuvor einen reptilartigen Soldatentransport gesehen zu haben, in dem es von Bajonetten geblitzt hatte und der über das Antlitz des Landes
gekrochen war – seines Landes. Auch sie, die Frau, die er geliebt hatte, war die seine gewesen. Der Tod hatte sie ihm geraubt. Ihr Verlust war für ihn zu einer sittlichen Erschütterung geworden; er hatte ihm das Herz geöffnet für einen größeren Kummer, den Geist für einen weiteren Gedanken, die Augen für alles Vergangene und für die Gegenwart einer anderen Liebe, beladen mit Schmerz, aber so geheimnisvoll fordernd wie jene, die er verloren und der er sein ganzes Glück anheimgegeben hatte. An diesem Abend zog er sich früher als sonst zurück und klingelte nach seinem Kammerdiener. ›Geh und sieh nach, ob in der Wohnung des Stallmeisters Licht brennt. Wenn er noch auf ist, bitte ihn, herüberzukommen und mit mir zu reden.‹ Während der Diener ging, um den Aurag auszuführen, zerriß der Prinz hastig einige Papiere, verschloß die Schubladen seines Schreibtisches und hängte sich ein Medaillon, das die Miniatur seiner Frau enthielt, um den Hals. Der Mann, den der Prinz erwartete, gehörte jener Vergangenheit an, die der Tod seiner Liebe wachgerufen hatte. Er stammte aus einer Familie niederen Adels, deren Mitglieder seit Generationen Gefolgsleute, Diener und Freunde der Fürsten S – – – gewesen waren. Er erinnerte sich noch an die Zeit vor der letzten polnischen Teilung und hatte an den Kämpfen der letzten Stunde teilgenommen. Er war ein typischer alter Pole dieser Schicht, von großer Gefühlsintensität und blindem Enthusiasmus; von kriegerischem Instinkt und schlichter Gläubigkeit; und sogar jener altmodischen Gepflogenheit treu, seine Reden mit lateinischen Wendungen zu spicken. Und seine freundlich schlauen Augen, sein gerötetes Gesicht, seine hohe Stirn und sein dicker, grauer, hängender Schnurrbart waren gleichfalls sehr typisch für diese Art von Polen. ›Hört, Meister Franz‹, sagte der Prinz vertraulich und ohne
jede Einleitung. ›Hört zu, alter Freund. Ich werde in aller Stille hier verschwinden. Ich gehe dorthin, von wo mich etwas ru, das lauter ist als mein Gram, aber mit einer Stimme, die diesem sehr ähnlich ist. Ich vertraue es Euch allein an. Ihr werdet zur rechten Zeit das Notwendige sagen.‹ Der alte Mann begriff. Seine ausgestreckten Hände zitterten beträchtlich. Aber sobald er seine Stimme wiedergefunden hatte, dankte er Gott laut für die Gnade, noch erleben zu dürfen, wie die erlauchte Familie in ihrem jüngsten Sproß ein Exempel coram gentibus für Vaterlandsliebe und Beherztheit auf dem Schlachtfeld liefere. Er zweifle nicht, daß sein lieber Prinz im Rat und im Kampf einen Platz einnehmen werde, der seiner hohen Geburt würdig sei; er sehe bereits in fulgore des Familienruhms affulget patriae serenitas. Zum Schluß seiner Rede brach er in Tränen aus und fiel dem Prinzen um den Hals. Der Prinz beruhigte den alten Mann, und nachdem er ihn in einen Sessel gesetzt und leidlich besänigt hatte, sagte er: ›Versteht mich nicht falsch, Meister Franz. Ihr wißt, wie sehr ich meine Frau geliebt habe. Ein Verlust wie dieser öffnet einem Menschen die Augen für ungeheure Wahrheiten. Hier geht es nicht um Führerscha oder Ruhm. Ich beabsichtige, allein zu gehen und als Unbekannter in Reih und Glied zu kämpfen. Ich will meinem Vaterland das zum Opfer bringen, was ich von mir zu opfern vermag, das heißt mein Leben, so schlicht wie der Sattler von Grodek, der gestern mit seinen beiden Lehrburschen hier durchkam.‹ Da rief der alte Mann, das gehe nicht an. Das könne er nicht zulassen. Aber er mußte sich schließlich den Argumenten und dem ausdrücklichen Willen des Prinzen fügen. ›Ha! Wenn Sie sagen, es sei ein Gebot des Fühlens und Wissens – gut. Aber Sie können nicht gänzlich allein gehen. Ach! daß ich zu alt bin, um noch von Nutzen zu sein! Cripit verba
dolor, mein teurer Prinz, beim Gedanken, daß ich über siebzig bin und nicht mehr gelte in der Welt als ein Krüppel auf dem Kirchhof. Alles, wozu ich noch tauge, ist anscheinend, zu Hause zu sitzen und zu Gott zu beten für unser Land und für Sie, mein Prinz. Aber da ist mein Sohn, mein jüngster Sohn Peter. Er wird Ihnen ein rechter Gefährte sein. Und zufällig hält er sich bei mir auf. Seit Jahrhunderten hat kein Fürst S – – – sein Leben in die Schanze geworfen, ohne daß ein Gefährte unseres Namens an seiner Seite geritten wäre. Sie müssen jemanden bei sich haben, der weiß, wer Sie sind, und wäre es nur, um Ihre Eltern und Ihren alten Diener wissen zu lassen, was sich mit Ihnen zuträgt. Und wann gedenken Fürstliche Hoheit aufzubrechen?‹ ›In einer Stunde‹, sagte der Prinz; und der alte Mann eilte von dannen, um seinem Sohn Bescheid zu geben. Prinz Roman nahm einen Leuchter und schritt ruhig durch einen dunklen Gang des stillen Hauses. Die oberste Kinderschwester sagte später, sie sei plötzlich erwacht und habe den Prinzen gesehen, wie er auf sein Kind schaute, mit der einen Hand das Kerzenlicht gegen dessen Augen abschirmend. Er habe dagestanden und es eine Weile angeblickt. Dann habe er den Leuchter auf den Boden gestellt, sich über das Bettchen gebeugt und das kleine Mädchen geküßt, das nicht erwachte. Geräuschlos sei er wieder hinausgegangen und habe das Licht mitgenommen. Sie habe deutlich sein Gesicht gesehen, aber nichts über sein Vorhaben aus diesem entnehmen können. Es sei bleich gewesen und vollkommen ruhig, und nachdem er sich von dem Bettchen abgewandt, habe er nicht noch einmal zurückgeblickt. Der einzige andere Mensch, der ins Vertrauen gezogen wurde neben dem alten Mann und seinem Sohn Peter, war der Jude Yankel. Als dieser den Prinzen fragte, wohin genau er geführt werden wolle, antwortete der Prinz: ›Zur nächsten Abtei
lung.‹ Ein Enkel des Juden, ein schlacksiger Knabe, geleitete die beiden jungen Männer über wenig bekannte Pfade durch Wälder und Sümpfe und brachte sie in Sichtweite der wenigen Lagerfeuer eines kleinen Kommandos, das in einer Senke biwakierte. Einige unsichtbare Pferde wieherten, eine Stimme rief sie aus der Dunkelheit an: ›Wer da?‹ … und der junge Jude verabschiedete sich eilig mit der Bemerkung, er müsse sich sputen, um rechtzeitig zum Beginn des Sabbath nach Hause zu kommen. So demütig und im Einklang mit der Schlichtheit der Vision von seiner Pflicht, die ihm zuteil geworden war, als der Tod die strahlende Binde des Glückes von seinen Augen genommen hatte, brachte der Prinz dem Land sein Opfer dar. Sein Gefährte stellte sich als Sohn des Stallmeisters der Fürsten S – – – vor und erklärte, der Prinz sei ein Verwandter, ein entfernter Vetter aus der selben Gegend und, wie die Leute annahmen, gleichen Namens. In der Tat fragte niemand viel. Zwei weitere junge Männer, offensichtlich vom rechten Schlag, hatten sich ihnen angeschlossen. Was war natürlicher? Prinz Roman blieb nicht lange im Süden. Eines Tages, als er mit mehreren anderen auf einem Erkundungsritt war, gerieten sie am Rande eines Dorfes in einen Hinterhalt russischer Infanterie. Die erste Salve mähte viele von ihnen nieder, der Rest stob in alle Richtungen auseinander. Auch die Russen hielten ihre Stellung nicht; sie fürchteten die Rückkehr einer verstärkten Truppe. Nach einiger Zeit erschienen Bauern, um den Schauplatz zu besichtigen, und zogen Prinz Roman unter seinem toten Pferd hervor. Er war unverletzt geblieben, aber sein treuer Gefährte war unter den ersten gewesen, die fielen. Der Prinz half den Bauern, ihn und die übrigen Toten zu begraben. Nun allein und im Ungewissen darüber, wo die ständig in
Bewegung befindliche Partisanentruppe zu finden sei, beschloß er, sich auf den Weg zu machen, um in die reguläre Polnische Armee einzutreten, die den Russen an der Litauischen Grenze gegenüberstand. Als Bauer verkleidet für den Fall, daß er auf marodierende Kosaken stoße, zog er ein paar Wochen über Land, bis er in ein Dorf kam, in dem ein Regiment polnischer Kavallerie auf Vorposten lag. Auf einer Bank vor einer der besseren Bauernhütten saß ein älterer Offizier, den er für den Obersten hielt. Der Prinz näherte sich ihm respektvoll, erzählte in Kürze seine Geschichte und äußerte sein Verlangen, in die Armee einzutreten; und als er von dem Offizier, der ihn prüfend betrachtete, nach seinem Namen gefragt wurde, nannte er, der Eingebung des Augenblickes folgend, den Namen seines toten Gefährten. Der bejahrte Offizier dachte im Stillen: Das ist wohl der Sohn eines bäuerlichen Grundbesitzers aus der Klasse jener, die ihre Freiheit erlangt haben. Ihm gefiel sein Aussehen. ›Und kannst du auch lesen und schreiben, mein Junge?‹ ›Ja, Euer Gnaden, das kann ich‹, sagte der Prinz. ›Gut. Komm hinein; der Regimentsadjutant ist da. Er wird deinen Namen eintragen und dir den Eid abnehmen.‹ Der Adjutant sah den neu Hinzugekommenen sehr scharf an. Als alle Formalitäten erledigt und der Rekrut hinausgegangen war, wandte er sich an den vorgesetzten Offizier. ›Wissen Sie, wer das ist?‹ ›Wer? Dieser Peter? Ein vielversprechender Bursche.‹ ›Das ist Prinz Roman S – – –.‹ ›Unsinn.‹ Aber der Adjutant ließ sich nicht beirren. Vor ungefähr zwei Jahren war er dem Prinzen des öeren im Schloß zu Warschau begegnet. Auf einem Empfang für Offiziere beim Großfürsten hatte er sogar mit ihm gesprochen
›Er ist verändert. Er wirkt viel älter, aber ich täusche mich nicht über den Mann. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter.‹ Die beiden Offiziere sahen einander schweigend an. ›Bestimmt wird er erkannt, früher oder später‹, murmelte der Adjutant. Der Oberst zuckte die Achseln. ›Es geht uns nichts an – wenn es ihm Spaß macht, als gemeiner Soldat zu dienen. Was sein Erkanntwerden betri, bin ich da nicht so sicher. Die Offiziere und Mannschaen kommen alle vom anderen Ende Polens.‹ Für eine Weile versank er in ernstes Sinnen. Dann lächelte er. ›Und er versicherte mir, er könne lesen und schreiben. Nichts soll mich hindern, ihn bei nächster Gelegenheit zum Feldwebel zu befördern. Er wird sich schon hervortun.‹ Prinz Roman, als Unteroffizier, übertraf die Erwartungen des Obersten. Es dauerte nicht lange, und Feldwebel Peter erlangte Berühmtheit wegen seiner Geschicklichkeit und seines Mutes. Das war nicht der leichtsinnige Mut eines verzweifelten Mannes; vielmehr eine selbstbeherrschte, gleichsam gewissenhae Kühnheit, der nichts Schrecken einzujagen vermochte; eine grenzenlose, aber ausgewogene Hingabe, unbeeinträchtigt von der Zeit, den Widrigkeiten, der Entmutigung endloser Rückmärsche, der Bitternis schwindender Hoffnung und dem Entsetzen einer Seuche, die die Mühseligkeiten und Gefahren des Krieges noch erhöhte. In diesem Jahr war erstmals die Cholera in Europa aufgetreten. Sie dezimierte die Lager beider Armeen, zermürbte auch die unbeirrbarsten Geister durch den Schrecken eines geheimnisvollen Todes, der schweigend zwischen den zusammengestellten Gewehren und um die Biwakfeuer herumstrich. Ein plötzlicher Schrei riß die gequälten Soldaten aus dem Schlaf, und dann sahen sie, wie im Schein der Glut einer von ihnen sich am Boden wand gleich einem Wurm, den ein
unsichtbarer Fuß zertritt. Und noch ehe die Morgendämmerung heraufzog, war er starr und kalt. Man weiß von heimgesuchten Abteilungen, die sich wie ein Mann erhoben, die Lagerfeuer im Stich ließen und, von stummer Panik getrieben, in die Nacht davonrannten. Oder ein Kamerad, der auf dem Marsch mit einem sprach, begann plötzlich mitten im Satz zu stammeln, die entsetzten Augen zu rollen, fiel mit verzerrtem Gesicht und blauen Lippen nieder und brachte durch die Krämpfe seiner Todesqualen die Marschkolonne in Unordnung. Männer im Sattel wurden davon getroffen, auf Wachposten, in der Gefechtslinie, auf dem Meldegang und beim Laden der Kanonen. Es wurde berichtet, bei einem Bataillon, das sich unter feindlichem Beschuß in vollkommener Ordnung zum Angriff auf ein Dorf formierte, sei es an der Spitze der Abteilung innerhalb von fünf Minuten zu drei solchen Fällen gekommen; darauin konnte die Attacke nicht mehr durchgeführt werden, weil der vorderste Trupp wie Spreu im Wind über die Felder auseinanderstob. Feldwebel Peter, so jung er war, besaß großen Einfluß auf seine Leute. Es hieß, in der Schwadron, in der er diente, sei die Zahl der vorkommenden Desertionen weitaus geringer als in jeder anderen dieser Kavallerie-Division. Derart hoch wird das zwingende Beispiel ruhiger Furchtlosigkeit im Angesicht jeglicher Gefahr und jeglichen Schreckens eingeschätzt. Wie dem auch sei, er war beliebt und genoß allgemein Vertrauen. Als es zum Ende kam und die Reste jenes Armeekorps, von allen Seiten bedrängt, sich anschickten, die preußische Grenze zu überschreiten, gelang es Feldwebel Peter, dank seinem großen Einfluß, einige zwanzig Kavalleristen um sich zu scharen. Mit ihnen entkam er bei Nacht aus der eingeschlossenen Armee. Er führte seinen Trupp zweihundert Meilen weit durch ein von zahlreichen russischen Verbänden kontrolliertes und von der Cholera heimgesuchtes Land. Aber das
geschah nicht, um der Gefangenscha zu entgehen oder um sich zu verstecken und selbst zu retten. Nein. Er führte seine Leute in eine Festung, die noch immer von Polen besetzt war, und in der die besiegte Revolution ihren letzten Widerstand leistete. Das sieht nach bloßem Fanatismus aus. Aber Fanatismus ist menschlich. Der Mensch hat grausame Gottheiten verehrt. Grausamkeit ist in jeder Leidenscha, sogar in der Liebe. Die Religion der unsterblichen Hoffnung ähnelt dem wahnwitzigen Kult der Verzweiflung, des Todes, der Vernichtung. Der Unterschied liegt im sittlichen Beweggrund, der den geheimen Bedürfnissen und den unausgesprochenen Strebungen des Gläubigen entspringt. Nur eitlen Menschen ist alles eitel; und alles ist Täuschungswerk nur dem, der selbst nie aufrichtig gewesen ist. Es geschah in dieser Festung, daß mein Großvater auf Feldwebel Peter stieß. Mein Großvater war Nachbar der Familie S – – – auf dem Lande, aber er kannte Prinz Roman nicht. Diesem jedoch war meines Großvaters Name durchaus vertraut. Eines Abends, als sie beide auf dem Festungswall saßen, gegen eine Geschützlafette gelehnt, stellte der Prinz sich vor. Er bat für den Fall seines Todes um den Freundschasdienst, diese Nachricht seinen Eltern zu überbringen. Sie sprachen leise miteinander, da andere Kanoniere um sie her lagen. Mein Großvater gab das erbetene Versprechen und fragte denn freimütig – denn die so unerwartete Eröffnung hatte sein Interesse erregt: ›Aber sagen Sie, Prinz, wozu diese Bitte? Haben Sie irgendwelche schlimmen Ahnungen, Ihre Person betreffend?‹ ›Nicht die geringste; ich dachte nur an meine Familie. Sie weiß nicht, wo ich bin‹, antwortete Prinz Roman. ›Ich verpflichte mich, Ihnen denselben Dienst zu erweisen, wenn Sie
das wünschen. Es kann kein Zweifel bestehen, daß am Ende mindestens die Häle von uns getötet wird. So ist die Chance gleich, daß einer von uns den anderen überlebt.‹ Mein Großvater beschrieb ihm, wo sich seine Frau und die Kinder vermutlich auielten. Von jenem Augenblick an bis zum Ende der Belagerung waren die beiden viel zusammen. Am Tag des großen Sturms empfing mein Großvater eine schwere Wunde. Die Stadt wurde eingenommen. Tags darauf, da das Lazarett voller Toter und Sterbender lag, die Magazine leer und die letzten Patronen verschossen waren, öffnete auch die Zitadelle ihre Tore. Während des ganzen Feldzuges hatte der Prinz, obwohl er mit größter Gewissenhaigkeit bei jeder Gelegenheit in die Bresche gesprungen war, keine Schramme abbekommen. Niemand hatte ihn erkannt oder doch seine Identität verraten. Solange er seine Pflicht erfüllte, hatte es niemanden gekümmert, wer er war. Nun aber hatte sich seine Lage geändert. Als Angehöriger der Garde und als ehemaliger Ordonnanzoffizier des Kaisers mußte dieser Rebell ernstha Gefahr laufen, besondere Aufmerksamkeit in Form eines Exekutionskommandos aus zehn Schritt Entfernung auf sich zu ziehen. Über einen Monat blieb er unerkannt in der traurigen Schar Gefangener, die in den Kasematten der Zitadelle eingepfercht waren, nur eben genug Nahrung erhielten, um Leib und Seele zusammenzuhalten, im übrigen aber nach Belieben sterben duren an ihren Wunden, Entbehrungen und Krankheiten – vierzig Mann und mehr pro Tag. Da die Festung eine zentrale Lage hatte, kamen häufig Trupps neuer Gefangener herein, die man im Laufe einer gründlichen Befriedung des Landes auf offenem Feld gemacht hatte. Unter diesen Neuankömmlingen befand sich zufällig ein junger Mann, der seit der Schulzeit ein persönlicher Freund des Prin
zen gewesen war. Er erkannte ihn und rief in äußerstem Entsetzen laut: ›Mein Gott! Roman, du hier!‹ Es heißt, viele in bitterer Reue hingebrachte Jahre seien der Preis dieses einen Augenblicks mangelnder Selbstbeherrschung gewesen. All das trug sich im großen Hof der Zitadelle zu. Die zur Vorsicht gemahnende Gebärde des Prinzen kam zu spät. Ein Offizier der wachhabenden Gendarmen hatte den Ausruf gehört. Der Vorfall schien ihm einer Untersuchung wert. Das sich anschließende Verhör war nicht sehr peinlich, da der Prinz, kategorisch nach seinem wirklichen Namen befragt, diesen sogleich kundtat. Die Nachricht, Prinz S – – – sei unter den Gefangenen entdeckt worden, wurde nach St. Petersburg weitergeleitet. Seine Eltern weilten schon dort in Kummer, Ungewißheit und Furcht. Die Hauptstadt des Kaiserreiches war der sicherste Ort für einen Adligen, dessen Sohn während der Rebellion auf so geheimnisvolle Weise von zu Hause verschwunden war. Das alte Ehepaar hatte monatelang nichts von ihm oder über ihn gehört. Mit Bedacht widersprach es nicht dem in der großen Welt kursierenden Gerücht, er habe sich aus Verzweiflung das Leben genommen – dort, wo man sich so gern jener interessanten Liebesheirat erinnerte, des bezaubernd aufrichtigen Glückes, dem der Tod bald ein Ende gesetzt hatte. Aber die Eltern hoen im Stillen, ihr Sohn sei am Leben, es sei ihm gelungen, die Grenze mit jenem Teil der Armee zu überschreiten, der sich den Preußen ergeben hatte. Die Nachricht von seiner Gefangennahme war ein schwerer Schlag. Direkt ließ sich nichts für ihn tun. Aber ihr Name, ihr Rang, ihre weitverzweigte Verwandtscha und ihre Verbindungen in den obersten Kreisen ermöglichten es den Eltern, indirekt tätig zu werden; und sie setzten sozusagen Himmel und Hölle in Bewegung, um ihren Sohn vor den ›Folgen seines Wahnsinns‹ zu bewahren, wie Fürst Johann sich auszudrücken
nicht zögerte. Große Persönlichkeiten wurden von führenden Mitgliedern der Gesellscha angegangen, Würdenträger konsultiert, machtvolle Beamte bewogen, sich für die Sache einzusetzen. Die Hilfe aller erdenklichen geheimen Einflüsse wurde mobilisiert. Einige Privatsekretäre strichen hübsche Bestechungssummen ein. Die Mätresse eines gewissen Senators erhielt eine große Summe Geldes. Aber, wie gesagt, bei einem derart eindeutigen Fall ließ sich direkt kein Bittgesuch einreichen, kein Schritt unternehmen. Allenfalls konnte man durch persönliche Vorstellungen den Vorsitzenden der Militärkommission milde stimmen. Er zeigte sich schließlich beeindruckt von einigen Hinweisen und Andeutungen, zum Teil von sehr hochgestellten Personen kommend, die er aus St. Petersburg erhielt. Schließlich war die Dankbarkeit so großer Adliger wie der Fürsten S – – – von nicht zu verachtendem Wert auf dieser Welt. Er war ein guter Russe, aber er war auch ein gutartiger Mensch. Überdies war damals der Polenhaß noch kein oberster patriotischer Glaubensartikel, wie er es dreißig Jahre später wurde. Der Vorsitzende fühlte auf den ersten Blick eine Zuneigung zu jenem jungen Mann mit dem gebräunten, mageren Gesicht, abgezehrt von monatelangem schwerem Kampf, den Entbehrungen der Belagerung und den Härten der Gefangenscha. Die Kommission bestand aus drei Offizieren. Sie saß in der Zitadelle in einem kahlen, gewölbeartigen Raum hinter einem langen, schwarzen Tisch. Einige Schreiber nahmen dessen beide Enden ein, und außer den Gendarmen, die den Prinzen hereinführten, war niemand zugegen. Innerhalb dieser vier finsteren Wände, die ihm den Anblick, die Stimme der Freiheit versperrten, alle Hoffnungen auf die Zukun, alle tröstlichen Illusionen – ganz allein seinen Feinden gegenüber, die sich zu Richtern aufgeworfen hatten: wie
viel Liebe zum Leben mag in Prinz Roman da noch wach gewesen sein? Wieviel von jenem Pflichtgefühl war geblieben, das sich ihm in seinem Kummer enthüllt hatte? Wieviel von seiner neu erwachten Liebe zu seinem Vaterland? Diesem Land, das geliebt zu werden fordert, so wie kein anderes je geliebt wurde: mit der kummervollen Herzensregung, die unvergessenen Toten entgegengebracht wird, mit dem unauslöschlichen Feuer einer hoffnungslosen Leidenscha, wie nur ein lebendiges, pulsierendes, warmes Ideal in unserer Brust sie entzünden kann, uns zum Stolz, zur Erschöpfung, zum Jubel, zur Vernichtung. Der Gedanke an solch eine Forderung hat etwas Ungeheuerliches, bis es verkörpert vor uns steht in der Gestalt einer Treue ohne Furcht und ohne Vorwurf. Der Prinz, da er sich dem höchsten Augenblick seines Lebens näherte, konnte nur das Gefühl haben, dieses Leben gehe zu Ende. Er beantwortete die an ihn gerichteten Fragen klar, bündig – mit tiefster Gleichgültigkeit. Nach all diesen spannungsvollen Monaten des Kampfes war ihm Reden eine Last. Aber er verbarg diese Regung, damit seine Feinde nicht aus seiner Haltung die Teilnahmslosigkeit der Entmutigung oder die Stumpeit eines gebrochenen Geistes herausläsen. Die Einzelheiten seines Verhaltens konnten so oder so nicht von Belang sein; mit seinem Denken hatten diese Männer nichts zu schaffen. Er bewahrte einen entschieden höflichen Ton. Die Erlaubnis, sich zu setzen, hatte er unbeachtet gelassen. Man weiß von dem, was sich bei diesem einleitenden Verhör zutrug, nur durch den Vorsitzenden Offizier. Der verfolgte den ihm einzig offenstehenden Weg bei diesem extrem unguten Fall, bestrebt, den Prinzen von Anfang an auf die von ihm gewünschte Linie der Verteidigung festzulegen. Er formulierte schließlich seine Fragen derart, daß dem Missetäter die richtigen Antworten förmlich auf die Zunge gelegt wurden,
ging so weit, ihm gar die Worte zu suggerieren: wie er, der Prinz, nach dem Tod seiner jungen Frau, verstört in seiner Verzweiflung, nicht mehr verantwortlich zu nennen gewesen sei für sein Verhalten, wie er in einem Augenblick blinder Kopflosigkeit, ohne der extremen Verwerflichkeit seines Handelns noch auch deren Gefährlichkeit und Ehrlosigkeit bewußt zu sein, aufgebrochen sei, um sich, einem plötzlichen Impuls folgend, den nächsten Rebellen anzuschließen. Und daß er jetzt, reuig… Aber Prinz Roman schwieg. Die Militärrichter sahen ihn erwartungsvoll an. Schweigend langte er nach einer Feder und schrieb auf ein zufällig vor ihm liegendes Blatt Papier die Worte: ›Ich beteiligte mich an der nationalen Erhebung aus Überzeugung.‹ Er schob das Blatt über den Tisch. Der Vorsitzende nahm es auf, zeigte es nacheinander den beiden Beisitzern zu seiner Rechten und seiner Linken; dann sah er starr Prinz Roman an und ließ das Blatt aus der Hand fallen. Und das Schweigen blieb ungebrochen, bis er den Gedärmen Befehl gab, den Gefangenen abzuführen. Dieserart war das schriliche Bekenntnis Prinz Romans im höchsten Augenblick seines Lebens. Es heißt, das Haus der Fürsten S – – – in allen seinen Zweigen habe die beiden letzten Worte: ›Aus Überzeugung‹ als Devise unter sein Wappenschild gesetzt. Ich weiß nicht, ob es stimmt. Mein Onkel konnte es mir nicht sagen. Er bemerkte nur, daß sie selbstverständlich nicht auf Prinz Romans eigenem Siegel zu finden sei. Er wurde auf Lebenszeit nach Sibirien in die Bergwerke verbannt. Kaiser Nikolaus, der stets persönlich Kenntnis von den über polnische Adlige verhängten Urteilen nahm, schrieb mit eigener Hand an den Rand: ›Die Behörden sind strengstens angewiesen, darauf zu achten, daß dieser Sträfling wie alle
anderen Verbrecher jeden Schritt seines Weges in Ketten zurücklegt.‹ Es war eine Verurteilung zu hinausgezögertem Tod. Sehr wenige überlebten die Bestattung in diesen Minen um länger als drei Jahre. Doch da er am Ende dieser Zeit noch immer als lebend gemeldet wurde, erhielt er auf Grund eines Bittgesuches seiner Eltern und als besonderen Gnadenerweis die Erlaubnis, als gemeiner Soldat im Kaukasus zu dienen. Jeder Verkehr mit ihm war untersagt. Er besaß keine Bürgerrechte mehr. In jeder praktischen Hinsicht außer der des Leidens war er ein toter Mann. Das kleine Kind, das zu wecken er so behutsam vermieden hatte, als er es in seinem Bettchen küßte, erbte nach Fürst Johanns Tod den ganzen Besitz. Der Existenz der Tochter war es zu danken, daß das riesige Gut vor der Konfiskation bewahrt blieb. Fünfundzwanzig Jahre vergingen, ehe Prinz Roman, stocktaub und mit gebrochener Gesundheit, nach Polen zurückkehren dure. Seine Tochter hatte sich glänzend mit einem polnischösterreichischen grand seigneur verheiratet, bewegte sich in den kosmopolitischen Zirkeln der höchsten europäischen Aristokratie und lebte meist im Ausland, in Nizza oder Wien. Er richtete sich auf einem ihrer Güter ein, nicht dem, auf welchem die palastähnliche Residenz stand, sondern einem anderen mit einem bescheidenen kleinen Gutshaus, und sah sie sehr wenig. Aber Prinz Roman verschloß sich nicht vor der Welt, als sei sein Werk getan. Im privaten wie im öffentlichen Leben seiner Umgebung wurde kaum je etwas ins Werk gesetzt, bei dem man nicht Prinz Roman um Rat und Beistand anging, und nie vergebens. Von ihm ließ sich mit Fug sagen, seine Tage hätten nicht ihm, sondern seinen Mitbürgern gehört. Insbesondere war er der Freund aller zurückgekehrten Verbannten, half ihnen mit seinem Geldbeutel und mit seinem Rat, ordnete ihre
Angelegenheiten und suchte für sie einen Lebensunterhalt. Ich hörte meinem Onkel viele Geschichten von seiner hingebungsvollen Tätigkeit erzählen, bei der er sich stets durch schlichte Weisheit leiten ließ, ein hohes Ehrgefühl und den genauesten Begriff des privat und öffentlich Schicklichen. Er blieb für mich eine lebendige Figur wegen jener Begegnung im Billardzimmer, als ich, begierig, etwas über einen besonders wölfischen Wolf zu erfahren, für Augenblicke in Berührung mit einem Menschen kam, der als Mensch herausragte unter allen Menschen, die tiefen Empfindens, festen Glaubens, glühender Liebe fähig sind. Bis auf den heutigen Tag erinnere ich mich des Druckes der mageren, runzeligen Hand Prinz Romans, die sich um meine tintige kleine Patschhand schloß, und der halb strengen, halb belustigten Blicke meines Onkels auf seinen Tunichtgut von Neffen. Sie gingen weiter und vergaßen den kleinen Jungen. Aber ich ging nicht weiter; blickte ihnen nach, nicht so sehr enttäuscht als verwirrt von diesem Prinzen, der gänzlich verschieden war von einem Märchenprinzen. Sie gingen sehr langsam durch das Zimmer. Bevor sie zur Tür gelangten, blieb der Prinz stehen, und ich hörte ihn sagen – mir ist, als hörte ich ihn noch jetzt in diesem Augenblick sagen: ›Ich wünschte, Sie schrieben nach Wien wegen der Besetzung jenes Postens. Er ist ein höchst verdienstvoller Mann; und Ihre Empfehlung wäre von entscheidendem Einfluß.‹ Das ihm zugewandte Gesicht meines Onkels drückte aufrichtige Verwunderung aus. Es sagte so deutlich, wie Worte es hätten sagen können: Welche bessere Empfehlung wäre denkbar als die eines Vaters? Der Prinz wußte in den Mienen zu lesen. Abermals sprach er mit der tonlosen Stimme eines Mannes, der sich selbst seit Jahren nicht mehr vernommen
hat, für den die lautlose Welt wie eine Wohnung schweigender Schatten ist. Und bis zum heutigen Tag erinnere ich mich jedes seiner Worte: ›Sehen Sie, ich bitte Sie darum, weil meine Tochter und mein Schwiegersohn mich für keinen guten Menschenkenner halten. Sie denken, ich ließe mich allzu sehr durch bloßes Gefühl leiten.‹«
DIE KRIEGERSEELE
Der alte Offizier mit dem langen weißen Schnurrbart ließ seiner Entrüstung freien Lauf. »Ist es möglich, daß ihr Jungen nicht mehr Verstand habt! Mancher von euch sollte sich lieber den Milchbart wischen, als Urteile fällen über die paar armseligen Versprengten einer Generation, die zu ihrer Zeit nicht wenig geleistet und erduldet hat.« Seine Zuhörer bekundeten redliche Zerknirschung, und der alte Krieger beruhigte sich. Aber zum Schweigen war er damit noch nicht gebracht. »Ich bin einer von ihnen – einer der Versprengten, meine ich«, fuhr er milde fort. »Und was taten wir? Was haben wir erreicht? Er – der große Napoleon – wollte es Alexander, dem Mazedonier, gleichtun und überfiel uns mit einem Schock Nationen im Tross. Französischem Ungestüm stellten wir leere Weiten entgegen; dann lieferten wir den Franzosen eine nicht endende Schlacht, so daß sich ihre Armee schließlich in ihren Stellungen auf Haufen eigener Gefallener zum Schlafen legte. Dann erhob sich die Mauer der Feuersbrunst in Moskau. Sie stürzte auf sie nieder. Dann begann der lange fluchtartige Rückzug der Großen Armee. Ich habe sie dahinströmen sehen wie die verworfenen, abgezehrten, gespenstischen Sünder im innersten Eiskreis von Dantes Inferno, der immer weiter wurde vor ihren verzweifelten Blicken. Denjenigen, die entkamen, müssen die Seelen doppelt an die Leiber festgenagelt gewesen sein, daß sie sie aus Rußland hin
auszutragen vermochten, durch diesen Frost, der hätte Felsen sprengen können. Aber zu sagen, unsere Schuld sei es gewesen, daß auch nur einer von ihnen entwischte, zeugt von reinem Unverstand. Wie denn! Unsere eigenen Leute litten ja fast bis an die Grenze ihrer Kräe. Ihrer russischen Kräe! Gewiß, uns war nicht der Lebensmut gebrochen; und unsere Sache war eine gute – war heilig. Aber das machte den Wind nicht erträglicher für Mann und Roß. Das Fleisch ist schwach. Guter oder schlimmer Zweck – die Menschheit zahlt den Preis dafür. Ja! Bei jenem Gefecht um das kleine Dorf, von dem ich euch erzählte, fochten wir nicht weniger um das Obdach dieser alten Häuser als um den Sieg. Und bei den Franzosen war es ähnlich. Es ging nicht um Ruhm oder Kriegskunst. Die Franzosen wußten, sie würden sich vor Morgengrauen weiter zurückzuziehen haben, und wir wußten sehr wohl, daß sie gehen würden. Was den Krieg anlangt, war da nichts, worum noch zu kämpfen gewesen wäre. Und doch kämpen unsere und ihre Infanterie wie wilde Katzen miteinander oder wie Helden, wenn euch das mehr zusagt, dort zwischen den Häusern – es ging hitzig genug her – während die Verstärkungstruppen draußen im Freien standen und sich zu Tode froren, in dem wütenden Nordwind, der am Boden den Schnee und am Himmel die Wolkenmassen mit rasender Geschwindigkeit dahinfegte. Die Lu war geradezu finster im Kontrast zu dem weißen Erdboden. Nie habe ich Gottes Schöpfung bedrohlicher gesehen als an jenem Tag. Wir, die Kavallerie (unser waren nur eine Handvoll), hatten nichts weiter zu tun, als den Rücken gegen den Wind zu kehren und einige verirrte Kanonenkugeln der Franzosen einzustekken. Es waren dies übrigens die letzten französischen Kanonen, und es war das letzte Mal, daß sie ihre Artillerie in Stellung brachten. Auch zogen diese Kanonen nie mehr weiter. Wir fan
den sie verlassen am nächsten Morgen. Aber an jenem Nachmittag unterhielten sie ein Höllenfeuer auf unsere angreifende Kolonne; der wütende Wind trug den Rauch und sogar den Lärm hinweg, aber wir konnten das beständige Züngeln des Mündungsfeuers die französischen Stellungen entlang beobachten. Dann verhüllte ein Schneegestöber alles außer dem roten Aulitzen der Einschläge in dem weißen Gewirbel. Gelegentlich, wenn es auellte, sahen wir über die Ebene hinweg zu unserer Rechten eine dunkle endlose Kolonne sich dahinschieben; der Rückzug der großen Armee, die unentwegt weiter und weiter kroch, während links von uns wütend und krachend fortgekämp wurde. Der grausame Schneesturm fegte über diesen Schauplatz des Todes und der Verzweiflung. Und dann legte sich der Wind so unvermittelt, wie er am Morgen sich erhoben hatte. Plötzlich erhielten wir Befehl, die sich zurückziehende Kolonne anzugreifen; ich weiß nicht aus welchem Grund, es sei denn um zu verhüten, daß wir in unseren Sätteln erfrören. Wir schwenkten halb rechts und setzten uns, die Pferde im Schritt haltend, in Bewegung, um jene ferne dunkle Linie aus der Flanke anzugreifen. Es mag nachmittags halb zwei Uhr gewesen sein. Ihr müßt wissen, daß mein Regiment in diesem Feldzug bisher nie an der Hauptfront von Napoleons Marschroute gestanden hatte. Während all der Monate seit dem Einmarsch hatte das Armeekorps, dem wir angehörten, weiter nördlich mit Marschall Oudinot hart zu kämpfen gehabt. Erst kürzlich waren wir, ihn vor uns her bis an die Beresina treibend, hier angelangt. Dies war somit für mich und meine Kameraden die erste Gelegenheit, aus der Nähe einen Blick auf Napoleons Große Armee zu werfen. Es war ein erstaunlicher und schrecklicher Anblick. Ich hatte von anderen darüber gehört; ich hatte Versprengte
gesehen: kleine Rotten von Marodeuren, Gefangenen-Kommandos in der Ferne. Aber das hier war die Kolonne selbst! Ein kriechender, stolpernder, verhungerter, halb wahnsinniger Mob. Er sickerte aus einem Wald, eine Meile entfernt, und seine Spitze verlor sich irgendwo im Morast der Felder. Wir ritten im Schritt – das Äußerste, das wir aus unseren Tieren herausholen konnten – in ihn hinein, und wir blieben in dieser Menschenmasse stecken wie in einem sich bewegenden Sumpf. Es gab da keinen Widerstand. Ich hörte ein paar Schüsse, vielleicht ein halbes Dutzend. Sogar der Verstand schien in ihnen eingefroren zu sein. Ich hatte Zeit, mich gründlich umzusehen, während ich an der Spitze meiner Schwadron heranritt; und ich kann euch versichern, da schritten am Rand der Kolonne Soldaten, die von allem auf der Welt so abgerückt und nur noch mit ihrem eigenen Elend beschäftigt zu sein schienen, daß sie nicht einmal die Köpfe umwandten, als wir angriffen. Soldaten! Mein Pferd stieß mit der Brust einen von ihnen um. Dem armen Teufel hing ein blauer Dragonerrock vollkommen zerfetzt und versengt um die Schultern, und er griff nicht einmal nach meinem Zügel, um sich zu retten. Er fiel einfach hin. Unsere Leute hieben darauf los; ja, anfangs tat ich das selber auch … Was wollt ihr! Feind ist Feind. Aber eine Art scheuen Elendsgefühles stahl sich mir ins Herz. Es kam zu keinem Getümmel – nur ein leises, tiefes Murmeln, durchwoben von lauteren Schreien und Gestöhn, hing über dem Mob, der da an uns vorüberdrängte und -wogte, blicklos und ohne Empfindung. Ein Geruch nach verbrannten Lumpen und eiternden Wunden lag in der Lu. Mein Pferd stolperte in den Strudeln schwankender Männer. Aber es war, wie wenn man galvanisierte Leichen niedermähte, die sich darum nicht kümmerten. Eindringlinge! Ja … Gott hatte sie sich bereits vorgenommen.
Ich gab meinem Pferd leicht die Sporen, um herauszukommen. Plötzlich entstand Hast, und eine Art zornigen Stöhnens war zu hören, als unsere zweite Schwadron rechts von uns auf die Franzosen eindrang. Mein Pferd machte einen Satz, und jemand hielt mich am Bein fest. Da ich keine Lust hatte, aus dem Sattel gezerrt zu werden, vollführte ich, ohne hinzuschauen, einen Hieb mit dem Säbel aus der Rückhand. Ich hörte einen Aufschrei, und mein Bein wurde sogleich losgelassen. Gerade da erblickte ich den Leutnant meiner Schwadron in einiger Entfernung von mir. Er hieß Tomassov. Jene Masse gespenstisch auferstandener Leiber mit glasigen Augen brodelte wie blind und aberwitzig knurrend um sein Pferd. Er saß aufrecht im Sattel, blickte nicht auf sie nieder und schob bedächtig seinen Säbel in die Scheide. Dieser Tomassov – gewiß, er hatte einen Bart. Wir alle trugen damals Barte. Umstände, Mangel an Muße, die Rasiermesser knapp, auch das. Nein, im Ernst, wir waren eine wüste Bande in jenen unvergeßlichen Tagen, die so viele, so sehr viele von uns nicht überlebt haben. Ihr wißt, auch unsere Verluste waren furchtbar. Ja, wir sahen wüst aus. Des Russes sauvages – nicht wahr! Er hatte also einen Bart – dieser Tomassov, meine ich; aber er sah nicht sauvage aus. Er war der jüngste unter uns. Und das bedeutete wirklich Jugend. Aus der Ferne betrachtet, mochte er noch ganz gut abschneiden, kotbespritzt und mit dem besonderen Stempel, den dieser Feldzug auf unseren Gesichtern hinterlassen hatte. Aber sogleich, wann man ihm nahe genug kam, um ihm richtig in die Augen zu sehen, offenbarte sich das fehlende Alter, obschon er nicht gerade mehr ein Knabe war. Eben diese Augen waren blau, wie das Blau des Herbsthimmels, verträumt und fröhlich – es waren unschuldige, gläubige
Augen. Ein blonder Haarschopf schmückte ihm die Stirn, wie ein goldenes Diadem in sogenannten besseren Zeiten ein Haupt schmücken mochte. Ihr denkt vielleicht, ich redete von ihm, als sei er ein Romanheld. Nun, ein Romanheld ist noch gar nichts verglichen mit dem, was der Adjutant an ihm entdeckte. Er entdeckte, daß der Leutnant ein ›Kußmaul‹ habe – was immer das heißen mag. Wenn der Adjutant einen hübschen Mund meinte – gewiß, es war ein hübscher Mund; aber es war natürlich höhnisch gemeint. Dieser Adjutant war kein sehr taktvoller Mann. ›Seht euch dieses Kußmaul an‹, pflegte er laut dazwischenzurufen, wenn Tomassov sprach. Tomassov schätzte das gar nicht. Aber bis zu einem gewissen Grad hatte er sich selber diesen Spott zuzuschreiben wegen des besonderen Charakters seiner mitgeteilten Eindrücke, die im Zusammenhang mit der Liebesleidenscha standen und vielleicht doch nicht so ungewöhnlich waren, wie er meinte. Was seine Kameraden so duldsam gegenüber seinen Rhapsodien machte, war der Umstand, daß sie mit Frankreich in Zusammenhang standen, mit Paris! Ihr Heutigen könnt euch nicht vorstellen, welch einen Klang diese Namen damals in der Welt hatten. Paris war das Zentrum des Wunderbaren für alle Menschen, die Einbildungskra besaßen. Und wir nun – die meisten von uns jung, von Familie, aber noch nicht sehr lange aus unseren angestammten Provinznestern ausgeflogen, schlichte Diener Gottes, reine Bauerntölpel, wenn ich so sagen darf – wir waren nur zu begierig, den Geschichten unseres Kameraden Tomassov über Frankreich zu lauschen. Er war in dem Jahr vor Kriegsausbruch unserer Gesandtscha in Paris attachiert gewesen. Dank hohen Gönnern sehr wahrscheinlich – oder durch schieres Glück. Ich glaube nicht, daß er ein nützliches Glied unserer Gesandt
scha war, bei seiner Jugend und vollkommenen Unerfahrenheit. Und anscheinend hatte er in Paris all seine Zeit zur eigenen Verfügung. Er benutzte sie, sich zu verlieben, in diesem Zustand zu verharren, ihn zu entwickeln, gleichsam allein für ihn zu leben. Darum war es schon ein bißchen mehr als bloßes Erinnern, was er da aus Frankreich mitgebracht hatte. Erinnerung ist ein flüchtig Ding. Sie kann verfälscht sein, sie kann verwischt, sie kann sogar angezweifelt werden. Ja! Ich selbst zweifle bisweilen daran, daß auch ich in Paris gewesen bin. Und die lange Straße dorthin, mit ihren Schlachten-Stationen, käme mir noch unglaublicher vor, wäre da nicht eine gewisse Musketenkugel, die ich in mir trage seit einem kleinen KavallerieScharmützel, das sich in Schlesien zutrug, gerade als die Völkerschlacht bei Leipzig begann. Passagen der Liebe jedoch sind vielleicht eindrucksvoller als Passagen der Kriegsgefahr. Mit der Liebe werden wir nicht in Abteilungsstärke handgemein. Das ist seltener, persönlicher und intimer. Und vergeßt nicht, bei Tomassov war dies alles noch sehr frisch. Er war kaum drei Monate aus Frankreich zurück, als der Krieg ausbrach. Sein Herz, sein Sinn waren voll von jenem Erlebnis. Er war regelrecht erschüttert davon, und er war einfältig genug, dies in seiner Rede zum Ausdruck zu bringen. Er betrachtete sich als eine Art bevorzugter Person, nicht weil eine Frau ihm ihre Huld erzeigt hatte, sondern, wie soll ich es nennen, einfach weil er seine Verehrung für sie in einer so wundervollen Beleuchtung sah, als habe der Himmel selbst sie ihm beschert. O ja, er war sehr einfältig. Ein netter Junge, aber kein Narr; und dabei so gänzlich unerfahren, gutgläubig und gedankenlos. Man findet Menschen wie ihn hier und da in der Provinz. Er hatte auch Poesie in sich. Sie konnte nur etwas Naturhaes
sein, etwas ihm Eigenes, nichts Angelerntes. Ich nehme an, der alte Adam hatte auch einige Poesie dieser naturhaen Art in sich. Im übrigen war Tomassov un Russe sauvage, wie die Franzosen uns bisweilen nennen, aber nicht einer, der, wie sie meinen, Wachskerzen als besondere Delikatesse verspeist. Und was die Frau anlangt, diese Französin, – obschon ich auch in Frankreich gewesen bin mit hunderttausend anderen Russen, habe ich sie nie zu Gesicht bekommen. Wahrscheinlich weilte sie damals nicht in Paris. Und im übrigen hätten sich ihre Türen kaum einem so schlichten Gesellen wie mir aufgetan. Vergoldete Salons lagen nie an meiner Straße. Ich kann euch nicht beschreiben, wie sie aussah – das ist sonderbar genug, wenn man bedenkt, daß ich, darf ich wohl sagen, Tomassovs enger Vertrauter war. Er scheute sich sehr bald, vor den anderen zu sprechen. Die üblichen Lagerfeuer-Bemerkungen werden sein empfindliches Gefühl verletzt haben. Aber ich blieb ihm; und ich hatte mich wirklich in ihn zu schicken. Ihr könnt von einem jungen Burschen in Tomassovs Lage nicht erwarten, daß er ganz und gar den Mund hält; und ich – ihr werdet es kaum glauben – ich bin von Natur ein eher schweigsamer Mensch. Sehr wahrscheinlich wirkte meine Schweigsamkeit auf ihn als Beweis des Mitfühlens. Während des ganzen Septembers hatte unser Regiment, das damals auf Dörfern in Quartier lag, eine gute Zeit. Und damals hörte ich das meiste von jener Geschichte – obschon man sie nicht so nennen kann. Jedenfalls hat die Geschichte, die ich meine, nichts mit ihr zu tun. Nennen wir sie darum lieber einen Erguß. Ich saß bloß da und war es zufrieden, den Mund zu halten, stundenlang, während Tomassov mit Begeisterung redete. Und wenn er am Ende war, hielt ich weiterhin den Mund. Und das ergab einen feierlichen Effekt, der, stelle ich mir vor, Tomassov irgendwie sehr lieb war.
Sie, die Frau, war natürlich nicht mehr die jüngste. Eine Witwe möglicherweise. Jedenfalls erwähnte Tomassov mir gegenüber nie einen Ehemann. Sie hatte einen Salon, einen sehr vornehmen; ein gesellschaliches Zentrum, in dem sie in all ihrer Herrlichkeit thronte. Ihr Hof, stelle ich mir vor, wird sich vor allem aus Männern zusammengesetzt haben. Aber Tomassov verstand es schon unglaublich gut, derlei Einzelheiten aus seinen Darlegungen herauszuhalten. Auf mein Wort, ich weiß wirklich nicht, ob ihr Haar dunkel oder hell, ihre Augen braun oder blau, und wie ihre Figur, ihre Gesichtszüge, ihre Hautfarbe waren. Seine Liebe erhob sich himmelweit über solch krud physische Eindrücke. Er beschrieb sie mir nie in handfesten Begriffen; aber er wollte einen Eid darauf schwören, daß in ihrer Gegenwart eines jeden Denken und Fühlen unweigerlich um sie kreisten. Sie war eben solch eine Frau. Die wundersamsten Unterhaltungen über alle möglichen Gegenstände fanden in ihrem Salon statt: aber durch sie alle floß unhörbar wie eine geheimnisvolle Melodie die Bejahung, die Macht, die Tyrannei der reinen Schönheit. Demnach muß sie sehr schön gewesen sein. Sie löste all diese redenden Menschen von ihren Lebensinteressen, ja von ihren Eitelkeiten los. Sie war eine geheime Seligkeit und eine geheime Qual. All diese Männer, wenn sie sie anschauten, verfielen in düsteres Sinnen, betroffen von dem Gedanken, ihr Leben bis dahin sei verpfuscht gewesen. Sie war des Glückes Jubel und Schauder, und sie brachte Trauer und Pein in die Männerherzen. Kurz, sie muß eine außerordentliche Frau gewesen sein oder Tomassov ein außerordentlicher Junge, daß er so für sie empfinden, von ihr reden konnte. Ich sagte schon, der Junge habe eine Menge Poesie in sich gehabt, und bemerkte, all das habe aufrichtig genug geklungen. Es muß eine stark vom Gewöhnlichen abweichende Frau gewesen sein, die solch einen Zauber
ausübte. Dichter kommen der Wahrheit bisweilen sehr nahe – das läßt sich nicht bestreiten. In meinem Organismus ist nichts von Poesie, das weiß ich, aber ich habe meinen Teil gesunden Scharfsinns, und ich bezweifle nicht, daß die Dame dem Jüngling freundlich begegnete, als er erst einmal seinen Weg in ihren Salon gefunden hatte. Wie er dort hineingelangte, das ist das Wunder. Indessen, er gelangte hinein, der Unschuldige, und er befand sich dort in vornehmer Gesellscha, unter Männern hohen Ranges. Und ihr wißt, was das heißt: dicke Bäuche, kahle Köpfe, Zähne, die keine sind – wie ein Satiriker das nannte. Stellt euch unter diesen Gestalten einen hübschen Jüngling vor, frisch und einfältig wie ein eben vom Baum gepflückter Apfel; einen bescheidenen, gut aussehenden, empfindsamen, schwärmerischen jungen Barbaren. Wahrhaig! Welch eine Abwechslung! Welch eine Erholung für abgestumpes Fühlen! Und dabei besaß er in seinem Wesen noch jene Dosis Poesie, die auch den Einfältigsten davor bewahrt, ein Narr zu sein. Er wurde ein treuherzig bedingungslos ergebener Sklave. Ein Lächeln war ihm Lohn, und alsbald sah er sich in die Heimlichkeiten des Hauses aufgenommen. Mag sein, daß der unkomplizierte junge Barbar die anspruchsvolle Dame amüsierte. Vielleicht – da er sich nicht von Wachskerzen nährte – befriedigte er sogar ein Zärtlichkeitsbedürfnis dieser Frau. Ihr wißt, hochkultivierte Frauen sind vielerlei Arten von Zärtlichkeit fähig. Ich meine Frauen mit Verstand und Einbildungskra aber keinem nennenswerten Temperament, ihr versteht. Aber wer vermag ihre Bedürfnisse und ihre Schrullen auszuloten? Zumeist wissen sie selbst nicht viel über ihre innersten Stimmungen und stolpern aus der einen in die andere, bisweilen mit katastrophalen Folgen. Und wer ist dann überraschter als sie selbst? Gleichviel, Tomassovs Fall war in sich durchaus
idyllisch. Die vornehme Welt war von ihm belustigt. Seine Ergebenheit schlug ihm zu einer Art gesellschalichem Erfolg aus. Aber das war ihm gleichgültig. Da war seine Gottheit, und da war der Tempelschrein, den zu betreten und zu verlassen, ohne Rücksicht auf die offizielle Besuchszeit, ihm verstattet war. Er machte großzügig Gebrauch von diesem Vorrecht. Ihr wißt, er hatte keine dienstlichen Verpflichtungen. Diese Militärmission existierte, wie man annahm, mehr aus Gründen der Höflichkeit denn aus sonst welchen. Ihr Leiter war ein persönlicher Freund unseres Kaisers Alexander; und auch er hatte es ausschließlich auf Erfolge in den vornehmen Kreisen abgesehen – so schien es. So schien es. Eines Nachmittags besuchte Tomassov die Herrin seiner Gedanken früher als gewöhnlich. Sie war nicht allein. Bei ihr weilte ein Mann, nicht eine der dickleibigen, kahlköpfigen Persönlichkeiten, aber eine imposante Figur gleichwohl, ein Mann über dreißig, ein französischer Offizier, der bis zu einem gewissen Grade gleichfalls ein bevorrechtigter Intimus war. Tomassov war nicht eifersüchtig auf ihn. Solch eine Empfindung wäre dem einfältigen Burschen als anmaßend erschienen. Im Gegenteil bewunderte er den Offizier. Ihr macht euch keinen Begriff von dem Ansehen, das die französischen Militärs damals genossen, sogar bei uns russischen Soldaten, die ihnen vielleicht besser gewachsen waren als alle anderen. Sieg war ihnen auf die Stirn geschrieben – anscheinend für alle Zeiten. Wie sollten sie sich dieses Umstandes nicht bewußt sein, da sie doch keine Übermenschen waren. Aber sie waren gute Kameraden und brachten für alle, die Waffen trugen, selbst wenn diese Waffen gegen sie gerichtet waren, ein brüderliches Gefühl auf. Und das hier war ein hohes Beispiel, ein Offizier aus dem Stab des Generalmajors und dazu ein Mann aus den besten Kreisen.
Er war von kravoller Statur und sehr männlich, obschon so gepflegt wie eine Dame. Er trug die höfliche Selbstsicherheit eines Weltmannes zur Schau. Seine Stirn, weiß wie Alabaster, kontrastierte eindrucksvoll mit den gesunden Farben seines Gesichtes. Ich weiß nicht, ob er eifersüchtig auf Tomassov war; aber ich nehme schon an, daß er sich ein wenig über ihn ärgerte und ihn als eine Art wandelnder abgeschmackter Sentimentalität betrachtete. Aber diese Weltmänner sind undurchdringlich, und nach außen geruhte er sogar, von Tomassovs Existenz mehr Notiz zu nehmen, als unbedingt erforderlich gewesen wäre. Bei ein, zwei Anlässen erteilte er ihm mit vollendetem Takt und Feingefühl einen nützlichen Rat in Weltdingen. Tomassov war geradezu überwältigt von diesem Freundschasbeweis unter der kalten Geschliffenheit des Gesellschasmenschen. Als Tomassov in den petit salon geführt wurde, fand er diese beiden ausgezeichneten Leute zusammen auf einem Sofa sitzend; und er hatte das Gefühl, als habe er sie in einer Unterhaltung besonderen Charakters gestört. Sie sahen ihn seltsam an, meinte er; doch wurde ihm nicht zu verstehen gegeben, er sei unerwünscht. Nach einer Weile sagte die Dame zu dem Offizier – er hieß De Castel –, ›ich wünschte, Sie machten sich die Mühe, in Erfahrung zu bringen, was an dem Gerücht Wahres ist.‹ ›Es ist weit mehr als ein bloßes Gerücht‹, bemerkte der Offizier. Aber er stand bereitwillig auf und ging hinaus. Die Dame wandte sich Tomassov zu und sagte: ›Bleiben Sie bei mir.‹ Dieser ausdrückliche Befehl machte ihn überaus glücklich, wiewohl er, was das anlangt, gar nicht die Absicht gehabt hatte, zu gehen. Sie schenkte ihm ihre freundlichen Blicke, die etwas in seiner Brust erglühen und sich dehnen ließen. Es war ein köstliches
Gefühl, wenn es einem auch bisweilen den Atem benahm. Ekstatisch schlüre er den Klang ihrer ruhigen, verführerischen, von unschuldiger Fröhlichkeit und geistreicher Ruhe erfüllten Rede. Ihm war, als lodere seine Leidenscha auf und umhülle sie von Kopf bis Fuß mit lauter bläulichen, über sie hinausschlagenden Flammenzungen, während ihre Seele wie eine große weiße Rose im Zentrum ruhte … Hm, gar nicht übel, wie? Er erzählte mir noch viel Derartiges. Aber ich habe nur das behalten. Er selbst erinnerte sich an alles, weil es die letzte Erinnerung an jene Frau war. Er sah sie damals zum letzten Mal, freilich ohne sich dessen bewußt zu sein. M. De Castel kehrte zurück, zerriß jene Atmosphäre der Verzauberung, die, gierig eingesogen, Tomassov ganz und gar die äußere Welt hatte vergessen lassen. Tomassov war betroffen von der Vornehmheit in den Bewegungen des Offiziers, seinen ungezwungenen, guten Manieren, seiner Überlegenheit im Vergleich zu allen anderen Männern, die er kannte; und er litt unter dieser Betroffenheit. Ihm kam zu Bewußtsein, wie sehr diese beiden strahlenden Wesen dort auf dem Sofa füreinander geschaffen waren. De Castel setzte sich neben die Dame und murmelte diskret: ›An der Wahrheit der Sache ist nicht im mindesten zu zweifeln.‹ Beide wandten Tomassov ihre Blicke zu. Der, aus seiner Verzauberung erwacht, wurde unsicher. Ein Gefühl der Schüchternheit überkam ihn, und zagha zu diesen beiden Menschen hinüberlächelnd, saß er da. Ohne den Blick von dem errötenden Tomassov zu wenden, sagte die Dame schließlich mit einem bei ihr nicht gewohnten träumerischen Ernst: ›Ich möchte wohl wissen, ob Ihr Großmut zum Äußersten bereit, ob er makellos sei. Liebe, in höchster Ausprägung, sollte der Ursprung aller Vollkommenheit sein.‹
Tomassov riß vor Bewunderung die Augen auf, als seien von jenem Mund Perlen herabgefallen. Der Ausdruck solch erhabener Gesinnung richtete sich freilich nicht an den schlichten russischen Jüngling, sondern an den ausgezeichnet kultivierten Mann der großen Welt, De Castel. Tomassov konnte die Wirkung nicht wahrnehmen, da der Franzose den Kopf gesenkt hielt und seine schön polierten Schuhe betrachtete. Die Dame flüsterte in verständnisvollem Ton: ›Sie haben Skrupel?‹ Ohne aufzublicken, murmelte de Castel: ›Es ließe sich wohl eine hübsche Ehrensache daraus machen.‹ Sie erwiderte mit Lebhaigkeit: ›Das wäre allerdings sehr künstlich. Ich bin ganz und gar für natürliche Gefühle. Ich glaube an nichts sonst. Aber vielleicht verlangt Ihr Gewissen …‹ Er unterbrach sie: ›Nicht im geringsten. Mein Gewissen ist nicht kindisch. Das Schicksal dieser Leute ist für uns militärisch unerheblich. Was macht es schon aus? Frankreichs Glück ist unbesiegbar.‹ ›In diesem Fall …‹, sagte sie bedeutungsvoll und erhob sich vom Sofa. Der französische Offizier stand gleichfalls auf. Tomassov beeilte sich, dem Beispiel der anderen zu folgen. Ihn schmerzte, daß er so restlos im Dunkel tappte. Während er die weiße Hand der Dame an seine Lippen führte, hörte er den französischen Offizier mit Betonung sagen: ›Wenn er eine Kriegerseele hat (zu jener Zeit, wißt ihr, sprachen die Menschen so), wenn er eine Kriegerseele hat, sollte er sich Ihnen in Dankbarkeit zu Füßen werfen.‹ Tomassov fühlte sich in nur noch dichteres Dunkel gleiten. Er folgte dem französischen Offizier aus dem Zimmer und aus dem Haus; denn er hatte die Vorstellung, dies werde von ihm erwartet.
Es dämmerte. Das Wetter war sehr häßlich, und die Straße war verlassen. Dort zögerte der Franzose sonderbar. Und Tomassov zögerte gleichfalls, ohne Ungeduld. Er hatte es nicht eilig, von dem Haus fortzukommen, indem sie wohnte. Und überdies war ihm etwas Wunderbares widerfahren. Die Hand, die er ehrfürchtig an den Fingerspitzen hochgehoben, hatte sich gegen seine Lippen gepreßt. Ein geheimer Gunsterweis! Er war beinahe erschrocken. Die Welt hatte um ihn gewirbelt – und auch jetzt hatte sie sich noch kaum beruhigt. De Castel blieb an der Ecke der ruhigen Straße stehen. ›Ich lege keinen Wert darauf, länger mit Ihnen auf erleuchteter Straße gesehen zu werden, M. Tomassov‹, sagte er in merkwürdig, grimmigem Ton. ›Warum?‹ fragte der junge Mann mehr überrascht als beleidigt. ›Aus Gründen der Klugheit‹, antwortete der Offizier kurz. ›Wir werden uns darum hier trennen; aber ehe wir uns trennen, möchte ich Ihnen etwas eröffnen, dessen Bedeutung Sie sogleich einsehen werden.‹ Dies, wohlgemerkt, begab sich an einem Abend Ende März des Jahres . Schon seit langem war von einer Abkühlung im Verhältnis zwischen Rußland und Frankreich die Rede. Das Wort Krieg wurde lauter und lauter in den Salons geflüstert, und schließlich war es auch in offiziellen Kreisen zu hören. Dann entdeckte die Pariser Polizei, daß unser Gesandter Beamte des Kriegsministeriums bestochen und von diesen sehr wichtige geheime Dokumente erhalten hatte. Die unglückseligen Männer (es waren zwei) hatten ihr Verbrechen gestanden und sollten in jener Nacht standrechtlich erschossen werden. Morgen würde die ganze Stadt von der Geschichte reden. Das Schlimmste aber war, daß Kaiser Napoleon, wutentbrannt über diese Entdeckung, sich entschlossen hatte, den russischen Gesandten verhaen zu lassen.
Das war De Castels Enthüllung; und obschon er leise gesprochen hatte, war Tomassov betäubt wie von einem großen Lärm. ›Verhaen‹, murmelte er entsetzt. ›Ja, und als Staatsgefangenen festhalten zu lassen – samt allen Gesandtschasangehörigen …‹ Der französische Offizier packte Tomassovs Arm über dem Ellenbogen und drückte ihn fest. ›Und in Frankreich festzuhalten‹, wiederholte er, in Tomassovs Ohr flüsternd, ließ dann seinen Arm los, trat einen Schritt zurück und schwieg. ›Und Sie, Sie sagen mir das!‹ rief Tomassov in überschwenglicher Dankbarkeit, die einer für die Großmut seines zukünftigen Feindes empfundenen Bewunderung kaum nachstand. Hätte ein Bruder für ihn mehr tun können! Er suchte die Hand des französischen Offiziers zu fassen, aber dieser verharrte fest eingewickelt in seine Pellerine. Vielleicht hatte er in der Dunkelheit die Regung Tomassovs gar nicht bemerkt. Er rückte ein wenig von ihm ab, und mit der beherrschten Stimme eines Weltmannes, der über einen Spieltisch hinweg spricht, lenkte er Tomassovs Aufmerksamkeit auf den Umstand, daß, wenn er Gebrauch von der Warnung machen wolle, jede Minute kostbar sei. ›Wahrhaig, ja‹, pflichtete ihm Tomassov ehrfurchtsvoll bei. ›So leben Sie wohl. Ich finde nicht die gebührenden Worte der Dankbarkeit für Ihre Großmut; aber wenn je die Gelegenheit sich ergeben sollte, ich schwöre Ihnen, mein Leben gehört Ihnen …‹ Doch der Franzose entzog sich ihm, hatte sich schon verloren im Dunkel der verlassenen Straße. Tomassov war allein, und dann ließ er keine der kostbaren Minuten dieser Nacht ungenutzt verstreichen. Da seht ihr einmal, wie Klatsch und bares Geschwätz zur
Historie wird. In allen Memoiren aus jener Zeit ist zu lesen, daß unser Gesandter von einer hochgestellten Dame, die ihn liebte, gewarnt worden sei. Natürlich weiß man, daß er Erfolg bei Frauen hatte und zwar bei solchen aus den höchsten Kreisen; aber die Wahrheit ist, daß derjenige, der ihn warnte, niemand anderes war als unser einfältiger Tomassov – ein in seiner Art ganz und gar von ihm verschiedener Liebhaber. Das also ist das Geheimnis der Bewahrung unseres kaiserlichen Gesandten vor der Verhaung. Er selbst und sein ganzer Beamtenstab kamen glücklich aus Frankreich hinaus – wie die Historie richtig verzeichnet. Und unter jenem Beamtenstab war selbstverständlich auch unser Tomassov. Er besaß, wie der französische Offizier das nannte, eine Kriegerseele. Und welche schlimmere Aussicht hätte es für einen von solcher Seele beherrschten Mann geben können als diejenige, am Vorabend eines Krieges verhaet zu werden; abgeschnitten zu bleiben von seinem Vaterland, das in Gefahr war, von seinen Kameraden, seiner Pflicht, seiner Ehre und – gewiß – auch seinem Ruhm, Tomassov pflegte zu schaudern beim bloßen Gedanken an die moralischen Qualen, denen er da entgangen war; und er hegte in seinem Herzen eine grenzenlose Dankbarkeit gegen diese beiden Menschen, die ihn vor solch grausamem Schicksal bewahrt hatten. Sie waren wunderbar! Liebe und Freundscha waren ihm nur zwei Aspekte erhabener Vollkommenheit. Hier hatte er die edlen Ausgeburten solcher Vollkommenheit entdeckt, und ihnen gelobte er wahrhaig eine gleichsam kultische Verehrung. Diese Verehrung beeinflußte seine Haltung gegen die Franzosen im allgemeinen, wie groß sein Patriotismus auch sein mochte. Natürlich entrüstete ihn der Überfall auf sein Land, aber diese Entrüstung war frei von aller persönlichen Animosität. Er besaß eine von Grund auf
feine Natur. Ihn jammerte das Ausmaß grauenhaen menschlichen Leidens, das er rings um sich sah. Ja, er war auf eine männliche Art voll Mitfühlens mit jeglichem menschlichen Elend. Weniger feine Naturen verstanden das nicht richtig. Im Regiment hatten sie ihm den Spitznamen Humanitäts-Tomassov gegeben. Er nahm keinen Anstoß daran. Eine Kriegerseele ist mit Humanität sehr wohl vereinbar. Zivilisten sind ohne Mitleid: Regierungsbeamte, Kaufleute und ihresgleichen. Man denke nur an das blutrünstige Gerede, das man von vielen redlichen Bürgern in Kriegszeiten zu hören bekommt – nun, die Zunge ist ein, gelinde gesagt, unbotmäßiger Körperteil, und wenn Aufregung herrscht, ist sie in ihrem wütenden Gebaren kaum zu zügeln. Darum war ich nicht sehr überrascht, unseren Tomassov gleichsam inmitten jenes Sturmangriffs mit Bedacht seinen Säbel in die Scheide schieben zu sehen. Als wir danach zurückritten, war er sehr schweigsam. Überhaupt war er kein Plappermaul, doch offenkundig hatte ihn der Anblick der Großen Armee aus nächster Nähe tief bewegt, wie ein Bild, das nicht von dieser Welt ist. Ich selbst bin immer ein ziemlich hartgesottenes Individuum gewesen – aber sogar ich … wie dann erst der Junge mit all seiner Poesie! Ihr könnt euch vorstellen, was der daraus machte. Wir ritten nebeneinander, ohne den Mund aufzutun. Es überstieg einfach alle Worte. Wir schlugen unser Biwak am Waldrand auf, damit die Pferde geschützt ständen. Allerdings hatte sich der ungestüme Nordwind so unvermittelt gelegt, wie er sich erhoben, und eine große Winterstille breitete sich über das Land vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer. Man konnte beinahe deren kalte, leblos bis zu den Sternen reichende Unermeßlichkeit fühlen.
Unsere Soldaten hatten für die Offiziere einige Feuer entfacht und räumten den Schnee ringsherum beiseite. Dicke Baumstämme dienten uns als Sitzgelegenheit; es war im Ganzen ein recht erträgliches Biwak, auch ohne Siegestriumph. Der kam später; aber zunächst waren wir nur bedrückt von unserer harten, mühseligen Arbeit. Wir saßen zu dritt um mein Feuer. Der Dritte war jener Adjutant. Er war ein wohlmeinender Bursche, aber nicht so nett, wie er hätte sein können, wären seine Manieren weniger rauh und seine Anschauungsweise weniger roh gewesen. Er ließ sich über menschliches Verhalten aus, als sei ein Mensch etwas so Einfaches wie, sagen wir, zwei kreuzweise übereinanderliegende Stöcke; während der Mensch doch eher wie ein Meer ist, dessen Bewegungen gar zu kompliziert sind, als daß man sie erklären könnte, und dessen Tiefen jeden Augenblick Gott weiß was emporzufördern vermögen. Wir redeten ein wenig über diese Attacke. Nicht viel. Derlei eignet sich nicht für Konversation. Tomassov murmelte etwas von schierer Metzelei. Ich hatte nichts zu sagen. Wie ich schon erwähnte, hatte ich sehr bald meinen Säbel, ohne einen weiteren Streich zu führen, am Handriemen herabhängen lassen. Jener verhungerte Haufe hatte ja nicht einmal versucht, sich zu verteidigen. Bloß ein paar Schüsse. Wir hatten zwei Verwundete aufzuweisen. Zwei! … und wir hatten die Hauptkolonne von Napoleons Großer Armee attackiert. Tomassov murmelte matt: ›Was konnte schon dabei herauskommen?‹ Ich wollte keine Diskussion anfangen, so murmelte ich bloß: ›Ah, schon gut!‹ Aber der Adjutant warf unangenehm ein: ›Wie denn, immerhin wurden unsere Leute ein bißchen warm dabei. Mich jedenfalls hat es warm gemacht. Das wäre schon Grund genug. Aber unser Tomassov ist ja so human! Und überdies war er in eine Französin verliebt, ein Herz und eine
Seele mit einem Haufen Franzosen – darum tut es ihm leid. Macht nichts, mein Junge, wir befinden uns jetzt auf der Straße nach Paris, und bald sollst du sie wiedersehen!‹ Das war eine seiner üblichen, wie wir damals meinten, törichten Reden. Keiner von uns, der nicht geglaubt hätte, der Marsch nach Paris werde noch Jahre in Anspruch nehmen – Jahre. Und siehe da! Kaum achtzehn Monate später wurde ich in einer Spielhölle im Palais Royal um eine Menge Geld betrogen. Die Wahrheit, o das sinnloseste Ding von der Welt, offenbart sich bisweilen den Narren. Ich bezweifle, daß unser Adjutant an seine eigenen Worte glaubte. Er wollte nur Tomassov hänseln, aus Gewohnheit. Wir sagten natürlich nichts dazu, und so vergrub er den Kopf in beide Hände und schlummerte ein, denn er saß auf einem Baumstamm dicht vor dem Feuer. Unsere Kavallerie stand am äußersten rechten Flügel der Armee, und ich muß bekennen, daß wir dort ziemlich schlecht für deren Deckung sorgten. Wir hatten mittlerweile jedes Gefühl der Unsicherheit verloren; aber wir hielten gleichwohl den Schein des Wachens aufrecht. Alsbald ritt denn auch ein Kavallerist heran und führte ein Pferd am Haler. Tomassov hob sich steif in den Sattel, um die Vorposten zu patrouillieren. Die völlig unnützen Vorposten. Die Nacht war still, ausgenommen das Prasseln der Feuer. Der jagende Wind hatte sich hoch über die Erde erhoben, und nicht das leiseste Lüchen war mehr zu hören. Nur der Vollmond war mit einem Satz in den Himmel hineingesprungen und hing nun plötzlich hoch und reglos über uns. Ich weiß noch, daß ich mein bärtiges Gesicht einen Augenblick lang zu ihm auehrte. Dann, glaube ich wirklich, dämmerte auch ich ein, vorgebeugt auf meinem Baumstamm, den Kopf der heißen Feuersglut zugewandt.
Ihr wißt, welch unbeständiges Ding solcher Schlummer ist. Im Nu versinkt man in einen Abgrund, und im nächsten Augenblick ist man wieder zurück in der Welt, die einen zu tief, zu weit entrückt dünkt, als daß einen dort etwas erreichen könnte, es sei denn die Posaune des Jüngsten Gerichtes. Und dann entschwindet man wieder. Selbst die Seele scheint hinab in einen bodenlosen schwarzen Schacht zu gleiten. Dann abermals hinauf in erstaunte Bewußtheit. Ein Spielzeug grausamen Schlafes ist man dann nur noch. Gequält in beiderlei Richtung. Indessen, als mein Bursche vor mir auauchte und wiederholte: ›Geruhen Euer Gnaden zu essen? … Geruhen Euer Gnaden zu essen? …‹, gelang es mir, mich an ihr festzuhalten – ich meine, an jener staunenden Bewußtheit. Der Bursche bot mir einen rußigen Topf an, der in Wasser gekochte Weizengrütze mit einer Prise Salz enthielt. Ein Holzlöffel stak darinnen. Das waren damals die einzigen Rationen, die wir regelmäßig erhielten. Das reinste Hühnerfutter, hol’s der Teufel. Aber der russische Soldat ist schon wunderbar. Nun, mein Bursche wartete, bis ich mich gütlich getan hatte, und ging dann mit dem leeren Topf davon. Ich war nicht mehr schläfrig. Ich war hellwach in einem gesteigerten geistigen Wissen um die ganze Ausdehnung des Daseins noch über meine unmittelbare Umgebung hinaus. Das sind außerordentliche Momente im Leben eines Menschen, zum Glück. Ich hatte ein inniges Empfinden von der Erde in ihrer ungeheuren Weite, eingehüllt in Schnee, aus dem nichts hervorschaute als ein paar Bäume mit geraden, stengelartigen Stämmen und ein bißchen Beerdigungsgrün; und aus diesem Bild allgemeiner Trauer vermeinte ich die Seufzer einer sterbenden, niedersinkenden Menschheit inmitten einer leblosen Natur zu hören. Es waren Franzosen. Wir
haßten sie nicht; sie haßten uns nicht. Wir hatten weit voneinander entfernt gelebt – und plötzlich waren sie hereingeströmt, die blanke Waffe in der Hand, ohne Gottesfurcht, andere Nationen mit sich schleppend, und alle dazu bestimmte, unterzugehen in einer langen, langen Spur erfrorener Leichen. Ich hatte tatsächlich eine Vision dieser Todesspur: eine klägliche Reihe vieler kleiner dunkler Hügel, die dahinlief unter dem Mondlicht in einer klaren, stillen, erbarmungslosen Atmosphäre – einer Art Schreckensfrieden. Aber welchen anderen Frieden konnte es für sie geben? Was anderes verdienten sie? Ich weiß nicht, auf Grund welcher Gefühlsverbindungen mir der Gedanke durch den Kopf ging, die Erde sei ein heidnischer Planet, kein Ort für christliche Tugenden. Es mag euch überraschen, daß ich all das so gut in Erinnerung behielt. Was ist eine flüchtige Empfindung oder ein halbgeformter Gedanke, daß sie sich durch so viele Jahre hin im wechselhaen, inkonsequenten Leben eines Menschen erhalten sollten? Doch das, was die Empfindung jenes Abends in meiner Erinnerung derart befestigte, daß sie auch in ihren leisesten Schattierungen unauslöschlich blieb, war ein Ereignis von sonderbarer Endgültigkeit, das ein Leben lang nicht zu vergessen ist – wie ihr sogleich sehen werdet. Ich bezweifle, jenen Gedanken mehr als fünf Minuten nachgehangen zu haben, als mich etwas bewog, über die Schulter zu blicken. Es kann kein Geräusch gewesen sein, denke ich; der Schnee erstickte jeden Laut. Irgend etwas muß es aber gewesen sein, ein Signal, das mein Bewußtsein erreichte. Gleichviel, ich wandte den Kopf, und da war das auf mich zukommende Ereignis. Nicht daß ich es begriffen oder von ihm die leiseste Vorahnung gehabt hatte. Alles, was ich in der Ferne sah, waren zwei Gestalten, die im Mondschein näherkamen. Einer von ihnen war unser Tomassov. Die dunkle Masse
dahinter, die sich quer über mein Blickfeld bewegte, waren die von seinem Burschen fortgeführten Pferde. Tomassov war eine sehr vertraute Erscheinung in hohen Stiefeln – eine große Gestalt, die in einer spitzen Haube auslief. Aber neben ihm kam noch eine Gestalt heran. Anfangs traute ich meinen Augen nicht. Sie war erstaunlich! Sie trug einen schimmernden, buschgezierten Helm auf dem Kopf und war in einen weißen Umhang gehüllt. Der Umhang war nicht weiß wie Schnee. Nichts auf der Welt ist das. Er war weiß eher wie ein Nebelstreif, bot einen höchst gespenstischen und martialischen Anblick. Es war, als hätte Tomassov den Kriegsgott persönlich zu fassen bekommen. Ich sah sogleich, daß er diese leuchtende Vision am Arm führte. Dann sah ich, daß er sie stützte. Während ich starrte und starrte, krochen sie weiter – wirklich, sie krochen – und schließlich krochen sie in den Schein unseres Biwakfeuers und an dem Baumstamm vorbei, auf dem ich saß. Die Feuersglut spielte über den Helm. Er war arg zerbeult, und das erfrorene und von Wunden bedeckte Gesicht darunter war von verschlissenem Pelzwerk umrahmt. Kein Kriegsgott dies, sondern ein französischer Offizier. Der große weiße Kürassiermantel war zerfetzt, versengt, voller Löcher. Die Füße, die in Resten von Schuhen staken, waren mit alten Schaffellen umwickelt. Sie wirkten riesig, und er taumelte auf ihnen, gestützt von Tomassov, der ihn sehr behutsam neben mir auf dem Baumstamm niedersetzte. Mein Staunen kannte keine Grenzen. ›Du hast einen Gefangenen eingebracht‹, sagte ich zu Tomassov, als traute ich meinen Augen nicht. Ihr müßt verstehen: wenn sie sich nicht in Abteilungsstärke ergaben, machten wir keine Gefangenen. Was hätte es für einen Sinn gehabt? Unsere Kosaken töteten die Nachzügler oder ließen sie laufen, wie es sich ergab. Es kam am Ende auf dasselbe hinaus.
Tomassov wandte sich mir mit einem sehr verstörten Blick zu. ›Er sprang da irgendwo vom Boden auf, als ich den Vorposten verließ‹, sagte er. ›Ich glaube, er wollte dorthin, denn er lief blindlings in mein Pferd. Er bekam mein Bein zu fassen, und da wagten unsere Leute natürlich nicht, ihn anzurühren.‹ ›Da ist er noch einmal mit knapper Not davongekommen‹, sagte ich. ›Er wußte es nicht zu schätzen‹, erwiderte Tomassov und sah mich beinahe noch verstörter an. ›Er kam mit, hielt sich am Steigbügel-Riemen fest. Das ist der Grund, weshalb ich mich so verspätet habe. Er erklärte mir, er sei ein Stabsoffizier; und dann sprach er mit einer Stimme weiter, wie sie, glaube ich, nur den Verdammten eigen ist: ein Krächzen der Wut und des Schmerzes. Er sagte, er bitte mich um einen Gefallen. Einen äußersten Gefallen. Ob ich ihn verstünde, fragte er dann in schier teuflischem Geflüster. Natürlich antwortete ich, ich verstünde: oui, je vous comprends. ›Dann‹, sagte er, ›tun Sie es. Jetzt! Gleich – im Erbarmen Ihres Herzens.‹ Tomassov verstummte und starrte mich sonderbar über den Kopf des Gefangenen hinweg an. Ich sagte: ›Was meinte er?‹ ›Das fragte ich ihn auch‹, antwortete Tomassov wie benommen, ›und er sagte, er wünsche sich, daß ich so freundlich sei, ihm eine Kugel durch den Kopf zu jagen. Als Mitsoldat‹, sagte er. ›Als ein Mann mit Gefühl – als – als – ein humaner Mensch.‹ Der Gefangene saß zwischen uns wie eine grauenha im Gesicht zerhackte Mumie, eine martialische Vogelscheuche, ein groteskes Schreckgespenst in Lumpen und Dreck, mit furchtbar lebendigen Augen, voller Vitalität, voll unauslöschlichen Feuers in seinem Schmerzensleib – ein Skelett, das der
Ehre frönt. Und plötzlich richteten sich diese leuchtend unauslöschlichen Augen auf Tomassov. Er, der arme Kerl, erwiderte fasziniert das gräßliche Starren der leidenden Seele in dieser bloßen Menschenhülse. Der Gefangene sprach ihn heiser auf Französisch an. ›Ich erkenne Sie wieder, wissen Sie. Sie sind ihr russischer Jüngling. Sie waren sehr dankbar. Ich fordere Sie auf, die Schuld zu begleichen. Zahlen Sie zurück, sage ich, mit einem befreienden Schuß. Sie sind ein Mann von Ehre. Ich besitze nicht einmal einen zerbrochenen Säbel. Mein ganzes Wesen scheut vor meiner eigenen Erniedrigung zurück. Sie kennen mich.‹ Tomassov sagte nichts. ›Haben Sie denn keine Kriegerseele?‹ fragte der Franzose mit zornigem Geflüster, in dem ein Anflug von Hohn schwang. ›Ich weiß nicht‹, sagte der arme Tomassov. Welch einen Verachtungsblick ihm diese Vogelscheuche aus ihren unauslöschlichen Augen zuwarf! Dieser Franzose schien sich nur kra einer wütenden, ohnmächtigen Verzweiflung am Leben zu erhalten. Plötzlich rang er nach Lu und fiel vornüber, sich windend in den Qualen eines alle Gliedmaßen erfassenden Krampfes; ein nicht ungewöhnlicher Effekt der Hitze eines Lagerfeuers. Das hier ähnelte einer grausigen Folterung. Aber anfangs versuchte er, gegen den Schmerz anzukämpfen. Er stöhnte nur leise, während wir uns über ihn beugten, um zu verhüten, daß er ins Feuer glitt, und murmelte bisweilen fiebrig: ›Tuez moi, tuez moi …‹ Dann, vom Schmerz überwältigt, schrie er in seiner Qual, ein ums andere Mal, und jeder Schrei entrang sich seinen zusammengepreßten Lippen. Der Adjutant erwachte auf der anderen Seite des Feuers, fuhr in die Höhe und fluchte fürchterlich über den Heidenlärm, den der Franzose da veranstaltete.
›Was soll das? Wieder mal eine Probe Ihrer verdammten Humanität, Tomassov?‹ schrie er. ›Warum lassen Sie ihn nicht hinauswerfen in den Schnee, zum Teufel!‹ Da wir seinem Gebrüll keine Beachtung schenkten, stand er auf und ging, schreckliche Verwünschungen ausstoßend zu einem anderen Feuer hinüber. Unversehens entspannte sich der französische Offizier. Wir lehnten ihn mit dem Rücken gegen den Baumstamm und saßen zu beiden Seiten von ihm stumm da, bis beim ersten Morgengrauen die Signalhörner zu blasen begannen. Der Schein des mächtigen Feuers, das die ganze Nacht hindurch unterhalten worden war, verblich auf dem fahlen Schnee, während die frostige Lu ringsum von den blechernen Tönen der Kavallerietrompeten widerhallte. Die glasigstarren Augen des Franzosen, die einen Moment lang in uns die Hoffnung geweckt hatten, er sei dort zwischen uns friedlich gestorben, drehten sich langsam nach links und rechts, sahen nacheinander einem jeden von uns ins Gesicht. Tomassov und ich warfen uns entsetzte Blicke zu. Dann ließ uns De Castels Stimme, die, zu neuer Kra erwacht, unerwartet laut und gräßlich beherrscht klang, innerlich erzittern. ›Bonjour, Messieurs.‹ Das Kinn fiel ihm auf die Brust. Tomassov sagte auf Russisch zu mir: ›Er ist es, eben jener Mann …‹ Ich nickte, und Tomassov fuhr in gequältem Ton fort: ›Ja, er! Strahlend, kultiviert, von Männern beneidet, von Frauen geliebt – dieses Schreckgespenst – dieses elende Ding, das nicht sterben kann. Sehen Sie nur seine Augen. Füchterlich.‹ Ich sah nicht hin, aber ich begriff, was Tomassov meinte. Wir konnten nichts für ihn tun. Dieser rächerische Schicksalswinter hielt Flüchtlinge wie Verfolger in seinem eisernen Griff. Mitleid war nur ein müßiges Wort vor jenem erbarmungslosen Geschick. Ich versuchte, etwas von einem Transport zu
sagen, der zweifellos im Dorf zusammengestellt werde – gab es aber auf, als ich des stummen Blickes innewurde, den mir Tomassov zuwarf. Wir wußten, welcher Art diese Transporte waren: gräßliche Haufen hoffnungsloser, elender Kreaturen, von Kosakenlanzen vorangetrieben, zurück in das eisige Inferno, die Gesichter von der Heimat abgekehrt. Unsere beiden Schwadronen hatten sich den Waldrand entlang formiert. Die Minuten der Qual zerrannen. Der Franzose erhob sich plötzlich mühsam auf seine Beine. Wir halfen ihm, beinahe ohne zu wissen, was wir taten. ›Kommen Sie‹, sagte er klar und ruhig. ›Das ist der Augenblick.‹ Er schwieg lange, dann fuhr er mit gleicher Deutlichkeit fort: ›Mein Ehrenwort darauf: all mein Glaube ist erstorben in mir.‹ Seine Stimme verlor plötzlich die Selbstbeherrschung. Nachdem er noch eine Weile gewartet hatte, fügte er murmelnd hinzu: ›Und sogar mein Mut … Bei meiner Ehre.‹ Eine weitere lange Pause folgte, bevor er mit großer Anstrengung flüsterte: ›Ist das nicht genug, um ein Herz von Stein zu rühren? Muß ich auf die Knie fallen vor Ihnen?‹ Wieder senkte sich tiefes Schweigen auf uns Drei. Dann schleuderte der französische Offizier sein letztes Zorneswort gegen Tomassov. ›Schlappschwanz!‹ Der arme Junge verzog keine Miene. Ich entschloß mich, ein paar unserer Leute zu holen, um den elenden Gefangenen zum Dorf bringen zu lassen. Es gab keine andere Wahl. Ich war noch keine sechs Schritte auf die Gruppe von Pferden und Offiziersburschen vor unserer Schwadron zugegangen, als … Aber ihr werdet es schon erraten haben. Natürlich. Und ich erriet es gleichfalls; denn, auf mein Wort, der Knall von Tomassovs Pistole war das Unerheblichste, das sich denken läßt. Gewiß, der Schnee verschluckte jeden Laut. Es war
nur ein leises ›Popp‹. Von den Offiziersburschen wandte vermutlich keiner den Kopf herum. Ja. Tomassov hatte es getan. Das Geschick hatte De Castel dem Manne zugeführt, der ihn vollkommen verstand. Aber des armen Tomassovs Los war es, vorbestimmtes Opfer zu sein. Ihr wißt, welcher Art die Gerechtigkeit der Welt und das Urteil der Menschen ist. Sie fielen hart über ihn her mit ihrer abersinnigen Scheinheiligkeit. Ja! jener rohe Geselle, der Adjutant, war der erste, der gewisse entsetzte Anspielungen auf die kaltblütige Erschießung eines Gefangenen in Umlauf setzte! Tomassov wurde selbstverständlich nicht aus dem Heer entlassen. Aber nach der Belagerung von Danzig reichte er sein Abschiedsgesuch ein und ging, um sich tief in seiner Provinz zu vergraben, wo ihm noch auf Jahre hin eine vage Geschichte wegen irgendeiner dunklen Tat anhing. Ja. Er hatte es getan. Und was? Eine Kriegerseele zahlte einer anderen Kriegerseele hundertfältig ihre Schuld zurück, indem sie diese von einem Schicksal befreite, das schlimmer war als der Tod – von dem Verlust allen Glaubens, allen Mutes. Ihr mögt es so sehen. Ich weiß nicht. Und vielleicht wußte es der arme Tomassov selber nicht. Aber ich war der erste, der sich mit dieser abstoßenden schwarzen Gruppe auf dem Schnee zu befassen hatte: der Franzose, starr ausgestreckt auf dem Rükken, Tomassov, knieend auf einem Knie, näher den Füßen als dem Kopf des Franzosen. Er hatte die Mütze abgenommen, und sein Haar schimmerte wie Gold in dem leichten Flockengestöber, das wieder eingesetzt hatte. Er neigte sich in einer liebevoll betrachtenden Gebärde über den Toten. Und sein junges, argloses Gesicht mit den gesenkten Augenlidern drückte nicht Kummer, nicht Strenge, nicht Entsetzen aus – sondern die Ruhe tiefen, gleichsam unendlichen und unendlich stillen Sinnens.«
DIE GESCHICHTE
Draußen vor dem einzigen, hohen Fenster schwand das Licht der Abenddämmerung langsam dahin in einem großen rechteckigen Schimmer ohne Farbe, fest eingerahmt von dem sich verdichtenden Schatten des Zimmers. Es war ein langes Zimmer. Die unwiderstehliche Flut der Nacht drang bis in seinen entferntesten Teil, wo das Geflüster einer Männerstimme, leidenschalich abbrechend und leidenschalich wieder anhebend, zu argumentieren schien mit einer gemurmelten Antwort von unendlicher Traurigkeit. Schließlich kam keine gemurmelte Antwort mehr. Als er sich langsam von den Knien erhob an der Seite eines tiefen, schattenhaen Sofas, das die schattenhae Andeutung einer zurückgelehnten Frau barg, zeigte sich an seinen Bewegungen, wie groß er war unter der niedrigen Decke des Zimmers und wie ganz und gar düster, abgesehen von dem grellen Mißton eines weißen Kragens unter der Silhouette seines Kopfes und dem winzigen, schwachen Aufschimmern eines Messingknopfes hier und da an seinem Uniformrock. Eine kurze Weile stand er über sie gebeugt, männlich und geheimnisvoll in seiner Unbeweglichkeit, ehe er sich auf einen Stuhl nahebei setzte. Er vermochte nur andeutungsweise das Oval ihres aulickenden Gesichtes zu sehen und, ausgestreckt auf dem schwarzen Kleid, ihre bleichen Hände, die, noch einen Augenblick zuvor seinen Küssen überlassen, nun zu matt zu sein schienen, um sich zu rühren. Er wagte nicht, einen Laut von sich zu geben – wie ein Mann, der vor den prosaischen Notwendigkeiten des Daseins zurück
schreckt. Wie üblich, war es die Frau, die den Mut aurachte. Ihre Stimme ließ sich als erste vernehmen – fast konventionell, während doch ihr Wesen noch immer von widerstreitenden Regungen bebte. »Erzählen Sie mir etwas«, sagte sie. Die Dunkelheit verbarg seine Überraschung und dann sein Lächeln. Hatte er ihr nicht soeben alles Sagenswerte auf der Welt gesagt – und das nicht zum ersten Mal! »Was soll ich Ihnen erzählen?« fragte er mit beachtlich fester Stimme. Dankbarkeit überkam ihn für dieses gleichsam Endgültige in ihrem Ton, das die Spannung gemildert hatte. »Warum nicht eine Geschichte erzählen?« »Eine Geschichte!« Er war wirklich verblü. »Ja. Warum nicht?« Diese Worte kamen mit leiser Keckheit, einer Spur Mutwillen, der, bei einer geliebten Frau, mutwillig nur darum ist, weil er sich zum Gesetz erhoben fühlt, einem zuweilen peinlichen und immer schwer zu umgehenden. »Warum nicht?« wiederholte er mit leisem Spott, als verlange man von ihm, ihr den Mond zu schenken. Aber dann ärgerte er sich auch über diese weibliche Behendigkeit, die sich einer Gefühlsregung so leicht entledigt wie eines schimmernden Gewandes. Er hörte sie sagen, ein wenig unsicher, mit gleichsam flatterndem Ton, der ihn unvermittelt an den Flug eines Schmetterlings denken ließ: »Sie erzählten früher immer Ihre – Ihre – schlichten, aus – aus Ihrem Metier stammenden – Geschichten sehr hübsch. Oder doch hübsch genug, um mich zu interessieren. Sie hatten eine – eine Begabung dafür – seinerzeit – damals vor dem Krieg.« »Wirklich?« sagte er unfreiwillig düster. »Aber jetzt, sehen Sie, ist Krieg«, fuhr er mit so dumpfer, monotoner Stimme
fort, daß ihr ein leichtes Frösteln über die Schultern lief. Und doch beharrte sie. Denn es gibt nichts Unerschütterlicheres auf der Welt als den Mutwillen einer Frau. »Es muß nicht eine Geschichte von dieser Welt sein«, erklärte sie. »Sie wollen eine Geschichte aus der anderen, der besseren Welt hören?« fragte er in nüchternem Erstaunen. »Zur Erfüllung solch eines Wunsches müßten Sie jene herbeirufen, die schon dorthin abgegangen sind.« »Nein. Ich meine nicht das. Ich meine eine andere – irgendeine andere – Welt. Im Universum – nicht im Himmel.« »Das beruhigt mich. Aber vergessen Sie nicht, daß ich nur fünf Tage Urlaub habe.« »ja. Und ich habe mir gleichfalls fünf Tage Urlaub genommen von – von meinen Pflichten.« »Mir gefällt dieses Wort.« »Welches Wort?« »Pflicht.« »Sie ist entsetzlich – manchmal.« »Oh, nur wenn Sie sie zu eng fassen. Aber eng ist sie nicht. Sie schließt Unendlichkeiten ein, und – und darum – –« »Was soll das hochtrabende Gerede?« Er überging den verachtungsvollen Einwurf. »Eine Unendlichkeit der Entsühnung beispielsweise«, fuhr er fort. »Aber was diese ›andere Welt‹ betri – wer geht und sucht sie, samt der Geschichte, die darinsteckt?« »Sie«, sagte sie mit einer seltsamen, beinahe schroffen Süße in ihrer Bestimmtheit. Er vollführte auf seinem Stuhl eine schattenhae Geste des Einverständnisses, deren Ironie sich nicht einmal in dieser dichten Dunkelheit als geheimnisvoll erwies. »Wie Sie wollen. In jener Welt also waren einmal ein Korvettenkapitän und ein Nordländer. Nehmen Sie diese Bezeich
nungen bitte als Namen, denn andere hatten sie nicht. Es war eine Welt der Meere und Kontinente und Inseln – –« »Wie die Erde«, murmelte sie bitter. »Ja. Was können Sie anderes erwarten, wenn Sie einen Mann, der aus unserem gemeinen, gepeinigten Lehm geformt ist, auf Erkundungsfahrt schicken? Was könnte er anderes ausfindig machen? Was könnte er anderes verstehen, von was anderem ergriffen sein, von was anderem auch nur die Existenz fühlen? Es gab Spaß dort und Gemetzel.« »Immer das Gleiche wie auf der Erde«, murmelte sie. »Immer. Und da ich im Universum nur das aufzuspüren vermochte, was tief in den Fasern meines Seins verwurzelt ist, so war auch Liebe dort. Aber über die wollen wir nicht sprechen.« »Nein. Wollen wir nicht«, sagte sie in unbeteiligtem Ton, der vollkommen ihre Erleichterung verbarg – oder ihre Enttäuschung. Dann, nach einer Pause, fügte sie hinzu: »Es wird eine komische Geschichte?« »Vielleicht – –«, er hielt gleichfalls inne. »Ja. In ihrer Art. In einer sehr grimmigen Art. Sie wird menschlich sein, und wie Sie wissen, ist Komödie nur eine Frage des Gesichtswinkels. Es wird, darüber hinaus, keine laute Geschichte sein. Die langen Geschütze, die darin vorkommen, bleiben stumm – stumm wie Fernrohre.« »Ah, da gibt es also auch Geschütze! Und darf ich fragen – wo?« »Auf dem Wasser. Sie erinnern sich, die Welt, von der wir sprechen, hatte ihre Meere. Und es herrschte Krieg in ihr. Es war eine lustige Welt, und man meinte es furchtbar ernst. Ihr Krieg wurde ausgetragen zu Land, zu Wasser, unter dem Wasser, in der Lu und sogar unter dem Erdboden. Und viele daran beteiligte junge Männer, meist in Wachstuben und Offiziersmessen, pflegten untereinander zu sagen – verzeihen Sie das unziemliche Wort –: ›Ein verdammter, elender Krieg, aber besser als gar keiner.‹ Klingt leichtfertig, nicht wahr?«
Er vernahm ein nervöses, ungeduldiges Seufzen aus den Tiefen des Sofas, während er fortfuhr, ohne innezuhalten. »Und doch ist mehr darin, als das Auge gewahrt. Ich meine, mehr Weisheit. Keckheit, wie Komödie, ist nur eine Frage des ersten visuellen Eindrucks. Jene Welt war nicht sehr weise. Aber es gab ein gewisses Maß gesunden praktischen Scharfsinns in ihr. Den bekundeten jedoch vor allem die Neutralen – auf verschiedenste Weise, öffentliche wie private; die beobachtet sein wollte; beobachtet von durchdringenden Geistern und auch von wirklich scharfen Augen. Sie mußten schon sehr scharf sein, das kann ich Ihnen versichern.« »Ich kann es mir vorstellen«, murmelte sie anerkennend. »Was gäbe es, das Sie sich nicht vorzustellen vermöchten?« verkündete er trocken. »Sie tragen die Welt in sich. Aber lassen Sie uns zu unserem Korvettenkapitän zurückkehren, der natürlich Kornmandant eines Schiffes war. Meine Geschichten, wenn sie auch aus dem Metier stammen (wie Sie soeben bemerkten), sind doch nie allzu seemännisch gewesen. So will ich nur erwähnen, daß das Schiff einmal sehr dekorativ war, mit viel Anmutigem und Elegantem und Luxuriösem daran. Ja, früher einmal! Es war wie eine hübsche Frau, die plötzlich in ein Gewand aus Sackleinwand schlüp und sich Pistolen in den Gürtel steckt. Aber es schwamm leicht, bewegte sich munter, taugte durchaus.« »Das war die Meinung seines Kommandanten?« fragte die Stimme vom Sofa. »Ja. Er pflegte mit dem Schiff ausgesandt zu werden, gewisse Küsten entlang, um zu sehen – was er eben sehen konnte. Nur das. Bisweilen verfügte er über einige vorbereitende Informationen, auf die er sich stützen konnte, und bisweilen nicht. Und im Grunde war es ganz gleichgültig. Sie waren ungefähr so nützlich wie Informationen, die den Standort und die Absichten einer Wolke angeben sollen, eines Phantoms, das
einmal hier, einmal dort Gestalt annimmt und unmöglich zu fassen ist. Es war zu Beginn des Krieges. Was den Kommandanten anfangs besonders erstaunte, war das unveränderliche Antlitz des Wassers, mit seinem vertrauten Ausdruck, der weder freundlicher noch feindlicher wirkte. An schönen Tagen schlägt die Sonne Funken auf dem blauen Spiegel; hier und dort hängt ein friedliches Rauchwölkchen in der Ferne, und es ist unmöglich zu glauben, daß der vertraute, klare Horizont nur mehr die Grenzlinie eines einzigen großen kreisrunden Hinterhaltes sein soll. Ja, es ist unmöglich, das zu glauben, bis Sie eines Tages sehen, wie ein Schiff – nicht das Ihre (das wäre nicht so eindrucksvoll), sondern ein Begleitschiff – plötzlich in die Lu fliegt und wegsackt, noch ehe Sie recht wissen, was geschehen ist. Dann fangen Sie an zu glauben. Von nun an machen Sie sich ans Werk, zu sehen – was Sie sehen können, und sie bleiben bei dieser Beschäigung in der Überzeugung, daß Sie den Tod durch etwas finden werden, das Sie nicht gesehen haben. Man beneidet die Soldaten, die sich am Ende des Tages den Schweiß und das Blut vom Gesicht wischen, ihre Toten zählen, die vernichteten Fluren betrachten, den aufgerissenen Erdboden, der mit ihnen zu leiden und zu bluten scheint. Wirklich, man beneidet sie um das alles. Die abschließende Brutalität darin – den Ausdruck primitiver Leidenscha – die wilde Offenheit des Hiebes, den die eigene Hand führt – den direkten Anruf und die freimütige Antwort. Das Meer dagegen bot Ihnen nichts dergleichen und schien Ihnen vorzuspiegeln, alles sei im Lot auf dieser Welt.« Sie unterbrach ihn, sich ein wenig aufrichtend. »Oh, ja. Redlichkeit – Aufrichtigkeit – Leidenscha – drei Worte aus Ihrem Evangelium. Wie sollte ich sie nicht kennen!«
»Hören Sie! Ist es nicht unser Evangelium – an das wir gemeinsam glauben?« fragte er besorgt, doch ohne eine Antwort zu erwarten, und dann fuhr er fort: »Das waren die Gefühle unseres Kornmandanten. Wenn die Nacht über das Meer zog und verbarg, was wie die Scheinheiligkeit eines alten Freundes aussah, war das eine Erleichterung. Die Nacht läßt Sie in aller Offenheit blind werden – und es gibt Umstände, unter denen Ihnen das Sonnenlicht so widerwärtig erscheint wie Falschheit. Die Nacht ist schon recht. Bei Nacht konnte der Kommandant seinen Gedanken freien Lauf lassen – ich will Ihnen nicht sagen, wohin. Dorthin, wo sie keine andere Wahl hatten als die zwischen Wahrheit und Tod. Aber diesiges Wetter, wenn es auch blind machte, brachte nicht solche Erleichterung. Dunst ist heimtückisch, die fahle Helligkeit des Nebels narrt Sie. Anscheinend soll man sehen. Eines düsteren, häßlichen Tages dampe das Schiff seinen Kurs in Sichtweite einer felsigen gefahrvollen Küste, die sich dort tiefschwarz hinzog wie eine Tuschzeichnung auf grauem Papier. Plötzlich sprach der Erste Offizier seinen Kommandanten an. Er meinte, etwas auf dem Wasser gesichtet zu haben, seewärts. Kleines Wrack vielleicht. ›Aber hier düre eigentlich kein Wrack sein, Sir‹, bemerkte er. ›Nein‹, sagte der Kommandant. ›Das letzte von einem Unterseeboot angegriffene Schiff soll dem Bericht nach sehr viel weiter westwärts gesunken sein. Aber wer weiß. Es könnte in der Zwischenzeit andere Schiffe gegeben haben, deren Untergang niemand gemeldet oder gesehen hat. Untergang mit Mann und Maus.‹ So begann es. Der Kurs des Schiffes wurde geändert, damit es dicht an den Gegenstand hinanfahre, denn es war erforderlich, von dem, was man sehen konnte, genauen Augenschein zu
nehmen. Dicht hinan, aber ohne ihn zu berühren; denn es war nicht ratsam, in Kontakt mit Gegenständen irgendeiner Form zu kommen, die da auf dem Meer herumtrieben. Dicht hinan, aber ohne zu stoppen oder auch nur die Fahrt zu drosseln; denn in jenen Zeiten war es nicht klug, an irgendeinem bestimmten Punkt zu verweilen, und sei es nur für einen Augenblick. Ich will Ihnen nur gleich sagen, daß der Gegenstand als solcher nicht gefährlich war. Unnötig, ihn zu beschreiben. Er mag nichts Beachtlicheres gewesen sein als, sagen wir, ein Ölfaß von bestimmter Gestalt und Farbe. Aber er war vielsagend. Die glatte Bugwelle hob ihn empor wie zu besserer Inspektion, und dann wandte ihm das Schiff, das wieder auf Kurs gesetzt worden war, gleichgültig das Heck, während zwanzig Augenpaare an Deck nach allen Richtungen starrten in dem Versuch, zu sehen – was sie sehen konnten. Der Kommandant und sein Erster Offizier erörterten den Gegenstand mit viel Sachkunde. Er schien ihnen nicht so sehr Beweis für den Scharfsinn als für die Aktivität gewisser Neutraler zu sein. Diese Aktivität äußerte sich in vielen Fällen durch Ergänzen der Vorräte gewisser im Einsatz befindlicher Unterseeboote. Das wurde allgemein geglaubt, wenn es auch nicht erwiesen war. Aber die Lage der Dinge zu Anfang des Krieges deutete in diese Richtung. Der Gegenstand, der eingehend betrachtet worden war und von dem man sich dann anscheinend gleichgültig abgewandt hatte, tilgte jeglichen Zweifel, daß sich hier etwas dieser Art zugetragen hatte. Der Gegenstand als solcher war bereits sehr verdächtig. Aber der Umstand, daß er dort so auffällig zurückgelassen worden war, erregte weiteren Verdacht. War dies die Ausgeburt einer tiefen und teuflischen Absicht? Was letztere anging, so erwies sich jegliche Spekulation bald als müßig. Am Ende gelangten die beiden Offiziere zu dem Schluß, das Faß sei höchst wahr
scheinlich zufällig dort gelassen worden – ein Zufall, der sich möglicherweise kompliziert hatte durch eine unvorhergesehene Notwendigkeit; vielleicht die, schnell von dort fortzukommen, oder sonst etwas dergleichen. Ihre Diskussion war in knappen, gewichtigen Wendungen geführt worden, zwischen die sich lange, gedankenvolle Pausen schoben. Und während der ganzen Zeit waren ihre Blicke über den Horizont geschwei in beständiger, beinahe mechanischer Wachsamkeit: der jüngere Mann faßte grimmig zusammen: ›Immerhin ist es ein Beweisstück. So kann man es wohl nennen. Beweis für etwas, dessen wir vorher schon ziemlich sicher waren. Und zwar ein deutlicher.‹ ›Und das nutzt uns viel!‹ erwiderte der Kommandant. ›Die Beteiligten sind meilenweit entfernt; das Unterseeboot steckt, der Teufel weiß wo, bereit zu töten; und der noble Neutrale, um keine Lüge verlegen, entschlüp uns ostwärts!‹ Der Erste Offizier lachte ein wenig über die Bitterkeit des Tones. Aber er meinte, der Neutrale werde nicht einmal sehr viel zu lügen haben. Solche Burschen fühlten sich, wenn sie nicht gerade auf frischer Tat ertappt würden, ziemlich sicher. Sie konnten sich ins Fäustchen lachen. Dieser Bursche lachte sich vermutlich bereits ins Fäustchen. Er trieb das Spiel gewiß nicht zum ersten Mal und kümmerte sich keinen Pfifferling um das Beweisstück, das er zurückgelassen hatte. Das war ein Spiel, bei dem Übung kühn machte und auch erfolgreich. Und abermals lachte er leise. Aber der Kommandant rebellierte gegen die mörderische Heimlichkeit der angewandten Methoden und die abscheuliche Fühllosigkeit einer Komplizenscha, die den Quell der tiefsten Regungen im Menschen, sein edelstes Tun zu vergien schienen und seine Einbildungskra verdarben – diese ihre endgültigen Begriffe von Leben und Tod aufrichtende Einbildungskra. Er litt – – –«
Die Stimme vom Sofa unterbrach den Erzähler. »Wie gut kann ich das verstehen an ihm!« Er neigte sich ein wenig vor. »Ja. Ich auch. Alles sollte offen sein in Liebe und Krieg. Offen wie der Tag, da beide der Anruf eines Ideals sind, das so leicht, so entsetzlich leicht zu entwürdigen ist im Namen des Sieges.« Er hielt inne; dann fuhr er fort: »Ich weiß nicht, ob der Kommandant seine Gefühle so tief durchforschte. Aber er litt unter ihnen – es war eine Art ernüchterter Traurigkeit. Möglich sogar, daß er sich einer gewissen Torheit zieh. Der Mensch ist so vielfältig. Aber für Selbstprüfung hatte er keine Zeit, da von Südwest eine Nebelwand gegen sein Schiff heraufgezogen war. Große Dunstwirbel flogen vorüber, quirlten um Masten und Schornstein, und die sahen aus, als zerflössen sie, ehe sie ganz verschwanden. Das Schiff wurde gestoppt, alle Geräusche verstummten, und sogar der Nebel wurde reglos, verdichtete sich zu etwas in seinem unbeweglichen Schweigen erstaunlich Kompaktem. Die Leute auf ihren Posten sahen einander nicht mehr. Schritte klangen wie etwas Heimliches; vereinzelte Stimmen, unpersönlich und fern, erstarben ohne Antwort. Eine blinde weiße Stille ergriff Besitz von der Welt. Überdies hatte es den Anschein, als bleibe es tagelang so. Das soll nicht heißen, der Nebel habe in seiner Dichte nicht ein wenig geschwankt. Dann und wann lichtete er sich geheimnisvoll und enthüllte der Mannscha ein mehr oder weniger geisterhaes Bild ihres Schiffes. Einige Male glitten sogar die Schatten der Küste vor ihren Augen durch den opaken Schimmer der großen weißen Wolke, die auf dem Wasser lag. Die Gunst solcher Augenblicke nutzend, hatte sich das Schiff
behutsam näher an die Küste herangeschoben. Es war sinnlos, in so nebligem Wetter draußen zu bleiben. Die Offiziere des Schiffes kannten in ihrem Abschnitt alle Schlupfwinkel der Küste. Sie meinten, das Schiff sei viel besser in einer dieser dort sich findenden kleinen Buchten aufgehoben. Sie war nichts Großartiges, bot nur eben reichlich Platz für ein Schiff, vor Anker zu schwoien. Für das Schiff war es zweifellos angenehmer, dort zu liegen, bis der Nebel sich verzog. Langsam, mit unendlicher Behutsamkeit und Geduld, krochen sie näher und näher heran, ohne von den Kliffs mehr ausmachen zu können als eine unbestimmte, dunkel aufragende Masse mit einem schmalen Saum zornigen Gischtes unten. Im Augenblick des Ankerns war der Nebel so dicht, daß sie, was sichtbare Gegenstände anlangte, ebensogut tausend Meilen entfernt auf offener See sich hätten befinden können. Doch der Schirm des Landes war zu spüren. Die Stille der Lu hatte eine eigene Qualität. Sehr schwach, sehr flüchtig klang ihnen das Klatschen der kleinen Wellen gegen das Gestade ringsum mit geheimnisvollen, unvermittelten Pausen an die Ohren. Nach dem Fallen des Ankers wurde das Loten eingestellt. Der Kommandant ging hinunter in seine Kammer. Aber er war noch nicht lange dort gewesen, als vor der Tür eine Stimme seine Anwesenheit an Deck erbat. Er dachte im Stillen: ›Was ist das nun wieder?‹ und war einigermaßen ungehalten darüber, daß man ihn hinausrief, um anscheinend von neuem in den trübsinnigen Nebel zu starren. Er sah, daß der Nebel sich wieder ein wenig gelichtet und eine düstere Färbung angenommen hatte, herrührend von den Felsen, die zwar keine Gestalt, keinen Umriß hatten, sich aber doch bemerkbar machten als ein Schattenvorhang rings um das Schiff. Nur eine Stelle war hell: der Ausgang zum offenen Meer. Einige Offiziere blickten von der Brücke in diese Richtung, Der Erste Offizier empfing den Kommandanten mit der
atemlos geflüsterten Mitteilung, es befinde sich noch ein Schiff in der Bucht. Es war von verschiedenen Augenpaaren erst einige Minuten zuvor gesichtet worden. Es lag sehr dicht am Eingang der Bucht vor Anker – ein bloßer undeutlicher Fleck auf der Nebelhelle. Und schließlich gewahrte ihn auch der Kommandant, nachdem er lange in die ihm von eifrigen Händen gewiesene Richtung gestarrt hatte. Unzweifelha lag da ein Schiff. ›Ein Wunder, daß wir das Schiff nicht gerammt haben, als wir hereinkamen‹, bemerkte der Erste Offizier. ›Schicken Sie ein Boot hinüber, bevor das Schiff verschwindet‹, sagte der Kommandant. Er vermutete, es sei ein Küstenfahrzeug. Es konnte kaum sonst etwas sein. Aber dann kam ihm plötzlich ein anderer Gedanke. ›Es ist wirklich ein Wunder‹, sagte er zu seinem Ersten Offizier, der wieder zu ihm getreten war, nachdem er das Boot ausgesandt hatte. Inzwischen war beiden der Umstand zu Bewußtsein gekommen, daß das so unvermittelt entdeckte Schiff seine Anwesenheit nicht durch Glockenzeichen kundgetan hatte, ›Wir kamen zwar sehr leise hinein‹, sagte der jüngere Offizier, ›aber sie müssen zumindest unsere Lotgasten gehört haben. Wir müssen ja das Schiff in kaum mehr als fünfzig Meter Entfernung passiert haben. Das nenne ich knapp vorbeigerutscht! Sie haben uns möglicherweise sogar gesichtet, da sie bemerken mußten, daß etwas hereinkam. Und das Seltsame ist, daß wir keinen Laut von dem Schiff gehört haben. Die Burschen an Bord müssen den Atem angehalten haben.‹ ›Ja, ja‹, sagte der Kommandant nachdenklich. Nach einer Weile kehrte das Boot mit dem Prisenkommando zurück, erschien unvermittelt längsseits, als habe es sich seinen Weg unter dem Nebel durchgegraben. Der entstandte Offizier kam herauf, um Bericht zu erstatten, aber der Kom
mandant wartete diesen nicht erst ab. Er rief ihm schon von weitem zu: ›Küstenfahrer, nicht wahr?‹ ›Nein, Sir. Ein Fremder – ein Neutraler‹, war die Antwort. ›Ach. Wirklich! Erzählen Sie. Was tut das Schiff hier?‹ Der junge Mann berichtete nun, ihm sei eine ziemlich lange und umständliche Geschichte von einem Maschinenschaden erzählt worden. Die Geschichte habe sich indessen, rein technisch betrachtet, glaubha genug angehört; der übliche Ablauf: Havarie, gefährliches Treiben die Küste entlang, das Wetter seit Tagen schon mehr oder weniger neblig, Furcht vor einem Sturm, dann der Entschluß, einzulaufen und irgendwo an der Küste zu ankern, und so weiter. Einigermaßen glaubha. ›Die Maschine ist noch immer einsatzunfähig?‹ erkundigte sich der Kommandant. ›Nein, Sir. Das Schiff hat Dampf darauf.‹ Der Kommandant nahm seinen Ersten Offizier beiseite. ›Weiß der Himmel!‹ sagte er, ›Sie haben recht! Die hielten den Atem an, als wir an ihnen vorüberfuhren. Bestimmt.‹ Aber der Erste Offizier hatte nun seine Zweifel. ›Ein Nebel wie dieser erstickt leise Geräusche, Sir‹, bemerkte er. ›Und was hätte der Neutrale schließlich bezwecken können?‹ ›Sich unbemerkt zu verdrücken‹, antwortete der Kommandant. ›Warum tat er es dann nicht? Er hätte doch gekonnt. Wohl nicht gerade unbemerkt. Ich denke, er hätte seine Ankerkette nicht ohne einigen Lärm einziehen können. Dennoch, eine Minute später wäre er nicht mehr zu sehen gewesen – gänzlich entschwunden, noch ehe wir ihn richtig ausgemacht hätten. Trotzdem tat er es nicht.‹ Sie blickten einander an. Der Kommandant schüttelte den
Kopf. Gegen solch einen Argwohn wie der, der sich in seinem Kopf festgesetzt hatte, kam nicht so leicht etwas auf. Er gab ihm nicht einmal offen Ausdruck. Der Offizier, der das Prisenkommando geleitet hatte, beendete seinen Bericht. Die Ladung des Schiffes bestand aus harmlosen, zweckdienlichen Gütern. Es war nach einem englischen Hafen unterwegs. Papiere und alles übrige befanden sich in vollkommener Ordnung. Nirgends war etwas Verdächtiges zu entdecken. Dann zur Mannscha auf Deck übergehend, berichtete er, sie setze sich aus der üblichen Schar zusammen. Ingenieure vom bekannten Schlag und sehr befriedigt über ihre Leistung, die Maschine wieder instandgesetzt zu haben. Der Steuermann grämlich. Der Kapitän, Musterbeispiel eines Nordländers, hatte offensichtlich zu viel getrunken. Schien sich von einer regelrechten Zecherei zu erholen. ›Ich sagte, ich könne ihm nicht die Erlaubnis zum Weiterfahren erteilen. Er antwortete darauf, er würde sich bei diesem Wetter auch keine Schiffslänge weit hinaustrauen, mit Erlaubnis oder ohne. Ich ließ immerhin einen Mann an Bord.‹ ›Sehr richtig.‹ Nachdem der Kommandant sich eine Weile mit seinem Verdacht auseinandergesetzt hatte, rief er seinen Ersten Offizier zu sich. ›Wie, wenn gerade dieses Schiff das eine oder andere höllische Unterseeboot gefüttert hätte?‹ sagte er leise. Der andere fuhr zurück. Dann sagte er mit Überzeugung: ›Es würde ungeschoren davonkommen. Sie haben keine Handhabe, Sir.‹ ›Ich möchte selber nachschauen.‹ ›Nach dem Bericht, den wir gehört haben, könnten Sie, fürchte ich, nicht einmal ein Verfahren auf Grund stichhaltiger Verdachtsmomente einleiten, Sir.‹
›Gleichviel, ich gehe selbst an Bord.‹ Er hatte seinen Entschluß gefaßt. Neugier ist die große treibende Kra von Haß und Liebe. Was erwartete er zu finden?. Er hätte es niemandem sagen können – nicht einmal sich selbst. Was er wirklich dort zu finden sich versprach, war die Atmosphäre, die Atmosphäre bewußten Verrates, für den es in seinen Augen keine Entschuldigung gab; denn sogar eine Leidenscha für das Unredliche, meinte er, könne solchen Verrat nicht entschuldigen. Aber konnte er ihn aufspüren? Riechen? Schmecken? Einen geheimnisvollen Hinweis erhalten, der seinen unerschütterlichen Verdacht zur Gewißheit machte, stark genug, um ihn zum Handeln zu veranlassen, ungeachtet aller Risiken? Der Kapitän empfing ihn auf dem Achterdeck, plötzlich im Nebel vor ihm aufragend zwischen den verschwommenen Umrissen der gewohnten Schiffsausstattung. Er war ein stämmiger Nordländer, bärtig, im besten Alter. Eine runde Ledermütze saß ihm eng um den Kopf. Die Hände hatte er tief in die Taschen seiner kurzen Lederjacke geschoben. Er behielt sie dort, während er erklärte, auf See wohne er im Navigationsraum, und dann, gleichmütig ausschreitend, den Weg dorthin anführte. Unmittelbar bevor er die Tür unter der Brücke erreichte, stolperte er leicht, fing sich aber wieder, stieß die Tür auf und trat beiseite. Dabei lehnte er sich wie zufällig mit der Schulter gegen die Wand und starrte unbestimmt in die Nebelmasse. Aber er folgte dem Kommandanten auf den Fuß, schlug die Tür hinter sich zu, knipste das elektrische Licht an und beeilte sich, die Hände wieder zurück in die Jackentaschen zu stecken, als fürchte er, sie könnten ergriffen werden entweder in Freundscha oder Feindseligkeit. In dem Zimmer war es stickig und heiß. Die üblichen Kartenborde oben waren angefüllt, und die Seekarte auf dem Tisch
wurde von einer leeren Tasse mit einem von einer verschütteten dunklen Flüssigkeit halb gefüllten Unterteller aufgerollt gehalten. Auf dem Chronometergehäuse lag ein angeknabberter Zwieback. Der Raum enthielt zwei Sofas, von dem das eine als Bett hergerichtet war mit Hilfe eines Kopissens und einiger jetzt ziemlich verwühlter Decken. Der Nordländer ließ sich auf dieses Bett fallen, die Hände weiterhin in den Taschen. ›Hier bin ich also‹, sagte er mit sonderbarer Miene, als sei er erstaunt über den Klang seiner eigenen Worte. Der Kommandant beobachtete vom anderen Sofa aus das ansehnliche, gerötete Gesicht. Nebeltropfen hingen an dem gelben Bart und Schnurrbart des Nordländers. Die viel dunkleren Augenbrauen liefen in einem verwirrten Stirnrunzeln zusammen. Und plötzlich sprang der Mann wieder auf. ›Das heißt, ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß es wirklich nicht.‹ Er stieß diese Worte sehr ernst hervor. ›Zum Teufel! Ich habe wohl irgendwo gedreht. Der Nebel verfolgt mich seit einer Woche. Seit mehr als einer Woche. Dann versagte die Maschine. Ich will Ihnen erklären, wie alles kam.‹ Ein Redestrom brach aus ihm hervor. Er sprach nicht hastig, aber beharrlich, wenn auch nicht stetig. Immer wieder verstummte er in kuriosen, gedankenvollen Pausen. Jede dieser Pausen währte nicht länger als ein paar Sekunden, und jede hatte die Tiefe einer endlosen Meditation. Wenn er dann wieder zu sprechen anhob, verriet nichts, daß er sich dieser Unterbrechungen im mindesten bewußt war. Derselbe starre Blick, dieselbe unveränderte Ernsthaigkeit des Tons. Er wußte nichts davon. Ja, mehr als eine dieser Pausen ereignete sich mitten in einem Satz. Der Kommandant lauschte der Geschichte. Sie schien ihm plausibler, als schlichte Wahrheit gemeinhin ist. Aber das war vielleicht ein Vorurteil. Während der ganzen Zeit, da der
Nordländer sprach, war sich der Kommandant einer inneren Stimme bewußt gewesen, eines ernsten Murmelns in den Tiefen seines Selbst, das ihm eine andere Geschichte erzählte, wie um Abscheu und Zorn in ihm wachzuhalten angesichts jener niedrigen Habsucht oder auch nur jener niedrigen Betrachtungsweise, die einfältigem Denken so o zugrunde liegt. Es war dieselbe Geschichte, die bereits dem Offizier des Prisenkommandos eine Stunde zuvor erzählt worden war. Der Kommandant nickte dem Nordländer bisweilen leicht zu. Der kam zum Ende und wandte den Blick ab. Dann fügte er als nachträglichen Gedanken hinzu: ›Genügt das nicht, um einen Mann vor Kummer und Sorgen den Verstand verlieren zu lassen? Dazu ist es meine erste Reise in diesem Gewässer. Und das Schiff gehört mir. Ihr Offizier hat die Papiere geprü. Es ist nichts Großartiges, wie Sie selbst sehen können. Nur eben ein alter Frachter. Gerade ausreichend, um meine Familie zu ernähren.‹ Er hob einen mächtigen Arm, um auf eine Reihe von Photographien zu deuten, die am Schott klebten. Es war eine wuchtige Geste, wie wenn der Arm aus Blei gewesen wäre. Der Kommandant warf ungerührt ein: ›Sie werden mit diesem alten Schiff noch ein Vermögen machen für Ihre Familie.‹ ›Ja, wenn ich es nicht verliere‹, sagte der Nordländer düster. ›Ich meine – aus diesem Krieg‹, fügte der Kommandant hinzu. Der Nordländer starrte ihn auf seltsam blicklose und gleichzeitig interessierte Weise an, wie nur Augen von einem besonderen Blau das vermögen. ›Und Sie würden mir darum nicht böse sein‹, sagte er, ›nicht wahr? Sie sind zu sehr Gentleman. Wir haben Ihnen das hier nicht eingebrockt. Angenommen, wir setzten uns hin und
weinten. Wäre Ihnen damit gedient? Mögen die weinen, die den Ärger angefangen haben‹, schloß er mit Nachdruck. ›Zeit ist Geld, sagt man. Und wahrhaig – diese Zeit ist Geld. Oh, stimmt es nicht!‹ Der Kommandant versuchte, ein Gefühl äußersten Abscheus zu unterdrücken. Er gestand sich ein, daß es unvernünig sei. Die Menschen waren nun einmal so – im Sittlichen Kannibalen, die sich am Mißgeschick anderer labten. Laut sagte er: ›Sie haben mir deutlich zu verstehen gegeben, wie es kommt, daß Sie sich hier aualten. Ihr Logbuch bestätigt sehr genau die Richtigkeit dessen, was Sie sagen. Natürlich kann ein Logbuch frisiert werden. Nichts einfacher als das.‹ Der Nordländer rührte sich mit keinem Muskel. Er blickte zu Boden; er schien nicht gehört zu haben. Nach einer Weile hob er den Kopf. ›Aber Sie können nicht irgendeinen Verdacht gegen mich haben‹, murmelte er nachlässig. Der Kommandant dachte: ›Warum sagt er das?‹ Gleich darauf fügte der Mann vor ihm hinzu: ›Meine Ladung geht nach einem englischen Hafen.‹ Für einen Moment war seine Stimme heiser geworden. Der Kommandant überlegte: ›Es stimmt. Alles einwandfrei. Ich kann ihn nicht verdächtigen. Doch warum lag er unter Dampf in diesem Nebel – und dann, da er uns hereinkommen hörte, warum gab er nicht irgendein Lebenszeichen von sich? Warum? Aus welchem anderen Grund als dem eines schlechten Gewissens? An den Lotgasten hätte er erkennen müssen, daß es sich um ein Kriegsschiff handelt.‹ Ja – warum? Der Kommandant fuhr in seinen Gedanken fort: ›Angenommen ich frage ihn und beobachte sein Gesicht? Er wird sich irgendwie verraten. Der Kerl hat getrunken, das ist vollkommen klar, ja, er hat getrunken; aber dennoch wird er
um eine Lüge nicht verlegen sein.‹ Der Kommandant gehörte zu jenen Menschen, denen der bloße Gedanke daran, eine Lüge ausmerzen zu müssen, moralisches, wenn nicht gar physisches Unbehagen verursacht. Er schrak davor zurück in Verachtung und Ekel, die darum so unbesiegbar waren, weil sie eher in seinem Temperament als in einem sittlichen Gefühl gründeten. So trat er statt dessen auf das Deck hinaus und ließ die Mannscha zur Inspektion antreten. Er fand sie beinahe genauso, wie er nach dem Bericht des ausgesandten Offiziers erwartet hatte. Und ihren Antworten auf seine Fragen konnte er nichts entnehmen, das auf eine faule Stelle in der LogbuchGeschichte hingedeutet hätte. Er entließ sie wieder. Sein Eindruck von ihnen: eine zusammengewürfelte Schar; jedem von ihnen war eine Handvoll Geld versprochen worden, wenn die Sache gut ausging; alle waren leicht beunruhigt, aber nicht von Furcht erfüllt. Nicht einer bereit, die Sache zu verraten. Sie haben nicht das Gefühl, in Lebensgefahr zu schweben. Sie kennen England und englische Sitten zu gut! Er erschrak, als er sich bei dem Gedanken ertappte, sein höchst vager Verdacht wandle sich zusehends in Gewißheit. Denn es gab in der Tat auch nicht die Spur einer Begründung für seine Folgerungen. Da war nichts, das sich verraten hätte. Er trat wieder in den Navigationsraum. Der Nordländer war dort zurückgeblieben; und eine leise, fast unmerkliche Veränderung in seinem Benehmen, etwas Keckeres in seinen blauen Augen, seinem glasigen Blick, veranlaßten den Kommandanten zu dem Schluß, der Bursche habe die Gelegenheit wahrgenommen, einen weiteren Schluck aus der Flasche zu nehmen, die er irgendwo versteckt hatte. Auch bemerkte er, daß der Nordländer, wenn er ihm in die Augen sah, eine beflissen überraschte Miene zur Schau trug.
Zumindest wirkte sie beflissen. Es war auf nichts Verlaß. Und der Engländer glaubte steif und fest, einer riesengroßen Lüge gegenüberzustehen, undurchdringlich wie eine Wand, und ohne daß ein Weg um sie herumführte zu der Wahrheit, deren häßlich mörderische Fratze mit zynischem Grinsen hinter ihr hervorzuspähen schien. ›Ich denke‹, begann er plötzlich, ›Sie werden sich über mein Vorgehen wundern, obschon ich Sie vermutlich nicht aufhalte, nicht wahr? Sie hätten sich ohnehin nicht getraut, in diesem Nebel weiterzufahren?‹ ›Ich weiß ja nicht einmal, wo ich bin‹, stieß der Nordländer ernst hervor. ›Ich weiß es wirklich nicht.‹ Er blickte sich um, als sei ihm sogar die Einrichtung des Navigationsraumes fremd. Der Kommandant fragte ihn, ob er nicht irgendwelche ungewöhnlichen Gegenstände habe dahintreiben sehen, während er auf See war. ›Gegenstände! Was für Gegenstände? Wir tappten in dem Nebel tagelang blind umher.‹ ›Wir hatten zwischendurch einige Auellungen‹, sagte der Kommandant. ›Und ich will Ihnen sagen, was wir sahen und zu welchem Schluß wir darüber gekommen sind.‹ Er sagte es ihm in wenigen Worten. Er hörte das Geräusch zischend durch die Zähne eingezogenen Atems. Der Nordländer stand, die Hände auf den Tisch gestützt, vollkommen reglos und stumm da. Wie vom Donner gerührt. Dann setzte er ein albernes Lächeln auf. Oder zumindest wirkte es auf den Kommandanten so. War das nun ein Hinweis oder hatte es keinerlei Bedeutung? Er wußte es nicht, er konnte es nicht sagen. Alle Wahrheit war aus der Welt geschwunden, wie hineingezogen, absorbiert von der ungeheuren Schurkerei, deren dieser Mann schuldig war – oder auch nicht. ›Erschießen ist zu gut für Leute, die Neutralität in dieser net
ten Weise auslegen‹, bemerkte der Kommandant nach einem Schweigen. ›Ja, ja, ja‹, pflichtete ihm der Nordländer hastig bei – und fügte dann unerwartet und mit träumerischer Stimme hinzu: ›Vielleicht.‹ Gab er vor, betrunken zu sein, oder versuchte er nur, nüchtern zu wirken? Sein Blick war gerade, aber er war ein wenig verschleiert. Seine Lippen zeichneten sich fest unter dem gelben Schnurrbart ab. Aber sie zuckten. Zuckten sie? Und warum ließ er den Kopf so hängen? ›Da gibt es kein vielleicht‹, erwiderte der Kommandant streng. Der Nordländer richtete sich auf. Und unerwarteter Weise sah auch er streng aus. ›Nein. Aber wie steht es mit den Versuchern? Warum nicht die abknallen. Es gibt ungefähr vier, fünf, sechs Millionen von ihnen‹, sagte er grimmig; doch im nächsten Augenblick ging er zu einer wimmernden Tonlage über. ›Besser ich halte den Mund. Sie haben einen Verdacht.‹ ›Nein, ich habe keinen Verdacht‹, erklärte der Kommandant. Er wurde nicht schwankend. In diesem Augenblick gelangte er zur Gewißheit. Die Lu des Navigationsraums war dick von Schuld und Falschheit, die der Entlarvung trotzten, die schlichtes Recht, allgemeinen Anstand, alle Menschlichkeit des Fühlens, jede Gewissenhaigkeit des Tuns verhöhnten. Der Nordländer holte tief Lu. ›Wir wissen wohl, daß Sie als Engländer Gentlemen sind. Aber wollen wir doch die Sache beim Namen nennen. Warum sollten wir Sie so sehr lieben? Sie haben nichts getan, das Sie uns liebenswert machte. Natürlich lieben wir die anderen nicht. Die haben auch nichts getan, was das betri. Kommt da so ein Bursche mit einem Sack voll Geld … Ich bin nicht umsonst auf meiner letzten Reise in Rotterdam gewesen.‹
›Dann werden Sie vielleicht in der Lage sein, unseren Behörden etwas Interessantes zu erzählen, wenn Sie in den Hafen kommen‹, warf der Offizier ein. ›Das bin ich vielleicht. Aber Sie haben doch Ihre eigenen Leute in Rotterdam, die Sie bezahlen. Mögen die berichten. Ich bin ein Neutraler – oder nicht? … Haben Sie je einen armen Mann hier und einen Sack voll Gold dort gesehen? Natürlich lasse ich mich nicht in Versuchung führen. Ich habe nicht den Schneid dazu. Ich habe ihn wirklich nicht. Solche Versuchungen bedeuten mir nichts. Ich rede nur offen mit Ihnen, dieses eine Mal.‹ ›Ja. Und ich höre Ihnen zu‹, sagte der Kommandant ruhig. Der Nordländer lehnte sich über die Tischplatte. ›Nun, da ich weiß, daß Sie keinen Verdacht hegen, kann ich reden. Sie wissen nicht, was ein armer Mann ist. Ich weiß es. Ich bin selber arm. Dieses alte Schiff, es ist nicht viel damit, und es ist überdies noch beliehen. Bringt nur eben genug, um davon zu leben, mehr nicht. Natürlich hätte ich nicht den Schneid. Aber jemand, der den Schneid hat! Begreifen Sie? Der Kram, den er an Bord nimmt, sieht aus wie jede andere Ladung – Packen, Fässer, Dosen, Kupferröhren – was weiß ich. Er sieht nicht den Zusammenhang. Er bedeutet ihm nichts. Er sieht nur das Gold. Das bedeutet etwas. Natürlich könnte mich nichts verleiten. Ich leide an einer inneren Krankheit. Ich verlöre entweder den Verstand vor Angst – oder – oder – ich würde zum Säufer oder sonst etwas. Das Risiko ist zu groß. Es wäre der – Ruin!‹ ›Es sollte der Tod sein.‹ Der Kommandant erhob sich nach dieser knappen Erklärung. Der Nordländer quittierte sie mit einem steinernen Blick, der sich sonderbar mit einem Ungewissen Lächeln vermischte. Dem Offizier kam die Galle hoch in der Atmosphäre mörderischen Komplizentums, die ihn hier
umgab – dichter, undurchdringlicher, bitterer als der Nebel draußen. ›Es bedeutet mir nichts‹, murmelte der Nordländer und schwankte sichtbarlich. ›Natürlich nicht‹, pflichtete ihm der Kommandant bei. Es kostete ihn große Anstrengung, ruhig und leise zu sprechen. Die Gewißheit war stark in ihm. ›Aber ich werde mit Ihresgleichen unverzüglich aufräumen vor dieser Küste. Und mit Ihnen mache ich den Anfang. Binnen einer halben Stunde müssen Sie fort sein.‹ Als er das sagte, schritt der Offizier bereits über Deck, den Nordländer an seiner Seite. ›Wie! In diesem Nebel?‹ rief dieser heiser. ›Ja, Sie werden in diesem Nebel abziehen müssen.‹ ›Aber ich weiß doch gar nicht, wo ich bin. Ich weiß es wirklich nicht.‹ Der Kommandant wandte sich um. Eine Art Raserei hatte von ihm Besitz ergriffen. Die Blicke der beiden Männer trafen sich. Jener des Nordländers drückte tiefe Verwirrung aus. ›Oh, Sie wissen nicht, wie Sie hinauskommen sollen.‹ Der Kommandant sprach gesammelt, aber sein Herz klope vor Wut und Schrecken. ›Ich werde Ihnen den Kurs angeben. Steuern Sie ungefähr vier Meilen Ost-Süd-Ost, dann sind Sie klar und können nach Ost drehen, um Kurs auf Ihren Hafen zu nehmen. Das Wetter wird sich über kurz oder lang auellen.‹ ›Muß ich denn? Was könnte mich bewegen? ich habe nicht den Mut.‹ ›Und doch müssen Sie gehen. Es sei denn, Sie wollen – –‹ ›Ich will nicht‹, keuchte der Nordländer. ›Ich habe genug davon.‹ Der Kommandant stieg über die Leiter hinunter. Der Nordländer blieb wie angewurzelt auf Deck stehen. Bevor das Boot sein Schiff erreicht hatte, hörte der Kommandant, wie man
sich auf dem Frachter anschickte, den Anker aufzunehmen. Dann dampe er schattenha durch den Nebel auf dem angegebenen Kurs hinaus. ›Ja‹, sagte er zu seinen Offizieren, ›ich ließ ihn ziehen.‹« Der Erzähler neigte sich dem Sofa zu, wo keine Bewegung die Anwesenheit einer lebenden Person verriet. »Hören Sie«, sagte er nachdrücklich. »Der Kurs mußte den Nordländer geradenwegs auf eine tödliche Felsbank führen. Und der Kommandant gab ihm diesen Kurs an. Der Nordländer dampe hinaus – fuhr darauf – und ging unter. Dann hatte er doch die Wahrheit gesagt. Er wußte nicht, wo er war. Aber das beweist nichts. Nichts, so oder so. Es mag die einzige Wahrheit in dieser Geschichte gewesen sein. Und doch … Er schien von einem Blick hinausgetrieben worden zu sein – von nicht mehr.« Er ließ die Maske fallen. »Ja, ich gab ihm den Kurs an. Es erschien mir als eine höchste Probe. Ich glaube – nein, ich glaube nicht. Ich weiß nicht. Damals war ich sicher. Sie gingen alle unter; und ich weiß nicht, ob ich strenge Vergeltung geübt – oder gemordet habe; ob ich den Leichen, mit denen der Boden des unenträtselbaren Meeres übersät ist, Leiber von Menschen hinzugefügt habe, die vollkommen unschuldig waren oder schamlos schuldig. Ich weiß es nicht. Ich werde es nie wissen.« Er erhob sich. Die Frau auf dem Sofa stand auf und warf ihre Arme um seinen Hals. Ihre Augen bildeten zwei Funken in dem tiefen Schatten des Zimmers. Sie kannte seine leidenschaliche Wahrheitsliebe, seinen Schauder vor aller Täuschung, seine Menschlichkeit. »Oh, mein armer, armer – – –« »Ich werde es nie wissen«, wiederholte er düster, befreite sich, drückte ihre Hände an seine Lippen und ging hinaus.
INHALT Der Autor zu ›Falk‹, ›Amy Foster‹, ›Morgen‹ . . . . . . . . . . . . . . .
Falk . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Amy Foster . . . . . . . . . . . . . .
Morgen . . . . . . . . . . . . . . . .
Der schwarze Steuermann . . . . .
Prinz Roman . . . . . . . . . . . . .
Die Kriegerseele . . . . . . . . . . .
Die Geschichte . . . . . . . . . . . .
In neuer Übersetzung sieben Geschichten aus verschiedenen Schaffensperioden des großen Erzählers, verschieden auch in Gegenstand, Schauplatz und Ton, in den handelnden und leidenden Figuren. Ihr Gemeinsames: Conrags Kra zu fesseln, Conrads unverwechselbare Kunst.
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