Jörg Hagedorn · Verena Schurt · Corinna Steber Wiebke Waburg (Hrsg.) Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule
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Jörg Hagedorn · Verena Schurt · Corinna Steber Wiebke Waburg (Hrsg.) Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule
Jörg Hagedorn Verena Schurt · Corinna Steber Wiebke Waburg (Hrsg.)
Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16856-2
Festschrift für Leonie Herwartz-Emden
Grußwort
Tempora mutantur … – Ich denke gerne zurück an die Jahre mit Leonie Herwartz-Emden an unserem Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS), das wir Anfang der 1990er Jahre an der Universität Osnabrück gemeinsam aus der Taufe hoben. Leonie war, als anfangs einzige Frau an Bord, Mitbegründerin des IMIS. Sie hatte damals in der Forschungslandschaft schon markante und in der internationalen Fachöffentlichkeit vielbeachtete Spuren hinterlassen. Sie war und blieb eine kritische, bei Bedarf auch streitbare interdisziplinäre Querdenkerin mit einem erfrischenden Desinteresse an unnötigen Kompromissen. Heute blickt sie selber auf eine große Zahl von Schülerinnen und Schülern, die ihrerseits bereits vielerlei Forschungsspuren hinterlassen haben. Ich freue mich, zu denen zählen zu dürfen, die seinerzeit ein Stück weit dazu beitragen durften, Leonie den weiteren wissenschaftlichen Weg zu ebnen. Dabei denke ich an ein Wort meines verstorbenen alten deutsch-amerikanischen Freundes Fritz Redlich (Harvard University), dass es für einen Wissenschaftler nichts Schöneres gebe, als durch die Last derer, die auf seinen Schultern stünden, dereinst unter den Rasen gedrückt zu werden. Nehmen wir uns damit noch etwas Zeit, um zu sehen, wie es weitergeht mit Leonie, ihren Forschungsplänen und ihrer Forschungsgruppe. Beide Daumen dafür und herzlichen Glückwunsch zum 60. Geburtstag. Prof. Dr. Klaus J. Bade, Vorsitzender des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR), Berlin
Inhaltsverzeichnis
Einleitung............................................................................................................ 11 Gabriele Khan-Svik Ethnizität und Bildungserfolg – begriffsgeschichtlich und empirisch beleuchtet .................................................. 15 Hans Merkens Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund beim Spracherwerb in der Grundschule....................................................................... 33 Cornelia Braun & Volker Mehringer Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlungen und Schulerfolg bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund ............................................................................... 55 Britta Hoffarth & Isabell Diehm Migrationskindheit erzählt – Das Sprechen über sich selbst als Aneignung von Erinnerung ........................................................................... 81 Josef Strasser & Corinna Steber Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund – Eine empirische Reflexion einer bildungspolitischen Forderung ........................................................................... 97 Carol Hagemann-White Geschlecht und Gewaltprävention .................................................................... 127 Eva Breitenbach Zur Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit für die Arbeit im Elementarbereich .................................................................. 141
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Inhaltsverzeichnis
Wiebke Waburg & Verena Schurt Interdependente Geschlechtskonstruktionen in der Mädchenschule. Ein empirisch-intersektioneller Blick auf geschlechtersegregierte Lernkontexte ............................................... 159 Manuela Westphal Gender und Heterogenität in der politischen Bildung mit eingewanderten Frauen und Männern ........................................................ 189 Hildegard Macha Geschlecht und Erziehung in Familien und die doppelte Entgrenzung ................................................................................. 217 Werner Schneider Pluralität – Heterogenität – Heterotopie? Begrifflich-theoretische Anmerkungen zur Frage nach dem Wandel von Familie ..........................................................................237 Eva Matthes Zentrale wissenschaftliche Positionen zur aktuellen Situation der Familie und ihre Widerspiegelung in Sozialkundebüchern in Deutschland – ein Werkstattbericht............................. 257 Dorothea Bender-Szymanski Vom gerechten Umgang der Schule mit religiös-weltanschaulicher Heterogenität. Ergebnisse der Durchführung einer Lehr-Lernsequenz mit Schülerinnen und Schülern......................................................................... 269 Jürgen Budde Perspektiven für heterogenitätsorientierten Unterricht durch Projektarbeit in Lernbereichen in der Sekundarstufe I ........................... 295 Eva Lang, Frauke Grittner, Cornelia Rehle & Andreas Hartinger Das Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften im jahrgangsgemischten Unterricht der Grundschule....................................... 315
Inhaltsverzeichnis
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Markus Dresel, Gabriele Steuer & Valérie-D. Berner Zum Zusammenhang von Geschlecht, kultureller Herkunft und sozialer Herkunft mit Lernen und Leistung im Kontext von Schule und Unterricht .............................................. 333 Maria Hirschauer & Harry Kullmann Lehrerprofessionalität im Zeichen von Heterogenität – Stereotype bei Lehrkräften als kollegial zu bearbeitende Herausforderung .......................................................................... 351 Wassilios Baros Innovative methodische Zugänge für qualitative Forschung im interkulturellen Kontext............................................................................... 375 Jörg Hagedorn Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung – Über die Schwierigkeit, die Einheit in der Differenz zu denken ................................................................... 403
Autorinnen und Autoren ................................................................................... 425
Einleitung
Die vorliegende Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages von Leonie Herwartz-Emden spannt einen Rahmen auf, der die zentralen Arbeitsfelder und Forschungsbereiche von Leonie Herwartz-Emden aufnimmt, die sich auf den Zusammenhang von Heterogenität und Bildungserfolg beziehen. Mit dieser von ihr verfolgten Forschungslinie wird auf eine große Herausforderung im internationalen wie im deutschsprachigen Raum reagiert, nämlich Modelle für das Verstehen von und den Umgang mit Vielfalt in gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten zu finden. Heterogenität wird zunehmend mehr zum Leitbegriff der Beschreibung und Analyse eben dieser Vielheiten entlang der Dimensionen sozialer, kultureller und sprachlicher Herkunft und des Geschlechts, des Alters sowie individueller Voraussetzungen. Zum gesellschaftlichen Problem wird Heterogenität explizit dann, wenn mit Bildungs- und Sozialisationsbedingungen im Bezug auf bestimmte askriptive Merkmale (Geschlecht, Alter u.a.) systematische Ungleichheiten verbunden sind, die hinsichtlich gesellschaftlicher Teilhabe Benachteiligungen für gesellschaftliche Gruppen schaffen. Dies zeigt sich exemplarisch und sehr deutlich im Bildungssystem: Selektion findet vordergründig nicht über die eigentlichen Potentiale der Lernenden statt, sondern ist mit Merkmalen wie Geschlecht, ethnischer und/oder sozialer Herkunft u.ä. assoziiert. Dieser Befund ist insbesondere von Relevanz, weil dadurch gesellschaftliche Teilhabechancen einzelner Gesellschaftsmitglieder sowie verschiedener Bevölkerungsgruppen beschnitten werden und – gesamtgesellschaftlich betrachtet – wichtige Bildungsreserven ungenutzt bleiben. Der vorliegende Band will im Durchlauf durch die zentralen erziehungswissenschaftlich relevanten Felder Schule, Familie, Erwachsenenbildung sowie den jeweiligen Schnittmengen zwischen diesen Feldern einige Problemlagen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse und die daraus resultierenden Konsequenzen für die Aufwachsbedingungen und Bildungschancen Heranwachsender sowie daran beteiligter Erwachsener vor dem Hintergrund erziehungswissenschaftlicher empirischer Forschung eruieren. Für das Themenfeld „Familie“ wird etwa die Frage nach dem Wandel von Familienformen, dem Einfluss der Familie auf Übertrittsempfehlungen sowie
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Einleitung
nach dem Einfluss der sozialen Herkunft resp. des sozioökonomischen Status auf den Bildungserfolg von Kindern und Jugendlichen gestellt und diskutiert. Für das Themenfeld Schule und Erwachsenenbildung wird der Blick auf die Selektionskriterien im Bildungssystem gerichtet. Dabei wird der Fokus auf die Dimensionen Geschlecht, kulturelle und soziale Herkunft gelegt, und es wird einerseits die Frage nach ggf. ungesehenen Bildungs- und Leistungspotenzialen von Kindern und Jugendlichen aufgeworfen und diskutiert. Andererseits werden aber auch die Anforderungen an professionelles Lehrer(innen)handeln reflektiert bzw. wird eine professionelle Lehrer(innen)bildung unter der Perspektive von Heterogenität als pädagogische Herausforderung thematisiert. In den verschiedenen erziehungswissenschaftlich relevanten Feldern wird insbesondere das Themenfeld „Migration“ in den Mittelpunkt gerückt. Hier wird die Problematik der Bildungsgerechtigkeit in der Migrationsgesellschaft in Bezug auf die Bildungssituation von Kindern und Jugendlichen (sowie Erwachsenen) mit Migrationshintergrund beleuchtet. Für das Themenfeld „Geschlecht“ steht die Frage nach den Leistungs- und Bildungserfolgen von Jungen und Mädchen aus der Perspektive einer „geschlechtergerechten Pädagogik“ im Vordergrund. Übergreifend werden in diesem Sammelband die Dimensionen Geschlecht, kulturelle und /oder soziale Herkunft – auch in Bezug auf die Intersektionalität dieser mit anderen Dimensionen sozialer Ungleichheit – in den Blick genommen. Zentral ist in diesem Zusammenhang die Frage nach Gleichheit und Anerkennung in Aufwachs- und Bildungsbedingungen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Diesem Ansatz liegt die Annahme zugrunde, dass Teilhabe- und Bildungschancen Heranwachsender entgegen homogenisierender Modelle und Konzepte und entlang der jeweiligen heterogenen kulturellen und individuellen Besonderheiten analysiert und gestaltet werden müssen. Erst ein solcher Modus anerkennt die tatsachlichen und gegebenenfalls bisher ungesehenen Leistungsfähigkeiten und Bildungspotenziale von Heranwachsenden unter Berücksichtigung und Einbezug ihrer je individuellen, kulturellen und sozialen Besonderheiten. Der Band präsentiert sich als ein besonderer ‚Fundus‘ zu den Fragen von Heterogenität im Spannungsfeld von Migration, Geschlecht, Familie und Schule und somit zu den wissenschaftlichen Gegenständen, denen Leonie HerwartzEmden ihr wissenschaftliches Arbeiten und ihre Laufbahn mit großem Engagement widmet. Es finden sich fundierte Überblicksartikel, theoretische Denkanstöße sowie empirische Arbeiten, die mittels quantitativer oder qualitativer Ansätze unterschiedliche Heterogenitätsdimensionen in den Blick nehmen. Wir hoffen, dass die Beiträge ein möglichst breites Publikum erreichen und zu vielen Diskussionen um die Frage nach der Optimierung von Bildungschancen anregen.
Einleitung
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Viele Menschen waren an der Entstehung des vorliegenden Sammelbandes beteiligt. Unser Dank gilt an erster Stelle den Autorinnen und Autoren, deren Beiträge einen unseres Erachtens bislang einzigartigen Überblick zu den Schwerpunkten Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule in ihrer Vernetzung bieten und die in der Diskussion um Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung viele und neue Akzente setzen. Herzlich bedanken wir uns bei Cornelia Braun und Volker Mehringer für die anregenden Gespräche und kritischen Kommentare zum Gesamtkonzept der Festschrift. Ein großes Dankeschön gilt schließlich den studentischen Hilfskräften Stefanie Baumann, Julia Franken, Thomas Grunau und Matthias Matuschka für die kompetente Unterstützung bei der Redigierung des Buches. Wir wünschen alles Gute! Jörg Hagedorn, Verena Schurt, Corinna Steber & Wiebke Waburg
Gabriele Khan-Svik
Ethnizität und Bildungserfolg – begriffsgeschichtlich und empirisch beleuchtet
Ziele des vorliegenden Textes sind, den Begriff ‚Ethnizität’ in seiner Vielschichtigkeit, und daher Undeutlichkeit zu beleuchten, wobei vor allem Texte aus der Ethnologie/Kulturanthropologie einfließen, und in weiterer Folge, trotz aller Bedenken hinsichtlich der Prägnanz und Verwendbarkeit des Begriffes, auf einige empirische Studien Bezug zu nehmen, die Ethnizität neben anderen Variablen als Ursache von schulischem Misserfolg sehen.
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Kurzer Abriss über die Geschichte des Begriffs ‚Ethnizität’ – ein Blick über die Grenzen der Interkulturellen Bildungswissenschaft
1.1
Zur Entstehung des Begriffs ‚Ethnie’
Der Begriff ‚Ethnie’ ist vom Griechischen ‚ethnos’ (νΌΑΓΖ) abgeleitet, was „Menschengruppe mit nichtgriechischer, also fremder Daseinsform“ (Rudolph 1992, S. 60) bedeutete. Vom späten Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert war ‚ethnisch’ im englischen Sprachraum ein Synonym für „heidnisch“ (Eriksen 1993, S. 3). Heute wird unter Ethnie „eine Gruppe von Lebewesen, denen spezifische Daseinsbedingungen, Verhaltensmuster, Traditionen, Empfindungsweisen, moralische Grundsätze, Rechtsnormen, Charakterzüge und dieselbe Art zu denken gemeinsam sind [verstanden]. Es bildet ein eigenes System, was jedoch innere Differenzierungen und Untergliederungen keinesfalls ausschließt“ (Erny & Rothe 1992, S.101; Hervorhebung im Original). Ethnien sind nicht nur außereuropäische Stämme (tribes), der ursprüngliche Forschungsbereich von Ethnolog(inn)en, sondern auch die „europäischen Völker“ (Müller 1992, S. 179), die sich in den Dialekten oder im Brauchtum voneinander unterscheiden, oder Migrant(inn)en, wie z.B. Türk(inn)en aus Ostanatolien, Tschetschen(inn)en oder Griech(inn)en, die in (anderen) europäischen Staaten leben, bzw. die hispanics in den USA (vgl. Eriksen 1999, S. 40f.).
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Am Begriff ‚tribes’ bzw. in weiterer Folge ‚Ethnie’ ist zu kritisieren, dass im Zuge der Kolonialisierung die vor Ort lebenden Gruppen nach europäischem Verständnis – zur Unterstützung der Verwaltung der Kolonien – in die Kategorie ‚Stamm’ eingeteilt wurden, ohne Berücksichtigung der sozialen Strukturen, in denen die indigene Bevölkerung lebte. Georg Elwert weist darauf hin, dass sich „relevante Teile der Menschheit [...] als Heiratsklassen, Altersklassen, sozioprofessionelle Gruppen, Verwandtschaftslinien oder Lokalgruppen organisierten“ (Elwert 1989, S. 18) und keinesfalls in Stämmen nach europäischer Vorstellung. Wo es aber bereits Ethnien gab, war dies auch nicht gleichbedeutend damit, dass es sich um eine eindeutige und ausschließliche Zuordnung handelte, sondern es waren Mehrfachzugehörigkeiten und soziale Überschneidungen möglich. Eine Tatsache, die von den Europäern1 schlichtweg ignoriert wurde. 1.2
Die Breite und der Wandel des Begriffs ‚Ethnizität’
Der Begriff ‚Ethnizität’, ursprünglich dem Vokabular amerikanischer Soziolog(inn)en entstammend2, beschreibt ein Gegenkonzept zur melting-pot-Ideologie, die von einer Aufhebung der Herkunftsdifferenzen im Zuge der Assimilierung von Zuwanderer(inne)n ausgegangen war. Doch die gegenteilige Entwicklung trat ein: „The ethnic group in American society became not a survival from the age of mass immigration but a new social form” (Glazer & Moynihan 1970, S. 16; zitiert nach Sökefeld 2001, S. 2; siehe auch Glowka & Krüger 1988, S. 36). Im Sinne der new ethnicity3 kam es zu einer Neupositionierung entlang ethnischer Grenzen. Bezug nehmend auf diese Entwicklung fordert Stuart Hall sogar, dass jedes Individuum nicht nur durch die Zugehörigkeit zu einer Nation oder zu einer bestimmten kulturellen Ausprägung zu charakterisieren sei, sondern auch durch die Zugehörigkeit zu einer Ethnie (vgl. Larcher 2000, S. 85; insbesondere: Hall 1994, S. 23). Der Ausgangspunkt der Ethnizitätskonzepte liegt im Begriff ‚ethnische Identität’ – ein Begriff, der mit den Namen Erik Homburger Erikson und George
1 Es wird die maskuline Form des Substantivs verwendet, weil nur männliche Verwaltungsbeamte in den Kolonien tätig waren. 2 David Riesman 1953 hat diesen Begriff erstmals verwendet (Eriksen 1993). Obwohl Joshua A. Fishman nachweist, dass ‚ethnicity’ bereits Ende des 18. Jahrhunderts als englisches Wort bekannt war, wurde es erst Mitte des letzten Jahrhunderts in die Wissenschaftssprache aufgenommen (Fishman 1999, S. 446; siehe auch Sollors 2002, S. 97f.). 3 Ethnizität, die sich im Zuge der (Arbeits-) Migration reetabliert (Hall 2001) – in deutlicher Abhebung zu Ethnizität, die in traditionalen Gesellschaften zwischen Ethnien besteht.
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Herbert Mead verbunden ist4. ‚Ethnizität‘ und ‚ethnische Identität‘ werden heute (fast) synonym verwendet. Auch wenn Dieter Haller im Anschluss an Anthony Smith (1993) zu differenzieren versucht, dass ‚Ethnizität‘ und ‚ethnische Identität‘ Unterschiedliches bedeuten – während „Ethnizität die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe“ (Haller 1995, S. 12) beschreibt, kann sich darauf aufbauend unter gewissen Umständen ethnische Identität entwickeln –, hat sich diese Unterscheidung kaum durchgesetzt. Da der Begriff ‚Ethnizität’ in der Interkulturellen Pädagogik in ähnlich umfangreicher Form verwendet wird wie der Terminus ‚Kultur’, beides zentrale Begriffe, sollen dessen unterschiedliche Dimensionen nun kurz beschrieben werden. 1.2.1 Der etische5 und der emische6 Blick auf Ethnizität Eine Kontroverse, die in den 1970er Jahren begann, wurde abgehandelt entlang der Dimensionen Wahrnehmung und Zugehörigkeit: Der Objektivismus ging davon aus, dass die Wahrnehmung der Ethnien von außen (= etisch) aufgrund einer Zuordnung anhand von eindeutigen Merkmalen möglich sei, während der Subjektivismus ausschließlich auf das subjektive Zugehörigkeitsgefühl (= emisch) rekurrierte. Allerdings weist Marco Heinz darauf hin, dass die Vertreter/innen der subjektivistischen Richtung den Fehler begangen haben, die emische Analyseebene „als ‚subjektives Empfinden’ zu begreifen und nicht als von den Betroffenen objektiv erfahrbares Weltbild darzustellen“ (Heinz 1993, S. 170). Die Diskussion zwischen den beiden Richtungen ließe sich insofern auflösen, als beide Perspektiven als legitim und einander bedingend wahrgenommen werden sollten. Je nach konkretem Forschungsinteresse mag dann der einen oder der anderen Herangehensweise der Vorzug gegeben werden (vgl. Heinz 1993, S. 271). Dieser Forderung wird heute vielfach Rechnung getragen und die Zugehörigkeit zu einer Ethnie auf zwei Ebenen definiert – das Individuum bekennt sich zu ihr und identifiziert sich mit ihr und wird gleichermaßen von außen als zugehörig bestimmt.
4 Auf die Unterschiede dieser beiden Positionen einzugehen, würde den vorgegebenen Rahmen sprengen. 5 ‚Etisch’ bezeichnet den Blick von außen auf eine Ethnie. „Der Begriff ist vom linguistischen Terminus phonetisch abgeleitet, der sich auf die Aufnahme von in der Sprache gebrauchten Lauten bezieht, unabhängig davon, ob die Laute für die Sprecher einer besonderen Sprache bedeutungstragend sind oder nicht“ (Vivelo 1981, S. 317; Hervorhebung im Original). 6 Gegenbegriff zu ‚etisch’: der Blick von innen auf die eigene Ethnie. „Der Begriff ist vom linguistischen Terminus phonemisch abgeleitet, der sich auf bedeutungstragende Laute in einer Sprache bezieht“ (Vivelo 1981, S. 316; Hervorhebung im Original).
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1.2.2 Die ethnische Determiniertheit des Menschen Drei Ansätze lassen sich anführen, die von der ethnischen Determiniertheit des Menschen ausgehen: (1) Primordialismus7, (2) Soziobiologie und (3) Symbolismus. 1. Der Primordialismus geht davon aus, dass Ethnizität eine Konstante ist und als grundlegender Aspekt menschlicher Identität verstanden werden muss (vgl. Banks 1996; Phillipson 1999; Dittrich & Lentz 1995). Sozusagen von Geburt an beginnt jedes Individuum die Normen und Werte der Familie und der ethnischen Gruppe zu übernehmen und unverrückbar zu leben. Der Einzelne/die Einzelne wird daher als Repräsentant/in dieser Gruppe verstanden und sein/ihr individuelles Verhalten kann auf seine/ihre ethnische Zugehörigkeit zurückgeführt werden (vgl. Heinz 1993; Haller 1995). Obwohl dieser Ansatz kaum mehr Inhalt des wissenschaftlichen Diskurses ist, orientiert sich die Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit sehr wohl an solchen Vorstellungen und erweitert es auf folgende Kategorien: „verschiedene Sorten von Unterschieden (Sprache, Religion, regionale Herkunft, Kultur, ‚Rasse’ usw.) [werden verdinglicht und] die Existenz darauf gegründeter Gruppen“ postuliert (Sökefeld 2001, S. 2). 2. Während der Primordialismus Ethnizität durch den sozialen Raum bedingt sieht, geht die Soziobiologie noch einen Schritt weiter: Ethnizität wird als genetisch grundgelegt verstanden, sie wird als biologischer Instinkt interpretiert (vgl. Sokolovskii & Tishkov 1998). „Der Mensch ist hier zur Verwandtenselektion und damit zur Ethnizität programmiert“ (Heinz 1993, S. 312).
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Bevor auf die Darstellung der einzelnen Vorstellungen ethnischer Determiniertheit eingegangen wird, ist es unabdingbar, die Person Clifford Geertz’ ins rechte Licht zu rücken, sozusagen von der Zuschreibung des Primordialismus zu befreien. Er ist nicht als ein Vertreter des Primordialismus zu verstehen, wie es fälschlicherweise des Öfteren kolportiert wird, sondern gehört zu den Mitbegründern der symbolischen Anthropologie (Spencer 1998). Allerdings begann die Diskussion in Auseinandersetzung mit seinen Texten, in denen er primor- dial attachments (der Begriff wurde von Edward Shils 1957 kreiert [siehe Hutchinson & Smith1996, S. 8].) – „congruities of blood, speech, custom, and so on” (Geertz 1996, S. 41f.) – als Erklärung für die Aufrichtung von Grenzen und in weiterer Folge für die Entstehung von Konflikten zwischen Ethnien annahm. Er geht aber zum einen von vielen dieser Bindungen aus und nicht nur von Ethnizität. Zum anderen weist er darauf hin, dass es sich um eine Annahme seinerseits handelt, und nicht, dass er diese Bindungen tatsächlich bestätigen könne. Trotzdem wurde diese Passage – „blood, speech, custom“ – als Basis für die Entwicklung der primordialen Theorie von Ethnizität herangezogen, die nach Ansicht von Marco Heinz den ursprünglichen Geertz’schen Text bis zur Unkenntlichkeit entstellt habe (Heinz 1993, S. 274; siehe auch Cornell & Hartmann 1998).
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In der Ethnologie/Kulturanthropologie hat der soziobiologische Ansatz zwar kaum eine Rolle gespielt, doch weist Dieter Haller darauf hin, dass auch hier eine Übernahme in den Alltagsdiskurs stattgefunden hat. Es sind deutliche Ähnlichkeiten zu Humangenetik und Humanethologie festzustellen, und deren zunehmende Bedeutung in der öffentlichen und politischen Sphäre – er spricht sogar vom „paradigmatischen Wechsel zur Biologisierung des öffentlichen Diskurses“ (Haller 1995, S. 2; siehe auch Feagin 1990). Grundlage der beiden dargestellten Ansätze ist die Familie: im primordialistischen Denken deren soziale Funktion, in der Soziobiologie deren biologische Funktion. Darüber hinaus gehen beide Wissenschaftstraditionen davon aus, dass die Bindung zur Familie sich automatisch zur Bindung an die Ethnie weiterentwickelt, in einem weiteren Schritt dann möglicherweise zur Bindung an die Nation. Hierzu merkt Steve Fenton kritisch an, dass diese Annahmen nicht haltbar sind, da mehrere theoretische Ebenen unreflektiert vermischt werden, und dass sie außerdem schon vielfach widerlegt wurden (vgl. Fenton 1999). 3. Der Ansatz des Symbolismus schließlich beschäftigt sich mit Grenzziehungen zwischen Ethnien. Diese Grenzen werden innerhalb der Ethnie wahrgenommen und definiert. Nach Marco Heinz handelt es sich um „ein Symbolset [...], welches auf Dauer (wenn auch ständiger Modifizierungen unterworfen) die Gruppengrenzen markiert“ (Heinz 1993, S. 135), welches den dauerhaften Bestand von Ethnien sichert. Der Inhalt dieses Symbolsets kann vielfältig sein – Historisches, Rituale, Äußerlichkeiten etc. –, doch muss es für alle Mitglieder der ethnischen Gruppe verbindlich sein. 1.2.3 Ethnizität als gesellschaftliches Phänomen Im Gegensatz zur ethnischen Determiniertheit, wo Ethnizität nicht veränderbar und sozial oder biologisch gegeben ist, lässt die Betrachtung von Ethnizität als gesellschaftliches Phänomen zu, dass ethnische Zugehörigkeit sehr breit interpretiert oder sogar eine spezifische durch eine andere ersetzt werden könnte. Hier wären die Ansätze (1) Formalismus, (2) Instrumentalismus (Zirkumstantialismus) und (3) die Machtkonflikttheorien zu nennen. 1. Charakteristisch für den Formalismus8 ist, dass Ethnizität nicht als Phänomen einer Gruppe, wie z.B. im Symbolismus, betrachtet wird, sondern es kann nur zwischen Gruppen existieren, d.h. Ethnizität beschreibt nicht einseitig definierte und wahrgenommene Gruppencharakteristika, sondern wendet den Blick in Richtung Prozesse (vgl. Eriksen 1991). „Ethnicity is the enduring 8
Wesentlich beeinflusst von und verbunden mit dem Namen Fredrik Barth (1969 & 1994).
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and systematic communication of cultural differences between groups considering themselves to be distinct. It appears whenever cultural differences are made relevant in social interaction, and it should be studied at the level of social life, not at the level of symbolic culture” (Eriksen 2001, S. 7). 2. In Abhebung zum Primordialismus – und seiner rigiden Vorstellung von Ethnizität – und zum Formalismus, dem eine zu harmonische Sichtweise und ahistorische Herangehensweise vorgeworfen wird, setzen sich Instrumentalismus (amerikanische Anthropologie und Soziologie) bzw. Zirkumstantialismus (britische Anthropologie) damit auseinander, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Ethnizität entsteht. Obwohl beide Richtungen ähnlich argumentieren, indem sie Ethnizität als eine Interessengruppe betrachten, geht der Instrumentalismus zusätzlich von einem Ressourcenwettstreit miteinander konkurrierender ethnischer Einheiten aus (vgl. Heinz 1993). Auch hier gibt es einen Rückgriff auf primordiales Gedankengut – ungeachtet der Entstehung von Ethnizität als gesellschaftliche Kraft werden von den Beteiligten primordiale Argumente als subjektive Gründe angegeben. „Die Ideologen greifen zur Mobilisierung ‚ethnischer Gruppen’ bewußt auf Emotionen wie die ‚gemeinsame Abstammung’ und ‚dasselbe Blut’ zurück“ (Heinz 1993, S. 302; siehe auch Wicker 1998). 3. Die dritte Position, die Machtkonflikttheorie, steht dem Neomarxismus nahe. Im kapitalistischen Wirtschaftssystem nehmen z.B. Zuwanderer/innen fast immer die untersten Positionen ein. „Die kapitalistische Produktionsweise bringt erstens die Gruppen und Abteilungen der Arbeiterschaft in eine hierarchische Rangfolge; und sie produziert zweitens fortwährend symbolisch überhöhte ‚kulturelle’ Merkmale, durch die sich die einzelnen Gruppen voneinander unterscheiden“ (Wolf 1986, S. 525; zitiert nach Heinz 1993, S. 323). Personen und Gruppen ähnlicher ethnischer Herkunft können sich nun entlang dieser Ethnizität organisieren, um ihre Position zu stärken. Wobei Vertreter/innen der Machtkonflikttheorien nicht davon ausgehen, dass dies immer geschehen müsse, noch dass damit die einzige Ursache für die Bildung von Ethnizität angesprochen sei (vgl. Heinz 1993). 1.2.4 Ethnizität – relational und situational Ethnizität wird also heutzutage als etwas verstanden, das zwischen Gruppen stattfindet: „Ethnische Gruppe oder ethnische Identität können nur in der Beziehung zwischen gesellschaftlichen Gruppen Bedeutung erlangen“ (Fillitz 2003, S. 25), wobei Ethnizität und Kultur nicht deckungsgleich sein müssen. Ob und in welcher Form sich Ethnizität ausprägt und sich von anderen Ethnizitäten abhebt, hängt von einer Vielzahl an Einflussfaktoren ab (vgl. Wimmer 2008a & b).
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Des Weiteren wird davon ausgegangen, dass ethnische Identität ein Aspekt menschlicher Identitäten ist – ergänzt z.B. durch gender identity, religiöse Identität, kulturelle Identität oder nationale Identität (vgl. Rex 2001), um nur einige zu nennen –, dass dem Einzelnen also ein ganzes Bündel an Identitäten zur Verfügung steht. Diese Identitäten werden nicht abwechselnd eingesetzt, indem ich mich z.B. jetzt als Frau/Mann empfinde, in zwei Stunden als Staatsbürger/in eines europäischen Landes, am Abend als Tochter/Sohn, sondern als alle zugleich. Adrien Katharine Wing spricht in diesem Zusammenhang in der Pluralform von „multiplicative identities“ (Wing 2002, S. 163ff.), Cristina Allemann-Ghionda nennt es „polyphone Identität“ (Allemann-Ghionda 2002, S. 15) und Wolfgang Gröpel „polyvalente Identität“ (Gröpel 1999, S. 156). Welcher Aspekt der Identität aus dem Pool der miteinander verbundenen Identitäten aktuell nach außen gespiegelt wird, ist von den handelnden Personen und der Situation abhängig (vgl. Dannenbeck & Lösch 2000). 1.3
Ethnizität – Ethnizismus – Ethnisierung
Ethnizität war und ist ein dehnbarer Begriff und ähnelt, wie Richard Jenkins feststellt, einer russischen Puppe mit unterschiedlichen Schichten, er beschreibt sowohl die soziale Identifikation als auch die dahinterstehende Ideologie (vgl. Jenkins 1997; Giordano 1996). Diese beiden Bedeutungsebenen sollten allerdings im Sinne von begrifflicher Klarheit deutlich voneinander unterschieden werden, die Ideologie wird daher häufig in Anlehnung an ‚Nationalismus’ als ‚Ethnizismus’ bezeichnet. Dieser kann von den betroffenen Gruppen als politischer oder sozialer Kampfbegriff verwendet werden, Avtar Brah berichtet aber auch über Beispiele aus Indien, in denen die Zuteilung von zusätzlichen Ressourcen seitens Politik und Verwaltung an benachteiligte ethnische Gruppen auf eben diesem Ethnizismus beruht (vgl. Brah 2001). Ethnisierung heißt zum einen, dass die Ethnizität instrumentalisiert wird (ethnic mobilisation; Rex 1996, S. 90ff.) – „Ethnisierung wird also dort wirksam, wo aus einer ‚Ethnie an sich’ eine ‚Ethnie für sich’ wird, wo also objektive Kriterien Bedeutung erlangen und dazu dienen, eine Ethnie zu konstituieren und sie mit einem Wir-Gefühl auszustatten“ (Hummel & Wehrhöfer 1996, S. 21). Zum anderen dient es als Bezeichnung dafür, dass vielfältige soziale Probleme auf den Faktor ‚Ethnie’ reduziert werden (vgl. Griese 2002). Letzteres findet sich auf globaler Ebene in Huntigtons Ansatz des ,clashes of civilizations‘ (vgl. Hummel & Wehrhöfer 1996) ebenso wie auch auf schulischer Ebene, wenn Probleme von Migrant(inn)enkindern auf deren Zugehörigkeit zu einer Ethnie/Sprachgruppe zurückgeführt werden, ohne die anderen Einflussfaktoren zu erwähnen.
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Die Entstehung von ethnischen Konflikten ist dann möglich, wenn mehrere Komponenten zusammen treffen: Zum einen muss Ethnizität in der Gesellschaft als legitimes Differenzierungskriterium wahrgenommen werden, zum anderen muss ein Ungleichgewicht im Zugang zu unterschiedlichen Ressourcen gegeben sein, wie z.B. Einkommen, symbolisches Kapital, Berufspositionen, nationale Symbole (in multiethnischen Staaten z.B. welche Ethnie stellt die Staatsflagge, die Nationalhymne, die nationalen Rituale) etc. (vgl. Tambiah 1994). 2
Interkulturellen Pädagogik: Ethnizität als beeinflussender Faktor für Schulerfolg?
Im Zuge von Migration kann es im Aufnahmestaat zur Ausprägung von new ethnicity kommen, d.h. Migrant(inn)en können sich selbst als Ethnizität definieren (und damit einhergehend über ethnische Identität verfügen) bzw. können von anderen als solche wahrgenommen werden. Ethnizität kann somit als eine soziale Kategorie betrachtet werden, die ergänzend zu Kategorien wie z.B. sozioökonomischer Status oder Bildungsstatus der Familie Einfluss auf das Leben der Migrant/innen (Bildung, Beruf, Gesundheit und viele andere Aspekte) nehmen kann. 2.1
Ethnizität als soziale Kategorie
Es wird in pädagogischen empirisch quantitativen Studien kaum explizit nach der Ethnizität von Proband(inn)en gefragt9, doch findet meist eine Zuordnung aufgrund der Variablen ‚Nationalität/Staatsbürgerschaft’ oder ‚Sprachgruppenzugehörigkeit’ statt. Vor allem in den älteren Studien galt die Staatsbürgerschaft als wichtigstes (einziges) Kriterium (vgl. Diefenbach 2007). Eine zusammenfas-
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Wenn, dann findet sich in englischsprachigen Studien eine Zuordnung zu Ethnizität – siehe z.B. Andriessen und Phalet (2002) bzw. die Publikationen zu CILS (z.B. Rumbaut & Portes 2001; Portes 2005; Portes & Rumbaut 2005). Allerdings gibt es neuere Studien aus der Wirtschaftswissenschaft (Datenbasis: Deutscher SOEP 2001), die sich mit ‚ethnosizing’ als objektiv erhobener abhängiger Variable beschäftigen, also mit der Ausprägung der ethnischen Identität unter Migrationsbedingungen. Eines der Hauptergebnisse ist, dass nicht von einer linearen Zuordnung ausgegangen werden darf, sondern vom einem Sowohlals-auch – z.B. deutsch und griechisch oder deutsch und italienisch, in unterschiedlichen Graden (Zimmermann, Zimmermann & Constant 2007; Constant & Zimmermann 2008). Des Weiteren kann Assimilation oder Separation, Marginalisierung oder Integration in verschiedenen sozialen Bereichen stattfinden (Sprachverwendung, Kultur, ethnische Netzwerke, Migrationsgeschichte, ethnische Selbstidentifikation), und jeweils unterschiedlich gewichtet sein (Constant, Gataullina & Zimmermann 2006).
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sende Darstellung von in dieser Hinsicht ausgerichteten internationalen Studien kann Willem Fase (1994) entnommen werden. Nach Nationalität oder Erstsprache zu fragen, stellt aber eine verkürzte Herangehensweise dar. Am Beispiel der türkischen Migrant(inn)en sei dies kurz dargestellt: Sowohl die Frage nach Staatsbürgerschaft wie auch nach Sprachgruppe kann ähnliche Ergebnisse erbringen, nämlich ‚Türkisch’. (Sofern diese Person nicht bereits im Aufnahmeland eingebürgert ist.) Damit kann die Zugehörigkeit zu ethnischen Minderheiten, wie z.B. Kurden oder Tscherkessen und deren jeweils nicht-türkischen Erstsprachen, nicht erfasst werden10. Es kann auch nicht festgestellt werden, in der wievielten Generation sich diese Personen im Aufnahmeland befinden. Des Weiteren bleiben die Kompetenzen in der Sprache des Aufnahmelandes unberücksichtigt ebenso wie andere mögliche Einflussfaktoren. Auch die Voruntersuchung zur Grundschulstudie SOKKE11 (2004-2009) hat aufgezeigt, dass das Kriterium ‚Staatsbürgerschaft’ allein nicht geeignet ist, die komplexe Situation von Kindern mit Migrationshintergrund adäquat zu beschreiben (vgl. Herwartz-Emden 2005; Herwartz-Emden & Küffner 200612). Allerdings ist aufgrund des Aufwandes bei der Datenerhebung bzw. der Zugänglichkeit der Daten davon auszugehen, dass in den empirischen Studien kaum mehr als einige Kategorien herangezogen werden (können), um Ethnizität konkret zu erfassen. Ob und in welchem Ausmaß Ethnizität als beeinflussende Variable für Probleme im schulischen Fortkommen angesehen werden kann, soll nun exemplarisch anhand einiger Studien vorgestellt werden. 2.1.1 Ethnizität oder Sozialstatus? Die von Cornelia Kristen und Nadia Granato durchgeführte Analyse des deutschen Mikrozensus (Jahre 1991, 1993, 1995, 1996, 1997, 1998) erbrachte deutliche ethnische Unterschiede in Hinblick auf den Zugang zu Bildung: Personen griechischer Herkunft erreichen zu 45,5% Abitur/Fachhochschulreife, Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft zu 43,3%. Am unteren Ende der Skala finden sich Personen türkischer (23,1%), (ex-)jugoslawischer (22,9%) und italienischer Herkunft (19,2%) (vgl. Kristen & Granato 2004 & 2007). In der schrittweisen Anwendung differenzierterer Regressionsmodelle lässt sich allerdings belegen, 10
Zu den Implikationen der unter Kemal Atatürk durchgeführten Zwangsturkisierungen auf die Sprachkompetenzen in Türkisch siehe Briziü 2007. SOKKE = Sozialisation und Akkulturation in Erfahrungsräumen von Kindern mit Migrationshintergrund – Schule und Familie 12 Vgl. zu Ergebnissen der Studie auch den Beitrag von Braun & Mehringer in diesem Band. 11
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dass nur vordergründig die Interpretation in Richtung Ethnizität richtig ist. Wird die Bildung der Bezugsperson berücksichtigt, dann sind nur mehr (Ex-)Jugoslaw(inn)en und Italiener/innen deutlich unterrepräsentiert, Griech(inn)en hingegen deutlich überrepräsentiert. Wird auch noch die berufliche Stellung der Bezugsperson und deren Nettoeinkommen in das Modell aufgenommen, dann verschwinden alle Diskriminierungen, der positive Effekt von Personen griechischer Herkunft vergrößert sich allerdings nochmals (vgl. Kristen & Granato 2004; Kristen 2006). Ein Blick über die Grenzen des deutschsprachigen Raumes hinaus zeigt zu dieser Thematik Unterschiedliches: Eine niederländische Schulleistungsstudie (Reanalyse der Educational Cohort Study, 1993) belegt die größere Bedeutung des sozialen Hintergrunds im Vergleich zur Ethnizität (vgl. Van de Werfhorst & Van Tubergen 2007). Ähnliches kann in England und Wales nachgewiesen werden (Youth Cohort Study 1991–2000): Die Schichtzugehörigkeit ist der besten Prädiktor für Schulerfolg und zwar für alle Ethnien gleichermaßen (white, black, Indian, Pakistani/Bangladeshi; Rothon 2007). Die Untersuchung in den Niederlanden erbringt aber auch das interessante Ergebnis, dass zwar Unterschiede zwischen den Ethnien bestehen in Hinblick auf den Besuch höher qualifizierender Schulen, aber dahingehend, dass es sich um eine ethnische Bevorzugung handelt: „Turks, Moroccans, Surinames and Antilleans choose higher types of secondary schooling than natives with comparable class backgrounds” (Van de Werfhorst & Van Tubergen 2007, S. 432f.). Im Gegensatz dazu zeigen andere Daten aus den Niederlanden, dass genau diese vier Migrantengruppen eine dreimal so hohe Rate an Schulabbrecher(inne)n haben wie die Autochthonen (vgl. de Graaf & van Zenderen 2009). Dies ist abermals als ein Beleg für die schon mehrfach diskutierte Hypothese der bipolaren Bildungsstruktur bei Migrant(inn)en anzusehen (vgl. Bock-Schappelwein & Falk 2009). Die Schichtzugehörigkeit allein konnte in einer belgischen Untersuchung die Benachteiligungen der türkischen und marokkanischen Minderheiten in Belgien nicht erklären (vgl. Mikrozensus 1991–2001; Phalet, Deboosere & Bestiaenssen 2007), ebenso wie in Frankreich (Nationale Längsschnittstudie des Ministère de l’Éducation Nationale, 1995). Zwar entsprechen die Bildungserfolge der Migrant(inn)en im Allgemeinen jenen der französischen Jugendlichen, die aus ähnlich sozial benachteiligten Familien kommen, doch können die nordafrikanischen Jugendlichen die Bildungserwartungen ihrer Eltern nicht erfüllen – im Gegensatz zu den portugiesischen (vgl. Brinbaum & Cebolla-Boado 2007).
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Eine norwegische Studie (Educational Careers: Attainment, Qualifications and Transitions to Work) schließlich zeigt auf, dass zwar der soziale Status und die Bildung der Eltern Vieles erklären können, nicht aber die Unterschiede zwischen den drei größten Migrantengruppen: Türk(inn)en (geringster Bildungserfolg), Pakistani und Inder/innen (größter Bildungserfolg; vgl. Fekjær 2007). Daraus, und aus den Resultaten vieler anderen Untersuchungen (vgl. Khan-Svik 2008), ist der Schluss zu ziehen, dass zwar der sozio-ökonomische Status in manchen Studien größere Erklärungskraft als Ethnizität hat, aber er scheint nicht in allen Fällen ausreichend zu sein – d.h. es muss die Kombination dieser beiden Faktoren erwogen werden (vgl. Bryne 2009). 2.1.2 Ethnizität oder Kompetenzen in der Schulsprache? Schulbesuch unter internationalen Migrationsbedingungen hängt meist mit einem Wechsel des sprachlichen Umfeldes zusammen13, d.h. Kinder/Jugendliche sind mit einer Unterrichtssprache konfrontiert, die sich von der Familiensprache unterscheidet. Diese Schüler/innen haben nun eine doppelte Leistung zu vollbringen, nämlich einerseits die Schulsprache zu erwerben und andererseits, transportiert über diese erst zu erlernende Sprache, denselben Lernstoff zu absolvieren wie ihre Schulkolleg(inn)en, bei denen Unterrichtssprache und Familiensprache identisch sind. Die schulischen Leistungen vom Kindern/Jugendlichen mit Migrationshintergrund hängen daher wesentlich von den Sprachkenntnissen in der Schulsprache ab. Urs Moser konnte beispielsweise zeigen (Reanalyse zweier Datensätze aus Zürich), dass in der 6. Schulstufe, in der 8. Schulstufe in etwas abgeschwächter Form, die Leistungen im Fach Deutsch (= Unterrichtssprache) proportional zur Aufenthaltsdauer14 steigen. Die Mathematikleistungen hängen hingegen nur in geringem Maße von der Dauer des Aufenthaltes ab (vgl.Moser 2001). Werden die Variablen kognitive Leistungsfähigkeit, soziale Herkunft, Geschlecht und Aufenthaltsdauer kontrolliert, so zeigt sich, dass Jugendliche aus Albanien in der 6. Schulstufe signifikant schlechtere Deutschleistungen haben als alle anderen Migrant(inn)engruppen, deren Ergebnisse jenen der deutschsprachigen Schweizer/innen entsprechen (vgl. ebd.). Eine multivariate Detailauswertung des österreichischen PIRLS-Datensatz15 2006 bezieht neben der Ethnizität auch den familiären Sprachgebrauch16, ebenso 13
Eine Wanderung innerhalb desselben Sprachraumes wird hier ausgeklammert. … als Indikator dafür, wie lange die Schüler/innen schon Deutsch lernen, und in Folge davon wie gut ihre Deutschkenntnisse sind 15 PIRLS = Progress in International Reading Literacy Study, deutschsprachige Bezeichnung: IG-LU = Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung 14
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wie allgemeine Strukturmerkmale und Prozessmerkmale mit ein: Bei ausschließlicher Berücksichtigung der Ethnizität ergibt sich das gewohnte Bild – Migrantenkinder erbringen durchwegs schlechtere Leseleistungen. Wird der familiäre Sprachgebrauch kontrolliert, dann verringern sich zwar die Signifikanzen, bleiben aber für die türkische Gruppe und die Kinder mit BKS (Bosnisch, Kroatisch, Serbisch) als Erstsprache auffällig. Fließen auch noch allgemeine Strukturmerkmale (höchster Bildungsabschluss bzw. höchste berufliche Position der Eltern) bzw. Prozessmerkmale (kulturelles und soziales Kapital der Familie) ein, dann unterscheiden sich nur mehr die Testleistungen der Kinder mit türkischer Herkunft von den deutschsprachigen, alle anderen ethnischen Gruppen erbringen dieselben Testleistungen in Lesen (vgl. Unterwurzacher 2009). Auch hier lässt sich zusammenfassend feststellen, dass weder Ethnizität alleine noch die Kompetenzen in der Schulsprache bzw. der familiäre Sprachgebrauch eindeutige Ergebnisse bringen. 2.2
Ist die Kategorie ‚Ethnizität’ entbehrlich?
Wie die genannten Studien (und viele andere mehr) belegen, kann keine allgemein gültige Antwort auf die Frage gegeben werden, ob ‚Ethnizität’ eine entbehrliche Kategorie sei. Die Modalitäten von Migration und die daraus resultierenden Lebensumstände können sehr unterschiedlich sein, weswegen zwar immer von einem potenziellen Einfluss der ethnischen Zugehörigkeit auszugehen ist. Ob und in welchem Ausmaß die einzelnen ethnischen Gruppen davon betroffen sind, wird hingegen je nach Gruppenzugehörigkeit bzw. Situation jeweils neu zu klären sein. Ebenso wichtige Prädiktoren können der sozio-ökonomische Status bzw. der Bildungsstand der Eltern sein und die Kompetenzen, die die Schüler/innen in der Schulsprache erwerben konnten. Darüber hinaus könnten kulturelle Faktoren (vgl. Herwartz-Emden 2005a) oder Akkulturation als Erklärung herangezogen werden ebenso wie ethnische Segmentierung bzw. Segregation oder institutionelle Diskriminierung (vgl. Khan-Svik 2008). Cristina Allemann-Ghionda nennt des Weiteren die Qualität des Unterrichts, mangelhafte Kompetenzen der Lehrpersonen in Diagnostik und Leistungsbeurteilung und eine zu geringe Förderung von Bilingualität als Erklärungsansätze für mangelnden Bildungserfolg (vgl. Allemann-Ghionda 2006), außerdem wird in der Lehrer/innenbildung zu wenig auf den Umgang mit kultureller Diversität Bezug genommen. Auf schulorganisatorischer Ebene kann auch die Struktur des Schulsystems einen Einfluss haben. 16
… ebenfalls als Indikator dafür, wie gut die Deutschkenntnisse der Schüler/innen sind
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Um der Vielschichtigkeit gerecht werden zu können, scheint es angebracht, möglichst viele Daten zu Beeinflussungsfaktoren zu erheben und einfache statistische Auswertungen durch multivariate Analysen zu ersetzen, denen komplexe Modelle zugrunde liegen. Beispiele dafür finden sich in der neueren Fachliteratur (siehe z.B. Herwartz-Emden, Reiss & Mehringer 2008; Watermann & Baumert 2006; Unterwurzacher 2009). 3
Ein Gedanke zum Abschluss
An den dargestellten empirischen Studien ist zu kritisieren, dass es m.E. kaum gelang, die Prozesshaftigkeit und situationale Einbettung von Ethnizität zu erheben. Zwar wurde versucht die Mehrdimensionalität einfließen zu lassen – z.B. hatten Wolfgang Gröpel und Martin Urbanek insgesamt drei Variablen, aus denen sie die ethnische Zugehörigkeit ableiteten: Erstsprache, Ethnie nach Selbsteinschätzung und Staatsbürgerschaft, die sich faktorenanalytisch zu ‚Regionale Herkunft’ zusammenfassen ließen (vgl. Gröpel & Urbanek 1999; ähnlich differenziert wurde in der Studie SOKKE vorgegangen) – doch blieb der interaktive Aspekt bisher eher unberücksichtigt. Studien, die sich mit der Entwicklung und Ausprägung von Ethnizität bzw. ethnischer Identität bei Kindern/Jugendlichen mit Migrationshintergrund auseinandersetzen (vgl. u.a. Schönpflug 2000; Merkens u.a. 2001; Raithel & Mrazek 2004; Weiss 2007), sehen diese als abhängige Variable und hinterfragen deren Entstehungsbedingungen. Was jedoch fehlt, ist die Betrachtung des Einflussfaktors Ethnizität auf Bildungserfolg in seiner gesamten Komplexität, wahrgenommen als Itembündel und als relational, variabel bzw. situationsspezifisch. Literatur Allemann-Ghionda, Cristina (2002): Mut zur Pluralität. Interkulturelles Lernen als Handlungsfeld der allgemeinen Pädagogik. Erwachsenenbildung 48 (1), S. 14-18. Allemann-Ghionda, Cristina (2006): Klasse, Gender oder Ethnie? Zum Bildungserfolg von Schüler/innen mit Migrationshintergrund. Zeitschrift für Pädagogik 52 (3), S. 350-362. Andriessen, Iris; Phalet, Karen (2002): Acculturation and School Success: A study among minority youth in the Netherlands. Intercultural Education 13 (1), pp. 21-36. Banks, Marcus (1996): Ethnicity: anthropological constructions. London: Routledge. Barth, Fredrik (1969): Parthan Identity and its Maintenance. In: Fredrik Barth (ed.): Ethnic Groups and Boundaries. Boston: Little, Brown and Co, pp. 117-134. Barth, Fredrik (1994): A Personal View of Present Tasks and Priorities in Cultural and Social Anthropology. In: Robert Borofsky (ed.): Assessing Cultural Anthropology. New York: McGrawHill, pp. 349-360.
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Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund beim Spracherwerb in der Grundschule
1
Die Ausgangsposition
Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund erzielen im deutschen Schulsystem einen durchschnittlich geringeren Bildungserfolg als deutsche Kinder und Jugendliche (vgl. z.B. Lehmann u.a. 2002, S. 148ff.; Powell & Wagner 2002; Bos, Lankes, Prenzel, Schwippert, Walther & Valtin 2003; Schründer-Lenzen & Merkens 2006; Prenzel 2007; Stanat 2008). Für die Schweiz gibt es ähnliche Ergebnisse (vgl. Kronig 2002). Der Bildungsnachteil von Kindern mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem wird seit mehr als 20 Jahren immer wieder belegt (vgl. z.B. Bott, Merkens & Schmidt 1991; Arbeitsgruppe „Bildungsbericht“ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung 1994; Gogolin 1994; Herwartz-Emden 2003)1. Er ist in den PISA-Studien nochmals bestätigt worden (vgl. Baumert & Schümer 2001 & 2002; OECD 2001; Ramm, Walter, Heidemeier & Prenzel 2005; Prenzel 2007). Bei IGLU finden sich Hinweise darauf, dass Disparitäten der Kinder mit Migrationshintergrund zu den deutschen Kindern bereits in der Grundschule bestehen (Schwippert, Bos & Lankes 2003; Schwippert, Stubbe, Freiberg & Hornberg 2007). Empirisch ist noch nicht geklärt, wieweit der bei PISA berichtete Effekt, dass Jugendliche mit Migrationsstatus innerhalb des Bildungssystems bei der Unterstützung ihrer Bildungskarrieren benachteiligt sind, in der Sekundarstufe I, in der Primarstufe oder in der Vorschule verstärkt bzw. abgeschwächt wird2. Es gibt 1 Kinder mit Migrationshintergrund schneiden auch in anderen Ländern, die an den OECD-Studien teilgenommen haben, schlechter ab als die Kinder der jeweiligen autochthonen Gesellschaft (OECD 2001, S. 18). So stehen die Empfehlungen, die die OECD (2002, S. 58ff.), auch als Reaktion auf die Ergebnisse von PISA, formuliert hat, unter der Überschrift „Den Einfluss des familiären Hintergrunds verringern“. Aber die Benachteiligungen der Kinder mit Migrationshintergrund sind in Deutschland größer als im Durchschnitt der anderen Länder (OECD 2001, S. 18). 2 Diese Frage wird im Folgenden nur für die Grundschule verfolgt, weil die Stichprobe aus Kindern der Grundschule gezogen worden ist.
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nur wenige Untersuchungen zu der Frage, wo die Ursachen für den geringeren Schulerfolg dieser Kinder bzw. Jugendlichen auf den verschiedenen Schulstufen liegen: Bildungsverläufe werden bisher selten untersucht. Erst auf dieser Basis könnten aber Ursachen für Wirkungen identifiziert werden3. Für den unbefriedigenden Forschungsstand zum Spracherwerb und dem Schulerfolg bei Kindern mit Migrationshintergrund lassen sich verschiedene Ursachen identifizieren. Bei der Mehrzahl der bisher durchgeführten Untersuchungen handelt es sich um Querschnittsuntersuchungen. Aus Differenzen, die sich zwischen Kindern mit Migrationshintergrund und Kindern der autochthonen Bevölkerung ergeben, werden Kausalannahmen über mögliche Ursachen entwickelt. Im Prinzip werden ex-post-facto-Hypothesen aus Befunden hergeleitet und anschließend anhand derselben Daten geprüft. In vielen Untersuchungen mit einem anderen Design sind die Stichproben sehr klein4. In vielen Fällen mangelt es an einem experimentellen Design mit einer Versuchs- und einer Kontrollgruppe (vgl. Hopf 2005). Dabei darf nicht übersehen werden, dass es auch sehr große Probleme bereitet, ein experimentelles Design zu realisieren (vgl. Söhn 2005a). Wenn nach dem Vorbild eines quasiexperimentellen Designs eine Versuchsund eine Kontrollgruppe gebildet worden sind, ist in aller Regel der erste Messzeitpunkt nicht vor den Beginn der Untersuchung gelegt worden. Trotz des unbefriedigenden Standes der Forschung zu möglichen Ursachen bleibt festzuhalten, dass Kinder mit Migrationshintergrund im Vergleich zu deutschen Kindern im Durchschnitt erhebliche Sprachdefizite aufweisen (vgl. Baumert & Schümer 2001 & 2003; Stanat 2006 & 2008; Schwippert, Bos & Lankes 2003)5. Die Debatte, die darüber geführt worden ist, wo die Ursachen zu suchen sind und welche Lösungen sich anbieten, ist häufig von Behauptungen wie z.B. der geprägt worden, dass die geringen Erfolge von Kindern mit Migrationshintergrund darin begründet seien, dass keine Alphabetisierung in der Muttersprache erfolge, sondern die Kinder nur in der Zielsprache Deutsch unterrichtet würden6. Generell hat sich, wenn es Untersuchungen zu bestimmten Fragestellungen gab, eine Tendenz gezeigt, aus der Forschung vor allem die Befunde zu zitieren, die die 3
Abhilfe ist hier von dem Bildungspanel zu erwarten. Auf der Basis kleiner Stichproben können keine allgemeingültigen Aussagen gewonnen werden (vgl. Hopf 2005; Söhn 2005a). 5 Wenn Schwippert, Bos und Lankes (2003) ihre Ergebnisse erläutern, sprechen sie öfter expressis verbis von Vermutungen, sobald sie auf mögliche Ursachen verweisen. Das zeigt, dass es keinen nennenswerten Forschungsstand zu diesen Fragen gibt. 6 Diese Aussage mag plausibel klingen, sie ist aber bis heute nicht durch entsprechende Untersuchungen bestätigt worden (zum Forschungsstand vgl. Hopf 2005). 4
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
35
eigenen Überzeugungen stützten und nicht danach zu fragen, wie seriös die Untersuchungen gewesen sind, die als Beleg herangezogen wurden (vgl. dazu Hopf 2005; Söhn 2005a & b). Die Untersuchung, aus der im Folgenden Ergebnisse berichtet werden, ist mit dem Ziel durchgeführt worden, Aufschlüsse darüber zu gewinnen, wie sich der Spracherwerb in der Grundschule bei Kindern mit Migrationshintergrund entwickelt. 2
Spracherwerb
Die Kompetenzen Lesen und Schreiben sind in den Industriegesellschaften wichtige Voraussetzungen für die gesellschaftliche Teilhabe. Lebenschancen hängen damit zusammen. Deshalb sind Erkenntnisse dazu, wie der Spracherwerb allgemein und der Schriftspracherwerb speziell in der Grundschule aber auch den Schulformen auf der Sekundarstufe erfolgen, von großer Bedeutung. Dabei interessiert im Folgenden, welches Wissen es bezüglich des Spracherwerbs bei Kindern mit Migrationshintergrund gibt. Zu dieser Fragestellung liegen keine eindeutigen wissenschaftlichen Befunde vor. Das hängt u.a. damit zusammen, dass in der Forschung aber auch als Basis für die Optimierung des Spracherwerbs auf unterschiedliche Theorien rekurriert worden ist. Nach Ehlich (2005) sind für Sprache in der linguistischen Tradition verschiedene Konzepte entwickelt worden. Er hat dabei zwischen der griechisch-lateinisch basierten Grammatik- und einer pragmatischen Konzeption unterschieden. In der Praxis des Deutschunterrichts hat lange Zeit die zuerst benannte Variante dominiert. In Anlehnung an diese Praxis haben sich Überlegungen zum Spracherwerb häufig an Methoden orientiert, die in der Grundschule allgemein oder speziell beim Zweitspracherwerb eine Rolle spielen. Dabei hat im ersteren Falle nicht der Spracherwerb allgemein, sondern der Schriftspracherwerb in der Grundschule im Zentrum des Interesses gestanden7. Gemäß Hanke (1997) gibt es eine Vielfalt von Untersuchungen zu diesem Thema, die von der Entwicklung von Modellen zur Beschreibung von Schriftspracherwerbsprozessen bis hin zur
7 Während der Spracherwerb in allen Kontexten stattfindet, in denen sich Kinder bewegen, wird der Schriftspracherwerb als eine Variante vor allem in der Grundschule trainiert und hat den Erwerb einer formalisierten Sprache zum Ziel. Dabei wird traditionell besonderer Wert auf Orthographie und Grammatik gelegt.
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Hans Merkens
Suche nach Möglichkeiten reichten, Schwierigkeiten in diesem Prozess möglichst frühzeitig zu erkennen8. Wichtiger als die Diskussion über das angemessene methodische Vorgehen beim Schriftspracherwerb in der Primarstufe sind für die Untersuchung, über die im Folgenden berichtet wird und in der ein Aspekt der Lesekompetenz getestet worden ist, Arbeiten, in denen allgemeine Bedingungen für den Spracherwerb theoretisch modelliert, sowie empirisch überprüft worden sind. Dabei hat sich das phonologische Bewusstsein als eine zentrale Variable erwiesen (Schneider 2001). Neuere Untersuchungen lassen aber erkennen, dass für die Grundschule dem Vorwissen, z.B. dem vorhandenen Wortschatz am Beginn der Grundschule, noch größere Bedeutung zukommt (Limbird 2006), so dass alleine das Training des phonologischen Bewusstseins nicht auszureichen scheint. Kinder mit Migrationshintergrund müssen spätestens im Rahmen der schulischen Bildung in einer Zweitsprache lernen, kompetent zu kommunizieren. Mit dem Begriff Zweitspracherwerb ist die Annahme verbunden, dass Kinder mit Migrationshintergrund zumindest rudimentär eine Erstsprache, ihre so genannte Muttersprache, erworben hätten und spätestens mit dem Beginn der Grundschule gezwungen wären, eine Zweitsprache, Deutsch, zu erlernen. Wieweit diese Annahme als zutreffend angesehen werden kann, ist von den jeweiligen Vertreter(inne)n der Position nicht weiter überprüft worden. Geht man vom Begriff ‚Zweitspracherwerb‘ aus, dann besteht die Leistung darin, Bedeutungsgehalte aus der einen Sprache in eine andere Sprache zu transformieren, d.h. Annahmen zu Art und Qualität der erforderlichen Übersetzungsleistungen aus der Erst- in die Zweitsprache stehen im Zentrum. Vor diesem Hintergrund hat es nahegelegen, auf Erfahrungen zurückzugreifen, die beim Erlernen von Deutsch als Fremdsprache gesammelt werden konnten. So herrscht eine an der Grammatik und Orthographie orientierte linguistische Variante vor9. Sie bilden daher wesentliche Bestandteile im Anfangsunterricht in der ersten Klasse. Die bisher benannten Zusammenhänge beim Unterricht von Kindern mit einer nichtdeutschen Herkunftssprache komplizieren sich in einem Modell von Fishman (1968), der zwischen formaler und informeller Sprache unterschieden hat. Hochsprachen – die in der Schule erlernte Variante einer Sprache ist hierzu zu rechnen – sind immer formale Sprachen. Alltagssprachen zählen demgegenü8 Zunächst hat die Diskussion über die Vor- und Nachteile der analytischen bzw. synthetischen Vorgehensweise beim Schriftspracherwerb die Debatte bestimmt (vgl. z.B. Bittner 1994; Gerhardt 1995; Kirschock u.a. 2002). Inzwischen verläuft die Auseinandersetzung zwischen Vertretern der lernwegsorientierten (Dehn 1994) und einer lehrgangsorientierten (Metze 1994) Variante (Schründer-Lenzen & Merkens 2006). 9 Das hat sich vor allem bei den theoretischen Überlegungen in den 1980er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gezeigt, wenn auf die kontrastive Linguistik oder den Interlanguage-Ansatz verwiesen wurde, um nur zwei Beispiele zu benennen.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
37
ber zu den informellen Sprachen. Schriftspracherwerb in der Schule bedeutet für Muttersprachler/innen, dass eine informelle Sprache von einer formalen Sprache überlagert wird. Für Kinder, die eine andere Variante einer informellen Sprache beherrschen, das sind Kinder mit einer anderen Muttersprache, resultiert daraus das Problem, dass sie eine formale Sprache erwerben sollen, zu der ihnen das informelle Pendant fehlt. Diese Fragestellung hat in der bisherigen Forschung keine Rolle gespielt. Ebenso ist bisher wenig Wert auf eine an der Pragmatik orientierte Variante des Zweitspracherwerbs für die Schulen im Unterricht von Kindern mit Migrationshintergrund entwickelt worden. Die Überlegungen zum Schriftspracherwerb, wie sie bis hier dargestellt worden sind, zeigen an, dass der Spracherwerb in der Schule, vor allem dann, wenn er nicht in der Muttersprache erfolgt, eine Reihe von Fragen aufwirft. Zunächst erweist sich die einfache Annahme, dass beim Spracherwerb nur Regeln des angemessenen Kodierens und Dekodierens in Bezug auf Sprache erworben werden müssten, als nicht mehr hinreichend. Deshalb genügt beim Schriftspracherwerb die Konzentration auf Orthographie und Grammatik wahrscheinlich nicht10. Lesen erfordert ebenfalls mehr als nur das Dekodieren geschriebener Sprache. Vielmehr muss zumindest auch selektiert werden, d.h. es müssen dem Text Informationen entnommen werden, die ihre Bedeutung erst im jeweiligen Kontext gewinnen (vgl. Smith 1994)11. Rumelhart (1994) hat das Modell nochmals dahin spezifiziert, dass beim Lesen Bedeutungszuschreibungen auf der Basis des Kontextes erfolgen, in dem das jeweilige Wort steht. Dieser Ansatz passt im Prinzip besser zu der lernwegsorientierten Vorgehensweise beim Schriftspracherwerb am Beginn der Grundschule (vgl. Kirschock, Einsiedler, Treinies & Martschinke 2002). Dabei wird von Beginn an der Zusammenhang zwischen gesprochener und geschriebener Sprache herausgefordert, sowie der Prozess der Sinnentnahme beim Lesen mehr beachtet. In diesem Fall interessieren zuerst die Wahrnehmungsprozesse und die Prozesse der Regelbildung beim Lernenden (vgl. Dehn 1994)12. Dieser Prozess wird wahrscheinlich befördert, wenn gemäß der Modellierung von Fishman (1968) eine informelle Variante der Sprache beherrscht wird, über die ein kontextspezifisches Verständnis befördert werden kann. International liegt eine Reihe von Untersuchungen zu der Frage vor, ob eine bilinguale Erziehung in der Schule erforderlich sei, um die Bildungschancen von Kindern mit Migrationshintergrund systematisch zu verbessern. Dabei sind ver10 Verschriftlichung von Sprache bedeutet auch, dass ein hinreichendes Maß an Redundanz in den Text aufgenommen wird, weil auf diese Weise die Entschlüsselung des Textes leichter fällt. Das Muster der Pragmatik, das Platzieren der Wörter im Kontext, ist auch für die Verschriftlichung entscheidend. 11 In der Grundschule wird das durch die systematische Erarbeitung des Wortschatzes angestrebt. 12 Unterschiedliche Varianten zum Leseverständnis sind bei Voss, Carstensen und Bos (2005) sowie Blatt und Voss (2005) dargestellt.
38
Hans Merkens
schiedene Varianten unterschieden worden (vgl. Söhn 2005a). Inzwischen gibt es mehrere Meta-Analysen, in denen versucht wird, den Forschungsstand zu bilanzieren (Rossell & Baker 1996; Greene 1998; Slavin & Cheung 2005; Rossell & Kuder 2005). Allerdings vermitteln diese Meta-Analysen unterschiedliche Ergebnisse (Söhn 2005b). Es gibt bei einer kritischen Sichtung der vorliegenden Literatur zu Untersuchungen nur deutliche Hinweise dafür, dass sich keine negativen Effekte der bilingualen Erziehung für den Erwerb der so genannten Zweitsprache ergeben und dass Unterricht in der Erstsprache bei diesen Kindern nicht schadet (Söhn 2005a)13. Gegenwärtig werden in Deutschland zwei weitere Hypothesen favorisiert, wenn es darum geht, Gründe für den Erfolg oder Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund im Bildungssystem zu benennen. Erstens ist die time-ontask-Hypothese von Carroll (1963) zu nennen, die Hopf (2005) stark gemacht hat. Nach dieser Hypothese fördert vermehrter Unterricht in Deutsch den Schulerfolg der Kinder mit Migrationshintergrund nachhaltig (Barnitzky & SpeckHamdan 2005). Inzwischen liegen viele Untersuchungen vor, in denen geprüft worden ist, wieweit eine gezielte Orientierung im Sinne der Fokussierung von Unterrichtszeit auf einen Lerngegenstand zu einer Verbesserung der Lernergebnisse bei diesem Lerngegenstand führt. Die dabei erzielten Ergebnisse sind widersprüchlich (vgl. Roelofs, Veenman & Raemarkers 1994). Von dieser Vorgehensweise kann eine andere unterschieden werden, bei der im Prinzip die Gesamtdauer der Zeit abzuschätzen versucht wird, die für den Erwerb der Sprachkompetenz zur Verfügung stand. Untersuchungen dieses Typs ziehen beispielsweise die Dauer des Aufenthaltes von Schülerinnen und Schülern im Gastland in die Analysen mit ein. Hier gibt es positive Befunde dafür, dass eine längerer Aufenthaltsdauer sich günstig auf die Schulleistungen auswirkt (vgl. z.B. Cortes 2006; Stanat 2006). Aus diesen Resultaten lässt sich schlussfolgern, dass die Dauer der Zeit, die Kinder in Kontexten verbringen, in denen die Zielsprache gesprochen wird, zu einer besseren Beherrschung dieser Sprache führen wird. Deshalb wäre z.B. zu prüfen, ob der Besuch eines Kindergartens günstige Auswirkungen hat. Dabei kann zusätzlich davon ausgegangen werden, dass dort eher die informelle Variante der Sprache Deutsch vermittelt wird und das formale Training der deutschen Sprache zumindest bisher eine geringere Rolle gespielt hat.
13 Allerdings muss einschränkend darauf verwiesen werden, dass es bisher nicht gelungen ist, alle möglichen Einflüsse in den Untersuchungen zu kontrollieren. So wird das Sprechhandeln in den Familien allenfalls unvollständig erfasst, um nur ein Beispiel zu benennen: Häufig wird in den Familien bei einem Teil der Kommunikation eine Variante der Zielsprache verwendet. Das geschieht z.B. wenn Geschwister sich in der Zielsprache und nicht in ihrer Muttersprache unterhalten.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
39
Unterstützung findet die These der Nützlichkeit des Kindergartenbesuchs durch eine Metaanalyse der Arbeiten, in denen die längerfristigen Wirkungen von Kompetenzen, über die die Kinder im vorschulischen Bereich verfügen, auf Kompetenzen in der Grundschule überprüft werden (LaParo & Pianta 2000)14. Allerdings werden in dieser Arbeit die Kriterien, die zum Ausschluss einer Arbeit bzw. deren Aufnahme in die Stichprobe der Metaanalyse geführt haben, nicht genau geschildert, so dass der Wert der Erkenntnisse nicht genau abgeschätzt werden kann. Folgt man aber den Ergebnissen, dann bestehen im kognitiven Bereich moderate Einflüsse des Entwicklungsstandes in der Vorschulzeit auf die Schulzeit, während es im sozialen und Verhaltensbereich eher schwächere Einflüsse zu geben scheint. Konkurrierend zur time-on-task-Hypothese gibt es zweitens die Humankapitalhypothese, nach der die familiären Voraussetzungen ein entscheidender Faktor für den Bildungserfolg auch der Kinder mit Migrationshintergrund sind15. Diese Hypothese ist vor allem durch die PISA-Studien nochmals verstärkt worden, wenn auf den Sozialstatus als entscheidende Variable für den Schulerfolg verwiesen worden ist (vgl. Baumert & Schümer 2002; Ramm u.a. 2004; Diefenbach 2005; Kristensen 2006)16. Sie ist in vielen Untersuchungen die zentrale These (vgl. auch Zöller, Roos & Schöler 2006). Zum humanen Kapital können am Beginn der Grundschule die kognitive Leistungsfähigkeit, über die Kinder verfügen, sowie deren Sprachstand in der Zielsprache Deutsch gerechnet werden. Walker, Greenwood, Hart und Carta (1994) haben über den negativen Einfluss von niedrigem Sozialstatus und Zugehörigkeit zu einer Minorität bei Kindern berichtet, bei denen die frühe Sprachproduktion mit ihren späteren Leistungen in Beziehung gesetzt wurde, wenn man diese Kinder mit Kindern verglich, deren Eltern einen höheren Sozialstatus aufwiesen – d.h. sie haben im Prinzip auch noch einmal die Humankapitalhypothese unterstützt. Allerdings mangelt es bisher an Untersuchungen, in denen systematisch versucht worden ist, eine der beiden Hypothesen zu bestätigen. Erschwerend muss 14
Hier sind genauere Aufschlüsse von der Forschergruppe aus Bamberg (Blossfeld, Faust-Siehl, Roßbach, Weinert) zu erwarten, die speziell den Übergang von der vorschulischen Erziehung, z.B. im Kindergarten, in die Grundschule untersuchen. Damit wird eine wichtige Forschungslücke geschlossen werden. 15 Die Humankapitaltheorie ist ursprünglich nicht eingegrenzt auf den Eintritt in die Grundschule und die in dieser Schulform verbrachte Zeit formuliert worden (vgl. Becker 1994; Solga 2005). Aus ihr lassen sich aber bestimmte Annahmen in Bezug auf humane Ressourcen am Beginn der Grundschule herleiten. Die kognitive Leistungsfähigkeit und die Beherrschung der deutschen Sprache können als humanes Kapital bestimmt werden, über das die Kinder am Beginn der Schule in unterschiedlichem Maße verfügen. 16 Kristensen (2006) legt dar, dass es sich bei der Benachteiligung der Kinder mit Migrationshintergrund in der Schule nicht um einen Akt der Diskriminierung, sondern um eine Auswirkung des sozioökonomischen Status handelt.
40
Hans Merkens
hinzugefügt werden, dass es sich nicht um Alternativhypothesen handelt, die sich wechselseitig ausschließen. Vielmehr können beide zutreffen. Der letzte Hinweis macht auf ein großes Defizit der bisherigen Schul- und Unterrichtsforschung aufmerksam: Es ist zu beklagen, dass es in Deutschland und auch international zu wenige Längsschnittstudien gibt, in denen der Schulerfolg von Kindern mit Migrationshintergrund untersucht und nach Gründen für deren schlechteres Abschneiden im Vergleich zu deutschen Kindern gefragt wird. Dabei wäre es wichtig, Bildungsverläufe über die Schulzeit, also Primar- und Sekundarstufe, abzubilden. Der Mangel hängt damit zusammen, dass Längsschnittstudien generell noch nicht so häufig durchgeführt werden17. Aufschlüsse über Verläufe und mögliche Gründe für solche Verläufe können aber erst auf der Basis von Längsschnittsuntersuchungen ermittelt werden. Inzwischen sind Untersuchungen begonnen worden, die vom Design her anspruchsvoller und damit geeignet sind, einige Schwächen der bisher durchgeführten Erhebungen zu beheben. Beispielsweise haben Moser, Stamm und Hollenweger (2005) im Kanton Zürich eine breit angelegte Studie zur hier interessierenden Fragestellung begonnen. Sie haben vor allem auch eine Messung der Eingangsqualifikationen und -kenntnisse bei den Schulkindern durchgeführt. Damit ist ein Desiderat der meisten bisher durchgeführten Untersuchungen behoben. Allerdings wird auch bei der Untersuchung in Zürich kein experimentelles Design realisiert. Das wird in aller Regel unter den Bedingungen der Schule nicht möglich sein, wenn längerfristige Untersuchungen durchgeführt werden müssen. 3
Untersuchungshypothesen
Bei der Untersuchung von Bildungsverläufen lassen sich verschiedene Ansatzpunkte unterscheiden. Auf der Basis des Humankapitalansatzes kann nach der Wirkung personaler Ressourcen auf den Schulerfolg gefragt werden. Weiterhin kann geprüft werden, ob sich die Lernzeit auf den Lernerfolg auswirkt. Außerdem empfiehlt es sich, bei Untersuchungen zum Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund Kompositionseffekte der Klasse in die Untersuchung mit einzubeziehen. Im Folgenden sollen drei Hypothesen geprüft werden, die sich in diesem Umfeld ansiedeln lassen. H1: Der Besuch vorschulischer Einrichtungen wirkt sich positiv auf den Bildungserfolg von Kindern mit Migrationhintergrund aus. 17
Das hängt erstens mit den hohen Kosten, zweitens aber auch mit spezifischen Problemen des Datenschutzes zusammen, weil in Längsschnittuntersuchungen parallel zu dem Datenfile eine Datei vorhanden sein muss, über die es gelingt, die Daten der einzelnen Wellen zusammen zu spielen.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
41
H2:
Personale Ressourcen, über die Kinder am Beginn der Schulzeit verfügen, haben einen wesentlichen Einfluss auf den jeweiligen Bildungserfolg. H3: Die Zusammensetzung der jeweiligen Klasse, der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund, beeinflusst den Bildungserfolg der Kinder mit Migrationshintergrund. Von diesen Hypothesen lässt sich die zweite unschwer dem Humankapitalansatz zuordnen. Die erste kann bei einer Bestätigung als Indikator dafür angesehen werden, dass eine längere Dauer der Beschäftigung mit der Zielsprache Deutsch einen positiven Effekt ausübt; sie kann also als eine Variante der time-on-taskHypothese betrachtet werden. Die dritte stellt eine Mischung dar18. Einerseits variiert die Dauer der Beschäftigung mit der Zielsprache Deutsch in der Regel mit den dort benannten Bedingungen. Vor allem Kinder der gleichen Herkunft können auch Zeit mit einer anderen als der deutschen Sprache in der Schule verbringen. Diese Wahrscheinlichkeit nimmt bei einem größeren Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in einer Klasse zu. Andererseits handelt es sich um einen Kompositionseffekt der Klasse. 4
Das Design der Untersuchung und Instrumente
Im Folgenden werden Ergebnisse einer Längsschnittstudie aus dem Projekt ‚BeLesen‘ berichtet, in dem der Schriftspracherwerb von Kindern mit Migrationshintergrund in Berlin untersucht wurde19. In Klassen mit einem hohen Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund sollten Bedingungen für einen verbesserten Lernerfolg dieser Kinder in der Grundschule ermittelt werden. Alle Grundschulen, aus denen Klassen in der Stichprobe vertreten waren, lagen im Westteil der Stadt in Quartieren, die im Sozialatlas von Berlin als durchschnittlich bis sozial schwach gekennzeichnet sind. Die Untersuchung wurde im Herbst 2002 im ersten Schuljahr begonnen20 und am Ende der vierten Klasse im Herbst 18 Es hat sich bei einer Zwischenauswertung herausgestellt, dass vor allem die Kinder mit einem türkischen Migrationshintergrund bei einem höheren Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in einer Klasse benachteiligt werden. Das kann man als Variante der time-on-task-Hypothese im hier vertretenen Sinn ansehen (vgl. auch Bellin 2009). 19 Das Projekt wurde von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport Berlin finanziert und wurde von Prof. Dr. Hans Merkens sowie Prof. Dr. Agi Schründer-Lenzen geleitet. 20 Für einen großen Teil der Stichprobe konnten die Daten der Einschulungsuntersuchung, soweit sie nicht medizinisch waren, zugespielt werden. Auf diese Weise konnten für die Kinder der vorschulische Sprachstand (nach Einschätzung der Mediziner/innen), der Besuch einer vorschulischen Einrichtung (nach Angaben der Eltern) und in vielen Fällen ein sozioökonomischer Status gebildet werden. Die Angaben zum Besuch der vorschulischen Einrichtung werden auf der Basis dieser ergänzenden Angaben im Folgenden als unabhängige Variable in die Analysen eingefügt.
42
Hans Merkens
2006 abgeschlossen. Jeweils halbjährlich wurden Schülerleistungen in Deutsch sowie Mathematik erhoben und ein bis zwei Monate später klassenbezogen an die jeweiligen Lehrkräfte zurückgemeldet21. Die Stichprobe setzte sich aus 55 Klassen an 26 Grundschulen zusammen. Es handelte sich um eine Längsschnittstudie, die in der Klasse 1 begonnen hat und mit dem Ende der Klasse 4 abgeschlossen worden ist. Auf ein Auswahlverfahren wurde bei der Zusammensetzung der Stichprobe verzichtet, es wurde nur als Bedingung formuliert, dass weniger als drei Zehntel der Schülerinnen und Schüler in den Klassen deutscher Herkunft sein durften. In der Stichprobe überwogen demnach Kinder mit Migrationshintergrund22. Es handelt sich um eine gelegentliche Stichprobe. Obwohl im Verlauf der Untersuchung etwa ein Drittel der Schülerinnen und Schüler als Schwund zu verzeichnen ist, hat sich die Komposition der Stichprobe kaum verändert, wie Tabelle 1 belegt. Tab. 1: Übersicht über die Entwicklung der Stichprobe zwischen Beginn Klasse 1 und Ende Klasse 423 Beginn Klasse 1
Ende Klasse 1
Ende Klasse 4
Schulen
26
26
25
Klassen
59
59
52
Gesamt
24
1237
1215
1188
Anzahl
N
%
N
%
N
%
Männlich
587
47,5
607
50
594
50
Weiblich
650
52,5
608
50
594
50
(14 ohne Angabe) Deutsch
378
30,6
363
29,9
335
28,3
Migration
859
69,4
773
63,6
854
71,7
(51 ohne Angabe)
Die Auswertung, die im Folgenden vorgestellt wird, basiert auf einer Nettostichprobe von 25 Schulen und 52 Klassen mit insgesamt 925 Kindern, von denen 21 Die Lehrerinnen wurden im Anschluss an die Rückmeldung befragt, wie sie ihren Unterricht im vergangenen halben Jahr gestaltet hatten und welche Schwerpunkte sie im nächsten Halbjahr in ihrem Unterricht setzen wollten. Über diesen Teil der Untersuchung wird hier nicht berichtet. 22 Die Verkehrszellen, in denen die Grundschulen lagen, wiesen nach dem Sozialindex von Berlin Werte zwischen 4 und 7 auf. Sie reichten also von einer mittleren bis zu einer sehr ungünstigen Lage. 4 Schulen lagen in Verkehrszellen mit mittlerer, 2 in einer mit niedriger, 9 in einer mit der ungünstigsten und 11 in einer mit ungünstiger sozialer Lage. 23 Der Schwund bei den Schulen resultierte daraus, dass eine Schule aufgelöst worden ist. Der Schwund bei den Klassen ergab sich durch Zusammenlegungen von Förderklassen. 24 Gesamtzahl der Kinder, die bei den einzelnen Messzeitpunkten teilgenommen haben.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
43
49,9% männlichen sowie 50,1% weiblichen Geschlechts waren und 29,4% deutscher sowie 70,6% nichtdeutscher Herkunft gewesen sind25. Um die Lesekompetenz zu erfassen und über die Jahre der Untersuchung miteinander vergleichbare Ergebnisse zu erhalten, wurde die Würzburger Leiseleseprobe WLLP (Küspert & Schneider 1998) – die Leseleistung wird als Dekodiergeschwindigkeit operationalisiert – zu allen hier interessierenden Messzeitpunkten eingesetzt. In der Mitte der ersten Klasse wurden die Hamburger Schreibprobe und am Ende der Klasse 4 ein C-Test eingesetzt. C-Tests sind so aufgebaut, dass ihnen eine Geschichte als Grundlage dient, die die Kinder kennen müssen und die oft deren Alltag entnommen ist. Nach einem kurzen vollständigen einleitenden Satz fehlt in allen folgenden Sätzen bei jedem zweiten Wort die zweite Hälfte der Buchstaben. Die Kinder müssen also auf der Basis einer eingeschränkten Information den Sinn des Textes rekonstruieren und dann die jeweiligen fehlenden Worthälften ergänzen26. Im November 2002 sind die Lehrerinnen gebeten worden, den Sprachstand ihrer Schülerinnen und Schüler einzuschätzen. Außerdem ist in der Mitte der Klasse 1 die kognitive Leistungsfähigkeit der Kinder mit vier Subtests des CFT erfasst worden.
25
Die Differenz zur Ausgangsstichprobe resultiert neben den in Anmerkung 22 genannten Umständen aus einer starken Binnenwanderung in Berlin. 26 C-Tests setzen im Sinne der eingangs zum Spracherwerb formulierten Theorien ein komplexes Verständnis beim Lesen voraus (vgl. auch Voss, Carstensen & Bos 2005).
44 5
Hans Merkens Ergebnisse der Untersuchung
Zunächst bleibt festzuhalten, dass alle Kinder, die an der Untersuchung teilgenommen haben, in den ersten vier Jahren der Grundschule Lernfortschritte erzielt haben. Weiterhin ist bedeutsam, dass alle Auswertungen, variablen- und nicht personenorientiert durchgeführt worden sind (Eye 2006). Tab. 2: Deskriptive Befunde Test
Gesamtstichprobe
Deutsche
Nichtdeutsche
Alpha
Mittel-
Streu-
Mittel-
Streu-
Mittel-
Streu-
wert
ung
wert
ung
wert
ung
Sprachstand
3,1
0,8
3,7
0,5
2,8
0,8
0,97
CFT
24,8
5,8
26,7
5,0
24,0
6,0
0,85
HSP
8,6
4,5
9,7
4,3
8,2
4,5
0,9
WLLP 1
27,4
16,3
33,3
18,4
25,0
14,6
0,97
WLLP 4
102,9
23,6
113,7
22,6
98,4
24,5
C-Test
35,5
8,5
40,3
7,7
33,5
7,9
In allen Tests haben zu den verschiedenen Messzeitpunkten die deutschen Schüler/innen durchschnittlich besser abgeschnitten als der Durchschnitt der Schüler/innen nichtdeutscher Herkunft. Insofern werden Befunde anderer Studien bestätigt27. Die Prüfung der Hypothesen erfolgt in einem ersten Schritt mit Varianzanalysen. Dabei wird als abhängige Variable jeweils das Abschneiden bei der Würzburger Leiselese Probe bzw. beim C-Test verwendet. Als Kovariaten werden die folgenden Variablen in die Analysen eingefügt: Die kognitive Leistungsfähigkeit, gemessen mit drei Subtests des CFT, der von den Lehrerinnen eingeschätzte Sprachstand im November 2002, der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in den jeweiligen Klassen und der Besuch einer Vorschuleinrichtung. Während die ersten beiden Kovariaten humanes Kapital abbilden, über das die Kinder am Beginn der Grundschule verfügt haben, wird mit der dritten ein Kompositionseffekt der jeweiligen Klassen erfasst. Die vierte wird als Maß für die gewährte Lernzeit in der Zielsprache Deutsch einbezogen.
27
Dass sich dieses Ergebnis auch beim CFT einstellt, kann als Indikator dafür genommen werden, dass der Test nicht sprachfrei ist. Die entsprechenden Anweisungen zum Test wurden auf Deutsch präsentiert.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
45
Tab. 3: Univariate Varianzanalyse WLLP Ende Klasse 1 F-Wert
Signifikanz
Quelle
Part. Eta-Quadr.
Kovariate: Kognitive Leistungsfähigkeit
57,9
.000
Kovariate: Anteil ausländischer Kinder
3,6
.06
.01
Kovariate Sprachstand November 2002
48,3
.000
.08
Geschlecht
1,1
.3
Herkunft
0,4
.8
Besuch einer Vorschuleinrichtung
0,04
.9
Geschlecht x Herkunft
0,7
.5
Geschlecht x Vorschulische Einrichtung
1,1
.4
Herkunft x Vorschulische Einrichtung
0,9
.5
Herkunft x Geschlecht x Besuch einer vorschuli- 0,2
.9
.09
schen Einrichtung R-Quadrat=0,29
Mit der Varianzanalyse werden 29% der Varianz aufgeklärt. Das verdeutlicht, dass die Aussagen, die auf der Basis der Analyse formuliert werden können, in Bezug auf die Forschungshypothesen substantiell sind. Es sind zwei Variablen, die einen sehr starken Einfluss ausüben, d.h. über eine hohe Effektstärke verfügen: Die kognitive Leistungsfähigkeit (10%) und der Sprachstand der Kinder im November des Besuchs der ersten Klasse (8%). Es ist das humane Kapital, welches einen deutlichen Einfluss auf die Leistungen der befragten Kinder am Ende der ersten Klasse ausübt. Zwei Ergebnisse überraschen: Das Geschlecht und die Herkunft, die hier wie in den anderen Varianzanalysen, die noch mitgeteilt werden, als deutsch, als mit türkischem Migrationshintergrund und als mit anderem Migrationshintergrund operationalisiert worden sind und jeweils mit dem Ausgangsdatum, Beginn Klasse 1, übernommen werden28, üben keinen Einfluss aus. Das kann für die Herkunft damit erklärt werden, dass in der Variablen ‚Sprachstand‘ im November Klasse 1 indirekt auch eine Wirkung der Variablen ‚Herkunft‘ enthalten ist: Der Sprachstand variierte sys-
28 Das ergab sich alleine schon deshalb als notwendig, weil im Verlauf der Untersuchung Klassen zusammengelegt worden sind (vgl. Tab. 1).
46
Hans Merkens
tematisch mit der Herkunft (vgl. Merkens u.a. 2006)29. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in den Klassen ist ebenfalls kaum von Bedeutung. Alle weiteren Variablen, auch der Besuch einer vorschulischen Einrichtung, bleiben ohne systematische Wirkung. Tab. 4: Univariate Varianzanalyse WLLP Ende Klasse 4 F-Wert
Signifikanz
Quelle
Part. EtaQuadr.
Kovariate: Kognitive Leistungsfähigkeit
40,0
.000
.06
Kovariate: Anteil ausländischer Kinder
18,2
.000
.05
Kovariate Sprachstand November Klasse 1
38,9
.000
.16
Geschlecht
0
.99
Herkunft
1,1
.3
Besuch einer Vorschuleinrichtung
4,8
.01
Geschlecht x Herkunft
0,7
.5
Geschlecht x Besuch einer vorschulischen Einrichtung
1,1
.4
Herkunft x Besuch einer Vorschuleinrichtung
0,9
.5
Herkunft x Geschlecht x Besuch einer vorschulischen 0,2
.7
.02
Einrichtung R-Quadrat=0,29
Am Ende der Klasse 4 hat sich der Prozentsatz der aufgeklärten Varianz nicht verändert. Noch immer stehen die kognitive Leistungsfähigkeit und der Sprachstand der Kinder im November der ersten Klasse an der Spitze der Variablen, die systematisch zur Varianzaufklärung beitragen, obwohl seit der Diagnose der kognitiven Leistungsfähigkeit und des Sprachstandes der Kinder mehr als drei Jahre verstrichen sind. Die Effektstärken sind auch nur wenig zurückgegangen. Offensichtlich kommt dem humanen Kapital, welches die Kinder am Beginn der Grundschule mitbringen, ein großer Einfluss zu. Aber es gibt auch zwei bemerkenswerte Veränderungen in der Struktur der Ergebnisse: Die Kovariate ‘Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in der Klasse‘, wiedergegeben für die Zusammensetzung der Klasse in der Klasse 1 am Beginn der Schulzeit, hat einen systematischen Einfluss auf das Ergebnis. Außerdem gibt es jetzt einen Einfluss der Variablen ‚Besuch einer vorschulischen Einrichtung‘. Am Ende der Klasse 4 zeigt sich demnach ein Hinweise darauf, dass neben der Ausstattung mit huma29
Auf eine Dokumentation der entsprechenden Ergebnisse wird an dieser Stelle verzichtet, weil die im hier berichteten Kontext wichtige Frage danach, welche Ressourcen den Schulerfolg nachhaltig beeinflussen und welche Kompositionseffekte sich in diesem Zusammenhang zusätzlich nachweisen lassen, von größerem Interesse ist.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
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nem Kapital auch die time-on-task eine Rolle beim Schulerfolg der Kinder spielt. Denn sowohl der Besuch einer vorschulischen Einrichtung als auch ein niedrigerer Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in der Klasse können als Indikator dafür gelten, dass die Kinder häufiger Gelegenheit haben bzw. gezwungen sind, Deutsch zu sprechen. Der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund kann zusätzlich als Indikator dafür genommen werden, dass die Kompositionseffekte der Klasse in der Grundschule eine Rolle spielen (vgl. hierzu auch Bellin 2009). Die Herkunft und auch das Geschlecht üben wiederum keinen Einfluss auf die Ergebnisse aus. Damit werden die Ergebnisse am Ende der ersten Klasse bestätigt. Ebenfalls gibt es, das traf bereits am Ende der ersten Klasse zu, keine Interaktionseffekte. Tab. 5: Univariate Varianzanalyse C-Test Ende Klasse 4 F-Wert Quelle
Signifi-
Part. Eta-
kanz
Quadr.
Kovariate: Kognitive Leistungsfähigkeit
38,7
.000
.06
Kovariate: Anteil ausländischer Kinder
31,^1
.000
.05
Kovariate Sprachstand November Klasse 1
108,3
.000
.16
Geschlecht
1,2
.3
Herkunft
1,0
.4
Besuch einer Vorschuleinrichtung
6,7
.001
Geschlecht x Herkunft
0,3
.8
Geschlecht x Besuch einer Vorschuleinrichtung
0,6
.5
Herkunft x Besuch einer Vorschuleinrichtung
1,6
.2
Herkunft x Geschlecht x Besuch einer vorschulischen Ein- 0,5
.7
.03
richtung R-Quadrat=0,44
Die Ergebnisse zum C-Test enthalten im Vergleich zu den bisher vorgestellten Resultaten einige Überraschungen. Der Anteil der aufgeklärten Varianz ist deutlich größer. Das zeigt an, dass anspruchsvollere Leistungen in Deutsch noch mehr durch die Variablen beeinflusst werden, die auch bisher schon im Fokus der Betrachtung gestanden haben. Vor allem der Sprachstand, den die Lehrerinnen im November der ersten Klasse mitgeteilt haben, übt einen sehr starken Effekt aus (20%). Der Einfluss der kognitiven Leistungsfähigkeit ist dem bei der WLLP vergleichbar. Leicht zugenommen haben nochmals in der Effektstärke die Zusammensetzung der Klasse – Anteil Kinder mit Migrationshintergrund am Beginn der ersten Klasse – und der Besuch einer vorschulischen Einrichtung:
48
Hans Merkens
Kinder, die einen Kindergarten besucht haben, sind in ihren Leistungen im CTest deutlich besser30. Demgegenüber gibt es für Geschlecht und Herkunft wiederum keinen systematischen Effekt. So werden die Ergebnisse für die Würzburger Leiseleseprobe in gewisser Weise bestätigt. Es bleibt aber festzuhalten, dass alle Effektstärken im Vergleich mit dieser Variablen zugenommen haben. Der große Einfluss der Kovariaten auf die abhängigen Variablen legt es nahe, die Ergebnisse am Ende der vierten Klasse nochmals mit Regressionsanalysen zu überprüfen. Dabei wird zusätzlich der mit dem HSP in der Mitte der ersten Klasse gemessene Sprachstand als unabhängige Variable aufgenommen. Auf diese Weise soll der frühe Sprachstand der Kinder in der Schule auch noch mit einem standardisierten Test erfasst werden. Tab. 6: Regressionsanalysen für WLLP und C-Test am Ende der Klasse 4 Unabhängige Variablen
WLLP
C-Test
Hamburger Schreibprobe
.32
.33
Anteil Kinder mit Migrationshintergrund
-.19
-.14
CFT
.19
.15
Kindergartenbesuch
.10
.11
Sprachstand November 2002
.11
.26
R-Quadrat
.38
.47
Einerseits werden die Ergebnisse der Varianzanalysen bestätigt, andererseits ergeben sich doch leichte Modifikationen. Der nach einem halben Jahr Grundschulbesuch mit der HSP gemessene Stand der Schreibentwicklung ist in beiden Fällen der beste Prädiktor. Bei der Würzburger Leiselese-Probe wirkt der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund in der jeweiligen Klasse deutlich negativ stärker als beim C-Test. Hier hat der am Beginn der Schule von der jeweiligen Lehrerin eingeschätzte Sprachstand eine große Wirkung, die bei der Würzburger Leiseleseprobe deutlich geringer ausfällt. In beiden Fällen ist die kognitive Leistungsfähigkeit ein Prädiktor für die Schulleistungen und es gibt in beiden Fällen auch einen moderat positiven Einfluss des Kindergartenbesuchs auf die erzielten Leistungen. Die Varianzaufklärung für Leistungen am Ende der vierten Klasse durch Variablen am Beginn der Grundschulzeit ist wiederum groß. Während die Humankapitalthese als gut bestätigt angesehen werden kann, fällt die Bestäti30
Die größten Nachteile weisen die Kinder auf, die bei der Einschulungsuntersuchung durch den Jugendgesundheitsdienst zurückgestellt worden sind und eine Vorklasse besucht haben. Sie hatten zwar am Ende der Vorklasse bei der Feststellung der Deutschleistungen durch die Lehrerinnen Vorteile gegenüber den Kindern, die keine Einrichtung besucht hatten (am besten schnitten die Besucher eines Kindergartens ab), aber langfristig haben sie bestimmte Nachteile bei ihrem Lernen, die zur Aberkennung der Schulreife führten, nicht abarbeiten können.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
49
gung der time-on-task-Hypothese deutlich schwächer aus, aber auch hier zeigt sich ein moderater Einfluss. 6
Diskussion der Ergebnisse
Die drei Untersuchungshypothesen konnten bestätigt werden. Dabei ist vor allem das Ergebnis für die erste Hypothese von Interesse: Während sich am Beginn der Grundschule, in der Klasse 1, keine Vorteile für Kinder nachweisen ließen, die einen Kindergarten besucht hatten, schnitten diese im Durchschnitt am Ende der Klasse 4 deutlich besser ab, wenn das Sprachverständnis getestet wurde. Weiterhin konnte für alle Messzeitpunkte nachgewiesen werden, dass bessere personale Ressourcen am Beginn der Grundschule, kognitive Leistungsfähigkeit und Sprachverhalten (Hypothese 2), förderlich für das Sprachverständnis sind. Außerdem konnte nachgewiesen werden, dass ein Kompositionseffekt der Klasse am Beginn der Grundschule einen Einfluss auf das Sprachverständnis der Kinder hat (Hypothese 3)31. Es konnten also eine Reihe von Ursachen für die Entwicklung des Sprachverständnisses bei Kindern mit Migrationshintergrund in der Grundschule nachgewiesen werden. Dieses Ergebnis kann man auch als Indikator dafür ansehen, dass die time-on-task-Hypothese bestätigt worden ist. In Klassen mit einem höheren Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund bieten sich mehr Gelegenheiten, in der Herkunfts- und nicht in der Muttersprache zu kommunizieren32. Die Notwendigkeit von Längsschnittuntersuchungen lässt sich mit den hier vorgestellten Ergebnissen bestätigen. Inhaltlich zeigt sich, dass individuelle Ressourcen, über die die Kinder am Beginn der Grundschule verfügen, zumindest in Klassen, in denen ein großer Teil der Kinder mit Migrationshintergrund am Unterricht teilnimmt, den Schulerfolg in hohem Maße beeinflussen. Überraschend ist, dass der Herkunft keine sehr große Bedeutung zukommt33. Ebenfalls lässt sich kein Vorteil der Mädchen dokumentieren. Von Interesse ist ein weiteres Ergebnis: Die Lehrerinnen schätzten im November der Klasse 1 den Sprachstand 31 Zur Bedeutsamkeit von Kompositionseffekten für den Lernerfolg von Grundschulkindern vgl. auch Lehmann (2006). Allerdings handelt es sich in diesem Fall nicht um die Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung. Es werden Querschnittsdaten analysiert. 32 Merkens (2005) konnte zeigen, dass es sich um einen Effekt handelt, der durch die Kinder mit einem türkischen Migrationshintergrund verursacht wird (vgl. auch Mücke 2006). Etwas differenzierter sind die Analysen von Bellin (2009). 33 Dieses Ergebnis bestätigt sich in den Varianzanalysen auch dann, wenn die Variable ‚Sprachstand im November der Klasse 1‘ nicht in die Analysen aufgenommen wird. Das kann als Indikator dafür genommen werden, dass die einfache Annahme, die Kinder müßten zunächst in ihrer Muttersprache unterrichtet werden, so nicht zutreffen kann.
50
Hans Merkens
der Kinder ein. Zu diesem Zeitpunkt konnten Leistungen in Orthographie, wahrscheinlich aber auch in Grammatik, (noch) keine entscheidende Rolle spielen. Es ging vielmehr im Kern um eine Einschätzung der Kommunikation in der deutschen Sprache. Die Kinder, die hier besser abschnitten, wurden entsprechend besser bewertet. Das so eingeschätzte Sprachverhalten beeinflusst wiederum das Sprachverständnis am Ende der Klasse 4. Damit wird ersichtlich, dass es vor allem Sprachverhalten ist, welches in der Grundschule eine entscheidende Rolle spielt. Diese Interpretation spricht dafür, eine Bestätigung des pragmatischen Ansatzes von Ehlich (2005) aus den Ergebnissen heraus zu lesen. Sie macht es aber auch erforderlich, die Maxime zu beachten, dass jeder Unterricht in der Grundschule Sprachunterricht ist. Weiterhin zeigt sich, dass in den Grundschulklassen, die in die Untersuchung einbezogen waren, die am Beginn der Grundschule vorhandenen Sprachdifferenzen nicht systematisch abgebaut werden konnten. Deshalb handelt es sich bei den in PISA mitgeteilten Befunden über die schlechteren Chancen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Alter von 15 Jahren wahrscheinlich um einen Effekt, der bereits in der Grundschule wirksam ist. Die Annahme, die im Anschluss an Fishman (1968) über das Zusammenspiel von formaler und informeller Sprache formuliert worden ist, ist konkret in der vorliegenden Untersuchung nicht überprüft worden. Die Tatsache, dass ein Aufenthalt im Kindergarten sich günstig auf Dimensionen der Lesekompetenz auswirkt, wie sie hier mit WLLP und C-Test getestet worden ist, kann aber so interpretiert werden, dass ein Kindergartenbesuch zum Aufbau der informellen Alltagssprache in der Zielsprache Deutsch beigetragen hat. Entsprechend dem pragmatischen Ansatz von Ehlich (2005) kann darüber ein Tiefenverständnis von Sprache gefördert werden. Die Schlussfolgerung daraus wäre – das wird in einer Anschlussuntersuchung überprüft –, dass die Teilnahme am Ganztagsschulunterricht sich bei Kindern mit Migrationshintergrund auf die Lesekompetenz positiv auswirkt. Zusätzlich müsste auch geprüft werden, ob sich der vermutete Zusammenhang zwischen informeller und formaler Sprache bestätigen lässt. Literatur Arbeitsgruppe „Bildungsbericht“ des Max-Plack-Instituts für Bildungsforschung (1994): Forschungsbericht Nr. 53 des MPI für Bildungsforschung. Berlin: MPI Bartnitzky, Horst; Speck-Hamdan, Angelika (2005). Sprachförderung als Herausforderung. In: Horst Bartnitzky; Angelika Speck-Hamdan (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache. Beiträge zur Reform der Grundschule 120, Frankfurt a. M.: Arbeitskreis Grundschule – Der Grundschulverband, S. 818.
Erfolg und Misserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund
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Cornelia Braun, Volker Mehringer
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlungen und Schulerfolg bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund
1
Einleitung
Diskrepanzen im Schulerfolg von Kindern mit und ohne Migrationshintergrund, welche nicht erst in der Sekundar-, sondern bereits in der Primarstufe des deutschen Bildungswesens deutlich zu Tage treten, stoßen in den letzten Jahren zunehmend auf breites politisches und wissenschaftliches Interesse. Die intensiven Bemühungen der empirischen Bildungs- und Ungleichheitsforschung haben wesentlich dazu beigetragen, verschiedene Faktorenbündel zu identifizieren, die einen großen Anteil an der Entstehung, Aufrechterhaltung und Verstärkung dieser Differenzen haben (vgl. z.B. Deutsches PISA-Konsortium 2001; Bos, Hornberg, Arnold, Faust, Fried, Lankes, Schwippert & Valtin 2007; Schründer-Lenzen & Merkens 2006; Tiedemann & Billmann-Mahecha 2004; Herwartz-Emden, Braun, Heinze, Rudolph-Albert & Reiss 2008; Herwartz-Emden, Reiss & Mehringer 2008). Eines dieser Faktorenbündel stellt der so genannte familiale Hintergrund dar, auf dessen Bedeutung für Schullaufbahn und Schulerfolg aktuelle Studien immer wieder verstärkt hinweisen (vgl. z.B. Baumert & Schümer 2002; Ehmke, Hohensee, Heidemeier & Prenzel 2004; Diewald & Schupp 2004). Obwohl die Berücksichtigung der familiären Lebensverhältnisse mittlerweise als fester Bestandteil von Schulleistungsuntersuchungen gelten kann, wurde bislang in Deutschland nur selten explizit der familiale Hintergrund von Kindern mit Migrationshintergrund in seinem Einfluss auf die Vergabe von Übertrittsempfehlungen und den Schulerfolg untersucht. Die aktuelle Forschungspraxis beschränkt sich meist darauf, den Migrationshintergrund als ein familiales Merkmal gleich gestellt mit anderen Merkmalen in die Analysen aufzunehmen. Dabei wird allerdings häufig der indirekte Einfluss des Migrationshintergrunds, der über andere familiale Merkmale vermittelt wird, nur ungenau herausgearbeitet. Es wird nicht ausreichend deutlich, ob und inwieweit die Lebensverhältnisse einer Familie bedingt durch einen vorhandenen oder nicht vorhandenen Migrationshintergrund differentiell auf die schulische Laufbahn einwirken.
56
Cornelia Braun, Volker Mehringer
Vorliegender Text setzt an diesem Punkt an und stellt durch einen Vergleich logistischer Regressionsmodelle für Grundschüler(inne)n mit und ohne Migrationshintergrund heraus, wie kulturelle, ökonomische und soziale Familienmerkmale in Abhängigkeit vom Migrationshintergrund den Schulerfolg in Form der am Ende der Grundschulzeit vergebenen Übertrittsempfehlungen beeinflussen. Die Grundlage für diese Analysen bilden Daten aus dem Projekt „Sozialisation und Akkulturation in Erfahrungsräumen von Kindern mit Migrationshintergrund – Familie und Schule“ (SOKKE), das an späterer Stelle genauer vorgestellt wird. 2
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlungen und Schulerfolg
Der bedeutsame Einfluss familialer Merkmale auf den Schulerfolg gilt als erwiesen (vgl. z.B. Baumert & Schümer 2002; Ehmke u.a. 2004; Diewald & Schupp 2004). Familiale Lebensverhältnisse stellen bedeutsame Entwicklungsumgebungen dar, welche mit sozialen sowie ethnischen Merkmalen in Zusammenhang stehen (vgl. Ehmke & Baumert 2007) und über Erziehungs- und Sozialisationsprozesse einen wesentlichen Einfluss auf die schulischen Leistungen ausüben. Somit können unterschiedliche familiale Lebenssituationen differentielle Lernprozesse und Bildungslaufbahnen bedingen (vgl. ebd.). Aufgrund der Tatsache, dass sich der elterliche Einfluss am Übergang von der Grund- auf eine weiterführende Schule, an dem erstmals eine institutionsbedingte Trennung der Schüler(inne)n stattfindet (vgl. Schneider 2004), als höchst bedeutsam erweist (vgl. z.B. ebd.; Erikson & Jonsson 1996), liegt der Fokus der hier berichteten Ergebnisse auf den am Ende der Grundschulzeit von den Lehrkräften formulierten Übertrittsempfehlungen. Diese werden in den meisten Bundesländern entlang der in der 4. Klasse vergebenen Deutsch- und Mathematiknoten gebildet und stellen somit einen guten Indikator des am Ende der Grundschule erreichten formalen Schulerfolgs dar. Darüber hinaus kann der Übertrittsempfehlung zusätzliche Bedeutung beigemessen werden, da die verschiedenen Schulzweige aufgrund ihres Anspruchsniveaus differentielle Lernmilieus darstellen und die weiteren schulischen und beruflichen Chancen somit maßgeblich beeinflussen. Obwohl Kinder mit Migrationshintergrund an deutschen Grundschulen mit einem Anteil von über 30% keinesfalls eine zu vernachlässigende Minderheit darstellen (Statistisches Bundesamt 2007), stehen umfassende Erklärungsansätze in Bezug auf den Verlauf ihrer Schulkarriere nach wie vor aus. US-amerikanische Untersuchungen liefern deutliche Hinweise dahingehend, dass familiale Merkmale gerade für den Schulerfolg von Kindern, die einer Minorität angehören, von großer Bedeutung sind (Epstein 2001; Henderson & Mapp 2002). Für
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg
57
den deutschsprachigen Raum stehen Erkenntnisse diesbezüglich bislang allerdings weitestgehend aus. Die Frage nach einer je nach Herkunft eventuell unterschiedlichen Wirkweise der Variablen wurde ebenfalls nicht erforscht. In Anlehnung an Bourdieu (1983) wurden die Variablen zur Erfassung des familialen Hintergrundes den Bereichen kulturelles, soziales und ökonomisches Kapital zugeordnet und zudem in Struktur- oder Prozessvariablen (Helmke & Weinert 1997) untergliedert (siehe Tab. 1). Den Strukturmerkmalen sind indirekt wirkende, strukturelle Variablen wie beispielsweise die Familienform zuzuordnen. Die Prozessmerkmale umfassen Variablen, die direkt beeinflussende und beeinflussbare Prozesse innerhalb der Familie wie zum Beispiel das konkrete elterliche Unterstützungsverhalten abbilden. Im Folgenden werden die einzelnen im Rahmen der Studie erhobenen Variablen kurz vorgestellt und operationalisiert. Tab. 1: Erfasste familiale Variablen
Strukturvariablen
Prozessvariablen
UNABHÄNGIGE VARIABLEN Kulturelles Kapital Soziales Kapital Kultureller Anregungsgehalt (Ausgewählte Kulturgüter) Familienstruktur (Ein/Zweielternfamilie, Familialer Anzahl Geschwister) Bildungshintergrund (Elterlicher Schulabschluss) Kulturelle Praxis (In der Familie gesprochene Sprache, wahrgenommene elterliche Unterstützungsleistungen)
Ökonomisches Kapital Sozioökonomischer Status (HISEI)
Nachhilfe
ABHÄNGIGE VARIABLE Übertrittsempfehlung
2.1
Kulturelles Kapital
Kulturelles Kapital meint in Anlehnung an Bourdieu (1983) diejenigen Ressourcen, die die grundlegende regelmäßige Teilnahme an der bürgerlichen Kultur ermöglichen. Es erscheint in drei unterschiedlichen Formen: Zum einen in einem verinnerlichten inkorporierten Zustand in Form von dauerhaften Dispositionen des Organismus, darüber hinaus in einem objektivierten Zustand in Form von
58
Cornelia Braun, Volker Mehringer
Kulturgütern und zum anderen im institutionalisierten Zustand. Übertragen auf den familialen Hintergrund kann das kulturelle Kapital auf Strukturebene unter anderem am kulturellen Anregungsgehalt des Haushalts und am familialen Bildungshintergrund festgemacht werden. Um die Konstrukte zu operationalisieren, wurden in der Untersuchung zum einen ausgewählte Kulturgüter (Bücher, Zeitungen und Lernprogramme) und zum anderen die elterlichen Schulabschlüsse erfragt. Auf Prozessebene ist es vor allem die gelebte kulturelle Praxis, durch die die intergenerative Transmission dieser Kapitalsorte zu großen Teilen getragen wird. Aus forschungsökonomischen Gründen wurde die kulturelle Praxis auf die in der Familie gesprochene Sprache und die wahrgenommenen elterlichen Unterstützungsleistungen beschränkt. Erstere ist, wie viele Studien zeigen (vgl. z.B. Lanfranchi 2002; Stanat & Christensen 2006), ein zentrales schulerfolgsrelevantes Merkmal bei Familien mit Migrationshintergrund. Die von den Kindern wahrgenommenen Unterstützungsleistungen durch ihre Eltern wurden mit Hilfe von vier selbst konstruierten Skalen erfasst. In Anlehnung an die Arbeiten von Martinez-Pons (1996 & 2002) und Hoover-Dempsey und Sandler (2005) sind diese Skalen Abbildungen der Unterstützungsprozesse Ermutigung, Vorbildfunktion, positive Verstärkung und Anleitung. 2.2
Soziales Kapital
Nach Bourdieu (1983, S. 190f.; Hervorhebungen im Original) ist das soziale Kapital „die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder, anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“. Dieses Netzwerk umfasst beispielsweise familiäre und soziale Beziehungen in Freundeskreisen, im Beruf oder in Vereinen. Für den vorliegenden Kontext werden unter sozialem Kapital die dem jeweiligen Kind zur Verfügung stehenden innerfamiliären sozialen Ressourcen verstanden. Zu diesen zählt einerseits die Familienform, das heißt, ob das Kind in einer Eineltern- oder in einer Zweielternfamilie lebt. Andererseits sind damit die Anzahl der in der Familie lebenden Kinder und das daraus entstehende Netzwerk an Geschwisterbeziehungen gemeint.
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg 2.3
59
Ökonomisches Kapital
Unter der letzten Kapitalform, dem ökonomischen Kapital, werden alle Formen des materiellen Besitzes zusammengefasst, die in Gesellschaften mit entwickelten Märkten und mittels Geld getauscht werden können. Unter bestimmten Bedingungen lässt sich ökonomisches Kapital auch aus sozialem oder kulturellem Kapital bilden (vgl. Maaz 2006). Für die Positionierung einer Person im sozialen Raum ist diese Kapitalform von maßgeblicher Bedeutung. Unter familialem ökonomischen Kapital werden diejenigen materiellen Ressourcen verstanden, die den Kindern über ihre Eltern und vor allem deren Einkommen zur Verfügung gestellt werden. Auf Strukturebene wird es vor allem durch den sozioökonomischen Status repräsentiert, der in der hier vorgestellten Untersuchung anhand des höchsten beruflichen Status der Eltern operationalisiert wurde. Als ein Indikator ökonomisch induzierter familialer Prozesse wurde zudem erfasst, ob und in welchem Umfang ein Kind Nachhilfe erhalten hat. 2.4
Aktueller Stand der Forschung
Vergleichbar mit den im Folgenden dargestellten Analysen haben Baumert, Watermann und Schümer (2003)1 ein Modell entworfen, das Struktur- und Prozessvariablen zum kulturellen, sozialen und ökonomischen Kapital (sowie individuelle Schülervoraussetzungen) umfasst und es anhand der PISA-E-Daten in ihrem Einfluss auf die als Schulleistungsindikator gesetzte Lesekompetenz geprüft. Die herangezogenen strukturellen Merkmale (Sozioökonomischer Status, Bildungsniveau, Migrationsstatus, Verweildauer) und die ausgewählten Prozessvariablen (Kulturelle Praxis, Familiensprache, Kinderzahl) erklären insgesamt 36% der Varianz in der Lesekompetenz der Fünfzehnjährigen. Die Auswirkungen des familialen Bildungsniveaus auf die Lesekompetenz sind ausschließlich über die familiäre kulturelle Praxis vermittelt, welche zum einen Investitionen in Kulturgüter wie bspw. Bücher und zum anderen gemeinsame kulturelle Aktivitäten wie bspw. Theaterbesuche beinhaltet. Die kulturelle Praxis, die wiederum durch den sozioökonomischen Status und das Bildungsniveau beeinflusst ist, erweist sich mit einem im mittleren Bereich liegenden Pfadkoeffizienten als aussagekräftigster Prädiktor. Der hohe Erklärungswert der kulturellen Prozessmerkmale kann allerdings teilweise auch darauf zurückgeführt werden, dass die Autor(inn)en nicht trennscharf zwischen Prozess- und Strukturmerkmalen unterschieden haben. Der Besitz verschiedener Kulturgüter wurde auf Prozessebene angelegt, obwohl über 1 Die Autoren trennen ihre Analysen nach neuen und alten Bundesländern, die hier berichteten Ergebnisse beziehen sich lediglich auf die alten Bundesländer.
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Cornelia Braun, Volker Mehringer
deren Gebrauch keinerlei Informationen gegeben sind (vgl. Baumert, Watermann & Schümer 2003). Die in der Familie gesprochene Sprache, die zu großen Teilen durch den Migrationsstatus und die Verweildauer in Deutschland erklärt werden kann, wirkt sich moderat auf die Lesekompetenz aus (vgl. ebd.). Aussagen über differentielle Auswirkungen des familialen Hintergrunds in Abhängigkeit vom Migrationsstatus lassen sich sowohl bei den berechneten Pfaddiagrammen als auch bei den durchgeführten Regressionsanalysen nur in sehr eingeschränktem Umfang treffen, da das Vorhandensein eines Migrationshintergunds nur als ein familiales Merkmal in die Untersuchung mit aufgenommen wurde, nicht aber dazu genutzt wurde, einen Gruppenvergleich vorzunehmen. Was das strukturelle soziale Kapital einer Familie in Form der Anzahl der Geschwister anbelangt, so kann Baumert, Watermann und Schümer (2003) zufolge zur Leseleistung nur ein moderat negativer Zusammenhang festgestellt werden. Anders verhält es sich mit der Familienform. Wie Bofinger (1998) und Schauenberg (2007) feststellen, weisen Kinder, die in einer Kernfamilie aufwachsen, höheren Schulerfolg auf als Kinder, die nicht kontinuierlich mit ihren beiden leiblichen Eltern zusammenleben. Im Gegensatz dazu fanden Ehmke u.a. (2004) nur geringe mathematische Kompetenzunterschiede bei Jugendlichen aus Einelternfamilien im Vergleich zu solchen aus Kernfamilien, welche unter Kontrolle der sozialen Herkunft zudem kein signifikantes Niveau mehr erreichten. In Bezug auf das ökonomische Kapital wird vielfach auf den in Deutschland besonders stark ausgeprägten Zusammenhang zwischen dem sozioökonomischen Status eines Kindes bzw. seiner Familie und dem Schulerfolg (i.S.v. Bildungsbeteiligung) hingewiesen. Kinder und Jugendliche, deren Eltern einen niedrigen sozioökonomischen Status aufweisen, unterliegen einem vielfach höheren Risiko, eine Hauptschule statt einer Realschule oder eines Gymnasiums zu besuchen als Kinder und Jugendliche aus höheren sozioökonomischen Schichten (vgl. z.B. Deutsches PISA-Konsortium 2001; Baumert & Schümer 2002; Ehmke u.a. 2004; Pietsch & Stubbe 2007). Die Ergebnisse aktueller Studien deuten insgesamt darauf hin, dass sowohl kulturelle Struktur- als auch Prozessvariablen mit dem Schulerfolg und der Vergabe von Übertrittsempfehlungen in Zusammenhang stehen und diese, vermittelt über weitere Variablen, mit bedingen. Auch ökonomische Kapitalsorten, darunter vor allem der sozioökonomische Status, stehen in einem engen Zusammenhang mit der Schullaufbahn. Das soziale Kapital umfassende Variablen scheinen hinsichtlich des Schulerfolges hingegen eher eine untergeordnete Rolle zu spielen. Zu differentiellen Wirkweisen familialer Merkmale bei Kindern mit und ohne Migrationshintergrund lassen sich auf der Grundlage der bislang verfügbaren Untersuchungen keine gesicherten Aussagen treffen.
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg 3
61
Die eigene Studie – SOKKE
Die Grundlage für die im Folgenden dargestellten Rechnungen bilden Daten aus dem von der DFG finanzierten Projekt „Sozialisation und Akkulturation in Erfahrungsräumen von Kindern mit Migrationshintergrund – Schule und Familie“, kurz SOKKE, das unter der Leitung von Prof. Dr. Leonie Herwartz-Emden steht. Bei SOKKE handelt es sich um eine längsschnittlich angelegte Grundschulstudie, in der Kompetenzentwicklungs- und Akkulturationsprozesse von Kindern mit Migrationshintergrund über alle vier Grundschuljahre (Laufzeit 2004 bis 2008) untersucht und nachgezeichnet werden. Im Fokus der Untersuchungen steht der Schulerfolg als zentrales Akkulturationsmaß, von dem ausgehend wesentliche Rückschlüsse auf die Integration von Kindern bzw. Schüler(inne)n mit Migrationshintergrund gezogen werden können. Ergänzend zu Schulerfolg und Kompetenzentwicklung werden im Projekt schulische Einflüsse und individuelle Dispositionen der Schüler(inne)n erfasst, um ein möglichst umfassendes Bild über wesentliche Einflussfaktoren des Schulerfolgs und der Kompetenzentwicklung bei Kindern mit Migrationshintergrund zu erhalten (dazu genauer: vgl. Herwartz-Emden & Küffner 2006; Herwartz-Emden, Reiss & Mehringer 2008). Für den vorliegenden Kontext sind die im Forschungsdesign berücksichtigten familien- und elternbezogenen Konstrukte von besonderer Relevanz (vgl. Punkt 2 und Punkt 3.2). Die empirische Erfassung der für das Projekt benötigten Daten erfolgte über verschiedene Zugänge. Im Mittelpunkt der Erhebungen standen standardisierte Schulleistungstests zur Erfassung der mathematischen, der Lese- und Rechtschreib-Kompetenzen, die in altersgerechter und in auf den Lehrplan abgestimmter Form jährlich zum Einsatz kamen. Des Weiteren wurden den Schüler(inne)n, ebenfalls meist im jährlichen Turnus, verschiedene Fragebögen vorgelegt, mit denen unterschiedliche Konstrukte wie Selbstkonzept, Selbstwertgefühl oder deren soziale Stellung innerhalb der Klassengemeinschaft erfasst werden sollten. Die erzielten Schulleistungen und Übertrittsempfehlungen der Schüler(inne)n sowie schulische oder lehrkraftbezogene Aspekte wurden mittels Lehrerbefragungen erhoben, die sowohl zu Beginn als auch am Ende der Grundschulzeit durchgeführt wurden. Informationen zum familialen Hintergrund der Kinder wurden mithilfe einer Elternbefragung gesammelt.
62 3.1
Cornelia Braun, Volker Mehringer Stichprobe und Stichprobenziehung
Die Stichprobenziehung erfolgte mithilfe eines mehrstufigen Verfahrens, bei dem aus vier verschiedenen Sozialregionen einer süddeutschen Großstadt eine Stichprobe mit N=23 Klassen aus acht Schulen gezogen wurde. Bei den Klassen wurden die Kontextbedingungen Sozialregion, geringer und hoher Anteil an Nicht-Deutschen im Stadtbezirk und geringer (<33%), mittlerer (33-66%) und hoher Anteil (>66%) an Kinder mit Migrationshintergrund in der Klasse unterschieden. Den folgenden Auswertungen liegt eine Stichprobe von 435 Schüler(inne)n zugrunde. Von diesen weisen 246 Schüler(inne)n (56,6%) einen Migrationshintergrund auf, 189 Schüler(inne)n (43,3%) sind ohne Migrationshintergrund. Was das Verhältnis von Jungen zu Mädchen anbelangt, so ist das Merkmal Geschlecht sowohl bei Kindern mit (126 Jungen zu 120 Mädchen) als auch bei Kindern ohne Migrationshintergrund (95 Jungen zu 94 Mädchen) nahezu gleich verteilt. Der Rücklauf der Elternbefragung belief sich insgesamt auf 72%, das heißt, Eltern von 312 der 435 in der Schülerstichprobe erfassten Schüler(inne)n füllten den Fragebogen aus. Das Verhältnis der Eltern ohne oder zu den Eltern mit Migrationshintergrund verschiebt sich hierbei gegenüber den Schüler(inne)n um einige Prozent in Richtung der Eltern ohne Migrationshintergrund auf 52% zu 48%. 3.2
Datengrundlage und Instrumentierung
Die Datengrundlage für die vorgenommenen Analysen bilden Daten, die vorwiegend in der letzten Erhebungswelle, das heißt in der 4. Klasse, mittels verschiedener eigens dafür konstruierter Befragungsinstrumente erfasst wurden. Zu diesen Befragungsinstrumenten zählen Lehrer-, Eltern- und Schülerfragebögen. Welchen Instrumenten bzw. Befragungen die zur Modellierung des familialen Hintergrunds und zur Abbildung des formalen Schulerfolgs herangezogenen Variablen entstammen, kann folgender Tabelle entnommen werden.
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg
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Tab. 2: Befragungszuteilung der Indikatorvariablen x demographische Angaben zu den Schüler(inne)n (Alter, Geschlecht Migrationshintergrund, etc.) Lehrerbefragung x Schulerfolg (Noten, Übertrittempfehlungen, Klassenwiederholung) x Berufliche Angaben (Tätigkeit, beruflicher Status) x Angaben zum Bildungsniveau und zur Ausbildung der Eltern Elternbefragung x Angaben zum Migrationshintergrund x Angaben zur außerschulischen Förderung (Nachhilfe) x Familienstruktur (Familienform und Haushaltsgröße) x Angaben zum Beruf der Eltern Schülerbefragung x Wahrgenommene elterliche Unterstützungsleistungen x Angaben zu ausgewählten Kulturgütern (Bücher im Haushalt, Zeitung, Lernprogramme etc.)
An der Übersicht wird deutlich, dass die berufliche Tätigkeit der Eltern sowohl auf Seiten der Eltern als auch auf Seiten der Schüler(inne)n erfragt wurde. Die Angaben der Schüler(inne)n wurden als so genannte Proxy-Angaben genutzt, um bei Fehlen des entsprechenden Elternfragebogens oder bei Nicht-Beantwortung der entsprechenden Fragen von Seiten der Eltern auf die Angaben der Schüler(inne)n zurückgreifen zu können. Wie Maaz, Kreuter und Watermann (2006) in ausführlichen Analysen herausstellen, sind diese Proxy-Angaben der Schüler(inne)n zu ihrem sozialen Hintergrund, gerade in Bezug auf die elterliche Berufstätigkeit, sehr zuverlässig und in nur geringem Maße fehlerbehaftet. Ein erster Vergleich der Angaben der Schüler(inne)n mit den, wo vorhanden, entsprechenden Angaben der Eltern bestätigt diesen Befund auch für die vorliegenden Daten. Durch diese Vorgehensweise konnte der durch den Rücklauf der Elternbefragung bedingte Anteil fehlender Daten in Bezug auf die berufliche Tätigkeit von 28% auf 14% reduziert werden. Aufbauend auf den berufsbezogenen Angaben und mithilfe des von Ganzeboom, de Graaf, Treiman und de Leeuw (1992) erstellten Indexes wurde der sozioökonomische Status der Familien bestimmt. Dafür wurden zunächst dem Beruf des Vaters und dem Beruf der Mutter gemäß dem Internationalen Sozioökonomischen Index (International Socio-Economic Index of Occupational Status, kurz ISEI) (Ganzeboom & Treiman 1996) der jeweilige ISEI-Wert zugewiesen. Anschließend wurde anhand der vergebenen ISEI-Werte eine Variable mit dem jeweils höchsten Sozialstatus in einer Familie gebildet (in der Forschung meist als HISEI bezeichnet). Die sich für den HISEI ergebende Verteilung mit einem Mittelwert von 49,00 und einer Standardabweichung von 16,4 weicht nur geringfügig von der bei PISA 2006 festgestellten Verteilung (M=49,15; SD=15,2; Ehmke & Baumert 2007) ab. Fehlende Werte sind in quantitativ ausgerichteten empirischen Untersuchungen ein häufiges Problem, das durch die längsschnittliche Ausrichtung von Studien meist noch zusätzlich verstärkt wird. In den letzten Jahren hat sich die Mul-
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Cornelia Braun, Volker Mehringer
tiple Imputation als sehr gut geeignetes Verfahren erwiesen, um fehlende Werte zu ersetzen (Schafer & Graham 2002). Vereinfacht gesprochen, werden bei einer Multiplen Imputation mit Hilfe leistungsstarker Algorithmen fehlende Datenwerte mehrfach geschätzt und mit diesen Schätzungen mehrere vollständige Datensätze erstellt, auf deren Grundlage die Analysen vorgenommen werden können. Für die vorliegenden Daten wurden mittels des im Statistikprogramm SPSS enthaltenen multiplen Imputationsverfahrens fünf vollständige Datensätze erzeugt. Die im Folgenden dargestellten Ergebnisse stellen die statistisch korrigierte Mittelung der auf Grundlage der fünf vollständigen Datensätze berechneten Werte dar. 4
Ergebnisse
Wie bereits in Abschnitt 2 herausgearbeitet, wird der formale Schulerfolg der Grundschüler(inne)n im vorliegenden Kontext anhand der am Ende der Grundschulzeit von den Lehrkräften ausgegebenen Übertrittsempfehlungen operationalisiert. Um Einflüsse verschiedener Faktoren auf die Übertrittsempfehlungen statistisch berechnen zu können, wird in der empirischen Bildungsforschung zumeist auf multinomiale logistische Regressionsanalysen zurück gegriffen. Die Ergebnisse solcher Analysen werden mittels so genannter odds ratios dargestellt. Vergleichbar mit Wettquoten geben sie das Verhältnis an, in dem die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses (hier: die Wahrscheinlichkeit eine Realschul- oder Gymnasialempfehlung zu erhalten) zur Eintrittswahrscheinlichkeit eines zuvor als Referenz gesetzten Ereignisses (hier: die Wahrscheinlichkeit eine Hauptschulempfehlung zu erhalten) steht. So beträgt beispielsweise, wie in nachfolgender Tabelle abzulesen, das odds ratio einer Gymnasialempfehlung für ein Kind ohne Migrationshintergrund 8.42, wenn dessen Mutter einen Gymnasialabschluss hat. Das heißt, verfügt eine Mutter aus einer nicht migrierten Familie über Abitur, so erhöht sich die Wahrscheinlichkeit für deren Kind eine Empfehlung für das Gymnasium anstatt einer Hauptschulempfehlung zu erhalten um fast das Neunfache. Schrittweise wurden jeweils für Grundschüler(inne)n mit und ohne Migrationshintergrund fünf unterschiedliche Regressionsmodelle berechnet. Modell I berücksichtigt nur die Indikatoren des in der Familie vorhandenen sozialen Kapitals, Modell II die Indikatoren des ökonomischen Kapitals und Modell III die Indikatoren des kulturellen Kapitals. Modell IV und V sind beides Gesamtmodelle, die alle Indikatoren beinhalten, wobei in Modell V zusätzlich die mittels des Grundintelligenztests (kurz: CFT; vgl. Cattell, Weiß & Osterland 1997) ermittelten kognitiven Grundfähigkeiten kontrolliert wurden. Die Tabellen 3 und 4 zei-
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg
65
gen die so berechneten Modelle. Im Folgenden werden die darin dargestellten Ergebnisse entlang der einzelnen Kapitalsorten kurz zusammengefasst und abschließend noch einmal im Gesamtmodell betrachtet. 4.1
Soziales Kapital
Als Indikatoren des sozialen Kapitals gehen zwei die Familienstruktur abbildende Variablen in die Analysen ein, zum einen, ob das Kind in einer Familie mit einer alleinerziehenden Mutter lebt2, und zum anderen, ob es ein Einzelkind ist oder Geschwister hat. Werden die Anteile der durch das Modell jeweils aufgeklärten Varianz miteinander verglichen, so zeigt sich hier bereits ein Trend, der sich auch bei den beiden weiteren Kapitalsorten und im Gesamtmodell fortsetzt. Die Anteile der aufgeklärten Varianz liegen bei den Modellen für Kinder ohne Migrationshintergrund durchgehend deutlich über den Anteilen der Modelle für Kinder mit Migrationshintergrund. Das heißt, die generierten Modelle haben für Grundschulkinder ohne Migrationshintergrund und deren familialen Hintergrund einen höheren Erklärungswert. Für das soziale Kapital liegt das Verhältnis der erklärten Varianzanteile bei 10% zu 1%. Zurückzuführen ist diese Differenz auf den für Familien ohne Migrationshintergrund signifikanten Einfluss der Familienform. Lebt ein Kind bei einer alleinerziehenden Mutter, so ist dessen Wahrscheinlichkeit anstatt einer Hauptschul- eine Gymnasialempfehlung zu erhalten nur etwa ein Drittel so groß (odds ratio=.29). Obwohl davon ausgegangen werden kann, dass Familien der gleichen Familienform keine homogene Gruppe darstellen, so lässt sich dennoch ein systematischer negativer Einfluss von Einelternfamilien ohne Migrationshintergrund auf den formalen Schulerfolg feststellen. Dieser Befund ist inhaltlich mit einer Reihe bereits oben genannter Studien in Einklang zu bringen, die ebenfalls empirisch belegen konnten, dass Kinder aus Kernfamilien hinsichtlich ihres formalen Schulerfolgs erfolgreicher sind als Kinder, die nicht kontinuierlich mit beiden leiblichen Eltern zusammenleben (vgl. Bofinger 1998; Fthenakis 2003; Schauenberg 2007). Als mögliche Ursachen für diese Differenz werden in der Literatur mehrere Aspekte diskutiert, angefangen bei durch die Scheidung bedingten Einkommenseinbußen über die psychosozialen Auswirkungen von Trennungen bis hin zu den teils knappen Zeitressourcen, die alleinerziehenden Eltern für ihre Kinder zur Verfügung stehen (vgl. Bofinger 1994).
2 Die Beschränkung auf alleinerziehende Mütter ist auf die Zusammensetzung der Stichprobe zurückzuführen, in der keine alleinerziehenden Väter enthalten sind.
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Cornelia Braun, Volker Mehringer
Tab. 3: Ergebnisse der logistischen Regressionen (odds ratios) für Kinder ohne Migrationshintergrund Übertrittsempfehlung (Referenzkategorie: Hauptschule) r Realschule Gymnasium Modell I II III IV V I II III IV V Familienform (Mutter alleiner.24 .31 .26 .21 .29 .25 .22 ziehend) Einzelkind .16 .83 .87 .95 .48 .36 .45 HISEI: 2. Quartil .19 1.22 .62 .59 1.10 .32 .31 HISEI: 3. Quartil .04 1.76 1.22 1.19 2.49 1.08 .87 HISEI: 4. Quartil -.33 .84 .27 .32 7.15 .99 .97 Nachhilfe .36 .32 .27 .28 .06 .04 .07 Kulturgüter: Zei-.14 1.00 .86 .87 1.99 1.55 1.59 tung Kulturgüter: -.03 .97 .84 .87 .83 .85 .74 Lernprogramme Kulturgüter: Bücher -.29 .88 .74 .60 1.80 1.47 1.23 (Zwei oder mehr Regale) Schulabschluss: .04 .87 1.05 .99 2.82 4.41 3.68 Mutter RS Schulabschluss: -.36 1.78 2.30 2.06 7.62 9.50 8.42 Mutter GY Schulabschluss: .17 3.19 5.72 5.49 1.24 1.73 1.67 Vater RS Schulabschluss: -.40 2.43 3.99 3.52 3.70 3.15 2.98 Vater GY Im Haushalt gesprochene Sprache (Nicht-deutsch) Positive Verstär-.26 1.51 1.80 1.66 1.81 1.37 1.52 kung Ermutigung -.10 1.30 1.39 1.48 .87 .88 .96 Anleitung -.09 2.00 2.22 2.11 1.06 1.18 1.05 Vorbildfunktion -.14 1.05 .68 .64 1.32 .91 .81 Pseudo R2 nach .10 .28 .40 .51 .56 .10 .28 .40 .51 .56 Nagelkerke Anmerkungen: Signifikante Werte sind fett gedruckt; Referenzkategorie bei HISEI ist das 1. Quartil; Referenzkategorie bei Schulabschluss der Eltern ist ein Abschluss der Hauptschule; Abkürzungen: RS – Realschule; GY – Gymnasium; r – Einfachkorrelation
Zu vermuten ist, dass die nachteiligen Effekte der Strukturvariablen Familienform nicht durch einen zentralen prozessualen Faktor zu erklären, sondern auf
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg
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das auf Prozessebene von Fall zu Fall unterschiedliche Zusammenspiel verschiedener Risikofaktoren zurückzuführen sind. Wie bereits der sehr niedrige Anteil an erklärter Varianz vermuten lässt, bleibt dieser Effekt der Familienform bei Kindern bzw. Familien mit Migrationshintergrund aus. Die Familienform weist hier keinen signifikanten Einfluss auf die ausgesprochenen Übertrittsempfehlungen auf. Der naheliegende Schluss, dass dieses Ergebnis durch eine in der Gruppe der Migrant(inn)en niedrigere Zahl an Familien mit alleinerziehenden Müttern bedingt ist, lässt sich nicht bestätigen. Ein statistischer Vergleich beider Gruppen hinsichtlich der Verteilung der Familienformen zeigt keinen signifikanten Unterschied. Alternative Erklärungsansätze für diesen Befund wären zum einen die Unterschiede in den Übertrittsempfehlungen zu Ungunsten der Migrantenkinder, so dass in vielen Fällen eine weitere Verschlechterung nicht möglich ist, oder zum anderen Unterschiede im sozialen Umfeld der Mütter mit Migrationshintergrund im Sinne zusätzlich zur Verfügung stehender sozialer Ressourcen, durch die die nachteiligen Effekte der Familienform zumindest teilweise kompensiert werden können. Zur Überprüfung beider Ansätze bedarf es allerdings diesbezüglich detaillierterer empirischer Daten. Was die zusätzlich zur Familienform in ihrem Einfluss überprüfte Einzelkindvariable anbelangt, so lässt sich sowohl für die Gruppe der Migrant(inn)en als auch für die Gruppe ohne Migrationshintergrund kein Einfluss auf die Vergabe von Übertrittsempfehlungen feststellen. Auch der in der Literatur teils vorzufindende Befund, dass Einzelkinder mit hohem sozialem Status bessere Übertrittsempfehlungen erhalten als entsprechende Kinder mit Geschwistern (vgl. Nauck, Diefenbach & Petri 1998), kann anhand des vorliegenden Datensatzes nicht bestätigt werden. 4.2
Ökonomisches Kapital
Die häufig herausgestellte und in ihrer Bedeutung nicht zu unterschätzende Konfundierung von Migrationshintergrund und sozioökonomischem Hintergrund steht bei der Betrachtung der familiären Ausstattung mit ökonomischem Kapital zweifellos meist im Fokus (vgl. Herwartz-Emden & Schneider 2006; SchründerLenzen 2008). Für die vorliegenden Daten zeigen erste statistische Analysen erwartungsgemäß ebenfalls einen stark ausgeprägten Unterschied in der Verteilung des HISEI zwischen der Gruppe mit und der Gruppe ohne Migrationshintergrund (t (435)=8,50; p<.001; d=.84). Mit Hilfe der berechneten logistischen Modelle lässt sich in einem weiteren Schritt herausstellen, inwieweit die gruppenspezifischen Verteilungen des sozioökonomischen Status die Vergabe der Übertritts-
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Cornelia Braun, Volker Mehringer
empfehlungen beeinflussen und wie sich diese Einflüsse zwischen den Gruppen unterscheiden. Modell II, das die Indikatoren des ökonomischen Kapitals berücksichtigt, zeigt zunächst, dass der für die Berechnungen in Quartilen unterteilte familiale HISEI für Kinder mit und für Kinder ohne Migrationshintergrund die Vergabe von Gymnasialempfehlungen teils wesentlich beeinflusst. In beiden Modellen erhöht die Zugehörigkeit zum obersten Quartil die Wahrscheinlichkeit, eine Gymnasialempfehlung statt einer Hauptschulempfehlung zu erhalten, ca. um das Siebenfache. Bei Kindern mit Migrationshintergrund erhöht die Zugehörigkeit auch die Wahrscheinlichkeit einer Realschulempfehlung. Die odds ratios der 2. und 3. Quartile hingegen sind nicht signifikant. Ein Vergleich der Chancenverhältnisse beider Gruppen für das 4. Quartil zeigt keine wesentlichen Unterschiede. Ein ebenfalls signifikanter Einfluss, diesmal allerdings auf der Prozessebene des ökonomischen Kapitals, kann für die Variable Nachhilfe festgestellt werden. Entgegen der eigentlichen Intention dieser pädagogischen Interventionsmaßnahme wirkt sich diese Maßnahme nachteilig auf die Übertrittsempfehlungen von Grundschüler(inne)n aus. Der Grund hierfür ist nicht in mangelnder Qualität der Nachhilfe zu suchen, sondern im Sachverhalt zu sehen, dass der Erhalt von Nachhilfe bei einem Schüler, gleich ob mit oder ohne Migrationshintergrund, meist eine Reaktion auf Schwierigkeiten bei den Schulleistungen und auf niedrigen Schulerfolg darstellt. Die in beiden Gruppen deutlich unter 1 liegenden odds ratios zeigen dementsprechend, dass durch Nachhilfe die Wahrscheinlichkeit, an eine Hauptschule überwiesen zu werden, deutlich größer ist als die Wahrscheinlichkeit, eine Empfehlung für das Gymnasium zu erhalten. Der Differenz der beiden Chancenverhältnisse ist abzulesen, dass der negative Effekt der Nachhilfe bei der Gruppe der Migrant(inn)en geringer ausgeprägt ist, was damit zusammenhängen könnte, dass Nachhilfe bei dieser Gruppe, vermutlich zur Förderung der deutschen Sprachkompetenz, oft auch bei leistungsstärkeren Schüler(inne)n eingesetzt wird.
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg
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Tab. 4: Ergebnisse der logistischen Regressionen (odds ratios) für Kinder mit Migrationshintergrund Übertrittsempfehlung (Referenzkategorie: Hauptschule) Realschule Gymnasium Modell r I II III IV V I II III IV V Familienform (Mutter allei.00 .94 .86 .76 .86 .57 .49 nerziehend) Einzelkind -.06 1.46 .98 1.05 1.93 .98 .92 HISEI: 2. Quar.07 1.71 1.63 1.64 1.23 1.03 1.03 til HISEI: 3. Quar-.09 2.05 1.37 1.26 2.72 1.80 1.44 til HISEI: 4. Quar-.24 4.36 3.41 3.82 7.60 6.11 7.80 til Nachhilfe .18 .75 .66 .65 .23 0.18 0.18 Kulturgüter: .20 1.10 .84 .89 .91 .75 .81 Zeitung Kulturgüter: .22 1.16 1.37 1.17 1.38 1.40 1.03 Lernprogramme Kulturgüter: Bücher -.24 .79 .82 .82 2.51 2.50 2.36 (Zwei oder mehr Regale) Schulabschluss: -.07 2.04 2.32 2.35 1.90 2.09 2.09 Mutter RS Schulabschluss: -.22 2.37 2.59 2.33 3.71 4.69 3.73 Mutter GY Schulabschluss: -.02 .98 .77 .71 1.03 .80 .75 Vater RS Schulabschluss: -.15 1.56 1.08 1.12 .96 0.44 .49 Vater GY Im Haushalt gesprochene .30 .39 .39 .37 .23 .21 .19 Sprache (Nicht-deutsch) Positive -.19 2.54 2.82 2.95 1.35 1.16 1.38 Verstärkung Ermutigung -.08 1.16 1.18 1.20 1.29 1.31 1.34 Anleitung -.05 .55 .51 .52 .58 .56 .53 Vorbildfunktion -.17 1.11 1.11 1.05 1.28 1.26 1.20 Pseudo R2 nach .01 .14 .30 .36 .41 .01 .14 .30 .36 .41 Nagelkerke Anmerkungen: Signifikante Werte sind fett gedruckt; Referenzkategorie bei HISEI ist das 1. Quartil; Referenzkategorie bei Schulabschluss der Eltern ist ein Abschluss der Hauptschule; Abkürzungen: RS – Realschule; GY – Gymnasium; r – Einfachkorrelation
70 4.3
Cornelia Braun, Volker Mehringer Kulturelles Kapital
Im Vergleich der drei für die einzelnen Kapitalarten berechneten logistischen Regressionsmodelle weist Modell III, das die strukturellen und prozessualen Indikatoren des kulturellen Kapitals umfasst, für beide Gruppen den höchsten Anteil an erklärter Varianz auf. Für Schüler(inne)n mit Migrationshintergrund liegt dieser bei 30% und für Schüler(inne)n ohne Migrationshintergrund bei 40%. Erneut wird durch das Modell bei Kindern ohne Migrationshintergrund mehr Varianz aufgeklärt als bei Kindern mit Migrationshintergrund. Das bedeutet, das Modell weist für erstere Gruppe eine bessere Passung auf. Welche Indikatoren in welchem Umfang zum erklärten Anteil beitragen, differenziert ebenfalls zwischen den beiden Gruppen. Zunächst ist festzuhalten, dass es vor allem Strukturvariablen wie der Bildungshintergrund der Eltern sind, die die Vergabe der Übertrittsempfehlungen signifikant beeinflussen. Die als Prozessvariablen berücksichtigten selbst konstruierten Skalen zur Abbildung der wahrgenommenen elterlichen Unterstützungsleistungen stehen selbst bei der Betrachtung der Einfachkorrelationen zumeist in keinem systematischen Zusammenhang zum formalen Schulerfolg. Im Rahmen der Regressionsanalysen zeigt nur die zuvor mittels Mediansplit dichotomisierte Unterstützungsleistung Positive Verstärkung, dass sie einen positiven Einfluss darauf hat, ob ein Kind mit Migrationshintergrund eine Realschulempfehlung anstelle einer Hauptschulempfehlung erhält (odds ratio = 2.54). Bei allen weiteren Vergabeentscheidungen spielen die erfassten elterlichen Unterstützungsleistungen keine oder eine nur unwesentliche Rolle, was die Frage aufwirft, von welchen Prozessen die – in ihrer Bedeutung durch die hohen erklärten Varianzanteile hervorgehobene – familiale kulturelle Praxis getragen wird. Eine eindeutige Antwort auf diese Frage können auch andere vergleichbare Studien (vgl. z.B. Martinez-Pons 1996 & 2002; Hoover-Dempsey & Sandler 2005) bislang noch nicht geben. Die vielen bisher untersuchten familiären Bildungs-, Sozialisations- und Erziehungsprozesse, die, wie die hier untersuchten elterlichen Unterstützungsleistungen, in den meisten Fällen von nur geringer Erklärungskraft sind, deuten darauf hin, dass die empirische Abbildung der familialen Prozessebene sich wesentlich komplexer und schwieriger gestaltet als die Modellierung der Strukturebene. Ein weiteres näher zu betrachtendes Prozessmerkmal, das allerdings nur in den Analysen der Migrant(inn)engruppe berücksichtigt werden konnte, ist die innerhalb der Familie gesprochene Sprache. Erwartungskonform und in Übereinstimmung mit dem Gros der bisher diesbezüglich erlangten Forschungserkenntnisse (Herwartz-Emden & Schneider 2006; Stanat & Christensen 2006) lässt sich belegen, dass bei Kindern, die in einem Haushalt aufwachsen, in dem
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg
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ausschließlich die Herkunftssprache und nicht Deutsch gesprochen wird, die Wahrscheinlichkeit, eine Übertrittsempfehlung für die Hauptschule zu erhalten, größer ist als die Wahrscheinlichkeit für die Realschule (odds ratio = .39) oder das Gymnasium (odds ratio = .23) empfohlen zu werden. Damit wird die vielfach in der Literatur hervorgehobene zentrale Bedeutung der deutschen Sprache für die strukturelle Integration von Migrant(inn)en in Deutschland nochmals unterstrichen (Esser 2006). Ebenfalls von großer Bedeutung für Schulerfolg und die damit zusammenhängende gesellschaftliche Integration sowohl für Kinder mit als auch für Kinder ohne Migrationshintergrund ist der eingangs erwähnte Bildungshintergrund der Eltern. Vor allem der Schulabschluss der Mutter ist in den vorliegenden Analysen derjenige Indikator des elterlichen Bildungshintergrunds, der sich bei beiden Gruppen am stärksten auf die Vergabe der Übertrittsempfehlung auswirkt. Der Schulabschluss des Vaters hingegen beeinflusst die Vergabe erstens nur bei Kindern ohne Migrationshintergrund und zweitens nur in deutlich geringerem Umfang als der Abschluss der Mutter. Dieser Befund widerspricht in Teilen anderen Studien, die – wie beispielsweise Lehmann und Gänsfuß (1998) – den Schulabschluss des Vaters als den dominanteren Einflussfaktor sehen. Einleuchtend ist der vorliegende Befund insoweit, da die Mutter als meist primäre Betreuungsund Bezugsperson des Kindes das familiale Erziehungs- und Sozialisationsumfeld am deutlichsten prägt und so auch größeren Einfluss auf den schulischen Erfolg des Kindes haben müsste. Eine empirische Klärung dieses Sachverhalts ist allerdings erst dann möglich, wenn über die allgemeine Wirkung des Strukturmerkmals hinaus, die zentralen familialen Prozesse empirisch ausgemacht sind, mittels derer der elterliche Bildungshintergrund einen indirekten Einfluss ausübt. Besonders hervorzuheben sind abschließend die Differenzen zwischen der Wirksamkeit des strukturellen kulturellen Kapitals bei Familien mit und bei Familien ohne Migrationshintergrund. Was zunächst den elterlichen Bildungshintergrund anbelangt, so wirkt sich der Schulabschluss von Migranteneltern deutlich weniger auf die Übertrittsempfehlungen ihrer Kinder aus als bei Eltern ohne Migrationshintergrund. Dieser Befund könnte unter anderem mit der von Nauck u.a. (1998) seit längerem vertretenen These der erschwerten intergenerativen Transmission von kulturellem Kapital bei Migrant(inn)en zusammenhängen. Trotz einer eigenen erfolgreichen Schullaufbahn im Herkunftsland fehlt Migranteneltern oft das formelle und informelle Wissen über das nationalstaatlich verfasste deutsche Schulsystem und damit wichtige Kompetenzen zur Unterstützung ihrer Kinder. Zudem kommt es im Migrationsprozess oft zur Entwertung des institutionalisierten kulturellen Kapitals, indem der im Herkunftsland erworbene Bildungsabschluss in Deutschland häufig nicht anerkannt wird. Beides könnte zu einer Verzerrung und Abschwächung des Zusammenhangs von elterlichem
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Cornelia Braun, Volker Mehringer
Schulabschluss und Übertrittsempfehlung beitragen. Dass aber die Entwertung institutionalisierten Kapitals nur bedingt mit der Entwertung des inkorporierten kulturellen Kapitals gleichgesetzt werden kann, ist vermutlich die Ursache dafür, dass im Gegensatz zu den Familien ohne Migrationshintergrund eine hohe Anzahl von Büchern im Haushalt von Migrantenfamilien einen signifikanten positiven Einfluss auf den formalen Schulerfolg hat. Die Anzahl der Bücher im Haushalt hat sich in vielen Studien als sehr guter Indikator für den kulturellen Anregungsgehalt des familiären Umfelds erwiesen (Deutsches PISA-Konsortium 2001; Bos u.a. 2007; Treumann u.a. 2007). Die Tatsache, dass dieser Indikator bei den Kindern ohne Migrationshintergrund keinen signifikanten Einfluss aufweist, könnte auf einen hohen Zusammenhang des institutionalisierten und des inkorporierten kulturellen Kapitals bei Eltern ohne Migrationshintergrund zurückzuführen sein, so dass die Auswirkung der Bücher im starken Einfluss des Schulabschlusses aufgeht. Bei den Migrantenfamilien deutet der signifikante Einfluss hingegen auf verbleibendes, nicht durch den elterlichen Schulabschluss erklärtes kulturelles Kapital hin, das die Wahrscheinlichkeit, eine Gymnasialanstatt einer Hauptschulempfehlung zu erhalten, um das Zweieinhalbfache erhöht. 4.4
Gesamtmodell
Als abschließende Analysen wurden die beiden logistischen Regressionsmodelle IV und V berechnet, die alle zuvor herangezogenen kulturellen, ökonomischen und sozialen Merkmale des familialen Hintergrunds beinhalten. Modell V wurde zudem eine Variable mit den Intelligenzgrundwerten zugefügt, um herausstellen zu können, welche der festgestellten Effekte sich in Abhängigkeit von den kognitiven Fähigkeiten verstärken oder abschwächen. Werden zunächst die Ergebnisse der Modelle IV und V für die Gruppe ohne Migrationshintergrund genauer betrachtet, so fallen einige Änderungen gegenüber den vorhergehenden Modellen I bis III auf. Vor allem auf der Ebene der ökonomischen und kulturellen Strukturvariablen treten neue Effekte hinzu, wie beispielsweise der positive Einfluss eines Realschulabschlusses des Vaters, der das Chancenverhältnis zugunsten einer Realschulempfehlung erhöht. Gleichzeitig entfallen Effekte von Variablen, wie der zuvor signifikante Einfluss des sozioökonomischen Status und des Schulabschlusses des Vaters auf die Vergabe von Gymnasialempfehlungen. Der Grund für diese Veränderung könnte unter Umständen der starke Zusammenhang des elterlichen Bildungshintergrunds mit dem sozioökonomischen Status der Familie sein, der gerade bei einer gleichzeitigen Berücksichtigung der beiden entsprechenden Merkmale zu Veränderungen
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg
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der Einflussstrukturen führen könnte. Auch auf inhaltlicher Ebene wären diese Veränderungen aufgrund von Interaktionseffekten nachvollziehbar, bildet doch der Zusammenhang von erreichtem Schulabschluss und gewähltem Beruf – und davon abgeleitetem sozioökonomischen Status – eine wesentliche Schnittstelle ab, an der kulturelles Kapital zu ökonomischem Kapital transformiert wird (vgl. Imdorf 2005). Aus der Kontrolle der kognitiven Fähigkeiten resultierende Veränderungen ergeben sich lediglich bei der Nachhilfe, die unter diesen Bedingungen ihren signifikanten Einfluss einbüßt. Als Ursache hierfür liegt nahe, dass der Erhalt von Nachhilfe bei Kindern ohne Migrationshintergrund Schulleistungsschwächen indiziert, die vor allem auf Unterschiede in deren kognitiven Fähigkeiten zurückzuführen sind. Weitgehend stabil auch in den Gesamtmodellen verhalten sich hingegen die Auswirkungen des sozialen Kapitals und des Schulabschlusses der Mutter. Bei den Modellen der Schüler(inne)n mit Migrationshintergrund zeigt sich eine gegenüber der autochthonen Gruppe deutlich höhere Stabilität der Ergebnisse aus den vorhergehenden Analysen. Auf kultureller, ökonomischer und sozialer Ebene bleiben die Effekte und deren Stärke in Modell IV weitgehend stabil. Lediglich der sozioökonomische Status büßt seinen signifikanten Einfluss auf die Vergabe der Realschulempfehlungen ein, was in der Ursache auch auf einen Interaktionseffekt von kulturellem und ökonomischem Kapital zurückzuführen sein dürfte. Im Übergang von Modell IV zu Modell V, also unter Hinzunahme der Intelligenzgrundwerte, verlieren auch die Anzahl der Bücher im Haushalt und der Schulabschluss der Mutter ihren Einfluss. Scheinbar wirken sich gerade diese beiden Merkmale des familialen Hintergrunds förderlich auf die Entwicklung der kognitiven Fähigkeiten aus. Im Vergleich der beiden Gruppen ist interessanterweise festzustellen, dass bei Schüler(inne)n mit Migrationshintergrund der Effekt der Nachhilfe auch unter Kontrolle der kognitiven Grundfähigkeiten nicht abnimmt. Anlehnend an oben bereits ausgeführte Überlegung kann angenommen werden, dass der Erhalt von Nachhilfe bei Migrant(inn)en nicht nur auf Unterschiede in den kognitiven Fähigkeiten, sondern auch auf migrationsbedingte sprachliche Schwächen im Deutschen zurückzuführen ist. Insgesamt bestätigt sich auch für das Gesamtmodell die bessere Passung der familialen Kapitalmerkmale bei Kindern ohne Migrationshintergrund. Alle gewählten Indikatoren zusammengefasst kann bei der Gruppe der autochthonen Kinder von der Verteilung der Übertrittsempfehlungen ein Varianzanteil von 51% erklärt werden. Bei den Kindern mit Migrationshintergrund sind dies 41%.
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Cornelia Braun, Volker Mehringer Fazit und Ausblick
Zielsetzung der vorliegenden Analysen war es, auf der Grundlage eines empirischen Modells des familialen Hintergrunds die in Abhängigkeit vom Migrationshintergrund differenzierten Auswirkungen und Effekte kultureller, ökonomischer und sozialer Prozess- und Strukturmerkmale auf die Vergabe der Übertrittsempfehlungen am Ende der Grundschulzeit und damit auf den formalen Schulerfolg herauszustellen. Abschließend wird an dieser Stelle noch einmal explizit auf zwei wesentliche aus den Berechnungen und den Ergebnissen gewonnene Erkenntnisse eingegangen; erstens auf die differentielle Passung des humankapitaltheoretischen Familienmodells, zweitens auf die geringe differentielle Wirkung des familialen Hintergrunds in Bezug auf die Vergabe von Real- oder Hauptschulempfehlungen. Daran schließt sich eine kritische Analyse des gewählten inhaltlichen und empirischen Vorgehens und ein Ausblick auf Anschlusspunkte für weitere Forschungsbemühungen an. Die zentrale Fragestellung, die mit den vorgenommenen Analysen verfolgt wurde, ist, inwieweit sich der Einfluss des familialen Hintergrundes auf die Vergabe von Übertrittsempfehlungen bei Kindern mit Migrationshintergrund und bei Kindern ohne Migrationshintergrund voneinander unterscheidet. Die Ergebnisse der logistischen Regressionen zeigen durchgängig, dass die Vergabe von Übertrittsempfehlungen bei Kindern ohne Migrationshintergrund durch die unterschiedliche familiale Ausstattung mit kulturellen, ökonomischen und sozialen Kapitalien weit besser zu erklären ist. In allen überprüften Modellen liegt der Anteil der erklärten Varianz bei der autochthonen Gruppe deutlich über den Anteilen der allochthonen Gruppe. Davon abzuleiten ist der in der Literatur häufiger gezogene Schluss (Diefenbach 2006; Schründer-Lenzen 2008), dass nichtmigrierten Familien durch ihre Kapitalausstattung im Vergleich eine bessere Passung von familiärer Lebenswelt und – stark nationalstaatlich geprägter – schulischer Lebenswelt möglich ist. Diese voneinander abweichende Passung drückt sich allerdings nicht nur in der Differenz der Erklärungskraft, sondern auch darin aus, welche der familialen Merkmale in welchem Ausmaß zur Passung kommen bzw. wirksam werden. So wird beispielsweise nur innerhalb der Migrantenstichprobe die im Haushalt gesprochene Sprache zu einem differenzierenden Merkmal, wohingegen sich die Familienform ausschließlich bei Kindern ohne Migrationshintergrund negativ auf die Vergabe von Übertrittsempfehlungen auswirkt. In vielen Fällen liegt die geringere Wirksamkeit des familialen Hintergrundes bei Familien mit Migrationshintergrund nicht an einem Kapitaldefizit, sondern vielmehr daran, dass sie die ihnen zur Verfügung stehenden Kapitalien, wie am Beispiel der erschwerten intergenerativen Transmission von kultu-
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rellem Kapital aufgezeigt, aufgrund der schlechteren Passung nur bedingt zum Einsatz bringen können. Ein Ergebnis, das zwar nicht im ursprünglichen Forschungsfokus dieser Untersuchung liegt, hier aber dennoch Erwähnung finden soll, ist die nur marginale differentielle Wirkung des familialen Hintergrunds auf die Vergabe von Realoder Hauptschulabschlüssen. Vor allem bei Kindern ohne Migrationshintergrund übt in den Modellen I bis III keiner der verwandten Indikatoren des familialen Hintergrunds einen signifikanten Einfluss auf das Chancenverhältnis aus, ob eine Real- anstelle einer Hauptschulempfehlung vergeben wird. Kinder ohne Migrationshintergrund, die eine Real- oder Hauptschulempfehlung erhalten, weisen daher scheinbar einen vergleichbaren familialen Hintergrund auf. Mit kleinen Abweichungen stellt sich die Lage bei den Schüler(inne)n mit Migrationshintergrund dar. Wenig überraschend hat die im Haushalt gesprochene Sprache auch bei der Vergabe von Realschulempfehlungen eine, wenn auch im geringeren Maße, negative Wirkung. In die entgegengesetzte Richtung wirkt die elterliche Unterstützung, die bei dieser Vergabeentscheidung einen wesentlichen Unterscheid zu machen scheint. Generell ist aber auch bei Kindern mit Migrationshintergrund davon auszugehen, dass die Entscheidung, ob sie eine Real- oder Hauptschulempfehlung erhalten, nicht oder nur im geringen Umfang von der familialen Kapitalausstattung abhängt. Darin bildet sich ein Entwicklungstrend der letzten Jahrzehnte ab, der aufzeigt, dass sich der disparitätenverursachende Effekt zwischen dem Haupt- und dem Realschulbesuch nivelliert, wohingegen der Gymnasialbesuch weiterhin stark durch soziale Ungleichheiten mitbedingt ist (vgl. Baumert, Watermann & Schümer 2003). In den vorliegenden empirischen Analysen bleiben, nicht zuletzt zugunsten einer übersichtlichen fokussierten Bearbeitung des gesetzten Themas, einige zentrale inhaltliche und methodische Aspekte unberücksichtigt. Zum einen ist dies die mangelnde weitere Differenzierung der Migrantengruppe. Es gehört mittlerweile zu den zentralen Prämissen interkultureller Forschungsbemühungen, Personen mit Migrationshintergrund nicht fälschlicher Weise als eine weitgehend homogene Gruppe zu behandeln. Wie bereits vielfach empirisch belegt ist (vgl. Herwartz-Emden & Küffner 2006), finden sich zwischen den verschiedenen Migrantengruppen große Unterschiede, so dass hier von einem hohen Maß an Heterogenität ausgegangen werden muss. Gleiches gilt natürlich auch für die betrachtete Teilpopulation der Kinder mit Migrationshintergrund, deren heterogener Zusammensetzung aufgrund der Stichprobengröße im gewählten Vorgehen nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen wird. Zu konstatieren bleibt allerdings, dass sich die untersuchten Personen mit Migrationshintergrund als Gruppe dennoch deutlich von den Personen ohne Migrationshintergrund unterscheiden. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass alleine das Vorhan-
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Cornelia Braun, Volker Mehringer
densein eines Migrationshintergrundes, ungeachtet seiner genauen Ausprägung, bereits ein in diesem Kontext erklärungsstarkes Gruppenmerkmal darstellt. Nichtsdestotrotz muss der nächste logische Forschungsschritt darin bestehen, eine vergleichbare Vorgehensweise um eine Differenzierung in zentrale Migrantengruppen zu erweitern, um ein trennschärferes Bild zum Zusammenhang von familialem Hintergrund und der Vergabe von Übertrittsempfehlungen zu erhalten. Des Weiteren müssten die vorgestellten Ergebnisse in anknüpfende Pfadanalysen überführt werden, um die hier teils nur heuristisch geäußerten Wirkmechanismen und Kausalbeziehungen einer genauen empirischen Prüfung zu unterziehen. Vor allem bei der Prüfung des Zusammenwirkens von Struktur- und Prozessvariablen wäre diese Analysetechnik von großem Vorteil. Inhaltlich wäre abschließend eine Erweiterung des Forschungsfokus um eine differenzierte Ungleichheitsperspektive wünschenswert, welche die von Boudon (1974) eingeführten heuristischen Dimensionen, die so genannten primären und sekundären Disparitäten, berücksichtigt. Dadurch wäre es möglich, primäre Effekte, welche auf die soziale Herkunft zurückgehende Leistungsunterschiede umfassen, von sekundären Effekten, die darüber hinausgehende Differenzen in den familialen Bildungsentscheidungen darstellen, zu trennen und damit eine genauere Erfassung des Zusammenhangs zwischen familialen Merkmalen und Schulerfolg zu ermöglichen. Literatur Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2001): Pisa 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Baumert, Jürgen; Schümer, Gundel (2002): Familiäre Lebensverhältnisse, Bildungsbeteiligung und Kompetenzerwerb im nationalen Vergleich. In: Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000. Die Länder der Bundesrepublik im Vergleich. Opladen: Leske + Budrich, S. 159-202. Baumert, Jürgen; Artelt, Cordula; Klieme, Eckard; Neubrand, Michael; Prenzel, Manfred; Schiefele, Ulrich; Schneider, Wolfgang; Tillmann, Klaus Jürgen & Weiß, Manfred (Hrsg.) (2001): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske + Budrich. Baumert, Jürgen; Watermann, Rainer; Schümer, Gundel (2003): Disparitäten der Bildungsbeteiligung und des Kompetenzerwerbs. Ein institutionelles und individuelles Mediationsmodell. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 6 (1), S. 46-71. Bofinger, Jürgen (1994): Familiensituation und Schulbesuch. Dokumentation des Forschungsstandes. München: Ehrenwirt. Bofinger, Jürgen (1998): Veränderte Familiensituation und der Schulbesuch der Kinder. In: Herbert Huber (Hrsg.): Lebensraum Familie. Lebensweltliche Perspektive. Donauwörth: Auer, S. 56-84. Bourdieu, Pierre (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital. In: Reinhard Kreckel (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten. Göttingen: Verlag Otto Schwartz & Co., S. 183-198.
Familialer Hintergrund, Übertrittsempfehlung und Schulerfolg
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cher. Mediennutzung und Medienkompetenz. Bielefelder Medienkompetenzmodell. Wiesbaden: VS Verlag.
Britta Hoffarth & Isabell Diehm
Migrationskindheit erzählt – Das Sprechen über sich selbst als Aneignung von Erinnerung
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Vom machtvollen und ordnungsstiftenden Sprechen
Die Frage, wie Migration als ein Ereignis der Kindheit mitsamt den damit verbundenen Erlebnissen erinnert, wie sie als Teil der Biographie autobiographisch erzählt und mithin rekonstruiert wird, wie dabei über sich selbst und zugleich über andere gesprochen wird, ist Gegenstand dieses Beitrags. Problematisiert wird das Verhältnis zwischen dem Reden über Andere und dem biographischnarrativen Reden über sich selbst. „Über andere zu reden heißt, über sich selbst zu reden“, konstatieren Fuchs und Berg (1995, S. 11). Das Reden über Andere ist stets ein Reden über Dritte, Abwesende, das nie authentisch nur ‚die Anderen’, sondern immer mindestens auch das eigene Selbst zum Erscheinen bringt. Dieses Reden ist in gewisser Weise performativ, denn es erschafft eine Imagination der anderen, die als Repräsentation verstanden wird, es bedient sich der Mittel der Inszenierung, um die Abwesenden zu imaginieren. Das Reden über andere stellt eine Praxis der Aneignung dar, welche insofern machtvoll ist, als Sprechen machtvoll ist (vgl. Mecheril & Quehl 2006). Wer das Vermögen hat, zu sprechen und legitim zu sprechen, das heißt, wer sich symbolischer Formen bedienen kann, sein Sprechen/Reden über andere in der sozialen Ordnung zu legitimieren und relevant zu setzen, kann sich überhaupt erst zu Gehör bringen. Das Vermögen zu sprechen ist die Voraussetzung, um sich relevant zu artikulieren, um Wichtiges und Richtiges mitzuteilen, um Teil zu haben. Ein Sprechen, das also gehört wird, besitzt die Macht, den anderen herzustellen. Auf diese Weise, also im Vollzug seiner Herstellung, findet gleichsam ein Aneignungsprozess des anderen statt. Genau dieses Moment der Aneignung des anderen mit einem besonderen Fokus auf die biographisch-narrative Rekonstruktion von Kindheitserinnerungen, welche die eigene Migration ins Zentrum stellen, steht in diesem Beitrag im Mittelpunkt unseres Nachdenkens über Migration, Kindheit und die Herstellung der anderen.
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Britta Hoffarth, Isabell Diehm
Im nächsten Schritt werden Überlegungen zur Bedeutung biographischer Forschung für eine migrationspädagogische Perspektive angestellt (2). Dann wird exemplarisch und interpretierend auf Ausschnitte eines biographischen Interviews eingegangen (3). Anschließend werden aus dem Interview extrahierte Überlegungen in Anlehnung an den von Stuart Hall geprägten Begriff der Artikulation diskutiert – einem Ansatz, der den Cultural Studies zuzuordnen ist. Erreicht werden soll so eine erste theoretisierende Verdichtung methodologischer Gesichtspunkte, die der Migrationspädagogik einen neuen biographieforscherischen Impuls geben möchte (4). Damit soll ein Beitrag geleistet werden zu dem methodologisch komplexen Problem, das (Migrations-)Kindheit und das Aufwachsen in Familien mit Migrationserfahrung fokussiert. Wie lassen sich Erfahrungen, die in diesem Zusammenhang gemacht werden mittels biographischer Interviews überhaupt rekonstruieren und welche Bedeutung kommt diesen Kontexten bei einer Rekonstruktion/Narration zu? 2
Das Sprechen über sich selbst und die Biographieforschung
Die folgenden heuristischen Überlegungen entwickelten sich auf Basis eines ersten biographisch-narrativ angelegten Interviews. Thema des Interviews sollten Kindheitserinnerungen an die Zeit der Einwanderung nach Deutschland sein. In einer interpretierenden Rekonstruktion zeigte sich, dass während des Erzählens andere als die erwarteten Themen an die Oberfläche drangen. Weder spielte das Konzept Lebenslauf noch der Topos Migration eine zentrale Rolle. Diese beiden Konstrukte stellen im Interview lediglich eine Folie zur Verfügung, vor der zum ersten Kindheit als durch Erziehungs- und Bildungsinstitutionen geprägte Phase und zum zweiten besondere Erfahrungen als thematisch verknüpfbar zu Topoi des Textes entwickelt werden, wie weiter unten deutlich wird. Im Folgenden sollen für die Interpretation der – die Methode in gewisser Weise irritierenden – Narration relevante Fragmente einer Methodologie der Biographieforschung vorgestellt werden. Der aktuelle Stand der Biographieforschung ist zweifellos geprägt durch zahlreiche Ansätze und Diskussionen, die hier allerdings nicht in ihrer Fülle Beachtung finden können. Mit Apitzsch gehen wir davon aus, dass es sich bei Biographieforschung sowohl um einen theoretischen Ansatz als auch um eine spezifische empirische Methode der Untersuchung sozialer Wirklichkeiten handelt (vgl. Apitzsch 2006, S. 501). Biographie als (textuelles, Daten-, aber auch Forschungs-) Format wird im Feld sozialwissenschaftlicher Studien immer bedeutsamer. Ein bedeutendes
Migrationskindheit erzählt
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Moment aktueller Diskussionen der Biographieforschung ist der Begriff des „doing biography“ (Bukow u.a. 2006, S. 11). Er verweist auf verschiedene methodologisch konstitutive Dimensionen, von denen besonders zwei für die folgenden Überlegungen von Bedeutung sind: Erstens sind Biographien ebenso wie Biographieforschung als „unentrinnbar konstruktivistisch“ (Bukow u.a. 2006, S. 10) zu verstehen. Zweitens geschieht diese Konstruktion auf mindestens drei Ebenen: Als Lebenslauf, als Erzählung sowie als Gegenstand biographischer Forschung. Was beschreibt der Begriff ‚Biographie’ und welche Funktion erfüllt er? Im Alltag ermöglicht das Entwerfen des eigenen Lebens als Geschichte die Herstellung von Orientierungen, Erklärungen und Legitimationen (vgl. Bukow u.a. 2006, S. 9). Mit Dausien stellt sich Biographie dar als „ein gesellschaftliches Konstrukt im Spannungsverhältnis von Struktur und Handeln. [...] Biographien werden also ‚gemacht’. Sie werden von konkreten Subjekten in konkreten Situationen konstruiert und re-konstruiert, sie bedürfen bestimmter Anlässe, haben bestimmte individuelle und kollektive Funktionen, orientieren sich [...] an normativen Vorgaben, ohne sie abbildhaft zu reproduzieren“ (Dausien 1996, S. 3f.).
In diesem Sinne betreibt Biographieforschung keine ereignisbezogene Geschichtsschreibung, sondern beschäftigt sich mit der Frage, auf welche Art sich Subjekte ihren Alltag (als Ausdruck kultureller Handlungsermöglichungen und verhinderungen) aneignen oder vielmehr, wie sie diese Aneignung diskursiv rekonstruieren und damit performativ vollziehen. Biographische Methoden erweisen sich als angemessene Zugänge einer Sozialwissenschaft, welche davon ausgeht, dass soziale Wirklichkeiten geprägt sind von der Ambiguität von Individualisierung und Prekarisierung auf der einen sowie dem steten Einfluss sozialer Ordnung auf die Lebensverläufe der Einzelnen auf der anderen Seite (vgl. Bukow & Spindler 2006, S. 19). Biographieforschung steht damit vor dem (fruchtbaren) Dilemma, selbst-biographische Texte als individuelle und einzigartige Konstruktion zu besondern und dieselben Texte gleichwohl zu verstehen als Ausdruck einer „kulturellen Normalität der Selbst- und Weltkonstruktion“ (Dausien & Mecheril 2006, S. 159f.). Eben diesem Spannungsverhältnis versuchen biographietheoretische Ansätze zu begegnen, indem sie die subjektivierenden Wirkungen sozialer Ordnungen als Spuren individueller Relevantsetzungen offenzulegen versuchen. Biographische Forschung im migrationswissenschaftlichen Kontext wird unter dieser Perspektive immer bedeutsamer, wie jüngere Veröffentlichungen zeigen (etwa Renner 2006; Bukow u.a. 2006; Apitzsch 2006).
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Rosenthal formuliert die Forderung, sich als Forschende an „Relevanzsystemen der Alltagshandelnden“ (Rosenthal 2005, S. 53) zu orientieren, was für sie zugleich eine Reflexion und Lösung von methodischen Prämissen bedeutet: „Sind wir als SozialforscherInnen an bestimmten Themen interessiert – z.B. an Migrationsprozessen oder dem Erleben der Erwerbslosigkeit – erfordert dies, dass wir [...] nicht vorher festlegen, was zu einem Thema gehört und was nicht. Weder beim Erleben der Migration noch der Erwerbslosigkeit können wir vorab wissen, was für den einzelnen Alltagshandelnden relevant ist und was nicht“ (ebd.).
Darüber hinaus sind genau die Relevantsetzungen im Sprechen des Alltagshandelnden von besonderer Bedeutung für eine interpretative Sozialforschung, die sich für die Frage interessiert, welche Spuren gesellschaftliche Strukturen im Leben der Einzelnen hinterlassen. Diese Strukturen bringen Subjektivitäten hervor, sie sind für die Subjekte auf vielfältige Art und Weise emotional bedeutsam, sinnlich-ästhetisch und leiblich erfahrbar und (das Selbst) bildend in dem Sinne, dass sie unter besonderen Bedingungen für sein Handeln relevant werden können. Eine weitere, hieran anschließende, methodologische Reflexion begleitete die Untersuchung zu diesem Beitrag, welche hier, wenn auch nicht abschließend diskutiert, dennoch für migrationswissenschaftliche Forschung als relevant thematisiert werden soll. Das Problem nämlich, etwas über Migration erfahren zu wollen und dabei den Gegenstand sowie die Subjekte des Forschungsprozesses festzuschreiben, stellt ein konstitutives Problem sozialwissenschaftlicher Forschung dar (vgl. hierzu im Hinblick auf die Kindheitsforschung: Diehm, Kuhn & Machold 2009). Dieses Problem kann im vorliegenden Beitrag nicht angemessen bearbeitet werden, benötigt jedoch weitere sensible Beachtung. 3
Sprechen über sich selbst I: Das Erlebte
Im Folgenden werden zwei Auszüge aus dem schon erwähnten biographischnarrativ angelegten Interview rekonstruktiv bearbeitet. Deniz, der autobiographische Erzähler, setzt im Moment des Interviews zwei Erlebnisse seiner Kindheit in einen thematischen Zusammenhang. Er beginnt seine Erzählung vom gemeinsamen Aufwachsen mit dem nur ein Jahr älteren Bruder in einem kleineren Ort in Nordrhein-Westfalen. Die erste Sequenz fängt Erinnerungen an die gemeinsame Zeit im Kindergarten ein. D: Wir sind hier in K. (-) halt kein hoher Ausländeranteil. Wir waren die einzige Ausländerfamilie da (-) halt. Und, ähm, (---) da waren wir im Kindergarten, in der gleichen Gruppe und (-) zum Beispiel so Sachen: Wir wussten halt, dass wir kein Schwein essen dürfen
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I: Hmm D: halt, ähm, wegen des Glaubens. (-) Und dass dann trotzdem, ähm, die Schüler uns das immer geben wollten, halt solche Sachen=an sowas erinner ich mich noch immer. Oder, ähm, dass zum Beispiel Geburtstag gefeiert wurde von einem Jungen und der ist dann rumgegangen und hat jedem Süßigkeiten gegeben, nur mir und meinem Bruder nicht. (-) Da meint die Kindergartenerzieherin: Warum kriegen denn, äh, die beiden nichts? Ja, TÜRKEN kriegen nix! (lacht) Und dann, äh, schon im Kindergarten halt dachte ich: wow!
Deniz’ Beschreibung scheint das Thema der ersten Sequenz in immer enger werdenden Kreisen schrittweise zu entwickeln. Während Deniz mit indizierenden Ausdrücken wie „die einzige Ausländerfamilie da“ schon die thematische Richtung vorgibt, bleibt er zunächst vage, umschreibt das Thema dann mit einem Beispiel („dass wir kein Schwein essen dürfen“ – „die wollten uns das immer geben“), auch als indizierender Verweis auf einen dominanten Diskurs zu verstehen, um schließlich seine Beschreibung im Bericht eines konkreten erinnerten Ereignisses abzuschließen. Deniz’ Erzählung steuert in ihrer kreisenden Bewegung auf eine Fallkonstruktion zu, in der er exemplarisch beschreibt, wie sich in seinem damaligen Kinderalltag soziale Aushandlungsprozesse ereigneten, an deren Anschluss Deniz’ Familie zur „Ausländerfamilie“ wurde. Der Erzähler nutzt eine Aufzählung sozialer Praxen der Unterscheidung, hier der Besonderung von Deniz’ und seiner Familie, um das anschaulich zu machen, er stellt in seiner Narration einen Zusammenhang her zwischen einzelnen Ereignissen, der sich beim Zuhören z.B. dechiffrieren lässt als ‚Ethnisierungserfahrung’ im Sinne einer Fremdethnisierung. Der Index „Ausländerfamilie“ sticht besonders hervor, denn er wirkt als Selbstbeschreibung irritierend, er bricht ein Sprechtabu, in dem ‚Ausländer’ eine illegitime Anrufung1 darstellt. Der Begriff erscheint als Selbstbeschreibung insofern alarmierend, als er die Verknüpfung zu einem illegitimen sozialen Status herstellt. Diese Zuschreibung markiert hier ein Anderssein als Nicht-DeutschSein, indem die Form, in der das Anderssein erlebt wird, nicht weiter konkretisiert wird. Markiert wird die ‚Illegitimität’ der Familie dadurch, dass alltägliche und routinisierte Praxen in einem Verhältnis der Differenz zu den Praxen der legitimen Inländer konstruiert werden. Die Regel „kein Schwein essen [zu] dürfen“ 1 Mit Butler bezeichnet der Begriff der Anrufung einen Sprechakt, in welchem das Subjekt auf verletzende Weise adressiert und attribuiert wird (vgl. Butler 1998, S. 41). „Die Anrufung versucht nicht eine bereits existierende Realität zu beschreiben, sondern eher eine Realität einzuführen, was ihr durch das Zitat der existierenden Konvention gelingt. Die Anrufung ist ein Sprechakt, dessen ‚Inhalt’ weder wahr noch falsch ist, weil ihre erste Aufgabe gar nicht in der Beschreibung besteht. Ihre Absicht ist vielmehr, ein Subjekt in der Unterwerfung zu zeigen und einzusetzen, sowie seine gesellschaftlichen Umrisse in Raum und Zeit hervorzubringen“ (ebd., S. 54).
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wird in einem Kontext, in dem Schwein, das als selbstverständlich und fraglos genossenes Nahrungsmittel signifiziert ist, als nicht sinnhaft nachvollziehbar wahrgenommen. „[K]ein Schwein essen dürfen“ im Kontext ‚Nicht-DeutschSein’ zitiert einen dominanten Diskurs, in dessen Kontext eine Verknüpfung von Regeln, Routinen und Alltagspraxen mit Religiosität erfolgt. Indem dieser Diskurs vom Erzähler zitiert wird, scheint auf, dass er nicht allein die diskursiven Indizes wiederholt, sondern sich selbst innerhalb der Diskurse deutet, die es über ‚solche wie ihn’ gibt. Sie sind ihm vertraut, denn sie sind Teil seiner Alltagswelt. In seiner diskursiven Markierung durch die Wiederholung der Ordnung des Diskurses macht er sich selbst sichtbar, erkennbar: Er zitiert nicht allein dominante Diskurse, die ihn als ‚nicht-deutsch’ festschreiben, sondern ebenso die Gegendiskurse, die die Facette der Zumutung dieser Festschreibung erkennbar machen. Gegen Ende der Sequenz verändert sich etwas in der Erzählung: Der Erzähler beschließt seinen kurzen Bericht mit einer ersten emotional gefärbten Äußerung: „Wow“. Diese bleibt jedoch nur vage emotional. Der Index „wow“ ist nicht determinierbar in seiner Bedeutung. Für das, was es zu erzählen oder sogar zu erklären gäbe, scheint es keine angemessenen Worte zu geben. In seiner Rekonstruktion der Episode erklärt Deniz, dass er „schon im Kindergarten dachte: wow“. Er zitiert hier eine alltagsweltlich bedeutsame generationale Differenz, in welcher die geringere kognitive oder moralische Entwickeltheit von Kindern im Vergleich zu der Erwachsener eine machtvolle Programmatik darstellt. Im „wow“ verknüpfen sich zwei Momente dieser Differenz: Zum einen der Zeitpunkt der Interviewsituation, in dem Deniz erwachsen ist und sich rekonstruierend mit seiner Geschichte befasst und zum anderen seine Vorstellung – im doppelten Sinne des Wortes: seine Imagination und seine Aufführung – von sich als Kind, welches die Episode erlebt und schon damals bewertet hat. Dieser Index fängt etwas Wesentliches ein, das als ein Moment von Sprachlosigkeit bezeichnet werden kann. Sprechen ist eine bedeutsame Praxis, mit der Subjekte in der sozialen Ordnung wirksam werden: Sinn stiften, Sinn (mit)teilen, anerkennen. Es scheinen keine Bezeichnungen zur Verfügung zu stehen, weder in der Kindheit noch im Erwachsen-Sein, die verstehbar machen könnten, was in diesem Moment für den Erzähler geschieht, welche subjektivierende Bedeutung das Erlebnis für ihn hat. Es entzieht sich einer konkreten Bezeichenbarkeit. Sprachlosigkeit bzw. die widerspenstige Auslösung des Ereignisses aus der Sprache, in einem Moment, in dem eine Aufforderung zum Sprechen besteht, stellt die für den Erzähler angemessene Ins-Verhältnis-Setzung zu diesem Erlebnis dar. Eine zweite Facette des Außer-Sprache-Seins ist die Annahme des geteilten Wissens und der moralischen Übereinstimmung. Der Erzähler setzt hier voraus, dass es ein geteiltes Wissen gibt über die polyseme Offenheit des „wow“, wel-
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ches zu einer moralischen Übereinstimmung in der Bewertung des „Türken kriegen nix“ zwischen Erzähler und Zuhörerin führt. Eine dritte Facette liegt in der strukturellen Wiederholung der Sprachlosigkeit. Im Index „Ausländerfamilie“ artikuliert sich eine Adaption an dominante Bezeichnungspraxen, wie sie im Kontext der Mehrheitheitsgesellschaft gang und gäbe sind, durch den Minorisierten selbst. Diese Selbstbeschreibung bedient sich damit Konzepten, welche möglicherweise (für Deutsche, für die Interviewerin) verstehbar(er) sind, und übernimmt einen Begriff, der als Fremdbeschreibung, als Anrufung wirkmächtig geworden ist. Die Äußerungen von Seiten der Mehrheitsangehörigen führen bei Deniz, dem Fremdgemachten, zu Sprachlosigkeit. Seine sprachlichen Ausdrucksmittel reichen nicht mehr hin, die Verletzung erzeugende Ausstoßung verbal zu fassen. Vor dem Hintergrund der von der Aufnahmegesellschaft immerzu beklagten Sprachdefizite türkischer Einwanderinnen und Einwanderer erscheint dies wie eine makabere Pointe. Im Anschluss an die Szene aus dem Kindergarten führt Deniz seine Erzählung über das ‚Anders-Sein’ mit Schulerlebnissen fort. D: Später ging die Schikane weiter dann. In (--) der Grundschule, da wurde zum Beispiel=ich hatte so ein kleines (-) äh, Workbook (-) mäßig, braucht man ja immer für den Englischunterricht, das hatte ich, ich hatte türkisch-muttersprachlichen Ergänzungsunterricht nach der Schule einmal die Woche. (-) Und, ähm, (---) da hatt ich dies Heftchen, was total (-) klein und leicht war, im Tornister gelassen, damit ichs nicht vergesse. Und dann kam meine Lehrerin jedes Mal rein, ähm, jeden Morgen und hat, äh, meine Tasche kontrolliert, ob ich das TÜRKENbuch dabeihabe. Und dann hat sie mich rausgezogen aus dem Unterricht, meinen Tornister genommen und ausgeschüttet erstmal, und gesagt, Du bringst das Türkenbuch nicht mit! Ja (lacht).
Mit „Schikane“ benutzt der Erzähler erstmalig einen Begriff, welcher das Erlebte konkret moralisch signifiziert. Als Schikanen werden im Sport absichtsvoll platzierte Hindernisse bezeichnet, im Alltag wird der Begriff genutzt, um ebenso gezielte, aber subtile Angriffe auf die eigene Person zu beschreiben. Deniz verdeutlicht hier die emotionale Bedeutung der bisher erzählten Erlebnisse, die er als „Schikanen“ erlebt hat. Was das Wort nicht beschreibt, ist die spezielle Dimension der Erlebnisse, welche sich alle auf „Praxen der Unterscheidung“ (Mecheril 2004, S. 193) in der Logik einer unterstellten ethnischen oder kulturellen Andersheit beziehen. Der Redefluss dieser Sequenz ist gekennzeichnet durch angefangene und abgebrochene Sätze, und scheint die Suche nach einer angemessenen Art der Beschreibung wiederzugeben, sozusagen ein Ringen mit der Re-Signifikation des Ereignisses. Ein besonderer Begriff in dieser Sequenz ist der des „Türkenbuches“. Er symbolisiert ähnlich wie der in der vorherigen Sequenz diskutierte Begriff „Ausländerfamilie“ die Adaption eines Signifikats, dessen dominante Einschreibung
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allerdings zurückgewiesen wird. Die Zurückweisung geschieht in der Betonung des Wortes „Türken“. Die Betonung markiert die Verwendung eines Zitats. Der Begriff stellt eine durch den Erzähler erfahrene Anrufung dar. In dieser in der Anrufung enthaltenen Signifikation durch die Lehrerin wird ein Prozess initiiert, in dem sich das Verhältnis des Erzählers zu sich selbst und zu seiner Umwelt verändert. Sie trägt die Forderung der Identifikation, des Zu-Erkennen-Gebens an ihn heran. Seine Antwort auf diese Forderung in der Retrospektive fällt in Form einer Aneignung aus: Er betont das Signifikat der Anrufung und weist es so als irritierend, störend, nicht zutreffend zurück. Die beobachteten Phänomene, Brüche und Bewegungen sollen im Folgenden unter dem Begriff der Artikulation einer Perspektive zugeführt werden, welche das Widerspenstige, das ihnen zueigen zu sein scheint, anerkennend als machtvolle Selbstdeutung konzipiert. 4
Sprechen über sich selbst II: Artikulation
„Vor dieser Aneignung [...] existiert das Wort nicht in einer neutralen oder unpersönlichen Sprache [...] es existiert eher im Mund anderer Leute, ihren Intentionen dienend: von dort muss man es sich holen und es zu seinem Eigenen machen“ (Bakhtin, 1981; zitiert nach Hall 2004, S. 118).
Das biographische Format wird in Deniz’ Erzählung eher in Frage gestellt als bestätigt. Die Fälle, in denen Deniz seine Erlebnisse rekonstruiert, akzentuieren eine bestimmte Facette des Erlebten: Es wird ereignisförmig wiedergegeben, die Erinnerung also zu – thematisch miteinander verknüpften – Ereignissen moduliert. Die Ereignisse sind als Erlebnisse krisenhaft: Es wird eine Diskrepanz zwischen dem Selbsterleben und der Anrufung durch andere erfahren. Die Anrufung fokussiert Ethnizität, unterstellt und stellt damit Andersheit als konstituierendes Moment des angerufenen Subjektes her, zugleich wird eine bestehende, hierarchisierte soziale Ordnung reproduziert. In dieser Ordnung unterscheidet sich das Eigene vom Anderen, das Normale vom Abweichenden. Die Erzählung artikuliert eine Auseinandersetzung, in der der Umgang mit erlebten Widersprüchen bearbeitet wird. Für Deniz, den Betroffenen, den Erzähler besteht der Umgang mit diesen Widerspruchserfahrungen darin, sich diese anzueignen und in der diskursiven Rekonstruktion innerhalb einer rassismuskritischen Logik lesbar zu machen. Hier fallen im Übrigen die narrative Aneignungspraxis des Erzählers und forschende Rekonstruktionspraxis zusammen. „Das Projekt Migration [...] wird überlagert durch unerwartete neue Erfahrungen“ (Apitzsch 2006, S. 508), welche, auf die im Interview konstruierten Fäl-
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le bezogen, mit Mecheril auch als Rassismuserfahrungen diskutiert werden können: „Wenn vor dem Hintergrund von Abstammungs- oder Herkunftskonstruktionen körperliche und soziale Ausprägungen als Hinweise auf Unterschiede wahrgenommen werden, die symbolisch und praktisch mit Formen der Degradierung, Beschämung und Angriffen einhergehen, dann handelt es sich um Rassismuserfahrungen“ (Mecheril 2004, S. 199).
Rassistische Praxen nutzen nach Hall (2004) Strategien der Stereotypisierungen, welche auf Essentialisierungen, Reduktion und Naturalisierung basieren. Apitzsch beschreibt ein Erkenntnisinteresse migrationswissenschaftlicher Biographieforschung in der Frage, „unter welchen Bedingungen eine Teilnahme an einer differenzierten sozialen Welt nicht [...] möglich ist und auf welche Weise sich solche Prozesse sozialer Unordnung in Biographien aufschichten“ (Apitzsch 2006, S. 508). Im Interview wird deutlich, dass eine Form der Verunmöglichung sozialer Teilhabe in Praxen rassistischer Ent-Subjektivierung besteht, eine Form der resignifizierenden Ermöglichung jedoch darin, diese Praxen als rassistische zu deuten und damit retrospektiv/stellvertretend für noch zu erwartende Erfahrungen zu delegitimieren. Dieses Moment der resignifizierenden Aneignung rassistischer Praxen soll im Folgenden mit Stuart Halls Begriff der Artikulation theoretisiert werden. Artikulation wird vom digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache übersetzt mit „Lautbildung, (deutliche) Aussprache“2. Im Lateinischen bedeutet ‚articulare’ ebenso wie deutlich sprechen auch gliedern. Artikulation bezeichnet im Alltag das Vermögen, so zu sprechen, dass man verstanden wird. Verstehen ist hier nicht allein vom korrekten bzw. bekannten Gebrauch von Grammatik und Vokabular einer Sprache abhängig, sondern von dem Angebot an symbolischen Bedeutungen, das der Sprechende der Zuhörenden macht. In Anlehnung an sowie in Abgrenzung zu diesem Verständnis von Artikulation soll im Folgenden das Konzept Stuart Halls vorgestellt werden. Es soll als eine Art Lesehilfe fungieren, die Rekonstruktion der rassistischen Anrufung in Deniz’ Narration anerkennend zu dechiffrieren. Stuart Hall konzipiert den Begriff der Artikulation als mehrdeutig: „Der Ausdruck ist ambivalent, er kann ‚sich gliedern’ (wie in den Gliedern des Körpers oder als anatomische Struktur) oder ‚ausdrücken’ heißen“ (Hall 1994, S. 116). Die Differenzierung zwischen den beiden Bedeutungen des Begriffes wird in der folgenden Erklärung Halls anschaulicher: „In England hat das Wort eine schöne Doppelbedeutung, weil ‚artikulieren’ sprechen bedeutet, zum Ausdruck bringen, artikuliert sein. Es hat die Bedeutung von ausdrücken, Sprache formen. Aber wir 2
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sprechen auch von einem verkoppelten (articulated) Lastwagen: Ein Lastwagen, bei dem das Führerhaus mit einem Anhänger verkoppelt sein kann, aber nicht muss. Die beiden Teile sind miteinander verbunden, aber durch eine bestimmte Art der Verkoppelung, die gelöst werden kann. Eine Artikulation ist demzufolge eine Verknüpfungsform, die unter bestimmten Umständen aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann. Es ist eine Verbindung, die nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder wesentlich ist. Man muss sich fragen, unter welchen Bedingungen kann eine Verbindung hergestellt oder geschmiedet werden“ (Hall 2000, S. 65).
Der Begriff Artikulation bezeichnet also eine Verbindung, eine Beziehung zwischen Elementen ebenso wie eine sprachliche Äußerung, welche allein vermögens der Fähigkeit des Subjekts, legitim zu sprechen, sagbar ist. Also bezeichnet der Begriff den Moment des Sprechens ebenso wie das Gesagte. Darüber hinaus beschreibt der Begriff Artikulation aus einer zeichentheoretisch informierten Perspektive eine Verknüpfung von Bedeutung und Bezeichnung. 4.1
Artikulation als Praxis
Der Begriff ist Ausdruck eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes, der die Verknüpfung zwischen Individuum und Gesellschaft als komplexes Spiel zwischen Positionierung, Konstruktion und Rekonstruktion versteht. Subjekte und soziale Ordnungen stehen in einem mindestens dialektischen Verhältnis zueinander, in welchem die Verknüpfung von Bezeichnungen und symbolischer Bedeutung auf Prozessen beruht, die sowohl durch Arbitrarität bzw. die Möglichkeit der Verschiebung entgrenzt als auch durch diskursive Determiniertheit begrenzt werden. „Es gibt nicht die eine wahre Bedeutung. Bedeutung ‚fließt’, sie kann nicht endgültig festgeschrieben werden. In der Praxis der Repräsentation werden jedoch ständig Versuche unternommen, in die vielen potenzielle Bedeutungen des Bildes zu intervenieren und einer davon zu einem privilegierten Status zu verhelfen“ (Hall 2004, S. 110).
Arbitrarität bezeichnet also in diesem Zusammenhang, „dass es nicht notwendigerweise Beziehungen gibt. Beziehungen sind eine Illusion. Ihre Erscheinung wird durch Macht erzeugt, und daher ist die einzige Antwort auf eine Beziehung, sie zu dekonstruieren, loszuwerden, zu verleugnen“ (Grossberg 1999, S. 64). Das arbiträre „Verhältnis von kulturellen Praktiken und ihren jeweiligen sozialen Kontexten“ (Winter 1999, S. 45), das Verhältnis von Bedeutung und Bezeichnung verändert sich durch Artikulation. Artikulation bedeutet die Entwicklung neuer Lesarten schon bekannter, geteilter Texte, Bezeichnungen, Selbstverständlichkeiten – neue Beziehungen zwischen Bedeutung und Bezeichnung entstehen. Artikulation ist demnach zu verstehen als eine Verknüpfung zwischen Integration und Opposition (des Subjekts), „die zusammengenommen ein dynamisches
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Modell der Zirkulation populärer Praktiken begründen“ (Winter 1999, S. 45). Und doch gibt es Lesarten, die dominanter, legitimer und fragloser sind als andere. Verschiedene Alltagspraktiken und Lebensstile, welche die soziale Ordnung einer Gesellschaft unter den Bedingungen von Migration prägen, stehen in diskursiv konkurrierendem Verhältnis zueinander. In dieser Konkurrenz der verschiedenen Stile geht es darum, den vermeintlich ‚richtigen’ Lebensweisen Ausdruck zu verleihen, sie innerhalb hegemonialer Diskurse zu legitimieren. Jedoch können auch dominante Bedeutungen nicht determiniert, nicht kontrolliert werden. Wird Artikulation verstanden als diskursive Praxis, Bedeutungen einzuschreiben, so ist das Moment der Nicht-Fixierbarkeit von Bedeutung konstitutiv für ihr Gelingen. 4.2
Artikulation als widerständige Praxis
In der Praxis der Artikulation wird eine (neue) Beziehung zwischen Bezeichnung und Bedeutung hergestellt, sofern sie sinnhaft lesbar ist, d.h. der Prozess muss immer auch anknüpfen an schon vorhandene Lesarten, um Sinn herstellen zu können. Eine alte Artikulation kann somit aufgelöst und eine neue geschaffen werden. Die Artikulation nutzt das Potenzial der Arbitrarität, der historischen Verhandeltheit von Bedeutungen, zur Möglichkeit einer Re-Signifizierung, einer Verschiebung alter Bedeutungsordnungen. Artikulation bezeichnet somit den Moment des Sprechaktes ebenso wie den semiotischen Prozess der Bedeutungszuweisung, indem Signifikant und Signifikat – Sinn herstellend – miteinander verknüpft werden. Dies ist der Prozess, in dem sich Ordnungen neu ordnen und Bedeutungen einander widersprechen, verzerren, ergänzen lassen: „Artikulation verlangt sowohl nach Dekonstruktion als auch nach Rekonstruktion“ (Grossberg 1999, S. 67). Die Signifikationen „wow“ und „Schikane“ sind in diesem Zusammenhang als neuordnende Artikulationen zu verstehen. Die Neuordnung der Bedeutungen scheint sich genau in dem heiklen Moment zu ereignen, der sich im Interview als Erinnerung des Erlebnisses, als (Re-)Konstruktion einer in der Kindheit vorgenommenen Signifikation materialisiert. Heikel ist dieser Moment, weil das Verhältnis von Erzählung, Erinnerung und Erlebnis für die Forschende nicht letztgültig ist. Fassbar ist allein die Signifikation des Moments, die etwa in der Bezeichnung „Schikane“ deutlich wird und mit welcher eine Delegitimierung der Anrufungspraxen „Türken kriegen nix“ und „Du bringst das Türkenbuch nicht mit“ bewirkt werden soll. Im Artikulationsmoment der Delegitimierung geraten die Praxen zu rassistischen und damit zu moralisch zu verwerfenden Anrufungen. „Rassismus ist eine symbolische Ordnung, die auf das Miteinander der
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Menschen regelnd einwirkt“ (Mecheril 2004, S. 193). Aber auch: Rassismus ist ein Begriff, der einer (nachträglichen, rekonstruierenden) Betrachtungsweise als machtvolle moralische Bewertung zur Verfügung steht. Der Erzähler Deniz erzeugt einen Text über diese Krisenerfahrung, indem er den Widerspruch zwischen einer fraglosen Selbstkonzeption und der Anrufung durch definitionsmächtige Andere rekonstruiert. Es vollzieht sich also eine rekonstruierende Narration des (als widersprüchlich) Erlebten. Rassismus kann in diesem Zusammenhang verstanden werden als eine doppelte, nachträglich aufgelegte Schablone, um das Erlebnis als Rassismuserfahrung zu kategorisieren. Was macht die Rekonstruktion eines Erlebnisses als Rassismuserfahrung zu einer widerständigen Artikulation? In der biographischen Erzählung, zu der explizit aufgefordert wurde, werden Ereignisse bearbeitet, für welche es keine widerspruchslose Deutung gab: Im empfundenen – mit „wow“ beschreibbar gemachten – Widerspruch konkurrieren verschiedene Bedeutungen miteinander. Der Erzähler entwickelt aus dem Erlebnis eine Geschichte, die erzählbar und verstehbar wird, das heißt, er hat sich im Laufe der Zeit eine ‚Semantik’, eine auf bestimmte Zeichen zurückgreifende Chiffre angeeignet, welche (wiedererkennbare) Erfahrungen des Othering, Erfahrungen klassifizierbar (kognitiv erklärbar) und erzählbar, also Dritten sinnhaft nachvollziehbar gemacht. Die Chiffre, die hier genutzt wird, greift auf ein ‚Vokabular’ zurück, mit dem Rassismuserfahrungen sowie rassistische Praxen erklärbar, also kenntlich gemacht werden. Als Erklärungen von Rassismuserfahrungen muss der biographische Text erkennbare Signifikate wiederholen, um verstehbar zu sein. Ebenso muss es ein geteiltes Wissen über Praxen der Rassifizierung wie auch über eine moralische Haltung gegenüber solchen Praxen geben, um die Erklärungen zu legitimieren. Im Sinne der Artikulation findet hier also eine Re-Signifikation, eine Neueinschreibung von Bedeutung statt. Artikulation beschreibt hier das Ereignis einer Deutung in der Neuordnung von Be-Deutungen und damit das Moment einer selbstermächtigenden Anordnung von Bedeutungen. 5
Resümee: Artikulation und Bildung
Erziehungswissenschaftlich weiterführend ist es, die im Beitrag entwickelten Überlegungen zu Artikulation als Aneignung von Bedeutungen unter einer Perspektive von Bildung zu thematisieren, welche Bildung vor allem als Veränderung von „Welt- und Selbstverhältnissen“ (King & Koller, 2009, S. 10) versteht. Wird Bildung als Selbstbildung verstanden, so kann von einer Modellierung der Erfahrung durch die Erzählung der eigenen Lebensgeschichte ausgegangen werden. Alheit und Hoerning verstehen den individuellen Vorrat an Wissen und Er-
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fahrung als „biographisch artikuliert“ (Alheit & Hoerning 1989, S. 8). Mit Schütz und Luckmann gehen sie davon aus, dass sich Prozesse routinisierter, fragloser Erfahrungsanlagerung von Prozessen abgrenzen, in denen Erfahrungen sich nicht widerstandslos an das gesammelte Wissen angliedern: Diese Erfahrungen „entsprechen nicht den Deutungsschemata und Typisierungen bisher erworbener Erfahrungen“ (ebd., S. 9). In diesem Widerspruch zwischen – präreflexiver, von Typenlogik geprägter – Erwartung von Ereignissen auf der einen und neuen, auf gewisse Art problematischen Erfahrungen auf der anderen Seite, liegt ein Moment der transformativen oder auch performativen Verschiebung. Subjekte entwickeln Strategien, ihre Erfahrungen, ob fraglos oder prekär, „biographisch in Ordnung zu bringen“ (Alheit & Hoerning 1989, S. 12). Dabei spielen kulturelle wie auch individuell-biographische Bedingungen der Konstruktion eine Rolle. Biographien entfalten sich innerhalb historischer Möglichkeitsräume, nicht determiniert, jedoch soziokulturellen Bedingungen unterworfen. In ihrer Studie zu Migration, Arbeit und Krankheit spricht Schulze von einer Strategie der Bewältigung im Rahmen des narrativ-biographischen Erzählens (vgl. Schulze 2006, S. 210), die im Spannungsfeld von Erinnern und Erzählen eine Aneignung des Erlebten zulässt. Erlebnisse dominanter Setzungen im Alltag „determinieren nicht schlicht das individuelle Tun, sie werden vielmehr in individuelles Tun und Erfahrungen transformiert und über Erfahrungen und durch das Tun angeeignet“ (Mecheril 2004, S. 198). Mecheril begreift das Aneignungsmoment als Subjektivierung. Menschen erleben, dass sich ihre „Handlungsfähigkeit und [ihr] Selbstverständnis“ (ebd.) in dialektischem Verhältnis zum Kontext befinden und (diesen) verändern. Deniz’ Artikulation der erlebten Anrufungen kann in diesem Sinne als ein nachträgliches Ins-Verhältnis-Setzen zum Erlebten verstanden werden. Wird Bildung als Formung des Selbst verstanden, so geschieht im Moment der Anrufung als ethnisch Andere/r genau dies: Ein Reflexionsmoment, ein durch die Anrufung entstandenes Moment der Selbstreflexion, fokussiert die Aufmerksamkeit auf das Selbst derart, dass das Verhältnis zu sich ebenso wie das Verhältnis zur Welt, in der dieses Selbst ordnend konzipiert wird, sich verändern kann. Biographische Arbeit erfordert immer ein Ins-Verhältnis-Setzen. „Aus der Perspektive potenziell Diskriminierbarer bedeutet dies, dass sie immer mit zwei Normalitätskonzepten zu rechnen haben: Mit einer subdominanten Normalität der Indifferenz des sogenannten Fremden [...] und mit der dominanten Normalität, die zwischen Migranten und Nicht-Migranten, zwischen Ausländern und Inländern, zwischen legitim Zugehörigen und bestenfalls befragt Zugehörigen unterscheidet“ (Dausien & Mecheril 2006, S. 172).
Widerständiges Potenzial entdecken Dausien und Mecheril im „Moment des Umschlagens“ (ebd., S. 173). Dies ist das Moment, in welchem verhandelt wird,
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wie dominant die dominante Normalität ist. In der Irritation von Normalitätsvorstellungen durch ‚andere Biographien’ liegt die Möglichkeit der Zurückweisung dominanter Vorstellungen, welche diese als zwar wirkmächtige, allerdings resignifizierbare (vgl. ebd.) Konstruktionen entlarvt. Der Beitrag ist zu verstehen als erkundender Versuch, Erlebnis und Erzählung in einer migrationswissenschaftlichen Perspektive zu verknüpfen. Weitere Fragen, Theoretisierungen unter der Perspektive Bildung sowie weiterführende methodologische Überlegungen zum Verhältnis von Biographie- und Migrationsforschung wären an anderer Stelle zu vertiefen und weiterzuverfolgen. Literatur Alheit, Peter; Hörning, Erika (Hrsg.) (1989): Biographisches Wissen. Frankfurt a. M.: Campus. Apitzsch, Ursula (2006): Biographieforschung und interkulturelle Pädagogik. In: Heinz-Hermann Krüger; Winfried Marotzki (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 499-514. Bukow, Wolf-Dietrich; Ottersbach, Markus; Tuider, Elisabeth; Yildiz, Erol (Hrsg.) (2006): Biographische Konstruktionen im multikulturellen Bildungsprozess. Wiesbaden: VS Verlag. Bukow, Wolf-Dietrich; Spindler, Susanne (2006): Die biographische Ordnung der Lebensgeschichte. Eine einführende Diskussion. In: Wolf-Dietrich Bukow; Markus Ottersbach; Elisabeth Tuider; Erol Yildiz (Hrsg.): Biographische Konstruktionen im multikulturellen Bildungsprozess. Wiesbaden: VS Verlag, S. 21-38. Butler, Judith (1998): Hass spricht. Berlin: Berlin Verlag. Dausien, Bettina (1996): Biographie und Geschlecht. Bremen: Donat. Diehm, Isabell; Kuhn, Melanie; Machold, Claudia (2009): Die Schwierigkeit, ethnische Differenz durch Forschung nicht zu reifizieren – Ethnographie im Kindergarten. In: Friederike Heinzel; Argyro Panagiotopoulou (Hrsg.): Qualitative Bildungsforschung im Elementar- und Primarbereich. Hohengehren. (im Erscheinen) Dausien, Bettina; Mecheril, Paul (2006): Normalität und Biographie. Anmerkungen aus migrationswissenschaftlicher Sicht. In: Wolf-Dietrich Bukow; Markus Ottersbach; Elisabeth Tuider; Erol Yildiz (Hrsg.): Biographische Konstruktionen im multikulturellen Bildungsprozess. Wiesbaden: VS Verlag, S. 155-178. Fuchs, Martin; Berg, Eberhard (1995): Phänomenologie der Differenz. In: Eberhard Berg; Martin Fuchs (Hrsg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S. 11-108. Grossberg, Lawrence (1999): Was sind Cultural Studies? In: Karl Hörning; Rainer Winter (Hrsg.): Widerspenstige Kulturen – Cultural Studies als Herausforderung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 43-83. Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Hamburg: Argument. Hall, Stuart (2000): Cultural Studies – Ein politisches Theorieprojekt. Hamburg: Argument. Hall, Stuart (2004): Ideologie Identität Repräsentation. Hamburg: Argument. King, Vera; Koller, Hans-Christoph (Hrsg.) (2009): Adoleszenz – Migration – Bildung. 2., erweiterte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag. Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz. Mecheril, Paul; Quehl, Thomas (2006): Die Macht der Sprachen. Münster: Waxmann.
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Renner, Erich (2006): Ethnographie und interkulturelle pädagogische Forschung. In: Hans-Hermann Krüger; Winfried Marotzki (Hrsg.): Handbuch erziehungswissenschaftliche Biographieforschung. Wiesbaden: VS Verlag, S. 149-170. Rosenthal, Gabriele (2005): Interpretative Sozialforschung. Weinheim: Juventa. Schulze, Heidrun (2006): Erinnern und Erzählen als Aneignung und Distanzierung von persönlicher und sozialer Geschichte. In: Wolf-Dietrich Bukow; Markus Ottersbach; Elisabeth Tuider; Erol Yildiz (Hrsg.): Biographische Konstruktionen im multikulturellen Bildungsprozess. Wiesbaden: VS Verlag, S. 201-216. Winter, Rainer (1999): Spielräume des Vergnügens und der Interpretation. In: Jan Engelmann (Hrsg.): Die kleinen Unterschiede. Frankfurt a. M.: Campus. S. 35-48.
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Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund – Eine empirische Reflexion einer bildungspolitischen Forderung
Einleitung In der Diskussion darum, wie man dem Problem der Benachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im Kontext von Schule begegnet und die damit verbundenen sozialen Schieflagen auflöst, wird vermehrt die bildungspolitische Forderung laut, mehr Lehrer/innen mit Migrationshintergrund für den staatlichen Schuldienst zu gewinnen (vgl. z.B. BAMF 2009; Verband Bildung und Erziehung, 2006). Erwartungen an Lehrpersonen mit Migrationshintergrund begründen sich aus einer vermuteten „größeren kulturellen Nähe“ (Deutsches PISA-Konsortium 2002) zwischen Schüler(inne)n und Lehrer(inne)n, die Migrationserfahrung haben. Erziehungswissenschaftliche Beiträge für mehr Lehrpersonen aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten, weisen darauf hin, dass sie nicht nur ein Potential für Migranten- bzw. Minderheitenkinder mitbringen (vgl. Quiocho & Rios 2000; Shaw 1996). Kinder und Jugendliche ohne Migrationshintergrund profitieren demnach ebenso von einer größeren kulturellen Heterogenität in der Lehrer(innen)schaft, indem sie ein potentiell positiveres Bild von Minderheiten erlangen, ein realistisches Konzept der sich entwickelnden multikulturellen Gesellschaft erwerben und selbst ein Verständnis für unterschiedliche kulturelle Hintergründe entwickeln (vgl. Quiocho & Rios 2000). Weiter wird konstatiert, dass der bisher geringe Anteil von Migrant(inn)en für die Lehrer(innen)schaft einen Erfahrungsverlust bedeute, der dazu führe, die interkulturelle Dimension von Bildung und Erziehung zu vernachlässigen. Lehrpersonen die durch unterschiedliche ethnische Herkunft geprägt sind, würden unterschiedliche Sichtweisen mitbringen und somit einen kompetenteren Umgang mit pädagogischen Problemen bewirken; positiv wäre somit auch ein erwarteter Einfluss auf die Kollegien insgesamt (vgl. Verband Bildung und Erziehung 2006). Die speziellen Rollen, die Lehrer/innen mit Migrationshintergrund erfüllen sollen, werden in der bildungspolitischen Diskussion oft auf die Formel „Vorbild, Übersetzer und Vertraute“ (Kolat 2007) gebracht. Nicht zuletzt ver-
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spricht man sich durch Lehrpersonen mit Migrationshintergrund einen besseren Kontakt zu den Eltern und hofft, diese stärker in Sachen Bildung aktivieren zu können (ebd.). Andere Erwartungen beziehen sich auf das Bildungssystem im Ganzen und antizipieren gar gesamtgesellschaftliche Änderungen. Diesen zufolge wäre die verstärkte Anstellung von Lehrpersonen mit Migrationshintergrund eine geeignete Strategie, um das Bildungssystem dahingehend zu ändern, dass nicht die Reproduktion bestehender gesellschaftlicher Partizipation vorrangige Funktion von Schule wäre, sondern vielmehr die Rekonstruktion sozialer Teilhabe (vgl. Quiocho & Rios 2000). Es wird angenommen, dass Lehrpersonen mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund besondere soziokulturelle Erfahrungen mitbringen, die sie sensibler für diskriminierende Aspekte gängiger Praktiken im Bildungssystem machen und sie auch bereitwilliger für entsprechende bildungspolitische und soziale Änderungen eintreten lassen (vgl. Sleeter 1992). Angesichts der dürftigen Forschungslage zu Lehrer(inne)n mit Migrationshintergrund ist jedoch zu fragen, inwieweit die an diese Forderung geknüpften Hoffnungen begründet oder zumindest plausibel erscheinen. Denn bislang gibt es keine empirische Evidenz zu der Frage, ob und inwiefern sich Lehrende mit Migrationshintergrund von anderen Lehrenden unterscheiden. Weder ist ihr Handeln und die ihnen unterstellte differenzielle Wirkung empirisch abgesichert, noch gibt es eine kohärente theoretische Begründung potentiell besonderer Handlungs- und Wirkungsweisen. Ziel des Aufsatzes ist es, diese bildungspolitische Forderung in einen pädagogisch-empirischen Zusammenhang zu bringen und zu klären, welche Bedeutung Lehrenden mit Migrationshintergrund vor dem Hintergrund abgesicherter Erkenntnisse für einen gelingenden und professionellen Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität in der Schule zugemessen werden kann. Wenn man Lehrerhandeln vornehmlich als effektive Wissensvermittlung konzipiert (vgl. Baumert & Kunter 2006), erscheint auf einen ersten Blick die besondere Effektivität von Lehrpersonen mit Migrationshintergrund fragwürdig. Denn es lässt sich berechtigterweise kritisch fragen, ob diese Lehrenden ein besonderes pädagogisches, pädagogisch-didaktisches oder fachliches Wissen haben, dass nicht nur eine bessere Wissensvermittlung an Kinder mit Migrationshintergrund sicherstellt, sondern auch gleichzeitig einen effektiven Unterricht für alle Kinder bietet. Ausgehend von diesem Standpunkt gibt es zunächst keine plausiblen Gründe anzunehmen, dass sie über eine besondere pädagogisch-didaktische Kompetenz verfügen, insbesondere wenn man unterstellt, dass vorwiegend kulturneutrale Inhalte vermittelt werden. Selbst wenn man diese (doch fragwürdige)
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Unterstellung gelten lässt, ist gleichzeitig jedoch zu bedenken, dass Bildungserfolg nicht allein und möglicherweise auch nicht überwiegend vom besonderen Handeln, Wissen und Können der Lehrperson abhängt und dass auch andere Aspekte eine Rolle spielen können. Dessen eingedenk soll die mögliche besondere pädagogische Bedeutung von Lehrenden mit Migrationshintergrund vor dem Hintergrund eines Modells des Zustandekommens von Bildungserfolg skizziert werden. Dazu wird zunächst kurz der Kontext der Forderung nach mehr Lehrpersonen mit Migrationshintergrund dargestellt. Die Plausibilität der in eine kulturell heterogene Lehrer(innen)schaft gesetzten Hoffnungen wird vor dem Hintergrund von Überlegungen zum Entstehen von Bildungserfolg erörtert. Angesichts der Komplexität der beteiligten Variablen kann dies notwendigerweise nur als Skizze erfolgen. 1
Heterogenität der Schüler(innen)schaft, Bildungsbeteiligung und schulischer Bildungserfolg: Ausgangspunkte der Forderung nach mehr Lehrkräften mit Migrationshintergrund
Die ungleiche Beteiligung von Kindern mit Migrationshintergrund an den unterschiedlichen Segmenten des Bildungssystems sowie die Abhängigkeit von Bildungserfolg von sozialer/kultureller Herkunft, sind in der erziehungswissenschaftlichen und bildungssoziologischen Literatur mittlerweile ausführlich belegt (vgl. Baumert, Cortina & Leschinsky 2003; Konsortium Bildungsberichterstattung 2006). Dies ist gerade mit Blick auf die zunehmende kulturelle Heterogenität bedenklich. Wenn man den Blick auf die Gesamtgruppe der ausländischen Schüler/innen richtet präsentiert sich eine beträchtliche Heterogenität hinsichtlich kultureller Herkunft, (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006, S. 143). Einer süddeutschen Regionalstudie zufolge (vgl. Herwartz-Emden, Küffner, Schneider & Wieslhuber 2004) weist fast die Hälfte der Grundschüler/innen der untersuchten Großstadt einen Migrationshintergrund auf, welcher hinsichtlich der dabei erkennbaren kulturellen Zugehörigkeiten und nationalen Herkünfte wiederum als sehr heterogen einzustufen ist (vgl. Herwartz-Emden 2005). Auch wenn schulischer Erfolg und die Beteiligung im Bildungssystem zwischen den verschiedenen Gruppen, welche über Wanderungsgeschichte verfügen, variiert (vgl. Prenzel, Baumert, Blum, Lehmann, Leutner, Neubrandt, Pekrun, Rolff, Rost & Schiefele 2004), weisen beispielsweise die PISA-Daten (ebd.) eine Benachteiligung für allochthone Kinder und Jugendliche nach.
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In Bezug auf mögliche Ursachen für den geringeren Schulerfolg von Schüler/innen mit Migrationshintergrund wird immer wieder auf die Allokation im Bildungssystem, den Spracherwerb bzw. den Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund in den Klassen verwiesen (vgl. Helmke, 2003, S. 137). Insbesondere der Beherrschung der Unterrichtssprache wird eine zentrale Bedeutung für den Bildungserfolg zugesprochen (vgl. Esser 2006). Der mangelnde Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund ist aber nicht einseitig den sprachlichen Defiziten der Kinder und ihren Familien anzulasten. Eine derartige Perspektive kann leicht dazu führen, andere Faktoren wie die unzureichende Würdigung und Förderung der Zweisprachigkeit und Mängel in der Unterrichtsqualität (vgl. Allemann-Ghionda 2006) zu übersehen. Überdies ist festzuhalten, dass in vielen Ländern bei ethnischen und/oder kulturellen Minderheiten, unabhängig von ihrem Migrationsstatus und ihren Kenntnissen der Verkehrssprache, bildungsbezogene Differenzen auftreten. Besonders gut dokumentiert ist dies für Minderheiten in den USA. Hierbei erweist sich die Leistungskluft gerade zwischen afroamerikanischen und weißen Schülern als groß (vgl. Strutchens, Lubienski, McGraw & Westbrook 2004). Trotz des jahrzehntelangen Wissens um diese Kluft und zahlreichen Versuchen ihr entgegenzuwirken (etwa durch Programme zur Förderung der intellektuellen und sprachlichen Fertigkeiten), ist sie eher noch angewachsen statt kleiner geworden (vgl. Gewertz 2003). Leider ist festzustellen, dass mit der entsprechenden Interpretation der Ergebnisse der Schulleistungsstudien oft eine einseitig kulturalistische Sichtweise einhergeht (vgl. Karakaúo÷lu,2009) und häufig weder Bezug auf die Diskussion um den „monolingualen Habitus“ (Krüger-Potratz 2005; Gogolin 1994) der deutschen Schule noch auf Befunde zur „institutionellen Diskriminierung“ (Gomolla & Radtke 2007) oder zu Erkenntnissen zu Einstellungen von Lehrenden gegenüber Migrantenkindern und ihrem Einfluss auf deren Bildungskarrieren (vgl. Bender-Szymanski 2002; Weber 2003; Weißköppel 2001) genommen wird. Ohne dass die entsprechenden Konzepte angemessen erhoben worden wären, wird mit Begriffen wie „Nähe zur deutschen Kultur“ (Deutsches PISA-Konsortium 2002, S. 289) operiert und damit auf kulturelle Defizite als Erklärung für Bildungsbenachteiligung verwiesen (vgl. Karakaúo÷lu 2009). Deswegen sind auch Aspekte zu berücksichtigen, die dann wirken, wenn keine kognitiven oder sprachlichen Defizite auf Schüler(innen)-Seite bestehen. Wie die Untersuchungen in Bezug auf die Integration von Schüler(inne)n mit nichtdeutscher Herkunftssprache zeigen, sind auch institutionelle Kontextmerkmale wie unterrichtsbezogene Organisationsformen (vgl. bsp. Stanat 2006; Kristen 2002), sozialstrukturelle Variablen und Mechanismen im Bildungssystem von Bedeutung (vgl. Alleman-Ghionda 2006; Gomolla & Radtke 2002). Institutionell verankerte Inkompetenz im Umgang mit kultureller Differenz in Form von diskriminieren-
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den Selektionsmechanismen (vgl. Krohne & Tillmann 2006), der „monolinguale Habitus“ der Lehrer(innen)schaft und eine entsprechende Schulkultur (vgl. Gogolin 1994; 2006) tragen häufig zum Scheitern der Schulkarrieren von Kindern mit nicht-deutscher Muttersprache bei. Mit Blick auf die Lehrer(innen)bildung ist hinsichtlich der aufgezeigten Mehrsprachigkeit der Schülerschaft in Deutschland (vgl. bsp. Schroeder 2007) und den unter Lehrkräften weitverbreiteten Fehleinschätzungen von Kindern mit nichtdeutscher Muttersprache bezüglich deren Fähigkeiten und Leistungen (vgl. Allemann-Ghionda , Auernheimer, Grabbe & Krämer 2006) eine erweiterte multilinguale und multikulturelle Ausbildung von Lehrkräften erforderlich. 2
Feldbeschreibung: Lehrende mit Migrationshintergrund und nichtdeutscher Staatszugehörigkeit im staatlichen Beschäftigungsverhältnis
Die Erwartungen an die positiven Effekte einer verstärkten Einstellung von Lehrpersonen mit Migrationshintergrund erklären sich aus den oben beschriebenen Defiziten im Umgang mit kultureller Diversität. Begründet wird die Forderung zunächst aus einer quasi demographischen Notwendigkeit heraus. So ist ein Missverhältnis zwischen dem Anteil an Schüler(inne)n mit Migrationshintergrund und dem Anteil an pädagogischem Personal mit einem ebensolchen Hintergrund festzustellen. Mit diesem Missverhältnis geht ein Auseinanderklaffen der soziokulturellen Merkmale, der Alltagswelt und den Erfahrungen zwischen der ‚typischen Lehrperson‘ und vielen Schüler(inne)n einher. Es gibt kaum zuverlässige Daten zum Anteil von Lehrer(inne)n mit Migrationshintergrund am gesamten pädagogischen Personal. Im Bildungsbericht 2008 wird bspw. die ethnische oder kulturelle Zugehörigkeit des pädagogischen Personals nicht ausgewiesen. Nach Schätzungen des Verbandes Bildung und Erziehung (2006) haben lediglich ein Prozent der rund 740000 Lehrer in Deutschland einen Migrationshintergrund, unter Lehramtsstudierenden sind es zwei Prozent, während fast 20% der Bevölkerung und etwa 30% der Grundschülerinnen und schüler einen solchen Hintergrund aufweisen. Die amtlichen Statistiken erfassen lediglich Lehrer/innen mit ausländischer Staatsangehörigkeit. Dies bildet die kulturelle Heterogenität an den Schulen allerdings nur ungenügend ab. So beträgt der Anteil ausländischer Schüler beispielsweise in Augsburg1 nach einem Bericht des Bayerischen Landesamtes für Statistik und Datenverarbeitung (2007) nur 15%; erhebt man jedoch differenziert 1 Das Beispiel Augsburg wurde gewählt weil hier Vergleichsdaten von Herwartz-Emden (2005) vorliegen.
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den Migrationshintergrund ergeben sich Quoten von bis zu 50% (vgl. HerwartzEmden 2005). Doch selbst wenn man die amtliche Statistik zu ausländischen Schüler(inne)n und Lehrer(inne)n zugrunde legt, zeigt sich das Missverhältnis: 10,2% ausländischen Grund- und Hauptschülern in Bayern stehen 1,3% ausländische Lehrpersonen gegenüber, an den Gymnasien betragen die entsprechenden Anteile 3,8% und 0,8% (vgl. Bayerisches Landesamt für Statistik und Datenverarbeitung 2007). Die lückenhafte Datenlage zu Lehrenden mit Migrationshintergund bzw. zu Lehrer(inne)n mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit zeichnet sich zusätzlich dadurch aus, dass es bislang keine statistischen Informationen darüber gibt, in welchen Fächern sie in den jeweiligen Schulen unterrichten (vgl. JordanovaDuda 2006). Eine entsprechende Aufschlüsselung nach fachdidaktischer Ausrichtung der Lehrenden würde eine weiterführende notwendige Analyse über die Stratifizierung im schulischen Beschäftigungssystem ermöglichen und Ansatzmöglichkeiten für eine differenzierte fachdidaktische Forschung bieten. 3
Empirische und systematische Hinweise auf besondere, zu erwartende Effekte durch Lehrkräfte mit Migrationshintergrund
In der bislang zu diesem Thema vorhandenen erziehungswissenschaftlichen Literatur werden die erwarteten Effekte differenziert betrachtet bzw. wird keine generelle Effektivität von Lehrpersonen mit Migrationshintergrund auf den Erfolg von Schüler(inne)n angenommen. Denn die ethnische Zugehörigkeit von Lehrpersonen garantiert in keiner Weise eine wie auch immer geartete Effektivität (vgl. Quiocho & Rios 2000). Aber es wird durchaus davon ausgegangen, dass Lehrpersonen, die ethnischen Minderheiten angehören, besondere Erfahrungen mitbringen, die ihnen helfen, kulturelle und sprachliche Barrieren in schulischen Kontexten zu überwinden (vgl. Irvine 1989). Es sind ihre gemeinsamen sozialen und kulturellen Erfahrungen (vgl. Nieto 1998) wie auch ihre besonders entwickelten Fertigkeiten ‚zwischen Kulturen zu vermitteln‘, die hilfreich dabei sind, zwischen Schule und Elternhaus eine Verbindung zu herzustellen (vgl. Irvine 1989). Bedeutsam ist dabei häufig, dass Lehrende mit Migrationshintergrund in der Regel nicht nur Erfahrung in einem kulturellen Kontext haben, sondern erfolgreich das Bildungssystem der Mehrheitskultur durchlaufen haben. Wegen ihres Bildungserfolgs können sie für Schüler/innen mit Migrationshintergrund als Vorbild dienen. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass gerade durch die Anstrengung (bildungs)erfolgreich zu werden, Lehrpersonen mit Migrationshintergrund negative Bilder von der eigenen Gruppe entwickelt und internalisiert haben können (vgl. Tellez 1999).
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Wenn der mangelnde Bildungserfolg von Schüler(inne)n mit Migrationshintergrund Ausgangspunkt der Forderung nach mehr Lehrkräften mit einem ebensolchem Hintergrund ist, dann gilt es zunächst zu klären, wie (mangelnder) Bildungserfolg zustande kommt. So lässt sich der mögliche Wirkungsbereich von Lehrpersonen mit Migrationshintergrund verorten. Ausgehend von Erkenntnissen empirischer Schulleistungsforschung scheint Bildungserfolg zunächst eine Sache des Individuums und seiner lernrelevanten Merkmale (Vorwissen, Motivation, Lernstrategien) zu sein. Doch wie aus Abbildung 1 ersichtlich wird, stehen diese in einem komplexen Bedingungsgeflecht. Mit Abbildung 1 wird der Versuch unternommen, verschiedene Faktoren, die Bildungserfolg beeinflussen und hinsichtlich derer Heterogenität zum Tragen kommt, nach verschiedenen, ineinander verschränkten Ebenen bzw. Kontexten zu ordnen. Leitend war dabei die theoretische Annahme, dass sich strukturelle Merkmale vermittelt über individuelle Bedingungsfaktoren und Prozessmerkmale des Unterrichts und der Familie auf den Bildungserfolg auswirken. Die genannten Merkmale und Faktoren stehen in einem systemischen Gefüge, in dem nicht einzelne Faktoren isoliert wirken. Legt man Abbildung 1 zugrunde, so kann man vier Ebenen unterscheiden: 1. 2. 3. 4.
Die Lehrperson mit ihrem spezifischen Wissen und Können Die Ebene des/der einzelnen Schülers/Schülerin Die Ebene des schulischen Kontexts/sozialer Nahbereich von Schule Die Ebene des außerschulischen Kontexts
Eine Orientierung an den hier unterschiedenen Ebenen kann helfen, die mögliche Rolle von Lehrer(inne)n mit Migrationshintergrund aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten, und gleichzeitig die Vielzahl empirischer Ergebnisse, die direkte und indirekt Hinweise auf die Bedeutung dieser Lehrkräfte liefern, zu ordnen. Allerdings erlauben die gesetzten Grenzen dieses Beitrags keine umfassende Berücksichtigung aller Ergebnisse zu allen vier Ebenen. Der Schwerpunkt wird deshalb bei der Lehrperson und den Schüler(inne)n als unmittelbar betroffenen Akteur(inn)en liegen.
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Abb. 1: Heuristisches Rahmenmodell zu den Bedingungsfaktoren des Bildungserfolgs auf verschiedenen Ebenen des schulischen Bildungssystems und des familiären Systems (adaptiert und erweitert nach Helmke & Schrader 2006). B ild u n g s s y s te m
S c h u lk o n te x t
K la s s e n k o n te x t
E in s te llu n g e n , P e rs ö n lic h k e it L e h rp e rs o n e n
P ro z e s s m e rk m a le d e s U n te rric h ts
K o g n itiv e F a k to re n
M o tiv a tio n a le F a k to re n
P ro z e s s m e rk m a le d e s L e rn e n s
M e ta k o g n itiv e F a k to re n
P ro z e s s m e rk m a le d e s fa m iliä re n E rz ie h u n g s v e rh a lte n s
F a m iliä re L e rn u m w e lt
E in s te llu n g e n , P e rs ö n lic h k e it F a m ilie n m itg lie d e r
S o z io k u ltu re lle H e rk u n ft
B ild u n g s e rfo lg
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Die Lehrperson mit ihrem spezifischen Wissen, Können und Handeln
Inwieweit sind Unterschiede bezüglich der Person der Lehrkraft zu erwarten, die für einen gelingenden Umgang mit kultureller Heterogenität relevant sind? Hier sind sowohl persönliche Charakteristika wie auch spezifische Kompetenzen von Lehrkräften angesprochen. 3.1.1 Personale und professionelle Identität und der Weg zum Beruf Wie Lehrer/innen sich selbst und ihre Profession wahrnehmen, welche Bedeutung sie ethnischer und sozialer Herkunft zuschreiben, ist unmittelbar für ihr Verständnis professionellen pädagogischen Handelns von Belang. Diese übergreifenden Orientierungen können den Erwerb und die Anwendung spezifischer Kompetenzen mitbestimmen. Inwieweit haben Lehrende mit Migrationshintergrund eine differenzielle, besondere Sichtweise auf den Lehrberuf? Welche Beweggründe verleiten sie oder halten sie davon ab, diesen Beruf zu ergreifen? Zu diesen Fragen liegen einige v.a. qualitativ ausgerichtete Studien aus dem angloamerikanischen Raum vor. In ihnen geht es darum, wie minority teachers sich selbst als Lehrer/innen sehen und welche Rolle ethnische Zugehörigkeit, soziale Schicht und Geschlecht in diesem Bild der eigenen professionellen Identität spielen. Die professionelle Identität scheint eng mit der personalen Identität dieser Lehrer/innen verwoben zu sein und sich im Kontext der sozialen und kulturellen Erfahrungen, die sie innerhalb ihrer Familien und communities machen, herauszubilden. Dabei prägt die so bestimmte Identität wiederum ihre Auffassung der kulturellen Diversität an den Schulen (vgl. bsp. Allexsaht-Snider 1996). Bei den von Galindo (1996) untersuchten Lehrer(inne)n spielten familiär vorgegebene Werte eine große Rolle; in ihren Familien galt als erstrebenswert, ‚gebildet‘ zu sein, was auch gute Umgangsformen, Respekt und Achtung mit einschloss. Von diesem Wert ausgehend definierten sie ihre Rolle als Lehrer/in, die sich besonders um die Weitergabe dieses Wertes und seiner Konnotationen als ein Stück kulturellen Erbes und ‚ethnischen Stolzes‘ drehte. In ähnlicher Weise galt es für die von Su (1997) untersuchten Lehrkräfte asiatischer Herkunft als besondere Errungenschaft, Lehrer/in geworden zu sein. Zugleich sahen sie sich als Vorbilder für ihre Schüler/innen. Aus ihrer kritischen Wahrnehmung des Bildungssystems und des Lehrer(innen)berufs entwickelten sie das Gefühl für eine besondere Verantwortung. Weil sie mit dem Status quo eher unzufrieden waren, sahen sie sich in ihrer Rolle als Lehrer/in in der Verantwortung, an entsprechenden sozialen Veränderungen mitzuwirken (vgl. Su 1997). Die zuweilen kritische oder gar negative Sicht auf den Lehrberuf kann allerdings auch dazu führen, dass Angehörige von Minderheiten diesen Beruf gar
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nicht ergreifen wollen. In verschiedenen Studien zeigte sich dessen negative Image bei Angehörigen kultureller Minderheiten (vgl. bsp. Su 1997). Dies kann sogar soweit führen, dass das eigene soziale Umfeld Druck ausübt, ‚mehr als bloß ein Lehrer‘ zu werden (vgl. Guyton, Saxton & Wesche 1996). Auch erfahrene minority teachers sind nicht vor einer negativen Wahrnehmung des eigenen Berufs gefeit, sie sind unzufriedener als ihre weißen Kolleginnen und Kollegen und nur 15,8% würden ihren Kindern diese Tätigkeit nahelegen. Diejenigen, die sich trotzdem für eine Karriere als Lehrer/in entscheiden, werden bei dieser Entscheidung von ihrer Familie wie auch von nahestehenden Lehrkräften beeinflusst. Ein wichtiger Grund den Lehrberuf zu ergreifen, ist dabei der Eindruck, dass das Schulsystem v.a. der Majorität dient und Angehörige von Minderheiten systematisch benachteiligt werden – eine Ansicht, die oft auf eigenen Erfahrungen mit in der Schule gängigen Vorurteilen gründet (vgl. Klassen & Carr 1997). Mit der Wahl des Lehrberufs ist dabei die Hoffnung verbunden, dieser Situation entgegenwirken zu können. Wie in Deutschland (angehende) Lehrer/innen mit Migrationshintergrund ihren Beruf sehen und welche Gründe für ihre Berufswahl ausschlaggebend sind, muss noch weitgehend als unerforscht gelten. Daten des statistischen Bundesamtes weisen aber auf eine ähnliche Problematik im hiesigen Kontext hin. Denn nur bei Lehramtsstudiengängen ist die Verteilung von Studierenden mit/ohne Migrationshintergrund im Verhältnis zur jeweiligen Gesamtanzahl Studierender nicht gleich. In Lehramtsstudiengängen sind 12% aller Studierenden ohne, aber nur 6% der Studierenden mit Migrationshintergrund zu finden. In allen anderen Studiengängen ist das Verhältnis in etwa gleich (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009). Die amtlicherseits vermuteten aber noch nicht belegten Ursachen sind das geringe Sozialprestige des Lehrer(inne)nberufs unter einzelnen Migrant(inn)engruppen, kaum vorhandene Karrieremöglichkeiten, schlechte Vorerfahrungen mit Lehrer(inne)n oder der Schule sowie Ängste, den Anforderungen im Staatsdienst nicht gewachsen zu sein (ebd.). 3.1.2 Professionelle Kompetenzen, pädagogisches Handeln und dessen Effekte Geht man im Hinblick auf das professionelle Können von Lehrer(inne)n vom Begriff der Kompetenz aus, wie er von Weinert (vgl. 2001) differenziert dargestellt wurde, lässt sich dieses Können am besten anhand der Anforderungen und Aufgaben beschreiben, die Personen in ihrem besonderen beruflichen Inhaltsbereich zu bewältigen haben. Betrachtet man demnach die tatsächlichen Anforderungen an und Aufgaben von Lehrkräften, so rückt eine Analyse der professionellen Kompetenz auf den ersten Blick die Vorbereitung, Planung und Durchführung von Unterricht als Kern des beruflichen Handelns von Lehrer(inne)n in den Mittelpunkt (vgl. Bromme 1997). Um diese Kernanforderungen adäquat zu erfül-
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len, sind sowohl ein spezifisches Wissen wie auch eine besondere Handlungskompetenz gefragt. Mit dieser Unterscheidung folgt man Weinerts (2001) Konzeption, die kognitive Kompetenzen im engeren Sinne (Professionswissen) von Kompetenzen in einem weiteren Sinne (Professionelle Handlungskompetenz) abhebt. Die kognitiven Kompetenzen der Lehrkräfte, also ihr Professionswissen, lassen sich mit Shulman (1986) und Bromme (1997) anhand der Unterscheidung von Fachwissen (content knowledge), fachdidaktischem Wissen (pedagogical content knowledge) und allgemeinem pädagogischen Wissen (pedagogical knowledge) beschreiben. Baumert und Kunter (2006) ergänzen diese Kompetenzfacetten um die Bereiche des spezifischen Organisations- und Interaktionswissens (vgl. bsp. Hiebert, Gallimore & Stigler 2002; Fried 2003) sowie um das Beratungswissen, das zur Kommunikation mit Laien erforderlich ist (vgl. Bromme, Jucks & Rambow 2000). Das Professionswissen von Lehrkräften umfasst demnach fünf Kompetenzbereiche, die sich wiederum in verschiedene Kompetenzfacetten untergliedern lassen. Diese Facetten beschreiben die unterschiedlichen deklarativen, prozeduralen oder konzeptuellen Wissenselemente, welche zur erfolgreichen Gestaltung von Schule und Unterricht erforderlich sind. Inwieweit diese Facetten und Elemente kulturell geprägt sind und inwieweit hier Unterschiede zwischen Lehrpersonen mit unterschiedlichem kulturellen Kontext zu erwarten sind, ist weitgehend ungeklärt. Deswegen ist zunächst davon auszugehen, dass es keine systematischen Unterschiede zwischen Lehrpersonen mit und ohne Migrationshintergrund hinsichtlich des fach-, fachdidaktischen und allgemeinpädagogischen Wissens geben sollten, zumal sie die gleiche Ausbildung durchlaufen haben und im gleichen Bildungssystem sozialisiert wurden. Trotz dieser ggf. gleichen Kompetenzen und den kulturneutral erscheinenden Inhalten, sind Unterschiede in der Vermittlungskompetenz nicht auszuschließen. Die Omnipräsenz kultureller Prägung lässt allzu leicht bspw. kulturelle Unterschiede in der Konnotation selbstverständlich erscheinender Begriffe oder Konzepte (wie etwa Zahlen) übersehen. Die Bedeutung von Lehrpersonen mit Migrationshintergrund ergäbe sich dann daraus, dass sie eher wissen, wie man bestimmte Inhalte unterschiedlich auffassen und verstehen kann. Diese Vermutung stützen die Unterrichtsbeobachtungen von Cesar & Borges (2007), denen zufolge ein kultursensibles Unterrichtshandeln weniger von einem allgemeinen Bewusstsein für Interkulturalität abhängt, sondern sich in der Fähigkeit zeigt, die vielen unterschiedlichen Herangehensweisen von Schüler(inne)n an Aufgaben, deren unterschiedliches Verständnis und unterschiedlichen Lösungswege nachvollziehen zu können.
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Die Frage, ob tatsächlich bei Lehrer/innen mit Migrationshintergrund ein unterschiedliches pädagogisches Handeln, also eine systematisch anders gelagerte Form von professioneller Handlungskompetenz, zu erwarten ist, ist derzeit nur spekulativ zu beantworten. Allerdings geben die Studien von Foster (bsp. 1990) zu afroamerikanischen Lehrer/innen Hinweise darauf, dass deren besondere Erfahrungen und Einstellungen sich auch auf ihr pädagogisches Handeln auswirken. Auch wenn es dazu aktuell noch wenig Erkenntnisse gibt, so sind die Hinweise darauf, dass Lehrer/innen ohne Migrationshintergrund sich gegenüber Kindern mit Migrationshintergrund anders verhalten, doch zahlreich. Verhaltensunterschiede wurden v.a. im Zusammenhang mit unterschiedlichen Lehrer(innen)erwartungen untersucht. Die Frage ist, ob die Effekte von Lehrerer(innen)wartungen auch tatsächlich auf unterschiedlichem Verhalten der Lehrpersonen beruhen. Schon viele der frühen Studien zu Erwartungseffekten finden hierfür Hinweise. In einer Studie von Rist (1970) hatte die vermutete bzw. unterstellte Intelligenz von Vorschulkindern einen Einfluss darauf, wie diese von ihren Erzieherinnen platziert wurden und wie viel positive Aufmerksamkeit sie bekamen. Die unterstellte Intelligenz korrelierte nicht mit der tatsächlichen, aber mit äußeren Merkmalen, die bspw. eine unterschiedliche Schichtzugehörigkeit nahelegten. Die Leistungserwartungen von Lehrer/innen werden oft durch die Zugehörigkeit der Schüler/innen zu bestimmten sozialen Gruppen beeinflusst. Resultieren aus der Wahrnehmung der sozialen Herkunft negative Erwartungen an Schüler/innen kann damit ein Verhalten seitens der Lehrer/innen einhergehen, das die Leistungen dieser Schüler/innen beeinträchtigt. Gerade dann, wenn die Schüler/innen einer sozialen Schicht oder Gruppe angehören, die sich von der des Lehrers/der Lehrerin unterscheidet, ist dies zu erwarten. So werden Schüler/innen, die Minderheiten angehören, in US-amerikanischen Schulen von Lehrer/innen, die der Majorität angehören, seltener gelobt und häufiger kritisiert als ihre Mitschüler/innen (vgl. Aaron & Powell 1982; Simpson & Erickson 1983). Sie erhalten weniger Unterstützung (vgl. Taylor 1979) und sie haben weniger positive Interaktionen mit ihren Lehrer/innen (vgl. Byers & Byers 1972). Da sie sich von den meist weißen und aus der Mittelklasse stammenden Lehrer/innen unterscheiden, laufen gerade Kinder aus Minderheiten Gefahr, negativen Erwartungen ausgesetzt zu sein. Sie sind insbesondere für die Effekte dieser Erwartungen anfällig und stärker von ihrem Lehrer/ihrer Lehrerin abhängig (vgl. Irvine 1990). Vorliegende Forschungsarbeiten zeigen außerdem, dass Kinder die Erwartungen ihrer Lehrer/innen kennen und richtig einschätzen (vgl. bsp. Tal & Babad 1989; Weinstein 1989).
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Die Existenz und der Einfluss von Erwartungseffekten auf die Leistungen von Schüler/innen mit Migrationshintergrund speziell in Deutschland sind leider kaum empirisch belegt. Aufgrund der Forschungslage erscheint es jedoch plausibel anzunehmen, dass es auch in Deutschland zu solchen Effekten kommt: Erwartungseffekte und verwandte Phänomene wurden nicht nur in den USA, sondern auch in einer Reihe anderer Länder nachgewiesen, darunter in den Niederlanden (vgl. bsp. Jungbluth 1993), in Spanien (Navas, Sampascual & Castejon, 1993), Kanada (Morency, Bordeleau, Sormany, Girous, & Arseneault-Tremblay, 2003), Israel (Tal & Babad, 1989) und Taiwan (bsp. Kuo, 1981). Dies belegt die Existenz von Erwartungseffekten in zahlreichen unterschiedlichen kulturellen Kontexten. In Deutschland ist des Weiteren der mangelnde Bildungserfolg von Schüler/innen mit Migrationshintergrund ein allgemein bekanntes Problem (s.o.). Gleichzeitig finden sich immer wieder Hinweise auf negative Stereotype im Hinblick auf das Bildungspotential zumindest einiger Zuwanderergruppen in Deutschland (Strasser & Hirschauer, 2009). Die öffentlich breit diskutierten Defizite von Kindern mit Migrationshintergrund in Bezug auf ihre schulischen Leistungen und die bestehenden Stereotype im Hinblick auf ihre Bildungsaspirationen können seitens der Lehrer(innen)schaft negative Erwartungen hinsichtlich der Leistungen von Schüler/innen mit Migrationshintergrund wecken. Selbst wenn dies nicht zuträfe, ist auf jeden Fall vorstellbar, dass Erwartungseffekte hinsichtlich der sozialen Zugehörigkeit bestehen. Da Schüler/innen aus Zuwandererfamilien häufig auch einen niedrigeren sozialen Status aufweisen, wären sie in diesem Fall in besonderem Maße von Erwartungseffekten betroffen. Problematisch können derartige Erwartungen bei Fragen des Übergangs an weiterführende Schulen werden, da dabei in Deutschland den Empfehlungen von Lehrer/innen eine wichtige Rolle zukommt. Dass diese Empfehlungen nicht immer allein auf den bisherigen Leistungen von Schüler/innen mit Migrationshintergrund beruhen, konnte in zwei qualitativen Studien gezeigt werden (vgl. Gomolla & Radtke 2002; Allemann-Ghionda et al. 2006). In diese Empfehlungen fließt insbesondere ein, wie der jeweilige Lehrer/die jeweilige Lehrerin das elterliche Unterstützungspotential einschätzt. Zu dieser Einschätzung wiederum werden der Migrationshintergrund, die Bildungsnähe(-ferne) des Elternhauses und die Anzahl der Geschwister als Indikatoren herangezogen. Es ist nicht auszuschließen, dass Migrantenkinder dadurch Bildungskarrieren durchlaufen, die nicht ihr tatsächliches Potential ausschöpfen. Personen mit Migrationshintergrund, die erfolgreiche Bildungskarrieren absolviert haben, berichten dementsprechend von Episoden, in denen sie sich mit derartigen negativen Einschätzungen und Empfehlungen auseinandersetzen mussten (vgl. Strasser & Hirschauer 2009). Zugleich berichten sie aber auch von Lehrkräften, die sie ermutigten, eine anspruchsvollere Laufbahn einzuschlagen. Aufgrund der eher anekdotischen
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Datenlage, kann die Frage, ob Lehrerer(innen)wartungen insbesondere auf dem Wege von Schulempfehlungen die Bildungskarrieren von Kindern mit Wanderungsgeschichte in Deutschland beeinflussen als noch nicht geklärt gelten. Die hier kurz umrissene Forschungslage macht deutlich, dass Lehrer/innen ohne Migrationshintergrund durch Schüler/innen mit verschiedenen kulturellen Hintergründen in ihrer professionellen Kompetenz in besonderer Weise herausgefordert sind. Diese Herausforderungen betreffen ihre diagnostische Kompetenz sowie die sich aus ihren Urteilen ergebenden Erwartungen, welche wiederum Konsequenzen für ihr instruktionales Verhalten haben können. Angesichts der Erkenntnisse über Lehrerer(innen)wartungen, (Fehl-)Einschätzungen und damit einhergehendem differenziellem Verhalten erscheint die Forderung nach mehr Lehrkräften mit Migrationshintergrund plausibel. Es ist anzunehmen, dass sie gegenüber Kindern mit Migrationshintergrund weniger negative Erwartungen entwickeln und ggf. ihre Einschätzungen auf genauere Kenntnis des familialen und kulturellen Kontexts stützen können. Trotz der Belege hierfür, die beispielsweise eine Studie von Beady & Hansell (1981) liefert, der zufolge afroamerikanische Lehrer/innen höhere Erwartungen gegenüber afroamerikanischen Schüler/innen haben als weiße Lehrkräfte, bedarf diese Annahme jedoch weiterer empirischer Evidenz. 3.1.3 Spezifische professionelle Kompetenzen Lehrender im Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität Welche Erkenntnisse liegen bislang über den konkreten Umgang Lehrender mit migrationsbedingter Heterogenität in Schule und Unterricht vor? In der Betrachtung des Forschungsstandes zeigt sich die Rolle von Deutungsmustern, welche auf personaler und auf institutioneller Ebene im schulischen Kontext wirksam sind. Den Ausgangspunkt der deutschsprachigen Forschung zum Umgang mit kultureller Heterogenität in der Schule bilden zunächst die explorativen Studien von Czock (1985) und Diehm/Kordon (1990) zum Umgang der Lehrpersonen mit sprachlicher Vielfalt sowie Erhebungen zum monolingualen Habitus im öffentlichen deutschen Schulsystem (Gogolin 1994). Diese Untersuchungen zeigten deutlich, wie der ‚common sense‘ der Monolingualität in der Institution Schule sowie in Deutungsmustern von Lehrenden und Eltern ohne als auch mit Migrationshintergund gestützt wird. Ebenso klar stellen Marburger, Helbig und Kienat (1997) Wahrnehmungs- und Deutungsschemata fest, die sich in einer defizitorientierte Einstellung von Lehrenden gegenüber einer kulturell heterogenen Zusammensetzung ihrer Klassen zeigen. Ihre Studie offenbarte eine Haltung des kulturellen Ethnozentrismus der befragten Lehrer/innen sowie deren Bindung
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und Verpflichtung gegenüber einer ethnozentrisch ausgerichteten Institution Schule. Dies resultiert in Ausgrenzung und Marginalisierung von Minderheitssprachen und -kulturen, wie auch in einer Abwertung nichtdeutscher Schüler/innen und deren Eltern sowie in hohen Erwartungen hinsichtlich der Anpassung an das Mehrheitssystem (ebd.). Ebenso werden die jeweiligen kulturellen Bezugskontexte von der Mehrheit der Lehrenden häufig nicht als bedeutungsvoll erachtet (vgl. Auernheimer, von Blumenthal, Stübig &Willmann 1996), was dazu führt, dass stigmatisierende Äußerungen – auch subtiler Art – nicht beachtet werden. Dies wird erklärt mit Unsicherheit im Umgang mit kultureller Vielfalt, welche sich vor allem auf einen Mangel an positiven Modellen im Umgang mit Heterogenität in der Praxis zurückführen lässt (vgl. Auernheimer, Blumenthal, Stübig & Willmann 1996). Ergebnisse von Sterzenbach und Moosmüller (2000) zeigen, dass Lehrende nur unzureichend auf eine heterogene Zusammensetzung der Klassen vorbereitet sind und sich fehlende Kenntnisse vor allem in mangelndem Respekt bezüglich kultureller Unterschiede, in geringerer Bereitschaft zur Anpassung und einem fehlenden Bewusstsein darüber, dass angebotene Lernmodelle keine allgemeine Gültigkeit beanspruchen können, ausdrückt. Dass das kulturelle Bezugssystem der Schüler/innen von Lehrenden nie als Ressource wahrgenommen wird, sondern vielmehr durchgängig als ‚schwerwiegende Beeinträchtigung der schulischen Leistungsfähigkeit‘ (vgl. Weber 2003 S. 246) gesehen wird, die nach Möglichkeit aus dem Schulalltag herauszuhalten ist, ist weiterer Ausdruck defizitärer interkultureller Kompetenz. Eine qualitative Studie aus Österreich von Fillitz (2003) zeigt, dass die Verbindlichkeit interkulturellen Lernens von dem individuellen Einsatz der Lehrperson und der Haltung der Schulleitung abhängt. Zudem wird konstatiert, dass interkulturelles Lernen vorrangig aus einer problemorientierten Perspektive und nicht im Wesentlichen als ein kontinuierliches Unterrichtsprinzip wahrgenommen wird. Diejenigen Lehrpersonen, die sich für interkulturelles Lernen einsetzen und denen ein situationsbezogener dauerhafter Umgang mit Differenz gelingt, sind selbst entweder mit einer kulturell heterogenen Familiensituation verbunden oder aber verfügen über spezifische Fortbildungserfahrung. Amerikanische Studien bestätigen die Erkenntnisse der österreichischen Forschergruppe, dass der Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität vorwiegend den Lehrenden gelingt, die selbst im Familienkontext mit kultureller Heterogenität befasst sind oder aber private Kontakte zu Personen mit Migrationshintergrund unterhalten (vgl. Smith 2000). Ebenso konnte Lanfranchi (2002) herausarbeiten, dass die Qualität der Unterstützung der (Grund)schüler/innen mit Migrationshintergrund durch die
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Lehrer/innen auf besondere interkulturelle Kompetenzen der Einzelnen zurückgehen, die nicht institutionell erworben wurden (ebd. S.321). Das Fazit, das Edelmann (2006) aus ihrer Forschung zu interkulturellen Kompetenzen im pädagogischen Umgang mit Heterogenität zieht, lässt Gründe erkennen, die für eine vermehrte Einstellung vom Lehrerinnen und Lehrern mit Migrationsgeschichte sprechen. Zum einen konstatiert sie Unsicherheiten im Bezug auf die Herausforderung im Umgang mit Heterogenität. Diese Unsicherheiten führen im Umgang mit Schülerinnen und Schülern dazu, dass Lehrende die heterogenen Hintergründe der Kinder und Jugendlichen überhaupt nicht ansprechen bzw. ignorieren. Sie wissen häufig nicht, welche kulturellen und vor allem auch sprachlichen Hintergründe ihre Schülerinnen und Schüler mitbringen. Fehlendes oder unterdrücktes Interesse ermöglicht es, dass Differenzen in andere diskursive Räum abgleiten, in denen sie schwerer rational bearbeitbar sind. Infolge der verdrängen Diversität wird Stereotypen und häufig defizitorientierten Einstellungen hinsichtlich Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund Vorschub geleistet, die dann allerdings wiederum die Möglichkeit bieten, Differenzen im ‚Eigenen und im Fremden‘ wahrzunehmen. Es wird angenommen, dass eine stärkere Durchmischung von Lehrenden mit und ohne Migrationsgeschichte sowohl im Kollegium als auch im Umgang mit den Schülerinnen und Schülern einen Prozess begleiten, der Interkulturalität thematisiert und beabsichtigt, die realen Unterschiede zukünftig zu erkennen und damit (professionell) umzugehen. Für diese Annahme spricht, dass die eigene Erfahrung mit kultureller Heterogenität bspw. hinsichtlich der Familiensituation oder aber auch das Unterhalten von persönlichen Beziehungen zu Personen mit Migrationshintergrund einen positiven Umgang mit der kulturellen Heterogenität in der Schüler(innen)schaft befördern (ebd., S. 60). Edelman (2006) stellt für den Umgang mit Heterogenität in der von ihr untersuchten Schweizer Stichprobe sehr unterschiedliche Umgangsformen mit migrationsbedingter Vielfalt fest, die in Verbindung stehen mit der jeweiligen ‚subjektiven Interpretation der Kontextqualitäten‘ sowie persönlichen Interessen (vgl. ebd., S. 191). Sie zeigt in ihren Ergebnissen eine Typologie auf, die ein Spektrum umfasst, das von einer abgrenzenden-distanzierten Haltung, bis hin zu einer kooperativ-synergieorientierten Haltung reicht. Die Untersuchung von Edelmann weist für die Lehrenden mit Migrationshintergrund einige bemerkenswerte Ergebnisse aus: Lehrpersonen, die selbst über Migrationsgeschichte verfügen sind
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in allen Typen außer dem abgrenzend-distanzierten Typus vertreten2. Der individuell-synergieorientierte Typus zeigt sich überhaupt nur bei Lehrenden mit Migrationshintergrund oder bei Lehrpersonen, die in einer binationalen Familiensituation leben. Es fällt auf, dass Orientierung und Sichtweisen von jungen Lehrpersonen mit Migrationshintergrund dem anerkennungsorientierten Typus entsprechen, was nahe legt, dass sich diese Personen aufgrund biographischer Gegebenheiten von der Thematik migrationsbedingter Heterogenität nicht distanzieren können (vgl. ebd. S. 194). Edelmann stellt ihre Ergebnisse zu Lehrpersonen mit Wanderungsgeschichte in vier thematischen Feldern dar. Sie zeigt ‚prägende Erfahrungen‘ der Personen auf, die Wirksamkeit in einer ‚Vorbildfunktion‘, den Aspekt der ‚Elternzusammenarbeit‘ und letztendlich die ‚Teamkooperation‘. Im Themenfeld ‚prägende Erfahrungen‘ wird deutlich, dass Lehrende mit Migrationshintergrund ihren Identitätsprozess immer im Zusammenhang mit multipelkulturellen und den nationalen Kontext überschreitenden sozialen Räumen in Verbindung bringen und Mehrsprachigkeit ein zentrales Thema der Familie ist. Insofern betonen sie das Verständnis, das sie aufgrund eigener biografischer Erfahrung für Schülerinnen und Schüler mit Migrationsgeschichte aufbringen können. Sie wissen, was es bedeutet zwischen verschiedenen kulturellen Orientierungssystemen und Sprachen aufzuwachsen und beispielsweise, den sprachlichen Anforderungen von Schule nicht gerecht zu werden oder bei Differenzen zur Mehrheitsgesellschaft Ausgrenzung und Diskriminierung zu erfahren. Diese Ergebnisse sprechen für besondere Kompetenzen von Lehrpersonen mit Migrationshintergrund im Umgang mit kultureller Heterogenität. 3.2
Die Ebene des/der einzelnen Schülers/Schülerin
3.2.1 Modelllernen, Vorbildwirkung, Identitätsstärkung Ein Argument für die Präsenz von Lehrer/innen mit Migrationshintergrund besagt, dass Kinder von Migrat(inn)en durch das positive Vorbild dieser Lehrer/innen gefördert würden. Inwieweit ist diese Annahme gerechtfertigt? Es gibt Hinweise darauf, dass für Schüler/innen aus ethnischen Minderheiten die Lehrperson eine weitaus wichtigere Rolle in ihrem Leben einnimmt als dies für Angehörige der Majorität der Fall ist (vgl. Irvine 1988). Für viele afroamerikanische Kinder nehmen afroamerikanische Lehrer/innen oft die Rolle von Ersatzeltern 2 Edelmann arbeitet in ihrer Untersuchung in Anlehung an den Idealtypus nach Weber (1904/1998) insgesamt sechs Typen heraus: Den abgrenzend-distanzierten Typus, den stillschweigend-anerkennenden Typus, den individuell-sprachorientierten Typus, den koopertaiv-sprachorientierten Typus, den individuell-synergieorientierten Typus sowie den kooperativ-synergieorientierten Typus (vgl. Edelmann 2006).
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ein. Dies wird auf den oft prekären Status von Minderheitengemeinschaften zurückgeführt und die Bedeutung, die Bildung für das Überleben und Weiterkommen in einer von der Majoritätskultur dominierten Gesellschaft einnimmt. So stellen Lehrer/innen für afroamerikanische Jugendliche ein „signifikantes Gegenüber“ (significant other) (vgl. Shade 1983) dar und ihr Selbstkonzept hängt stark davon ab, wie sie ihrer Ansicht nach von ihren jeweiligen Lehrer(inne)n wahrgenommen werden. Afroamerikanische Schüler/innen mit niedrigerem sozialem Status und schwächeren Leistungen sind stärker von der Lehrperson abhängig und werden stärker durch die Erwartungen von Lehrer(inne)n beeinflusst als das bei weißen Mittelklasseschüler(inne)n der Fall ist (vgl. Good & Brophy 1985). Das Vorbild von Lehrpersonen, die der eigenen Minderheit angehören, könnte der Entfremdung zwischen Minderheitenschüler(inne)n und dem Bildungssystem entgegenwirken (vgl. Everhart 1983; MacLeod 1987), denn speziell von afroamerikanischen Schüler(inne)n werden Schulen als Teil einer Kultur gesehen, die mit der eigenen nicht kongruent ist. Die mangelnde Übereinstimmung zwischen den Normen und Werten der eigenen Kultur und der vom Bildungssystem geförderten kann dazu führen, dass sich afroamerikanische Schüler/innen in ihrer schulischen Umwelt als Fremde fühlen (vgl. King 1991). Schulischen Erfolg zu erzielen wird in dieser Perspektive als Ausdruck dafür gesehen, dass man sich im Normensystem der Mehrheit bewegt und die eigene afroamerikanische Identität aufgibt (vgl. Fordham & Ogbu 1986). Afroamerikanische Lehrer/innen können hier aufzeigen, wie man Bildungserfolg und kulturelle Identität vereinen kann. Dass so wenige Afroamerikaner den Beruf des Lehrers ergreifen wird u.a. auch darauf zurückgeführt, dass es an den Universitäten kaum entsprechende Vorbilder gibt, die vorleben, wie die eigene ethnische Zugehörigkeit mit den vorgeblich aus der Majoritätskultur stammenden Anforderungen in Einklang gebracht werden können (vgl. Quiocho & Rios 2000). Eine Begründung für die Wirksamkeit von Lehrer(inne)n mit Migrationshintergrund als Rollenvorbild ergibt sich aus der sozialpsychologischen Forschung zur Wirksamkeit von Stereotypen. Sind Schüler/innen in Klassen klar als Angehörige einer Minderheit erkennbar, haben diese mit den oft negativen psychologischen Folgen von Stereotypisierungen zu kämpfen. Eine sinnvolle Strategie, um den negativen Effekten erhöhter Sichtbarkeit stereotypisierter Schüler/innen entgegenzuwirken, scheint nach derzeitigem Kenntnisstand zu sein, positive Beispiele erfolgreicher Mitglieder der stereotypisierten Gruppe hervorzuheben. Positive Rollenvorbilder verdeutlichen demnach, dass die Gruppenzugehörigkeit kein unüberwindbares Hindernis auf dem Weg zum Erfolg ist (vgl. Steele et al., 2002).
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Auch im deutschsprachigen Raum erleben sich Lehrende mit Migrationshintergrund in einer Vorbildfunktion. Dies geht aus der Studie von Edelmann (2006) hervor. Die untersuchten Lehrenden mit Migrationshintergrund sehen sich durchgängig als Vorbilder ihrer Schüler/innen mit Wanderungsgeschichte. Zum einen in Bezug darauf, eine eigene transnationale Identität zu entwickeln, die sich sowohl aus der Familienkultur als auch aus der Kultur der Mehrheitsgesellschaft speist. Zum andern sehen sie sich aber auch als Vorbilder bezüglich des Bildungserfolgs und somit stellen insbesondere sie sehr hohe Anforderungen an die Leistungen ihrer Schüler/innen mit Migrationshintergrund. 3.2.2 Verminderung von Stereotype Threat Für die oben berichteten Fehleinschätzungen von Lehrer(inne)n werden neben mangelnder diagnostischer Kompetenz stereotype Vorstellungen und Vorurteile gegenüber Migrantenkindern verantwortlich gemacht (vgl. Allemann-Ghionda 2006). Allerdings können Stereotype selbst dann negativ wirken, wenn man Vorurteilen oder einer diskriminierenden Behandlung nicht unmittelbar ausgesetzt ist. Dies hat die Forschung zu Stereotype Threat gezeigt. Dieser zufolge reicht das eigene Wissen um die in einer Gesellschaft bestehenden Stereotype aus, um sich selbst als Schüler bpsw. anders zu verhalten bzw. sich selbst zu beeinträchtigen (vgl. Aronson & Steele 1995). Hier ist die Befürchtung, in einer bestimmten Situation durch die individuelle Leistung negative Stereotype über die eigene Gruppe zu bestätigen, ausschlaggebend. Gerade diese Sorge kann dann die gefürchtete schlechte Leistung erst hervorbringen. Dieses Phänomen wird als Stereotype Threat bezeichnet (vgl. Martens, Johns, Greenberg & Schimel 2006). Es gibt eine Reihe von Indizien, dass der vermehrte Einsatz von Lehrpersonen mit Migrationshintergrund den Auswirkungen von Stereotype Threat entgegenwirken kann. Diese Hinweise liefern langjährige Forschungen der Sozialpsychologie, die zeigen, dass vermehrte Kontakte zwischen Angehörigen von Minderheiten und Majoritäten unter bestimmten Umständen Stereotype, Ablehnung und Vorurteile seitens der Majorität reduzieren (vgl. Pettigrew 2006). Studien mit deutschen Schüler(inne)n belegten einen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß an Kontakten und der Qualität der Beziehungen zwischen Angehörigen verschiedener ethnischer Gruppen. Da es sich dabei um Korrelationsstudien handelte, konnte die kausale Richtung des Zusammenhangs jedoch nicht bestimmt werden (vgl. bsp. Unsöld 1978). Aus der Perspektive der Stereotype Threat Forschung halten Steele, Spencer, und Aronson (2002, S. 426) einen Zusammenhang zwischen gruppenübergreifenden Kontakten und vermindertem Stereotype Threat für möglich, denn vermehrte Kontakte zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Gruppen böten die Gelegenheit, mehr Erfahrungen zu machen, die dem
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Gefühl von Bedrohung entgegenwirken können. Zwar bedarf es weiterer Forschung, um die Rolle von intergruppalem Kontakt und insbesondere der kulturellen Zugehörigkeit der Lehrperson bei der Verminderung von Stereotype Threat zu klären. Dennoch lassen bereits vorhandene Arbeiten, etwa zur Bildungslaufbahn von Minderheitenangehörigen, es als eine hoffnungsvolle Strategie erscheinen, die kulturelle Vielfalt in den Klassenräumen zu erhöhen. So sagte in einer Studie von Graham, Baker & Wapner (1984) die Anzahl der weißen Freund/innen den Bildungserfolg afroamerikanischer Schüler(inne)n am besten voraus. Selbst wenn andere Merkmale, insbesondere die soziale Zugehörigkeit, konstant gehalten wurden, war dies einer der aussagekräftigsten Prädiktoren. Alle vorliegenden Ergebnisse deuten darauf hin, dass in einer sozialen Situation die Anzahl der anwesenden Migrant(inne)n oder Angehörigen einer Minderheit und ihre dortige Rolle deren Erwartungen und ihr Vertrauen in eine faire Beurteilung ihrer Fähigkeiten beeinflussen können. Dieser Effekt ist wohl v.a. dann zu erwarten, wenn Angehörige von Minderheiten in dieser sozialen Situation eine wichtige Rolle einnehmen, wie das im Klassenraum etwa die Rolle des/der Lehrer/in ist. Lehrer/innen mit Migrationshintergrund können ein Klima der Wertschätzung von Vielfalt fördern und die Präsenz von Minderheiten verdeutlichen und somit Stereotype Threat-Effekten entgegenwirken und verbesserte Leistungen ermöglichen (vgl. Steele et al. 2002). 3.2.3 Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler In einigen Studien konnte nachgewiesen werden, dass Kinder mit Migrationshintergrund tendenziell über ein geringeres Wohlbefinden in der Schule verfügen als Kinder ohne Migrationshintergrund (vgl. bsp.; Sam & Berry 1995; Roebers 1997). Es zeigt sich, dass bei einer Akkulturationsstrategie, die auf Integration setzt, sich das Wohlbefinden jedoch relativ verbessert, wenn kulturelle Identität beibehalten werden kann und einige Kontakte zu Mitgliedern der Residenzgesellschaft bestehen (vgl. bsp. Zheng & Berry 1991). Die Untersuchung von Roebers (1997) zeigt zudem auf, dass in der Korrelation von Wohlbefinden und Anpassungsurteil der Lehrenden Kinder mit Migrationshintergrund schlechter positioniert sind als Kinder ohne Migrationshintergrund. Es wir davon ausgegangen, dass die Ursache hierfür in der Akkulturationserwartung der Lehrenden liegt, die vornehmlich an assimilativen Akkulturationsstrategien orientiert ist (ebd., S. 250). Diese Haltung repräsentiert die in Deutschland etablierte Ansicht der Mehrheitsgesellschaft hinsichtlich der eingeforderten Akkulturationstrategie (vgl. Bender-Szymanski & Hesse 1988). Inwieweit pädagogische Handlungsweisen von Lehrenden mit Migrationshintergrund eher von assimilativen oder integrativen Akkulturationsstrategie getragen werden und ob sich diese systematisch von Lehrenden ohne Migrationshintergrund unterscheiden, muss noch geklärt
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werden. Es kann angenommen werden, dass für Schüler/innen mit Migrationshintergrund die Präsenz von Lehrer(inne)n mit einem ähnlichen Hintergrund oder mit Migrationserfahrung als Hinweisreiz dienen, dass ethnische und kulturelle Vielfalt wertgeschätzt wird und somit integrative Grundvoraussetzungen im schulischen Kontext bestehen. Von welchen Bedingungen es abhängt, dass sich alle Schüler/innen dabei wohl fühlen (bzw. das nicht zu Lasten der Majoritätsschüler geht) muss noch geklärt werden. 3.2.4 Bedeutung für das Klassenklima Die oben dargestellten positiven Wirkungen von gruppenübergreifenden Kontakten auf Stereotype Threat, dürfen nicht übersehen lassen, dass Diversität in Klassen für die Klassenmitglieder auch nachteilige Folgen haben kann. Dies ist abhängig davon, in welchem Ausmaß die eigene Unterscheidbarkeit oder Sichtbarkeit in einer sozialen Situation, also etwa in einer von Angehörigen der ethnischen Mehrheit dominierten Schulklasse, gegeben ist. In einer Studie von McGuire, McGuire, Child und Fujioka (1978) wurde offenbar, dass die ethnische Zugehörigkeit für Angehörige von Minoritäten in Kontexten, die von Majoritäten dominiert werden, zu einem wichtigeren Teil des Selbstkonzepts wird als für Majoritätskinder. Dagegen ist das Bewusstsein Teil einer Minderheit zu sein geringer ausgeprägt, wenn der Anteil der Schüler/innen aus Minderheitengruppen steigt. Es ist denkbar, dass in Klassenräumen mit Lehrpersonen mit Minderheiten- oder Migrationsstatus, das Merkmal der Zugehörigkeit zu einer Minderheit für die Schüler/innen weniger präsent wird. Dies hätte nicht nur Konsequenzen für das Erleben von Stereotype Threat (vgl. Steele et al. 2002), sondern für das Klassenklima insgesamt. Denn es gibt Hinweise darauf, dass in einer Umgebung, in der kulturelle Vielfalt geschätzt wird und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe als weniger präsent und bedeutsam erlebt wird, ein höheres Wohlbefinden zu konstatieren ist. 4
Als Fazit – Ein Forschungsausblick
Vor dem Hintergrund der skizzierten Befunde aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen erscheinen die in Lehrer/innen mit Migrationshintergrund gesetzten Hoffnungen nicht unberechtigt. Diese Hoffnungen begründen sich nicht aus einer vordergründig größeren pädagogischen Kompetenz, vielmehr ist v.a. von einer Reihe indirekter Wirkungen auszugehen. Ohne dass der verstärkte Einsatz von Lehrpersonen mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund in eine Gesamtstrategie für den pädagogischen Umgang mit kultureller Heterogenität eingebettet ist, kann auch nicht von einer quasiautomatischen Wirkung einer hete-
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rogenen Lehrerschaft ausgegangen werden. Und diese Wirkung kann empirisch letztlich nur abgesichert werden, wenn die Lehrperson mit Migrationshintergrund nicht mehr die seltene Ausnahme ist. So ist leider noch festzustellen, dass v.a. die deutschsprachige Forschung zu professionellem Umgang mit Heterogenität von Lehrenden mit Migrationshintergrund mehr als spärlich aufgestellt ist. Deshalb müssen zukünftig Forschungsstrategien benannt und umgesetzt werden, um zum einen der aktuell ausgesprochenen Forderung nach mehr Lehrenden mit Migrationshintergrund eine empirische Fundierung zu verleihen und zu prüfen, ob derartige Forderungen auch wissenschaftlichen Bestand haben. Zum anderen ist es aus erziehungswissenschaftlicher Sicht notwendig zu klären, inwiefern das Vorhandensein von Migrationshintergrund in den Biographien von professionell arbeitenden Pädagog(inne)n eine Rolle für die professionelle Identität und das professionelle Handeln im jeweiligen Kontext spielt. Die Zusammenhänge von Biographie und Profession sind zwar in der professionalisierungstheoretischen Erziehungswissenschaft bereits Thema (vgl. z.B. Kraul, Marotzki & Schweppe 2002), jedoch wird dabei dem Aspekt der ‚Gemeinsamkeit der biographischen Erlebnisschichtung‘ (vgl. Mannheim 1970) bzw. der habituellen Übereinstimmung (vgl. Bohnsack 1998, 122) kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Bei dieser Betrachtung stehen soziale Erfahrungen im Vordergrund, die beispielsweise auf eine gemeinsame Problembetroffenheit verweisen oder auf eine ähnliche Milieuzugehörigkeit (vgl. Bauer & Wiezorek 2008). Mit diesen Zugehörigkeiten entsteht ein konjunktiver Erfahrungsraum, „der auch jene verbindet, die einander gar nicht kennen, die nicht in direkter Interaktion miteinander stehen“ (Bohnsack 1998, 124). Der hier im Überblick dargestellte Forschungsstand zu Kompetenzen im Umgang von Lehrenden mit migrationsbedingter Heterogenität, sowie aus dem Bereich der zu erwartenden Effekte in der Schüler(innen)schaft, lässt bereits einige empirische zu überprüfende Anknüpfungspunkte sichtbar werden3. Hier kann die Ausgangsposition für eine systematische Erforschung professioneller Kompetenzen von Lehrenden mit Migrationshintergrund gesetzt werden und es können Perspektiven aufgegriffen werden, die untersuchen, ob und wenn ja, welche Rolle eine Gemeinsamkeit der biographischen Erlebnisschichtung (vgl. Mannheim 1970) für die professionelle Identität bzw. für professionelle Handlungsweisen spielt. 3
Wie oben bereits angeführt spielt für die von uns entworfene Forschungsstrategie auch schulischer Kontext und sozialer Nahbereich von Schule (Bedeutung für das Kollegium; Bedeutung für Schulklima und Schulentwicklung) sowie außerschulischer Kontexte (familiärer Kontext, Elternarbeit und Bildungsberatung gesellschaftspolitische Ebene, Ebene des Bildungssystems) ein Rolle. Jedoch beschränken wir uns aus Platzgründen in diesem Artikel auf die Lehrperson mit ihrem spezifischen Wissen und Können und die Ebene des/der einzelnen Schülers/Schülerin.
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Geht man von der Hypothese aus, dass Lehrende mit Migrationshintergrund der oftmals einseitig kulturalistische konstatierte Perspektive im Bildungssystem (vgl. Karakasoglu 2009) entgegenstehen, ist zu prüfen, ob und gegebenenfalls wie auch Lehrende mit Migrationshintergrund den ‚monolingualen Habitus‘ der Institution Schule reproduzieren (vgl. Krüger-Potratz 2005; Gogolin 1994, 2006) oder ob sie andersartige (auch vorbewusste) Konzepte für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergund etablieren. Ebenso kann untersucht werden, wie Lehrende mit Migrationshintergrund mit Formen institutioneller Diskriminierung umgehen (vgl. Gomolla & Radtke 2007), ob sie gegenüber struktureller Gewalt tatsächlich sensibler sind und über andere unterstützende (sowohl in Hinsicht auf Schüler/innen als auch im Bezug auf die Elternschaft) Handlungsmuster verfügen als Lehrende ohne Migrationshintergrund. Hinzu kommt die Frage, ob sie andere Einstellungen gegenüber den Bildungskarrieren von Kindern/Jugendlichen mit Migrationshintergrund haben als Lehrende der Mehrheitsgesellschaft (vgl. Bender-Szymanski 2002; Weber, 2003; Weißköppel 2001). In Korrespondenz mit dem Befund, dass Lehrende Fähigkeiten und Leistungen von Kindern mit nicht-deutscher Muttersprache häufig fehleinschätzen (vgl. Allemann-Gionda 2006) wird die Annahme ins Feld geführt, dass Lehrende mit Migrationshintergrund den Wissensstand und Leistungsfähigkeit von Kindern mit Migrationshintergrund entsprechend adäquater einschätzen können als Lehrende ohne Migrationshintergrund. Folgt man diesem Ausgangspunkt, muss untersucht werden, mit welchen differenzierten Erwartungshaltungen Lehrende mit Migrationshintergrund an die Kinder herantreten und welche Leistungserwartungen daraufhin formuliert werden. Zu klären ist insbesondere ob und inwiefern ethnische Zugehörigkeit des Lehrenden für die anderen vertretenen Ethnien ein Rolle spielt – also, ob nur dann positive Effekte auftreten, wenn Schüler/in und Lehrer/in der selben ethnischen Gruppe angehören, oder ob eine sensiblere Haltung allein durch den konjunktiven Erfahrungsraum (vgl. Bohnsack 1998) sowie eine gewisse habituelle Übereinstimmung (vgl. Bohnsack 1998; Bauer & Wiezorek 2008) zu einer adäquateren Einschätzung beispielsweise hinsichtlich der Leistungsfähigkeit führen. Was ebenfalls im Bereich der Erwartungshaltung von Lehrenden zu prüfen ist, sind die stereotypen Haltungen gegenüber Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Welche stereotypen Vorstellungen das pädagogische Handeln von Lehrkräften auf welche Art und Weise prägen, ist leider noch weitgehend ununtersucht. Ebenso gibt es wenige Erkenntnisse dazu, wie Schüler/innen mit Stereotypisierungen zurechtkommen (vgl. Strasser & Hirschauer 2009). Auch wenn Stereotype im Handeln der Lehrenden keine Rolle spielen, so kann sich bei Schüler(inne)n allein das Bewusstsein einer stereotypisierten
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Gruppe anzugehören nachteilig auswirken. Dieses Phänomen des Stereotype Threat ist jedoch für SchülerInnen mit Migrationshintergrund im deutschsprachigen Raum noch nicht untersucht (vgl. Schofield, 2006). Im Anschluss an die Studie von Edelmann (2006), die sich u.a. explizit dem Gegenstand Lehrende mit Migrationshintergrund widmet, ergibt sich eine Forschungsmöglichkeit in Form einer Perspektivenverbindung von Lehrenden und Lernenden. Ein qualitativ-rekonstruktiv orientiertes Forschungsdesign kann zunächst vertiefte Erkenntnis über die von Edelmann herausgearbeiteten Typen hinsichtlich der Genese professioneller Identität bringen und im Anschluss mit einer Rekonstruktion der Habitus (vgl. Meuser 2007; Steber 2008) Segregationslinien herausarbeiten, die hinsichtlich der Strukturfaktoren Migration, aber auch Geschlecht und Milieuzugehörigkeit, für die Konstruktion der Biographie elementar sind. In einem zweiten Schritt kann die Perspektive der Schülerinnen und Schüler in den rekonstruktiven Forschungsprozess aufgenommen werden und es kann untersucht werden, ob und wie sich konjunktive Erfahrungsräume konstituieren und welche Effekte (z. B. Wohlbefinden, Motivation, Selbstwirksamkeitserwartungen, Leistungsaspiration etc.) damit verbunden sind. Zu erwarten sind hier – im Zusammenhang mit der methodischen Offenlegung von latenten Strukturen – neue Erkenntnisse über subtile Formen der Gewalt im schulischen Feld sowie soziologisch-erziehungswissenschaftlich relevante Hinweise auf intersektionelle Verwobenheit verschiedener Strukturmerkmale im Bildungsund Sozialisationsprozess und der damit verbundenen systematischen Ungleichheit hinsichtlich der Bildungsbeteiligung und des Bildungserfolgs ( s. o. ). Hinsichtlich der eingangs erwähnten professionstheoretischen Modelle (vgl. Baumert & Kunter 2006) wurde bislang für Deutschland kaum untersucht, inwiefern pädagogisch-didaktisches Handeln von dem kulturellen Hintergrund von Lehrenden und Lernenden abhängig ist; somit bleibt implizit die Annahme bestehen, dass es sich bei schulischen um ‚kulturneutrale‘ Inhalte handelt. Dabei wäre insbesondere untersuchungsrelevant, welche Unterschiede zwischen Lehrenden mit und ohne Migrationshintergrund sich dahingehend im Professionswissen und in der professionellen Handlungskompetenz ergeben. Für diesen theoretischen Ansatz ist zu prüfen, und dies könnte mit Untersuchungen über das Zusammenspiel „kognitiver Kompetenzen, metakognitiver Fähigkeiten sowie Überzeugungen und Wertorientierungen“ (Baumert & Kunter 2006) von Lehrenden mit Migrationshintergrund besonders gut geleistet werden, wie dieser theoretische Ansatz bzw. das heuristische Modell einer heterogenen pädagogischen Praxis gegenüber leistungsfähig wird/bleibt und nicht als ein Reproduktionsinstrument für eine Form ‚indirekter Diskriminierung‘ stagniert. Dies insofern als sich die Pluralität der Besonderheiten (im spezifischen Sinne von Heterogenität) im pädagogischen Handlungsfeld über Strukturfaktoren konstituiert,
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die stets erfordern, sowohl Professionswissen als auch professionelle Handlungskompetenz an entsprechende Ausgangslagen der Lernenden anzupassen und die Anforderungen einer an Heterogenität ausgerichteten Praxis nicht aus den Augen zu verlieren, denn: „indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur" (Bourdieu 2001, S.39). So können Erkenntnisse einer derartig gelagerten Forschung einerseits genutzt werden, um Professionalisierungsanforderungen im Kontext des staatlichen Bildungswesens in Deutschland neu zu formulieren, interkulturelle Lehrer(innen)bildung insgesamt zu verbessern und eine kulturelle Öffnung der Institution Schule voranzutreiben. Letztendlich aber muss diese Forschung auch dazu dienen, die formale Gleichheit, welche die Pädagogik auch heute noch maßgeblich bestimmt – die sich in Homogenisierungsansprüchen und -anforderungen von Beteiligten auf den verschiedenen Ebenen des Bildungssystems äußert – zu entzaubern. Vielleicht kann die Untersuchung von Lehrenden mit Migrationshintergrund und die Analyse von deren Wahrnehmungs-, Deutungs- und Handlungsschemata ein Stück mehr verdeutlichen, wie unsere ‚HeterogenitätsWirklichkeit‘ jenseits einer durch machtvolle bildungspolitische Interessen verstellten Konstruktion pädagogischer Handlungsanforderung tatsächlich aussieht und welche Antworten sie verlangt. Literatur Aaron, Robert; Powell, Glen (1982): Feedback practices as a function of teacher and pupil race during reading group instruction. The Journal of Negro Education 51(1), pp. 50-59. Allemann-Ghionda, Christina; Auernheimer, Georg; Grabbe, Helga; Krämer, Angelika (2006): Beobachtung und Beurteilung in soziokulturell und sprachlich heterogenen Klassen – Die Kompetenzen der Lehrperson. Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 51, S. 250-266. Allexsaht-Snider, Martha (1996): Windows into diverse worlds. The telling and sharing of teachers' life histories. Education and Urban Society 29, pp. 103-119. Aronson, Joshua; Steele, Claude M. (1995): Stereotypes and the fragility of academic competence, motivation, and self-concept. In: Andrew J. Elliot; Carol S. Dweck (Eds.): Handbook of competence and motivation. New York: The Guilford Press, pp. 436-460. Auernheimer, Georg; Blumenthal, Viktor von; Stübig, Heinz; Willmann, Bodo (1996): Interkulturelle Erziehung im Schulalltag. Fallstudien zum Umgang von Schulen mit der multikulturellen Situation. Münster: Waxmann. Bauer, Petra; Wiezorek, Christine (2008): Perspektiventriangulation im professionellen Fallbezug. Exemplarische Annäherungen an biografische Voraussetzungen pädagogischen Fallverstehens. In: Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Die Natur der Gesellschaft. Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbd. 1 u. 2. Frankfurt am Main: Campus Verl., S. 1576-1584.
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Carol Hagemann-White
Geschlecht und Gewaltprävention
In den letzten Jahren befasst sich die Pädagogik zunehmend mit Fragen der Gewaltprävention in Familien und in Schulen, und dies unter bewusstem Bezug auf eine als zunehmend heterogen wahrgenommene Gesellschaft. Ob die Heterogenität tatsächlich größer geworden ist – große Zahlen von Zuwanderern, die in ‚Parallelgesellschaften’ gelebt haben und diskriminiert wurden, Viertel der Armut und sozialer Ausgrenzung hat es in der Mitte Europas immer wieder gegeben – oder ob nicht vielmehr die Sensibilität für Gewalt gewachsen ist, sei erst einmal dahingestellt. Neu ist vielleicht, dass es als Auftrag der Pädagogik verstanden wird, ihr Möglichstes zu tun, um das Grundrecht aller Kinder auf ein Leben ohne Gewalt zu gewährleisten. Tradierte Selbstverständlichkeiten über den üblichen Umgang verschiedener gesellschaftlicher Gruppen mit Aggression bleiben nicht mehr unhinterfragt. Stereotype Annahmen von der Art „Das ist bei denen nur mal so“ oder „Für sie ist das eben normal“ gelten nicht mehr als legitime Gründe dafür, von einer Intervention abzusehen. In diesem Beitrag wird es um Primärprävention mit Blick auf die gesellschaftlichen Voraussetzungen und Bedingungen von Gewalt gehen, sowie um Prävention, die bei den gefährdeten Personen ansetzt, und diese wiederum ist zu trennen nach Opferprävention und Täterprävention.
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Geschlecht und Gewalt
Gewalt im Alltag ist zum einen mit Positionen von Dominanz und Unterordnung, zum anderen mit Geschlechtsidentitäten verstrickt. Das ist keine einfache Beziehung; weder Aggression noch Gewalt ist dem einen Geschlecht vorbehalten. Entscheidend für die Prävention ist dabei jedoch nicht die Täter-Opfer Statistik, die mit unterschiedlichen Erhebungsmethoden verschieden ausfallen kann, sondern die Tatsache, dass Beweggründe und Auslöser von Aggression und Gewalt an normative Erwartungen gekoppelt sind. Oft geht es um Ansprüche, die geltend gemacht werden, um empfundene Geringschätzung oder um gefühlte Anrechte auf Beachtung. Gewaltförmige Impulse werden auch dadurch ausgelöst, dass eine Komplementärrolle, auf die man sich für das eigene Dasein angewiesen fühlt, nicht erfüllt wird. Wir erleben: Wenn das Kind nicht mehr kindlich ist, sind Erwachsene schwer irritiert; der Mann ist in seinem Mann-Sein bedroht, wenn die dazu gehörige Frau den von ihr erwarteten Teil nicht einlöst, und umgekehrt. Normative Orientierungen im unmittelbaren sozialen Umgang entlasten von grenzenlosen möglichen Anforderungen, aber das tun sie nur so lange, wie
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andere Akteure den ergänzenden Part übernehmen. Hier ist das Geschlecht noch immer grundlegend. Auch fremdenfeindliche Gewalt z.B. wird mit Ängsten und Hassgefühlen ‚aufgeladen’, die den Umgang zwischen den Geschlechtern betreffen. Die Bezüge zwischen Geschlecht und Gewalt sind inzwischen vielfältig belegt und in der Praxis unübersehbar. So stellt sich beim Nachdenken über pädagogische Prävention die Frage: Wie kann das Geschlechterverhältnis ein solches Bedürfnis nach Geltung oder aber ein solches Erleben von Bedrohung hervorbringen, das über jede ‚Empfindsamkeit für fremdes Leid‘ (Hartmut von Hentig) hinwegfegt und unmittelbare Gewalthandlungen erlaubt oder auslöst? Und weiter: Wie ist es möglich, in der heutigen Zeit, mit ihren allgemein anerkannten Ansprüchen an gleiche Grundrechte für alle im Allgemeinen und Gleichberechtigung der Geschlechter im Besonderen, dass Mädchen und Frauen Gewalt angetan wird, weil sie dem weiblichen Geschlecht angehören? 2
Geschlechterdifferenz in der Sozialisation
Vor fünfzehn Jahren schrieb Annedore Prengel: „Es gibt doch immer weniger Leute, die in der Erziehung auf die alte Form der Rollenverteilung drängen, und trotzdem endet Sozialisation damit, dass sich beide Geschlechter völlig unterscheiden“ (Prengel 1994, S. 66). Zu den gleichen Schlüssen gelangt auch heute die Sozialisationsforschung (vgl. Dausien 2006; Rendtorff & Prengel 2008). Wir leben in einer Zeit, in der die Prinzipien der Demokratie auch für die Geschlechterbeziehungen Geltung beanspruchen. Mädchen sind sogar erfolgreicher als Jungen im allgemeinbildenden Schulsystem; es ist selbstverständlicher geworden, dass ihre Ausbildung dem Ziel eines guten Berufs dienen soll. Für die jungen Menschen, die heute z.B. ein Studium aufnehmen, sind typische Unterschiede der Geschlechter erkennbar, anders als vor 30 Jahren ist für sie aber kein Machtgefüge sichtbar, das männliche Dominanz und weibliche Unterordnung vorsieht. Differenz wird anerkannt, Dominanz bleibt verborgen. In der Soziologie spricht man daher von einer ‚De-Institutionalisierung von Geschlecht’ (vgl. Heintz & Nadai 1998). Aufgaben und Rollenzuschreibungen, die seit Generationen mit dem Geschlecht verknüpft waren, werden heute nicht mehr fraglos und selbstverständlich übernommen und ausgeführt; sie kommen durch bewusstes Handeln zustande oder werden wenigstens als Entscheidungen unter Wahlmöglichkeiten verstanden und den Individuen zugeschrieben. So können die Studentinnen und Studenten in einem beliebigen Seminar mir mühelos die Gründe darlegen, warum, wenn sie später einmal in einer Paarbeziehung leben und sich für ein Kind entscheiden, es die Frau sein wird, die zu
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Hause bleibt. Sie wissen heute schon, dass der spätere Arbeitgeber des späteren Mannes es gewiss nicht gerne sehen würde, wenn er Elternzeit nähme; sie gehen davon aus, dass er besser verdienen wird und beide seinen Arbeitsplatz keinesfalls gefährden wollen werden. Die besondere biologische Beziehung der Mutter zum Kind tut ein Übriges, und schon stehen die Ergebnisse der auszuhandelnden gemeinsamen Entscheidung fest, noch bevor sich das Paar kennen gelernt hat. Dass die gewünschte Gleichberechtigung in der Beziehung etwas leiden wird, sehen sie schon, aber wer ein Kind will – das ist ja kein Naturereignis mehr, sondern bewusste Wahl – muss eben damit umgehen. Keiner schreibt es ihnen vor. Auch im Berufsleben gilt das demokratische Prinzip, dass niemand diskriminiert oder ausgeschlossen werden darf aufgrund von Merkmalen, für die er oder sie nichts kann. Frauen dürfen selbstverständlich Ingenieurin, Richterin oder Aufsichtsratsvorsitzende werden. Männer dürfen als Erzieher, Hausmann oder Kinderkrankenpfleger tätig sein. Verschiedene empirische Studien in diesen Bereichen zeigen inzwischen, dass das Geschlecht im Berufsalltag tatsächlich eher selten zum Thema wird. Dabei bleibt das Geschlecht jedoch keineswegs bedeutungslos, wie Heintz und Nadai (1998) zeigen (auch wenn sie ihren eigenen Befund anders interpretieren), es wird vielmehr bewusst und gezielt irrelevant gemacht. Frauen und Männer, die von der jeweiligen beruflichen Geschlechternorm abweichen, leisten fortgesetzte, aber leise Anstrengungen, um das Geschlecht auszublenden. Jedoch sind die Voraussetzungen und die Verhaltensrepertoires, mit denen Frauen in Männerpositionen ihr Geschlecht dethematisieren, andere als diejenigen, die von Männern in Frauenberufen angewendet werden. Gesellschaftlich sind ganz allgemein immer häufiger Praktiken zu beobachten, die dafür sorgen, dass das Geschlecht zugleich akzentuiert und ausgeblendet wird, wie z.B. in der mittlerweile gekonnten Rede der Politik von den „Bürgerinnen und Bürgern“ – eine Redeweise, die in einem Zuge die Geschlechter gleichstellt und sie gegeneinander setzt. In der sozialen Wirklichkeit wird der ungleiche Zugang der Geschlechter zu Ressourcen und Positionen fortgeschrieben. Trotz aller Offenheit und Brüchigkeit der Identitäten sehen sich die Forschung und die Praxis mit einer beharrlich strukturierenden Bedeutung des Geschlechts konfrontiert. Diese nehmen jedoch die Beteiligten oft nicht wahr: „was qua kulturellem Wandel im Bewusstsein ‚out’ ist, kann sich strukturell, in Geschlechtersegmentierungen im System der Berufe und/oder der beruflichen Bildung z.B. verfestigt haben und nun von hier zurückwirken“ (Krüger 1999, S. 38). Gleiches gilt für die fürsorgliche Praxis (vgl. Tronto 2000) im privaten Lebenskreis (vgl. Diezinger & Rerrich 1998), zumal die ‚Anliegerinstitutionen’ (vgl. Krüger 1999) wie Kindergärten, Schulen, Arztpraxen, Krankenhäuser oder Dienstleistungsbetriebe nach dem Prinzip ‚Frau-im-Hause’ organisiert sind. Die traditionelle Arbeitsteilung in den Paarbe-
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ziehungen stellt sich immer neu her, aber sie ‚hat sich so ergeben’ (vgl. König & Maihofer 2004). In dem Maße, wie Mädchen und junge Frauen ungeschmälert Zugang zu Bildung gewonnen haben, sind sie in einem von Individualisierung und Selbstverwirklichung geprägten Diskurs eingebunden, der keinen Raum mehr für die Reflexion kollektiver Lebenslagen lässt, seien diese durch Geschlecht, durch soziale Schicht, durch regionale oder ethnische Herkunft bedingt. Im Gegenteil: durch Herkunft geprägt zu sein gilt als Manko. Die Entscheidungs- und Gestaltungschancen der Individuen werden in den öffentlichen Debatten regelmäßig maßlos überschätzt. Deshalb werden Beziehungsprobleme, die in Wahrheit aus ungelösten gesellschaftlichen Konfliktlagen erwachsen (etwa das „Vereinbarkeitsproblem“; vgl. Müller, 1989), gerne in die Psychologie der Individuen verlegt. Dass latente Geschlechtsnormen und institutionelle Strukturvorgaben das praktische Handeln bestimmen und reale Ungleichheiten in Familie wie im Beruf reproduzieren, kann also nur schwer zum Thema werden. Zu beobachten ist, „wie im Reden die Asymmetrien im Lebenszusammenhang von Frauen und Männern gerade nicht zum Thema werden und wie zugleich die ursprüngliche Absicht, sich von den alten Rollenmustern zu befreien, praktisch in ihr Gegenteil verkehrt wird“ (Wetterer 2004, S. 64). Die Individualisierung fungiert vor allem als Zuschreibung von Verantwortung für die eigene Lebenslage: Wenn ich so lebe, wie ich lebe, muss ich es doch wohl gewollt haben. Die sozialen Kategorien Frau und Mann sind dabei keineswegs verschwunden, sondern definieren die Subjekte, die dieses Handeln, mit dem das soziale Kategorienschema fortgeschrieben oder eben auch situativ suspendiert wird, leisten müssen. Das Verlangen nach Gerechtigkeit – eine Frau soll alles können und dürfen und ebenso geachtet werden wie ein Mann – bezieht sich nicht mehr auf eine soziale Position ‚Frau’, sondern auf die Zugehörigkeit zur biologischen Kategorie, die als letzter verbliebener Identitätsmoment nach der verallgemeinerten Einsicht, Gleichberechtigung real verwirklichen zu müssen, erklärungsmächtig zu sein scheint. So wächst mit dem Geltungsverlust kollektiver sozialer Lagen die Neigung, selbst abstruse biologische Erklärungen für plausibel zu halten. Die paradoxe Lage lässt sich wie folgt zusammenfassen: Alle sozialen Zuschreibungen an weibliche Positionen und Rollen haben ihre Verbindlichkeit verloren, das Prinzip universeller Inklusion erlaubt es, dass auch ein Junge oder ein Mann diese übernehmen bzw. erleben kann. Zugleich ist aber die Basiskategorie Geschlecht erhalten geblieben, womöglich fester als je zuvor, weil das handelnde Individuum, das sich dazu entschließen soll, Führungskraft zu werden oder Elternzeit zu nehmen, ohne Geschlecht nicht denkbar und nicht erfahrbar ist – denn ein Individuum lebt nur in einem Körper.
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Gewalt als Skandal
In diese Welt scheinbar verwirklichter Gleichberechtigung bricht das Problem der Gewalt wie eine Botschaft aus einem anderen Zeitalter ein. Denn so sehr man sich vielerorts anstrengt, auch auf diesem Gebiet eine Art Gleichberechtigung an die Wand zu malen, die Datenlage ist unübersehbar und eindeutig. Weltweit, so der Bericht über Gewalt und Gesundheit der Weltgesundheitsorganisation (vgl. Krug u.a. 2002), steht das Vorkommen von Gewalt mit dem Geschlecht des Opfers wie des Täters in engem Zusammenhang. Junge Männer werden Opfer der Gewalt durch andere junge Männer, was in vielen Ländern und in bestimmten Milieus ein hohes Maß an Verletzungen und Tötungen umfasst. Frauen erleiden ganz überwiegend Gewalt im sozialen Nahraum, vor allem durch Partner und ehemalige Partner, und der weitaus größte Teil häuslicher Gewalt wird von Männern gegen Frauen ausgeübt. Neuere repräsentative Befragungen im In- und Ausland bestätigen dies, ganz besonders dann, wenn der Schweregrad der Gewalt in der Analyse berücksichtigt wird (vgl. Schröttle 2009). Die UNO hat den Begriff „Gewalt gegen Frauen“ als diejenige Gewalt definiert „die Frauen erleiden, weil sie Frauen sind, oder von der Frauen unverhältnismäßig häufig betroffen sind“; dies gilt in hohem Maße für sexuelle Gewalt und für Gewalt im sozialen Nahraum, insbesondere durch den Partner. Auf der Basis der vorliegenden Daten aus der Bundesrepublik, aus England, Irland und Norwegen (vgl. Walby & Allen 2004; Watson & Parsons 2005; Holter 2003) sind deutliche Unterschiede in der Art, dem Kontext und den Auswirkungen von Gewalt bei Frauen und bei Männern zu erkennen. Frauen sind wesentlich stärker durch körperliche sowie durch sexuelle Gewalt in der Familie und durch Partner bedroht; Männer sind deutlich mehr körperlicher Gewalt in öffentlichen Räumen ausgesetzt. Das Erleiden von Gewalt ist bei Frauen und Männern nicht spiegelbildlich gleich, sondern mit dem Geschlecht verbunden unterschiedlich. In Anbetracht der Bedeutung des Körpers, der intimen und familiären Beziehungen und der Sexualität bei interpersoneller Gewalt sind diese Ergebnisse nicht überraschend. Sie passen nur schlecht zum allgemeinen Denken über Gleichheit. Daraus folgt, das alle Prävention geschlechtsbezogen konzipiert und umgesetzt werden muss. Insbesondere kann Prävention nicht gelingen, wenn sie für Dominanz blind ist und Differenzen für naturgegeben hält. In der Jugendforschung ist zuweilen zu hören, dass man den Jungen doch zugestehen müsse, dass sie – anders als Mädchen – körperliche Auseinandersetzungen als Teil ihrer jugendlichen Identitätsentwicklung benötigen. Diese kleinen Prügeleien könne man nicht als Gewalt diskriminieren. Richtig ist, dass nicht jede Auseinandersetzung gleich Gewalt ist – aber worauf beruht die Idee, männliche Jugendliche hät-
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ten ein ‚natürliches’ und berechtigtes Bedürfnis, sich in körperlichen Kampftechniken zu üben, sich daran zu messen, und sich damit im Streitfall durchsetzen zu können, während dies für Mädchen ebenso ‚natürlich’ unterbleiben kann und soll? Welche Aggressionskompetenzen und welche Repertoires der Selbstbehauptung brauchen Mädchen und Jungen, und was steht ihnen jeweils im Wege, dass sie nur solche beengten Repertoires erlernen? Wir brauchen durchaus eine differenzierte Wahrnehmung und Bewertung dessen, was Gewalt ist. Für Prävention sowie für Intervention ist es wenig hilfreich, jeden spontanen Ausdruck feindseliger Gefühlslagen unter Generalverdacht zu stellen. Die Prävalenzforschung kann diesen Eindruck erwecken, wenn sie eine Vielfalt einzelner Handlungen – forschungspraktisch einleuchtend – allgemein als ‚Gewalt’ kennzeichnet. Es ist allerdings keine Lösung, nur strafrechtlich als schwerwiegend eingestufte Taten als Gewalt zu betrachten. Zur Bewertung von Gewalt müssen die billigend in Kauf genommenen und die realen Verletzungen und Folgeschäden hinzugezogen werden. Diese können bei fortgesetzten oder gezielten verbalen Angriffen oder emotionaler Erniedrigung erheblich sein. Dies wird in der Forschung über Gewaltfolgen bestätigt (vgl. Schröttle 2009), zeigt sich aber auch im breiten gesellschaftlichen Diskurs über alles, was als ‚Mobbing’ bezeichnet wird, dessen Auswirkungen als schwer wiegend verstanden werden. Prävention beginnt mit der Wahrnehmung. Aus der Forschung ist zu lernen, dass wir unterscheiden müssen zwischen Konfliktverhalten und Dominanzverhalten, obwohl sich beide vermischen können. Wenn ein Streit zwischen Kindern in Handgreiflichkeiten mündet, haben wir es zunächst mit einem Mangel an Konflikt- und Aggressionskompetenzen zu tun. Teilweise wird dieser Mangel durch die Entwicklung überwunden, teilweise ist eine erzieherische Hilfe angebracht. Prügeleien unter Jungen auf dem Schulhof haben jedoch oft mit der Etablierung und Verteidigung von Hierarchien der Dominanz zu tun: Wer ist der Chef, wer hat das Sagen, vor wem muss man sich in Acht nehmen. Die Pädagogik muss viel mehr als bisher tun, um eine verfeinerte Wahrnehmung für diese Phänomene zu entwickeln. Ähnliches gilt für sexuelles Jagd- und Eroberungsverhalten unter Kindern und Jugendlichen. Teilweise handelt es sich um die ersten Versuche, sich und das andere Geschlecht in der Rolle sexueller Akteure zu entwerfen und zu erproben. Wenn im Grundschulalter mehrere Jungen hinter einem Mädchen herlaufen, üben sie vage sexuelle Fantasien der Annäherung, während sie zugleich die beruhigende Gewissheit haben, das Angekündigte nicht auch noch wirklich tun zu müssen. Für das Mädchen ist das aber nicht selten eine erzwungene Gewöhnung an die Position, Beute in der Jagd zu sein, was mit einer gelebten weiblichen Sexualität herzlich wenig zu tun hat. Wenn sie dabei gute Miene zum bösen Spiel
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machen, sind die Erwachsenen oft zufrieden, dass hier wechselseitiges Vergnügen stattfindet. Ansätze, Vorübungen und wirkliche Gewalthandlungen wahrzunehmen, erfordert Aufmerksamkeit für beide Seiten, Opfer und Täter (wobei der momentane Täter auch zuvor/früher Opfer gewesen sein kann). Ist der unterlegene Teil verletzt, eingeschüchtert, hat Angst vor der Fortsetzung und Wiederholung der Übergriffe, so haben wir mit Gewalt zu tun. Hat der Täter das Gefühl, sein gutes Recht durchzusetzen, Ansprüche geltend zu machen, zeigt sich z.B. auftrumpfend oder zufrieden, verwendet die eingesetzten Methoden mehrfach, spricht dies für Dominanzverhalten, das sich nicht in der Entwicklung von alleine auswachsen wird, sondern sich mit jedem Erfolgserlebnis verfestigt. Das sind Gesichtspunkte, die bei der pädagogischen Intervention zum Zuge kommen müssten, für die bislang kaum ausgebildet wird. Noch viel diffiziler ist eine konzeptionelle Grundlegung der Prävention, die ja darauf zielt, dass Gewalt gar nicht erst stattfindet oder früh und wirksam beendet wird. Wir können zwischen Opferprävention und Täterprävention unterscheiden. 4
Opferprävention
In der Fülle von Forschung über Risikofaktoren gibt es zwar viele widersprüchliche Befunde und zum Teil unsinnige Verallgemeinerungen. Ein Ergebnis zieht sich jedoch durch alle Studien hindurch: Der wichtigste Risikofaktor dafür, Opfer von Gewalt zu werden – und das gilt wohl für alle Formen von Gewaltkriminalität – besteht darin, schon einmal Opfer gewesen zu sein. Vereinfacht gesagt: Wenn Sie überfallen werden, steigt die statistische Wahrscheinlichkeit, dass Sie wieder Opfer eines Überfalls werden – es sei denn, Sie unternehmen aktiv etwas zur Veränderung Ihrer Situation. Ein Mädchen, das körperlichen oder sexuellen Übergriffen ausgesetzt ist und keine eigenen Schutz- und Veränderungsschritte ergreifen kann, hat zwei- bis dreimal so hohe Aussichten, später überfallen zu werden oder in der Partnerschaft Gewalt zu erleiden (vgl. Müller & Schröttle 2004). Dies gilt auch für seelische Misshandlung, und dazu zählen wir auch, die Misshandlung der eigenen Mutter miterleben zu müssen. Sensible Wahrnehmung und pädagogische Intervention bei der Gewalt im Schulalter sind daher entscheidend für die Prävention späterer Gewalt. Es gilt aber auch die Kehrseite der Medaille: Wenn sich gesellschaftliche Institutionen einmischen, den betroffenen Frauen zu helfen, der häuslichen Gewalt ein Ende zu bereiten, erfahren Kinder, dass die Gewalt nicht grenzenlos ist; und das ist eine zentral wichtige Maßnahme der Prävention gegenüber
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der folgenden Generation. Prävention schließt daher immer Intervention mit ein, oder anders gesagt: Eine gute Intervention wirkt auch präventiv. Die Forschung über häusliche Gewalt hat eine sehr bedenkliche Erbschaft aus der US-amerikanischen Familienforschung übernommen, welche Gewalt als ‚Konflikttaktik’ eingestuft hat, gewissermaßen der Clausewitz im Heim: Gewalt gilt dabei als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Typisch für häusliche Gewalt ist jedoch, dass zahlreiche Situationen nicht die Gestalt eines ‚Konflikts’ aufweisen. Wird die schlafende Frau wachgerüttelt und vom heimkehrenden Mann an den Haaren gezerrt und verprügelt, oder aber zum Geschlechtsverkehr gezwungen (und beim abwehrenden „ich will noch schlafen“ mit dem Messer attackiert), so ist die Interpretation als Konflikt offenkundig unsinnig, demonstriert wird vielmehr ihre absolute Verfügbarkeit für seine Willkür. Verwirrung entsteht, weil Gewaltbeziehungen tatsächlich Züge eines Machtkampfes annehmen, und dies ist ein Grund, warum es Frauen so schwer fällt, ,einfach wegzugehen‘. Frauen kämpfen in diesen Beziehungen um ihre Selbstachtung und um ein Minimum an Anerkennung, und wenn sie ihre Geschichte erzählen, sind oft besondere Augenblicke der Genugtuung zu hören, wenn der Frau etwas einfällt, womit sie dem Mann eine Grenze seiner Übergriffe setzen kann – z.B. indem sie unverhofft zurückschlägt, indem sie ankündigt, ihn umbringen zu wollen, sobald er einmal einschläft, indem sie ihn sexuell beleidigt, statt einfach hinzunehmen, angeblich frigide zu sein. ‚Einfach weggehen’ ist ja eine Niederlage, das Eingeständnis der völligen Ohnmacht und des Scheitern von jedem Versuch der normalen, gesunden Selbstbehauptung (Glammeier 2009). Diese Machtkämpfe, in denen ein Partner (oft die Frau) oder manchmal beide, darum ringen, eine Balance der Anerkennung und Entscheidungsmacht herbeizuführen, kann man durchaus als Konflikte bezeichnen, und es wäre zu wünschen, dass die Menschen ein breiteres Repertoire der Handhabung eigener Aggressionen zur Verfügung hätten. In Gewaltbeziehungen wird aber der Kampf um Anerkennung von der regelmäßigen und zermürbenden Durchsetzung von Dominanz überschattet. Besonders gefährdet sind Frauen, die schon in der Kindheit Brüche in ihrem Streben nach Anerkennung erfahren haben. Maria Bitzan und Claudia Daigler (2001) bezeichnen die Geschlechterhierarchie als einen „Herrschaftszusammenhang, dessen Erscheinungen und Wirkungsweisen ihren Ursprung verdecken“ (ebd., S. 26). Die verdeckte Geschlechterhierarchie, die früher als explizites Weiblichkeitsgebot erschien, äußere sich für Mädchen heute im Sprechverbot über Verletzungen und damit auch eigene Aggressionen, in der Ausblendung reproduktiver Arbeit, und in der Verwehrung von Bezugnahme auf weibliche Erfahrungen. „Mädchen erleben aber immer wieder, dass das, was öffentlich sichtbar und geschätzt ist, etwas anderes ist als das, was von ihnen unmittelbar erlebt wird“ (ebd., S. 27). Wenn die Opferprä-
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vention darauf ausgerichtet ist, dass Mädchen und Frauen sich selbstbewusst wehren sollen, wird einerseits die wichtige Botschaft ausgestrahlt, dass ihr ‚Nein’ respektiert werden soll; andererseits darf nie übersehen werden, dass dies zu den abgrundtief widersprüchlichen Botschaften gehört, denn unmittelbar erleben Mädchen sehr oft, dass sie eben nicht das reale Recht haben, ,Nein‘ zu sagen, und dass Sich-Wehren als unweiblich gewertet wird. Empirisch lässt sich zwar zeigen, wie dies die ältere Sozialisationsliteratur erwarten lässt, dass Mädchen und Frauen sich bevorzugt um Beziehungen und Bedürfnisse anderer Menschen kümmern, und dies sowohl bereitwilliger als auch im Durchschnitt kompetenter, als ihre Brüder und Freunde es tun. Verdeckt wird dabei heute, was durch Auswertung des Jugendsurveys festgestellt wird, dass dies nach wie vor die Mädchen nicht innerlich stärkt, im Gegenteil: Das Selbstwertgefühl der Mädchen sinkt mit der Pubertät, und das der Jungen steigt (vgl. Hähne & Zubrägel 2004); dies unterstützt für die Bundesrepublik die These der „verlorenen Stimme“ von Lyn Brown und Carol Gilligan (1992). Auch andere Längsschnittstudien bestätigen eine geschlechtsspezifische Selbstwertentwicklung, bei der Frauen sehr stabil auf einem niedrigen Niveau, verglichen mit Männern, verbleiben (vgl. Sandmeier 2005). Geringes Selbstwertgefühl ist für die Einzelne nicht als Struktur erkennbar, sondern erscheint allenfalls als persönliches Unglück. Die Erforschung solcher Verdeckungen kann „tabuisierte stillschweigende Übereinkünfte der Normalität“ (Hagemann-White 2004, S. 157) als hergestellte sichtbar und damit zum möglichen Verhandlungsgegenstand machen. Daraus würden Präventionsstrategien folgen, in denen Konstruktionen von Normalität durch Alternativentwürfe aufgebrochen werden. 5
Täterprävention
Über Täterprävention wird immer noch viel zu wenig gesprochen. Internetseiten zum Stichwort ‚Gewaltprävention’ fokussieren vor allem die Befähigung von Mädchen und Jungen, mit Gewaltsituationen umzugehen, Hilfe zu suchen und sich zu wehren. Recht allgemein hingegen nehmen sich Hinweise aus, dass Kinder dazu erzogen werden sollen, keine Gewalt anzuwenden; dass Erwachsene vielleicht davon abzuhalten wären, gewalttätig zu werden, gelangt dabei kaum in den Blick. Zu Recht hat die Entwicklung gesellschaftlicher Intervention ihren Anfang damit genommen, sich um den Schutz und die Unterstützung der Opfer zu kümmern. Aus diesem Praxisfeld war zu lernen, dass die extremen und brutalen Gewalthandlungen an einem Ende eines Kontinuums stehen. Übergriffe von Männern an Frauen sind im Alltag auf vielfältige Weise zugelassen und werden ihnen
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in manchen Situationen auch nahegelegt, z.B. wenn unter Gleichaltrigen ein Junge ausgelacht wird, weil er sich bei der Freundin nicht durchsetzt. Die verschiedenen Formen von Gewalt – körperlich, sexuell, psychisch-emotional, sozial und finanziell – sind eine Alltagsressource für Dominanzverhalten. „Aktionsgewalt“ (vgl. Popitz 1992) in diesem Sinne ist praktisch, leicht verfügbar, und daher schnell zur Hand, so dass einige Autor(inn)en vorschlagen, es solle eher darüber geforscht werden, warum manche Menschen bzw. Männer davon keinen Gebrauch machen (vgl. Godenzi 1994). In den europäischen Mehrheitskulturen, die seit Jahrhunderten den Mann sowohl dazu verpflichtet als auch damit geködert haben, über Frauen zu bestimmen und zu verfügen, haben unzählige Jungen und Männer gelernt, jede Art von Konflikt oder Beunruhigung im sozialen Nahraum mit Dominanzverhalten zu bewältigen. Ein Teil von ihnen wird dabei in seiner psychosozialen Verfasstheit geschädigt, und sie werden zu einer Gefahr für andere. Andere greifen nur unter besonderen Stressbedingungen auf diese Alltagsressource zurück. Die Täterforschung konnte bisher im Wesentlichen nur Faktoren und Bedingungen identifizieren, die allgemein die Wahrscheinlichkeit kriminellen Verhaltens erhöhen (vgl. das multifaktorielle Modell von Harway & O’Neil 1999). Die Forschungen über aggressive Kinder und Jugendliche und über wiederholt gewalttätige Männer geben Hinweise, dass emotional-kognitive Fehldeutungen fremden Verhaltens als ‚Provokation’ sowie die Blockierung und Verkümmerung von Empathie die wichtigsten Indizien für chronisch werdende Gewalttätigkeit sind (vgl. Wendell 2004). Diese Störungen des Gefühlslebens und der Kognition führen dazu, im Laufe des Lebens immer stärker nach Dominanz zu streben, um die eigenen Ansprüche durchzusetzen, ohne auf die spiegelbildlich vorhandenen Ansprüche eines Gegenübers eingehen zu müssen. Männer werden dazu ermutigt und sozialisiert, dieses Anspruchs- und Durchsetzungsverhalten zu üben, um als Mann gelten zu können. Der weitaus größte Teil der Jungen und Männer, die Gewalt in Beziehungen und in der Familie ausüben, tun das nur gelegentlich und nur dann, wenn ihre Vorstellung der ihnen zustehenden Ansprüche bedroht oder verunsichert werden. Das steht in Wechselwirkung mit Beziehungsmustern, in denen Frauen sich unterordnen, weil sie glauben, dass die Ansprüche des Mannes richtig sind, oder weil sie Angst vor schlimmen Folgen im Falle einer Verweigerung haben – manchmal beides. Diese Alltäglichkeit, wie sie z.B. Roselind Penfold (2006) in Zeichnungen ihrer eigenen Beziehungsgeschichte plastisch dargestellt hat, muss der Ausgangspunkt sein. Prävention kann nicht darauf aus sein, die besonders gefährlichen Täter (oder solche, die es werden könnten) zu identifizieren und das Umfeld der weniger schweren Übergriffe zu ignorieren. Das, was in der Frauenberatung längst als ‚Warnsignale’ für häusliche Gewalt thematisiert wird – etwa,
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wenn der Mann schlecht über die Familie der Frau spricht, sie als Hilfspersonal behandelt, ihre Bedürfnisse und Träume nicht ernst nimmt oder immer ganz genau wissen will, wo sie war und mit wem – die Problematik hinter solchen Verhaltensmustern müssen in Konzepte für Täterprävention einfließen. Politisch scheint hier die neue Strategie der ‚Gefährderansprache’ – zunächst für ‚jugendliche Intensivtäter’ eingeführt (vgl. Internetportal der Polizei NRW), aber neuerdings auch bei häuslicher Gewalt in der Diskussion – einen wichtigen Ansatz zu bieten, weil sie nicht psychologisiert, sondern eine gesellschaftliche Aufklärung über die heutigen Normen und Regeln der Gesellschaft leistet und zudem Gewaltverhalten ‚zur Sprache bringt’. Denn schließlich tun viele Männer, die heute als Täter benannt werden, nichts anderes als das, was ihre Väter als völlig normal praktiziert haben. Der normative Wandel muss in der Tat diejenigen ansprechen, von denen wir nun erwarten, dass sie ihr Verhalten ändern. Dabei müssen diejenigen, die die Ansprache aufnehmen sollen, ob Polizisten oder Pädagogen in Schulen, zuerst und praxisbegleitend ihre eigenen ‚Normalvorstellungen’ reflektieren, um den Jungen und Männern glaubwürdig sagen zu können: nicht ,Sie sind dies Mal zu weit gegangen‘, sondern ,Sie sind ganz und gar auf dem falschen Weg‘. 6
Prävention und Migrationshintergrund
Die Bundesregierung ist eine Einwanderungsgesellschaft und es leben hier große Minderheiten unterschiedlichen Typs: z.B. solche, die nach eigener Einschätzung von einer ethnischen oder kulturellen Identität geprägt sind, solche, die sich religiös als Minderheit identifizieren, solche, deren hiesiges Leben sich durch Rechtsunsicherheit bis hin zur Rechtlosigkeit auszeichnet, und solche, die sich ethnisch zur Mehrheit aber durch Herkunft, Sprache und Kultur zur Minderheit zählen. Es ist ohne weiteres möglich, mehreren Minderheiten anzugehören und für Familien nicht selten, in der Schnittstelle solcher Mehrfachzuordnungen zu leben, wobei die Zuwanderungsverläufe der einzelnen Familienmitglieder oft unterschiedlich sind. Allein oder vorrangig nach Herkunft zu differenzieren, geht an den komplexen Realitäten vorbei. In den letzten Jahren wird besonders viel über Gewalt in Familien mit Migrationshintergrund gesprochen. Auf der einen Seite sprechen die empirischen Daten durchaus dafür, dass Frauen aus einem Einwanderungskontext ein höheres Risiko von Gewalt in der Paarbeziehung haben, und auch – wenn es zu Gewalt kommt – mehr von den schwerwiegenden Gewaltformen betroffen sind (vgl. Schröttle 2009). Insbesondere fällt auf, dass Frauen aus der Türkei in stärkerem Maße von Gewalt in der gegenwärtigen Beziehung berichten, was ja bedeuten
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kann, dass deutsche Frauen es relativ eher gelingt, sich aus gewaltbelasteten Beziehungen zu lösen. Die ausländerrechtlichen Schwierigkeiten einer Trennung spielen sicher hierbei eine Rolle. Familien in der Migration haben mehrfache Belastungen zu verkraften, und speziell die Männlichkeitsbilder bleiben nicht, wie sie vor der Auswanderung waren, sondern werden von einer spezifischen „Dynamik zwischen Migrantenkultur und Aufnahmegesellschaft“ erfasst und verändert (Herwartz-Emden 2000, S. 38). Diskutiert werden diese Befunde jedoch teilweise in bedenklicher Vermischung mit der immer wieder geschürten Illusion, dass gesellschaftliche Probleme verschwinden würden, wenn die Fremden weggeschickt oder sie ihre Fremdheit ablegen würden. Übersehen wird dabei, dass die große Mehrheit auch der türkischstämmigen Paarbeziehungen keine sexuelle oder körperliche Gewalt und keine überhöhten Formen von Dominanz und Kontrolle aufweisen. Getragen wird die öffentliche Diskussion über Gewalt in Migrationsfamilien von einer Vorstellung von ‚Kultur‘ als ein statisches Gebilde, dem die Menschen sozusagen ‚ganz‘ angehören. Daraus folgt die Wahrnehmung von Familien in Migration als ‚zwischen zwei Kulturen‘ stehend, mit daraus folgenden Identitätsproblemen. Diese Bilder von Migrationsfamilien halten allerdings der empirischen Prüfung nicht stand (vgl. Westphal 2005). Die Schwierigkeit besteht darin, dass die Mehrheitskultur von sich meint, keine zu sein – mit ‚Kultur‘ sind immer die Anderen, Fremden gemeint. Wenn also Gewalt in Paarbeziehungen als Auswirkung einer ‚Machokultur‘ in türkischen Familien zum Thema gemacht wird, verschwindet die alltägliche Gewalt in deutschen Familien: Die große Mehrheit der Opfer von häuslicher Gewalt in Deutschland sind aber deutsche Frauen. Die Ausblendung der strukturellen Hintergründe für Geschlechtergewalt in der Mehrheitsgesellschaft ist eine Folge der (ideologischen und realen) Individualisierung, die für unsere Kultur typisch ist. Je mehr wir alles Handeln einem inneren Beweggrund der Individuen zuschreiben, desto eher werden wir für die kollektiven, kulturellen Gründe für Gewalt gegen Frauen blind, die noch vor dreißig Jahren, als die Aufdeckung geschlechtsspezifischer Gewalt begann, offen zutage lagen. So ist die Anerkennung von Heterogenität in einem Land, das schon durch seine Lage in der Mitte Europas historisch durch Jahrhunderte von Krieg, religiöser Verfolgungen und Vertreibungen als Einwanderungsland geprägt ist, fundamental für jede Bestrebung, Gewalt abzubauen. Es sind die Versuche, Unterschiedlichkeit auszugrenzen, die zu den schlimmsten Gewalterscheinungen geführt haben, kollektiv und individuell. Im Umgang mit Menschen, die durch Migration nach Deutschland gekommen sind, gilt daher das Gleiche wie bei den hier Geborenen: Klarheit bei der konsequenten Ächtung von Gewalt kann und muss mit Respekt für die Werte und die durch Sozialisation erworbenen Selbst-
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bilder und Lebensansprüche verbunden werden. Prävention muss daher nicht zuletzt – auch im Kontext von Migration – emanzipatorische und sensible Geschlechterpolitik sein. Literatur Bitzan, Maria; Daigler, Claudia (2001): Eigensinn und Einmischung. Einführung in Grundlagen und Perspektiven parteilicher Mädchenarbeit. Weinheim: Juventa. Brown, Lyn; Gilligan, Carol (1992): Die verlorene Stimme. Wendepunkte in der Entwicklung von Mädchen und Frauen. Frankfurt a. M.: Campus. Dausien, Bettina (2006): Geschlechterverhältnisse und ihre Subjekte. Zum Diskurs über Sozialisation und Geschlecht, In: Helga Bilden; Bettina Dausien (Hrsg.): Sozialisation und Geschlecht. Theoretische und methodologische Ansätze. Opladen: Barbara Budrich, S. 17-44. Diezinger, Angelika; Rerrich, Maria S. (1998): Die Modernisierung der Fürsorglichkeit in der alltäglichen Lebensführung junger Frauen: Neuerfindung des Altbekannten? In: Mechthild Oechsle; Birgit Geissler (Hrsg.): Die ungleiche Gleichheit. Junge Frauen und der Wandel im Geschlechterverhältnis. Opladen: Leske + Budrich, S. 165-183. Glammeier, Sandra (2009): Zwischen verleiblichter Herrschaft und Widerstand. Realitätskonstruktionen und Subjektpositionen gewaltbetroffener Frauen im Kampf um Anerkennung (bisher unveröffentlichte Dissertation) Godenzi, Alberto (1996): Gewalt im sozialen Nahraum. 3., erweiterte Neuauflage. Basel: Helbing & Lichtenhahn. Hagemann-White, Carol (2004): Geschlechtertheoretische Ansätze. In: Heinz-Hermann Krüger; Cathleen Grunert (Hrsg.): Handbuch Kindheits- und Jugendforschung. Opladen: Leske + Budrich, S. 143-163. Hähne, Cornelia; Zubrägel, Sabine (2004): Die Wahrnehmung des Körperbildes bei Mädchen und Jungen und ihre Auswirkungen auf den Gesundheitsstatus und das Gesundheitsverhalten,. Ergebnisse des Jugendgesundheitssurveys im Rahmen der internationalen WHO-Vergleichsstudie. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 24 (3), S. 246-261. Harway, Michèle; O’Neil, James M. (Eds.) (1999): What Causes Men’s Violence Against Women? Thousand Oaks: Sage. Heintz, Bettina; Nadai, Eva (1998) Geschlecht und Kontext. De-Institutionalisierungsprozesse und geschlechtliche Differenzierung. Zeitschrift für Soziologie 27 (2), S. 75-93. Herwartz-Emden, Leonie (2000): Einleitung. In: Leonie Herwartz-Emden (Hrsg.): Einwandererfamilien: Geschlechterverhältnisse, Erziehung und Akkulturation. Osnabrück: Universitätsverlag Rasch, S. 9-50. Holter, Oystein Gullvag (2003): Can men do it? Men and gender equality – the Nordic experience. Copenhagen: Oystein Gullvag Holter and Nordic Council of Ministers. König, Tomke; Maihofer, Andrea (2004): Es hat sich so ergeben – praktische Normen familialer Arbeitsteilung. Familiendynamik 29 (3), S. 209-232. Krüger Helga (1999): Geschlecht – ein schwierige Kategorie. Methodisch-methodologische Fragen der „Gender“-Sensibilität in der Forschung. In: Ayla Neusel; Angelika Wetterer (Hrsg.): Vielfältige Verschiedenheiten. Geschlechterverhältnisse in Studium, Hochschule und Beruf. Frankfurt a. M.: Campus, S. 35-60. Krug, Etienne G.; Dahlberg, Linda L.; Lozano, Rafael; Mery, James A.; Zwi, Anthony B. (2002): World report on violence and health. Geneva: WHO Müller, Ursula (1989): Warum gibt es keine emanzipatorische Utopie des Mutterseins? In: Bärbel Schön (Hrsg.): Emanzipation und Mutterschaft. Weinheim: Juventa.
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Müller, Ursula; Monika Schröttle (2006): Gewalt gegen Frauen in Deutschland - Ausmaß, Ursachen und Folgen. In: Wilhelm Heitmeyer; Monika Schröttle (Hrsg.): Gewalt - Beschreibungen, Analysen. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, S. 77-97. Penfold, Roselind (2006): Und das soll Liebe sein? Geschichte einer bedrohlichen Beziehung. Frankfurt a. M.: Eichborn AG. Popitz, Heinrich (1992): Phänomene der Macht. 2. Auflage. Tübingen: Mohr Siebeck. Prengel, Annedore (1994): Perspektiven einer feministischen Pädagogik in der Erziehung von Mädchen und Jungen. In: Elisabeth Glücks; Franz Gerd Ottemeier-Glücks (Hrsg.): Geschlechtsbezogene Pädagogik. Münster: Votum, S. 62-75. Rendtorff, Barbara; Prengel, Annedore (2008): Kinder und ihr Geschlecht – Vielschichtige Prozesse und punktuelle Erkenntnisse. In: Barbara Rendtorff; Annedore Prengel (Hrsg.): Kinder und ihr Geschlecht. Opladen: Barbara Budrich, S. 11-23. Sandmeier, Anita (2005): Selbstwertentwicklung vom Jugendalter bis ins frühe Erwachsenenalter – eine geschlechtsspezifische Analyse. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 25 (1), S. 52-66. Schröttle, Monika (2009): Gewalt gegen Frauen in Paarbeziehungen. Eine sekundäranalytische Auswertung zur Differenzierung nach Schweregraden, Mustern, Risikofaktoren und Unterstützung nach erlebter Gewalt. Berlin: BMFSFJ. Tronto, Joan (2000): Demokratie als fürsorgliche Praxis. Feministische Studien 18, S. 25-42. Walby, Sylvia; Allen, Jonathan (2004): Domestic Violence, sexual assault and stalking. Findings from the British Crime Survey. Home Office Research Study 276. London. Watson, Dorothy; Parsons, Sara (2005): Domestic Abuse of Women and Men in Ireland. Report on the National Study of Domestic Abuse. Dublin. Wendell, Astrid (2004): Bindungserfahrungen, Ärgerregulation und Aggression. Zusammenhänge zur sozialen Informationsverarbeitung bei reaktiv und proaktiv aggressiven Jugendlichen. Hamburg: Dr. Kovaþ. Westphal, Manuela (2005): Sozialisation und Akkulturation in Migrantenfamilien. In: Werner Thole; Peter Cloos; Friedrich Ortmann; Volkhardt Strutwolf (Hrsg.): Soziale Arbeit im öffentlichen Raum. Soziale Gerechtigkeit in der Gestaltung des Sozialen. Wiesbaden: VS Verlag. CD Teil 4.3. Wetterer, Angelika (2004): Widersprüche zwischen Diskurs und Praxis. Gegenstandsbezug und Erkenntnispotential einer sozialkonstruktivistischen Perspektive. In: Urte Helduser; Daniela Marx; Tanja Paulitz; Katharina Pühl (Hrsg.): under construction? Konstruktivistische Perspektiven in feministischer Theorie und Forschungspraxis. Frankfurt a. M.: Campus, S. 58-67.
Eva Breitenbach
Zur Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit für die Arbeit im Elementarbereich
Sowohl im Elementar- als auch im Grundschulbereich sind in Deutschland überwiegend Frauen beschäftigt. Auch mit der privaten Erziehungs- und Alltagsarbeit sind deutlich mehr Frauen als Männer befasst. In den letzten Jahren wird dieser Tatbestand sowohl in Fachdiskursen als auch von einer breiteren Öffentlichkeit zunehmend problematisiert. Dabei stehen meist die Jungen im Mittelpunkt des öffentlichen und fachlichen Interesses. Ihre sozialen und schulischen Schwierigkeiten werden mit der weitgehenden Abwesenheit von Männern und der mehrheitlichen Anwesenheit von Frauen in der männlichen Kindheit in Verbindung gebracht. Umgekehrt scheint dann die Lösung der aktuellen Probleme (wie immer sie definiert werden), zunächst in der vermehrten Anwesenheit von Männern in den Kinderzimmern, Kindergärten und Grundschulen zu bestehen. Die pädagogische Erfahrung und Forschung zeigt jedoch, wie es sich beispielsweise in der Koedukationsforschung eindrücklich dokumentiert, dass Organisationsformen oder pädagogische Settings zwar einen bedeutsamen Faktor in pädagogischen und professionellen Prozessen darstellen, dass aber Veränderungen auf der organisatorischen Ebene allein nicht automatisch zu Verbesserungen auf den pädagogischen und institutionellen Ebenen führen (vgl. z.B. Breitenbach 2002; Herwartz-Emden 2007). Auf einer politischen Ebene (auch auf der Ebene der Europäischen Union) erhält die Forderung nach einer Erhöhung des Männeranteils in den Kindertageseinrichtungen und in der Grundschule breite Zustimmung (vgl. Rohrmann 2008). Die politische Argumentation des Gender Mainstreaming (vgl. Rabe-Kleberg 2003) erfordert den ungehinderten und selbstverständlichen Zugang von Männern zu Frauenberufen (und Frauen zu Männerberufen) mit dem Ziel, den engen Zusammenhang von Geschlechtszugehörigkeit und beruflicher Tätigkeit mit allen seinen negativen Implikationen auszuhebeln. Unklar bzw. widersprüchlich bleibt in der Diskussion oft, welches eigentlich die pädagogischen Ziele der angestrebten oder durchgeführten Maßnahmen sein sollen: Geht es um eine Erweiterung der Spiel- und Handlungsräume für beide
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Geschlechter? Geht es um eine Dramatisierung oder Entdramatisierung der Geschlechterdifferenzen oder irgendwie um beides? Geht es um Jungenförderung durch Männer? Geht es um eine Etablierung traditioneller Geschlechterverhältnisse? Geht es um eine Veränderung der Angebote in den Kindergärten? Ich setze den Schwerpunkt in diesem Aufsatz nicht auf den politischen, sondern auf den pädagogischen Dimensionen des Themas. Ich frage nach den Ausgestaltungen und Bedeutungen der Geschlechtszugehörigkeit – der Erzieher/innen, aber auch der Kinder – in der pädagogischen Arbeit im Elementarbereich1. Ich greife dabei auf sozialkonstruktivistische Ansätze der Geschlechterforschung zurück, die für den Elementarbereich noch nicht wirklich fruchtbar gemacht wurden. Schon ein erster Blick in die Fachliteratur zeigt, dass wir erstaunlich wenig gesichertes empirisches Wissen darüber besitzen, welche Bedeutungen die Geschlechtszugehörigkeiten der pädagogischen Fachkräfte im räumlichen und kulturellen Kontext der Institution ‚Kindergarten’ entfalten. Das hat sicherlich auch mit der Komplexität der Fragestellung zu tun. Das Geschlecht oder genauer die Geschlechtszugehörigkeit ist auf mehreren Ebenen sozialer Gefüge bedeutsam. Die Geschlechtszugehörigkeit ist eine Kategorie sozialer und gesellschaftlicher Klassifikation oder wie Judith Lorber (2003) es ausdrückt, eine soziale Institution und ein sozialer Platzanweiser. Sie ist eine der bedeutsamen Dimensionen, entlang derer der Zugang zu gesellschaftlichen Positionen, gesellschaftliche Arbeitsteilungen usw. geregelt wird. Die Geschlechtszugehörigkeit ist zweitens eine wichtige Dimension der symbolischen Ordnungen von Gesellschaften und beeinflusst so drittens auch die alltäglichen Interaktionsprozesse. Viertens schließlich ist sie eine bedeutsame Dimension der Individualität und Identität des Subjekts: eine geschlechtsneutrale Identität oder eine Identität, die sich nicht an den Geschlechterbildern, den geschlechtsbezogenen Erwartungen und Zumutungen ihres sozialen Milieus abarbeiten muss, ist kaum denkbar. Das Personal in den Kindergärten besteht aus Individuen, die sich im Alter, der Generation, dem sozialen Milieu, der Bildung und Ausbildung, den individuellen Neigungen und pädagogischen Haltungen, der ethnischen Zugehörigkeit und eben auch in der Geschlechtszugehörigkeit unterscheiden. Ebenfalls unterscheiden sich die institutionellen Kontexte, in denen sie arbeiten, in Bezug auf die Träger, eine mögliche konfessionelle Bindung der Einrichtung, die räumliche und finanzielle Ausstattung, die Organisationsform und die pädagogischen Konzepte. Und nicht zuletzt unterscheiden sich die Kinder und Kindergruppen in den genannten Dimensionen Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, soziales Milieu 1
Ich danke Ilse Bürmann für ihre kritischen und anregenden Kommentare.
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und familiärer Hintergrund. Alle diese Faktoren fließen in die Arbeit ein und tragen zur Herstellung einer gemeinsamen Realität bei, bei der die Geschlechtszugehörigkeit der Beteiligten zwar eine bedeutsame, aber eben höchst unterschiedliche Rolle spielt. 1
Die Institution und ihr Personal: Wie viele Männer und Frauen arbeiten im Elementarbereich?
Der Kindergarten ist eine Bildungseinrichtung bzw. er soll verstärkt zu einer solchen werden. Der Bildungsgedanke, die Idee, Kindergärten theoretisch und in ihrer pädagogischen Praxis als ersten Baustein einer umfassenden kindlichen Bildung zu betrachten, war von Anfang an mit der Kindergartenbewegung (und der Frauenbewegung) verbunden (vgl. Hebenstreit 2003). Mächtiger war in Deutschland jedoch die Tradition, Kindergärten als familienergänzende und familienunterstützende Betreuungsangebote anzusehen, als „ein öffentliches Angebot, das Akteure in ihrem als ‚privat’ begriffenen Handeln unterstützen soll“ (RabeKleberg 2003, S. 39). Beide politischen wie pädagogischen Linien wiederum sind eng mit den Geschlechterverhältnissen verknüpft. Rabe-Kleberg bezeichnet den Kindergarten als eine Art von „Arena“, „in der – mehr oder weniger verdeckt – gesellschaftliche Auseinandersetzungen zwischen Beharrungs- und Veränderungstendenzen im Geschlechterverhältnis, zwischen unterschiedlichen Vorstellungen über den Kompromiss bzw. von einem ‚Arrangement’ der Geschlechter oder auch einer Geschlechterkultur stattfinden“ (Rabe-Kleberg 2003, S. 39). Diese Auseinandersetzung mit den Geschlechterverhältnissen zeigte sich im übrigen von Anfang an auch in der Geschlechtszugehörigkeit des Kindergartenpersonals: Friedrich Fröbel stellte sich zunächst männliche Erzieher in seinen Kindergärten vor, für seine Ideen begeisterten sich aus verschiedenen Gründen dann aber weitaus mehr Frauen als Männer (vgl. Hebenstreit 2003, S. 443f.). Die aktuellen Probleme des pädagogischen Personals in den Kindertageseinrichtungen sind groß. Die Arbeitsbedingungen in den Einrichtungen sind oft schwierig. Stichworte sind hier z.B. ein schlechter Personalschlüssel und zum Teil schlechte räumliche Bedingungen bei stetig wachsenden und sich rasch verändernden Anforderungen an das Personal. Solche Anforderungen betreffen die aufwendiger werdende finanzielle Organisation der Einrichtungen, die pädagogische Begleitung und Förderung der Kinder, die Elternarbeit, die Profilbildung der Einrichtung, die Sicherung, Evaluation und Dokumentation der Qualität der Arbeit.
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Eva Breitenbach
Gleichzeitig ist ‚Erzieherin’ ein schlecht bezahlter Beruf mit einem innerhalb der pädagogischen Berufe eher niedrigen Ausbildungsniveau2, einem geringen Status und geringen Aufstiegschancen. Zumindest das letztere Problembündel lässt sich in einen direkten Zusammenhang mit dem Geschlecht des Berufs stellen. Auf der einen Seite gilt die mangelnde Attraktivität des Berufs als eine Ursache dafür, dass Männer sich davon fernhalten. Derartige Arbeitsbedingungen scheinen für Frauen eher zumutbar zu sein als für Männer. Auf der anderen Seite gibt es die Hoffnung, dass der Status und der ökonomische Wert des Berufs durch eine Veränderung seiner geschlechtlichen Attribuierung steigen könnten. Gleichzeitig gibt es natürlich die Befürchtung, dass Erzieher von einer Verbesserung der Bedingungen stärker profitieren würden als Erzieherinnen. Vor dem Hintergrund dieser Skizze von Geschlechterverhältnissen im Elementarbereich erhebt sich die Frage, wie sich aktuell die Zusammensetzung des Personals nach Geschlecht darstellt. 2006 liegt der Anteil männlicher pädagogischer Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen bei 3,2% (zum Vergleich: 1998 bei 2,6%)3. Differenziert man unterschiedliche Altersgruppen, so liegt der Männeranteil (im Jahr 2008) in der Gruppe der unter Zwanzigjährigen und der Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen deutlich höher bei 10,5% bzw. 5,49%, wobei in diese Gruppe Praktikanten und junge Männer im Freiwilligen Sozialen Jahr eingeschlossen sind. Ebenfalls lassen sich erhebliche regionale Unterschiede feststellen. Die höchsten durchschnittlichen Anteile erreichen 2008 Bremen (9,1%, bei denen, die jünger als fünfundzwanzig sind, sogar um die 20%) und Hamburg (8,7%), gefolgt von Schleswig-Holstein, Hessen und Berlin. Den geringsten Anteil haben Bayern mit einem Männeranteil von unter 2% sowie die ostdeutschen Bundesländer. Letztere haben allerdings einen erheblich höheren Anteil in den jüngeren Altersgruppen. Diese Ergebnisse und regionale Untersuchungen deuten darauf hin, dass ein höherer Männeranteil eher in Großstädten zu finden ist. Eine weitere wichtige Differenzierungsgröße bildet die Trägerschaft der Einrichtung. Hier reicht das Spektrum von Einrichtungen und (landesweiten) Trägern, bei denen kaum Männer beschäftigt sind bis hin zu Einrichtungen, bei denen alle Gruppen paritätisch besetzt sind (meist großstädtische Kinderhäuser in freier Trägerschaft). Insgesamt ist der Männeranteil bei freien Trägern höher als bei öffentlichen Trägern, bei Elterninitiativen am höchsten (2002 bei 10,2 %).
2 Dies ändert sich gerade mit der Einführung der frühpädagogischen Bachelor-Studiengänge. Derzeit gibt es bundesweit ca. 60 und die ersten Masterstudiengänge sind in Planung. Allerdings ist die Frühpädagogik nach wie vor ein Stiefkind der universitären Erziehungswissenschaft. 3 Ich habe die statistischen Angaben entnommen aus Rohrmann 2008 (Kapitel 4.1.1), der sich wiederum auf Daten des Statistischen Bundesamtes stützt.
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Aber nicht nur in der Anzahl, sondern auch in den Ausbildungsgängen und was die Position in den Teams angeht, zeigen sich erhebliche Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Während beispielsweise 2008 71% der weiblichen pädagogischen Fachkräfte Erzieherinnen waren, waren es nur 46,5% der Männer. Auch der Anteil der KinderpflegerInnen variiert deutlich: 13,2% bei den Frauen, 3,7% bei den Männern. Dagegen haben nur 3,2% der Frauen, aber 9,2% der Männer eine Ausbildung außerhalb des sozialen Bereichs. Auch der Anteil der Männer mit Studium ist erheblich höher, er liegt bei 14,2%, bei den Frauen bei 3,7%. Umgekehrt arbeiten 10% Männer ohne Ausbildung in Kindergärten, bei den Frauen nur 1,9%. Diese unterschiedlichen Ausbildungen und Ausbildungsniveaus sind sicher eine Erklärung für die Verteilung der Positionen in den Einrichtungen. Männer sind seltener als Frauen als Gruppenleiter, dagegen häufiger als Zweit- oder Ergänzungskraft beschäftigt. 6,9% der männlichen Pädagogen in Kindergärten leiten eine Einrichtung, bei den Frauen sind es 3,6%, wobei der Anteil der männlichen Leiter in den letzten Jahren gestiegen ist. Rohrmann (2008) resümiert: „Einerseits arbeiten Männer also häufiger auf untergeordneten Positionen, andererseits sind die Chancen auf eine Leitungsposition für männliche Fachkräfte etwas besser. Beides hängt mit der großen Streuung im Ausbildungsniveau der männlichen Beschäftigten zusammen“ (ebd., S. 144). Es ließe sich hinzufügen, dass der kleinere Anteil der ausgebildeten Erzieher und der größere Anteil an ungewöhnlicheren Berufswegen vermutlich wiederum mit dem Geschlecht (der Pädagogen und des Berufs) zu tun hat. Weiter ließe sich vermuten, dass die Geschlechtszugehörigkeit unabhängig von der Ausbildung bei der Vergabe von Leitungspositionen eine Rolle spielt, wie das Beispiel des Grundschulbereichs nahe legt. Männer profitieren in diesem Fall auch in einem mehrheitlich von Frauen besetzen Bereich von der „patriarchalen Dividende“ als „dem allgemeinen Vorteil, der den Männern aus der Unterdrückung von Frauen erwächst“ (Connell 1999, S.100). Für den Bereich der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen lässt sich insgesamt feststellen, dass der Männeranteil beim pädagogischen Personal mit dem Alter der Kinder bzw. Jugendlichen steigt, was nicht sonderlich überraschend ist. Er liegt bei den Gruppen der 0 bis 3-Jährigen bei 1,2%, in der Grundschule bei 13,1%, im Gymnasium bei 46,9%. Leitungspositionen sind jedoch auch in der Grundschule häufiger mit Männern besetzt. Insgesamt sinkt der Anteil der männlichen Lehrerschaft in der Grundschule in den letzten Jahren. Die beschriebene Situation im Elementarbereich, das als Bemerkung zum Schluss, betrifft nicht nur Deutschland. Vielmehr „liegt der Männeranteil in Kindertageseinrichtungen in den meisten europäischen Ländern wie auch in Nord-
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amerika unter fünf Prozent, zum Teil noch deutlich darunter“ (Rohrmann 2008, S. 150). Höhere Anteile gibt es in Norwegen (9%) und in Dänemark (8%). 2
Die Institution und ihr Personal: Was wird passieren, wenn die Männer kommen?
In einem Seminar im Studiengang Elementarpädagogik zur geschlechterreflektierenden Arbeit mit Kindern im Sommersemester 09 setzten wir uns mit der Frage der Geschlechtszugehörigkeit der Erzieher/innen auseinander4. In Arbeitsgruppen sollten die Frauen ihre Wünsche und Erwartungen an Erzieher formulieren, der bislang einzige Erzieher im Studiengang sollte (unterstützt von Kolleginnen) seine Erwartungen und Wünsche an Kolleginnen formulieren. Die Frauen in den drei Arbeitsgruppen kamen zu dem Schluss, dass sie im Grunde von einem Mann dasselbe erwarteten wie von einer Frau: Zuverlässigkeit, Teamfähigkeit, Reflexionsbereitschaft, fachliche Kompetenz, Kreativität, Offenheit, Selbstständigkeit. Sehr wichtig war allen, dass der männliche Erzieher für beide Geschlechter Ansprechpartner und Spielpartner sein solle, dass er, so formulierten die Mitglieder einer Arbeitsgruppe, „seine Fähigkeiten für die Bedürfnisse der Kinder einsetzen, aber auch Bedürfnisse der Kinder unabhängig von seinen Fähigkeiten erkennen und darauf eingehen solle“. Weiter wurde sowohl von den Erzieherinnen als auch von dem Erzieher betont, der männliche Kollege solle keinen „Sonderstatus“ einnehmen. Auf der Seite der Frauen hieß das beispielsweise, er solle eine weibliche Vorgesetzte anerkennen, nicht als „Macher“ auftreten und sich nicht vor dem Küchendienst drücken, auf der Seite des Mannes hieß es, er wünsche sich die gleiche Anerkennung und die gleiche Anbindung an das Team wie die Kolleginnen, und er lege Wert auf eine Reflektion der Rollenverteilung im Team. Die Erwartungen und die Befürchtungen an den Mann als Kollegen gruppieren sich im Wesentlichen um die Bereiche der geschlechtstypischen Arbeitsteilung und der Geschlechterhierarchie: keineswegs neue und nach wie vor zentrale Themen im Alltag wie in der Forschung und Theorie der Geschlechterverhältnisse. Die hier zitierte Gruppe sucht die Lösung im ‚undoing gender’, in der Entdramatisierung der Geschlechterdifferenz. Die Geschlechtszugehörigkeit soll möglichst keine Unterschiede erzeugen, keine Bedeutung entfalten. Interne Arbeitsteilung, Kommunikationsmuster, Konfliktlösungsstrategien, Kontrollsysteme sind in der Institution Kindergarten wie in allen Institutionen geschlechtsbezogen organisiert. Wie sich diese Prozesse verändern werden, 4 Bei den Student(inn)en handelt es sich um ausgebildete und überwiegend um erwerbstätige Erzieher/innen.
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wenn Männer in die bislang weiblichen Institutionen kommen (weiblich nicht auf Trägerebene, nur auf der Ebene der Einrichtung selbst), ist bislang insgesamt noch unklar und weckt ebenso Hoffnungen wie Befürchtungen. Insgesamt scheinen Männer in den Kindergärten (das zeigen neben empirischen Studien zahlreiche Gespräche) jedoch wohlwollend bis freudig begrüßt zu werden, sei es als Kollegen, sei es als Väter und Großväter, die sich in Projekten engagieren (vgl. Rohrmann 2006; Tünte 2007). Dafür sehe ich zwei Gründe: Erstens wird in einer männlich dominierten Gesellschaft die Institution Kindergarten durch die Anwesenheit von Männern insgesamt aufgewertet. Wie Robert Connell (1999) darstellt, sind nicht nur die Vertreter hegemonialer Männlichkeit selbst5 Nutznießer der Geschlechterhierarchie, sondern auch diejenigen, die innerhalb des Rahmens hegemonialer Männlichkeit die Position der Komplizen einnehmen oder in bestimmten Kontexten sogar diejenigen, die untergeordnet oder marginalisiert sind. Auch wenn der einzelne Erzieher weder in seiner jeweiligen geschlechtlichen Inszenierung noch von seiner gesellschaftlichen Position her hegemoniale Männlichkeit repräsentiert, hat er doch als Mann Teil an der „patriarchalen Dividende“ – und darüber vielleicht auch die Institution und ihre Mitarbeiterinnen. Zweitens werden die Erhöhung des Männeranteils in den Kindergärten und die männliche pädagogische Arbeit in der frühen Kindheit von der Mehrheit in der fachlichen und öffentlichen Bildungsdebatte nicht nur befürwortet, sondern eindringlich eingefordert. Ein moderner und fortschrittlicher Kindergarten, der mit dem pädagogischen und politischen Mainstream mitschwimmt, ist deshalb einer mit mindestens einem männlichen Erzieher bzw. sogar einem paritätisch besetzten Team: je mehr Männer desto mehr Fortschritt. Umgekehrt stehen Frauenzusammenhänge in dem Verdacht, altmodischbetulich oder gar feministisch zu sein. Schwierigkeiten mit dem möglichen männlichen Einzug in das elementarpädagogische Arbeitsfeld oder Ressentiments dagegen sind deshalb derzeit schwer öffentlich auszudrücken. Gerade noch lassen sich Argumente vermitteln, die die männliche Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt oder mögliche Vorteile von Männern bei der Einstellungs- und Beförderungspraxis betreffen. Die Freude daran, in einem Team mit Frauen zusammenzuarbeiten, die Wertschätzung der erarbeiteten Arbeits- und Kommunikationsformen unter Frauen, die Befürchtung, in diesen Bereichen zukünftig 5
Hegemoniale Männlichkeit ist dabei „jene Form von Männlichkeit, die in einer gegebenen Struktur des Geschlechterverhältnisses die bestimmende Position einnimmt, eine Position allerdings, die jederzeit in Frage gestellt werden kann“ (Connell 1999, S. 97). Sie lässt sich als „jene Konfiguration geschlechtsbezogener Praxis definieren, welche die momentan akzeptierte Antwort auf das Legitimitätsproblem des Patriarchats verkörpert und die Dominanz der Männer sowie die Unterordnung der Frauen gewährleistet (oder gewährleisten soll)“ (ebd., S. 98).
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Verluste zu erleben, all dies hat in der aktuellen Diskussion keinen öffentlichen Platz. Vielmehr verschwinden solche Erfahrungen, Denkmuster und Gefühle in den ‚Untergrund’ der Teams, der einzelnen Frauen, möglicherweise in den Untergrund des individuellen Bewusstseins. 3
Geschlechterreflektierende Arbeit mit Kindern: Frauen an die Werkbank, Männer in die Rollenspielecke?
An die geschlechterreflektierende Arbeit (vgl. Voigt-Kehlenbeck 2001) im frühpädagogischen Bereich werden in der Regel im Kern zwei Anforderungen gestellt. Die erste Anforderung lautet, Kinder nicht in geschlechtstypischer Weise zu erziehen und damit einzuschränken. Vielmehr sollen Sozialisations- und Bildungsbedingungen geschaffen werden, die Mädchen und Jungen Handlungsspielräume je nach individuellem Potential und individueller Neigung eröffnen, ohne dass die Geschlechtszugehörigkeit dabei eine Rolle spielt. Mädchen sollen auf den Bauteppich dürfen und Jungen zu den Verkleidungskisten oder vielleicht noch besser, Gruppen von Jungen und Mädchen spielen gemeinsam auf dem Bauteppich und verkleiden sich. Die Schwierigkeiten mit der Umsetzung dieser Anforderung sind bekannt und sowohl für die Jugendarbeit als auch für die schulische Bildung und Sozialisation durchdekliniert, ohne dass endgültige Lösungen gefunden wurden (vgl. z.B. Herwartz-Emden u.a. 2008). Sollen Erzieher/innen die geschlechtstypischen Aktivitäten und Umgangsformen der Mädchen und Jungen, die diese gerade im Kindergartenalter mit großem Ernst zu entfalten pflegen, entmutigen, geschehen lassen, fördern? Sollen sie Angebote machen, die geschlechtsuntypische Aktivitäten und Umgangsformen anregen und fördern? Und mit welchen Kindern? Sollen Erzieher/innen auf die oft vorhandene Neigung zur Geschlechtertrennung in den Kindergruppen irgendwie pädagogisch antworten? Soll die Geschlechterdifferenz dramatisiert werden oder dekonstruiert oder beides je nach Situation? Hinzu kommt: Nicht nur Kinder haben individuelle Neigungen, die durch die Geschlechtszugehörigkeit als einem zentralen Erfahrungsraum strukturiert werden, sondern auch die Erzieherinnen und Erzieher. Möglicherweise gibt es in den Einrichtungen relativ wenige Frauen, die am liebsten draußen toben oder Fußball spielen, Lagerfeuer entzünden, an der Werkbank arbeiten oder naturwissenschaftliche Experimente durchführen. Das heißt nicht, dass Frauen keinen Spaß an derartigen Tätigkeiten haben können, und es bedeutet natürlich auch nicht, dass Erzieher von vornherein eine Neigung zu den eher männlich codierten Tätigkeiten haben. Meines Wissens gibt es keine Nachweise darüber, wie viele Männer gerne laminieren und weben und wie viele Frauen gerne Fußball spielen
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und raufen und wie viele der laminierenden Männer und raufenden Frauen in den Kindergärten landen. Wir wissen nicht, wie sich die Neigungen und Aktivitäten der Erzieher/innen in den einzelnen Einrichtungen entfalten und welche Rolle die Geschlechtszugehörigkeit dabei spielt. Ich halte es im Sinne einer geschlechterreflektierenden Pädagogik nicht für sinnvoll, die Geschlechterdifferenzen zu betonen. Im Gegenteil könnten im Alltag all die unauffälligen Interaktionen aufgesucht und verändert werden, in denen Erzieher/innen Kinder auf ihre Geschlechtszugehörigkeit und die Geschlechterdifferenzen aufmerksam machen und sie damit erst herstellen. Dennoch erscheint es mir ebenso wenig geboten, geschlechtstypische Aktivitäten implizit oder explizit abzuwerten oder sogar zu unterbinden. Kinder (und Erwachsene) kreieren mit geschlechtstypischen Aktivitäten und geschlechtshomogenen Gruppen vertraute Räume, Rückzugsräume, die durchaus regressive Momente enthalten können und gerade dadurch im durchaus anstrengenden Kindergartenalltag entlastend und entspannend wirken. Eine pädagogische Antwort auf die komplexe Aufgabe könnte sich in der Theorie von der Bildsamkeit jeder Person finden, eine Theorie, die sich ausdrücklich von der Anlage-Umwelt-Debatte und damit implizit auch von die Geschlechter differenzierenden Vorgaben distanziert (vgl. Benner 2001). Mit der Vorstellung von der Bildsamkeit richtet sich die pädagogische Arbeit auf das einzelne Kind, das Subjekt, in seinem spezifischen Kontext. Eine solche individuelle Arbeit ist, gerade wegen der Heterogenität der Kinder und ihrer Kontexte, auch für eine geschlechterreflektierende Pädagogik ebenso aufwendig wie unverzichtbar und nicht durch noch so fortschrittliche Programme und Projekte zu ersetzen. Die Frage bleibt, inwieweit es für gelingende kindliche Bildungsprozesse wichtig ist, ob eine Frau oder ein Mann sie begleitet oder inwieweit es bedeutsamer ist, dass eine Person eine Tätigkeit auf überzeugende Weise ausführt und auf überzeugende Weise Kindern einen Weg zu dem jeweiligen Bereich eröffnet, ganz unabhängig von der Geschlechtszugehörigkeit der Person und der Tätigkeiten und Objekte. Deutlich zu sein scheint, auch das wissen wir aus der Koedukationsdebatte, dass ein gemischtgeschlechtliches Team aus Männern und Frauen auch dazu führen kann, dass sich die traditionelle Arbeitsteilung verstärkt und verfestigt.
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Eva Breitenbach Geschlechterreflektierende Arbeit mit Kindern – die Frage der Geschlechtsidentität
Auch die zweite Anforderung an die pädagogische Arbeit im Elementarbereich, Mädchen und Jungen bei der Entwicklung ihrer Geschlechtsidentität zu begleiten und zu fördern, ist schwer einzulösen. Wie soll eine solche pädagogische Begleitung aussehen (siehe oben)? Vor allem, wie soll der Prozess bei den Mädchen und Jungen aussehen, wenn die üblichen geschlechtstypischen Objekte und Aktivitäten in Frage gestellt werden? Gibt es doch irgendeine Essenz des Geschlechts, auf die die Pädagog(inn)en sich dann besinnen sollen? Die Figur des Vorbildes bzw. das Lernen am Modell, beliebt in der pädagogischen wie in der psychologischen Tradition, bietet hier scheinbar einen Ausweg: Jungen orientieren sich am männlichen Erzieher, der sowohl die robusten als auch die verletzlich-sanftmütigen Anteile von Männlichkeit verkörpern und darstellen soll, Mädchen orientieren sich wie gehabt an den Erzieherinnen als Frauen, die entsprechend moderne Weiblichkeit und Mütterlichkeit verkörpern und darstellen sollen. ‚Rollenmodell’, heißt das dann und zeigt verblüffende Ähnlichkeiten zur traditionellen geschlechtstypischen Erziehung. Und eine richtige Lösung scheint das Vorbild-Konzept auch nicht zu bieten: Hat das Mädchen Glück oder Pech, wenn ihr erwachsenes professionelles Rollenmodell gern kaputte Wasserhähne repariert und sie zur Durchsetzung ihrer Interessen ermutigt? Und wenn die Mutter des Mädchens eben das nicht tut, sondern ihrem Ehemann überlässt, erlebt das Mädchen dann beglückende Vielfalt oder gerät sie in einen Rollenkonflikt? Wie bei vielen pädagogischen Prozessen im Elementarbereich gilt auch hier, dass es noch relativ wenig empirisch gesicherte Erkenntnisse gibt. „Ob und wie es sich auf Jungen und Mädchen auswirkt, ob ihnen ein Mann oder eine Frau als Pädagoge gegenübersteht, ist erstaunlicherweise bislang kaum untersucht worden“ (Rohrmann 2006, S. 120f.). Zur Verfügung steht ältere und neuere Literatur über die Aufgabe und den Einfluss des Vaters in der (früh)kindlichen Entwicklung, häufig aus der Psychoanalyse und der Bindungsforschung, die sich auf den öffentlichen pädagogischen Bereich beziehen lässt (vgl. z.B. Brandes 2007). Auch wenn dieser väterliche Einfluss überwiegend als positiv und notwendig angesehen wird, so zeigt die Literatur über die Väter auch die alten und neu entstehenden Schwierigkeiten. Böhnisch (1997) beispielsweise kennzeichnet den Konflikt gerade der modernen Väter zwischen dem Wunsch nach offenen emotionalen Beziehungen zu ihren Kindern, der „Sehnsucht nach einer Väterlichkeit, die aus dem eigenen Selbst kommt“ (ebd., S. 163) auf der einen Seite, und den nach wie vor bedeutsamen gesellschaftlichen Anforderungen an die männliche, väterliche Macht und Dominanz auf der anderen Seite als „Patriarchatsfalle“
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(vgl. ebd.). Einen Lösungsansatz sieht er in der Auseinandersetzung der Männer mit sich selbst und ihrer (in einer geschlechtshierarchisch strukturierten Gesellschaft nicht vorgesehenen) sozialen und emotionalen Hilflosigkeit. „Zu sich selbst gekommene Väter könnten genauso wie die Mütter Zugang zu ihren Kindern finden“ (ebd., S. 166). Wenn aber die erwachsenen Männer sich so mühsam von den gesellschaftlichen Zumutungen an ihre Männlichkeit befreien müssen, um zu sich selbst zu kommen, dann bleibt die Frage, warum wir solche Mühe darauf verwenden, kleine Mädchen und Jungen bei ihrer Einarbeitung in eben diese Zumutungen zu fördern: Die Idee der stabilen Geschlechtsidentität selbst ist eine kulturelle Konstruktion und eine gesellschaftliche Zumutung, und es könnte auch in der Frühpädagogik eine befreiende Idee sein, Erzieher/innen und Kinder vom Zwang zu einer wie auch immer gearteten fest gefügten Geschlechtsidentität zu entlasten. „Es gibt keine ‚richtige’ Geschlechtsidentität, eine, die zu dem einen statt zu dem anderen Geschlecht gehören würde und die, in welchem Sinn auch immer, dessen kulturelles Eigentum wäre“ (Butler 2003, S. 156). In diesem Sinne lässt sich die Geschlechtsidentität auffassen als „eine Imitation, zu der es kein Original gibt“ (ebd., S. 156). 5
Sex und Gender?
Die Anforderungen an die pädagogische Arbeit lassen sich also so verdichten: Die Geschlechterdifferenzen sollen keine einschränkende Bedeutung entfalten. Die Geschlechterdifferenzen sollen jedoch in der persönlichen Identität des Subjekts ihre Bedeutung entfalten. Beides soll sowohl für die Kinder als auch für die Erwachsenen gelten. Eine theoretische Antwort auf diese widersprüchlichen Anforderungen bietet die Hinwendung zu irgendeiner Art von essentialistischer Geschlechtertheorie, sei sie nun biologisch, sozialisationstheoretisch evolutionstheoretisch oder philosophisch-spirituell begründet. Dann ist für erstere Anforderung – die Geschlechterdifferenzen sollen nicht bedeutsam sein – Kultur, Sozialisation und Erziehung zuständig, für die zweite – die Geschlechterdifferenzen sollen in der persönlichen Identität bedeutsam werden – die Natur bzw. ein essentieller Kern des Selbst. In der Geschlechterforschung wird diese Theorie vor allem unter der Überschrift ‚Sex und Gender’ verhandelt. Der Kern dieses Paradigmas besteht in der Vorstellung, dass das biologische Geschlecht ‚Sex’ als eine Art ‚Rohmaterial‘ sozial überformt werde und so das soziale Geschlecht ‚Gender’ entstehe (vgl. Villa 2006). Durch geschlechtstypische Erziehung und Sozialisation in den Insti-
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tutionen, die Kinder und Jugendliche durchlaufen, durch Erwartungen, Regeln und Sanktionen, durch Angebote wie das Spielzeug, durch mediale Vorbilder, durch Eltern, Geschwister und die Gleichaltrigen etc. wird ein dichtes Netz von geschlechtstypischen Orientierungen und Praktiken geknüpft, an dem sich Kinder und Erwachsene orientieren, an dem sie sich festhalten können – und in dem sie gefangen werden. Auf diese Weise werden und bleiben Kinder Mädchen und Jungen und Erwachsene Männer und Frauen. Diese Sichtweise hat sicherlich nach wie vor ihre Gültigkeit, denn sie kann dazu anregen, den Erfahrungsraum von Geschlecht, die Praktiken und Orientierungen, die den Geschlechtern zugeordnet werden, in vielen konkreten Feldern zu erweitern und damit für beide Geschlechter den Spielraum zu vergrößern. Gleichzeitig bleiben in diesem Paradigma jedoch die Figur der Geschlechterdifferenz selbst und damit auch der Zwang, sich einem Geschlecht zuzuordnen und die Geschlechtszugehörigkeit angemessen zu verkörpern, bestehen. Nun sind aber gerade die Wahrnehmung und Darstellung, wie auch das Erleben des geschlechtlichen Körpers eng an die jeweiligen kulturellen, sozialen und nicht zuletzt die wissenschaftlichen Traditionen gebunden und keineswegs ‚natürlich’. Der Körper ist kein Ort außerhalb des Sozialen und auch nicht die mit ihm in enger Verbindung stehende geschlechtliche Identität und sexuelle Orientierung. Ganz im Gegenteil: Angefangen von so banalen Dingen wie dem Dekor (Kleidung, Behaarung etc.), mit dem wir uns als Frauen und Männer darstellen, Frauen und Männer ‚verkörpern’. Bis hinein in die tiefen, intimen und scheinbar ganz persönlichen Schichten der Gefühle, der Wünsche und der Phantasien und nicht zuletzt der Tabus, sind wir soziale Wesen, die sich an den Angeboten und Zumutungen ihrer Gesellschaft abarbeiten und von ihnen geformt sind. Die kindliche Entwicklung und auch die Entwicklung von (geschlechtlicher) Identität, von sexuellen Bedürfnissen und von Gefühlen vollziehen sich entlang der Achsen von Geschlechterdifferenz und der Symbolik des Geschlechts. „Wie ein Mensch den eigenen Körper als sexuellen Körper empfindet, ist nicht unabhängig davon, wie dieser Körper als geschlechtlicher Körper im allgemeinen Diskurs auftaucht“ (Rendttorff 1998, S. 122; siehe auch: Rendttorff 2003).
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Wie Geschlecht entsteht
Weiblichkeit und Männlichkeit als in unserer Gesellschaft übliche Ausformungen der Kategorie Geschlecht sind einerseits selbstverständlich und offenkundig einfach da. Deswegen sind sie auf den ersten Blick nicht der Rede und der Forschung wert. Auf der anderen Seite entzieht sich das Geschlecht in seiner Komplexität und Vielfalt der Erscheinungsformen und Bedeutungen dem forschenden Zugriff. Gerade durch seine Allgegenwart ist seine zentrale Bedeutung, falls es sie gibt, schwer zu fassen. Ebenso verhält es sich mit der engsten Verwandten der Geschlechtszugehörigkeit, der Geschlechterdifferenz. Einerseits offensichtlich und vor allem notwendig zur Aufrechterhaltung des Systems der Zweigeschlechtlichkeit, sind Geschlechterdifferenzen andererseits empirisch nicht zufrieden stellend nachzuweisen. Es scheint sich um Glaubenssysteme zu handeln, die aufgrund ihrer Überzeugungskraft Faktizität erlangen. Die sozialkonstruktivistische Geschlechterforschung geht der Frage nach, wie eigentlich das Geschlecht und die Geschlechterdifferenz überhaupt erst in der alltäglichen Interaktion entstehen. Der Schwerpunkt liegt hier nicht beim Umgang mit Differenzen, sondern bei ihrer Herstellung. Die Geschlechterdifferenz verflüssigt sich im ‚doing gender’ (vgl. Breitenbach 2005; Villa 2006). Der Ausgangspunkt und die Basis dieser Analysen von Differenzen ist die – zunächst trivial wirkende, aber folgenreiche – Überlegung, dass Differenzen nicht einfach da sind. Sie werden vielmehr in wiederkehrenden, alltäglichen (Interaktions-) Prozessen, wie auch in langfristigen kulturellen und sozialen Prozessen hergestellt. Sie müssen individuell und institutionell inszeniert, in komplizierten ‚Choreographien getanzt’ werden (vgl. Knorr-Cetina 1989). Ihre Konstruktionsmechanismen unterliegen bestimmten Regeln, die nach dem Grad ihrer Verbindlichkeit variieren. Geschlecht ist etwas, das man tut, nicht etwas, das man hat. Diese Aussage (vgl. Villa 2006) nimmt die Rede vom Sozialen des Geschlechts ernst. Sie fragt danach, wie das Geschlecht in alltäglichen Interaktionen hergestellt, konstruiert wird. Nach Goffman (1994), und das finde ich immer noch sehr plausibel, bedeutet ‚Konstruktion’ von Geschlecht die Darstellung und die Wahrnehmung von Geschlecht. Menschen müssen als eine wesentliche Sozialisationsaufgabe lernen, sich angemessen und leicht erkennbar als männlich oder weiblich darzustellen. Sie müssen ebenfalls lernen, die Darstellungen anderer zu erkennen und diese als weiblich oder männlich wahrzunehmen. Bereits Babys und Kleinkinder werden so ausgestattet, dass ihre Geschlechtszugehörigkeit erkennbar ist und bereits Kleinkinder werden angehalten, sich in der Kunst der Geschlechtsdarstellung und Geschlechtswahrnehmung zu üben. Dabei besteht die Kompetenz der
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Geschlechtwahrnehmung ja darin, auf das zu schließen, was nicht sichtbar ist, nämlich das biologische Geschlecht, verkörpert in den Genitalien. Zur Darstellung des Geschlechts stehen vielfältige Objekte zur Verfügung: Kleidungsstücke, Schuhwerk, Gestaltung der Kopfhaare und der Behaarung insgesamt, Schmuck, das gesamte vorfindbare Dekor. Die Ausstattung des Körpers aber auch die Manipulation des Körpers dient der Geschlechtsdarstellung, ebenfalls Bewegungen, Blicke, Mimik und Gestik. Aber auch Phänomene, die auf den ersten Blick kein Geschlecht haben, können in den Dienst der Geschlechtsdarstellung genommen werden, sie können sexuiert werden, wie z.B. Spielsachen und Aktivitäten, Orte und Räume, Nahrungsmittel. Darstellungs- und Wahrnehmungsprozesse sind Interaktionsprozesse und damit selten eindeutig. Um erfolgreich zu sein, muss die Darstellung vom Wahrnehmenden verstanden werden können. Deshalb ist gerade für Kinder oder für andere Kulturneulinge das Einarbeiten in angemessene Darstellungs- und Wahrnehmungsformen ein hochkomplexer Prozess. 7
Schluss
Nicht nur die Geschlechterdifferenzen, sondern insgesamt die Differenzen zwischen Menschen sind für die Pädagogik immer ein relevantes, faszinierendes und kontrovers diskutiertes Thema gewesen. Traditionelle wie aktuelle pädagogische Bemühungen, gerade auch im Elementarbereich, richten sich auf die Entwicklung des Individuums und auf die Entfaltung seiner Potentiale, wenn auch immer innerhalb der Möglichkeiten und Begrenzungen des jeweiligen sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Rahmens. Solche pädagogischen Ansätze – allen voran die klassischen Auffassungen, die bei der Bildsamkeit des Subjekts ihren Ausgang nehmen – arbeiten die Einzigartigkeit von Subjekten heraus und betonen damit das Recht auf Differenz auf der Basis einer grundlegenden Gleichheit, ausgedrückt im Recht auf individuelle Entfaltung, Bildung und gesellschaftliche Teilhabe. Quer zu individuellen liegen solche Differenzen, die als soziale Klassifikations- und Strukturkategorien bedeutsam werden können und die Bedingungen, Instrumente und Ziele von Erziehung, Bildung und Sozialisation beeinflussen. Auch wenn die Bestimmung dieser Differenzen vor allem durch die DiversityAnsätze eine deutliche Ausweitung erfahren hat, liegt der Schwerpunkt nach wie vor bei der Trias Race, Class, Gender. In der pädagogischen Arbeit ist eine weitere kulturell konstruierte Differenz zentral, nämlich die zwischen Kindern und Erwachsenen.
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Konstruktive pädagogische Möglichkeiten des Umgangs mit Differenzen haben eine grundlegende Bedingung und ein Ziel: Die Etablierung von Gleichheit im Sinne von gleicher Möglichkeit zur Teilhabe, beispielsweise zur Teilhabe an Bildung. Ohne die Vorstellung einer Gleichheit von Menschen und ohne die Vorstellung der Möglichkeit von Gleichberechtigung ist eine fruchtbare Entfaltung von Differenzen nicht möglich. Gleichzeitig dürfte die Anerkennung von Differenzen, die Anerkennung der Person in ihrer Differenz, eines der schwierigsten pädagogischen Projekte sein. Wir verfügen nicht über Vorstellungen egalitärer Differenz, vielmehr ist Differenz fast zwangsläufig an Hierarchie gekoppelt. Der pädagogische Umgang mit Differenzen ist durch einen zentralen und grundlegenden Widerspruch gekennzeichnet. Dieser besteht darin, dass es einerseits sinnvoll und notwendig ist, Differenzen zu verflüssigen oder sogar aufzulösen und dass es gleichzeitig sinnvoll und notwendig ist, Differenzen anzuerkennen, an Differenzen festzuhalten und sie gegebenenfalls zu dramatisieren und zu essentialisieren. Dieser grundlegende Widerspruch lässt sich meines Erachtens nicht auflösen, er lässt sich aber möglicherweise (theoretisch, empirisch und praktisch) fruchtbar und kreativ handhaben. Betrachtet man die Arbeit in Kindergärten als Geschlechterprojekt, so herrschen hier (nicht wirklich überraschend) ähnliche Zustände wie im wirklichen Leben: die Anforderungen und Erwartungen in Verbindung mit der Geschlechtszugehörigkeit sind widersprüchlich und kompliziert und keinem der Beteiligten bleibt es erspart, sich damit auseinanderzusetzen, und sei es in der Zurückweisung von Geschlechterdifferenzen oder in der Zurückweisung, das Männliche oder das Weibliche, was immer es sei, in der pädagogischen Arbeit repräsentieren zu müssen. Ebenso kompliziert und widersprüchlich sind, wie gezeigt, die Anforderungen an eine geschlechterreflektierende Pädagogik. Paradoxerweise suggerieren aber das Programm des Gender Mainstreaming und der Einzug der Männer in die weibliche Domäne Elementarpädagogik, diese Anforderungen durch politisch korrekte Einstellungen und Argumentationsfiguren zu Geschlechterfragen als erledigt zu betrachten. Geschlechtergerechtigkeit, Emanzipation und die Verflüssigung jeder erstarrten Kultur der Zweigeschlechtlichkeit bleiben den politischen wie den pädagogischen Prozessen jedoch als Aufgabe eingeschrieben, gerade auch in ihren widerspenstigen Potentialen, die sich nicht im Mainstream auflösen lassen.
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Wiebke Waburg & Verena Schurt
Interdependente Geschlechtskonstruktionen in der Mädchenschule. Ein empirisch-intersektioneller Blick auf geschlechtersegregierte Lernkontexte
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Problemaufriss: Heterogenität als Herausforderung für die Erziehungswissenschaft
In der aktuellen Debatte um die Ergebnisse der groß angelegten Schulleistungsuntersuchungen wie PISA lässt sich trotz unterschiedlicher Diskussionslinien ein gemeinsamer Kern identifizieren – die mit zunehmender Heterogenität einhergehenden deutlichen Disparitäten in der Bildungsbeteiligung. Wenn, wie in Deutschland der Fall, die zu beobachtenden systematischen Ungleichheiten im Hinblick auf Bildungserfolg weniger auf der Leistungsfähigkeit der Heranwachsenden beruhen, sondern mit askriptiven Merkmalen (z.B. dem Geschlecht, der ethnischen und/oder sozialen Herkunft) der Schülerinnen und Schüler verknüpft sind, gerät das Prinzip der Chancengleichheit – das idealiter allen Lernenden gleichermaßen einen Bildungserfolg gemäß ihren individuellen Begabungen und Leistungsmerkmalen in Aussicht stellt – ins Wanken: Das Ziel genuin pädagogischen Handelns sollte sich an einer Förderung der tatsächlichen Potentiale orientieren und nicht zu einer Stabilisierung oder gar Verstärkung vorgängiger sozialer und/oder kultureller Unterschiede beitragen. Gelingt diese Konzentration innerhalb eines Bildungssystems nicht (ausreichend), ist zu fragen, wie es in Schulen zu Benachteiligungen aufgrund von (zugeschriebenen) Zugehörigkeiten zu einem Geschlecht, einer Ethnie, Schicht etc. kommt. Wenngleich am Zustandekommen von Bildungs(miss)erfolg eine Vielzahl an in einem komplexen Beziehungsgefüge zueinander stehenden Rahmenbedingungen, Faktoren und Merkmalen des Bildungsprozesses beteiligt sind, rücken neben strukturellen Aspekten unweigerlich auch die Akteurinnen und Akteure in den Fokus (vgl. HerwartzEmden u.a. 2008). Diese spezifische Perspektive bildet zugleich den Kern des vorliegenden Beitrags, in dem wir auf Grundlage empirischen Materials aus dem von Leonie
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Wiebke Waburg, Verena Schurt
Herwartz-Emden geleiteten DFG-Projekt ‚DIAM‘1 mittels eines intersektionellen Zugangs der Frage nachgehen, wie Zugehörigkeiten zu einem Geschlecht und anderen relevanten Kategorien im schulischen Kontext – hier: dem monoedukativen Setting einer Mädchenrealschule – konstruiert werden. Dabei fragen wir zunächst danach, welche method(olog)ischen Implikationen sich für die qualitative Forschung im Themenfeld ‚Heterogenität‘ ergeben. Daran anschließend werden im dritten Punkt die Ausgangsannahmen zum Zusammenhang von Mädchenschule und Geschlecht skizziert. Dies bildet den Rahmen für den Schwerpunkt unserer Ausführungen: Die Rekonstruktion der mit spezifischen methodischen Zugangsweisen (Gruppendiskussionsverfahren, ethnographisch angelegte Unterrichtsbeobachtungen) erfassten Geschlechtskonstruktionen im segregierten Raum einer öffentlichen Realschule, denen das vierte Kapitel gewidmet ist. Dabei konzentrieren wir uns darauf, die kollektiven Orientierungen der Mädchenschulschülerinnen am Datenmaterial entlang mit der dokumentarischen Methode zu rekonstruieren; ergänzend fließen Analysen der im Unterricht erstellten Protokolle ein. Im anschließenden Fazit beziehen wir die Interpretationsergebnisse der unterschiedlichen Zugänge aufeinander. Abschließend wird der intersektionale Forschungszugang unter Berücksichtigung der eigenen Studie kritisch reflektiert. 2
Die Frage der empirischen Erfassung von Heterogenität – eine Antwort auf Ebene qualitativer Forschungsmethodologie
In der Bildungsforschung der letzten Jahrzehnte wurde im Zusammenhang mit Disparitäten in der Bildungsbeteiligung insbesondere eine Dimension von Heterogenität in den Blick genommen – das Geschlecht der Kinder und Jugendlichen. Während das Forschungsinteresse zunächst in erster Linie auf dem Aufzeigen von den Unterschieden zwischen Mädchen und Jungen lag, verschiebt sich seit der Etablierung sozialkonstruktivistischer Ansätze das Augenmerk zunehmend auf die Praxis der Geschlechterunterscheidung. Den diesen doing genderProzessen auf der Mikroebene von Schule zugrunde liegenden Mechanismen und Regeln wendet sich die qualitative geschlechtsbezogene Schulforschung bereits seit geraumer Zeit verstärkt zu, vor allem in ethnographisch angelegten Untersuchungen (Thorne 1993; Breidenstein & Kelle 1998; Faulstich-Wieland, Weber & 1 DIAM: ‚Schulkultur, Geschlechtersegregation und Mädchensozialisation‘. Die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierte und das Schwerpunktprogramm BiQua assoziierte Studie (Laufzeit: 2002-2008) wurde im süddeutschen Raum an mono- und koedukativen Realschulen und Gymnasien durchgeführt (vgl. ausführlicher zum Projekt Herwartz-Emden 2007).
Interdependente Geschlechtskonstruktionen in der Mädchenschule
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Willems 2004) und Gruppendiskussionsstudien (Düro 2008; Michalek 2006), die auf eine Analyse der Konstruktionsprozesse von Geschlecht und damit auf die interaktive Hervorbringung von Differenzen abzielen (Michalek 2006). Ein zentrales Ergebnis dieser Arbeiten ist, dass nicht nur sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrerinnen und Lehrer aktiv an diesen Konstruktionen beteiligt sind, sondern Geschlecht dabei in den Vorder-, aber auch Hintergrund treten kann (ebd.). Tritt Geschlecht in den Hintergrund, gewinnen, wie in einigen Studien betont wird (z.B. Budde 2003), andere Prozesse an Bedeutung, beispielsweise im Sinne des doing student, doing adolescence und/oder doing adult. Unter Rückgriff auf Stefan Hirschauers (1994 & 2004) Ausführungen zum undoing gender wird häufig darauf verwiesen, dass Geschlecht (im Schulalltag) in einem elementaren Sinne zwar omnipräsent ist, allerdings nicht permanent aktualisiert respektive in jeder Situation zu einem handlungsleitenden Muster wird (siehe dazu v.a. die Arbeitsgruppe um Hannelore Faulstich-Wieland). Das heißt, die Geschlechterunterscheidung besitzt im Vergleich zu anderen Klassifikationen (bspw. Ethnie, Alter) eine nur relative Signifikanz, beziehungsweise es treten Interdependenzen mit diesen Klassifikationen auf. Ausgangspunkt unseres Beitrages ist das Verständnis von Geschlecht als in sich heterogen strukturierte, soziale Kategorie. Im Hinblick auf den theoretischen Hintergrund und die empirische Analyse nehmen wir somit eine intersektionelle Perspektive2 ein, wobei wir uns in Anlehnung an Leslie McCall (2005) zunächst auf einen intra-kategorialen Zugang3 beschränken (vgl. auch den Beitrag von Manuela Westphal in diesem Band). Nur vor dem Hintergrund dieser Grundannahme lassen sich die Konstruktionsmechanismen von Geschlecht adäquat in den Blick nehmen und kann davon ausgehend nachgezeichnet werden, wie es im Kontext von Schule zu Benachteiligungen aufgrund von askriptiven Zugehörigkeiten wie Geschlecht, Ethnie4 und/oder Schicht kommt. Eine entsprechende theoretische Berücksichtigung der intersektionellen Perspektive spiegelt sich im erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Diskurs in der ‚Kunstfigur des katholischen Arbeitermädchens vom Land’ (Klasse, Geschlecht, Religion, Region) und 2 Der Begriff ‚intersection‘, der Schnittpunkt, Schnittmenge bzw. Kreuzung bedeutet und auf die amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw (1995) zurückgeht, besagt, dass „die analytische und/oder theoretische Perspektive auf das Ineinanderwirken verschiedener Ungleichheitsstrukturen oder -kategorien gerichtet ist“ (Münst 2008, S. 42). 3 Leslie McCall (2005) unterscheidet zwischen drei empirisch-intersektionellen Zugangsweisen: der anti-, intra- und inter-kategorialen. Inter-kategoriale Zugangsweisen fragen nach den Wechselwirkungen von Kategorien, dazu werden Kategorien als (provisorischer) Ausgangspunkt der Analyse genommen, wobei beachtet wird, dass diese Ausgangpunkte eben nicht statisch und unveränderbar sind (vgl. ebd.; Klinger & Knapp 2007). 4 Vgl. zur begriffsgeschichtlichen und empirischen Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚Ethnizität‘ den Beitrag von Gabriele Khan-Svik in diesem Band.
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Wiebke Waburg, Verena Schurt
der Definition der neuen Problemgruppe der ‚Jungen mit Migrationshintergrund’ (Geschlecht, kulturelle Herkunft) wider (vgl. Kelle 2008). ‚Empirische‘ Berücksichtigung erfährt die Ausgangsannahme vor allem in qualitativen Untersuchungen (etwa: Leiprecht & Lutz 2005; Weber 2008). Neu ist am gegenwärtigen Gebrauch des Intersektionalitätsansatzes vor allem das stärkere Gewicht, das die Thematik in den Gender Studies bekommen hat und die Erweiterung der Ungleichheitskategorien, beispielsweise um Alter und Religion5 (vgl. Knapp 2008). Insgesamt ist jedoch ein eklatanter Mangel an Untersuchungen zu konstatieren, in denen die Kategorien Geschlecht, Ethnizität und soziale Herkunft durch eine ‚intersektionelle Brille’ beachtet werden (vgl. dazu die Einschätzung in Herwartz-Emden u.a. 2009; Diefenbach 2009). Der vorliegende Beitrag setzt an diesem Desiderat an und greift die Frage nach der Rekonstruktion von interdependenten Geschlechtskonstruktionen (in Mädchenschulen) auf. In einem weit gefassten Sinn gehen wir dabei fallbezogen vor, indem wir Passagen einer Gruppendiskussion mit Schülerinnen aus einer ethnisch heterogen zusammengesetzten Klasse einer öffentlichen Mädchenrealschule sowie Protokollstellen zum Unterricht in derselben Klasse präsentieren. Bevor wir uns dem empirischen Material zuwenden, nähern wir uns im folgenden Kapitel dem Untersuchungsfeld ‚Mädchenschule’ an.
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Rudolf Leiprecht und Helma Lutz (2005, S. 220) verweisen auf 15 Differenzlinien.
Interdependente Geschlechtskonstruktionen in der Mädchenschule 3
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Ausgangsannahmen: Zum Zusammenhang von Mädchenschule und Geschlecht
Mädchenschulen besitzen in der Schullandschaft der Bundesrepublik Deutschland gegenwärtig nur noch eine untergeordnete Relevanz (vgl. Herwartz-Emden 2007): Es fanden sich im Schuljahr 2005/06 insgesamt 162 dieser Schulen. Im Süden Deutschlands stellen monoedukative Schulen für Mädchen – was Anzahl und Verteilung betrifft – allerdings einen regulären Teil der Schullandschaft und eine nachgefragte Alternative zu koedukativen Schulen dar (vgl. zu den konkreten Zahlen ebd.). Hier findet sich somit ein hervorragendes Forschungsfeld für die Untersuchung der Herstellungsprozesse von Geschlecht in einem (weitgehend) geschlechtersegregierten Kontext. In Bezug auf den Zusammenhang von Monoedukation und Geschlecht können Mädchenschulen als „paradoxe Intervention[en]“ (Wetterer 1996, S. 272) begriffen werden. Sie sind, wie der Name schon sagt, grundlegend an die Geschlechterdifferenz gebunden, denn eine bestimmte Geschlechtszugehörigkeit ist Voraussetzung für die Aufnahme von Lernenden in die Schulgemeinschaft. Die Mädchenschule als Einrichtung beinhaltet demzufolge zunächst eine Betonung von Geschlecht und damit das Fortschreiben von Annahmen zu grundsätzlichen Geschlechterunterschieden. Zudem steht die Geschlechtertrennung in Mädchenschulen wirkmächtigen gesellschaftlichen Postulaten zur Gleichbehandlung und Gleichberechtigung von Mädchen und Jungen in koedukativen Schulen entgegen – die getrennte Unterrichtung scheint unnötig. Da die flächendeckende Einführung koedukativer Schulen in der Bundesrepublik als Ergebnis historischer Entwicklungsprozesse gilt und diese Organisationsform die deutsche Schullandschaft dominiert, werden selbige in die Nähe von Modernität gerückt, während Mädchenschulen dagegen der Makel überkommener und veralteter Relikte anhaftet. Damit einhergehend besteht die Gefahr, dass den Schülerinnen eine unmoderne Weiblichkeit zugeschrieben wird, die für die Entwicklung der weiblichen Identität nachteilig sein könnte (siehe auch: Mensinger 2001). Dieser problematischen Ausgangslage stehen die Potentiale der Mädchenschule gegenüber. Im Sinne einer ‚paradoxen Intervention’ birgt Segregation infolge der Abwesenheit von Jungen, die hier als „Gegenpol“ (Wetterer 1996, S. 272) für die Ver-Zweigeschlechtlichung fehlen, die Möglichkeit eines Bedeutungsverlustes von Geschlecht und Geschlechterdifferenzen im Schulalltag. Da zugleich andere Differenzierungen (wie Ethnie, klassenbasierte Erfahrungen oder sprachliche Identitäten) prononciert werden können (vgl. Gallagher 2002), entsteht Spielraum für die Entfaltung von Unterschieden unter Mädchen und damit für unterschiedliche Konstruktionen von Weiblichkeit. Für ein ‚Ruhenlassen‘ des Geschlechts finden sich in monoedukativen Einrichtungen gegebenenfalls ‚ande-
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Wiebke Waburg, Verena Schurt
re Orte‘ und ‚andere Zeitpunkte‘ (in Anlehnung an Hirschauer 1994). Den hier unterrichteten Schülerinnen eröffnen sich potentielle Zugewinne an Handlungsoptionen beispielsweise bezüglich der Besetzung von gemeinhin als männlich konnotierten Fachbereichen (insbesondere Physik), aber auch bei der Übernahme aller offiziellen Positionen im Bereich der schulischen Mitverwaltung (zu Mädchengruppen bspw.: Datnow, Hubbard & Woody 2001; Nyssen 1996) sowie informeller Rollen in Schule und Klasse (Kreienbaum 1999). 4
Geschlechtskonstruktionen im segregierten Raum einer Mädchenschule
Vor dem Hintergrund der im vorangegangenen Abschnitt geschilderten Ausgangsannahmen wird deutlich, dass ein intersektioneller Blick auf die Geschlechtskonstruktionen in monoedukativen Schulen, in denen eine besondere Vielfalt von Unterschieden zwischen Mädchen vermutet wird, unerlässlich ist. Dass in der vorliegenden Untersuchung die Differenzkategorie Geschlecht im Vordergrund steht bzw. von ihr ausgegangen wird, liegt im Erkenntnisinteresse des DIAM-Projektes (Geschlechtersozialisation in Mädchenschulen) begründet. Entscheidend ist jedoch, dass die Mädchengruppen nicht als in sich homogen begriffen wird, sondern als von vielen Differenzlinien markiert (in Anlehnung an Leiprecht & Lutz 2005). Die erfolgende Triangulation unterschiedlicher qualitativer Zugänge erscheint ebenfalls in Hinblick auf die Analyse von Differenz und Mehrdimensionalität als fruchtbarer Weg (vgl. Westphal 2009; in diesem Band). Wir beziehen uns auf die rekonstruktive Auswertung von Gruppendiskussionen und Unterrichtsprotokollen (vgl. zur ausführlichen Darstellung der Erhebung und Auswertung Schurt 2009; Waburg 2009). Diese Zugangsweisen unterscheiden sich in der Ausrichtung der Rekonstruktionsleistungen: Die Diskussionen wurden mittels dokumentarischer Methode (bspw. Bohnsack 2007) ausgewertet, diese fokussiert auf biographische, in der Sozialisation erworbene Orientierungen und ihre Verankerung im geteilten Erfahrungshintergrund der Forschungsadressat(inn)en. Die an das Paradigma der Ethnographie angelehnten Beobachtungen im Unterricht richteten sich auf die Ebene des praktischen Vollzugs, auf die Handlungspraxis der Schülerinnen und Lehrpersonen. Das Analyseverfahren der erstellten Protokolle orientierte sich an dem sog. ‚Theoretischen Codieren‘ (bspw. Strauss & Corbin 1996; vgl. auch: Böhm 2003); ergänzend erfolgte eine sequenzanalytische Interpretation ausgewählter Textpasssagen (vgl. dazu: Budde 2005; Breidenstein & Meier 2004). Im Mittelpunkt dieser Vorgehensweise steht
Interdependente Geschlechtskonstruktionen in der Mädchenschule
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die interaktive Komponente, die Rekonstruktion des doing gender bzw. doing difference. Insofern handelt es sich zwar um verschiedene Gegenstände, auf die wir mit einem jeweils spezifischen methodischen Zugang fokussieren, doch sind diese beiden Ebenen eng miteinander verknüpft: In Anlehnung an Eva Breitenbach (2001) lässt sich Geschlecht in ihrer Kombination als Darstellungs- und Existenzweise betrachten. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass in Gruppendiskussionen während der Erhebung Geschlecht interaktiv hergestellt wird und die Transkripte als Interaktionsprotokolle für diese Konstruktionsprozesse angesehen werden können (vgl. Helfferich 2004). Der Schwerpunkt der nachfolgenden Analysen liegt auf der Rekonstruktion der geschlechtsbezogenen kollektiven Orientierungen der monoedukativ unterrichteten Mädchen anhand einer Gruppendiskussion. Dabei richten wir den Blick in einem zweiten Schritt auch auf die interaktive Ebene des Unterrichts und die Praktiken im Alltag der geschlechtersegregierten Schule, wie wir sie mit teilnehmenden Beobachtungen erfasst haben. Den Ausgangspunkt bildet die Frage nach der (Ent-)Dramatisierung der zentralen Kategorie Geschlecht und deren Zusammenhang mit anderen für die Schülerinnen relevanten Zugehörigkeiten – wann wird sie in den Vordergrund gerückt, wann tritt sie in den Hintergrund? Wo zeigen sich Verschränkungen und welcher Art sind diese? Und wie bearbeiten die Mädchen das ihnen gebotene Setting? Diese offene Forschungsfrage wird ausgehend von der Gruppendiskussion hin zu den Unterrichtsbeobachtungen beantwortet. 4.1
Mädchenschule – Geschlecht – kulturelle Heterogenität
Die Diskussion, auf die wir uns im Folgenden beziehen, wurde mit sechs Zehntklässlerinnen im Alter von 15 bis 19 Jahren einer öffentlichen Mädchenrealschule durchgeführt; sie dauerte ca. 45 Minuten. Fünf der Teilnehmerinnen haben einen Migrationshintergrund, sie lebten die ersten Jahre ihres Lebens in unterschiedlichen Ländern Osteuropas bzw. in Italien. Nur eine Schülerin wurde in Deutschland geboren. Die Diskussion gestaltete sich sehr selbstläufig, die Mädchen sprachen ausführlich über die Abwesenheit von Jungen im schulischen Setting, aber auch über andere schulbezogene Themen, wie den Umgang mit bestimmten Lehrkräften und Schulregeln.
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4.1.1 Wahl der Schule Die Diskussion beginnt mit der Frage nach der Wahl der Schule: I1: Dann fang mer mal an wie seid ihr auf die Mädchenschule hier gekommen ham des eure Eltern entschieden habt ihr des selber entschlossen Valeria: Selber Angelina: [spricht mit leichtem Akzent] Weil das war so ich musste Aufnahmeprüfung machen und dann hab ich sie halt hier bestanden und dann also wurde mir gefragt äh mich. Richtig, Bobby. S6: Angelina: Ja und äh ob ich hier bleiben wollte oder andere Schule und da ich hier schon war hab ich gedacht jetzt bleibst au da, also. I1: Mhm. Elsa: Also bei mir war’s ein bisschen komplizierter, also ich wusste überhaupt nicht dass es eine Aufnahmeprüfung hier gibt [lacht] ich war schon 16 und ich musste sowieso in die siebte Klasse wegen Deutsch und meine Lehrerin aus der Hauptschule Übergangsklasse wollte keine Gutachten zur Schule schicken, deswegen bin ich selber halt rumgerannt ohne Aufnahmeprüfung. I1: Und bist dann irgendwie hierher gekommen dann Elsa: Ja, ich hab dann äh die äh, also, Frau Reb [Schulleiterin] hat äh extra angerufen in meine letzte Schule hat sie ihr gebeten das Gutachten zu schicken und dann haben sie mich genommen. I1: Mhm. Valeria: Ich ähm ich bin auf diese Schule gekommen, weil meine Cousine da war und ich fand sie damals so toll und ich wollte auch in die Schule gehen, wo sie damals war ja dann bin ich (eigentlich) ich ging die St. Peter Hauptschule ähm fünfte sechste Klasse und dann äh ohne Aufnahmeprüfung bin ich also gleich hergeschickt worden also ohne Probleme. I1: Mhm. Valeria: Und jetzt bin ich immer noch da seit der Siebten. Bernadette: Also ich hab mich auch für diese Schule entschieden weil meine Cousine auch schon da war also ich wollte ursprünglich aufs Gymnasium gehen aber ich hab dort die Aufnahmeprüfung äh knapp verpasst oder äh, und dann äh, hab ich halt eine Realschule gesucht und äh es ich hab sie eigentlich nur vom Namen gekannt, und weil dann meine Cousine gesagt hat sie war hier schon sie kennt sie und 6
S = unklar, welche Schülerin gesprochen hat.
Interdependente Geschlechtskonstruktionen in der Mädchenschule
I1: I2: Renate:
I1: Renate:
I1: Renate:
I1: Verena: I2: Verena:
I2: Verena:
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äh ich hab sie auch also ich war schon hier ich hab sie besucht und es hat mir gefallen und deshalb bin ich dann auch hierher gekommen. Mhm. Mhm. Also meine Eltern ham mich verdonnert aufs Marien-Gymnasium [privates Mädchengymnasium] zu gehen [I1 lacht] da hab ich dann nach der Hal- Hälfte der neunter Klasse das Handtuch geschmissen und bin aufs Sybillen [privates Mädchengymnasium] gegangen weil ich nicht mehr wollte ~ Mhm ~ mit Latein und Spanisch und Englisch und dann bin ich aufs Sybillen gegangen, Mathe-Zweig und da hatte ich dann ein halbes Jahr kein Latein damit einen Latein-Sechser und dann hab ich gesagt okay bevor ich durchfall geh ich Realschule Mhm Und da des alles vorher eh schon Mädchenschulen waren, hat der Vertrauenslehrer von drüben hier angerufen und hat gemeint ja ich schick euch eine, Mathe-Zweig, schaut’s euch an wenn er se behalten wollt behaltet se und der Herr Strehle hat gemeint ich behalt se. Mhm. Also ich bin mit 13 nach Deutschland gekommen ~ Mhm ~ und bin in die Hauptschule gegangen und danach nach einem Jahr also hatte ich passende Noten haben sie mich auf die Realschule geschickt aber ich musste auf eine besondere Schule gehen also es gibt so eine besondere siebte Klasse ~ Mhm ~ gab’s nur für Kinder, also die nicht lange in Deutschland leben also die noch Schwierigkeiten mit Deutsch haben und drum haben sie mich dann hergeschickt. (S. 3/4-4/30)
In mehreren Aussagen steht der Weg bis zur Aufnahme an der Elias-HollRealschule im Mittelpunkt, der bei den meisten Mädchen den Besuch diverser anderer Schulen beinhaltete. Elsa, Valeria und Verena haben zunächst eine Hauptschule besucht, was mit den Migrationserfahrungen der Mädchen zusammenhängt. Sie waren aus Russland, der Ukraine und Kasachstan immigriert und hatten bereits in den jeweiligen Herkunftsländern die Schule besucht. Aufgrund der mangelhaften Deutschkenntnisse lernten sie zunächst in Hauptschulen. Auch
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zwei der anderen Mädchen haben einen Migrationshintergrund: Angelina kommt ursprünglich aus Italien. Bernadette wurde in Rumänien geboren und ist bereits im Alter von zweieinhalb Jahren eingewandert. Renate ist die einzige Schülerin der Gruppe ohne Migrationshintergrund und fühlt sich in der Gruppe deswegen als „Sonderfall“ (S. 5/29). Dass bereits zu Beginn der Diskussion auf die unterschiedliche Herkunft der Diskussionsteilnehmerinnen eingegangen wird, verweist darauf, dass diese eine große Bedeutung für die Gruppe hat. Auch Renate, das einzige Mädchen ohne Migrationserfahrung, hat vor dem Wechsel an die Elias-Holl-Realschule unterschiedliche Schulen besucht, in diesem Fall zwei Gymnasien. Im Grunde genommen verfügen also alle Mädchen über ‚Wanderungserfahrungen’ in einem weit gefassten Sinn. Daraus folgt, dass das ‚Ankommen’ in der Schule in der ganzen Gruppe positiv besetzt ist. Dies hängt auch mit dem Engagement der Schule für die Belange der Schülerinnen zusammen. So hat sich die Schulleiterin für eines der Mädchen eingesetzt, damit in ihrer alten Schule das benötigte Gutachten für den Übertritt geschrieben wurde. Valeria konnte die Schule besuchen, ohne vorher eine Aufnahmeprüfung zu machen, und die Schule entschied sich – von Renates altem Vertrauenslehrer vor die Wahl gestellt – dafür, sie aufzunehmen. In den Aussagen zeigt sich, dass die Mädchen sich willkommen und ‚gewollt’ gefühlt haben und möglicherweise annehmen, wichtig für die Schule zu sein: Dort sind sie (in Deutschland) angekommen. Dass die jungen Frauen an einer Mädchenschule lernen, ist in der Frage der Interviewerin und im Redebeitrag von Renate präsent, die vor dieser Realschule zwei monoedukative Gymnasien besucht hatte, weswegen der Wechsel auf eine Mädchenrealschule quasi selbstverständlich war. Von den anderen Schülerinnen wird die Monoedukation nicht angesprochen. D.h. in dieser Passage sind der Besuch einer geschlechtersegregierten Schule und damit die Geschlechtskategorie von untergeordneter Relevanz. Das Ankommen in der Schule und die kulturelle Herkunft treten dagegen in den Vordergrund. 4.1.2 Vor- und Nachteile der Mädchenschule Im Anschluss an Erläuterungen über die Herkunft der Diskussionsteilnehmerinnen spricht die Interviewerin die Mädchenschulthematik an: I1: Seid ihr froh dass ihr auf ner Mädchenschule seid Äh äh Sen7: S: ( ) Bernadette: Das is eine schwierige Frage [Gelächter] es hat Vor- und Nachteile Renate: Ja doch. 7
Sen = mehrere Schülerinnen sprechen.
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Valeria:
Also ein Vorteil ein Vorteil ist auf jeden Fall dass man offener über äh ~ S: Jungs sprechen kann Valeria: ~ gewisse Probleme sprechen kann also wie mein Gott was jedes Mädchen hat und so halt ja und die Lehrer ham da auch mehr Verständnis dafür [paralleles Gelächter], wenn man zum Beispiel jetzt ganz schnell aufs Klo rennen muss oder so [Gelächter] offenere Diskussionen kann man führen, also, kann man sich irgendwo ähm besser verstehen, weil einfach das Mädchenklima das is einfach ganz anders als mit Jungs in der Klasse zu sein. [Allgemeine Zustimmung seitens der Sen] I1 & I2: Mhm. Valeria: Das hat natürlich auch seine Nachteile weil einfach die Entwicklung irgendwo gehemmt wird dass man erst aus der Schule rauskommt ah Freiheit Jungs. [Gelächter] Bernadette: Aber ich finde ich finde es auch besser weil besonders wir wir sind ja auf dem technischen Zweig und da sind ja auch die Jungs äh meistens sehr gut oder besser und ich finde das gut dass wir äh wie soll ich sagen unsere Ruhe haben und das äh auch lernen können nich das wir dann irgendwie so in Konkurrenz stehen zu den Jungs. Elsa: Ich hatte mehr Angst weil ich nich so gut Deutsch konnte I1: Mhm. Elsa: Also früher und ich ich hab halt gedacht die lachen mich einfach aus und über äh, also zwischen Mädchen kann man über alles reden eigentlich, des is kein Problem für mich. (S. 6/13-7/8) Zunächst sind die Mädchen sprachlos und wissen nicht, wie sie sich äußern sollen. Bernadette strukturiert die weitere Auseinandersetzung über das Thema mit der Proposition8, dass es Vor- und Nachteile in Bezug auf die Monoedukation gibt – wobei schon die Reihung (zuerst Vorteile) darauf verweist, dass die positiven Elemente überwiegen. Dementsprechend geht Valeria im Folgenden auf einen Vorzug ein: Sie schildert die Offenheit der Mädchenklasse, das Verständnis für einander und eine gewisse Intimität in Bezug auf die Gemeinsamkeit der Menstruation9, von der Jungen qua Geschlecht ausgeschlossen sind. Hier beziehen sich die Mädchen zunächst auf körperliche Besonderheiten bzw. Differenzen 8 Eine Proposition führt in ein Thema ein (vgl. zur ausführlichen Darstellung des Begriffsinventars der dokumentarischen Methode Przyborski 2004). 9 Vgl. dazu auch Breitenbach (2009), die sich auf eine gymnasiale Mädchenschulgruppe bezieht, in der ebenfalls auf die Menstruation als Gemeinsamkeit verwiesen wird.
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im Geschlechtervergleich. Jungen scheinen Störenfriede in der Mädchengemeinschaft zu sein, bei ihrer Anwesenheit würden die Mädchen vor allem die Menstruation verbergen müssen, könnten sie aber auch in Bezug auf Diskussionen weniger offen sein. Die Äußerungen rücken die Mädchenklasse in die Nähe von Mädchenfreundschaften, die als Orte angesehen werden können, an denen Beziehungen zu Jungen detailliert besprochen werden. Sie bieten jedoch übergreifend die Möglichkeit, über alles sprechen zu können (vgl. Breitenbach & Kausträter 1998). Die Mädchen gehen davon aus, dass sich das „Mädchenklima“ grundlegend vom Klima in gemischten Gruppen unterscheidet, das implizit abgewertet wird. Ihrer positiven Anfangsevaluation setzt Valeria selbst den Nachteil in Bezug auf soziale Entwicklungen entgegen, diese seien „gehemmt“. Hier dokumentiert sich ein aus anderen Befragungen von Schülerinnen aus Mädchenschulen bekannte entscheidende Nachteil der Monoedukation (vgl. zum Forschungsüberblick: Waburg 2009): Die Schülerinnen nehmen an, Defizite im Umgang mit Jungen aufzuweisen (quasi der ‚normalen’ Entwicklung hinterherzuhinken) und führen diese auf mangelnde Kontakte zu Jungen aufgrund des Mädchenschulbesuchs zurück. Beziehungen zu Jungen werden auf eine Zeit nach dem Realschulabschluss verschoben, die mit dem Begriff „Freiheit Jungs“ assoziiert ist. Dies impliziert, dass die Schülerinnen ohne Jungs ‚unfrei‘ sind, quasi eingesperrt in ihrer Schule und dass sie auf ihre Schulentlassung warten müssen, um wieder ‚frei‘ sein zu können. Es dokumentiert sich das mädchenschultypische Orientierungsmuster einer Sphärentrennung10, die auf eine Trennung zwischen der Schulzeit ohne und der Zeit nach Beendigung der Realschule mit Jungen bezogen ist. Diese sehr weit gefasst Sphärentrennung wird vor allem durch den Verweis auf Entwicklungsnachteile deutlich. Die Beziehungsebene wird im Folgenden verlassen: Den sozialen Nachteilen hält Bernadette Vorteile im mathematisch-technischen Zweig entgegen. Sie meint, Jungen seien in diesem „sehr gut oder besser“ und geht somit von Begabungsunterschieden zwischen den Geschlechtern aus, die jedoch an Bedeutung verlieren bzw. die Mädchen nicht einschränken, wenn keine Jungen anwesend sind. Im geschlechtersegregierten Setting gibt es, so die Argumentation, in den MINT-Fächern weniger Konkurrenz. Dass in diesem Zusammenhang auf das Konkurrieren mit Jungen rekurriert wird, verweist in einer weit gefassten Lesart auf die Bedeutung, welche die Mädchen guten Leistungen im männlich konnotierten mathematisch-technischen Bereich beimessen. Die Möglichkeit, solche durch ein entsprechendes Engagement zu erreichen, ist in einem koedukativen 10
Die Orientierung der Sphärentrennung – meistens bezüglich einer Trennung zwischen dem Unterricht ohne und der Freizeit mit Jungen – zeigt sich in allen Diskussionen mit Schülerinnen aus Mädchenschulen, die im Rahmen des DIAM-Projektes ausgewertet wurden (vgl. Waburg 2009).
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Kontext offensichtlich weniger gegeben – die Schülerinnen würden hier Gefahr laufen, von den Jungen abgewertet und nicht als ‚normale‘ Mädchen (mit einem geringen Interesse an diesen Fächern) anerkannt zu werden11. Die monoedukative Klasse wird im Anschluss an die Kritik erneut als Schonraum wahrgenommen, der sich positiv auf das Lernklima auswirkt. Dem potenziell verletzenden Verhalten von Jungen (Elsa: „und ich ich hab halt gedacht die lachen mich einfach aus“) wird in der Konklusion noch einmal die Vertrautheit und Geborgenheit der Mädchengruppe im Sinne einer Mädchenfreundschaft entgegen gesetzt („also zwischen Mädchen kann man über alles reden eigentlich, des is kein Problem für mich“). Dass Elsa beim Sprechen über die Mädchenschule erneut auf ihren Migrationshintergrund verweist („Ich hatte mehr Angst weil ich nich so gut Deutsch konnte“) – hier zeigen sich Parallelen zur erste analysierten Passage –, deutet darauf hin, dass für die Gruppe die Thematisierung von Mädchenschule und kultureller Heterogenität in engem Zusammenhang stehen. 4.1.3 Die Besonderheit der Klasse und der Besuch der Mädchenschule Im Anschluss an das Aufführen von Vor- und Nachteilen der Monoedukation sprechen die Mädchen über die Besonderheit der eigenen Klasse: Valeria: [...] aber unsere ganze Klasse is ja so ne besondere Klasse es sind glaube ich zwei Deutsche also Renate: Muttersprachlich. [Gelächter] Valeria: Und der Rest ist natürlich auch also nicht alle sind äh haben einen deutschen Pass, aber das is jetzt auch egal einfach von der Muttersprache her I1: Ja Valeria: Und also das is umso interessanter finde ich also I1: Das stimmt, ja Elsa: Total gemixt. Renate: Wir können auch über jedes Thema reden, über jede Religion weil wir sie glaub ich alle Religionen drin ham. Valeria: Und nicht alle sind auf der gleichen also äh ursprünglichen Muttersprache sprechen weil nicht alle vom gleichen Land kommen also muss man praktisch auf Deutsch sprechen aber das kommt auch von uns automatisch das is also (nicht der Fall wär). I1: Des is ja toll 11 Hier zeigt sich, welcher Einfluss den Peers zukommt: So wird in gemischtgeschlechtlichen Lerngruppen Mädchen mit einer Vorliebe für Physik mehr Maskulinität und weniger Femininität zugeschrieben. Zeigen sie ein hohes Engagement, wird das von den (männlichen) Peers als Hinweis auf einen ‚Mangel‘ an Weiblichkeit interpretiert und ggf. entsprechend negativ sanktioniert (vgl. zum Forschungsüberblick und der theoretischen Einbettung Schurt 2009).
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Renate:
Bernadette:
Alle: Bernadette: Renate: Bernadette:
Valeria: Bernadette: Renate:
Wiebke Waburg, Verena Schurt Ja Also von Anfang an kennen wir uns und Verena kenn ich jetzt schon seit, seit der siebten Klasse und äh da gibt’s viele noch in unserer Klasse die ich von der siebten Klasse kenne und also und irgendwo hat sich des alles so festgemacht festgebunden, und der Kontakt bei uns im allgemeinen Die Klasse is auch ne erstaunliche Klasse als ich des letzte Jahr ans Sybillen gekommen bin die Klasse hat total abgeriegelt so die kommt vom Marien mit der reden wir nich und hier bin ich in die Klasse reingekommen, die sowieso so Patchwork is und dann boah ja die waren eigentlich alle sofort nett und da kam auch keiner irgendwie so nach dem Motto ja was is denn das jetzt für eine sondern die ganze Klasse die war eigentlich sofort offen und das einzige Problem, das ich hin und wieder hab is wenn dann zwischen den Personen aus den verschiedenen Ländern ähm früh was ausgetauscht wird eben dann doch noch mal auf Muttersprache, dann steh ich immer daneben mein Gott würde jemand mit mir reden ich versteh das halt leider nich. [Gelächter] Aber meine Mutter um jetzt wieder auf des ursprüngliche Thema zurückzukommen meine Mutter ist der Ansicht äh Mädchenschulen sind nicht gut weil sie meint oder sie sagt des immer sie findet in Mädchenschulen ist so ein zickiges Klima Nö. Und dann sag ich dann sag ich ihr immer äh es is eigentlich stimmt des nicht weil ich vielleicht is des auch unsere Klasse ich habe manchmal des Gefühl ~ Was Besonderes ~ wir sind ja was wir sind so abgeschottet ja was Beson- wir sind so abgeschottet also wir sind nicht, ich möchte nicht dass sich des jetzt irgendwie eitel anhört aber wie der Rest der Schule wir sind einfach anders und mag sein dass im Rest ähm oder dass der Rest mehr oder weniger zickig is ich weiß nicht aber wir haben auch schon Schülerinnen gehabt die wir äh, als zickig empfunden ham aber ich finde nicht dass man das so pauschal sagen kann nur weil es eine Mädchenschule is sind alle zickig. Nein aber jeder hat mal seine Launen jeder hat mal seine Tage Ja aber Das leben wir dann auch alle voll aus [Gelächter]
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Bernadette: Nein aber das hätten doch Jungs auch oder also ich weiß nicht ja gut vielleicht ihre Tage nich [Gelächter] aber ihre Launen doch auch oder. Elsa: Sicher Valeria: Ja schon. Bernadette: Ich ich denke jetzt würde ich weiß nicht irgendwie ich glaub es wäre viel schwieriger ähm sich au- auseinander zu setzten mit Jungs wenn sie so so Launen haben. Valeria: Ja jetzt haben wir aber doch schon fast vier Jahre Erfahrung damit. Elsa: Mädchen verstehen sich einfach auch besser ja. Verena: Eben. Elsa: Zwischen einander die Jungs is irgendwie nebenbei [Gelächter] das stört auch Renate: Ja des stimmt des lenkt vom Unterricht ab. Elsa: Ja genau. S: ( ) Valeria: Alle sind gleich vom Bau und alle ham also das Gleiche (S. 7/119/11) Dem Fehlen der Jungen bzw. der Geschlechtshomogenität wird in dieser Passage zunächst die Heterogenität der eigenen Klasse in Bezug auf die Herkunft entgegen gesetzt, die „total gemixt“ und „interessanter“ ist. Das heißt, den Mädchen fehlt es an nichts, es besteht eine Pluralität, gerade weil die Hintergründe so unterschiedlich sind. In einer Lesart wird die eigene Gruppe damit koedukativen gleichgesetzt. Möglicherweise entspricht diese Darstellung aber auch einer Relativierung des Lobs der Mädchenschule, da die eigene Klasse – unabhängig vom Mädchenschulkontext und auch in Abgrenzung von anderen Mädchenschulklassen – an Bedeutung gewinnt. Diese Interpretation wird durch den Blick auf die negativen Gegenhorizonte wahrscheinlicher: Einen stellt eine von Renate besuchte Klasse des Sybillen-Gymnasiums für Mädchen dar, in der sie Ausgrenzungserfahrungen gemacht hat. Im Gegensatz dazu wurde sie in der neuen Klasse sofort „offen“ aufgenommen. Den zweiten negativen Gegenhorizont bilden andere Klassen der eigenen Schule. Auf diese kommen die Mädchen in Abgrenzung von den Vorurteilen von Bernadettes Mutter gegenüber Mädchenschulen zu sprechen, die meint „in Mädchenschulen ist so ein zickiges Klima“. Dies wird von allen Schülerinnen zurückgewiesen („Nö“), was sie mit der Besonderheit der eigenen Klasse begründen. In dieser bestehen intensive Beziehungen zwischen den Mädchen („festgemacht festgebunden“) und gleichsam sind sie gegenüber anderen „abgeschottet“. Die Mädchen zeichnen das Bild einer eingeschworenen,
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fest miteinander verbundenen Gemeinschaft. Hier ist das Freundschaftsthema wiederum präsent. Abschließend gehen die Schülerinnen davon aus, dass sie selbst zwar (aufgrund der Menstruation) Launen haben, dass Jungen aber (ohne Menstruation) auch welche hätten und dass der Umgang mit diesen Launen schwieriger wäre. Einerseits konstruiert die Gruppe auch in diesen Bezügen Normalität im Vergleich mit gemischten Gruppen/Klassen. Andererseits wird dann doch wieder auf bestehende Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen verwiesen, wobei die Jungen schlechter abschneiden – neben ihren Launen würden sie vom Unterricht ablenken. Es dokumentiert sich die Annahme, dass in koedukativen Gruppen der Beziehungsaspekt in den Vordergrund und der Unterrichtsaspekt in den Hintergrund rückt. Der abschließende Satz bezieht sich auf die Gemeinsamkeiten der Schülerinnen untereinander, bei denen die Mädchen – wie auch beim Verweis auf die Menstruation – stark auf biologische Gemeinsamkeiten rekurrieren: „Alle sind gleich vom Bau“. Durch den Einbezug der Textstelle zeigt sich deutlicher, dass die positive Evaluation der schulischen Situation mit der Besonderheit qua kultureller Heterogenität der eigenen Klasse in Zusammenhang gebracht wird. Der multiethnischen Zusammensetzung der Klasse kommt eine große Bedeutung zu, was es für Renate als Schülerin ohne Migrationshintergrund manchmal schwer macht, sich zugehörig zu fühlen: „dann steh ich immer daneben mein Gott würde jemand mit mir reden ich versteh das halt leider nich“. Konturiert zeigt sich zweitens die Orientierung, die Mädchenklasse als Ort von und für Mädchenfreundschaften anzusehen. Drittens betonen die Mädchen im Rahmen der Orientierung einer Sphärentrennung, dass in der Schule ohne Jungen das Lernen im Vordergrund stehen kann. Mit Jungen würde sich die Situation anders gestalten „des stimmt des lenkt vom Unterricht ab“. 4.2
Monoedukativer Mathematikunterricht – Geschlecht – kulturelle Heterogenität Im Folgenden wenden wir uns dem Unterricht in dieser zehnten Realschulklasse zu. Vor diesem Hintergrund erweitern wir den Fokus von der Ebene der kollektiven Orientierungen auf die interaktive Ebene der alltäglichen Handlungspraxis. Wie sich die Ergebnisse aufeinander beziehen lassen, wird im Anschluss diskutiert.
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4.2.1 Lehrkräfte und Unterricht: Die Ebene der kollektiven Orientierungen Im Laufe der Diskussion kommen die Schülerinnen auf bestimmte Lehrer/innen und den Unterricht zu sprechen. Die Interviewerin lenkt die Aufmerksamkeit auf das Fach Mathematik: I2: In Mathe habt ihr die Frau Fassl. [Allgemeine Zustimmung] Renate: Ja und in Musik. I2: Die is doch Elsa: Die is klasse ja das wollt ich ja auch sagen. Valeria: Die bemüht sich wirklich also, die versucht des uns alles so äh so genau wie möglich darzustellen so äh, kinder- äh also wirklich äh Kindergarten Renate: Ja wie im Kindergarten. [Gelächter] Elsa: So richtig durchkauen und dann in den Mund reinlegen Valeria: Des is scho irgendwo lächerlich also teils vielleicht mag’s komisch aussehen Elsa: Aber trotzdem Bernadette: Du musst es halt auch schlucken. I2: Ich bin ja sowieso so begeistert von Euch weil in Mathe ihr meldet euch laufend alle machen mit jeder weiß etwas Elsa: Aber bei der Frau Fassl versteht verstehen fast alle auch was oder bei Herr Jäger des is oh […] Bernadette: Aber äh ich weiß nicht manchmal kommt es mir so vor gerade im naturwissenschaftlichen Feld wo ich jetzt nicht allzu gut bin ähm fällt es mir immer schwer mich zu melden aber ich finde bei Frau Fassl ich weiß nicht, ich ich äh ich hab so das Gefühl man kann sich immer melden und sie sagt des zehn Mal und dann dann irgendwann bis es bis es ich weiß es nicht Elsa: Die is wirklich sehr gut in Mathe. Bernadette: Aber die muss es nicht zehnmal sagen weißt. Valeria: Sie erklärt vielleicht alles alles nach dem gleichen Schema nämlich alles so genau und so leicht wie möglich zu erklären ~ Bernadette: Und, äh Valeria: ~ egal ob des jetzt wirklich sehr leicht is oder sehr schwer. Bernadette: Und man kann sich man kann sich so so Schemas im Kopf machen des is grad für mich wichtig weißt du wenn man es nicht versteht irgendso Gesetzmäßigkeiten
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Valeria: Die Schubladen. Bernadette: Genau die Schubladen. (S. 36/23-37/29) Die Passage beginnt mit einer positiven Evaluation der Mathematiklehrerin Frau Fassl. Diese hängt damit zusammen, dass die Lehrerin den Mädchen den Stoff so vermittelt, dass alle Schülerinnen ihn verstehen. Dabei erklärt sie so genau, als wäre man im „Kindergarten“. Die Mädchen werden also im Unterricht nicht wie Erwachsene, sondern wie Kinder adressiert. Diese Art und Weise der Wissensvermittlung ziehen sie ins Lächerliche, indem sie im Rahmen des Vergleichs mit Kindergartenpraktiken bleiben: „So richtig durchkauen und dann in den Mund reinlegen“. Es zeigt sich eine adoleszenztypische Orientierung: Die jungen Frauen wollen nicht wie Kinder, sondern wie Erwachsene behandelt werden. Allerdings können die jungen Frauen diese Behandlung im Unterricht tolerieren, weil es positive Konsequenzen hat, wenn das ‚Vorgekaute geschluckt‘ wird: „bei der Frau Fassl versteht verstehen fast alle auch was“. Das heißt, dass Thema wird zwar im Rahmen der kollektiven Orientierung des Erwachsenseins der Schülerinnen verhandelt, kopräsent ist ein Aspekt einer Schüler(innen)typik: nämlich das Verinnerlichen des Unterrichtsstoffes. Im weiteren Verlauf der Diskussion zeigt sich dies wiederum deutlich: Zum einen wird erneut darauf hingewiesen, dass die Lehrerin zwar (zu) oft wiederholt, doch eröffnet sich zum anderen in einem männlich konnotierten Fach die Möglichkeit, mitzuarbeiten und nachzufragen: „gerade im naturwissenschaftlichen Feld wo ich jetzt nicht allzu gut bin ähm fällt es mir immer schwer mich zu melden aber ich finde bei Frau Fassl ich weiß nicht, ich ich äh ich hab so das Gefühl man kann sich immer melden“. Besonders hervorgehoben wird dabei die Art und Weise, wie es dazu kommt – die Erklärungen verlaufen unabhängig vom Schwierigkeitsgrad des Unterrichtsstoffes „nach dem gleichen Schema“, das die Mädchen für sich selbst übernehmen können. 4.2.2 Lehrkräfte und Unterricht: Die Ebene des praktischen Vollzugs Vor diesem Hintergrund wird unter einem Wechsel der Perspektive nun mit Blick auf die Handlungspraxis in einem nächsten Schritt erstens gefragt, wann, in welchen Situationen und mittels welcher interaktiven Praktiken es in dem (gemeinhin männlich konnotierten) Mathematikunterricht12 zu einem (un)doing gender, einem (un)doing difference/diversity bzw. zu einem (un)doing student kommt oder andere Kategorien einen Bedeutungszuwachs erfahren. Dabei wird zum einen analysiert, in welchen Interaktionen Geschlecht bzw. kulturelle Herkunft durch eine Thematisierung im Unterricht mit Bedeutung aufgeladen wer12
Vgl. ausführlicher dazu und zum Physikunterricht Schurt 2009.
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den und/oder ein Gendering von Mathematik als Fachkultur (‚doing discipline‘)13 erfolgt. Zum anderen ist zu fragen, wann und in welchen Situationen die Kategorien nicht aufgegriffen, sondern ruhen gelassen werden, möglicherweise andere Konstruktionen an Bedeutsamkeit gewinnen oder ein sog. undoing discipline erkennbar wird (vgl. Willems 2007). Das praktizierte ‚Absehen‘ ist in der Forschungspraxis jedoch nicht leicht zu fassen, da es keine Positivität der Unterlassung gibt (vgl. Hirschauer 1994). Etwas zu beobachten, dass eben nicht getan wird, ist empirisch betrachtet ein diffiziles Unterfangen (vgl. dazu auch: Budde 2005; Güting 2004). Zweitens ist zu analysieren, ob sich parallel zu der anhand der Diskussionspassagen herausgearbeiteten Kopräsenz von Adoleszenz und für Schülerinnen typischen Orientierungen auf der Ebene des praktischen Vollzugs ein (ebenfalls kopräsentes) doing adult und doing student nachzeichnen lässt. Dementsprechend ist der Fokus weit angelegt und richtet sich auf die Darstellung verschiedener Themenbereiche. Die im Anschluss angeführten Protokollauszüge entstammen den Unterrichtsbeobachtungen, die wir in der zehnten Realschulklasse in mehreren Mathematikstunden bei Frau Fassl durchgeführt haben; die ausgewählten Textstellen stehen exemplarisch für den hier beobachteten Unterricht. Für vorliegenden Zusammenhang sind zunächst die beiden folgenden kurzen Passagen von Interesse, in denen Geschlecht zum Thema wird. Auffallend ist, dass die Mathematiklehrerin in ihren Aussagen meist die weibliche und nicht die männliche Form respektive kein generisches Maskulinum verwendet. Zudem wird die Geschlechtszugehörigkeit kaum aktualisiert – die Mädchen werden nur vereinzelt als „Damen“ oder mit ähnlich geschlechtsbezogenen Bezeichnungen angesprochen, sondern in aller Regel mit ihrem Namen. Dies lässt sich kaum anhand einzelner Protokollausschnitte belegen, sondern ist vielmehr mit Blick auf das gesamte Material zu konstatieren. Nach einer letzten Frage nach dem Notendurchschnitt der Extemporale, die von der Lin14 mit einem knappen: „2,6“ beantwortet wird, werden die Exen mit dem Hinweis: „Gebt‘s sie einfach eurer Vorderfrau!“ wieder eingesammelt […] (EHR/10/VS)15. Im Anschluss erklärt die Lin die Verwendung des Sinussatzes
13 In Anlehnung an Katharina Willems (2007) sind darunter diejenigen aktiven Herstellungsprozesse zu verstehen, mit denen (hoch)schulische und wissenschaftliche Disziplinen entlang bestimmter Charakteristika als (spezifische) Fachkulturen entworfen werden und die „durchaus mehrere Fachkulturen gleichzeitig umfassen können“ (ebd., S. 12). 14 Lin = Lehrerin. 15 Ursprünglich haben wir ausführlichere Protokollbezeichnungen verwendet. Um jedoch die Anonymität zu gewährleisten, gehen wir hier eine Kurzform an, die sich aus den Abkürzungen für den Schulnamen, der Klasse und den jeweiligen Anfangsbuchstaben des Namens der Beobachterinnen zusammensetzt.
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anhand einer Metapher: „Stellt euch die Copilotin neben der Pilotin im Flugzeug vor“ […] [EHR/10/AR). Zum anderen zeigen sich auch Hinweise darauf, entlang welcher Kriterien die Konstruktion von Mathematik als Fachkultur verläuft. So wird von Frau Fassl häufig die Einfachheit mathematischer Berechnungen betont, die offensichtlich zugunsten der Kompliziertheit allzu häufig in den Hintergrund gerückt wird. Daneben hebt sie hervor, dass es zwar manchmal mehrere Vorgehensweisen gibt, die jedoch alle auf einem Grundmuster basieren, das sich die Mädchen nur einprägen müssten, um es abzurufen („Schublade auf“) zu können. Die Entscheidung für einen bestimmten Weg sollte (auch) von dessen Schlüssigkeit und Umsetzbarkeit abhängen. Zur Erläuterung von Berechnungen werden häufig Beispiele eingesetzt und oftmals (einzelne) Rechenschritte wiederholt. Als grundlegende Voraussetzung für die erfolgreiche Bearbeitung einer Mathematikaufgabe gilt Konzentration: „Und nun zu der Ex“. Während sie die korrigierten Arbeiten austeilt, macht sie die Sen auf ein paar Flüchtigkeitsfehler aufmerksam, die besonders gemein seien, da der Weg bei vielen Sen sonst stimmen würde: „Mathe ist einfach nur Konzentrationssache, und sonst nix. Mehr müsst‘s ihr gar net lernen. Schaut‘s euch die Angabe gut an und lasst‘s euch ruhig Zeit, bevor ihr loslegt“ […]. „Und dann, wenn ihr soweit seid – Schublade auf und Schema raus…“ […] (EHR/10/VS).
Die Lin schreibt eine Formel in Form einer Gleichung, die aus drei Elementen besteht, an die Tafel. Je nachdem welche der drei Elemente sie gerade erklärt, deckt sie die anderen Elemente ab. Sandy meldet sich und äußert sich kritisch zum Vorgehen der Lin: „Ist das mathematisch überhaupt möglich, das abzudecken, was man nicht braucht? Ist das nicht ein bisschen unmathematisch?“ Die Lin widerspricht, Mathematik sei „voll flexibel“ und erklärt ihr Vorgehen an einem praktischen Beispiel. Sie holt drei gleich große Mädchen an die Tafel, die sie zunächst nebeneinander stellt. Abwechselnd stellt sie jeweils eines der drei Mädchen ein Stück abseits und erklärt, dass sich dadurch nichts an der gleichen Größe der anderen beiden Mädchen ändern würde. Die Sen an der Tafel grinsen und scheinen Spaß an der Aktion zu haben. Auch in der Klasse entsteht Gelächter. Die Sen nehmen ihre Plätze wieder ein. Kurz darauf endet die Stunde […] (EHR/10/AR). Im Anschluss erklärt die Lin die Verwendung des Sinussatzes anhand einer Metapher: „Stellt euch die Copilotin neben der Pilotin im Flugzeug vor. Die helfen sich gegenseitig. Und genauso ist es mit dem Cosinus- und Sinussatz. Wenn der Cosinussatz nicht mehr weiter weiß, weiß vielleicht der Sinussatz weiter. Die beiden fliegen die Maschine zusammen“. Mir fällt auf, dass Sandy sehr aufmerksam dem Unterricht folgt […] [EHR/10/AR).
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Die Lin macht einen Schritt in den Raum und erklärt, mit einem Seitenblick und einer Handbewegung auf die Bücher deutend: „Also, die könnt ihr euch mitnehmen, wenn ihr sie bestellt habt, das sind...“. Sie wird von einer S unterbrochen, die wissen möchte, ob man „die Formelsammlung denn unbedingt“ brauchen würde. „Hättest du mich ausreden lassen“ entgegnet die Lin und fügt an, dass es wichtiger sei, Strategien erst im Kopf zu entwickeln und die Formelsammlung nur zur Unterstützung heranzuziehen. Sie vergleicht die Formeln und Berechnungen, welche den aktuellen Unterrichtsstoff bilden, mit dem Alphabet, das man erst lernen muss, bevor man dann im Telefonbuch bei dem entsprechenden Buchstaben nachschauen könnte. Die zweite Aufgabe, die als Hausaufgabe zu lösen war, soll nun besprochen werden. Sandy meldet sich sofort. Als sie aufgerufen wird, trägt sie langsam und deutlich die einzelnen Lösungsschritte vor. Sie wirkt sehr strukturiert und scheint sich genau mit der Aufgabe beschäftigt zu haben. Sie sitzt dabei sehr aufrecht. Sie spricht relativ lange, da es sich um eine umfangreiche Aufgabe handelt […]. Die Lin lobt „toll, Sandy“ fragt, ob alle Sen den Lösungsweg verstanden hätten, und wiederholt die einzelnen Schritte nochmals, ohne auf eine Reaktion der Sen zu warten […] (EHR/10/AR). Renate meldet sich und diktiert sehr ausführlich und präzise das Gesamtergebnis. Die Lin folgt ihrer Ausführung und bemerkt, als Renate geendet hat: „Jetzt leg mer erst mal a Gedenkminute ein, bis ihr alle gefolgt seid“ […]. Dann wird Renates Erklärung Schritt für Schritt ausführlich besprochen (EHR/10/VS). Ein weiterer Aspekt, der in den erstellten Protokollen ins Auge sticht, ist die Art und Weise, wie im Unterricht Aufgaben angegangen, Fragestellungen bearbeitet und Problemkonstellationen gelöst werden. Besonders interessant ist dabei der Umgang mit Beiträgen, die ohne vorherige Meldung und Bestätigung durch das Aufgerufen-Werden stattfinden. In den folgenden Szenen werden die Mädchen nicht ermahnt, es folgen auch keine Sanktionen. Die Vorschläge und Antworten bilden oft den Ausgangspunkt für Lob und bieten zugleich Anlass für fachliche Diskussionen, zu denen die Lehrerin ihre Schülerinnen zusätzlich motiviert – im Vordergrund steht das gemeinsame Erarbeiten und nicht das strikte Einhalten von Regeln: Als Nele ihren Lösungsvorschlag für eine Vektorenrechnung ohne Meldung vorbringt, erntet sie großes Lob von der Lin, die zugibt, selbst keine „elegantere Lösung“ finden hätte zu können. Nele nimmt dieses Lob selbstbewusst und mit ernsthaftem Gesichtsausdruck an, sie sitzt sehr aufrecht und schaut die Lin direkt an […] (EHR/10/AR). Frau Fassl legt eine Folie mit der Musterlösung auf den Projektor, die sie aber nur ein kleines Stück aufdeckt. Bei dem ersten Lösungsschritt meldet sich Sandy. Als sie vorschlägt, das Dreieck BSM zu berechnen, zieht die Lin die Au-
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genbrauen hoch und meint: „Ja? Das wundert mich“. Sofort entsteht eine Diskussion in der Klasse, was die richtige Vorgehensweise ist. Zahlreiche Sen schalten sich ein, die Lin mischt sich nicht ein, die Sen diskutieren aufgeregt. Sandy, Celine und Larissa sind am stärksten beteiligt. Erst als Celine vorschlägt, das Dreieck mit Hilfe des Tangens AS auszurechnen, schaltet sich die Lin wieder ein: „Du würdest den Tangens benützen?“ Da meldet sich die Bernice: „Dann versuche ich, das jetzt zu schildern. Wie ich mich erinnern kann, haben wir neulich in der Schule folgenden Rechenschritt verwendet“. Sie erklärt ihren Vorschlag, die Lin scheint nicht überzeugt: „Kann man das so sehen?“ Larissa hat eine andere Idee, Sandy widerspricht, dann hat Larissa einen neuen Einfall. Sie ruft laut: „Hah, da müssen wir…“. Die Lin lobt: „Genau, so ist es richtig" und nickt heftig dazu […] (EHR/10/VS). Als weitere Auffälligkeit, die sich in den von uns beobachteten Mathematikstunden abzeichnet und die in den bislang zitierten Protokollpassagen bereits mehrfach deutlich wurde, sind das Interesse, das die Schülerinnen dem Fach entgegenbringen und ihr Engagement zu nennen, wie die folgenden Beispiele andeuten: Obwohl es sich hier schon um die fünfte Stunde handelt und der Unterrichtsraum sehr klein ist, die Sen also dicht gedrängt sitzen, ist die Klasse während des gesamten Unterrichts sehr konzentriert. Ein Großteil beteiligt sich über Wortmeldungen aktiv am Unterricht, es finden kaum Nebengespräche statt. Nele ist eine der Sen, die besonders interessiert wirkt. Sie meldet sich häufig […] (EHR/10/AR). Die Atmosphäre ist heute (wie meistens) sehr gelöst, man kann sie wohl am ehesten als ‚entspannte Konzentration' beschreiben. Die Sen folgen offensichtlich dem Unterrichtsgeschehen und scheinen aufmerksam, sie melden sich häufig und machen mit, auch ohne vorher aufgerufen worden zu sein. Obwohl die Lin immer wieder Scherze macht und gelacht wird, steht Mathematik immer im Vordergrund […] (EHR/10/VS).
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Fazit
Was ist nun insbesondere mit Blick auf die Triangulation unserer Forschungsergebnisse festzuhalten? Entsprechend der bisherigen Vorgehensweise wenden wir uns zunächst der Mädchenschulthematik zu und fokussieren auf die (Ent-)Dramatisierung der Kategorie Geschlecht. Darauf folgt eine nähere Einkreisung des Mathematikunterrichts. Zusammenfassend zeigt sich in den Diskussionspassagen, in denen die Mädchenschulthematik angesprochen wird, dass die Mädchen den Besuch dieser vor dem Hintergrund einer gesamtgesellschaftlichen koedukativen Norm rechtfertigen (müssen). Dabei ist die Kategorie Geschlecht in der Gruppe scheinbar als ein vereinheitlichendes Merkmal (in Form des Bildes des ‚typischen’, weil ‚zickigen’ Mädchens) präsent. Dieser Vereinheitlichung stellen die jungen Frauen ihre Heterogenität hinsichtlich der kulturellen Herkunft gegenüber. Die Gruppe assoziiert mit ihrer Klasse die Merkmale und Vorzüge von Mädchenfreundschaften. Im Zusammenspiel gelten Heterogenität und Mädchengemeinschaft als Zeichen einer positiv gewendeten Besonderheit, auf die die Mädchen stolz sind und durch die sie sich von anderen Klassen abgrenzen. Durch die Vielfalt der Herkunft und die Wahrnehmung der Klasse im Rahmen von Mädchenfreundschaften verliert die Abwesenheit von Jungen an Relevanz und kann die Monoedukation positiv wahrgenommen werden. Intra-geschlechtliche Differenzierungen (in diesem Fall unter Berücksichtigung der heterogenen ethnischen Herkunft) werden prononciert (vgl. auch Gallagher 2002). Eine Entdramatisierung von Geschlecht und Heterogenität wird beim Sprechen über den Unterricht offenkundig. Zudem verweisen die Mädchen darauf, dass das Lernen im geschlechtersegregierten Kontext neben sozialen auch Lernvorteile mit sich bringt. Es präsentiert sich eine (migrationsbedingte) starke Orientierung an Bildungserfolg. Auf der interaktiven Ebene, die wir mit der teilnehmenden Beobachtung erfasst haben, spiegelt sich die aufgezeigte Dramatisierung nicht wider. Im Hinblick auf das situative Relevantsetzen beziehungsweise Ruhenlassen der Geschlechtskategorie und der kulturellen Heterogenität fällt auf, dass eine Aktualisierung der Geschlechtszugehörigkeit nur in äußerst seltenen Fällen zu beobachten ist. Beim Blick auf die kulturelle Heterogenität zeigt sich: In den Stunden, die wir begleitet haben, gab es keine Situation, in der diese relevant gesetzt worden wäre. Ganz offensichtlich treten Geschlecht und Heterogenität in diesem Unterricht im Sinne des undoing gender bzw. undoing difference/diversity in den Hintergrund und werden von anderen Anforderungen überlagert. Augenscheinlich ist im Unterricht die Betonung der Besonderheit für die jungen Frauen nicht wichtig, sondern die Gemeinsamkeit als lernende, bildungsorientierte Gruppe.
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Die Ambivalenzen zwischen der Dramatisierung und Entdramatisierung von Geschlecht und kultureller Heterogenität in den Diskussionen und Protokollen liegt unseres Erachtens in erster Linie in der Erhebungssituation begründet. In den Gruppendiskussionen kommt es, ausgelöst durch die Eingangsfrage der Interviewerin nach der Mädchenschule, zu einer Aktualisierung eines Rechtfertigungszwanges für den Besuch einer geschlechtersegregierten Schule, dieser Legitimationszwang ist mädchenschultypisch (siehe: Waburg 2009). Die Schülerinnen stellen der Dramatisierung von Geschlecht (aufgrund des Zweifels an der geschlechtlichen Normalität, der durch das Wissen, in einem ‚unnormalen‘ schulischen Kontext zu lernen, bei ihnen latent immer ‚ankonstruiert‘ ist und der in der Erhebungssituation betont wird) allerdings Heterogenität in Bezug auf ihre Herkunft entgegen (durch die sie Normalität und Besonderheit konstruieren). Die in unseren Unterrichtsbeobachtungen dokumentierte ausbleibende Relevantsetzung von Geschlecht, aber auch von kultureller Heterogenität, ist insofern neben der unten diskutierten Schlussfolgerung u.a. darauf zurückzuführen, dass die Beobachterinnen hier keinen direkten Einfluss nehmen. In der Passage der Gruppendiskussion, die sich um den Mathematikunterricht bei Frau Fassl dreht, zeigt sich, dass die Lehrerin zunächst aufgrund ihrer Bemühungen und ausführlichen Darstellungen eine positive Evaluation erfährt, doch wird der Art und Weise, wie die Wissensvermittlung erfolgt, ein wenig niveauvoller ‚Kindergartencharakter‘ zugeschrieben. Die Mädchen werden wie Kinder adressiert, was der Orientierung, wie Erwachsene behandelt werden zu wollen, entgegensteht. Angesichts der mit den ausführlichen Erläuterungen verbundenen positiven Konsequenzen (Verstehen des Stoffes, Möglichkeit des Nachfragens und der Mitarbeit etc.) ist diese Behandlung tolerabel – die Verhandlung des Themas verläuft im Rahmen der kollektiven Orientierungen des Erwachsenseins und der Lern- bzw. Bildungsorientierung. Geschlecht ist von untergeordneter Relevanz, tritt, wie die Schülerinnen selbst sagen, im männlich konnotierten mathematischen Bereich in den Hintergrund. Allenfalls präsentieren sie sich wiederum als nicht-typische Mädchen. Die auf die Ebene der Handlungspraxis bezogenen Ergebnisse bestätigen dies zu einem großen Teil. Den Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass weder die geschlechtliche noch die ethnische Herkunft aktualisiert, sondern von anderen Erfordernissen als deren Darstellungen überlagert werden. Das Zentrale dieser praktischen Erfordernisse ist das Ausfüllen der Position als Schülerin, das doing student, was sich vor allem in Bezug auf das Interesse, das die Mädchen dem Fach entgegenbringen und ihr Engagement im Unterricht zeigt. Werden die Tätigkeiten von Schüler(inne)n, deren Haltung gegenüber ihrem Tun im schulischen Alltag und ihr Verhältnis zur Schule insgesamt in der Metapher des „Schülerjobs [sic]“ gefasst, wie von Georg Breidenstein (2006, S. 11), die auf
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einer Assoziation zu dem Erledigen der mit dem Schüler/in-Sein verbundenen ‚Arbeit‘ beruht, handelt es sich bei diesen Praktiken nicht nur um „das instrumentelle Verrichten von Schule“ (Breidenstein & Jergus 2005, S. 197), sondern um mehr als das – die Mädchen erfüllen ihren ‚Job‘ auf eine besondere Weise: Sie sind sehr lernorientiert, zeigen im Unterricht ein großes Engagement und erfüllen ihre Aufgaben, zumindest zum Teil, augenscheinlich mit Spaß. In einer Lesart lässt sich dies auch als eine spezifische Form des doing adult interpretieren. Den Mädchen liegt offensichtlich viel daran, den Stoff zu verstehen, im Unterricht mitzukommen und gute Leistungen zu erzielen. Dass dies gelingt, liegt nicht nur im Zuständigkeitsbereich der Lehrkraft, sondern auch bei den Schülerinnen selbst, was die Mädchen erkannt zu haben scheinen. Sie übernehmen die Verantwortung durch eigenaktives und selbstständiges Handeln. Dabei tritt die Gemeinschaft/Gemeinsamkeit im Sinne einer Gruppe von Lernenden, die sich aufgrund dessen nicht zwangsläufig unterscheiden müssen, in den Vordergrund, der Heterogenitätsaspekt in den Hintergrund. Unseres Erachtens steht dies in Zusammenhang mit den Merkmalen, die von der Lehrerin zur Beschreibung von Mathematik herangezogenen werden und entlang derer die unterrichtliche Konstruktion des Schulfaches als Fachkultur verläuft. Unterstrichen werden Einfachheit versus Kompliziertheit, Flexibilität versus Eindimensionalität, Schlüssigkeit versus starre Regelanwendung, Alltagsbezug versus Theorie sowie Visualisierung versus reine Abstraktion. Damit unterscheidet sich das in dem von uns beobachteten Mathematikunterricht transportierte Bild eines (zugespitzt formuliert) kommunikativen und kooperativen Schulfaches zum Teil deutlich von der öffentlichen wie gesellschaftlichen Wahrnehmung von Mathematik als abstrakte, auf den Umgang mit und die Produktion von Fakten gerichtete Wissenschaft, die infolge ihrer Methodik als objektiv und autoritär – und letztlich als ‚männlich‘ gilt (vgl. Blunck & Piper-Seier 2008). Was die erfolgreiche Bearbeitung von mathematischen Aufgabenstellungen und die als angemessen definierte Erfüllung der Anforderungen im Unterricht betrifft, werden keine grundlegenden Kenntnisse aus anderen Fächern vorausgesetzt, sondern lediglich Konzentrationsfähigkeit. Mathematik wird im Sinne des doing discipline als Schulfach entworfen, das sich nicht gezwungenermaßen durch eine männliche Konnotation konstituiert. Es ist zu vermuten, dass diese Konstruktionen im Zusammenhang mit dem monoedukativen Setting stehen bzw. von ihm begünstigt werden.
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Wiebke Waburg, Verena Schurt Schluss
Wie die vorangegangenen Ausführungen zeigen, handelt es sich beim Einnehmen einer intrakategorialen intersektionellen Perspektive um ein empirisch sehr voraussetzungsvolles Unterfangen mit großen Potentialen, aber auch nicht zu leugnenden Schwierigkeiten. Uns stellt sich vor allem die Frage, ob es in letzter Konsequenz gelingen kann, Wechselwirkungen von Kategorien in den Blick zu nehmen, und dabei diese als provisorischen, nicht statischen und veränderbaren Ausgangspunkt zu fassen. Regina Becker-Schmidt (2007) sieht ebenfalls die Schwierigkeit, „bei der Analyse ihrer Verflechtungen alle Kombinationen auf einmal in den Blick nehmen zu wollen. Die Gefahr, in ein unentwirrbares Geflecht von Bezügen zu geraten, ist nicht zu übersehen“ (ebd., S. 57). Deswegen schlägt sie vor, die einzelnen Kategorien zunächst gesondert zu untersuchen (möglichst sogar von unterschiedlichen Forschungsgruppen) und erst im Anschluss und aufbauend auf den separaten Analysen Intersektionen in den Blick zu nehmen. Das grundlegende Problem der (zu) großen Komplexität wird ebenfalls von Leslie McCall (2005) angesprochen. Westphals Kritik (in diesem Band) zielt in die gleiche Richtung, wenn sie schreibt, dass jedes, auch das exzellenteste Forschungsteam an seine Grenzen stößt, wenn Kategorien und ihre Wechselwirkungen auf der Mikro- und Makroebene analysiert werden sollen. Ein wesentlicher Aspekt ist in diesem Zusammenhang unseres Erachtens das bislang in der vorliegenden Fachliteratur nicht diskutierte Problem, die im Forschungsprozess rekonstruierten Verschränkungen von Kategorien in wissenschaftlichen Veröffentlichungen nachvollziehbar und verständlich zu präsentieren, ohne dabei jeweils eine Monographie zu verfassen. Doch es sind auch spezifische Potentiale der intrakategorialen Zugangsweise hervorzuheben, wie unsere eigene Untersuchung zeigt. Wird auf Geschlecht als interdependente Kategorie fokussiert geraten zwangsläufig anderen Dimensionen in den Blick – in unserem Fall die kulturelle Heterogenität, das Alter, die Ausgestaltung der Position als Schülerinnen, die Gestaltung des Unterrichts durch die Lehrkräfte, die gelebten Fachkulturen sowie deren Verquickung. Deutlich wird ebenfalls, dass ohne Triangulation verschiedener Methoden ein jeweils nur verkürzten Blick auf den Forschungsgegenstand ‚interdependente Geschlechtskonstruktionen in Mädchenschule’ möglich gewesen wäre. Die von uns gewählten Zugänge – Diskussionen und Beobachtungen – fokussieren auf unterschiedliche Ebenen der Intersektionalität: zum einen auf in der Sozialisation erworbene kollektive Orientierungen und deren Verschränkung (in der bohnsack’schen Terminologie wird von einer ‚mehrdimensionalen Typenbildung‘ gesprochen) (siehe dazu: Bohnsack & Nentwig-Gesemann 2003), zum anderen auf die handlungspraktische Ebene der Herstellungsprozesse im Sinne des (un)doing
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gender bzw. difference. Ein alleiniger Blick auf die Gruppendiskussionspassagen hätte die relative Dominanz der geschlechts- und heterogenitätsbezogenen Orientierungen in der Mädchenschule hervorgehoben. Der Fokus auf den beobachteten Mathematikunterricht würde dagegen den Bedeutungsverlust der Kategorie Geschlecht sowie der ethnischen Heterogenität überbetonen. Abschließend bleibt in Bezug auf den Forschungsgegenstand zu konstatieren: In der Mädchenschule eröffnen sich tatsächlich potentielle Zugewinne an Handlungsoptionen – im speziellen Fall bezüglich der kulturellen Heterogenität und im Mathematikunterricht. Gleichzeitig birgt der Kontext die Möglichkeit/Gefahr, dass Geschlecht neben der initialen Betonung (in Folge die Segregation an sich) jederzeit durch die Akteurinnen relevant gesetzt werden kann und diese Setzungen auch negative Konnotationen implizieren können. Literatur Becker-Schmidt, Regina (2007): „Class“, „gender“, „ethnicity“, „race“: Logiken der Differenzierung, Verschränkung von Ungleichheitslagen und gesellschaftliche Strukturierung. In: Cornelia Klinger; Gudrun-Axeli Knapp; Birgit Sauer (Hrsg.): Achsen der Ungleichheit. Frankfurt a. M.: Campus, S. 56-83. Blunck, Andrea; Piper-Seier, Irene (2008): Mathematik: Genderforschung auf schwierigem Terrain. In: Ruth Becker; Beate Kortendiek (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. 2., erweiterte und aktualisierte Auflage. Wiesbaden: VS Verlag, S. 812-820. Böhm, Andreas (2003): Theoretisches Codieren: Textanalyse in der Grounded Theory. In: Uwe Flick; Ernst von Kardorff; Ines Steinke (Hrsg.): Qualitative Forschung. Reinbek: Rowohlt, S. 475-485. Bohnsack, Ralf (2007): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden. 6. Auflage. Opladen: Barbara Budrich. Bohnsack, Ralf; Nentwig-Gesemann, Iris (2003): Typenbildung. In: Ralf Bohnsack; Winfried Marotzki; Michael Meuser (Hrsg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung. Opladen: Leske + Budrich, S. 162-166. Breidenstein, Georg (2006): Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden: VS Verlag. Breidenstein, Georg; Kelle, Helga (1998): Geschlechteralltag in der Schulklasse. Ethnographische Studien zur Gleichaltrigenkultur. Weinheim: Juventa. Breidenstein, Georg; Jergus, Kerstin (2005): Schule als Job? Beobachtungen aus dem achten Schuljahr. In: Georg Breidenstein; Annedore Prengel (Hrsg.): Kindheits- und Schulforschung – ein Gegensatz? Wiesbaden: VS Verlag, S. 177-200. Breidenstein, Georg; Meier, Michael (2004): „Streber“ – Zum Verhältnis von Peer Kultur und Schulerfolg. Pädagogische Rundschau 58, S. 549-563. Breitenbach, Eva (2001): Sozialisation und Konstruktion von Geschlecht und Jugend. Konstruktivismus und dokumentarische Methode. In: Ralf Bohnsack; Iris Nentwig-Gesemann; ArndMichael Nohl (Hrsg.): Die Dokumentarische Methode und ihre Forschungspraxis. Opladen: Leske + Budrich, S. 165-178. Breitenbach, Eva (2009): „Mittlerweile ist es doch egal, ob es ein Junge oder Mädchen ist ...“. Die Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der rekonstruktiven Forschung. In: Leonie Herwartz-
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Wiebke Waburg, Verena Schurt
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Manuela Westphal
Gender und Heterogenität in der politischen Bildung mit eingewanderten Frauen und Männern
In dem folgenden Beitrag möchte ich das Kernthema ‚Heterogenität‘ dieses Leonie Herwartz-Emden gewidmeten Bandes unter einer spezifischen Perspektive im Bereich der Erwachsenenbildung aufgreifen. Auf Grundlage von mir durchgeführter Evaluationsstudien zum Gender Mainstreaming im Integrationsbereich frage ich danach, wie sich in der praktischen Arbeit der politischen Bildung am Beispiel von Orientierungskursen für neuzugewanderte Migranten und Migrantinnen der Umgang mit Gender und Heterogenität im formellen Lernarrangement gestaltet. Die zentrale Fragestellung wird aus der einleitenden Skizzierung von Gender und Heterogenität entwickelt (1.) und in den im Anschluss entworfenen Rahmen der Integrations- und Orientierungskurse als einer spezifischen Maßnahme in der (politischen) Erwachsenenbildung mit Zugewanderten eingebettet (2.). Darauf aufbauend stelle ich die Evaluationsstudien vor (3.) und fokussiere auf Ergebnisse, aus denen sich der Umgang mit Gender und Heterogenität nachzeichnen lässt. Dies bildet die Grundlage für die Diskussion der Intersektionalitätsperspektive als methodischem und theoretischem ‚Zugang‘ zur Erforschung von Differenzen im Fazit (4.), an das sich ein abschließender Ausblick anschließt (5).
1
Einleitung: Gender und Heterogenität in der Erwachsenbildung
Heterogenität, Vielfalt und Diversity sind zu Schlüsselbegriffen in Erziehung und Bildung avanciert. Insbesondere in schulischen Zusammenhängen wurde soziale und kulturelle Heterogenität lange Zeit eher als Störung denn als Chance und Bereicherung für den Unterricht sowie für die Lern- und Leistungserfolge der Schüler und Schülerinnen betrachtet. Anders verhält es sich im Bereich der Erwachsenenbildung/Weiterbildung, in dem Heterogenität zur reflektierten Ausgangsbedingung des pädagogischen Arrangements gehört. Bereits auf der Ebene der Unterschiedlichkeit der Institutionen, ihrer Angebote, Themen und Adressat(inn)en zeigen sich Heterogenität und Vielfalt. Auch die Differenz zwischen Adressat(inn)en und Teilnehmenden ist konstitutiv. Letztere bringen unterschiedliche Interessen, Motivationen, Sozialisationsbedingungen, Lernerfahrungen und -kulturen mit und unterscheiden sich ferner nach sozialen Kategorien wie Alter, Geschlecht, soziale, ethnische und räumliche (Stadt-Land) Herkunft etc. Die Vielfalt und Komplexität wird zudem durch die Autonomie der subjek-
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tiven Aneignung von Weiter-/Erwachsenenbildungsangeboten erhöht (vgl. Kade, Nittel & Weiter 1999). Heterogenität ist auch insofern Grundbedingung von Erwachsenenbildung, als hier keine organisatorisch-formalen Selektionsmechanismen (wie Dreigliedrigkeit, Altersjahrgänge, Sitzenbleiben, Noten) gelten. Dennoch wird auch in diesem Bildungsbereich von der Annahme der Effektivität einer möglichst homogenen Lerngruppe ausgegangen. Homogenität wird über die Adressaten- und Zielgruppenorientierung angestrebt; Teilnehmerorientierung ist das zentrale didaktische Prinzip, um Heterogenität in den Lerngruppen konstruktiv zu bearbeiten (vgl. Faulstich & Zeuner 1999). Die Berücksichtigung individueller Lerninteressen und Ressourcen wird durch methodische Ansätze wie Erfahrungs-/Biografieorientierung, Problembezug, selbstgesteuertes/-tätiges Lernen erzielt und in der politischen Bildung bspw. durch kooperative und partizipative Lernansätze erreicht. Eine ausgeprägte Zielgruppen- und Teilnehmerorientierung sowie -forschung findet sich in der Frauen(weiter)bildung (vgl. de Sotelo 2000; Gieseke 1995 & 2000; Schiersmann 1993). Insbesondere aus dem Feld der interkulturellen Frauenbildung und antirassistischen Bildungsarbeit sind in den letzten Jahren innovative Anstöße für die politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft gekommen (vgl. Kalpaka 2003; Elverich, Kalpaka & Reindlmeier 2006). 1.1
Die Gender-Perspektive in der Frauen(weiter)bildung
Mit der Aufnahme der Gender-Perspektive in der etablierten Frauen(weiter)bildung wurde der Blick verschoben, insofern nun nach der Bedeutung von Geschlecht in der gemischtgeschlechtlichen Erwachsenenbildung und den Möglichkeiten eines Geschlechterdialoges gefragt wird. Wiltrud Gieseke (1995, S. 41) fordert insgesamt eine stärkere Erforschung der Interaktionsstrukturen von Frauen und Männern in der Erwachsenbildung und ist der Meinung, „der separate weibliche Diskurs bedarf der Rückführung in den gemeinsamen Geschlechterdiskurs“. Nach Karin Derichs-Kunstmann, Susanne Auszra und Brigitta Müthing (1999) hat eine geschlechtergerechte Didaktik in der Erwachsenenbildung mit Rekurs auf das von ihnen entwickelte Konzept die vier folgenden Eckpunkte zu berücksichtigen: Die Geschlechterperspektive als Inhaltsdimension, die methodische Ausformung der Veranstaltungen, das geschlechtsbezogene Verhalten der Unterrichtenden sowie die Gestaltung der Rahmenbedingungen. Mit dieser Konzeption wird nun von der Zielgruppenorientierung auf die Inhalts- und Strukturdimension der sozialen Kategorie Geschlecht in der Erwachsenenbildung umgestellt. Wie sich die Umsetzung in die Praxis gestaltet, hat Angela Venth (2006) untersucht und dabei ein kritisches Gender-Portrait der Erwachsenenbildung ge-
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zeichnet. Auf Grundlage der Programmanalyse eines Bildungsträgers und von Fortbildungsdokumentationen der Planungsverantwortlichen zeigt sie diskursanalytisch eine erstaunliche Diskrepanz zwischen dem individuellen Genderlernen und dem professionellen Transfer in die Bildungspraxis bzw. Arbeitszusammenhänge auf. Die im Programm analysierten Bildungsangebote stellen das bipolare Geschlechterverhältnis nicht grundsätzlich in Frage, sondern verstärken dieses eher noch. Es finden sich „massive Traditionalismen“ (ebd., S. 188), Bestätigungen männlicher Dominanz und vor allem die Reduzierung der Geschlechterfrage auf die private Beziehungsebene zwischen Mann und Frau. Dagegen präsentieren die Programmverantwortlichen in der Fortbildung selbst eine hohe Gendersensibilität. Bei der Frage, wie die Reflexionsergebnisse aus den Fortbildungen in die Bildungsaufgaben eingeplant und konzeptionell gefüllt werden sollen, zeige sich jedoch eher Ratlosigkeit (vgl. ebd.). Diese skizzenhaften Ausführungen zu Gender in der Erwachsenbildung deuten bereits an, dass die Umstellung auf Gender als Inhalts- und Strukturdimension noch weit davon entfernt ist, als gelungen bezeichnet werden zu können. 1.2
Gender Mainstreaming und Diversity Management als Lösungsansatz?
Eine zentrale Strategie, die Handlungszusammenhänge von Organisationen (Bildungsinstitutionen, Wirtschaftsunternehmen, Politik und Verwaltung) zu verändern, ist das Gender Mainstreaming (GM). GM ist ein europäisches geschlechterpolitisches Konzept, dass mit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 auch für Deutschland verbindlich verabschiedet wurde. Es zielt darauf ab, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Frauen und Männern zu fördern (Art.3, Abs.2 EG-Vertrag). Eine viel zitierte Definition liefert Barbara Stiegler (2000): „Gender Mainstreaming besteht in der Reorganisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluation von Entscheidungsprozessen in allen Politikbereichen und Arbeitsbereichen einer Organisation. Das Ziel von Gender Mainstreaming ist es, in alle Entscheidungsprozesse die Perspektive des Geschlechterverhältnisses einzubeziehen und alle Entscheidungsprozesse für die Gleichstellung der Geschlechter nutzbar zu machen“ (ebd., S. 7).
Für die Umsetzung dieses Prinzips in Organisationen und Arbeitszusammenhängen bedarf es konzeptioneller Voraussetzungen (Leitbilder), Zuständigkeiten (‚top down‘), Kompetenzen (Gender-Wissen, Handeln), Methoden (Gendertrainings), Instrumente und spezifischer Maßnahmen. Insbesondere im Bereich der Personal- und Organisationsentwicklung hat sich das GM verankert, es ist geradezu ein eigenständiges Marktsegment von Gender-Prozessbegleitung und Gendertraining in der Erwachsenen-/Weiterbildung entstanden. Oft wird vor allem in
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Unternehmen mit dem aus den USA stammenden Ansatz des Diversity Management oder Managing Diversity gearbeitet. In seinem Ursprung ist es ein Konzept sowohl zur Herstellung von Chancengleichheit von auf dem Arbeitsmarkt benachteiligten Bevölkerungsgruppen (Frauen, Schwarze, Homosexuelle) als auch ein Unternehmenskonzept zur Erhöhung von Produktivität und Mitarbeiterzufriedenheit sowie zur Erschließung neuer Kundenkreise und Märkte. Während in den USA – sowie zunächst in Großbritannien und den Niederlanden – für den Beschäftigungs- und Bildungsbereich vor allem anti-rassistische und interkulturelle Lern-/Veränderungsprogramme entwickelt wurden, ist in Deutschland ein großer Teil der unternehmensbezogenen Praxis von Managing Diversity vorrangig als Familien- und Frauenförderung (z.B. Work-Life-Balance; vgl. dazu Kanne & Westphal 2005) und GM-Maßnahmen realisiert worden (vgl. Gültekin 2005). Begriffe und Konzepte wie Gender Mainstreaming oder Diversity Management sind nicht unkritisch zu betrachten. Beide Ansätze wenden sich an Unternehmensorganisationen, staatliche Institutionen und Verwaltungen im Sinne der Anpassung an die Globalisierung und entsprechender Professionalisierung. Im Vordergrund steht der Kostenfaktor fehlgeschlagener und fehlender Chancengleichheit – im Sinne internationaler Wettbewerbsfähigkeit gilt es, vorhandene Human- bzw. Bildungsressourcen zu optimieren und personalpolitisches ‚Diversity‘, d.h. geschlechtliche und kulturelle Vielfalt, strategisch herzustellen und zu nutzen. Es sind vorrangig betriebswirtschaftliche Kategorien, die den Gleichberechtigungsdiskurs dominieren. Angelika Wetterer (2002) zufolge besteht die große Gefahr, dass es sich bei den Konzepten lediglich um rhetorische Modernisierung handele. Da die Ziele, Maßnahmen und Organisationsentscheidungen im Hinblick auf Effizienz und Effektivität geprüft werden, sind Chancengleichheit und Gleichberechtigung zugleich abhängig von den Interessen und Zielen sowie der Definitionsmacht der Führungsspitzen in Politik und Wirtschaft. Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf die Grundannahme der Differenz. Ist die kulturelle und/oder geschlechtliche Differenz der Ausgangspunkt, wird diese auch gesucht und bspw. in Gender- oder interkulturellen Trainings kultiviert und bestärkt (vgl. ebd.). Unterschiede innerhalb der Gruppenzugehörigkeit und Widersprüche bleiben ebenso unberücksichtigt wie Frauen und Männer in prekären Lebenslagen bzw. diejenigen, die nicht zu den „Wertschöpfungsstarke[n]“ (Young 2001, S. 38) zählen. Zwar wird seit dem Jahr 2000 durch die europäische Anti-Diskriminierungsrichtlinie die Förderung der Gleichberechtigung aller sozial benachteiligter Gruppen gefordert, doch findet in Deutschland eine gezielte Einbeziehung der Interessen und Ressourcen von Frauen und Männern mit Migrationshintergrund und von ethnischen Minderheiten erst seit der Verabschiedung des Zuwanderungsgesetzes (2005), des Allgemeinen Gleichbehand-
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lungsgesetzes (2006) und des Nationalen Integrationsplans (2007) ansatzweise statt. 1.3
Forschungsdesiderata und erste metho(dolog)ische Implikationen
Kurzum: Gender Mainstreaming und Diversity Management sind politischökonomische Steuerungskonzepte, die auf einen pädagogischen Ansatz aufbauen, insofern umfassende Veränderungsprozesse über das Lernen von Organisationen und Individuen erzielt werden sollen (vgl. Schaufler 2004). Dementsprechend braucht es auch eine kritische erziehungswissenschaftliche Begleitung, Analyse und Reflexion dieser Konzepte. Geschlechtergerechtigkeit, Interkulturalität und Vielfalt sind als Querschnittsaufgaben im Bildungsbereich zur selbstverständlichen Norm geworden, jedoch in ihrer praktischen Umsetzung und Wirkung in vielen Bereichen noch weitgehend unerforscht. Durch die Subsumierung unter Schlüsselkompetenzen finden sie zwar als Wert an sich Verbreitung und Akzeptanz (vgl. Westphal 2007), ob und wie es gelingt, das mit ihnen erhoffte Veränderungspotential zu entfalten, ist allerdings eine bislang unbeantwortete Forschungsfrage. Hierzu wären zunächst die Kategorien und die Art ihrer Verwendung zu hinterfragen bzw. theoretisch und methodisch-didaktisch weiterzuentwickeln. Die Kategorien Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, nationale/ethnische Herkunft und soziale Schicht sind nicht als einheitliche Gruppenzugehörigkeiten zu bestimmen, sondern in ihrer Mehrdimensionalität und Überschneidung. Soziale Ein- und Ausschließungsprozesse von Frauen und Männern können kaum allein auf die Differenz der Geschlechter zurückgeführt werden, sondern zeigen sich in vielfältiger und komplexer Weise abhängig von weiteren sozialen Merkmalen und Voraussetzungen. Grunderkenntnis dieser sogenannten Intersektionalität ist, dass weder die Summe der Differenzen noch deren spezifische Hierarchisierung zu einer adäquaten Erklärung der Funktions- und Wirkungsweisen von sozialer Ungleichheit, Ein- und Ausschließung beitragen. Es geht nicht um eine Analogisierung von Differenzen, sondern Ziel ist, diese in ihren Überlagerungen, Überschneidungen und gegenseitigen Verstärkungen zu analysieren. Rudolf Leiprecht und Helma Lutz (2005), die diesen Ansatz wiederholt in die pädagogische Diskussion eingebracht haben, erweitern dabei die aus der USA stammende Debatte der feministischen ‚women of color‘ Bewegung über die Trias der Differenzen ‚Race, Class und Gender‘ um weitere Differenzlinien. Theoretischer Ausgangspunkt ist, dass Menschen im Schnittpunkt der sozialen Kategorien positioniert sind und ihre Identitäten, Loyalitäten und Präferenzen entwickeln (vgl. ebd.). Die Anschlussstellen und Verbindungsstücke für jeweils
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andere Differenzen und vor allem das Verhältnis zwischen den Differenzlinien müssen allerdings noch empirisch geklärt werden. Hier ist auf die Weiterentwicklung von Christine Walgenbach (2007) hinzuweisen, die überzeugend darauf aufmerksam macht, dass Kategorien bereits in sich heterogen konstituiert sind und nicht erst autonom aufeinander treffen bzw. sich überkreuzen. „Damit hat Gender keinen ‚genuinen Kern‘ mehr, der sich durch den Einfluss anderer Kategorien verändert, vielmehr wird Gender selbst als interdependente Kategorie gefasst“ (ebd., S. 61). So lautet die mich interessierende Frage: Wie hängt Geschlecht mit anderen Differenzen in der Erwachsenenbildung zusammen? Dieser Frage werde ich anhand von Ergebnissen aus zwei von mir durchgeführten Evaluationsstudien über Gender Mainstreaming in der Integrations- und Bildungsarbeit (konkret Orientierungskurse für neuzugewanderte Migranten und Migrantinnen in NordrheinWestfalen) nachgehen. Vor der näheren Vorstellung der Studien wird im Folgenden das Konzept der Integrations- und Orientierungskurse erläutert. 2
Integrations- und Orientierungskurse: (politische) Erwachsenbildung für Migranten und Migrantinnen
Allgemein gewinnt Erwachsenenbildung zunehmende Relevanz durch Anforderungen an das ‚lebenslange Lernen‘. Für bestimmte Personengruppen wird sie immer mehr zu einer Pflicht, so für Eingewanderte mit den durch das Zuwanderungsgesetz (2005) vorgeschriebenen Integrationskursen1, bei denen es sich um eine Bildungsmaßnahme handelt, die staatlich verordnet ist. Die durch vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) anerkannte Bildungsträger angebotenen Integrationskurse bestehen aus einem Sprach- (600-900 Stunden) und einem Orientierungskurs (30-45 Stunden), die jeweils mit einer Prüfung abzuschließen sind. Neben Neuzugewanderten können auch bereits seit mehr als zwei Jahren in Deutschland lebende Personen (‚Altzuwanderer‘) diese Kurse besuchen bzw. von der Ausländerbehörde zu einer Teilnahme unter Androhung von Leistungskürzungen verpflichtet werden. Die Kurse werden auch zielgruppenorientiert z.B. als Frauenintegrationskurse oder Jugendintegrationskurse angeboten. Hierzu liegt ein eigenes Unterrichtskonzept und Curriculum vor, das sich von dem des allgemeinen Integrationskurses unterscheidet (vgl. BAMF 2005 & 2007). Zugewanderte Frauen, die aus familiären oder kulturellen Gründen den allgemeinen Integrationskurs nicht besuchen können, sollen gezielt niederschwellig geworben werden. Mit dem Frauenintegrationskurs werden Mig1 Andere Beispiels sind etwa die nachzuweisende Teilnahme an Elterntrainings für sozial auffällig gewordene Mütter und Väter oder auch berufliche Trainingsmaßnahmen für Arbeitslose.
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rantinnen vor allem als Mütter und Ehefrauen angesprochen, ihnen wird eine besondere Multiplikatorenrolle, durch die sie nicht nur ihre eigene Integration, sondern vor allem die ihrer Familie voranbringen, zugetragen. Die Einführung von Integrationskursen ist kein deutsches Phänomen, sondern alle europäischen Mitgliedschaften setzen in unterschiedlicher Weise und Ausmaß sowie für unterschiedliche Zielgruppen auf verpflichtende Integrationskurse und zum Teil damit verbundene Sanktionen und Prüfungen (vgl. Feik 2003; Hentges 2008). Vor dem Hintergrund, dass gemäß europäischen Vereinbarungen die staatsbürgerliche Dimension in den Integrationsmaßnahmen betont werden soll (vgl. Hentges 2008, S. 24), sind diese Kurse als staatsbürgerliche, politische Bildung2 zu verstehen. Im Zuge der Debatten um das Zuwanderungsgesetz (2005) hat sich dementsprechend auch ein Modell der Integrations- und Orientierungskurse durchgesetzt, das neben dem Erwerb der deutschen Sprache auf die Vermittlung von Wissen über Rechtsordnung, Kultur und Geschichte Deutschlands (§43 ZWG; vgl. Bundesgesetzblatt 2004) abzielt. Die Integrationskurse und vor allem deren Umsetzung werden seit Anbeginn kritisiert (vgl. ausführlicher dazu Hentges 2008). So erschien bereits 2007 eine neue Integrationskursverordnung, nach der nun z.B. eine Öffnung für geduldete Flüchtlinge mit Bleiberechtsregelung möglich ist. Die Kritik richtete sich insbesondere auf die Orientierungskurse in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung. Hier standen sich zwei Modelle gegenüber – der staatsbürgerlich ausgerichtete deutschsprachige und der alltagsweltlich ausgerichtete herkunftssprachige Orientierungskurs (vgl. Gruber 2004; Kunz 2005). Die an Alltagsorientierung ausgerichteten Kurse bspw. in Nordrhein-Westfalen wurden direkt nach dem Beginn der Einreise und damit vor dem Erwerb der deutschen Sprache angeboten. Sie 3 finden sich bis heute unter der Bezeichnung ‚Kompasskurse‘ . Der Orientierungskurs nach dem Zuwanderungsgesetz erfolgt im Anschluss an den Deutschkurs, wird in deutscher Sprache durchgeführt, ist verpflichtend und schließt mit einem Test ab. Die Inhalte sind weniger alltagsweltlich (vgl. auch Kunz 2005), sondern sollen „Verständnis für das deutsche Staatswesen wecken“ und zu einer „positive[n] Bewertung des deutschen Staates“ bewegen (BAMF 2004; zitiert nach Hentges 2008, S. 23). Bildungsziel ist damit die Stärkung einer identifikatorischen Integration bzw. Assimilation in Deutschland. Hierzu zählt unter anderem – und nur bei den Richtlinien zu Frauenintegrationskursen konkretisiert – 2
Christine Zeuner (2006) attestiert den Integrationskursen eine „gewisse Theorielosigkeit“ (S. 80) und schlägt eine Anbindung an Konzepte der ‚citizenship education‘ vor. 3 Die ursprüngliche Bezeichnung lautete ‚Soziale Orientierungskurse‘. Vor dem Hintergrund, dass der Begriff oftmals in Zusammenhang mit den Orientierungskursen innerhalb der Integrationskurse gebraucht wird, erfolgte eine Umbenennung in ‚Kompasskurse‘, um eine Verwechslung mit den Kursen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zu vermeiden.
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die Akzeptanz und Orientierung an Gleichberechtigung im Geschlechterverhältnis. Ferner wird auch der Aspekt der interkulturellen Kompetenz betont. Eine Untersuchung von Frauenintegrationskursen im Rahmen einer studentischen Masterarbeit (vgl. Roeber 2009) ergab, dass die Kurszusammensetzung durch große Heterogenität geprägt ist. An den Kursen nahmen in der Regel Frauen aus vier bis sechs verschiedenen Herkunftsländern teil. Sie unterscheiden sich nach Alter und Aufenthaltsdauer sowie nach Bildungshintergrund. Je nach Herkunftsland haben sie zwischen zwei und zwölf Jahren eine Schule besucht. Auch die Deutschkenntnisse sind sehr unterschiedlich. Die in dieser Studie befragten Kursleiterinnen bewerten die Kursziele – Förderung der sprachlichen und beruflichen sowie politischen Integration – als kaum umsetzbar. Im Hinblick auf ein erfolgreiches Bestehen des Abschlusstests im Orientierungskurs tendieren Kursleiterinnen dazu, die Antworten vorzugeben und lernen zu lassen. „Eine nachhaltige Vermittlung des deutschen Staatswesens oder der deutschen Geschichte scheint im Rahmen des FIK kaum möglich“ (ebd., S. 88). Allerdings gelänge es, die Frauen bei der Bewältigung ihres alltäglichen Lebens zu unterstützen. Die Zielstellung der allgemeinen und frauenspezifischen Orientierungskurse ist deutlich assimilatorisch ausgelegt. Ein Prinzip politischer Bildung wird vernachlässigt, das der Kontroversität (vgl. Hentges 2008). Kritische Dialog- und Reflexionsfähigkeit4 stehen nicht im Vordergrund. Eine weitere Schwierigkeit liegt darin, wie auch die Ergebnisse der qualitativen Studie von Gudrun Hentges (ebd.) sehr anschaulich zeigen, eine Balance zwischen Wissensvermittlung einerseits und Lebens- und Alltagsweltbezug andererseits herzustellen. Diese ist jedoch unabdingbar, um Lernprozesse und das Verstehen komplexer gesellschaftlicher und sozialer Zusammenhänge anzuregen. Soll staatsbürgerliche, politische Bildung zu einer mündigen, gleichberechtigten und aktiven gesellschaftlichen wie sozialen Teilhabe in allen Lebensbereichen führen, sind Voraussetzungen (Motivation, Kompetenzen, Ressourcen) für ein selbstaktives Weiterlernen zu vermitteln, das wiederum für die Integration in die Aufnahmegesellschaft als konstitutiv gelten kann (vgl. Kammhuber & Thomas 2004).
4
Ob diese von den Lehrkräften dennoch gefördert wird, ist angesichts der Stundenzahl und auch der Qualifikation bzw. Vergütung anzuzweifeln. Zudem sind hier nicht zwingend Dozent(inn)en mit einer Qualifikation in der politischen Bildung tätig.
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Evaluationsstudien: Gender Mainstreaming in Kompass- und Erstorientierungskursen
Initiiert wurden die beiden Evaluationsstudien vom Kompetenzzentrum für Integration (vormals Landesstelle Unna-Massen für Aussiedler, Zuwanderer und ausländische Flüchtlinge) im Rahmen der 2003 beschlossenen Maßnahmen und Projekte zur Umsetzung von GM im Bundesland Nordrhein-Westfalen. Ziel der Studien war die Implementierung und wissenschaftliche Begleitung von Gender Mainstreaming in einer Maßnahme der Integrationsförderung, und zwar in den vom Kompetenzzentrum angebotenen Kompasskursen (vgl. Westphal & Kanne 2009) bzw. Erstorientierungskursen (Westphal & Niebuhr 2009), die in Ausrichtung und Zielstellung vergleichbar sind. Das Kompetenzzentrum für Integration (kurz: KfI) ist die zentrale (Erst-)Aufnahmestelle für Neuzugewanderte in Nordrhein-Westfalen, vorrangig für Spätaussiedler/innen, Familienangehörige und jüdische Kontingentflüchtlinge. Seit vielen Jahren (zeitlich weit vor und unabhängig von der Debatte um das Anfang 2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz) werden von dem KfI für Neuzugewanderte in NRW Kompasskurse durchgeführt, um eine erste allgemeine Orientierung in Deutschland zu ermöglichen. Im Juli 2005 wurde ebenfalls vom KfI das Pilotprogramm ‚Sozialtrainings für türkische Migranten und Migrantinnen‘ angeregt, das auf Ebene der Rahmenbedingungen, der Konzeption und des Inhalts an die Erfahrungen und Empfehlungen der Evaluationsstudie zum GM der Kompasskurse anknüpfte (vgl. ebd.). Wenngleich im Folgenden die Kompasskurse für Spätausgesiedelte, Familienangehörige und jüdische Kontingentflüchtlinge im Vordergrund stehen, fließen auch die auf türkischsprachige Migrant(inn)en ausgerichteten Erstorientierungskurse mit ein. 3.1
Kontext und Rahmenbedingungen
3.1.1 Die Kompasskurse des Kompetenzzentrums für Integration Die Kompasskurse des Kompetenzzentrums für Integration zielen darauf ab, den neu zugewanderten Personen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt über den Einstieg in alltagsrelevante Themenkomplexe und den Abbau von Informationsdefiziten bzw. Verunsicherungen das ‚Ankommen’ in der Aufnahmegesellschaft zu erleichtern und – oftmals in der Anfangsphase der Migration zu beobachtenden – irreversiblen Fehlschritten entgegenzuwirken. Die Entwicklung und Durchführung der Kurse ist wissenschaftlich begleitet worden (vgl. Gruber 2002 & 2004). Das von der Caritas, dem Deutschen Roten Kreuz und der Diakonie getragene Angebot umfasst 30 Unterrichtsstunden, die innerhalb von 5 Tagen ab-
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solviert werden und ist auf 15 bis 20 Personen ausgelegt. Sie werden von (unterschiedlich qualifizierten) Lehrkräften, die selbst einen (russischsprachigen) Migrationshintergrund haben und seit mehr als 10 Jahren in Deutschland leben, in der Erstsprache der Teilnehmerinnen und Teilnehmer durchgeführt. Die Unterrichtsmodule behandeln die Themen: Erlernen der deutschen Sprache, Wohnungsmarkt/-suche, Verbraucherkunde, Sozialversicherungssystem und Gesundheitswesen, Schule und Ausbildung, Berufs-/Arbeitswelt sowie Behörden und Ämter. Die wichtigsten Hinweise zu den einzelnen Modulen sind in einer von den Fachkräften sukzessiv entwickelten zweisprachigen Handreichung fixiert, auf der die Arbeit in den Kompasskursen überwiegend basiert und die als Unterrichts-/Nachschlagewerk für die Teilnehmer/innen dient. Bei den Zugewanderten genießen die Kurse einen sehr guten Ruf (vgl. ebd.; auch Westphal & Kanne 2009). Die Erstorientierungskurse für die Zielgruppe der Neuzugewanderten aus der Türkei gestalteten sich zunächst insofern schwieriger, als diese kaum zu erreichen waren. Von den an vier Standorten anvisierten 50 Kursen konnten insgesamt 32 Angebote realisiert werden, u.a. durch eine Öffnung der Kurse für türkischsprachige Migranten und Migrantinnen, die bereits länger in Deutschland leben. Der überwiegende Teil der Erstorientierungskurse fand zudem in geschlechtshomogenen Gruppen5 statt. Durchgeführt wurden sie in Moscheen, Räumen der jeweiligen Projektträger, alevitischen Vereinen, islamischen Bildungszentren und verschiedenen Einrichtungen (Kindergärten, Jugendzentren etc.). Vor dem Hintergrund der je lokalen Begebenheiten, vorhandenen Ressourcen (bspw. Personal, Räumlichkeiten), verschiedenen Kooperationspartnern und Bedürfnissen der Zielgruppe organisierte jeder Standort das Angebot auf unterschiedliche Art und Weise – in Seminarform, als Blockveranstaltung oder Intensivwochenende, ergänzt durch vertiefende Angebote und Exkursionen (z.B. Ausflüge, Vorträge von Gastdozent[inn]en). Auch hier wurde vom Gesamtprojekt eine zweisprachige Handreichung für die Teilnehmenden erarbeitet (vgl. hierzu Westphal & Niebuhr 2009).
5 Als Begründung führten die Projekte vielfach die gute Atmosphäre in geschlechtshomogenen Kursen an. Zum Teil war die Durchführung in reinen Frauengruppen eine Voraussetzung für eine Zusammenarbeit, insbesondere seitens islamischer Kooperationspartner, da in diesen Organisationen eine religiös motivierte Geschlechtertrennung erfolgt.
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3.1.2 Gender Mainstreaming in den Kompasskursen Gender Mainstreaming hat nach unserem Verständnis die Konstruktion(sprozesse) von Geschlecht und die Geschlechterrollenzuschreibung/-aneignung in ihrer Relationalität, Situationalität und Kontextualität (vgl. Herwartz-Emden 1999) zu analysieren und im Hinblick auf Gleichstellung zu verbessern. GM ist in der hier beschriebenen Maßnahme als ein ‚top down-Konzept‘ angelegt, das, ausgehend von den Führungsebenen (hier der Landesregierung), auf den untergeordneten Ebenen (hier des Kompetenzzentrums) eingeführt wird. Zwar wird dazu aufgefordert, auf allen Ebenen und in allen Arbeitsbereichen die Geschlechterperspektive einzubeziehen und Ungleichheit abzubauen, die Anlage dieses Projektes beschränkt sich jedoch auf einen Teilbereich – eben auf das Bildungs- und Integrationsangebot selbst. Das heißt, organisatorische Strukturen der Verwaltung bzw. des Zentrums sind nicht Gegenstand der Analyse. Im Folgenden steht die pädagogische Anlage im Vordergrund, insofern hier das Lernen von Gender(kompetenz) und ihre methodische-didaktische Vermittlung initiiert und kritisch reflektiert werden soll. Vorgegeben wird keine ausformulierte Zielstellung, an der sich die Organisation der Kurse und die Lehrkräfte orientieren. Angesichts dessen, dass das GM-Prinzip inhaltlich ‚gefüllt‘ werden muss, ist der Prozess der Zielfindung und Umsetzung dem (Teil-) Bereich selbst überlassen. Hier wurden die Lehr- und Fachkräfte von der wissenschaftlichen Begleitung unterstützt, durch die empirische Analyse der Lehr-Lernprozesse und durch eine begleitende Qualifizierung. In der Migrations-/Integrationsarbeit wird das Gender Mainstreaming Prinzip herausgefordert. Denn: Welche Frauen und Männer sind gemeint? Die Wahrnehmung der Chancengleichheit von Frauen und Männern mit Migrationshintergrund oder aus ethnischen Minderheitengruppen (wie auch ältere Menschen, Behindertengruppen) ist nicht selbstverständlich im Fokus (vgl. Gültekin 2005). Die Perspektive ist somit stärker auf die Differenzen innerhalb der Geschlechtergruppen und auf unterschiedlich kulturell, sozial und gesellschaftlich bestimmte Regeln für Frauen und Männer zu richten. Im interkulturellen Bereich wird die Vielschichtigkeit und Mehrdimensionalität der Kategorie Geschlecht besonders deutlich. Diese Kategorie oder Geschlechtergerechtigkeit als Bildungsthema einzuführen und dafür zu sensibilisieren, ist nicht einfach – sie kann mit unterschiedlichen, diffusen und widersprüchlichen Erwartungen wie Hoffnungen verknüpft sein. Nach Gerrit Kaschuba (2004) ist die Qualität innerhalb der Implementation von GM vor allem an der Sensibilisierung der beteiligten Personen, der Initiierung eines Reflexionsprozesses und dem fachlichen Nutzen festzumachen. In den Projekten ging es also um die Gender-Qualifizierung der Lehrkräfte, um die Integration der Geschlechterperspektive als Kursinhalt sowie um den Lernprozess der Teilnehmenden. Lernen sowohl für die Lehrkräfte als auch für
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die Teilnehmer/innen der Kompasskurse definieren wir als das Erkennen von subjektiv bedeutsamen Handlungsproblemen und die Vermittlung bzw. Aneignung von Voraussetzungen (Motivation, Kompetenzen, Ressourcen) für ein selbstaktives Weiterlernen. Lernen in den Kompasskursen wird als erfahrungsbildender Prozess verstanden, der das Einfache (Regelkonformität), Komplexe (Kontextwissen) und Reflexive (Umdenken, Perspektivenwechsel) umfasst (vgl. Bothfeld & Gronbach 2002). Besondere Relevanz erhält im Lehr- Lernprozess die Orientierung an den Kursteilnehmer(inne)n. Dabei sind Lernvoraussetzungen/-interessen, Methoden und Inhalte sowie äußere Kontextfaktoren aufeinander abzustimmen. Es kann daher keine strikten methodischen Vorgaben geben – für ein an die Lernenden angepasstes Agieren müssen die Lehrkräfte Hintergrundwissen entwickeln, da methodische Vorgehensweisen insbesondere auch im Migrationskontext je nach Sozialisation unterschiedliche Akzeptanz finden (vgl. Westphal & Kanne 2009). In diesem Zusammenhang ist der ‚heimliche Lehrplan‘ (vgl. bspw. DerichsKunstmann u.a. 1999) ein ebenso wichtiger Faktor. Dem Verhalten der Lehrkräfte und ihrer Unterrichtsgestaltung liegen oftmals stereotype Annahmen über die Geschlechter und ihre nationalen bzw. ethnischen Kulturen zugrunde, die nicht nur dazu führen, dass den Lernenden über den offiziellen Inhalt hinaus auch spezifische Geschlechterbilder übermittelt werden, sondern die sich zudem auf der Interaktionsebene auswirken. Zusammenfassend wird in den Projekten für die Kompasskurse die Intention verfolgt, beide Geschlechter gleichberechtigt und gleichwertig in das Unterrichtsgeschehen, die Materialien6 und Inhalte einzubeziehen, die Teilnehmenden in ihren spezifischen Lernbedürfnissen zu fördern und unterschiedliche Lernkulturen durch Methodenwechsel zu berücksichtigen, stereotype Geschlechterzuschreibungen zu unterlassen, die Verfestigung von Geschlechterstereotypen zu verhindern und über Geschlechterrollen zu reflektieren, auf konkreten Alltagsfragestellungen basierend Gespräche über eigene und neue Werte und Überzeugungsmuster zu ermöglichen, gerade in Bezug auf unterschiedliche Geschlechterzuschreibungen und Geschlechtervorstellungen, sowie
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Als Feinziele ergeben sich dabei die Verwendung einer geschlechtergerechten Sprache und der gleichwertige Einbezug von ‚weiblichen’ wie ‚männlichen’ Lebenswelten, die Berücksichtigung spezifischer Wahrnehmungsmuster und der Verschiedenheit innerhalb der Geschlechtergruppe; die Beachtung der äquivalenten Wertschätzung von Männern und Frauen, die sich in Themenauswahl/-aufbereitung zeigt wie auch deren Wirkung; der lebensweltliche, praktische Nutzen für beide Geschlechter sowie die Orientierung an Kriterien der Verständlichkeit (vgl. Westphal & Kanne 2009).
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differenzierte Sichtweisen auch innerhalb der Geschlechtergruppe zuzulassen, diese sichtbar zu machen und zu begünstigen. Die Herausforderung besteht dabei in der methodischen wie inhaltlichen Integration und nicht bloßen Addition des Geschlechteraspektes in die Kompasskurse. 3.2
Anlage der Studien
Die Grundlage der Evaluationsstudien bilden die drei Säulen Analyse, Implementation und Evaluation. Gender Mainstreaming ist prozessorientiert und schrittweise implementiert worden, jeweils aufbauend auf den Ergebnissen der wissenschaftlichen Analyse, der Reflexion und Zielbestimmung mit den Lehrkräften. Die Evaluation der Umsetzungen fand formativ, d.h. begleitend statt. Sensibilisierung und Reflexion der Lehrkräfte erfolgten in einer Einführungsveranstaltung, einem Gendertraining (im ersten Projekt), mehreren Zwischenergebnis- und schließlich einem Abschlussworkshop. Die Fachkräfte sollten zur Konzeption und Durchführung eines geschlechtergerechten Unterrichts befähigt und dabei motiviert werden, die angestoßene Entwicklung auch nach Abschluss der Pilotphase in ihrer beruflichen Tätigkeit fortzuführen. Inhalte der Genderfortbildung waren a) die Vermittlung von Wissen über Konstruktionsprozesse von Geschlecht, die Mehrdimensionalität von Geschlecht und Stereotype als Zuschreibungen/Positionierungen (und nicht Wesensmerkmale) einer Gruppe; die Verdeutlichung der Bedeutung von Geschlecht als Strukturkategorie und deren Auswirkungen auf einzelne Bereiche (Arbeitsmarkt, Gesundheitswesen etc.); das Aufzeigen von mit hierarchischen Geschlechterordnungen einhergehenden Diskriminierungen sowie die Kenntnis des heimlichen Lehrplans wie auch geschlechtergerechter Sprache, Methodik und Didaktik. Ferner ging es um b) die Entfaltung von Genderkompetenz durch Erkennen geschlechterbezogener Stereotype und Diskriminierungen und Möglichkeiten ihres Abbaus; die didaktisch-methodische Anerkennung von Vielfalt und Heterogenität sowie die Reflexion und Verbesserung des Unterrichtsgeschehens nach Genderkritierien. Die wissenschaftliche Analyse richtete sich dementsprechend auf die im Unterricht verwendeten Materialien (v.a. die Handreichung), thematisierten Inhalte und eingesetzten Methoden, auf das Verhalten der Lehrkräfte, die Beteiligung der Kursteilnehmer und -teilnehmerinnen, den Gruppenprozess der Fachkräfte sowie das Zusammenspiel von äußeren mit inneren Faktoren (Organisation, Austausch etc.) in den jeweiligen Projektphasen. Die Analyseergebnisse stützen sich auf folgende Datenerhebungsverfahren: Unterrichtsmaterialanalyse, Unterrichtsbeobachtungen, Teilnehmerinnenbefragungen, Selbstevaluationen sowie Einzel-
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und Gruppengespräche mit den Lehrkräften. Die Beobachtungen des Unterrichts wurden durch ein interkulturell zusammengesetztes Team7 vorgenommen, das Auswertungsteam bestand zeitweise aus mehreren (in-/externen) Personen (Studierende). Für den Verlauf des Gesamtprojektes war neben der Projektleitung eine Mitarbeiterin zuständig. Die an den Standards und Gütekriterien der empirischen Forschung orientierte wissenschaftliche Begleitung wurde auf den prozessorientierten und ganzheitlich-integrierten Ansatz im Sinne einer ‚formativen Evaluation‘ (vgl. Wottowa & Thierau 1998) abgestimmt. Im Rahmen dieses zyklischen Ablaufs von praktischer Feldarbeit und diskursiver Verständigung mit sich wiederholenden Phasen (bspw. „Planung – Handeln – Informationssammlung – Diskurs“ [Moser 1995, S. 106ff.]) fand im Projektverlauf ein regelmäßiger Austausch zwischen den Beteiligten und dem Evaluationsteam statt. Durch diesen permanenten Prozess des Hinterfragens, Freilegens und Bewusstmachens neuer Erkenntnisse und deren Umsetzung ergab sich ein zwischen Reflexion und Innovation wechselnder, spiralförmiger Arbeitsverlauf (vgl. auch Westphal & Niebuhr 2009). Die zu Beginn festgelegten Ziele wurden durch regelmäßige Treffen mit den beteiligten Personen, Auswertungen, Verdichtungen und Feedbacks an die Fachkräfte und deren Rückmeldungen sowie daraus resultierenden praktischen Konsequenzen von allen Beteiligten kontinuierlich modifiziert (vgl. Uhl, Ulich & Wenzel 2004). 3.3
Umgang mit Gender und Heterogenität im Projektverlauf
Im Folgenden soll auf den Aspekt des Umgangs mit Gender und Heterogenität im Projektverlauf von Gender Mainstreaming in Kompasskursen eingegangen werden8. Die Darstellung bezieht sich auf die Analyse der Unterrichtsmaterialien und -inhalte, der Unterrichtsbeobachtungen sowie auf die Bearbeitung der Gender-Thematik durch die Lehrkräfte. Wiederum stehen die Kompasskurse im Vordergrund und wird ergänzend auf die Erstorientierungskurse eingegangen.
7 Es bestand aus einer zwei- bzw. russischsprachigen Mitarbeiterin mit Migrationshintergrund und einer deutschsprachigen Mitarbeiterin, denen unterschiedliche Aufgaben zukamen, worauf in Fußnote 10 eingegangen wird. 8 Auf die Befunde in ihrer gesamten Breite gehen Westphal und Kanne (2009) bzw. Westphal und Niebuhr (2009) ausführlich ein.
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3.3.1 Unterrichtsmaterialien und -inhalte – Gender als Frauenförderung und Zielgruppenorientierung Die Datenanalyse der im Unterricht in den Kompasskursen eingesetzten Materialien war an der sog. ‚3-R-Methode‘ aus Schweden (BMFSFJ 2002) ausgerichtet, die qualitative und quantitative Elemente integriert. Gefragt wird hierbei nach der Repräsentation beziehungsweise der quantitativen Darstellung der Geschlechter (Anteil/Verteilung, geschlechtsspezifische/-neutrale Nennungen), der geschlechtsbezogenen und qualitativen Ausstattung mit Ressourcen (bspw. Geld) sowie nach den Realitäten, in die Normen und Werte Eingang finden, so zum Beispiel der Charakterisierung als ‚typisch männlich‘ resp. ‚weiblich‘ oder realen und symbolischen Wirkungen der Darbietungen (z.B. Hierarchien). Untersuchungsebenen der Materialien waren die Ebenen Sprache, Inhalt und Bilder. Wie die Analyse belegt, wies vor allem die in den Kursen eingesetzte Handreichung eine explizite Geschlechtsspezifik und eindeutig männliche Prägung auf: Frauen kamen in der sprachlichen Repräsentation kaum vor und weibliche Lebenszusammenhänge tauchten, wenn überhaupt, dann nur in Ableitung von allgemeinen-männlichen auf. Insgesamt herrschte eine starke Orientierung am Familienernährermodell respektive an der Versorgerehe vor, die bis zur Ausblendung eines großen Teils weiblich konnotierter Themen – wie Gesundheit und Körper, Kinderbetreuung, Vereinbarkeit von Beruf und Familie – reichte und das stereotype Männlichkeitsbild eher verstärkte. Dieses Resultat spiegelte sich schließlich auch in den beobachteten Kursen wider. So zeigte sich im Modul Berufs/Arbeitswelt, dass die Themen eindeutig auf den Mann als Alleinversorger ausgerichtet waren und überwiegend von Frauen ausgeübte Arbeitsformen (MiniJobs, Teilzeitarbeit) kaum Erwähnung fanden. Zugleich hat sich herauskristallisiert, dass von den Lehrkräften zwar genderrelevante Unterrichtsinhalte eingebracht wurden, doch lagen diese schwerpunktmäßig im Bereich Beruf/Familie und Frauen. Der Fokus richtete sich auf das weibliche Geschlecht und es wurde insbesondere an die Frauen zum Nachdenken über Geschlechterrollen appelliert. Dagegen fehlten Anregungen, Beispiele, Gesprächsanreize u.ä., die auch die Männer aufforderten und ermutigten, ihre Ansichten und Positionen zu Geschlecht zu reflektieren und sich auf neue Perspektiven einzulassen, fast gänzlich. Die zwar implizit vermittelte Botschaft war dennoch eindeutig zu vernehmen: Die Verantwortung für die Reflexion und Neugestaltung der Geschlechter- und Familienverhältnisse im Integrationsprozess fällt in den weiblichen Zuständigkeitsbereich. Diese Verkürzung lässt sich formelhaft in der Gleichung ‚Geschlecht = Frau‘ ausdrücken. Da wir zur Etablierung der angestrebten Gender-Diversität eine reine Addition und Deklination von Männerthemen für abwegig hielten (die lediglich neue Differenzen/Stereotype ergeben und zu einer vollständigen Überfrachtung des Unterrichts führen würden),
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suchten wir mit den Lehrkräften und Teilnehmenden nach gemeinsamen Themen, die an weiblichen und männlichen Lebenszusammenhängen ausgerichtet waren sowie die Perspektiven und Rollen der Männer (bspw. im Integrationsprozess) verdeutlichten. Auch in den Kursen für türkischsprachigen Migranten und Migrantinnen wurde Gender eher als Frauenförderung verstanden, insofern Frauen zunächst von allen Standorten als Zielgruppe favorisiert wurden – in ihren Projektkonzepten gingen sie davon aus, dass für Frauen aus geschlechtsspezifischen und kulturellen Gründen besondere Maßnahmen erforderlich sind, um ihnen eine Teilnahme zu ermöglichen (Kinderbetreuung, geschlechtshomogene Kurse, geschützte Räumlichkeiten etc.). Dementsprechend wurden niederschwellige Angebote entwickelt, um insbesondere im Rahmen der Familienzusammenführung neu zugewanderten Frauen auch tatsächlich zu erreichen. Entgegen diesen Erwartungen zeigte sich, dass sich mehrheitlich Frauen (N=322) und nur ein geringe Zahl an Männern (N=91) von dem Angebot angesprochen fühlte/n. Zudem wurde die starke Heterogenität der erreichten Frauen bezüglich verschiedener Merkmale deutlich. Es kristallisierten sich zwei Zielgruppen heraus, a) Frauen mit einem hohen Bildungshintergrund und beruflichen Ambitionen, die bereits in der Türkei einen hohen Schul- bzw. Bildungsabschluss (Gymnasium, Studium) erworben hatten oder (bspw. als Lehrerin, Abteilungsleiterin einer Firma) in einem hoch qualifizierten Berufsfeld tätig waren sowie b) Frauen mit einer stärkeren Familienbindung. Diese unterschiedlichen weiblichen Teilnehmerinnengruppen resultierten vorrangig aus den projektspezifischen Rahmenbedingungen, insbesondere je nach Akquisitionsstrategie. Die bildungs- und berufsorientierten Teilnehmerinnen, deren Informationsbedürfnis deutlich über eine Erstorientierung hinausging, wurden über bildungsbezogene Institutionen angesprochen und waren aufgrund der lokalen Begebenheiten (z.B. islamisches Bildungszentrum) auf die Aufnahme von Lerninhalten eingestellt. Im Vordergrund ihrer Motivation stand eine möglichst reibungslose, zügige berufliche Integration und (finanzielle) Unabhängigkeit. Sie wünschten sich einen effizienten, eher theoretischen Unterricht und fachlich gut qualifizierte Lehrkräfte. Die Frauen mit geringerem Bildungshintergrund, die sich teilweise bereits vor Kursbeginn aus anderen Angeboten (z.B. Frauengesprächskreisen) kannten und überwiegend über interkulturelle bzw. Migrantenorganisationen akquiriert wurden, zeigten einen hohen Bedarf an Gesprächen und persönlichem Austausch sowie psychosozialen Beratungsbedarf. Dieser Gruppe waren insbesondere eine angenehme Kursatmosphäre und Raum für Gespräche wichtig. Da sich zudem ein erheblicher Teil der Frauen in ihrem Alltag eher selten in Bildungszusammenhängen bewegte, waren die Lerninhalte entsprechend ‚einfach‘ aufzubereiten (vgl. Westphal & Niebuhr 2009).
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Vor dem Hintergrund, dass in Frauengruppen offensichtlich eine stärkere Polarisierung hinsichtlich bildungsbezogener Eingangsvoraussetzungen als in Männergruppen existiert (vgl. dazu auch die Ergebnisse von Schönwälder, Söhn & Michalowski 2005) sind spezielle Angebote auch für Frauen mit hohem Bildungshintergrund und Berufserfahrungen erforderlich. Eine niedrige Hemmschwelle (z.B. durch das Angebot von Frauenintegrationskursen) ist zwar bedeutsam, allerdings nicht über zu bewerten. Die oftmals angeführte Begründung, „je niedriger [hierbei] die Schwelle ist, welche Frauen überwinden müssen, um an einem Frauenkurs teilzunehmen, je weniger Unbekanntes dort auf sie wartet, desto eher werden sie kommen“ (Bartels 2006, S. 6) ist nur zum Teil folgerichtig. Die ungleich problematischere Akquisition und geringe Teilnahme männlicher Migranten ist kein unbekanntes Phänomen (vgl. bspw. Schönwälder u.a. 2005). Die Frage, ob die unterschiedliche Partizipation, wie häufig vermutet, mit geschlechtsspezifischen Differenzen in Bezug auf die Bedürfnisse, Interessen und mit dem Kursbesuch verbundenen Ziele in Verbindung steht, wurde in unserer Evaluationsstudie nicht erfasst, doch konnte sie in einer anderen Untersuchung (vgl. Landesregierung Schleswig-Holstein 2005) nicht bestätigt werden. Allerdings weichen offensichtlich die von Frauen und Männern angeführten Begründungen für die Nicht-Nutzung von Angeboten voneinander ab – Migranten führten den Faktor Erwerbstätigkeit deutlich häufiger an als Migrantinnen (vgl. ebd.). Für Männer scheinen andere, spezifische Teilnahmehürden zu existieren als für Frauen. Wie sich diese genau darstellen und mit welchen Förderangeboten zu deren Abbau beigetragen werden kann, ist eine offene Frage, die es vertieft auszuloten gilt. Einerseits muss potenziellen männlichen Teilnehmern offenbar der Nutzen und die Wichtigkeit einer Erstorientierung stärker verdeutlicht werden als Frauen. Andererseits ist auf die tatsächliche oder befürchtete Schwierigkeit der Männer, die Erstorientierungskurse zeitlich und sozial nicht mit einer Erwerbsarbeit und -orientierung in Einklang bringen zu können, einzugehen (vgl. Westphal & Niebuhr 2009). 3.3.2 Unterrichtsgestaltung und -methoden – Gender als ‚Zusatzthema‘ Die durchgeführten Beobachtungen zeigten einen Unterricht, in dem versuchte wurde, die Themen und Inhalte unter Zeitdruck sowie überwiegend frontal, kaum didaktisch aufbereitet, sehr abstrakt und theorielastig zu vermitteln. Auf Verständnissicherung, Diskussionen und/oder Reflexionen in der Lerngruppe wurde insgesamt oftmals verzichtet. Aus Sicht der Lehrkräfte forderten die Kursteilnehmer/innen vornehmlich ganz konkretes Wissen und fachliche Informationen und fühlten sich entsprechend aufgefordert, auf einem möglichst hohen Niveau zu unterrichten – was eine große ‚Stofffülle‘ und Klagen der Lehrenden
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über ‚Vermittlungsstress‘ (hier: in 30 Stunden möglichst ‚gut‘ über Deutschland zu informieren) bedingte. Dem Aspekt der mangelnden Zeit galt die meiste Unzufriedenheit. Er resultierte hauptsächlich aus der wahrgenommenen Themenfülle der zu vermittelnden Module – bei den Fachkräften entstand der Eindruck, das ‚Zusatzthema Gender‘ beschneide die vorhandene begrenzte Unterrichtszeit noch mehr, was zu Widerständen gegen GM führte. Vor diesem Hintergrund haben wir die Module deutlich entschlackt und zu vermitteln versucht, dass es sich bei Gender nicht um ein (extra im Unterricht zu behandelndes) Zusatz-, sondern ein Querschnittsthema handelt. Die Gestaltung der Kurse sollte sich daran neu ausrichten – weg von reiner Wissens-/Informationsvermittlung hin zu Lernförderung im Sinne der Anregung von Diskussionen, die Anlass zur Überprüfung der eigenen Standpunkte und den Blickwinkel für Neues öffnen. Eine bedeutsame Weiterentwicklung bedeutet hier die Förderung eines Einstellungswandels und der Methodensicherheit. Um die Vielfalt der Kursteilnehmenden sowie die Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Herkunfts- und Aufnahmeland sichtbar zu machen (Abbau von Stereotypen) sowie ein aktives und partizipatives Lernen zu ermöglichen, ist neben der Initiierung von Diskussionen die Vertiefung von entsprechenden Themen zentral. Hier boten sich diejenigen Themenbereiche an, welche die Aufmerksamkeit der Teilnehmerinnen und Teilnehmer über alle Module hinweg besonders stark auf sich zogen: Unterschiede zwischen den Lebenskontexten bzw. Integration und Geschlechterfragen. So hinterließen Diskussionen über die Rolle von Männern und Frauen, die dazu anregten, sich mit neuen, möglicherweise ungewohnten Bildern, Strukturen und Mustern der Aufnahmegesellschaft auseinanderzusetzen und sich zu diesen zu verhalten, einen deutlichen Reflexionsimpuls. Trotz aller Verbesserungen auf methodischem Gebiet blieben Vorbehalte und Unsicherheiten bestehen. Methoden sollten demnach konsequent so ausgesucht werden, dass sie die Kompetenz der Teilnehmenden bereits im Kursgeschehen stärken, d. h. ihre Ressourcen und Fragen aktivierend aufgreifen. Hier ist eine kontinuierliche Qualifizierung von Lehrkräften gefordert. Was die Beteiligung der Kursteilnehmenden am Unterricht betrifft, führten die Lehrkräfte eine hohe Anzahl an Beiträgen in erster Linie auf das Engagement von Frauen und der Gruppe der jüdischen Kontingentflüchtlinge zurück. Diese Vermutungen sind jedoch in unseren Aufzeichnungen nicht zu belegen. Mit Blick auf die weiblichen Teilnehmerinnen war eher das Gegenteil der Fall – in der Tendenz trugen die Männer häufiger durch Einwürfe, Fragen etc. zum Unterrichtsgeschehen bei. Die Annahme von Karin Derichs-Kunstmann u.a. (1999), Frauen würden zeitlich kürzer reden, aber mehr Gesprächsarbeit leisten, scheint zwar nahe liegend, muss jedoch mit Vorsicht betrachtet werden. So ist bspw. der Umstand einer Wahrnehmungsverzerrung bezüglich der Tonhöhen von Stimmen
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zu berücksichtigen. Allerdings neigten Frauen dazu, „die Männer“ zu erklären, vor allem bei weiblich konnotierten Themenbereichen. In solchen Situation haben einige Lehrkräfte interveniert und bewusst die männlichen Teilnehmenden zur Beantwortung der Fragen oder Anmerkungen motiviert. Die bei Kontingentflüchtlingen vermutete starke Unterrichtsbeteiligung ist angesichts eines relativ ausgewogenen Beteiligungsverhältnisses weder zurückzuweisen noch eindeutig zu bestätigen. 3.3.3 Bearbeitung der Gender-Thematik durch die Lehrkräfte – Inklusion, Exklusion und Vereinnahmung Wie die Resultate der Prozessanalyse zum Ende des Projektes zeigen, nahmen Unsicherheiten, Ängste und Befürchtungen der Lehrkräfte dem Pilotprojekt gegenüber insgesamt breiten Raum ein. So vermuteten sie bereits im Vorfeld, Frauen und Männer in getrennten Gruppen unterrichten zu müssen und nur noch auf Gender fokussieren zu dürfen. Dahinter verbarg sich die Sorge, Persönliches und/oder intime Dinge zu offenbaren. Gerade weil mit der Geschlechterfrage unter anderem auch das eigene Selbstbild und die eigene Identität angesprochen werden (vgl. Sommerkorn 1995), ist das Thematisieren ein problematisches Unterfangen. Zudem ist das Thema nicht interessensneutral – mit Geschlecht sind Annehmlichkeiten, Vorrechte und Privilegien verknüpft, deren Hinterfragen zu einer Abwehrhaltung führen kann (vgl. Liebsch 1995). Darüber hinaus fanden die Fachkräfte die an sie gestellten Anforderungen schwer verständlich. Für ‚Neulinge‘ ist Gender Mainstreaming nur schwer zu fassen, da es sich um einen Prozess handelt, der eine eigenständige Erarbeitung von Zielen und Inhalten durch die Beteiligten erfordert, was die erste Reaktion bzgl. der Unverständlichkeit verstärkt. Um eine Öffnung der Teilnehmenden zu erzielen, wird in der Literatur zu Gendertrainings die Bedeutung von Sensibilisierungen zu Beginn des GM-Prozesses immer wieder betont. Fraglich ist, ob damit nicht vielmehr das Gegenteil erreicht wird: Sensibilisierung soll die kognitive Bearbeitung der Geschlechterthematik einleiten und die Übernahme des GM-Prozesses forcieren, birgt jedoch eher Verunsicherungen und Abwehrreaktionen in sich. Hier ist eine Herangehensweise9 notwendig, bei der darauf geachtet wird, nicht nur die abstrakte Strategie vorzustellen und eine Sensibilisierung zu initiieren, sondern be9 Als effektiv hat sich in unserem Fall eine Einführung in die geschlechtergerechte Sprache und die damit verbundene Anweisung erwiesen, Teile der Handreichung dahingehend zu überprüfen und neu zu formulieren. Somit wurde Geschlechtergerechtigkeit greif- und annehmbar, denn das eigene Selbstbild blieb noch weitestgehend unberührt. Wie die Erfahrungen zu den Kompasskursen belegen, wird der GM-Prozess stärker gefördert, wenn schon in der einführenden Veranstaltung konkrete Handlungsanweisungen (die noch außerhalb der eigenen Geschlechtsthematik liegen) gegeben werden (vgl. Westphal & Kanne 2009).
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reits konkrete Inhalte zu erarbeiten, um Geschlechtergerechtigkeit annehmbar und vor allem handhabbar zu machen. Auffallend ist zudem gewesen, dass die Lehrenden die Bedeutung von Geschlecht in ihrer Wirkung sowohl auf Unterrichtsplanung und -gestaltung als auch auf Bedürfnisse, Aufgaben und Leistungen der Kursteilnehmenden geradezu tabuisierten. Sowohl die Inhalte als auch die Vermittlungsformen der Kompasskurse wurden neutral oder politisch-funktional begründet mit dem Lernziel der Integration in die bzw. des Zurechtfindens in der deutsche/n Gesellschaft. Die Fachkräfte problematisierten vielmehr die Gestaltung des Unterrichts und die Kurssituation entlang der Kategorien ‚soziale Herkunft‘ bzw. ‚Bildungsstatus‘ der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Dabei war zunächst eine deutliche Tendenz zur Harmonisierung und Homogenisierung von sowohl individuellen als auch geschlechtsbezogenen Differenzen zu erkennen. In ihren Selbst-/Fremdbeschreibungen nahmen sich Lehrende wie Kursteilnehmende in Abgrenzung zu den hiesigen Deutschen einheitlich und geschlossen als eine ethnisch-homogene Gruppe wahr, als „unsere Landsleute“. In der Ablehnung einer internen Differenzierung nach Geschlecht, beispielhaft in den Aussagen „wir sind alle gleich“, „dort waren wir gleich“, „hier sind wir gleich“ und „wir machen für alle gleich“, lässt sich das sozialistische Modell der Geschlechteregalität noch sehr deutlich vernehmen. Diese Stereotypisierung ließ deutliche Zweifel an der Sinnhaftigkeit von GM aufkommen und führte in Verbindung mit dem durch die Implementierung empfundenen Vermittlungsstress zu einem Widerstand der Lehrkräfte. Nachdem wir Geschlecht durch die Problematisierung analytisch eingeführt hatten und nachhaltig mit den Fachkräften an Verbesserungen arbeiteten, traten weitere Differenzierungen und Stereotypisierungen zu Tage. Die zunächst beharrlich als einheitliche konstruierte Teilnehmer/innengruppe „unsere Landsleute“ mit dem Herkunftsmerkmal ‚Russland‘ untergliederte sich als Ergebnis von den die Unterschiede übermäßig betonenden Abgrenzungsprozessen nun in deutsche Spätausgesiedelte und jüdische Kontingentflüchtlinge. Letztere wurden wiederum mit deutlichen antisemitischen Äußerungen außerhalb des formellen Lernsettings (bspw. ‚Küchengesprächen‘) unterlegt. Entlang dieser neu eingeführten Differenz(ierung) wurde die Bedeutung von Intersektionalität im Kursgeschehen respektive für die Kursproblematik Stress und Theorielastigkeit besonders deutlich. Hinter dieser Wahrnehmung und Thematisierung verbarg sich die Konstruktion unterschiedlicher Gruppen von Teilnehmenden beziehungsweise Bildungstypen, die sich in folgenden Formeln festhalten lassen:
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Ethnizität + Bildung + Geschlecht + Anpassung/Integration = Bildungsverhalten Jüdische Kontingentflüchtlinge – hoher Bildungsstand – modernes Geschlechterverständnis – streben nach herausfordernden Tätigkeiten (und/oder nehmen Sozialhilfe) Î sind im Unterricht anspruchsvoll und auf einem hohem Niveau. Russlanddeutsche Spätaussiedler/innen – geringer Bildungsstand – traditionelles Geschlechterverständnis – wollen dem Staat nicht zur Last fallen Î sind im Unterricht zurückhaltend und/oder trauen sich nicht.
Der anfänglich dem Gender Mainstreaming zugeschriebene Zeitmangel und Vermittlungsstress wurde nun auf die unterschiedlichen Bildungsniveaus der Migrant(inn)en übertragen und den ‚Ansprüchen‘ der jüdischen Kontingentflüchtlingen angelastet. In den sich anschließenden Beobachtungen der Kurse und Befragungen der Teilnehmer/innen waren diese Grundüberzeugungen der Lehrkräfte zum Unterrichtsgeschehen nicht zu bestätigen (vgl. bspw. die Ergebnisse zur Unterrichtsbeteiligung weiter oben) und konnten so als stereotype Annahmen über die Verschiedenheit der Statusgruppen sowohl reflektiert als auch aufgelöst werden. Diese normierenden Differenzkonstruktionen ließen es erst gar nicht zu, die Heterogenität und Pluralität in den eigenen Lebensentwürfen als Lehrende und denen der Lerngruppe wahrzunehmen und anzuerkennen. Sie verschleierten und verdeckten vielmehr die fehlenden ‚fachlichen‘, zeitlichen und finanziellen Ressourcen der Lehrkräfte in der Bearbeitung der Problemstellung Kompasskurse. Auch zeigte sich, dass das Genderlernen der Lehrkräfte ein sich über mehrere Ebenen vollziehender Prozess ist. Dabei setzt dann ein Transfer erst dann ein, wenn das Wissen und Verstehen des Gelernten in neuen Situationen und/oder auf eine neuartige Weise angewendet werden kann. Bei den Lehrkräften konnte dieser ansatzweise festgestellt werden, insofern sie beschrieben, dass sie versucht haben, „den Unterricht mit den Augen der Teilnehmenden zu sehen“ (Westphal & Kanne 2009, S. 47). Nach dem ‚Erkennen‘ des Erwünschten kann zwar eine Veränderung der Praxis erfolgen, was bei dazu verpflichteten Schulungsteilnehmer(inne)n bereits einen großen Erfolg darstellt, doch wird erst in dem Moment Genderkompetenz erworben, in dem die eigene Perspektive und die Wahrnehmung auf Geschlechtergerechtigkeit erweitert worden ist. In diesem Zusammenhang sind die mit dem Evaluationsverfahren (im Sinne einer ‚Bewertung‘) einhergehenden Gruppendynamiken zu berücksichtigen, die zugleich als interkulturelle Beziehungsdynamiken beschrieben werden können. So befürchteten die Lehrkräfte, im Rahmen der Unterrichtsbeobachtungen aufgrund der fehlenden russischen Sprachkenntnisse einer der beiden Beobachterinnen des interkulturell zusammengesetzten Teams ungerecht oder nicht ihren Anstrengungen gemäß beurteilt zu werden. Diese Besorgnis konnte selbst durch
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eine Aufklärung über die mit der Zusammensetzung angestrebte Fokussierung10 auf die Geschlechterthematik nicht gänzlich aufgelöst werden. Daneben waren wechselseitige Gruppenbildungsprozesse zu beobachten. Die zwei- bzw. russischsprachige Mitarbeiterin wurde zunächst regelrecht ‚vereinnahmt‘, da sie im Gegensatz zur sonstigen wissenschaftlichen Begleitung als Spätaussiedlerin einen Migrationshintergrund hatte. Aus dem anfänglich gesteigerten Interesse (bzgl. Bildungsweg, Integration etc.) wurden im Projektverlauf Zweifel an deren muttersprachlichen (!) Kompetenzen im Besonderen und Qualifikationen im Allgemeinen, was sich für die Mitarbeiterin selbst äußerst problematisch gestaltete. Deutlich wird vor diesem Hintergrund, dass es neben einer hohen Selbstreflexion, Dialogbereitschaft und Perspektivenerweiterung seitens der Lehrkräfte eben vor allem auch organisatorischer Konsequenzen bedarf: Die Entschlackung des Curriculums zugunsten von mehr Zeit für Reflexionen und Diskussionen mit den Kursteilnehmenden, die Vielfalt an Methoden, die Arbeit mit Gruppen, die Anleitung selbstorganisierter Lernprozesse, die Selbstevaluation und die Veränderung der Rahmenbedingungen (z.B. Kursräume, Trägerstrukturen, Arbeitsverträge). 4
Fazit: Die Intersektionalitätsperspektive als methodisch herausragende Fragestellung
Um die Handlungsweisen in der lokalen Praxis des spezifischen Lernkontextes der Kompasskurse als Folge von Wechselwirkungen organisatorischer Anforderungen und Differenzbearbeitung analysieren zu können, haben wir in unserer Evaluationsstudie auf methodischer Ebene die Intersektionalitätsperspektive eingenommen und eine intrakategoriale Zugangsweise verfolgt. Das heißt, die Frage von Intersektionalität wurde entlang der Kategorie Geschlecht analysiert, jedoch in einem stark von Nationalität/Ethnizität und Kultur/Sprache geprägten Feld mit deutlicher Asymmetrie, bedingt durch die Orientierung bzw. Anpassung der Minderheit an die Mehrheitsgesellschaft. Die bisherigen Ausführungen belegen, wie Differenzkategorien mit institutionellen Praxen – hier in der der Integrationsarbeit mit Migrant(inn)en – heterogen erzeugt und gestaltet werden: Eine intersektionale Haltung, wie wir sie im Pilotprojekt eingenommen haben, fragt 10 Die zwei- bzw. russischsprachige Beobachterin richtete ihren Fokus speziell auf Inhalte des Unterrichts und Beispiele, welche die Fachkräfte den Kursteilnehmenden zur Verdeutlichung nannten; zudem führte sie mit selbigen in den Pausen informelle Gespräche über Erwartungen, Unsicherheiten und fehlende Bereiche durch. Die zweite deutschsprachige Beobachterin verfolgte die Unterrichtsgestaltung vorrangig hinsichtlich der Methoden und Materialien.
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nach den je kontextspezifischen Konfigurationen in der Vermittlung und Aneignung, sowie Verhinderung von Lernprozessen. Die Intersektionalitätsperspektive ist eine methodisch herausragende Fragestellung, und zwar nicht nur für die interkulturelle Bildungsforschung, sondern auch für die Bildungspraxis sowie deren wissenschaftliche Reflexion. Die theoretischen Erkenntnisse und Einsichten der Intersektionalitätsperspektive sind insofern nicht neu, als sie an Debatten über die Konstruktion von Geschlecht und doing difference anschließen. Sedef Gümen (1994) hat bereits darauf hingewiesen, dass die Erkenntnis, der sozialen Konstruktion von Geschlecht in sozialen und historisch spezifischen Kontexten bedeutet, dass das Soziale bereits mit anderen gesellschaftlichen Prozessen interagiert. Neu ist aus meiner Sicht zunächst einmal die konsequente Erkenntnis von verschiedenen Differenzen als soziale Konstruktionen und der Möglichkeiten ihrer Verschiebungen, Verflüssigungen und damit Überwindungen (von Homogenitätsvorstellungen). Neu ist auch das Bemühen um eine angemessene Erfassung von Heterogenität, Vielfalt und Differenz als soziale Praxis – und eben nicht als Resultat universeller Kategorien wie Geschlecht. Darüber hinaus halte ich die Perspektive als außerordentlich produktiv für Praxiszusammenhänge. Überzeugend scheint mir der Ansatz zu sein, die bisher vorliegenden „Theorien und Erkenntnisse über Differenzlinien und ihre Genese und Geltung an Schnittpunkten für eine untersuchende Haltung in der pädagogischen Arbeit zu nutzen“ (Leiprecht & Lutz 2005, S. 225). Für die empirische Forschung sehe ich allerdings noch viele offene Stellen. Bislang liegt eine nur geringe Anzahl an Studien vor und diese wenigen beschäftigen sich fast ausschließlich mit zwei Differenzkategorien: Ethnizität und Geschlecht. Schon die Trias ‚Race – Class – Gender’ wird kaum fundiert untersucht. Ein Vorteil der hierzulande eher vorliegenden biografisch-rekonstruktiven Untersuchungen ist, dass Differenzen in ihren biografischen Entwicklungszusammenhängen und kontextuellen Bedeutsamkeiten generiert sowie subjekttheoretische Bezüge und Verortungszusammenhänge herausgearbeitet werden. Nachteile sehe ich, insofern diese Verfahren strukturelle Regelmäßigkeiten, institutionelle Routinen und systematische Organisationserfordernisse und -praxen nur selten erfassen und beschreiben können. Hier fehlt es noch erheblich an der Verbindung subjektiver und struktureller, institutionell-organisatorischer Einsichten. Die Erkenntnis der Intersektionalitätsperspektive, dass die interaktive und intersubjektive Hervorbringung von Differenzen soziale Felder konfiguriert und sich in institutionellen Praktiken verdichtet, ist für diese Verbindung offensichtlich ertragreich. Wie Intersektionalität empirisch durchzuhalten ist, wird bislang erst ansatzweise diskutiert. Unterschiede werden bspw. in intrakategorialen und interkate-
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gorialen Zugängen und Forschungsstrategien gesehen (vgl. McCall 2005). Intrakategorial beginnt mit einem ‚intersectional core‘ (Einzelgruppe, Ereignis, Konzept, Material), arbeitet sich von Kategorie zu Kategorie vor und entwirrt bzw. entblättert den Einfluss der anderen Kategorien und deren Verschränkungen. Interkategoriale Zugänge versuchen, die Differenzen gleichzeitig in den Blick zu nehmen, meist durch quantitativ vergleichende Studien (Mehrebenenmodelle). In eigenen empirischen Forschungen im FAFRA Projekt haben wir (vgl. HerwartzEmden 2000) erfahren, wie mühsam und aufwendig die Erforschung und Erfassung von Intersektionalität ist. Um die Fragestellung nach dem Wandel von Geschlecht in Folge von Migration zu erfassen, entwickelten wir ein Design, in dem drei politisch-rechtliche (Aussiedlerinnen, Arbeitsmigrantinnen, Einheimische) und nach Herkunft unterschiedliche Gruppen (Russland, Türkei, Westdeutsche) entlang verschiedener Genderdimensionen analysiert und verglichen wurden. Insbesondere die standardisierte Untersuchung und die Frage der Itemkonstruktion (wird mit den Frageinhalten und der Sprache Dasselbe oder Vergleichbares gemessen?) war ein schwieriges Unterfangen, das methodische Kreativität, Triangulation, Perspektivenwechsel und Verschränkungen verlangte. Alle Differenzen gleichzeitig und in ihrer Verwobenheit auf Mikro- und Makroebene in den Blick zu nehmen, überfordert schlicht jedes noch so exzellente Forschungsteam. Ich halte es daher für sinnvoll, durchaus mit der Untersuchung einer einzigen Differenzkategorie zu beginnen, also intra-kategorial, und entlang dieser Kategorie systematisch Bezüge, Anbindungen, Interdependenzen zu weiteren relevanten Kategorien zu erforschen. Die Frage, mit welcher Kategorie zu beginnen ist, also Auswahl und Gewichtung der Kategorien, ist theoriegeleitet bzw. vom Erkenntnisinteresse oder vom Material her zu entscheiden. 5
Ausblick
Die Heterogenität der Zuwanderungsgruppen und die Intersektionalität von sozialen Kategorien stellen die Erwachsenenbildung (nicht nur) im Bereich von Migration und Integration vor besondere Herausforderungen. Definiert wird Integration dem Zuwanderungsgesetz zufolge als gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Leben. Allerdings wird die Realität in der deutschen Einwanderungsgesellschaft durch eine Vielzahl von Problemen und Konflikten bestimmt, die sich in verschiedenen Formen von sozialer Ungleichheit und Ungleichbehandlung manifestiert, wobei Diskriminierungen vielfach auf Merkmale wie Geschlecht, Hautfarbe, ethnischnationale Herkunft, religiöse Zugehörigkeit oder den Lebensstil rekurrieren. Auch vor Institutionen und den in Integrationsarbeitsfeldern Tätigen macht die
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Einordnung und Stereotypisierung entlang von Geschlecht und nationaler bzw. ethnischer Herkunft nicht halt. So ist hervorzuheben, dass nur aus dem Vorhandensein eines Migrationshintergrundes sich noch längst keine interkulturellen Handlungskompetenzen und beruflichen Qualifikationen ergeben (vgl. Gaitanides 1999; Herwartz-Emden u.a. 2008). Sowohl im inter- als auch im intrakulturellen Bereich angesiedelte Beziehungsdynamiken wie die Vereinnahmung der Kursteilnehmenden als „unsere Landsleute“ spielen, wie in unserer Studie, eine große Rolle. Für die Migrations- und Integrationsarbeit sind somit die Initiierung eines Gender-Cultural-Mainstreaming (oder auch Diversity) Prozesses und die Förderung der interkulturellen Gender-Kompetenz der Fachkräfte unabdingbar. Hierzu zählen insbesondere folgende Aspekte: Eine interkulturell bzw. heterogen ausgewogene Zusammensetzung der Teams, ein kontinuierlicher Austausch des Fachpersonals hinsichtlich der Umsetzung und Weiterentwicklung der Arbeitsfelder nach Kriterien der Geschlechtergerechtigkeit und Antidiskriminierung, sowie eine Veränderung der Organisationsstrukturen und -kulturen. Mit Gender Mainstreaming sind Methoden und Instrumente verfügbar, die einen elementaren Beitrag zu einer differenzierten Analyse dieses Bereiches und ausgewogenen Maßnahmen leisten (können), jedoch auch einer Weiterentwicklung und kritischen Überprüfung bedürfen. Die von uns evaluierten Kompasskurse beschreiten einen innovativen Weg, indem mit den Teilnehmer(inne)n gemeinsam Fragen der Alltagsorganisation erarbeitet und Erwartungen der Aufnahmegesellschaft ebenso diskutiert werden wie Irritierendes und Widersprüchliches. In den vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge im Rahmen der erlassenen Richtlinien zu Einstellungsvoraussetzungen von Lehrkräften und Inhalten von Basisqualifizierungen formulierten Unterrichtseinheiten für Integrationskurse sind unter anderem ‚Heterogenität und Binnendifferenzierung‘ sowie ‚interkulturelles Lernen‘ angesprochen (vgl. Goethe-Institut Deutschland 2009), inwieweit Geschlechtergerechtigkeit ein Thema darstellt, ist dagegen nicht ersichtlich. Um Stereotypisierungen zu vermeiden und die Vielfalt zwischen den und innerhalb der Geschlechtergruppen zu erkennen, muss, und dies ist an dieser Stelle besonders zu betonen, interkulturelle Kompetenz auch Gender-Kompetenzen und umgekehrt umfassen.
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Hildegard Macha
Geschlecht und Erziehung in Familien und die doppelte Entgrenzung
Einleitung Die wissenschaftliche Forschung zum Thema ‚Geschlecht und Erziehung in Familien‘ umfasst die Geschlechterrollen in der Familie ebenso wie die Einflüsse, die aufgrund des Geschlechts auf die Familienmitglieder ausgeübt werden. Wie auch das Thema Familie allgemein in der Erziehungswissenschaft ist dies lange Zeit ein Forschungsdesiderat gewesen. Die Handbücher und Veröffentlichungen der jüngsten Zeit zeugen von einem erwachenden Interesse der Forschung an Familie (Andresen & Rendtorff 2006; Ecarius 2007; Horn 2006; Macha & Witzke 2008a, 2008b & 2009; Micus-Loos & Schütze 2004; Rendtorff 2006), das auch die gesellschaftliche Brisanz des Themas widerspiegelt. Familien sind heute durch ganz unterschiedliche Problemlagen belastet: die Wirtschaftskrise und die drohende Arbeitslosigkeit, die Probleme beim Heranwachsen der Jugendlichen und die geschlechtstypischen Benachteiligungen in der Schule sind nur einige davon. Die Heterogenität der Familien zeigt sich in Bezug auf neue Schichtungsprozesse in der Gesellschaft, bei der die Kluft zwischen Armut und Reichtum sich verschärft. So leben beispielsweise ca. 2.5 Millionen Kinder in ihren Familien unterhalb der Armutsgrenze (vgl. BMFSFJ 2008). Ungleichheit ist in Deutschland dadurch gekennzeichnet, dass schon sehr früh in Familien über Bildungs- und Berufschancen entschieden wird: Es hängt von der sozialen Schicht ab, wie Chancen verteilt werden. Das belegen die vergleichenden PISA-Studien seit Jahren (vgl. PISA-Konsortium Deutschland 2007). Auch entlang der Geschlechterlinie werden dabei in Segregationsprozessen soziale Chancen ungleich verteilt. Insofern ist Familie ein Thema mit hoher Relevanz für die Heterogenität der Geschlechter in Bezug auf die Verteilung von Bildungschancen, Macht, gesellschaftliche Positionen und nicht zuletzt sexuelle Ausbeutung. Systematische Ungleichheiten in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe, wie sie unter Bezug auf den Begriff Heterogenität diskutiert werden, sind unter anderem die Selektion über askriptive Merkmale wie Geschlecht und eth-
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Hildegard Macha
nische und/oder soziale Herkunft. Dabei kann man von einer dreifachen Diskriminierung durch Geschlecht, soziale und/oder ethnische Herkunft sprechen. Wichtige Bildungsreserven bleiben dabei ungenutzt, wenn nicht die Potentiale der Lernenden berücksichtigt werden, sondern nach Geschlecht und sozialer/ethnischer Herkunft selektiert wird1. 1
Systemische Theorie der Familie und das Geschlecht
Eine erziehungswissenschaftliche Theorie der Familie betont zunächst die Erziehungs- und Bildungsaufgabe der Eltern, die unverzichtbar ist für einen gesunden und ungestörten Entwicklungsprozess der Kinder. Grundbedürfnisse der Kinder und Eltern können im Rahmen der Familie sehr gut befriedigt werden. Diese sind unter anderem Geborgenheit, Liebe, Zuwendung, Förderung der Sinne und Emotionen sowie Anregungen zur kognitiven Entwicklung, aber auch interaktive und kommunikative Kompetenzen, Freude und Spaß an der Natur, körperlicher Bewegung und Lebensstrategien. Aus erziehungswissenschaftlicher Sicht grundlegende Aspekte einer Definition von Familie sind (1.) der Generationenunterschied und die Verantwortung der älteren für die jüngere Generation in Bezug auf Erziehung und Bildung (vgl. Ecarius 2007; Macha 2006) sowie (2.) der Geschlechterunterschied und (3.) der staatliche Schutz der Kinder und der Familie (vgl. BMFSFJ 2006). Familie kann insofern definiert werden als eine Gruppe von Menschen, in der die ältere für die jüngere Generation intentional, das heißt aufgrund bewusster oder unbewusster Erziehungsziele und -leitvorstellungen für die einzelnen Kinder, die Erziehungsund Bildungsaufgabe wahrnimmt (vgl. Macha 1997). Dabei kann der Möglichkeit nach intentional jedes Kind mit seinen Bedürfnissen individuell wahrgenommen und in seiner Individualität gefördert werden – mit seinen je spezifischen Potentialen, Kompetenzen und Entwicklungsperspektiven. Dabei müssen Eltern jedoch auch die Balance von Zuviel und Zuwenig und einer guten Abgrenzung von Liebe und Zuwendung, sowie auf der anderen Seite Grenzen und Abgrenzung in der Erziehung gut handhaben können (vgl. Rogge 2009). Familie genießt einen staatlichen Schutz insofern, als Institutionen die Erziehung unterstützen und Fehlentwicklungen aufgefangen werden. Das Geschlecht ist konstitutiv für Familie in jeder Form, denn es gibt der Möglichkeit nach immer zwei Geschlechter, das eine gebärend, das andere zeugend. Familie ist ein System, in dem jedes Familienmitglied Einfluss nimmt, 1
Im vorliegenden Beitrag steht die Ungleichheitsdimension Geschlecht im Vordergrund, zum Zusammenhang von ethnischer Herkunft, Familie und Geschlecht siehe bspw. Herwartz-Emden (Hrsg.) (2000).
Geschlecht und Erziehung in Familien
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unabhängig von Alter und Entwicklungsstand (vgl. Macha 1997; 2009). Entlang der Geschlechterlinie kann man Subsysteme nach Rollen und Funktionen innerhalb der Familie unterscheiden: Das zweigeschlechtliche Elternsystem, das weibliche System aus Mutter und Tochter, das männliche System aus Vater und Sohn. Es kann sich bei den Verantwortlichen für die Erziehung um leibliche Eltern oder auch andere Formen der Erziehungsverantwortung handeln, denn es gibt heute vielfältige Familienformen. Neben der biologischen Kernfamilie existieren unter anderem auch Patchwork-Familien mit Zweit- oder Mehrehen, oder Adoptivfamilien. Die Ehe ist dabei nicht mehr immer die Basis des Familienverbundes (vgl. BMFSFJ 2006). Die Erziehungs- und Bildungsaufgabe mit dem Ziel der moralischen Orientierung sowie die gesellschaftliche Platzierung sind die wichtigsten Aufgaben der Familie in erziehungswissenschaftlicher Sicht (vgl. Macha 2009). Die Orientierungsaufgabe der Eltern bedeutet, anhand von Werten, Normen und Regeln auf die Bildung von religiösen oder Sinnsystemen bei Kindern hinzuwirken und damit auch Kohäsion im Sinne eines verbindenden Wir-Gefühls in der Familie zu bewirken (vgl. Giddens 1997; Macha 2004a). Kohäsion drückt ein gemeinsames Wertgefühl und einen Lebenssinn der Familie aus, in dem das einzelne Familienmitglied sich positionieren kann und Sicherheit für seine Identitätsentwicklung findet. Die Familie bezieht sich ihrerseits auf Wertsysteme und Strukturen von Gesellschaft. Es gibt jedoch auch viele Abweichungen von der möglichen guten Erziehungspraxis, doch dies ist die ideale positive Zielvorstellung. Familie ist ein Interaktionssystem. In Interaktionen werden die Erziehungshandlungen vollzogen und die Regeln und Normen verdeutlicht. Es sind in diesem Zusammenhang die Begriffe Interdependenz und Interferenz wichtig, die sich auf die Ausgestaltung der innerfamilialen Bindungen und der Interaktion beziehen. Interdependenz bezeichnet die gegenseitige Verbundenheit und Abhängigkeit aller Familienmitglieder voneinander, Interferenz die Wechselwirkungen, die alle Mitglieder aufeinander ausüben, wobei die Interferenzen den Mehrwert an Erfahrungen ausmachen, die ein Individuum in der Familie erwerben kann. Die Qualität der Familienbeziehungen (vgl. Gerris & Grundmann 2002; Walper 2001) ist abhängig vom Erziehungsstil der Eltern. Die Reziprozität der Kommunikation und ein autoritativer Erziehungsstil gelten als maßgeblich für eine erfolgreiche Erziehung (vgl. Schneewind 2000). In den Interferenzen der Interaktion werden die biographischen Identitäten der einzelnen Familienmitglieder geformt und sie bilden auch in der Bezugnahme aufeinander eine ‚Familienbiographie‘ (vgl. Macha & Witzke 2008a & b). Sie wird hier definiert als Ko-Konstruktion, also als gemeinsamer Entwicklungsprozess der Familienmitglieder, über den sie sich wechselseitig narrativ austauschen und den sie auf diese Weise gemeinsam entwickeln, in steter Interaktion,
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aber auch in Abgrenzung voneinander und von der Familie (vgl. Fiese & Samaroff 1999; Fiese & Spagnola 2005; Fthenakis 2003; Leu & Krappmann 1999; Macha & Witzke 2007, 2008a & b; Valsiner 1988; Winek 1998). Auf diese KoKonstruktion der Familie nimmt jedes Familienmitglied in gleicher Bedeutung Einfluss (vgl. Fiese 2006; Fiese & Samaroff 1999; Fiese & Spagnola 2005; Valsiner 1988; Winek 1998). Die Rollen und die Stellung der einzelnen Mitglieder innerhalb der Familie werden in der Interaktion definiert, ebenso die Geschlechterrollen. Familie ist auch ein narratives Patchwork des Erlebens und Erinnerns aus den je unterschiedlichen Blickwinkeln der Familienmitglieder, die zu einer gemeinsamen narrativen Ko-Konstruktion zusammengefügt werden kann, so instabil und wechselhaft sie auch sein mag (vgl. Fiese & Spagnola 2005; Macha & Witzke 2007). Interaktion (vgl. Gerris & Grundmann 2002), Interferenzen (vgl. Huschke-Rhein 2003) und Ko-Konstruktionen gelten dabei als die zentralen Annahmen zur Entstehung der Familiendynamik. Diese gemeinsamen Erfahrungen stellen biographisch überdauernde Bindungen dar, die zwar von individuell unterschiedlich erlebter Qualität sein können, die aber lebenslang die Modelle für Verhalten beeinflussen. Das Geschlecht mit den konnotierten Normen ist dabei eine der definitorischen Vorgaben im Alltag. Die Transformation der Familie, ihre innere Dynamik, ist auch bestimmt durch Deutungsmuster und Konstrukte von Geschlecht und den möglichen Rollen in der Familie und im Beruf, eingeschlossen die Geschlechterordnungen des male-breadwinner/female-housekeeper-Modells oder egalitärer Geschlechterrollen. Diese Rollen werden alltäglich neu verhandelt und austariert. Die Veränderungsdynamiken, ausgelöst durch den gesellschaftlichen Wandel, werden auch in den Familien diskutiert und definiert. Die Kontextuierung der Familie in der gesellschaftlichen Realität bewirkt eine Reproduktion von neuen Formen der Beziehung und der Arbeitsteilung in der reflexiven Moderne (vgl. Beck & Lau 2004). Bildung in Familien wird definiert als der Prozess der Entwicklung von SachSelbst- und Sozialkompetenz der einzelnen Familienmitglieder, der ein Leben lang anhält, und damit auch als Potenzialentwicklung der Einzelnen und der Familie als Ganzem. Auch das Geschlecht ist in diesem Zusammenhang relevant. Eltern sind Modelle für geschlechtstypisches Handeln der Kinder. Väter und Mütter besetzen die männliche und weibliche Rolle und stellen auch in der Abwesenheit ein erstes und ein Leben lang wichtigstes Modell für Väter/Mütter und die Geschlechtsrollen für die Kinder dar. In der soziologischen Tradition Bourdieus wird Bildung als Transmission von kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital verstanden. Für Büchner und seine Forschungsgruppe ist dies der zentrale Aspekt der Familienerziehung
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und -bildung (vgl. Büchner 2005; Büchner & Brake 2006). Konkret werden dafür die Ziele und die Modi der Vermittlung von Kapitalsorten, nämlich Regeln, Handlungsstrategien und Beziehungsmuster der Familien untersucht, die ihr Alltagshandeln bestimmen. Diese sind stark vom Geschlecht des Kindes und des Elternteils geprägt. Sie bleiben aber oft unbewusst und wirken subtil auf die Kinder ein. Eine erziehungswissenschaftliche Definition von Familie kommt nicht ohne idealtypische Begriffe und den Bezug auf Werte und Ziele aus. Kinder brauchen Werte, Regeln und Normen, um zu lernen, kritisch und reflektiert zu urteilen und zu handeln. Diesbezügliche Transmissionsleistungen können aber auch misslingen, denn über die Akzeptanz oder Übernahme von Zielen und Inhalten der Bildung durch die Kinder wird im Kontext der Familie entschieden. Die Regeln, Normen und Werte sind genderspezifisch definiert. Für Mädchen und Jungen gelten tendenziell unterschiedliche Werte. Ein Beispiel stellen die späteren beruflichen Ziele dar: Mädchen werden unterschiedlich stark ermutigt, sich hohe berufliche Ziele zu setzen (vgl. Macha 2004b). Präsentation und Repräsentation von Kultur im Sinne Mollenhauers (1985) verlangen auch die Reflexion von philosophischen und religiösen Begründungssystemen und Theorien. Auch die Werte und Regeln des Familienalltags sind zu begründen unter Rückgriff auf transzendente Bezüge (vgl. Matthes 2005). Eine ‚Familienbiographie‘ wird über die Zeit hinweg durch die Familienmitglieder ko-konstruiert und gewährleistet in einem gemeinsamen Prozess der Entwicklung ihrer Mitglieder biographische Kontinuität (vgl. Macha 2009). Familie kann aus der ökologisch-systemischen Theorie (oder in dem ‚Bioecological Model‘ Bronfenbrenners von 1981) als Mikrosystem der Gesellschaft bezeichnet werden, „ein Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, die die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt“ (ebd., S. 38). Hier wird unter Rückgriff auf Arbeiten von Lewin (1963) Bezug genommen auf die dynamischen Prozesse in der Familie (vgl. Bronfenbrenner 1990; Gerris & Grundmann 2002; Hofer, Wild & Noack 2002; Huschke-Rhein 1993, 1998 & 2003; Macha, 1997, 2004a & 2009; Schlippe 1984). Das ‚Process-Person-Context-Time-Model, PPCT‘ (vgl. Bronfenbrenner & Morris 1998) sagt aus, dass sowohl das Individuum, die Umwelt als auch die Zeit nachhaltig auf die Gestaltung von Familie Einfluss nehmen. Die Perzeption der Interaktion ist dabei ausschlaggebend, also die Wahrnehmung und Deutung des Einzelnen von der Interaktion in der Familie, die durch „form, power, content, and the direction of the proximal process“ zu kennzeichnen ist (vgl. Bronfenbrenner & Morris 1998, S. 996). In Anlehnung an das ‚doing gender‘ der ge-
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schlechtstypischen Sozialisation spricht Lange auch vom ‚doing family’ (vgl. Lange 2009). Interaktion ist das Kernstück der Familienbiographie, das ‚doing family‘ oder die Ko-Konstruktion der Familie (vgl. Lange 2009; Schier, Szymendersky & Jurczyk 2007; Schier, Voß, Jurczyk, Lange & Szymendersky 2008). Die familiale Interaktion ist stets durch zwei einander oft widersprechende Seiten gekennzeichnet, nämlich die Verbundenheit der einzelnen Familienmitglieder mit der Familie und die Abgrenzung, die vor allem bei der Bewältigung von Konflikten in Familien nötig wird. Die normativ fundierten alltäglichen Aushandlungsprozesse sind das zentrale Element von Familie und entscheiden über den Stil der Familienbeziehungen, der sich langfristig in der Familienbiographie niederschlägt. Ziel ist zum einen die Balance zwischen den Interessen der Familienmitglieder, die in einem typischen Stil der Interaktion ausgehandelt werden, zum anderen das psychische Wachstum aller Familienmitglieder gemäß ihren Begabungen (vgl. Huschke-Rhein 1993). Durch die Wiederholung bekannter Rituale, Spiele und Erziehungspraktiken wird eine erwartbare Stabilität vermittelt und es entsteht Geborgenheit. Die Familie ist eine einmalige Institution der primären Erziehung und Bildung, die ein ganzes Leben lang durch die frühen Erfahrungen die Handlungsmuster ihrer Mitglieder beeinflusst. Dabei ist sie sehr flexibel in der Akzeptanz der personalen Eigenarten ihrer Mitglieder und kann durch ein ausgewogenes Verhältnis von Nähe und Distanz Unterschiede gut auffangen. „Die emotionale Stabilisierung wird als eine der Hauptleistungen von Familien angesehen und geschätzt“ (Lange 2007, S. 246). Familie wird gar als das „wichtigste Fundament eines glücklichen Lebens“ (ebd.) verstanden. Das durchschnittliche Wohlbefinden der Kinder in Familien ist gemäß neueren Untersuchungen gut (vgl. ebd.). Familiäre Wärme, keine starke Kontrolle und hohe Kommunikationsqualität sind dabei die wesentlichen Bausteine, die aus Sicht der Kinder die beste Entwicklung garantieren. 2
Konstruktion von geschlechtstypischer Identität bei Mädchen und Jungen in Familien
Mädchen und Jungen erfahren heute unterschiedliche Einflüsse der Sozialisation in der Familie. Sie erwerben geschlechtstypisch differierende Chancen und Risiken (vgl. Macha 2004 & 2006). Allgemein wird in Bezug auf den Erziehungsstil von einer Verlagerung der Interaktions- und Kommunikationsstruktur zum ‚Verhandlungshaushalt‘ statt des früheren ‚Befehlshaushalts‘ gesprochen (vgl. DuBois-Reymond 1991). Wir fin-
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den sogar in einer neueren Studie den Befund, dass Kinder noch mehr in die Entscheidungen der Familie einbezogen werden im Sinne der Partizipation (vgl. Macha & Witzke 2008b). Sie gestalten zum Beispiel die Freizeitaktivitäten der Familie mit, entscheiden mit über die Einrichtung der Wohnung und über die Anschaffung von Haustieren und sie geben ihren Eltern Anregungen in Bezug auf Mediengebrauch. Heterogenität ist aber stets konstitutiv für die Erziehung und Bildung in Familien, da beide individuell auf ein spezifisches Kind oder einen Jugendlichen bezogen sind. Kinder haben aber ganz unterschiedliche Bedürfnisse, Fähigkeiten und Neigungen. In der Familie kann man diese optimal wahrnehmen und befriedigen, es kann aber auch zu einem Verkennen der Bedürfnisse, einer mangelnden Befriedigung durch Unfähigkeit und schließlich zu großen Erziehungsproblemen kommen. Die Bindungstheorie spricht hier von unterschiedlichen Graden der Bezogenheit und Fähigkeit zum interaktiven Wahrnehmen und Beantworten der Signale der Eltern des je individuellen Kindes. Kollektive und individuelle Bedürfnisse und Begabungen müssen austariert und im Handeln vereinbart werden. Deshalb spricht man von der Familie als der ‚Keimzelle des Staates‘, denn es werden die Werte und Normen der Gesellschaft in einer möglichst passgenauen Weise an Kinder und Jugendliche herangetragen. Selbstverständlich können auch andere Familienformen als die Kernfamilie und auch staatliche Institutionen gute Erziehungs- und Bildungsarbeit leisten. Der Staat wiederum kontrolliert Abweichungen von der Erziehungs- und Bildungsleistung und bietet da Hilfen an, wo Kinder und Jugendliche Schaden nehmen könnten (vgl. Nave-Herz 2002; Peuckert 2004; Rendtorff 2006). Die wichtigste Aufgabe der Sozialisation ist die Entwicklung der Identität und entsprechend auch der geschlechtstypischen Identität. In der Sozialisationstheorie wird Identität heute als Konstruktionsprozess in Wechselwirkung zwischen Umwelt und Individuum bestimmt (vgl. Grundmann 2008, Shell Deutschland 2006, Tillmann 2004). Auch die geschlechtstypische Identität wird als interaktionistische Selbstkonstitution verstanden (vgl. Micus-Loos 2004, S. 116), als ‚doing gender‘. „Die Geschlechtszugehörigkeit ist zu keiner Zeit festgeschrieben sondern wird in jeder alltäglichen Interaktion durch den Prozess der Geschlechtsdarstellung, -wahrnehmung und -zuschreibung hergestellt bzw. konstruiert. Diese auf individueller Ebene stattfindenden Prozesse werden durch strukturell verankerte Institutionen abgesichert“ (ebd.). Sozialisation wird heute nicht mehr als schicksalhafte Festlegung verstanden, sondern als dynamischer Prozess der Aneignung von Einflüssen der Umwelt und der aktiven Auseinandersetzung des Individuums mit der Welt (vgl. Hagemann-White 2006). Das bedeutet weitergehend, dass das Subjekt seine Identität auch in Bezug auf Geschlechtlichkeit im Rahmen der Chancen, die die Umwelt bietet, selbst entwirft.
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Die körperliche Dimension ist für die geschlechtstypische Identität von großer Bedeutung, weil hier unbewusst die Normen der Gesellschaft inkarniert und inkorporiert werden (vgl. Macha & Fahrenwald 2003). Das bedeutet, dass Körperpraxen und -haltungen entsprechend der Geschlechterrolle unbewusst körperlich nachgeahmt werden und dann zu habitualisierten Verhaltensweisen führen (vgl. ebd.). Geschlechtsidentität kann demnach „als über Körper und das Erleben vermittelter narrativer Konstruktions- und Gestaltungsprozess verstanden werden, in dem die kulturellen Setzungen ein zwar wesentliches, aber nicht das einzige Element darstellen“ (ebd., S. 30). Ein Beispiel dafür sind die typischen genderspezifischen Normen bezüglich der Sitzhaltungen von Frauen und Männern: Frauen im Rock sitzen korrekt mit geschlossenen Knien und geradem Rücken, Männer können raumgreifend mit ausgebreiteten Armen und Beinen sitzen. Das bedeutet eine körperliche Eingrenzung und Starrheit für die Frauen und eine tendenziell dominante Haltung der Männer, die im Gespräch zu unterschiedlichen Machtkonstellationen führen kann. Wie in der Definition schon anklingt, ist auch die sprachliche Konstruktion von Geschlecht hier relevant. Sie wird unter anderem in der Narrationstheorie behandelt (vgl. Ricoeur 1991 & 1996). Wie oben ausgeführt, ist die Verfassung des geschlechtlichen Subjekts narrativ und nicht in sich abgeschlossen (vgl. Keupp u.a. 2002): Das Ich konstituiert sich in Interaktionen, zum Beispiel mit den Familienmitgliedern auf der Basis der Familienbiographie und den geteilten Werten, Normen und Ritualen (vgl. Macha & Witzke 2008a). Das Individuum entwirft sich sprachlich in Geschichten. Narrationen bilden aktuell situative Facetten der Identität ab und heben sie heraus aus dem Fluss des Lebens. Narrationen sind flüchtig und Identität wird heute als flüchtig, veränderlich und offen konzipiert (vgl. Macha 2009). Die Narrationsforschung hat mit Ricoeur und anderen herausgearbeitet, dass durch die Bewusstwerdung in erzählten Geschichten die Subjekte sich selbst gegenwärtig fassbar werden. Das ist jedoch nur scheinbar ein Verlust an Eindeutigkeit und Identifizierbarkeit des Individuums in seinem eigenen Selbstbewusstsein und gegenüber anderen in der Kommunikation. Die Facetten und Bilder wechseln und sind nicht beständig. Keupp u.a. (2002) geben dafür ein schönes Beispiel in einer Langzeitstudie: Eine junge Frau wird interviewt und beschreibt, dass sie einen jungen Mann kennen gelernt hat, der sie aber nicht sonderlich beeindruckt hat. Wenn sie nach zwei Jahren erneut interviewt wird, steht sie kurz vor der Heirat mit ebendiesem selben jungen Mann. Sie beschreibt im Rückblick die Situation des Kennenlernens mit dramatisierenden Worten: „Es war Liebe auf den ersten Blick, die Liebe kam über uns wie ein Blitz …“ (ebd.). Dieses Zitat zeigt, dass die Identität und das Erinnern eine Wahrheit repräsentieren, die nicht nur objektiv überprüfbar wäre, sondern eine subjektive Setzung darstellt. Powers zeigt in seinem Ro-
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man „Das Echo der Erinnerung“ (2006), dass Identität die Geschichten sind, die vom Ich handeln und die für das Ich Bedeutung erlangen, nicht jedoch wahre Szenen. Es sind subjektive Interpretationen des Erlebten, die aber in der Erinnerung wieder neu interpretiert und in einen neuen Zusammenhang eingebettet werden. Für den Aspekt des Geschlechts bedeutet das, dass auch die geschlechtstypische Identität situativ wechselnd definiert und keinesfalls verstetigt wird. Dadurch sind jeweils auch individuelle Neudefinitionen und Wandlungen möglich – und auch erforderlich, wenn neue Anforderungen in Beruf oder Privatleben gestellt werden. Wie oben ausgeführt, ist jedes Familienmitglied auch von der Familienbiographie in unterschiedlicher Weise abhängig oder jedenfalls beeinflusst. In zweiter Linie ist der Aspekt der gesellschaftlichen Platzierung der Familie wichtig: Bildungs- und Teilhabechancen werden zunächst über Familien verteilt. Die Selektion erfolgt unter dem Einfluss der sozialen Herkunft oder genauer dem sozioökonomischen Status der Familien, aber ebenso auch nach dem Geschlecht. So sind Geschlecht und soziale Ungleichheit und/oder ethische Herkunft Kategorien der Zuweisung von gesellschaftlichen Chancen. Die Ungleichheit der Geschlechter stellt sich heute aber anders dar als in der Vergangenheit. Noch vor 30 Jahren war die Ungleichheit der Bildungschancen der Geschlechter im Schulsystem die große Barriere für Frauen, die sie an gesellschaftlicher Teilhabe hinderte. Nun ist die Chancengleichheit der Geschlechter im Schulsystem in vielen Punkten erreicht. Hier sind die Mädchen im Durchschnitt der deutschen Bevölkerung die Gewinnerinnen des Bildungssystems (vgl. Europäische Kommission 2005). Nicht erreicht ist bislang die Förderung hoch begabter Mädchen und Jungen (vgl. Solzbacher & Heinbokel 2002). Auch auf dem Arbeitsmarkt hat sich die Ungleichheit der Verteilung von Chancen der Geschlechter erhalten: Frauen bilden hier die marginale Minderheit in Bezug auf hohe berufliche Positionen, Macht und Geld (vgl. Mayrhofer, Meyer & Steyrer von Linde 2005). Das führt dazu, dass trotz des insgesamt guten Standes der weiblichen Ausbildung eine Marginalisierung und ein Verlust der begabten Mädchen und Frauen erfolgt (vgl. Allmendinger 2008). Die soziale Herkunft der Familien entscheidet jedoch immer noch über die Bildungsbeteiligung und -chancen der Kinder und Jugendlichen (vgl. PISAKonsortium Deutschland 2007). So verstärken sich Geschlecht, soziale Herkunft und Ethnie gegenseitig in Bezug auf die Verteilung von Chancen beim Aufwachsen. Nachteile oder Risiken der Sozialisation der Geschlechter liegen in der nach wie vor bestehenden Einseitigkeit. Der Hauptwiderspruch hat sich auf das Beschäftigungssystem und die Work-Life-Balance verlagert, wie ich weiter unten
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ausführen werde. Insgesamt hat sich das Bildungsniveau der Frauen dem der Männer angeglichen, aber auch wenn „von einer pauschalen Diskriminierung des weiblichen Geschlechts in schulischen Zusammenhängen nicht mehr die Rede sein kann, muss weiterhin von einem hierarchisch ausgeprägten Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern gesprochen werden – lediglich die Selektionsschwelle hat sich verlagert“ (Herwartz-Emden 2007a, S. 11, die sich auf Baumert, Cortina & Leschinsky 2003 bezieht). Deshalb haben Mädchenschulen immer noch eine große Bedeutung für die Förderung von Mädchen, denn es gelingt hier „eine breitere, geschlechtsuntypische Entwicklung“ und insofern leisten Mädchenschulen „einen Beitrag zur Demokratisierung des Geschlechterverhältnisses“ (Herwartz-Emden 2007b, S. 8). Jungen werden auf Aktivität hin erzogen und damit bilden sie im Durchschnitt weniger die schulspezifischen Fähigkeiten aus wie Konzentration, Genauigkeit, Fleiß, Disziplin u.ä. Die Folge sind schlechtere Schulleistungen bei Jungen und dass junge Männer das Schulsystem häufiger ohne Abschluss verlassen. Das gilt vor allem in den Unterschichten und bei Schülern mit Migrationshintergrund (vgl. Budde 2008). Aber hochbegabte Jungen werden ebenfalls zu wenig gefördert. 3
Doppelte Entgrenzung und Doppelbelastung: Verarbeitung der Wandlungsprozesse der Familie
Ein Thema von großer Brisanz ist in Deutschland die Frage der Vereinbarkeit und der Kinderbetreuung2. Väter und Mütter haben es in Deutschland weiterhin schwer, Familie und Beruf zu vereinbaren. Dies wird in unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen unter der Thematik Vereinbarkeit oder Work-Life-Balance untersucht. Die Erziehungswissenschaft befasst sich mit den Wandlungsprozessen der Familie hinsichtlich Arbeit und Beruf (vgl. Hochschild 1997 & 2006; Macha & Witzke 2008 & 2009), aber auch mit der Zeitknappheit in Familien (vgl. Moen 2003; Jurczyk u.a. 2009). Die Wirtschaftswissenschaften wiederum sehen Angebote der Work-Life-Balance in Unternehmen als Wettbewerbsfaktor, um (weibliche) Arbeitskräfte anzuwerben und dem Unternehmen zu erhalten. Die Gender-Forschung bedenkt Auswirkungen der neuen Arbeitskultur unter den Stichworten Entgrenzung, diskontinuierliche Erwerbsverläufe und Flexibilisierung (vgl. Metz-Göckel 2004). Mit den Stichworten „doppelte Entgrenzung“ und „Flexibilisierung“ von Familie und Beruf ist gemeint, dass gleichzeitig traditionelle Strukturen der Familie und der Arbeitswelt wegbrechen und dynamisiert 2 Vgl. zur Frage der Vereinbarkeit von Familie und Beruf in interkultureller Perspektive die zusammenfassenden Darstellung in Herwartz-Emden und Waburg (2008).
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werden (vgl. Gottschall & Voß 2005; Metz-Göckel 2004; Schier, Szymendersky & Jurczyk 2007). Dies sind Prozesse der Modernisierung in der reflexiven Moderne (vgl. Beck & Lau 2004). Entgrenzung ist mit der „Brüchigkeit, Ausdünnung, Auflösung oder Virtualisierung für sicher gehaltener Abgrenzungen von Sphären“ verbunden (Gottschall & Voß 2005, S. 11). Familie erfährt schon seit längerer Zeit durch demographische Veränderungen wie die Geburtenrate und die Scheidungsrate, durch Biographisierung und durch die Pluralisierung der Lebensformen einen Bedeutungswandel und eine veränderte Gestalt (vgl. Peuckert 2004). Nun werden auch die Grenzen zwischen Arbeit und Familie fließend und lösen sich teilweise auf mit der Folge, dass auch die Balance zwischen Arbeit und Freizeit bedroht wird (vgl. Resch 2003). Individualisierung führt zu Freisetzungsprozessen, zu wachsenden Wahlchancen und auch zu Wahlzwängen im Zuge der Auflösung der geschlechterspezifischen Normalbiographie. Entgrenzungen sind stets ambivalente Prozesse, die in unterschiedlichen zeitlichen Abläufen Traditionen verändern und so zu Unsicherheiten und Ungewissheiten führen sowie auch gegenläufige Dynamiken entwickeln. Während zum Beispiel manchenorts noch starre Arbeitsstrukturen und Arbeitsteilungen vorherrschen, werden gleichzeitig aber zeitliche Flexibilität und Mobilität gefordert und sind die Abgrenzungen bezüglich Beruf und Familie ebenso wie die Normalbiographie schon erodiert (vgl. Schier u.a. 2008). Man verlangt von Seiten der Arbeitgeber, dass Arbeitskräfte immer länger beruflich verfügbar und erreichbar sind. In der Folge der Polarisierung arbeiten höher qualifizierte Kräfte zeitlich immer länger in Überstunden, während für niedriger Qualifizierte Teilzeit- und Kurzzeitarbeit die Vollzeitarbeit ersetzen. Die Aufgabe, die doppelte Entgrenzung zu verarbeiten und Zeitmodelle der Vereinbarkeit in Familien zu planen, trifft die Familien hart. Diese strukturellen Veränderungen individuell als Paar zu lösen, ist eine Sisyphus-Aufgabe, denn die staatlichen Angebote, die einen Rahmen der Fürsorge bilden würden, sind noch nicht genügend ausgebaut (vgl. Schier u.a. 2007 & 2008). So wird die doppelte Entgrenzung zu einer neuen Form der Doppelbelastung der Familien. Die neuen Strukturen können scheinbar nur schwer mit der Erziehung von Kindern vereinbart werden. Neue Deutungsmuster von Familie, Beruf und Vereinbarkeit sind erforderlich. Die Funktionen von Familie wie Reproduktion, Sozialisation, Platzierung und Spannungsausgleich durch Freizeit (vgl. Nave-Herz 2002) basieren auf einer Balance innerhalb der Familie. Im System Familie sind die wichtigsten Strukturmerkmale die Integration der einzelnen Familienmitglieder und des Gesamtsystems nach innen im Sinne von verbindlichen Werten und eines Gefühls der Kohäsion sowie der Erstellung einer Familienbiographie als eines verbindlichen Sinngefüges (vgl. Macha 1997 & 2009). Die individuell unterschiedlichen Bedürfnisse der Familienmitglieder
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müssen in zeitlicher, räumlicher, sozialer und emotionaler Hinsicht ausbalanciert werden. Die Konstruktion von Gemeinsamkeit im Sinne eines ‚gemeinsamen Schreibens an einer Familienbiographie‘ mit einem Schatz an gemeinsamen Erzählungen über schöne Erfahrungen und/oder überstandene Gefahren erlaubt die Herstellung und Rekonstruktion des gemeinsamen Handelns und die Schaffung von Intimität und Vertrauen. Die Forschergruppe des DJI um Schier und Jurczyk bezeichnet mit dem Terminus des ‚doing family‘ ein ähnliches Konstrukt wie der Terminus Familienbiographie (vgl. Schier u.a. 2008). Es besteht die Notwendigkeit des Austausches mit der Umwelt wie auch der Abgrenzung sowohl des Einzelnen als auch der gesamten Familie im Sinne einer Balance. Je größer die Balance von Kohäsion als Wir-Gefühl und Austausch mit der Umwelt ist, desto stabiler ist die Familie. Durch die doppelte Entgrenzung ist jedoch gerade der Prozess der Abgrenzung nach außen bedroht. Dies hat schwerwiegende Folgen für die Geschlechterrollen. Paare tendieren in der Folge dazu, durch die gegebene Unsicherheit der Rahmenbedingungen in die alten Geschlechterrollen zurückzufallen bzw. sie zu stabilisieren, da sie jedenfalls den Vorteil des Gewohnten bieten. Für beide Geschlechter ergeben sich aus der doppelten Entgrenzung negative Konsequenzen und neue Widersprüche. „Die Zuordnung zu einem Geschlecht [geschieht] durch innere und äußere, soziale und kulturelle Zuweisungs- und Aneignungsprozesse, die sich auch deswegen permanent reproduzieren, weil Geschlecht in gesellschaftlichen Institutionen eingeschrieben ist“ (Born, Krüger & Lorenz-Meyer 1996, S. 142 ff.). Ein Vereinbarkeits- und Balancemanagement ist erforderlich, um Familie lebbar zu machen (vgl. Schier u.a. 2008). Es gibt insofern auch kaum wissenschaftlich erfassbare grundlegende Strukturveränderungen der Familie in Deutschland durch die reale Berufstätigkeit der Frauen und die oben beschriebenen Effekte (vgl. Micus-Loos & Schütze 2004; Born u.a. 1996). Es bestehen Aushandlungsprozesse bezüglich der Arbeitsteilung und der Ernährerrolle zwischen den Partner(inne)n. Jedoch reproduzieren sich traditionelle Aspekte der Zweigeschlechtlichkeit in den Familien immer wieder. Hier gibt es auch einen permanenten Widerspruch zwischen dem Wandel der Geschlechterrollen auf der einen Seite mit dem Anspruch der Eltern auf egalitäre Geschlechtererziehung für ihre Kinder und der modellhaft gelebten Wirklichkeit der Familien: Die Ideale der Eltern sind im Durchschnitt egalitär, sie wünschen für ihre Mädchen dieselben Chancen in Bildung und Beruf wie für ihre Jungen. Aber die Wirklichkeit sieht immer noch anders aus. Die Handlungsmodelle, die Vater und Mutter in der Realität vorleben, bilden einen Gegensatz zu den Idealen und sie sind es, die in ihrer Vorbildfunktion weitaus mächtiger auf die Kinder wirken. Mütter wählen überwiegend die Rolle der ‚female-housekeeper‘ und tra-
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gen im Durchschnitt die Gesamtverantwortung für Haushalt und Kindererziehung. Väter sind überwiegend in der Rolle des ‚male-breadwinner‘ zu finden. Deutschland ist in einer ‚halben Emanzipation’ stecken geblieben. Das hat historische Gründe, die mit der nationalsozialistischen Ideologie und anderen politischen Faktoren verbunden sind, die hier nicht vertieft werden können. Dieser Widerspruch ist vor allem in Deutschland und einigen anderen Ländern Europas sehr beharrlich. Aber die Kinder sehen und erleben als Modell der Geschlechter jeden Tag, dass rund 2/3 der Mütter keine berufliche Karriere machen, sondern neben einer geringen Berufstätigkeit die Hauptlast der Hausarbeit und der Verantwortung für die Kindererziehung tragen. Beide Geschlechter, Mütter und Väter sind jedoch mit den Geschlechterrollen nicht mehr zufrieden, zudem sie weit hinter den heute in der Sozialisation gegebenen Möglichkeiten zurückbleiben (vgl. Macha & Witzke 2008b). Nur wenige Paare leben die Vereinbarkeit und teilen sich ‚die Hälfte des Himmels und der Erde‘. Es bestehen in Deutschland auch Widersprüche zwischen der durchschnittlich guten Ausbildungssituation der Frauen und ihrem Erfolg im Beruf und der Marginalisierung in Spitzenpositionen der Wirtschaft, der Wissenschaft und der Politik. Trotz der Fortschritte in Bezug auf Chancengleichheit und der bestausgebildeten Generation junger Frauen ist es nicht möglich gewesen, strukturelle Veränderungen zu erreichen. Frauen in Deutschland erleben die Geburt von Kindern als Wendepunkt, an dem sie häufig zurückstecken, ihre Karrierepläne aufgeben und das Drei-Phasen-Modell wählen, ungeachtet der ursprünglichen Pläne. Dies wird in der Forschung auch diskutiert unter dem Thema ‚Stabilität der Zeitbudgets‘. Dahinter verbirgt sich ein weiterer der großen Widersprüche der Geschlechtererziehung heute, der eng mit der Entgrenzung von Familie und Beruf zusammenhängt. Die Zeitbudget-Studien weisen die tägliche Verwendung von Zeit bei Männern und Frauen aus.
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Abb. 1: Zeitbudget der Männer (Weick 2004, S.414)
In der ersten Graphik sind die Zeitbudgets von Vätern abgebildet. Sie folgen überwiegend der Rolle des ‚male breadwinner‘, der den größten Anteil an Zeit auf die Arbeit am Arbeitsplatz verwendet. Freizeit stellt die zweitgrößte Einheit dar und Hausarbeit, in der Kinderbetreuung und Haushaltspflichten wie Kochen und Saubermachen zusammengefasst sind, bilden nur einen sehr kleinen Teil der täglichen Arbeit. Die Struktur der Zeitbudgets hat sich in Deutschaland nur minimal verändert. Die Geschlechterrollen werden als Grund dafür angegeben, dass Frauen ihre Karriereziele nach der Geburt von Kindern aus dem Blick verlieren. Mehr als 2/3 der Frauen mit Kindern geben den Beruf auf oder wählen einen Halbzeit-Job als Alternative. So ändern sich zwar die Geschlechterrollen in Bezug auf schulische Bildungsabschlüsse, aber die Karrierepläne der Frauen und die Verantwortung für Kinderbetreuung sowie die Übernahme von familiären Verpflichtungen durch Männer ändern sich nicht.
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Abb. 2: Zeitbudgets der Mütter (Weick 2004, S.414)
In der zweiten Graphik wird dies für die Zeitbudgets der Mütter gezeigt. Die Struktur und das Rollenmodell des ‚female housekeeper‘ werden hier abgebildet. Mütter verwenden im Durchschnitt viel weniger Zeit für bezahlte Arbeit, sie verwenden die meiste Zeit auf Kinderbetreuung, Kochen und Saubermachen. Mütter übernehmen die Verantwortung für die meisten der Arbeiten im Haushalt. Dies ist der mangelnden institutionellen Unterstützung bei den Aufgaben der Kinderbetreuung geschuldet. Studien können die Gründe für dieses Verhalten der Geschlechter nicht angeben. In unserer Studie3 sehen wir, dass Paare die Familienbiographie und die Zeitbudgets nicht planen (vgl. Macha & Witzke 2008b). Dies ist in Zeiten der doppelten Entgrenzung, in der die Vereinbarkeit von Karriere und Familie immer prekärer zu werden droht, ein Manko. Frauen und Männer fallen unter dem Druck der Umstände aus einem Bedürfnis nach Si3
Die Studie ‚Familienbiographien’ ist eine aktuell laufende, explorative Studie, in der u.a. Lebensmuster, Erziehungspraktiken und Reziprozität in Familien untersucht werden. Die Untersuchung wird an der Universität Augsburg durchgeführt (vgl. ausführlicher Macha & Witzke 2008a & b).
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cherheit heraus, aber auch aus mangelnder Absprache vor der Geburt von Kindern, in die alten Geschlechterrollen zurück. 4
Fazit
Zusammenfassend kann man resümieren, dass sowohl in der Sozialisation der Mädchen und Jungen als auch in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch immer große Disparitäten zwischen den Geschlechtern herrschen. Aus der kindlichen Perspektive betrachtet lernen Mädchen und Jungen in der Familie bezüglich der Geschlechterbilder, dass Mütter weiterhin ihre Karrierewünsche beim ersten Kind aufgeben und Mütter den Haushalt und die Kindererziehung in der Rolle der female-housekeeper verantwortlich tragen. Mädchen werden nicht ermutigt, sich hohe berufliche Ziele zu setzen, sie erwerben eher niedrige Ansprüche und Erwartungen an ihre private und berufliche Zukunft. Jungen lernen, dass sie vor allem beruflich als male-breadwinner gefragt sind, und sie stellen höchste Ansprüche ausschließlich an den Beruf, für ihre private Zukunft erlernen sie kaum Strategien der Vereinbarkeit. Emotionalität, die Wahrnehmung des Körpers und Gesundheitsvorsorge bleiben ebenfalls bei Männern tendenziell auf der Strecke, sie erwerben ein hohes Gesundheitsrisiko. Der dramatische Wandel der Rahmenbedingungen von Familie, wie er in der Entgrenzungsthematik problematisiert wird, stellt die Familie vor ganz neue Herausforderungen, die zu ihrer Bewältigung neben der Anpassung der Rollen und der Familienplanung auch einer Partizipation durch staatliche Unterstützungsmodelle bedürfen. Literatur Allmendinger, Jutta (2008): Frauen auf dem Sprung. Die Brigitte-Studie 2008. Hamburg: Gruner + Jahr. Andresen, Sabine; Rendtorff, Barbara (2006): Geschlechtertypisierungen im Kontext von Familie und Schule. Opladen: Barbara Budrich. Beck, Ulrich; Lau, Christoph (Hrsg.) (2004): Entgrenzung und Entscheidung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Born, Claudia; Krüger, Helga; Lorenz-Meyer, Dagmar (1996): Der unentdeckte Wandel. Annäherung an das Verhältnis von Struktur und Norm im weiblichen Lebenslauf. Berlin: Edition Sigmar. Bronfenbrenner, Uri (1981): Die Ökologie der menschlichen Entwicklung. Natürliche und geplante Experimente. Stuttgart: Klett-Cotta. Bronfenbrenner, Uri (1990): Ökologische Sozialisationsforschung. In: Lenelies Kruse; Carl-Friedrich Graumann; Ernst-Dieter Lantermann (Hrsg.): Ökologische Psychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen. München: BeltzPVU, S. 76-80.
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Hildegard Macha
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Werner Schneider
Pluralität – Heterogenität – Heterotopie? Begrifflich-theoretische Anmerkungen zur Frage nach dem Wandel von Familie
Beschreibungen zur Entwicklung von Familie in den vergangenen Jahrzehnten sowie Diagnosen zu ihrem gegenwärtigen Zustand zeichnen – so jedenfalls der Tenor der Familiensoziologie – ein klares Bild. Spätestens seit den 1980ern ist von der zunehmenden Pluralisierung privater Lebensformen die Rede, derzufolge der Anteil der herkömmlichen, sogenannten ‚Normalfamilie’ zugunsten neuer Familienformen wie Alleinerziehende, Patchwork-Familien u.a. zurückgeht. Dem zur Seite gestellt werden Befunde zu einer wachsenden Diversifizierung von Lebensverläufen in Verbindung mit einem grundlegenden Wandel der modernen Normalbiographie in ihrer geschlechtsspezifischen Schematik von Arbeits- und Familienrollen hin zu vielfältigen, flexiblen und damit auch riskanten Wahlbiographien von Männern und Frauen mit neuen Wahlchancen und -zwängen. Hinzu kommen schließlich Hinweise auf eine wachsende Entgrenzung und Verflüssigung der für die Moderne charakteristischen LebensalterOrdnung mit ihren ehedem eindeutigen Kennzeichnungen und Zuordnungen zu den – auf je typische Weise mit ‚Familie’ verbundenen – Lebensphasen wie Kindheit, Jugend, Erwachsenenalter und Alter. Entgegen der scheinbaren Eindeutigkeit der hinter diesen Schlagworten stehenden empirischen Trends erweist sich ihre Deutung und Bewertung im öffentlich-medialen wie auch wissenschaftlichen Diskurs jedoch als anhaltend strittig. Aktuelle Diskursivierungen von Familie oszillieren (wieder einmal) zwischen Dramatisierungen ihres Zerfalls und fortgesetzten Beschwichtigungen zur Stabilität und Kontinuität familialer Beziehungen (vgl. z.B. Burkart 2008, S. 13ff; Schneider 1994). Der folgende Beitrag will weder die genannten Befunde einer durch Pluralität und Heterogenität geprägten Privatheit rund um Lebensformen und Lebensphasen in der modernisierten Moderne der heutigen Gesellschaft noch ihre mehr oder weniger kontroversen Interpretationen umfassend referieren oder gar grundsätzlich in Frage stellen. Vielmehr dienen sie als Ausgangspunkt für die – für sich genommen keineswegs neue, aber vor dem Hintergrund sozialen Wandels
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immer wieder neu zu stellende – Frage nach den begrifflich-theoretischen Grundlagen des (familiensoziologischen) Blicks auf Familie. Im Folgenden soll es darum gehen, einer – für sich genommen theoretisch eher belanglosen, weil primär beschreibenden – Diagnose von (vermeintlicher oder tatsächlicher) Vielfalt von ‚Familie’ mit ihren, in der gegenwärtigen Familiensoziologie üblichen individualisierungs- und differenzierungstheoretischen ‚Erklärungen’ eine etwas anders akzentuierte begrifflich-theoretische Rahmung zur Seite zu stellen. Mit dieser – hier nur grob zu skizzierenden – Alternative soll ‚Familie’ in ihrer alltagspraktischen Ausgestaltung, in ihren Formen der Subjektivierung ihres ‚Personals’, der Familienmitglieder, und in ihrem Verhältnis zur jeweils ‚umgebenden’ Gesellschaft und Kultur analytisch konturiert werden. Auf einer kulturtheoretisch-wissenssoziologischen und diskurs- bzw. dispositivanalytischen Grundlage sowie in Anlehnung an Michel Foucaults Begriff der ‚Heterotopien’ im Sinne der anderen, a-normalen Orte, der Gegen-Räume’ (vgl. Foucault 1992; 2005) könnte eine solche Perspektivierung fragen: Welche ‚Familienwelten’ bzw. ‚Privatwelten’ fungieren für wen als reale, handlungsorientierende und damit wirkmächtige Heterotopien und mit welchen Folgen ist dies verbunden? Und zwar insofern, als jene Welten an ihren a-normalen Orten, in ihren Gegen-Räumen soziokulturelle Kontexte beherbergen, die mit anderen Kontexten, mit anderen gesellschaftlichen Wirklichkeiten kaum oder nicht, nicht mehr oder noch nicht kompatibel sind? Und vor allem auch: Welche Familienbzw. Privatwelten stehen dabei zu welchen ‚Öffentlichkeiten’ in Bezug, und wie ist deren Verhältnis zueinander bestimmt? Mit solchen Fragen öffnet sich ein Analyseraum, der anstelle eines bloßen Konstatierens von Pluralität eine kultursoziologisch orientierte, auch auf Macht- und Herrschaftsphänomene gerichtete Einordnung der – je nach historischer Situierung und kulturellen Kontexten – erkennbaren Formen und Metamorphosen von Familie erlaubt. 1
Der analytische Blick auf Familie: Begriffsprobleme
‚Familie’ ist kein natürliches Phänomen, welches sich über Elternschaft und Verwandtschaft biologisch ‚von selbst’ einstellt und in einer bestimmten Gestalt manifestiert, sondern sie ist als (eine) soziale Lebensform (neben anderen) kulturell variabel und historisch kontingent. Für eine – gleichsam unterhalb der kulturellen Variabilität und historischen Kontingenz je konkreter Familienformen angesiedelte – Begriffsbestimmung von Familie hat Rosemarie Nave-Herz eine ‚Komponenten-Definition’ vorgeschlagen, mit der sich ‚Familie’ in ihren „essentiellen Kriterien (…) in allen Kulturen und zu allen Zeiten von anderen Lebens-
Pluralität – Heterogenität – Heterotopie?
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formen abgrenzen lässt“ (Nave-Herz 2004, S. 30). Ihrem Vorschlag zufolge sind Familien „im Vergleich zu anderen Lebensformen gekennzeichnet 1.
durch ihre ‚biologisch-soziale Doppelnatur’ (…), d.h. durch die Übernahme der Reproduktionsund Sozialisationsfunktion neben anderen gesellschaftlichen Funktionen, die kulturell variabel sind,
2.
durch die Generationendifferenzierung (…) und dadurch, dass
3.
zwischen ihren Mitgliedern ein spezifisches Kooperations- und Solidaritätsverhältnis besteht, aus dem heraus die Rollendefinitionen festgelegt sind“ (ebd.).
Daran anschließend skizziert Nave-Herz eine ‚Typologie’ von Familienformen, die „alle den (…) beschriebenen essentiellen Kriterien (…) entsprechen, sich aber zusätzlich durch einen bestimmten Faktor unterscheiden“ (ebd., S. 33): Familienbildungsprozess, Generationenzahl, Rollenbesetzung, Wohnsitz oder Erwerbstätigkeit der Eltern. Typischerweise unterscheidbare Familienformen sind folglich z.B. die Eltern-Familie aufgrund biologischer Elternschaft im Gegensatz zur Adoptions- oder Inseminations-Familie, die Zwei- oder MehrgenerationenFamilie, die Zwei-Eltern- oder Ein-Eltern-Familie, die neo-, patri-, matri- oder bilokale Familie bis hin zur Dual-Career-Family u.a.m. (vgl. ebd., S. 33ff). Die so in dieser ‚Typologie’ versammelten Familienformen können empirisch in ihrem Vorkommen überprüft und näher ausgeleuchtet werden, so dass sich – je nach Bewertung z.B. des Neuigkeitswertes oder Abweichungsgrades gegenüber bislang vorfindbaren Familienformen – auf diesem Weg Aussagen über Wandel oder Kontinuitäten von Familie treffen lassen. Bemerkenswert an dieser Definitions- und Klassifikationslogik erscheint die vermeintlich begrifflich-theoretische Unvoreingenommenheit ihrer EmpirieOrientierung, in der jedoch letztlich die Ursache für eine in verschiedene Richtungen offene, ja fast beliebige Interpretierbarkeit von empirischen Befunden liegt. Deutungen, Interpretationen, ‚Erklärungen’ müssen sich zwar an der Empirie plausibilisieren, ihre theoretische Relevanz ist aber in vorab auszuweisenden Theoriefundamenten zu begründen.1 D.h.: Ohne in eine Typologie eine theoretische Ordnung einzuziehen, welche die Deutung bzw. Interpretation empirischer Befunde vororientieren könnte, bleibt eine solche Definitions- und Klassifikationslogik auf die ‚Vermessung’, auf die deskriptive Bestandsaufnahme vorfindba-
1
Anstelle einer theoretischen Begründung der genannten Typisierungsmerkmale findet sich bei Nave-Herz z.B. der empirisch zutreffende, aber theoretisch wenig hilfreiche Hinweis auf mögliche verschiedene Kombinationen der daraus resultierenden Familienformen (ebd., S. 35).
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rer Familienformen in den Lebensformen-Landschaften beschränkt.2 Insofern ist es kaum verwunderlich, wenn empirische Befunde – wie z.B. die Zunahme nichtehelicher Lebensgemeinschaften, sinkende Heiratszahlen, die wachsende Zahl von Ehescheidungen oder die steigende Erwerbstätigkeit von Müttern mit all den daraus resultierenden Familienformen – in ihrer Deutung hinsichtlich der Frage nach dem Wandel von Familie strittig sind. Bereits Talcott Parsons (1952) hat auf die Unterscheidung zwischen dem, was sich im menschlichen Zusammenleben – zumal in dynamischen modernen Gesellschaften – beständig wandelt, und dem, was die Grundlagen sozialen Wandels bildet, hingewiesen. Diese Grundlagen können selbst wiederum über die Zeitachse hinweg konstant bleiben, sich kontinuieren oder verändern. Die Frage nach dem, was sich ändert, gestellt in einer Gesellschaft, die den permanenten Wandel zu ihrem Dogma gemacht hat, erscheint somit wenig ertragreich, wenn sie nicht auf die dahinter liegenden Prinzipien, Logiken, Muster des Wandels gerichtet ist. Damit wird auch deutlich, wie wenig aussagekräftig die Rede von der zunehmenden Pluralität und wachsenden Heterogenität von Familie ist, die – ohne theoretischer Kontextualisierung – kaum das Problem der ‚gesellschaftlichen Ordnung des Wandels’ hinter den konstatierten Veränderungen adressieren kann. Denn Pluralität (von Familie, von Lebensformen) bezeichnet für sich genommen zunächst nichts anderes als eine Vielfalt bzw. die Koexistenz von Verschiedenem, von zu Unterscheidendem, wobei – so die Begriffskonnotation – die Kriterien für das kategoriale Unterscheiden (z.B. die oben genannten Faktoren wie Generationenzahl, Wohnort etc.) gleichsam ‚unproblematisch’, unstrittig, selbstevident erscheinen. Zu fragen wäre aber bereits hier, ob dies für die alltagspraktischen Differenzmarkierungen in der sozialen Praxis, mit denen sich Menschen ihre eigenen familialen Lebenswelten im Verhältnis zu jenen der anderen ‚anzeigen’ bzw. ‚(für-)wahr-nehmbar’ machen, ebenso gilt. Oder ob nicht in die alltäglichen Praktiken familialen Lebens diskursiv vermittelte Wertungen eines ‚besseren oder schlechteren Lebens’ als symbolische Hierarchien eingelassen sind, die für die beteiligten Akteure ‚den Unterschied’ – d.h.: die für sie wichtigen Wertedifferenzen – markieren. Mit einem hierfür unsensiblen Pluralitäts-Begriff jedenfalls gerät die konstatierte, mehr oder weniger umfängliche Vielfalt zur letztlich beliebigen Buntheit, zum tendenziellen ‚anything goes’, in dem alles gleicher2
Ähnlich hierzu auch Peuckert (2008, S. 23ff): Nach einem einführenden Überblick zur ‚Pluralisierung familialer und nicht-familialer Lebensformen’ sowie nach mehreren hundert Seiten ausführlich dargestellter Empirie werden „theoretische Erklärungsansätze für den sozialen Wandel von Ehe, Familie und Partnerschaft“ (Individualisierungsthese, Wertewandel und Postmaterialismus, Theorie gesellschaftlicher Differenzierung privater Lebensformen) gleichsam abschließend ‚nachgeschoben’ (ebd., S. 326ff).
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maßen seine Geltung besitzt bzw. – seiner impliziten Normativität zufolge – besitzen soll. Nicht unähnlich dazu zielt die Rede von der Heterogenität auf prinzipielle, grundlegende Uneinheitlichkeit von Merkmalen – z.B. in einem naturwissenschaftlichen Begriffsverständnis bei der Beschreibung von Elementen einer gegebenen Menge oder in der gängigen Verwendungsweise in der Pädagogik, etwa als unterschiedliche Voraussetzungen von Lernenden beim gemeinsamen Lernen. Eine Pluralität, die sich als Heterogenität fassen lässt, akzentuiert als relevant erachtete Merkmalsunterschiede deutlicher, indem diese hinsichtlich ihrer Voraussetzungen wie ihrer Folgen in den Blick genommen werden. So kann Heterogenität als Chance verstanden werden, wenn Unterschiede als solche hoch bewertet werden (z.B. auf der Grundlage eines individualistischen Wertekontextes). Oder sie wird als Gefahr gesehen, wenn (bei gleichem individualistischem Wertekontext) Unterschiede zu Ungleichheiten werden, die als illegitim zu erachten sind, oder gar wenn ein kollektivistischer Wertekontext auf ‚Einheitlichkeit’ zielt. Deutlich wird hierbei, dass der jeweilige, zumeist implizit unterlegte Wertekontext das Begriffsverständnis von Verschiedenheit, Unterscheidbarkeit, Uneinheitlichkeit rahmt (welche Merkmale werden in Bezug auf was als relevant erachtet?) und gerade darin – in solchen Begriffspolitiken und dahinter stehenden Wertekontexten – sich sozialer Wandel prozessieren und zum Ausdruck bringen kann. Kurzum: Eine universalistisch angelegte Komponenten-Definition mit einer darauf aufbauenden, theoretisch unbestimmten Familientypologie in Verbindung mit der gängigen Rede von ‚Pluralität’ oder auch ‚Heterogenität’, wie sie im derzeitigen Diskurs um den Wandel von Familie zu finden ist, bieten für sich genommen keine hinreichende Basis, um den Zusammenhang von Familie, Gesellschaft, Kultur und sozialen Wandel in den (Be-)Griff zu bekommen. Vielmehr stehen sie in der Gefahr selbst nur Ausdruck gesellschaftlich dominanter Wertvorstellungen, z.B. der vorherrschenden Privatheits- und Individualitätsvorstellungen, zu sein, statt Auskunft über familiale Wirklichkeiten geben zu können. Deshalb – so der hier verfolgte Vorschlag – wird im Folgenden Familie kultur- und interaktionstheoretisch als ein soziales Konzept begriffen, das sich über – kulturell mit je eigenen, ‚besonderen’ Bedeutungen versehene – soziale Beziehungen für die jeweiligen Akteure im Alltag verwirklicht – oder nicht (vgl. auch Gubrium & Holstein 1990; Lüscher 2001; 2003). Diese ‚Besonderung’ kann(!) sich, wie oben angedeutet, z.B. durch eine alle Lebensbereiche umfassende wechselseitige Fürsorge und die Bereitschaft zeigen, Verantwortung für den anderen bis hin zu seinen existenziellen Belangen zu übernehmen. Das bedeutet aber in der hier verfolgten Konzeption des Familienbegriffs eine Umkehrung des Blickwinkels, denn: Nicht ‚die Familie’ als solche garantiert diese Beziehungs-
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qualitäten, weil sie ‚essentiell’ für Familie wären, sondern umgekehrt. Soziale Beziehungen – z.B. mit einem besonderen Grad an Fürsorge und bestimmten Formen der Verantwortungsübernahme für bestimmte Andere – bedeuten ‚Familie’, weil und indem sie in einer gegebenen Gesellschaft als kennzeichnend für Familie gelten (in Abgrenzung zu anderen sozialen Beziehungen). Damit richtet sich der familiensoziologische Blick nicht mehr auf eine deskriptive Vermessung von Familienformen, sondern fokussiert zum einen die Frage danach, welche Deutungen wie in einer gegebenen Gesellschaft als Familie zur Geltung gebracht werden: Wie wird ‚wahres’ (‚für-wahr-nehmbares’ im Sinne von als gültig gesetztes) Wissen über Familie als vorherrschende symbolische Ordnung von Familie erzeugt und durchgesetzt? Und zum anderen: In welchem Verhältnis steht diese symbolische Ordnung zur Praxisebene alltäglicher Ausgestaltungen und Erfahrungen von Familie aus Sicht der handelnden Subjekte? Die Fundamente und Implikationen dieser analytischen Blickrichtung auf Familie sollen in den nächsten Abschnitten kurz ausgearbeitet werden. 2
Familie aus kulturtheoretischer Perspektive
Den Ausgangspunkt hierfür bildet die Annahme, Wirklichkeit – auch familiale Wirklichkeit – ist sozial konstruiert: „A family is an organization that creates meaning among its members. A family is begun by two adults who bring with them certain meanings derived from the culture and from their individual life histories. But they do not simply enact their culture and re-enact their individual histories. They create meaning through their interaction.“ (Handel 1985, S. XII f.)3
Damit sind für eine theoretische Konzeptualisierung von Familie drei, miteinander verbundene, aber analytisch zu trennende Ebenen benannt: die konkrete, institutionell präformierte, aber keineswegs fixierte Handlungs/Interaktionsebene, auf der sich Familie als spezifischer sozialer Zusammenhang über symbolische Interaktion konstituiert; die Subjektebene – hier in Bezug auf die Lebensgeschichte, die Biographie der Interaktionspartner mit ihren jeweiligen Selbstbildern; 3 Ähnlich argumentieren Peter L. Berger und Hansfried Kellner in ihrem klassischen Beitrag über die Ehe und die Konstruktion von Wirklichkeit, in dem sie dem Gespräch, der alltäglichen Interaktion der Ehepartner als wechselseitig ‚signifikante Andere’ „prometheische Kraft“ beimessen. Darin wird potentiell eine eigene, ‚neue’, intersubjektiv geteilte Wirklichkeit zwischen den Lebenspartnern geschaffen, die sich nicht allein in der einfachen Reproduktion gesellschaftlich-kulturell vorgegebener Muster von Liebe, Partnerschaft, Ehe mit den dazu gehörenden Rollenvorgaben erschöpft (Berger & Kellner 1965, S. 222).
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die aggregierte kulturelle Ebene mit ihren Werte- und Normensystemen und kollektivierten Sinnwelten, die in der Alltagspraxis reproduziert und auch – durch Sinnverschiebungen, neue Deutungen – gleichsam ‚von unten’ abgeändert werden kann. Im Begriff ‚Familie’ verbindet sich demnach ein Deutungs- und Handlungszusammenhang, in dem sich seine material-strukturelle Basis als konkret beobachtbare Lebenspraxis (z.B. als zählbare Haushaltsformen und beschreibbare Beziehungskonstellationen) mit alltäglichen Einstellungen, Sinnsetzungen und biographischen Erfahrungen von Männern, Frauen und Kindern vermengen und verdichten. Diese wiederum stehen in enger Wechselwirkung zu den gesellschaftlich herrschenden Leitbildern, Normen, Wertvorstellungen als das den Subjekten prinzipiell verfügbare Wissen zu Familie. Abb. 1: Mehrebenen-Modell von Familie
Schematisiert man diese Gemengelage über die Zeitachse (t) hinweg und entlang einer soziologischen Mehrebenenperspektive auf Familie (Abb. 1), lässt sich ‚Familie’ zum einen – makrosoziologisch – als historisch-kulturell gewachsenes institutionelles Gefüge mit legitimierenden und formierenden Werten, Normen, Rollenleitbildern und -vorgaben fassen. Zum anderen ist ‚Familie’ – mikrosoziologisch gesehen – als spezifischer Interaktionszusammenhang zur Alltagsbewältigung von Individuen zu verstehen. Darin stellen die Familienmitglieder als
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interagierende Subjekte in ihrer konkreten Rollenausgestaltung und den damit korrespondierenden Selbst-/Fremdwahrnehmungen als Lebenspartner, Eltern, Söhne, Töchter, Geschwister etc. eine gemeinsam geteilte, als ‚Familie’ gedeutete Wirklichkeit auf Dauer her (vgl. auch Nave-Herz 2004, S. 30). Eine solche begrifflich-analytische Dimensionierung von Familie anhand von zunächst ‚leeren’ soziologischen Analysekategorien wie soziale Rolle, Normen und Werte etc. bedarf einer inhaltlichen Ausfüllung, die theorie-generierende Fragestellungen eröffnet. Wenn aber Paar- bzw. Eltern-Kind-Beziehungen offenkundig nicht in jeder Kultur das gleiche bedeuten, wie lassen sich – ohne implizite Werungen einzuziehen oder gar vor der möglichen deskriptiven Vielfalt zu kapitulieren – verschiedene Kulturen und damit korrespondierende ,Familienmuster‘ systematisch voneinander unterscheiden? Tab. 1: Kulturtypen und die Ordnung von Familie (Helle 1985, S. 143) Kulturtyp matristisch patristisch autonom frauliche autonom männliche Wertesystem Kreativität Kreativität patrilineal Abstammungsordnung matrilineal Paarungsehe, mat- patrilineare ElternEhetyp rilineare Elternehe ehe Mutter-Tochter Vater-Sohn zentrales Paar in der Familie permissiv restriktiv Sexualnormen irrelevant Ergebnis männliVaterschaft cher Kreativität Mutterschaft
Ergebnis fraulicher Kreativität
Erweis männlicher Potenz
Stabilisierung der Mann-Frau-Beziehung Ehescheidung
Blutsbande (Onkel, Bruder, Sohn) Entlassung des Mannes, Mutter behält die Kinder
Nachwuchs: ‚Mutter meiner Söhne’ Entlassung der Frau, Vater behält die Kinder
interaktiv / bilateral Mann-FrauInteraktion bilateral bilaterale Elternehe Ehemann-Ehefrau restriktiv Ergebnis des Konsensus mit der Mutter Ergebnis des Konsensus mit dem Vater Eheintimität Trennung zweier Clans
Hierzu hat Horst Jürgen Helle (1981; 1985) ein (idealtypisches) – als Heuristik dienendes – Modell (vgl. Tab. 1) skizziert, welches den Zusammenhang von Kulturtyp und Familienkultur als jeweils spezifische symbolische Ordnung von Familie analytisch ausweist. Diese idealtypische Gegenüberstellung anhand dreier Kulturtypen, der matrilinealen, patrilinealen und bilateralen (bilinealen) Kultur, basiert auf der Annahme eines Zusammenhangs zwischen unterschiedlichen Abstammungsordnungen, den jeweiligen, dahinter stehenden dominanten
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Wertesystemen und der normativen Ordnung von Sexualität, Fruchtbarkeit sowie der Mann-Frau- und Eltern-Kind-Beziehung. In der matrilinealen Kultur basiert das Wertesystem im Kern auf der autonomen fraulichen Kreativität: Fruchtbarkeit als biologische Bestandserhaltung von Gesellschaft über die Zeit ist in diesem Wertesystem, in diesem Denken primär der weiblichen Fähigkeit zu gebären zugerechnet. Im Gegensatz dazu steht die patrilineale Kultur mit ihrem Wertesystem, welches um autonome männliche Kreativität und Potenz kreist: Der ‚Stammvater’ ist derjenige, dem die Familie und damit die Gesellschaft ihre Existenz verdankt. In der Synthese aus beiden Kulturtypen zentriert sich das Wertesystem in der bilateralen Kultur um die Mann-Frau-Interaktion, wobei bilateral nicht ‚gleichberechtigt’ (im heutigen politischen Sinne) heißen muss, sondern ‚gleichwertig’, was sich durchaus in unterschiedlichen Rollenanforderungen ausdrücken kann, die potentiell jedenfalls als gleichwertig gedacht sind, realiter aber geschlechterungleiche Effekte haben können. Anstelle einer vergleichenden Sammlung bspw. von Verwandtschaftssystemen oder der Beschreibung von Geschlechterrollenwandel bietet das Modell die Möglichkeit, entlang dieser Idealtypologie die heutige, vermeintliche oder tatsächliche Vielfalt von normativen Vorstellungen, Deutungen und gelebten familialen Wirklichkeiten in deren empirischen Vorkommen zu systematisieren und in ihrem Verhältnis zueinander zu prüfen. Das beginnt bei den – je nach Kulturtyp und Familienordnung – notwendigerweise unterschiedlichen Sexualnormen über die differierenden Deutungen von Vaterschaft und Mutterschaft bis hin zu den verschiedenen zentralen Beziehungsachsen in der Familie und den Konsequenzen für Ehescheidungsregelungen (vgl. Helle 1985, S. 100 ff.; vgl. Helle 1981, S. 434 ff.).4 Festzuhalten ist: Anders als bei der obigen, deskriptiv bleibenden Komponenten-Definition und Familientypologie spannt sich hiermit ein idealtypisch gefüllter Analyse-Raum auf, mit dem die zu beobachtenden empirischen Phänomene konfrontiert und in ihren realtypischen Ausprägungen durchleuchtet werden können, wobei sich dann zeigt, inwieweit die idealtypische Beschreibung für die Analyse fruchtbar ist, aktualisiert, erweitert oder gar revidiert werden muss. So 4 Historisiert man dieses idealtypische Modell, so haben z.B. westliche Gesellschaften eine Entwicklungslinie vollzogen, in der sich mit dem christlich begründeten, dann säkularen bürgerlichen Eheund Familienideal die – von den Verwandtschaftsclans weitgehend unabhängig gesetzte – MannFrau-Interaktion in der Form der intimen Paarbeziehung als zentrale Beziehungsachse für Familie kulturell formiert und gesellschaftlich durchgesetzt hat. Dieses Ehe- und Familienideal im Rahmen einer bilateralen Familienordnung kann als ein zentraler Motor im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft bzw. bei der Durchsetzung der Moderne betrachtet werden. Empirisch zu prüfen wäre bspw., inwieweit sich in heutigen Familien – Stichwort ‚Kindzentriertheit’ – Gewichtungen in der symbolischen Bedeutung von Paar- und Eltern-Kind-Beziehung entlang divergierender Wertereferenzen verschieben, sich vielleicht sogar ein ,vierter Kuturtyp‘ herausbildet.
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könnten bspw. moderne dynamische Gesellschaften dahin gehend geprüft werden, ob sie vielleicht heute weniger durch Pluralität und Heterogenität, sondern vielmehr durch ein „antagonistisches Nebeneinander verschiedener Teilkulturen“ (ebd., S. 143) gekennzeichnet sind – und zwar möglicherweise viel grundlegender als bspw. die heute verbreitete Rede vom ‚Migrationshintergrund’ und damit verbundener ‚kultureller Andersheit’ einzelner Bevölkerungsteile glauben machen will. In der heutigen individualistischen Gesellschaft erfahren dann Angehörige verschiedener Teilkulturen in ihrer eigenen Ehe, in ihrer Familie bspw. ‚private’ Probleme, obwohl unterschiedlichen kulturell präfomierten Familienordnungen geschuldet, als persönliches Versagen. Oder für den einen mag gleichsam als öffentliche Schande für sich und seine Herkunftsfamilie gelten, was für den anderen doch ‚nur’ eine nicht weiter dramatische Beziehungsstreitigkeit darstellt, die unter ‚vier Augen’ im eigenen Privatraum zu klären wäre. So oder so handelt es sich jedenfalls um kulturelle Inkompatibilitäten, deren ‚überindividueller’, sozialer Charakter über bloße Unterschiedlichkeit und Vielfalt hinausweist. An diesem Punkt bedarf es einer weiteren Öffnung des Blickwinkels, indem die in den vorangegangenen Ausführungen theoretisch noch weitgehend unscharf gebliebene Kategorie des ‚Wissens’ im Sinne kollektivierter Wissensbestände und ihres Verhältnisses zur Praxis, zur Alltagserfahrung von Familie zu präzisieren ist. Deshalb soll der bislang kulturtheoretisch konturierte Blick um eine wissenssoziologisch orientierte, diskurs-/dispositivanalytische Fundierung erweitert werden (vgl. Bührmann/Schneider 2008; Keller et al. 2008, 2006, 2005).5
5 In der Tradition von Karl Mannheim, Peter L. Berger und Thomas Luckmann untersucht die neuere Wissenssoziologie die „Seinsverbundenheit“ (Mannheim) des Wissens im Zusammenhang zwischen den in einer Gesellschaft oder in Untergruppierungen dominanten Denkkategorien, Wissensbeständen und -ansprüchen und der je erfahrenen Wirklichkeit, wie sie die handelnden Subjekte entlang ihres Alltagswissens in und durch Interaktion und Kommunikation (re-)produzieren. Seit den 1990ern verbindet sich eine solche wissenssoziologische Perspektivierung – insbesondere in Auseinandersetzung mit Michel Foucaults Arbeiten – mit diskurs- und dispositivtheoretischen Annahmen, die die Grundlage für die folgenden Ausführungen bilden.
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Wissenssoziologisch-diskurs-/dispositivanalytische Weiterungen
Wie im vorangegangenen Abschnitt bereits angedeutet, wird der Deutungszusammenhang ‚Familie’, innerhalb dessen die Individuen ihren erlebten familialen Alltag mit Sinn ausstatten, nicht von jedem einzelnen Individuum völlig neu entworfen. Wir werden – wie z.B. Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1969) in ihren sozialisationstheoretischen Überlegungen im Anschluss an George H. Mead erläutert haben – hineingeboren in eine bereits vorgedeutete Welt. Durch die Interaktion mit Bezugspersonen, in der Regel zunächst den Eltern, die uns dabei zu ‚signifikanten Anderen’ werden, beginnt jener Prozess, in dem wir in diese sinnhafte Welt hineinsozialisiert werden, mit der wir uns dann aktiv über unsere gesamte Lebensspanne hinweg deutend und ‚sinnverstehend’ auseinandersetzen. In diesen Interaktionsprozessen entwickeln wir auch jene Vorstellungen, Bilder von uns selbst, die uns als ‚Identität’ in der Fremd- und Selbstwahrnehmung als ‚Selbst’ kennzeichnen. Doch wie lassen sich solche ‚sinnbastelnden’ Individuen analytisch fassen, die als Väter, Mütter, Kinder, Großeltern, Ehepartner, als Zusammenlebende oder als sich zusammengehörig Fühlende in ihren Bildern, Vorstellungen, Deutungen und Sinnsetzungen ihre alltäglichen Erfahrungen konstituieren, daran ihr Handeln orientieren und in alledem sich als ‚Selbst’ erfahren und zum Ausdruck bringen? Und zwar nicht nur in einer genuin sozialisationstheoretischen Perspektive, sondern in ihrer grundlegenden Konstituiertheit, in ihrer Verwiesenheit auf jene bereits vorgedeutete Welt mit ihrer jeweiligen überindividuellen Ordnung des ‚kollektiven Wissens’, durch die sie als Subjekte hervorgebracht werden und aus deren Reservoir sie in ihrem Alltag schöpfen? 3.1
Wissen und Macht: Familien-Rhetoriken – Diskurse um Familie
Was als ‚Familie’ erfahren wird, kann nicht unabhängig davon betrachtet werden, welche ‚Perspektiven’, welches ‚Wissen’ über Familie in einer gegebenen Gesellschaft vorhanden ist. Somit gewinnt die Produktion, Akkumulation und Vermittlung von (wissenschaftlichem ebenso wie alltäglichem) Wissen über familiale Verhaltensweisen (und deren Wechselwirkungen), gewinnt das (insbesondere öffentlich-mediale) Reden über Familie für die familiensoziologische Analyse an Bedeutung. Vor diesem Hintergrund haben Lüscher, Wehrspaun und Lange bereits Ende der 1980er vorgeschlagen, die ‚Rhetorik von Familie’ zum Forschungsgegenstand von Familiensoziologie zu machen, denn gerade für die (zunehmend reflexiven) Sozialwissenschaften gilt: „Ihre ‚Gegenstände’ werden durch die sie betreffende Rhetorik mitkonstituiert“ (Lüscher, Wehrspaun & Lan-
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ge 1989, S. 65; Lüscher 1995). ‚Familien-Rhetorik’ – zu finden z.B. in Presseberichten, Politikerreden, Ratgeber-Literatur usw. – meint dabei den Ausdruck all jener Bemühungen, „eine bestimmte Auffassung von Familie so vorzutragen, daß die in der jeweiligen Perspektive enthaltenen Schemata in subjektive Orientierungen anderer Menschen eingehen“ (ebd., S. 75): Familie in der existenziellen Krise, Familie als Keimzelle der Gesellschaft usw. Soweit mag die von Lüscher et al. vorgetragene wissenssoziologische Akzentuierung einleuchten, jedoch deutet die Formulierung „(...) so vorzutragen (...)“ deutet auf die ungeklärte Problematik hin, dass sich solche Rhetoriken ja nicht gleichsam im luftleeren Raum manifestieren. In der Vielzahl von angebotenen Rhetoriken zur Familie finden manche mehr, manche weniger Gehör, andere wiederum sind gar nicht im Angebot zu finden. Die damit angefragte Dimension einer ‚machtvollen Ordnung’ der Rede von Familie rückt den mittlerweile in den Sozialwissenschaften ausgearbeiteten und etablierten Begriff des ‚Diskurses’ in der Denktradition Michel Foucaults in den Vordergrund. Damit lässt sich das Problem adressieren, wer zu welchem Zweck welche Rhetorik produziert und warum sich diese durchsetzt und jene nicht, ohne dabei diskursive Prozesse allein durch solche Interessenskonstellationen erklären zu wollen. Der hier verfolgte Diskursbegriff geht über das Konzept der ‚Familien-Rhetorik’ mit ihrer Bedeutung für die Konstruktion von familialer Wirklichkeit hinaus, indem er auf die Voraussetzungen, Grundlagen und Konsequenzen verschiedener Rhetoriken im Sinne von ‚Wissenspolitiken’ zielt. Der Begriff ‚Wissenspolitik’ meint in einem diskurstheoretischen Sinn eine hegemonialisierend wirkende ‚Wahrheitspolitik’ als machtvolle institutionelle Durchsetzung von als ‚wahr’ geltendem Wissen, welches sowohl im sozialen Austausch, in den sozialen Bezügen der Menschen handlungswirksam wird als auch ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung als Subjekte bestimmt (vgl. Foucault 1978; Hirseland/Schneider 2006). Somit geht es einer wissenssoziologisch-diskursanalytischen Sichtweise auf Familie vor allem darum, jene diskursiven Praktiken zu rekonstruieren, die bestimmte (partikularistische) Deutungen zu Familie, ein bestimmtes Wissen um Familie als ‚gültig’ (vom Anspruch her z.B. als universalistisch, als ‚natürlich gegeben’) konstituieren, auf Dauer stellen, institutionell durchsetzen, absichern – oder das herrschende Wissen um Familie auch verändern, durch ein neues ersetzen. ‚Diskurs’ als analytische Kategorie bezeichnet dabei ganz allgemein die Gesamtheit „eine[r] nach unterschiedlichen Kriterien abgrenzbare[n] Aussagepraxis bzw. die Gesamtheit von Aussageereignissen,“ mit der je spezifische Wissensordnungen prozessiert werden und die „im Hinblick auf institutionell stabilisierte gemeinsame Strukturmuster, Praktiken, Regeln und Ressourcen der Bedeutungserzeugung untersucht“ werden kann (Keller 2005, S. 229). Diese formale Begriffsbestimmung, auf das hier interessierende Feld der Wissensordnung um Fa-
Pluralität – Heterogenität – Heterotopie?
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milie übertragen, bedeutet: Das, was wir als Familie (als Eltern-Kind-Beziehung, als Väterlichkeit, als Mütterlichkeit usw.) ,für-wahr-nehmen’ und in und durch unser Handeln ‚wirklich’ werden lassen, gründet in den entsprechenden diskursiven Prozessen. Nicht die ‚Gegenstände’, ‚Objekte’ (z.B. das Kind, das Gefühl der Zuneigung etc.) bestimmen die über sie geführten Diskurse, sondern umgekehrt: Diskurse produzieren, formen ihre ‚Objekte’, ihre ‚Gegenstände’ – das ‚eigene’ Kind gegenüber dem ‚fremden Kind’ (z.B. im Sinne biologischer Abstammung), die väterliche Autorität gegenüber dem einfühlsamen Vater, die mütterliche Liebe gegenüber der Rabenmutter usw. –, indem sie entlang ‚machtvoller Regeln’ über sie sprechen, und worin diese (Aussage-)Regeln bestimmen, über was in welchem Diskurs wie gesprochen, was als wahr anerkannt und als falsch verworfen wird (vgl. Foucault 1978; Schneider 1994). Diskurse formieren mit ihren jeweiligen Wissenspolitiken so auch die Art und Weise, wie Individuen sich selbst und wechselseitig als ‚Subjekte’ adressieren können und sollen, welche ‚Selbst-Deutungen’ ihnen als ‚eigene Identität’ institutionell zuerkannt oder aufgezwungen werden und wie sie sich jeweils als ‚Selbst’ zu anderen zu positionieren haben (z.B. als Kind zu den Eltern, als verantwortungsvolle und fürsorgliche Eltern etc.). Kurzum: Gemeinsam geteilte Werte, kollektive Deutungsmuster, Alltagsvorstellungen zu Familie sowie die damit einhergehenden Normierungen und institutionellen Handlungsvorgaben für die involvierten Akteure sind Resultate der diskursiv vermittelten und jeweils dominanten Wissenspolitiken. 3.2
Subjektivierung und Praxis – Zum Dispositivbegriff
Allerdings erscheint ein solcher analytischer Zugriff auf ‚Wissenspolitiken’ über diskursive Prozesse im Sinne von Aussageereignissen und -regeln für sich genommen als noch nicht hinreichend, denn Diskurse reproduzieren sich über ihre institutionelle Infrastruktur (Maßnahmenbündel, Regelwerke, Artefakte etc.), erzeugen und entfalten hierüber ihre Effekte und Machtwirkungen – und zwar sowohl ‚in’ wie ‚zwischen’ den Subjekten (vgl. Hirseland & Schneider 2006; Keller 2005, S. 229, 253ff.). Als solche Infrastruktur-Beispiele, die gleichermaßen (nicht-diskursive) Bedingungen wie ‚vergegenständlichte’ Effekte von Diskursen bilden, können Gesetzestexte zum Unterhaltsrecht oder Erziehungsratgeber, Gebäude wie Kindertagestätten oder die Architektur von Privatwohnungen oder Spielzeug usw. genannt werden. Der damit avisierte konstitutive Zusammenhang zwischen einerseits nicht-/diskursiven Praktiken, ihren ‚Vergegenständlichungen’, Objektivationen und den damit einhergehenden Subjektkonstitutionen wird in der aktuellen diskurstheoretischen Debatte unter dem Dispositivbegriff gefasst
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Werner Schneider
(vgl. Foucault 1978; 2005; vgl. auch Bührmann & Schneider 2008; Schneider & Hirseland 2005). Dispositive sind als Ensembles zu verstehen, welche Diskurse, Praktiken, Institutionen, Gegenstände (Materialitäten) und Subjekte als Individuen und/oder Kollektive, als Handelnde oder ‚Erleidende’ umfassen. Diese Ensembles sind weder zufällig noch intentional (z.B. bestimmt durch eine herrschende Klasse) oder von abstrakten, allgemein gültigen gesellschaftlichen Ursache-WirkungsZusammenhängen bedingt, sondern sie antworten mit ‚strategischen Zielsetzungen’ gleichsam als ‚institutionelle Problemlösungsoperatoren’ auf je historisch spezifische gesellschaftliche Problemlagen und Transformationsphasen (vgl. Foucault 1978, S. 120ff.; Bührmann & Schneider 2008, S. 51ff.). Dispositive bezeichnen mithin aufeinander verweisende Ausschnitte einer historisch gewordenen Sozialwelt mit ihrem (je typischen) Sagen und Tun, ihren spezifischen symbolischen Sichtbarkeiten wie materialen Vergegenständlichungen – von den zuhandenen, sinnlich-material erfassbaren Alltagsdingen bis hin zu den leiblich erfahrbaren Körpern – und den in all diesem aufscheinenden, machtvollen Regeln ihrer ‚Wahr-Nehmung’, ihrer Gestaltung, ihres Gebrauchs. Im Dispositivbegriff verschränken sich also die verschiedenen Dimensionen von Foucaults Machtkonzept als strukturierte und strukturierende Wirkungen auf Wirklichkeitskonstruktionen (Wissen), institutionelle Handlungsfelder (Praxis) und individuelle Handlungsorientierungen mit ihren jeweiligen Selbstverhältnissen (Subjektivitäten) (vgl. Bührmann & Schneider 2008; Schneider & Hirseland 2005). In dem hier verfolgten Argumentationsgang erlaubt das Dispositivkonzept folglich die Rekonstruktion der gesellschaftlichen Ordnung von Familie als relationale Machtanalyse, die den Zusammenhang zwischen diskursiv vermitteltem Wissen um Familie, den institutionell-vergegenständlichten Praktiken sowie den mit Familie verbundenen Normierungen für die sozialen Bezüge und die Selbstwahrnehmung der Subjekte ausweist (z.B. als guter oder schlechter Vater, als fürsorgliche oder defizitäre Familie etc.). Dem folgend werden ‚Subjekt’ und ‚Subjektivität’ einerseits als MachtEffekte von gesellschaftlichen Diskursen verstanden, die damit gleichsam das unter den jeweils vorherrschenden Macht-/Wissensverhältnissen ‚unterworfene Subjekt’ kennzeichnen und formieren. Andererseits findet sich im Spätwerk Foucaults, zusätzlich zu dieser qua diskursiver Praxis prozessierten ‚disziplinierten Subjektivität’, auch jene ‚Selbst-Disziplinierungs-Variante’ Foucaults (z.B. 1988), in der er – vermittelt über den Dispositivbegriff – stärker die produktive Praxisseite eines sich als Selbst konstituierenden Lebensführungs-Subjekts akzentuiert hat, freilich ohne analytisch dabei die diskursive Gebundenheit von Subjektivierung aufzugeben (Bührmann & Schneider 2008). Somit ist ein zweidimensionaler Subjektzugriff grundgelegt, der analytisch zwischen einer Außen-
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und Innenseite von hergestellten und sich herstellenden Subjekten unterscheidet, um sowohl die Ebene der diskursiven Produktion und Vermittlung von Wissen als auch dessen praktische Relevanz für das Alltagshandeln und die dortigen ‚Selbst-Verständnisse’ der Handelnden empirisch zu rekonstruieren: Die Innenseite des Subjekts von Außen diskursiv adressiert, kann mit den Begriffen ‚Subjektformierung’ (als diskursiv vermittelte Identitätszuschreibungen) und ‚Subjektpositionierung’ (als zugeschriebene differentielle Identitätsfixierungen mit verschiedenen Wertigkeiten innerhalb einer Sozialstruktur) gefasst werden. Subjektformierung und -positionierung geben als analytische Kategorien folglich über die diskursiven Prozesse der Subjektherstellung, der Subjektkonstitution und deren normierende Lagerung im gesellschaftlichen Raum Auskunft (z.B. als Vater gegenüber den eigenen Kindern, der Mutter der Kinder, dem eigenen Vater bzw. der eigenen Herkunftsfamilie etc.). Dem gegenüber lässt sich der Begriff ‚Subjektivierungsweise’ in Anschlag bringen für die Art und Weise, wie Individuen diese Zuschreibungen und Fixierungen als ‚Selbste’ sich symbolischpraktisch aneignen, sie (wie erfüllend oder widerständig) darstellen, ihr ‚Selbst’ sich und anderen gegenüber anzeigen (in ihrem alltäglichen Handeln zum Ausdruck bringen) und sich somit als Subjekte selbst herstellen (Bührmann & Schneider 2008, S. 92ff.). Insbesondere mit Blick auf Machtrelationen und Herrschaftsverhältnisse ist danach zu fragen, ob und wie sich ‚das Subjekt’ in bestimmten Handlungszusammenhängen – individuell oder kollektiv – als ‚Disponierender’ oder ‚Disponierter’ (vgl. Link 2007), als Akteur oder passiv Erleidender erfährt und in entsprechender biographischer Erlebnissaufschichtung z.B. sich als Akteur seines ‚eigenen’ Lebens oder als Getriebener bzw. gar Opfer der Verhältnisse sieht. Kurzum: Das Dispositivkonzept fragt danach, wie Individuen sich in ihren Lebenswelten selbst sehen, wie sie gesehen werden möchten, aber auch, welchen Selbst-Zwängen sie sich ausgesetzt sehen und wie sie ggf. versuchen, sich dagegen zu positionieren, zu wehren. In und durch ihre dispositive Eingebundenheit entsteht ein alltagsweltlich relevantes, erfahrungsbasiertes praktisches Wissen, das Individuen einerseits dazu bringen kann, sich auf ‚normale’ und ‚nützliche’ Weise (entsprechend der ‚gesellschaftlichen Situation’, so wie sie diese ‚fürwahr-nehmen’ und erfahren) zu sich selbst und zur Welt um sie herum zu verhalten. Ebenso ermöglicht dies andererseits Individuen, sich gegen diese ihnen zugeschriebenen Positionierungen und normativen Skripts der Normalität und Eingepasstheit zu wenden und so ein ‚widerständiges’ Selbst-Verständnis und Selbst-Verhältnis zu entwickeln und darzustellen, welches als Subjektivierungsweise jedoch wiederum – weil deren Effekt – nur von den vorherrschenden dispositiven Bedingungen her zu verstehen ist.
252 3.3
Werner Schneider Heterotopien
Versucht man diese Überlegungen – gemäß der skizzierten mehrebenenanalytischen Perspektive – hinsichtlich der räumlich-zeitlich-situativen Kontextuierung familialer Alltagspraxis noch stärker zu akzentuieren, bietet der Begriff der ‚Heterotopie’, wie ihn Michel Foucault, ohne ihn ausführlicher auszuarbeiten, verwendet hat, weitere Anregungen, die über die oben diskutierten Begriffe von Pluralität und Heterogenität hinausreichen. Mit Heterotopien bezeichnet Foucault (1993, 2005) spezifische symbolische ‚Räume’ in Verbindung mit ihren konkreten, realen materialen Orten (bzw. in ihren konkret ‚verortbaren’ Materialisierungen), die in ihren Bedeutungen für die je gegebene gesellschaftliche Ordnung das jeweils ‚Andere’ repräsentieren, damit also der ‚Norm des Alltags’, den dort vorherrschenden Normalitätsvorstellungen entgegengestellt sind. Dies können verschiedene Institutionen wie bspw. das Gefängnis, der Militärdienst oder die psychiatrische Klinik sein, ebenso wie der Garten oder das Theater, die Festwiese oder der Friedhof, die Bibliothek, das Museum oder – für das Kind – das Ehebett der Eltern. In dieser konkreten materialen Verortung bzw. verortbaren Materialisierung unterscheiden sich Heterotopien nach Foucault von Utopien, die gleichsam als ‚reine Vorstellungen’ dadurch gekennzeichnet sind, dass sie (noch) keine solchen institutionellen Realisationen erfahren haben. Heterotopien sind ‚Räume/Orte’, an denen die zu einer Zeit vorgegebenen Normen nur zu einem Teil durchgesetzt sind oder die gar nach eigenen Regeln funktionieren und somit für die dort befindlichen Akteure Reflexionen, Infrage-Stellungen, Gegenentwürfe, Widersprüche, alternative Horizonte zu den herrschenden Normen erfahrbar werden lassen. Womöglich werden solche privilegierten ‚Widerräume’ eines ‚Gegenverhaltens’ gerade in modernisiert-modernen individualistischen Gesellschaften, die ihrer ehemals kollektive Verbindlichkeit beanspruchenden Utopien beraubt sind, für die Dynamik sozialen Wandels immer wichtiger. Auf diesem Begriffsverständnis aufbauend formuliert Foucault sechs Prämissen zur Kennzeichnung von Heterotopien, die aus seiner Sicht als Grundaxiome einer Heterotopologie gelten können (vgl. auch Chlada 2005). 1) Heterotopien sind in allen Kulturen zu finden – als Krisen- bzw. Transitionsheterotopien vor allem in traditionalen Kulturen oder zunehmend als Abweichungsheterotopien in heutigen Gesellschaften. 2) Sie entstehen und verschwinden also im historischen Prozess, unterliegen über den Zeitverlauf hinweg Umdeutungen und Umgestaltungen (wie z.B. der Friedhof). 3) Heterotopien umfassen an einem Ort häufig mehrere (mitunter auch unvereinbare) Räume und widersprüchliche Platzierungen (wie das Theater oder der Garten). 4) Sie folgen oft eigenen Zeitordnungen (Heterochronien), indem sie bspw. Zeit bzw. zeitlich flüchtiges Wissen speichern (das Museum, die Bibliothek) oder Zeit bzw. den normalen Zeitablauf ‚ausset-
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zen’ (die Festwiese), ihn in einen anderen Rhythmus transformieren (das Urlaubsdorf). 5) Heterotopien weisen ein System von Öffnungen und Schließungen aus, so dass der Zugehörigkeitsmodus und die Zugänglichkeit zu diesen Räumen geregelt sind. 6) Heterotopien konstituieren schließlich immer ‚reale Gegenräume’ zur vorherrschenden gesellschaftlichen Ordnung – entweder in Form einer Illusion, „welche die gesamte übrige Realität als Illusion entlarvt“, oder in Form der Kompensation. Während bei letzterem ganz real ein Raum geschaffen werden soll, „der im Gegensatz zur wirren Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung aufweist“ (Foucault 2005, S. 19f), – so z.B. das Ansinnen der puritanischen Gemeinschaften Englands bei ihrer Übersiedlung nach Amerika – , wird bei erstem die Wirklichkeit allein durch die Kraft der (real erfahrbaren) Illusion zerstreut (z.B. in den früheren Freudenhäusern). Familien ‚sind’ per se selbstredend keine Heterotopien, allerdings – so der Vorschlag hier – lassen sich bestimmte Familienwelten analytisch als Räume fassen, die vor dem Hintergrund verschiedener (teil-)kultureller Kontexte und spezifisch historisch-gesellschaftlicher Konstellationen die symbolischen Kennzeichen und alltagspraktischen Erfahrungsqualitäten von Heterotopien im Foucaultschen Sinne annehmen können. Als ein (historisches) Beispiel hierfür wäre die bürgerliche Ehe und Familie zu nennen, die sich – gemäß der bürgerlichen Privatheitsvorstellung – in ihrem ‚Privatraum’ als Gegenentwurf zur Dominanz des rationalen, kalten, entspersönlichten öffentlichen Raums der entstehenden Moderne formierte (vgl. Berger & Berger 1984). Oder: Sexuell nichtexklusive Partnerschaften (Peuckert 2008, S. 284ff.) wären heute z.B. nicht einfach als Ausdruck von sexueller Liberalität und Wertepluralismus zu sehen, sondern – je nach Wertebezug der Lebenspartner – womöglich als ‚Ausläufer’ einer Illusionsheterotopie zu deuten, welche die moderne Intimitätsnormalität entlarven soll. Paarbeziehungs- und Familienformen, resultierend aus sukzessiver Monogamie, könnten hingegen als biographisch angehäufte Krisen- oder Transitionsheterotopien mit je eigenen Zeitordnungen, eigenen Öffnungen und Schließungen dieses ‚anderen Raums’ im Verhältnis zu den gesellschaftlichen Vorgaben biographischer Kontinuität gedeutet werden. 4
Fazit: Zum Verhältnis von Familie und sozialem Wandel
Statt der theoretisch belanglosen Rede von tatsächlich wachsender oder doch nur vermeintlicher Pluralität und Heterogenität von Familie, statt ‚essentiellen’ Begriffsbestimmungen und theoretisch unbestimmten Typologien plädieren die voran stehenden Ausführungen für eine alternative Blickrichtung. Diese kann eine Familiensoziologie – besser eine ‚Soziologie des Privaten’ (vgl. Schneider 2002)
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– konturieren, in der das Private, das Familiale in seiner alltagspraktischen Ausgestaltung und in seinem Bezug zu Gesellschaft und Kultur, zu den diskursiv prozessierten Wissenspolitiken zu Familie und Privatheit sowie zu den damit verbundenen Subjektformierung und -positionierung zu analysieren ist. Eine mögliche Schlüsselfrage dabei wäre: Welche Familienwelten bilden für wen Heterotopien in welchen soziokulturellen Kontexten, welche Familienwelten sind dabei inwieweit kompatibel oder inkompatibel und welche Macht- und Herrschaftsverhältnisse (zwischen verschiedenen Familienwelten, zwischen den Geschlechtern und Generationen, zwischen dem jeweiligen familialen Innen und seinem Außen) gehen damit einher? Ein möglicher Ertrag dieser Perspektive mag schließlich darin liegen, dass – jenseits der lange Zeit üblichen Fokussierung des analytischen Blicks auf Familie entweder aus einer Mikro- (Familie als Gruppe besonderer Art) oder Makroperspektive (Familie als gesellschaftliche Institution) (vgl. Nave-Herz 2004, S. 10ff) – der dynamische Zusammenhang zwischen Subjekt, Familie und Gesellschaft/Kultur deutlicher als bisher akzentuiert ist. Das bedeutet nicht nur, wichtige makrosoziologische Aspekte (z.B. Diskursverschiebungen) in ihren Wechselwirkungen mit den alltäglichen Konstruktionen familialer Wirklichkeit(en) aus der Perspektive der Familienmitglieder zu thematisieren. Mit dem Begriff der ‚Wechselwirkung’ ist vielmehr die Frage nach dem Verhältnis zwischen Familie, Gesellschaft und sozialem Wandel nach beiden Richtungen hin offen gestellt: Familie reagiert nicht nur auf gesellschaftlichen Wandel (der z.B. veränderten ökonomischen Bedingungen geschuldet ist), sondern sie verändert selbst – z.B. über den Wandel von Familienkulturen – Gesellschaft, ist mithin also auch Akteur sozialen Wandels. Auf welchen soziokulturellen Bedingungen basieren verschiedene, dispositiv formierte und diskursiv vermittelte Familienkulturen und welche Folgen ergeben sich daraus für die Dynamik sozialen Wandels oder die Kontinuierung bestehender Verhältnisse? Antworten auf diese Fragen können mit der hier skizzierten Blickrichtung auf jeden Fall macht- und herrschaftssensibilisiert verfolgt werden. Literatur Berger, Peter L./Berger, Brigitte (1984): In Verteidigung der bürgerlichen Familie. Frankfurt a. M.: Fischer. Berger, Peter L./Kellner, Hansfried (1965): Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Abhandlung zur Mikrosoziologie des Wissens. In: Soziale Welt, 16, S.220-235. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie. Frankfurt a.M.: Fischer. Bührmann, Andrea/Schneider, Werner (2008): Vom Diskurs zum Dispositiv. Eine Einführung in die Dispositivanalyse. Bielefeld: transcript.
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Eva Matthes
Zentrale wissenschaftliche Positionen zur aktuellen Situation der Familie und ihre Widerspiegelung in Sozialkundebüchern in Deutschland – ein Werkstattbericht
Einleitung Der folgende Text gibt einen Einblick in Fragestellungen und erste Ergebnisse eines sich im Anfang befindenden Forschungsprojekts über die Darstellung der Familie in aktuellen deutschen Sozialkundebüchern. Die Darstellungen in diesen werden parallel gelesen zu den theoretischen und empirischen Ergebnissen der sozialwissenschaftlichen Familienforschung. Zentrale Fragestellungen sind die nach der Definition der Familie, nach der Unterscheidung familialer und nicht-familialer Lebensformen, nach der Berücksichtigung statistischer Daten, nach der Art und Weise der Skizzierung innerfamilialer Veränderungen im Geschlechter- und Generationenverhältnis sowie nach der Kontrastierung ‚alter‘ und ‚neuer‘ familialer Lebensformen. Eine Leitfrage hierbei ist die Dramatisierung bzw. Entdramatisierung der Heterogenität familialer (und nicht-familialer!) Lebensformen.
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Kontroversen und Ergebnisse der aktuellen sozialwissenschaftlichen Familienforschung in Deutschland – einige Akzentsetzungen
Auf dem Weg in eine „andere Moderne“ stellte Ulrich Beck in seinem 1986 erschienen Buch „Risikogesellschaft“ erstmals ausführlich die These von der Individualisierung und Pluralisierung, anders formuliert: der Heterogenität von Lebensformen dar: „Noch in den sechziger Jahren besaßen Familie, Ehe und Beruf als Bündelung von Lebensplänen, Lebenslagen und Biographien weitgehend Verbindlichkeit. Inzwischen sind in allen Bezugspunkten Wahlmöglichkeiten und -zwänge aufgebrochen. Es ist nicht mehr klar, ob man heiratet, wann man heiratet, ob man zusammenlebt und nicht heiratet, heiratet und nicht zusammenlebt, ob man das Kind innerhalb oder außerhalb der Familie empfängt oder aufzieht, mit dem, mit dem man zusammenlebt, oder mit dem, den man liebt, der aber mit einer anderen zusammenlebt, vor oder nach der Karriere oder mitten drin [...]. In der Folge wird es immer schwerer, Begriff und Wirklichkeit aufeinander zu beziehen. Die Einheitlichkeit und Konstanz der Begriffe – Familie, Ehe, Elternschaft, Mutter, Vater usw. – verschweigt und verdeckt die wachsende Vielfalt von Lagen und Situationen, die sich dahinter verbergen“ (Beck 1986, S. 163f.).
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Entscheidend hierfür sei die gesetzlich kodifizierte und auch gesellschaftlich immer weiter fortschreitende Gleichberechtigung der Frau. Diese habe gravierende Konsequenzen: „Ohne Trennung von Frauen- und Männerrolle keine traditionale Kleinfamilie“; einige Sätze weiter unten dann folgendermaßen formuliert: „Im Zuge der tatsächlichen Gleichstellung von Männern und Frauen werden [...] die Grundlagen von Familie [...] in Frage gestellt“ (ebd.). Der De-Institutionalisierungsthese, sowie der Individualisierungsthese hält Rosemarie Nave-Herz entgegen, dass bei dieser Argumentation der Begriff der Familie auf ein bestimmtes – zeitlich begrenztes – Familienmodell beschränkt würde und dies eine unnötige Verengung darstelle (vgl. Nave-Herz 2007, S. 13f.). Dieselbe begriffliche Engführung liegt nahe, wenn man den Buchtitel von Elisabeth Beck-Gernsheim „Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen“ (2000) zur Kenntnis nimmt. Ihre Begründung für diesen Titel lautet folgendermaßen: „Ob man von ‚Familie’ im Singular spricht oder von ‚Familien’ im Plural, ob man den Familienbegriff aufgibt und unter der Hand durch Begriffe wie ‚familiale Lebensformen’ oder kurz ‚Lebensformen’ ersetzt, das ist nicht Willkür oder akademische Haarspalterei. Vielmehr wird hier ein Richtungsstreit sichtbar, eine Frage, um die erbittert und anhaltend gekämpft wird: Soll man am traditionellen Bild der Familie festhalten – an jener Einheit von Vater-Mutter-Kind, standesamtlich legitimiert und lebenslang zusammengebunden – soll man darin die richtige, die normale, die angemessene Form sehen? Sollen daran gemessen die anderen Formen als unvollständig und abweichend, defizitär und dysfunktional gelten?“ (Beck-Gernsheim 2000, S. 16f.).
Beck-Gernsheim bietet in diesem Kontext dann noch den Begriff der „postfamilialen Familie“ an (S. 17). Rosemarie Nave-Herz vertritt demgegenüber die These, dass man mit einer weiten, dem historischen Wandel gerecht werdenden Definition von Familie sich zum einen alle sprachlichen Verrenkungen erspart und zum anderen nicht der Gefahr erliegt, der bürgerlichen Kernfamilie mit festgefügten traditionellen Rollenzuschreibungen einen quasi unveränderbaren Status zuzuschreiben bzw. ihren Untergang mit dem Untergang von Familie generell gleichzusetzen (vgl. Nave-Herz 2007, S. 14f.; vgl. auch: Mühlfeld 2006, S. 34). Das vorrangige Interesse von Nave-Herz gilt denn auch „dem Wandel des familialen Alltags und der innerfamilialen Beziehungen“ (ebd., S. 28). Wie lautet nun ihre Definition von Familie? Als konstitutiv für eine ‚Familie‘ erklärt sie „1. die biologisch-soziale Doppelnatur aufgrund der Übernahme der Reproduktions- und zumindest der Sozialisationsfunktion neben anderen, die kulturell variabel sind, 2. ein besonderes Kooperations- und Solidaritätsverhältnis; [...]; 3. die Generationsdifferenzierung“ (ebd., S. 5). Im Blick auf letztere unterstreicht sie: „Es darf insofern hier nur die Generationsdifferenzierung (also das Eltern- bzw. Mutter- oder VaterKind-Verhältnis) und nicht die Geschlechtsdifferenzierung, also nicht das Ehesubsystem, als essen-
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tielles Kriterium gewählt werden, weil es zu allen Zeiten und in allen Kulturen auch Familien gab (und gibt), die nie auf ein Ehesubsystem beruht haben oder deren Ehesubsystem im Laufe der Familienbiographie durch Rollenausfall, infolge von Tod, Trennung oder Scheidung, entfallen ist. Damit bilden alleinerziehende Mütter und Väter sowie nichteheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern auch Familiensysteme“ (Nave-Herz 2007, S. 5f.).
Problematisch an der Definition von Nave-Herz ist, dass sie – wie es Rüdiger Peuckert drastisch ausdrückt – die „Erosion der bio-sozialen Doppelnatur der Familie“ (Peuckert 2008, S. 25; Hervorhebung im Original) ignoriert. Als Beispiele nennt er Fortsetzungs- oder Patchworkfamilien, Adoptivfamilien und heterologe Inseminationsfamilien (vgl. ebd., S. 25f.). Auch wenn einem der Begriff ‚Erosion‘ überzogen zu sein scheint, da ca. 79% der Kinder zumindest bis zum 18. Lebensjahr mit beiden leiblichen Elternteilen zusammenleben (vgl. NaveHerz 2007, S. 23), werden doch bestimmte Familien – nicht zuletzt Adoptionsfamilien! – durch diese Definition ausgegrenzt. Deshalb formuliert etwa die Erziehungswissenschaftlerin Hildegard Macha: „Wann immer sich Erwachsene Kindern annehmen und sie dauerhaft erziehen und diese Verantwortung staatlich anerkannt ist, bilden sie eine Familie“ (Macha 1997, S. 19). Kehren wir noch einmal zu Ulrich Beck zurück. In seinem Band „Risikogesellschaft“ spricht er auch von „Freisetzung relativ zur Familie […] Die Familienbindung der Biographie wird in der Zeitachse im Wechsel zwischen Lebensabschnitten durchlöchert und so aufgehoben. Unter den austauschbar werdenden Familienbeziehungen schält sich innerhalb und außerhalb der Familie die Eigenständigkeit der männlichen und weiblichen Einzelbiographie heraus“ (Beck 1986, S. 188; Hervorhebung im Original). Beck spricht von einem „biographischen Pluralismus der Lebensformen“ (ebd., S. 189). Diese Aussage unterstützt Nave-Herz implizit insofern, als sie auf die „zeitliche Veränderung der Lebensund Familienzyklen hinweist“ (Nave-Herz 2007, S. 25), die zur Zunahme der „unterschiedlichsten Lebens- und Haushaltsformen ohne Kinder“ führe, „weil sich das Leben verlängert und sich die Familienphase durch die geringere Kinderzahl pro Familie verkürzt“ habe (ebd., S. 28). Nach Nave-Herz steht allerdings einer deutlichen Pluralisierung der Lebensformen ohne Kinder eine weitgehende Konstanz der kernfamilialen Lebensform gegenüber, die sich aber innerfamilial deutlich gewandelt habe, im Verhältnis der Geschlechter wie im Verhältnis der Generationen zueinander, was für sie jedoch keinen Formwandel darstellt. Sie macht die Konstanz zum Beispiel daran deutlich, dass – zu Beginn des 21. Jahrhunderts – 79% aller Kinder mit ihren leiblichen Eltern zusammenlebten (vgl. Nave Herz 2007, S. 23) – nach der PISA-Studie sind es um 2000 ca. 75% (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001). Andere familiale Lebensformen – wie etwa allein Erziehende – seien – so Nave-Herz – zudem nicht neu; allerdings räumt sie ein, dass ihre Gründungsanlässe überwiegend andere gewesen seien als
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heute und dass ihre gesellschaftliche Akzeptanz deutlich zugenommen habe (vgl. Nave-Herz 2007, S. 22f.). In der sozialhistorischen Familienforschung wird nachdrücklich auf die „Typenvielfalt historischer Familienformen“ hingewiesen (Mitterauer 1980, S. 35; vgl. auch: Gestrich, Krause & Mitterauer 2003). Michael Mitterauer schreibt hierzu unter anderem: „Bereits in der zentralen Zone der Familie, der Eltern-Kind-Gruppe, sind diesbezüglich die Verhältnisse in der historischen Dimension weitaus komplexer, als sie sich für den Soziologen in der Gegenwart darstellen. Vor allem in ländlichen Gebieten kam es infolge der hohen Mortalität und der wirtschaftlichen Notwendigkeit, eine neue Ehe einzugehen, in weitaus höherem Maße zur Wiederverehelichung von Witwen und Witwern. Dadurch waren Stiefeltern und Stiefgeschwister sehr weit verbreitet. Hatte ein Witwer oder eine Witwe schon aus der ersten Ehe des verstorbenen Partners Kinder übernommen und kam es dann zu einer neuerlichen Heirat, so konnten Konstellationen entstehen, in denen Kinder weder mit den Eltern noch mit einem Teil der Geschwister tatsächlich verwandt waren“ (Mitterauer 1980a, S. 31).
Es zeigt sich: Die von Peuckert so genannte „Erosion der bio-sozialen Doppelnatur von Familie“ (Peuckert 2008, S. 25; Hervorhebung im Original) ist also auch kein neues Phänomen! In der gerade zitierten Aussage hat Mitterauer schon auf die hohe Mortalität hingewiesen; diese ist einer der Gründe, warum er – wie auch viele andere Historiker/innen – vom „Mythos von der vorindustriellen Großfamilie“ (Mitterauer 1980b, S. 38) spricht. Die Lebenserwartung war deutlich geringer als heute; die Kinder- und Jugendlichensterblichkeit deutlich höher, zudem verließen viele Kinder frühzeitig den elterlichen Haushalt. Die Dreigenerationenfamilie war die Ausnahme; erweiterte Familien kamen meist durch das im ‚ganzen Haus‘ mit lebende Gesinde, ob verwandt oder nicht verwandt mit der Hausmutter und dem Hausvater, zustande (vgl. etwa ebd., S. 38ff.; Gestrich 1999, S. 63ff.). Es lässt sich meines Erachtens also festhalten, dass die innere Struktur des ‚ganzen Hauses‘, die jeweils vorhandenen Verwandtschafts- und Nicht-Verwandtschaftsbeziehungen, die Rollenzuschreibungen sehr heterogen waren: Mit der Industrialisierung wurde die Kernfamilie mit Vater, Mutter und einigen (zunehmend weniger) Kindern und polarisierter Rollenzuschreibung an die Eltern zum Leitbild, das schließlich in den Endfünfzigern und beginnenden 60er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik Deutschland seine – sehr kurzfristige! – weitestgehende Durchsetzung erfuhr. Diese erreichte Vereinheitlichung und Standardisierung wurde in den letzten Jahrzehnten einem erneuten Wandel ausgesetzt, der vor allem – darin würde ich Nave-Herz zustimmen – in innerfamilialen Veränderungen der Geschlechter- und Generationenbeziehungen zu sehen ist, wobei allerdings auch – darauf weist Peuckert nachdrücklich hin – die veränderten Verwandtschaftsbeziehungen z.B. in sog. Fortsetzungsfamilien gesehen werden
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müssen. Auch das ist, wie bereits dargestellt, historisch kein unbekanntes Phänomen. Allerdings wird dies gegenwärtig meist nicht, wie in der vorindustriellen Zeit, durch eine hohe Mortalität verursacht, sondern durch Trennung/Scheidung. ‚Ein-Eltern-Familien‘ sind nach der aktuellen sozialwissenschaftlichen Forschung ein Familiensystem – vgl. die bereits zitierte Definition von Familie nach Nave-Herz –, wobei die meisten ‚Ein-Eltern‘ diesen Lebensabschnitt als eine transitorische Phase ansehen, der in eine neue Partnerschaft münden soll und nicht selten auch mündet (vgl. Peuckert 2008, S. 186ff.). Nave-Herz spricht in diesem Zusammenhang sogar von der „statistischen Randstellung der Ein-ElternFamilie“ (Nave-Herz 2007, S. 95), um damit die ungebrochene Dominanz der Kernfamilie in der Form von Vater, Mutter und ein bis zwei Kindern zu unterstreichen. Der Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin bündelt die Ergebnisse der historischen Familienforschung zu folgender – für manche sicher sehr provokativen – Aussage: Es sei heute ein „Trend zur Familie“ zu konstatieren, da „zu keiner Zeit der überlieferten Geschichte [...] Kinder länger mit ihren leiblichen Eltern zusammengelebt“ hätten (Ladenthin 2004, S. 4f.). Und er fährt fort: „Die historische Rückschau könnte also helfen, den Begriff ‚Familie’ zu entideologisieren und zu zeigen, daß das, was wir heute idealtypisch als Familie verstehen, zumindest historisch noch nie war“ (ebd., S. 5). Andere Wissenschaftler/innen weisen darauf hin, dass auch die für die Vergangenheit vielbeschworene Mehrgenerationenfamilie eine Erscheinung der Gegenwart sei. So lesen wir etwa bei dem Erziehungswissenschaftler Eckart Liebau: „Zweifelsfrei hat sich die Familie im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung deutlich verändert. Die erste und wichtigste Voraussetzung dafür ist die markante Verlängerung der Lebenserwartungen. Sie hat zur Folge, daß erstmals in der Geschichte die Dreigenerationenfamilie zur Normalität, ja selbst die Viergenerationenfamilie nicht zur Ausnahme wird“ (Liebau 1996, S. 14). Erst einige Seiten weiter schreibt Liebau: „Natürlich leben diese drei oder gar vier Generationen nur äußerst selten komplett zusammen unter einem Dach. Aber auch wenn die Mitglieder der Familien an verschiedenen Orten leben, ändert das an der Mitgliedschaft in der Familie nichts“ (ebd., S. 21). Der Familienbegriff wird hierbei meines Erachtens allerdings auf eine Art und Weise ausgedehnt, dass er – anders als bei den Definitionen von Nave-Herz und Macha – Gefahr läuft, konturlos zu werden. Interessant ist allerdings die Stoßrichtung der Argumentation Liebaus: „Die gesellschaftliche Modernisierung und die mit ihr verbundene massive Verlängerung der Lebenserwartungen führt also keineswegs nur zur Individualisierung [wie es als wohl prominenteste Vertreter/innen Beck und BeckGernsheim sehen; E. M.], sondern zugleich zu neuen Familienstrukturen in Drei, Vier-, gelegentlich sogar Fünfgenerationenfamilien“ (Liebau 1997, S. 19). Zu-
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rückhaltender formuliert Trutz von Trotha: „Die Mehrgenerationenfamilie wird in der Form von Beziehungen zwischen alleinerziehenden Müttern oder Vätern zu ihren Eltern oder einem ihrer Elternteile wahrscheinlich an Bedeutung gewinnen [...] Dabei bleibt indes die getrennte Haushaltsführung überwiegend gewahrt, so daß man von einer ‚supplementären Mehrgenerationenfamilie’ sprechen kann“ (Trotha 1990, S. 453). 2
Schulbuchanalysen
In dem geplanten Forschungsprojekt sollen alle zwischen 1999 und 2009 in Deutschland erschienenen Sozialkundebücher daraufhin analysiert werden, welche sozialwissenschaftlichen Theorien über Familie in diese Eingang finden. Diese Schulbücher sind im Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung in Braunschweig gesammelt und können in einem längeren Forschungsaufenthalt dort alle eingesehen werden. Bisher wurde eine erste Stichprobe auf der Basis von 10 leicht zugänglichen Sozialkundebüchern durchgeführt. Auf dieser Basis erfolgte eine erste Hypothesenbildung, die im Folgenden an einigen Beispielen erläutert wird. Erstens fehlt in den Schulbüchern eine klare Definition von Familie, auf der die jeweils nachfolgenden Aussagen aufbauen: In dem Sozialkundebuch Mensch und Politik, Hannover 2004 werden unter der Überschrift „Leben in der Familie“ zwei Bilder gezeigt: eine Drei-Generationen-Familie ohne Vater und Großvater und ein schwules Hochzeitspaar. Es ist anzunehmen, dass diese Darstellung bei Schülerinnen und Schülern nicht zu einem klaren Verständnis über den Familienbegriff führt, denn: ein schwules Paar ohne Kinder ist keine Familie – außer man weitet den Familienbegriff so aus, dass er völlig konturlos und als Beschreibungskategorie untauglich wird. In Zur Sache Sozialkunde, Berlin 2001 wird eine Pluralität quantitativ gleich starker Familienformen suggeriert: „Heute gibt es vielfältige Formen der Familie: verheiratete und nicht verheiratete Paare mit Kindern, allein Erziehende oder durch Wiederverheiratung neu entstandene Familien“ (S. 30f.). Sodann folgt der Satz: „Das alte Leitbild der Kleinfamilie als ‚ideale Form’ besteht allerdings nach wie vor“ (S. 31). Dieser Satz muss bei Schülerinnen und Schülern Unverständnis erzeugen, denn man könnte aus diesem Satz schließen, es wäre vorher die Entwicklung hin zu einer Großfamilie beschrieben worden. Danach folgt ein Ausschnitt aus dem bereits erwähnten – und alles andere als unumstrittenen – Buch von Elisabeth Beck-Gernsheim Was kommt nach der Familie? Einblicke in neue Lebensformen (2000); in dem Ausschnitt geht es um „Fortsetzungsehen und Wahlverwandtschaften“ (Zur Sache
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Sozialkunde, Berlin 2001, S. 31). Anregungen etwa zu einer kritischen Reflexion über den Titel des Buches fehlen. In der „Zusammenfassung“ (ebd.) heißt es wenig befriedigend, da nicht zu gedanklichen Klärungen führend: „Die Familie ist nach wie vor die wichtigste Grundform des gesellschaftlichen Lebens. Doch das Bild der Familie ist einem starken Wandel unterworfen und stellt sich immer weniger einheitlich dar. Angesichts der hohen Zahl von Ehescheidungen und Partnerwechseln nehmen neue Familienformen immer mehr zu. Viele Kinder und Jugendliche sind heute schon Mitglieder von zwei Familien“ (ebd.). Damit wird stillschweigend das Kriterium aufgegeben, dass zu einer Familie grundsätzlich auch ein gemeinsamer Haushalt gehört; vor allem aber wird erneut eine ahistorische Leseweise geboten. Familie als Haushaltsfamilie voraussetzend lesen wir in Sozialkunde 1, Schulbuch für Sachsen-Anhalt, Hannover 2001: „Jede Familie gestaltet das Familienleben anders. In manchen Familien gehen der Vater und die Mutter arbeiten und teilen sich die Hausarbeit [eine Beschönigung der Realität; E. M.]. Alleinerziehende und berufstätige Mütter meistern Beruf, Haushalt und Kindererziehung selbst, denn einen Vater gibt es nur einmal im Monat. Die Familie ist im Wandel“ (S. 8). Wiederum wird suggeriert, dass der Anteil von Elternpaaren und „Ein-Eltern“ annähernd gleich ist. In Mitgestalten, Troisdorf 2003 heißt es hingegen: „Die heute vorherrschende Form des Zusammenlebens ist die Kern- und Kleinfamilie. In der Regel besteht sie aus der Frau, dem Mann und den heranwachsenden, nicht selbständigen Kindern“ (S. 13f.) – wobei die Verwendung des bestimmten Artikels hierbei irreführend ist. Weiter lesen wir: „So, wie sich die gesamte Gesellschaft verändert und entwickelt, geschieht dies auch mit der Familie. Immer ‚neue Formen des Zusammenlebens’ [...] bilden sich heraus und etablieren sich neben der traditionellen Familienform“ (S. 14) – wobei „traditionell“ eine lang andauernde, seit Generationen überkommene Form suggeriert, wiederum Erkenntnisse der historischen Familienforschung ignorierend. Danach folgt eine drastische Formulierung: „Besonders wegen sinkender Geburtenzahlen und steigender Scheidungsraten wird erwartet, dass sich die Familie bald auflöst“ (ebd.) – hier wird plötzlich ein Krisengerede angestimmt, das sozialwissenschaftlich in keiner Weise abgesichert ist und zu Ende gedacht werden müsste: Was heißt es bzw. wie interpretieren die Autoren/Autorinnen, wenn sie die Auflösung der Familie prognostizieren? Dass keine Kinder mehr geboren oder dass sie nicht mehr erzogen werden? Oder beides? Dass eine Gesellschaft dem Untergang geweiht ist? Im nächsten Satz heißt es dann allerdings in dem Schulbuch (beruhigend?): „Die Familie ist die beständigste Form menschlichen Zusammenlebens. Sie hat für die Entwicklung und das Leben des Menschen große Bedeutung und gilt als Grundwert unserer Gesellschaft“ (ebd.). Was sollen Schülerinnen und Schüler aus solch einer ambivalenten Darstellung mit nach Hause nehmen? Darauf zu hoffen, dass es die Lehr-
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kräfte wohl richten werden, wäre – nicht zuletzt bei einem so komplexen und emotional aufgeladenen Thema wie Familie heute – zu kurz gegriffen. Eine besonders unbefriedigende, existierende familiale Lebensformen ausschließende Definition von Familie findet sich in Begegnungen. Geschichte Sozialkunde Erdkunde für die 5. Klasse Hauptschule, München 2005: „Familie, das ist die Heimat für Menschen, die miteinander verwandt, verheiratet oder verschwägert sind, die zusammen – oder getrennt leben. Familie, das ist der Ort für gelebte Beziehungen: Ehepaare, die ein Kind erwarten; Ehepaare, die mit ihren Kindern zusammenleben; allein erziehende Mütter oder Väter mit ihren Kindern; Ehepaare oder Alleinstehende, deren Kinder den elterlichen Haushalt verlassen haben“ (S. 12). Auch die nachfolgenden Ausführungen zu „Die Familie und ihre Formen“ sind schlicht falsch. Zweitens wird nicht zwischen der Pluralität familialer Lebensformen und solcher ohne Kinder unterschieden, was zu einer verzerrten Wahrnehmung führt: In Demokratie heute, Politik und Wirtschaft Realschule Hessen, Hannover 2004 lesen wir: „In den letzten Jahrzehnten gab es in Deutschland Veränderungen im Bereich der Familie, die durch folgende Stichworte beschrieben werden können. In unserer Gesellschaft wachsen immer weniger Kinder auf. Immer mehr Ehen bleiben kinderlos. Nur in etwa jedem vierten Haushalt leben heute Kinder. Die Zahl der Ein-Personen-Haushalte ist stark angestiegen, vor allem, weil immer mehr Menschen freiwillig als Single leben“ (S. 30; Hervorhebung E. M.) – eine Aussage übrigens, die in der Form empirischem Datenmaterial nicht standhält (vgl. Peuckert 2008, S. 47ff.). Weiter im Schulbuchtext: „Verglichen mit früher gibt es heute deutlich weniger Kinder aus großen Familien. Immer mehr Familien gehen auseinander. Wurde 1960 nicht einmal jede zehnte Ehe geschieden, so ist es heute mehr als jede dritte. Der Anteil der allein Erziehenden hat sich in den letzten dreißig Jahren mehr als verdoppelt. Neun von zehn allein Erziehenden sind Frauen. Die Zahl unehelicher Geburten nimmt zu. Auch der Anteil nichtehelicher Lebensgemeinschaften steigt seit Jahrzehnten stark an“ (S. 30). In Mitgestalten, Ausgabe Sachsen, Lehr- und Arbeitsbuch für Sozialkunde an beruflichen Schulen, 2003 werden unter „Die neuen Lebensformen“ (S. 14) – die, wie ich bereits unter Bezug auf die einschlägige Literatur darstellte, längst nicht alle ‚neu‘ sind – subsumiert: „Modernisierte Familien“: DoppelverdienerFamilie, Wochenend-Familie; Familie mit Hausmann, Familie mit Tagesmutter; „Neue Eltern“: Alleinerziehende Mütter, Alleinerziehende Väter; Homosexuelle Paare mit Kind(ern); Kinderlose: Singles; Kinderlose Ehe oder Partnerschaft, Wochenend-Beziehung; Schwule und lesbische Partnerschaft; „Zusammengesetzte Lebensformen“: Stief- oder Fortsetzungsfamilien; Freie Wohn- und Lebensgemeinschaften. Das gibt – zumal ohne Zahlenangaben und, indem jeweils
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suggeriert wird, als wären die Anteile jeweils ähnlich groß1 – ein sehr buntes Bild der bundesrepublikanischen Wirklichkeit, was allerdings mit der gesellschaftlichen Realität nur wenig zu tun hat, ja, in der Form nicht einmal für die deutschen Großstädte zutrifft. Drittens findet sich in den Schulbüchern nach wie vor der Mythos von der vorindustriellen Großfamilie: Hierfür zwei Beispiele: So heißt es etwa in Sozialkunde 1, Klasse 8, Hannover 2001, Schulbuch für Sachsen-Anhalt: „Das Leben der Familie ist immer von gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig. Früher lebten die Menschen meist in Großfamilien auf dem Land zusammen [...]. Der technische Fortschritt und die industrielle Entwicklung wirkten sich auf die Familie aus [...]. Aus der Großfamilie, in der mehrere Generationen zusammenlebten, wurde die Kleinfamilie. Sie besteht nur noch aus Eltern mit ihren Kindern [...]. Die Beziehungen vieler Großeltern zu ihren Kindern und Enkeln sind heute anders als früher. Viele sehen ihre Großeltern selten, weil sie weit weg wohnen. Heute ist die Kleinfamilie selbstverständlich geworden. Alles ist auf das Leben in der Kleinfamilie ausgerichtet“ (S. 15). In Demokratie heute 7. Politik und Wirtschaft. Hessen Realschule, Hannover 2004 lesen wir unter der Überschrift „Das Wichtige in Kürze“: „Seit der Industrialisierung hat sich auch die Familie verändert: Früher gab es vor allem die Großfamilie: Eltern, zahlreiche Kinder, Großeltern und unverheiratete Verwandte lebten und arbeiteten gemeinsam in einem Haushalt. Heute gibt es vor allem die Kleinfamilie (Kernfamilie). Sie besteht aus zwei Generationen: Eltern und Kinder [sic!]“ (S. 34). In den von mir bisher durchgesehenen aktuellen Sozialkundeschulbüchern ist das Schulbuch Mensch und Politik, 7./8. Schuljahr, Hannover 2004 das einzige, das den Schülerinnen und Schülern zumindest die Chance bietet, den Mythos von der vorindustriellen Großfamilie und deren Zerfall zu relativieren. Unter der Überschrift „Die Großfamilie lebt – es geht ihr so gut wie nie zuvor“ wird hier ein Interview mit der Erziehungswissenschaftlerin Jutta Ecarius abgedruckt, die die These aufstellt, dass die Großfamilie erst seit dem 20. Jahrhundert „der Normalfall“ sei: „Heute sehen die meisten Großeltern ihre Enkel aufwachsen. Hohe Kindersterblichkeit und geringe Lebenserwartung haben dies früher verhindert“ (S. 26). Da allerdings auch in diesem Schulbuch eine den Ausführungen zugrunde liegende Definition von Familie fehlt, sind die Schüler und Schülerinnen auf Erklärungshilfen ihrer Lehrkräfte konstitutiv angewiesen. Diese müssen jene etwa darüber aufklären, dass es Wissenschaftler/innen gibt, die Familie nicht als Haushaltsfamilie definieren, sondern multilokal. 1
Wie danebengegriffen die suggerierte gleiche Quantität ist, zeigt zum Beispiel die Zahl von ca. 5.500 Kindern unter 15 Jahren in homosexuellen Familien in Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts (vgl. Nave-Herz 2006, S. 115)!
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Wer im Sinne einer emanzipatorischen Didaktik das Schulbuch als eigenständiges Medium für die Schüler und Schülerinnen verstehen möchte, kann mit derartigen Schulbüchern nur unzufrieden sein – ich habe im vorangegangenen Text deshalb explizit auf die naheliegenden Fehlinterpretationen durch die Schüler und Schülerinnen hingewiesen. Immer wieder zu hörende Argumentationen, dass kein Schulbuch ohne Erläuterungen durch die Lehrer und Lehrerinnen hinreichend verstanden werden könne, scheinen mir in einer Zeit, in der andererseits die Befähigung zum selbstgesteuerten Lernen als eine wichtige Aufgabe nicht zuletzt auch der Schule angesehen wird (siehe bspw. Kiper & Mischke 2008), nicht überzeugend zu sein. Davon abgesehen gibt es keine Gewähr, dass die Lehrkräfte über einen differenzierten Reflexionsstand im Bereich von Familie und Familienforschung verfügen – wohl eher bräuchten viele von ihnen differenzierte Darstellungen in Schulbüchern (und diese flankierenden Lehrerhandbüchern), um eigene Vor-Urteile kritisch zu überdenken. 3
Schluss
Die von mir (bisher) untersuchten aktuellen deutschen Sozialkundebücher zeigen in ihren Kernaussagen zu Familie eine auffällige Affinität zu den sozialwissenschaftlichen Interpretationen, die am populärwissenschaftlichsten formuliert sind und den öffentlichen Diskurs besonders prägen. Weniger spektakuläre familiensoziologische Perspektiven, empirische Daten und familienhistorische Erkenntnisse finden in den Schulbüchern nur sehr wenig Beachtung. Damit tragen die Schulbücher nicht zu einer Versachlichung des Diskurses über Familie bei, verunklaren empirische Ergebnisse und erweisen einer unaufgeregten Akzeptanz der vorhandenen Heterogenität familialer Lebensformen (sowie der Heterogenität nicht-familialer Lebensformen!) eher einen Bärendienst. Die Untersuchung des genannten vollständigen Korpus an Sozialkundebüchern wird zeigen, ob die Hypothesen bestätigt oder relativiert werden müssen/können.
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Dorothea Bender-Szymanski
Vom gerechten Umgang der Schule mit religiös-weltanschaulicher Heterogenität. Ergebnisse der Durchführung einer Lehr-Lernsequenz mit Schülerinnen und Schülern
Leitgedanke: Der Diskurs als demokratisches Prinzip Demokratie lebt von der wechselseitigen Achtung und Anerkennung der Personen, der Unterschiedlichkeit der Überzeugungen und dem Diskurs um vertretbare Interessenkoordinationen. Diskurse geben uns die Möglichkeit, uns von der Ernsthaftigkeit zu überzeugen, mit welcher andere Personen Meinungen vertreten, die wir nicht teilen. Diskurse korrigieren, weil sie die eigene Urteilssicherheit stören und irritieren1. Diskurse fordern zu einer Reflexion und Neubestimmung des eigenen Selbstverständnisses heraus, denn „Bestehendes hat keinen Anspruch darauf, ohne sorgfältige Überprüfung für alle Zeiten konserviert zu werden. Es muss sich vielmehr ständig neu bewähren und Änderungen in den Lebensverhältnissen Rechnung tragen.“ 2 Diskurse erhalten zunehmend und zuweilen existenzielle Bedeutung in multikulturellen und multikonfessionellen demokratischen Gesellschaften und stellen hohe Ansprüche an die Diskursfähigkeit der Menschen. Es bedarf oft mühsamer Lernprozesse, diese Fähigkeit zu erwerben. Gemäß ihrem Bildungs- und Erziehungsauftrag kommt der Schule dabei eine zentrale Vermittlungsrolle zu 3.
1
Vgl. Reichenbach 2000, S.801. Rohe 2001, S.130. 3 Sie soll die Schüler laut Beschluss der Kultusministerkonferenz zu selbständigem und kritischem Urteil sowie eigenverantwortlichem Handeln befähigen, zu Freiheit und Demokratie sowie zu Toleranz, Achtung vor der Würde des anderen Menschen und Respekt vor anderen Überzeugungen erziehen, ethische Normen sowie kulturelle und religiöse Werte verständlich machen, friedliche Gesinnung im Geist der Völkerverständigung und die Bereitschaft zu sozialem Handeln und zu politischer Verantwortlichkeit wecken sowie zur Wahrnehmung von Rechten und Pflichten in der Gesellschaft befähigen. 2
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Dorothea Bender-Szymanski Schule als Ort interreligiös-interkultureller Verständigung
Bildungseinrichtungen, allen voran die Schulen, sind „hervorragende Orte zum Erlernen des interreligiösen und des interkulturellen Dialogs. Zu ihrem Bildungsund Erziehungsauftrag gehört es, demokratische Grundwerte zu vermitteln, für unterschiedliche kulturelle Prägungen und religiöse und weltanschauliche Überzeugungen offen zu sein, Solidarität und interkulturelle Kompetenz zu fördern.“ (Weimarer Aufruf 2003, S.135). Die Bildungsziele Dialogfähigkeit und interkulturelle Kompetenz als Schlüsselqualifikation für alle Schüler4, so bereits die Empfehlung der Kultusministerkonferenz 1996, sind leicht zu formulieren; die Umsetzung dieser Ziele ist jedoch eine schwierige Aufgabe, wie unsere Untersuchungen bei Schulleitern und Lehrern belegen (vgl. Bender-Szymanski 2000; 2001; 2007a; 2008b; 2009a). Sie bestätigen die Forderung nach einer verbindlichen Verankerung interreligiöser und interkultureller Erziehung bereits in der universitären Ausbildung (vgl. Weimarer Aufruf 2003). Auch wenn Bildungsstandards und Lehrpläne ausführlich auf das Lernziel interkulturelle Kompetenz eingehen, interkulturelles Lernen sogar als Kernelement von Unterricht genannt wird, ist kaum geregelt, mit welchen konkreten Lehrinhalten die Lehrer dieses Lernziel vermitteln sollen. Angesichts der geringen Verfügbarkeit interkultureller didaktischer Unterrichtshilfen greifen die meisten Lehrer deshalb auf selbst entwickelte Materialien zurück (vgl. u.a. Göbel & Hesse 2008, S. 398 ff.). Um diesem Manko abzuhelfen, wurden eigene wissenschaftliche Projekte Grundlage für die theoriebasierte Konzeptionierung zweier strukturgleicher, aber inhaltsverschiedener Lehr-Lernsequenzen zu konkreten interreligiös-interkulturellen Lehrinhalten. Übergeordnetes Ziel war es, mit den Sequenzen einen Beitrag im Sinne des Gutachtens für ein Modellversuchsprogramm der BundLänder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung – „Demokratie lernen und leben“ (Edelstein & Fauser 2001) – zu leisten, das explizit den Schwerpunktbereich „Interkulturelles Lernen – Interkulturelle Kooperation“ ausweist (ebd., S. 49ff.; S. 62ff.). Die Lehr-Lernsequenzen wurden vielfach durchgeführt, empirisch begleitet und evaluiert. Die bislang ausgewerteten Befunde verdeutlichen, dass sie erfolgreich bei Lehramtsstudierenden an den Universitäten (vgl. Bender-Szymanski 2008a; 2009c; in Vorbereitung), bei Lehrerfortbildungen (vgl. BenderSzymanski 2007b) sowie mit Schülern im Unterricht (vgl. Bender-Szymanski 2009b) eingesetzt werden können. 4 Im Text wird für beide Geschlechter der Einfachheit halber die maskuline Form verwendet, sofern nicht ausdrücklich zwischen den Geschlechtern unterschieden wird.
Umgang der Schule mit religiös-weltanschaulicher Heterogenität 2
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Lehr-Lernsequenzen zur Förderung interreligiös-interkultureller Verständigung
Die Lehr-Lernsequenz „Ein islamisches Kulturzentrum in unserer Stadt?“ (Bender-Szymanski 2006b) beinhaltet eine – konflikthaltige – Fragestellung, die im außerschulischen Kontext angesiedelt ist. Der Schulbezug wurde dadurch hergestellt, dass die Schule zum Diskursort bestimmt wurde. Damit wird der Empfehlung des Gutachtens Rechnung getragen, „dass die schulinternen Angebote interkulturellen Lernens im günstigen Fall die Schule im Blick auf Teilhabe an einem interkulturellen Programm der Gemeinde öffnet“ (Edelstein & Fauser 2001, S. 25). Die Sequenz gliedert sich in drei aufeinander aufbauende und flexibel gestaltbare Hauptphasen mit jeweiligen Unterphasen: ein fiktives Planspiel, in dessen Zentrum der Diskurs und die Entscheidung von Rollenträgern mit unterschiedlichen Positionen und Argumenten zur Einrichtung eines islamischen Kulturzentrums in einer Kommune stehen, eine theoriegeleitete Phase, in der die Adressaten mit einem Konstrukt der Argumentationsintegrität und daraus abgeleiteten und empirisch validierten Standards und Strategien unintegren Argumentierens vertraut gemacht werden, und eine Anwendungsphase, in der Argumente von Politikern aus einem realen Diskurs um ein islamisches Kulturzentrum in den Zeitungsmedien auf argumentative Regelverletzungen hin zu prüfen und im Falle des Erkennens von Regelverletzungen diese begründet zu benennen sind. Im Zentrum der Lehr-Lernsequenz „Von der Schwierigkeit der Toleranz“ (Bender-Szymanski 2006c) steht ein religiös begründeter Antrag einer muslimischen Schülerin auf Befreiung vom koedukativen Sportunterricht, der die Schule vor die Aufgabe stellt, zwischen zwei prinzipiell gleichgeordneten verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten – dem Recht auf Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit nach Art. 4 Abs. 1 und 2 Grundgesetz (GG) und dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule nach Art. 7 Abs.1 GG – abwägen zu müssen. Die Sequenz gliedert sich ebenfalls in drei Hauptphasen mit Unterphasen: ein fiktives Planspiel, in dessen Zentrum der Diskurs und die Entscheidung von Rollenträgern mit unterschiedlichen Positionen und Argumenten zum Anliegen der muslimischen Schülerin stehen, eine theoriebasierte Vertiefungsphase, in der Modelle möglicher Entscheidungen aus interkultureller und juristischer Perspektive sowie der Verfahrensweg erarbeitet werden, der der Schülerin für die Durchsetzung ihres Anliegens für den Fall der Ablehnung durch die Schule offensteht, und
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Dorothea Bender-Szymanski
eine reale Phase, in der das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum tatsächlichen Fall bearbeitet wird. 3
Die Durchführung der Lehr-Lernsequenz „Von der Schwierigkeit der Toleranz“
Die Lehr-Lernsequenz wurde am UNESCO-Welttag der Philosophie zum Thema „Philosophieren über Toleranz“ 2008 mit 30 Gymnasialschülern der Klassen 1013 durchgeführt, empirisch begleitet und evaluiert. Im Folgenden werden die drei Phasen der Sequenz einschließlich der empirischen Befunde dargestellt (Langversion siehe Bender-Szymanski 2009b). 3.1
Phase I: Das Planspiel
Ein Planspiel ist – im Unterschied zum Rollenspiel, bei dem es primär um die Darstellung von Rollen geht – dadurch gekennzeichnet, dass die Teilnehmenden, ausgehend von einem Szenario, die Positionen bestimmter Personen argumentativ vertreten, sich auf den Diskurs mit anderen Argumenten einlassen, gegebenenfalls ihre Argumentationen revidieren und schließlich möglichst gemeinsam eine Entscheidung treffen sollen. Das Szenario, mit dem sich die Schüler vertraut machten, lautete wie folgt: Die Eltern von Yildiz sind in B. zur Schule gegangen. Herr Polat, der Vater von Yildiz, ist Journalist und für alle Berichterstattungen zuständig, die das Zusammenleben von deutschen und ausländischen Mitbürgern betreffen. Frau Polat, die Mutter von Yildiz, arbeitet halbtags als Bankangestellte. Die Familie hat enge Kontakte zu ihren Verwandten in der Türkei, aber auch gute deutsche Freunde. Ihre zwölfjährige Tochter Yildiz besucht die 7. Klasse des Gymnasiums für Mädchen und Jungen in B. Seit sie 12 ist, trägt sie aus religiösen Gründen außer in ihrem häuslichen Bereich eine weitgeschnittene Kleidung und ein Kopftuch, und die meisten Klassenkameraden haben sich daran gewöhnt. Vor einer Woche beantragte Herr Polat beim Direktor des Gymnasiums im Namen der Familie die Befreiung seiner Tochter vom koedukativen Sportunterricht, weil ihr islamischer Glaube es ihr verbiete, zusammen mit Jungen Sport zu treiben.
Anschließend wurden die Schüler um die Beantwortung folgender Fragen gebeten: „Wie würde ich ganz persönlich entscheiden? Nennen Sie bitte mehrere Gründe für Ihre Entscheidung!“ und: „Wie soll sich der Direktor entscheiden? Nennen Sie bitte mehrere Gründe für Ihre Entscheidung!“ Die meisten Schüler (47% von N=30) entschieden sich persönlich für die Befreiung der muslimischen Schülerin vom koedukativen Sportunterricht. Sie begründeten dies vor allem mit verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten:
Umgang der Schule mit religiös-weltanschaulicher Heterogenität
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dem Recht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG), dem elterlichen Erziehungsrecht (Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG) sowie dem Recht auf Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Nur wenige Bedingungen wurden an die Entscheidung geknüpft: es muss sich um ein persönliches Anliegen der Schülerin handeln, und es muss über alternative Sportmöglichkeiten für sie nachgedacht werden, ansonsten ist aus Gerechtigkeitsgründen die Teilnahme an einem anderen Unterrichtsfach angezeigt. Knapp ein Drittel der Schüler (30%) votierte für die strikte Zurückweisung des Antrags. Begründet wurde die Entscheidung zum einen mit der Bedeutung der schulischen Gemeinschaft für die Integration und damit die Persönlichkeitsentwicklung der Schülerin. Interessant ist, dass einige Schüler, die für eine Befreiung votierten, darin gerade ein schulisches Integrationshindernis sehen, da die Schülerin gegen ihren Wunsch zur Teilnahme am Unterricht gezwungen würde. Als weitere Gründe genannt wurden das Diskriminierungsverbot (Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG), die Notwendigkeit der Anpassung an die Kultur, in der man lebt, die Nichtnachvollziehbarkeit des Anliegens der Schülerin sowie der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule. Von zwei Schülern wurde als Alternative der Vorschlag eines Schulwechsels in Erwägung gezogen. Vergleichsweise wenige Schüler (13%) würden den Antrag zurückweisen, aber die Antragsgründe vor allem durch Rücksichtnahme auf religiöse Bekleidungsvorschriften (weite Kleidung, Kopftuch etc.) abmildern. Sie begründeten ihre Entscheidung mit negativen gesundheitlichen und sozialen Auswirkungen bei Nichtteilnahme am Sportunterricht, der Schulpflicht und dem Vorrang der Bildung, dem Diskriminierungsverbot sowie den fehlenden finanziellen Mitteln für einen getrennten Sportunterricht. Lediglich 10% der Schüler trafen keine Entscheidung, sondern nannten mehrere Alternativen, die die oben dargestellten sowie einen nach Geschlechtern getrennten Unterricht einschließen. Was die Schulleiterentscheidung anbetrifft, gleichen die Entscheidungsausgänge weitgehend denen der persönlichen Entscheidungen (N=30):
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Tab. 1: Persönliche und Schulleiterentscheidungen aus Schülersicht
Entscheidungsmöglichkeiten
persönliche Entscheidung
Schulleiterentscheidung
Antrag wird gewährt
46,7%
46,7%
Antrag wird zurückgewiesen
30,0%
26,7%
Antragsgründe werden abgemildert
13,3%
6,7%
–
3,3%
10,0%
16,7%
Aufgabe der Koedukation mehrere Alternativen
Unterschiede zeigen sich jedoch vor allem in den Begründungen und Bedingungen: die Entscheidungen der Schulleiter werden aus der Sicht der Schüler deutlich stärker als bei den persönlichen Entscheidungen mit der Rechts- und Gesetzeslage begründet und sind an mehr und vielfältigere Bedingungen geknüpft – wie schulrechtliche Vorschriften, schulorganisatorische Aspekte und Gespräche mit den Eltern der muslimischen Schülerin und ihr selbst sowie mit Kollegen und Mitschülern. Die Antworten belegen, dass der Schulleiter in einer größeren Verantwortung befindlich wahrgenommen wird, als dies bei der persönlichen Entscheidung der Fall ist. Die Annahme, dass sich die Schüler bei der Frage nach der persönlichen und der Schulleiterentscheidung in gleicher Weise entschieden haben, kann nicht bestätigt werden: immerhin 43% der Schüler haben unterschiedlich votiert. Sie übertragen somit ihre subjektive Überzeugung nicht ungeprüft auf eine Person mit einer pädagogischen Leitungsfunktion. Die nun folgende Unterphase beinhaltete den eigentlichen Diskurs. Zur Überleitung wurde den Schülern mitgeteilt: Der Direktor möchte eine Entscheidung in diesem Fall nicht allein treffen. Er beruft zur Entscheidungsfindung eine Kommission ein, die aus mehreren Personen besteht, und die von einem Moderator geleitet wird. Die Sitzung findet am 20. November 2008 um 11.00 Uhr im Konferenzraum des Gymnasiums statt. Die Kommission besteht aus dem Direktor des Gymnasiums, dem Sportlehrer der Klasse, der muslimischen Schülerin, der Schulsprecherin, dem Schulelternbeiratsvorsitzenden sowie einer Juristin als schulische Beraterin in Rechtsfragen.
Die ca. 40-minütige Diskussion wurde in vier Gruppen mit jeweils sechs Schülern, die die Kommissionsmitglieder repräsentierten, unter der Leitung je eines Moderators durchgeführt5. Jeder Schüler erhielt zuvor eine Rollenzuweisung und 5
Ein Moderator sowie ein Kommissionsmitglied wurden doppelt besetzt, weil keine weitere Gruppe gebildet werden konnte.
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-beschreibung mit den Positionen und Argumenten der jeweiligen Rolle, die er zu vertreten hatte, und mit denen er sich vor Beginn des Diskurses vertraut machen konnte. Zusätzliches Informationsmaterial diente der Vertiefung und Suche nach weiteren Argumenten zur Stützung der Rollenposition6. Anschließend präsentierten die Moderatoren die Diskussionsergebnisse und die Begründungen vor dem Plenum. Eine Gruppe votierte einstimmig für die Zurückweisung des Antrags, aber die Rücksichtnahme auf die Bekleidungsvorschriften einschließlich der Befreiung der muslimischen Schülerin von bestimmten Übungen. Die Gruppe sah darin einen „guten Kompromiss“ für alle Beteiligten. Eine weitere Gruppe traf eine Mehrheitsentscheidung für einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht, der der Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit Rechnung trägt und die Zustimmung der Mitschüler einschließt; diese Zustimmung war in der Rolle der Juristin als ein Argument vorgesehen und hat offensichtlich mehrheitlich überzeugt. Eine dritte Gruppe beendete den Diskurs mit einem Entscheidungspatt: drei Rollenträger votierten für die Teilnahme unter Berücksichtigung der Bekleidungsvorschriften, drei weitere für die Geschlechtertrennung. Die vierte Gruppe äußerte noch weiteren Diskussionsbedarf und konnte deshalb keine abschließende Entscheidung treffen. Dieses keinesfalls negativ zu bewertende Ergebnis bestätigte sich auch in einigen Seminaren mit Lehramtsstudierenden, in denen mehrfach weit über eine Stunde um eine Entscheidung gerungen und in vielen Fällen die Diskussion noch lange Zeit nach Beendigung des Seminars weiter geführt wurde. Vergleicht man die Positionen, die von der Rollenträgern vor den Diskursen eingenommen wurden, mit ihren Positionen nach den Diskursen, dann haben die Rollenträger mehrheitlich ihre Positionen geändert (52%). Interessant ist dabei die deutliche Abwendung von der Befreiung der Schülerin bzw. der strikten Zurückweisung ihres Anliegens hin zu Lösungen, die ihr sowohl die sportlichen Betätigung als auch die Wahrung ihrer religiösen Überzeugungen ermöglichen. Um zu prüfen, ob die Schüler nach den Diskursen ihre zum ersten Befragungszeitpunkt getroffenen persönlichen Entscheidungen und die für den Schulleiter geändert haben, wurden sie gebeten, die eingangs gestellten Fragen nochmals zu beantworten (s.o.). Die persönlichen Entscheidungsergebnisse zu den beiden Erhebungszeitpunkten stellen sich wie folgt dar (N=30):
6 Die Rollenbeschreibungen sowie das zusätzliche Informationsmaterial sind im Anhang der Langversion dargestellt (Bender-Szymanski 2009b).
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Tab. 2: Persönliche Entscheidungen vor und nach dem Planspiel
Entscheidungsmöglichkeiten
persönliche persönliche Entscheidung zu t1 Entscheidung zu t2
Antrag wird gewährt: Befreiung
46,7%
10,0%
Antrag wird zurückgewiesen: Teilnahmepflicht
30,0%
13,3%
Antragsgründe werden abgemildert: Rücksicht auf religiöse Überzeugungen
13,3%
43,3%
–
23,3%
10,0%
10,0%
Aufgabe des Koedukationsprinzips mehrere Alternativen
Bei ihrer ursprünglichen Entscheidung geblieben sind lediglich ein Drittel der Schüler. Der Vergleich der Entscheidungsergebnisse zeigt eine deutliche Verschiebung vor allem von der Befreiung, aber auch der Zurückweisung des Antrags zum Zeitpunkt t1 hin zur Abmilderung der Teilnahmebedingungen durch Rücksichtnahme auf die religiösen Überzeugungen (weite Kleidung, Kopftuch etc.) bzw. zur Geschlechtertrennung zum Zeitpunkt t2. Dieses Ergebnis deckt sich mit den Veränderungen in den Positionen der Rollenträger beim Vergleich ihrer Positionen vor und nach den Diskursen. Das Bemühen um eine Reduktion der Spannung zwischen der Teilnahme(pflicht) am Unterricht und der Wahrung der religiösen Orientierung der Schülerin wird auch von einschlägigen Kommentaren der Schüler gestützt. Was die Schulleiterentscheidung betrifft, zeigt sich auch hier das Bestreben, die sportliche Betätigung und die religiöse Überzeugung miteinander in Einklang zu bringen: ebenfalls zwei Drittel der Schüler haben ihre Positionen schwerpunktmäßig zugunsten einer Teilnahme, aber der Rücksichtnahme auf die religiösen Überzeugungen bzw. der Aufgabe des Koedukationsprinzips geändert. Interessant ist auch hier die Frage, ob sich die Schüler zum Zeitpunkt t2 bei der Frage nach der persönlichen und der Schulleiterentscheidung in gleicher Weise entschieden haben. Dies ist nicht der Fall: 60% der Schüler haben unterschiedlich votiert. Die erste Phase der Lehr-Lernsequenz wurde mit der Evaluation des Planspiels abgeschlossen. Die Rollenträger und Moderatoren wurden gebeten, nach der Methode der „stillen Diskussion“ die folgenden Satzanfänge schriftlich begründet zu ergänzen: „Ich fühlte mich in meiner Rolle…“; „Ich hätte vielleicht …“; „Ich habe gelernt, …“; „Es war besonders schwierig für mich, …“; „Es wäre besser gewesen, wenn …“. Mehrfachantworten waren möglich.
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Die Befindlichkeit der Schüler, die die Moderatorenfunktion innehatten (N=5), wird mehrheitlich als (sehr) positiv bewertet und mit der Entlastung begründet, keine Rolle vertreten zu müssen, die nicht der eigenen Position entspricht. Selbstkritisch wird das eigene Leitungsverhalten hinterfragt und der Zeitpunkt einer Kompromisssuche als verspätet eingeschätzt. Die genannten Lerneffekte konzentrieren sich auf die Kernanforderungen an einen Moderator (die Diskussion zu leiten, allen Teilnehmer gerecht zu werden, die Unterschiedlichkeit der Standpunkte im Blick zu behalten und aufeinander zu beziehen, zur Differenzierung von Sichtweisen beizutragen) sowie die z.T. erstmalig erlebten Schwierigkeiten bei deren Umsetzung. Eine Äußerung lautet dementsprechend: „Ich habe gelernt, dass ich keine Moderatorin werden möchte.“ Dass die neutrale Funktion eines Moderators zu einem persönlichen Problem werden kann, verdeutlicht die wiederholt aufgegriffene Schwierigkeit, nichts zum Thema selbst beitragen zu können. Als besonders schwierig wurde weiterhin erlebt, einen Diskurs herbeizuführen und in Gang zu halten sowie Überleitungen und Anknüpfungspunkte zu finden. Verbesserungsvorschläge, die ein größeres Zeitbudget für die Diskussion beinhalten, werden mit der Motiviertheit zur vertiefteren Auseinandersetzung mit den Argumenten begründet. Dass die Einnahme einer Rolle, deren Position und Argumente nicht die eigene Sichtweise widerspiegeln, durchaus ergiebig sein kann, wird im Folgenden deutlich. Mehr als die Hälfte aller Diskursteilnehmer mit einer nicht einstellungskonformen Rolle (N=17) fühlte sich (sehr) wohl (N=9). Begründet wird dies vor allem mit überzeugenden Rollenargumenten und der eigenen Argumentationssicherheit. „Nicht wohl“, „fehlplatziert“ fühlten sich jene Diskutanten (N=8), für die die Rollenargumente schwer nachvollziehbar waren oder die sich nicht mit der Rolle identifizieren konnten, weil deren Position nicht der eigenen Überzeugung entsprach. Die durch die Vorgabe „Ich hätte vielleicht …“ ausgelösten Überlegungen beziehen sich mehrheitlich selbstkritisch auf das eigene Argumentieren: man hätte „mehr Rollenargumente einbringen“, „besser“ und unter Einbeziehung persönlicher Erfahrungen argumentieren sowie „mehr auf die anderen, auch religiösen Argumente eingehen sollen“. Die genannten Lerneffekte liegen weitgehend ebenfalls im kommunikativargumentativen Bereich: man habe gelernt, wie wichtig es ist, andere Argumente zuzulassen, sie anzuhören, um die Sichtweisen anderer zu verstehen und zu überdenken, da auch eine gegenteilige Meinung schlüssig sein und die eigene Position kraft überzeugenderer Argumente geändert werden kann. Als weiterer Lerneffekt wird die Erkenntnis der Schwierigkeit genannt, Kompromisse einzugehen, eine einvernehmliche Entscheidung zu treffen, aber auch die Erfahrung der Schwierigkeit einer gemeinsamen Lösungsfindung, die allen gerecht wird.
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Dass der Umgang mit fremden Religionen und Kulturen Probleme bereiten kann, und dass man seine Worte sehr wohlüberlegt wählen muss, um nicht religiöse Gefühle und Überzeugungen zu verletzen, wird ebenfalls als Lerneffekt verbucht. Besondere Schwierigkeiten sehen die Schüler rückblickend vor allem darin, „eine andere Person zu sein“, die persönliche Meinung zurückzustellen und sich mit der Rolle zu identifizieren sowie überzeugende Argumente für die (Rollen) Position zu finden. Interessant ist eine genannte besondere Schwierigkeit: „andere Meinungen zu tolerieren, auch wenn diese meine persönliche Meinung widerspiegeln.“ Diesem Schüler gelang, und dies lässt sich durch weitere Kommentare belegen, durch den Perspektivenwechsel eine solche Distanzierung von seiner persönlichen Überzeugung, dass sie sogar moralische Widerstände bei ihm auslöste und die eigene Position auf den Prüfstand stellte. Was die Verbesserungsvorschläge anbetrifft, hätten einige Schüler lieber eine ihrer eigenen Position entsprechende Rolle vertreten. Die Mehrheit der Schüler war jedoch nicht dieser Auffassung, und die obigen Befunde belegen, dass gerade die Auseinandersetzung mit einer nicht einstellungskonformen Rolle zu (selbst)kritischen Reflexionen herausforderte und Lerneffekte produzierte. Dass man sich allerdings auch durch die Übernahme einer einstellungskonformen Rolle vertiefende Erkenntnisprozesse verspricht, verdeutlicht die folgende bemerkenswerte Antwort eines Schülers mit einer nicht einstellungskonformen Rolle: Es wäre besser gewesen, wenn „ich mehr Argumente gehabt hätte, die meiner persönlichen Meinung entsprechen, damit ich mich weiter damit beschäftigen kann, warum ich dieser Meinung bin.“ Die Diskursteilnehmer mit einer einstellungskonformen Rolle (N=8) fühlten sich von einer Ausnahme abgesehen „sehr wohl“, „gut“ und argumentationssicher, weil sie sich mit der Rolle identifizieren konnten. Ein Diskutant konnte nicht alle Argumente seiner Rolle nachvollziehen und fühlte sich deshalb „unsicher“; es handelte sich hier möglicher Weise um Argumente, die er bei seiner persönlichen Meinungsbildung noch nicht berücksichtigt hatte. Die Vorgabe „Ich hätte vielleicht …“ regte wie bei jenen Schülern, die eine nicht entscheidungskonforme Position zu vertreten hatten, vor allem zum selbstkritischen Nachdenken über die Qualität des eigenen, aber auch des Argumentierens der anderen Teilnehmer an. Die genannten Lerneffekte verdeutlichen, dass es auch bei einer einstellungskonformen Rollenübernahme nicht immer einfach ist, gute Argumente für die eigene Position zu finden, und dass man die eigene Meinung nach einer Diskussion durch überzeugendere Argumente ändern kann. Weitere Lernerfahrungen beziehen sich auf den konstruktiven Umgang mit derartigen Konflikten, die Respektierung anderer Positionen, die Schwierigkeit von Entscheidungen in einem
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solchen Fall wie dem hier bearbeiteten, die Notwendigkeit eigener Kompromissbereitschaft sowie die Manipulationsresistenz von Positionen. Als besonders schwierig wurde erlebt, sich mit den Argumenten anderer auseinander zu setzen und sie zu akzeptieren, die eigene Meinung gut zu begründen und die anderen mit Argumenten zu überzeugen. Aufschlussreich ist eine Antwort, die das Kernproblem einer gemeinsamen Entscheidungsfindung auf den Punkt bringt: „zu wissen, wann ich auf Kompromisse eingehen sollte, die Dinge zu wissen, in denen ich Kompromisse machen könnte.“ Die wenigen Verbesserungsvorschläge sind sehr heterogen und beziehen auch eigene Erkenntnisfortschritte mit ein: Es wäre besser gewesen, wenn „ich gleich auf meine jetzige geänderte Position gekommen wäre.“ Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Diskurserfahrungen zu einem beachtlichen Spektrum an Selbst- und Fremderkenntnissen vornehmlich im argumentativen Handeln und im Prozess der Entscheidungsfindung geführt haben. Sehr viele der von den Schülern reflektierten Aspekte finden sich auch im Leitgedanken für diesen Artikel, der für die Lehr-Lernsequenz konstituierend war, und der in seinen Postulaten ebenso wie in seiner Umsetzungsschwierigkeit transparent gemacht werden sollte – und konnte. 3.2
Phase II: Theoriegeleitete Vertiefung
Diese Phase bestand aus zwei Unterphasen, die mit den Schülern erarbeitet wurden. Eine Unterphase behandelt die Konsequenzen der verschiedenen Entscheidungsausgänge aus interkultureller und juristischer Perspektive, die andere Unterphase beinhaltet den Verfahrensweg, der der muslimischen Schülerin für den Fall der Ablehnung ihres Anliegens durch die Schule prinzipiell offen steht. Aus interkultureller Perspektive ist der Konflikt im Spannungsfeld zwischen Segregation, Assimilation und Integration von Familien mit Migrationshintergrund verankert (Tabelle 3, Spalte 3). Segregation liegt vor, wenn Minoritäten ihre kulturgebundenen Orientierungen beibehalten und weiterentwickeln, ohne dass es zu einer nennenswerten Interaktion mit Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft kommt. Assimilation ist gegeben, wenn sich Minoritäten an Normen und Regeln der Residenzgesellschaft anpassen, während Integration wechselseitige Interaktionen und die Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung kulturgebundener Orientierungen einschließt. Aus juristischer Perspektive bewegt sich der Konflikt im Spannungsfeld zwischen zwei prinzipiell gleichgeordneten verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten: dem Recht auf Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit nach Art. 4
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Abs. 1 und 2 GG und dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule nach Art. 7 Abs. 1 GG, auf dem die Schulpflicht beruht (Spalte 4): Tab. 3: Entscheidungsfolgen aus interkultureller und juristischer Perspektive
Entscheidung
Konsequenz
interkulturelles juristisches Modell Modell
Antrag wird gewährt
Befreiung vom Sportunterricht. Koedukation bleibt Unterrichtsprinzip (Direktor, muslimische Schülerin)
Segregation: Ausschluss
Religionsfreiheit vor Bildungsund Erziehungsauftrag
Antrag wird zurückgewiesen
Teilnahmepflicht ohne Änderung der Bedingungen. Koedukation bleibt Unterrichtsprinzip (Schulsprecherin, Elternbeiratsvorsitzender)
Assimilation: Anpassung
Bildungs- und Erziehungsauftrag vor Religionsfreiheit
Antragsgründe werden abgemildert
Teilnahmepflicht unter geänderten Bedingungen: Koedukation bleibt Unterrichtsprinzip, aber Rücksicht auf Bekleidungsvorschriften (Sportlehrer)
Integration: Kompromiss
Bildungs- und Erziehungsauftrag vor Religionsfreiheit
Antrag wird gegenstandslos
Aufgabe des Koedukationsprinzips (Juristin)
Integration: schonender Interessenausgleich
Bildungs- und Erziehungsauftrag und Religionsfreiheit
Im Anschluss an die Erarbeitung der ersten Unterphase wurde den Schülern ein fiktives Schreiben des Direktors des Gymnasiums vorgelegt, das die muslimische Schülerin besucht. Es eignet sich sehr gut als Überleitung zum realen Fall, in dem die Schule tatsächlich eine Befreiung verweigert hat, und der in der dritten Phase der Lehr-Lernsequenz durchgearbeitet wurde. In dem Schreiben teilt der Direktor dem Vater von Yildiz mit, dass seinem Antrag nicht stattgegeben wird:
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Abb. 1: Der ablehnende Bescheid der Schulleitung B., den 20.11.2008 Sehr geehrter Herr Polat, wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass wir Ihre Tochter aus gesundheitlichen und sozialen Gründen nicht vom Sportunterricht befreien werden, der an unserer Schule nur in koedukativer Form durchgeführt wird. Wir schlagen aber als Kompromiss vor, dass Yildiz eine weit geschnittene Kleidung tragen und ihr Kopftuch mit Klammern befestigen kann. Zudem kann der Sportlehrer sie von bestimmten Übungen befreien, wenn sie dies aus religiösen Gründen wünscht. Mit vorzüglicher Hochachtung Dieter Horstmann Direktor
Die Schüler sollten nun überlegen, ob die muslimische Schülerin nach dieser Mitteilung am koedukativen Sportunterricht teilnehmen muss, oder ob und wenn ja, welche Möglichkeiten ihr prinzipiell zur Verfügung stehen, um doch noch eine Befreiung zu erwirken. Anhand des folgenden Schaubildes konnte sodann der folgende Verfahrensweg mit den Schülern systematisch erarbeitet werden: Abb. 2: Verfahrensweg zur Durchsetzung des Anliegens
VERWALTUNGSGERICHTSEBENE
BUNDESVERWALTUNGSGERICHT n Revision OBERVERWALTUNGSGERICHT o bei Zurückweisung: n Berufung VERWALTUNGSGERICHT o bei Zurückweisung: n Klage
SCHULE/SCHULAMT o bei Zurückweisung: VERWALTUNGSn Widerspruch EBENE SCHULE o bei Ablehnung: n Antrag Wunsch nach Befreiung vom koedukativen Sportunterricht
282 3.3
Dorothea Bender-Szymanski Phase III: Der reale Fall
In dieser Phase wurde den Schülern der reale Fall einer 12-jährigen muslimischen Gymnasialschülerin vorgestellt, die alle Instanzen bis zum Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) durchlaufen hat. Schrittweise wurden die wesentlichen Argumente der einzelnen Instanzen erarbeitet, auf die das Bundesverwaltungsgericht (1993) Bezug genommen hat. Die Schüler wurden aktiv einbezogen, indem sie zunächst durch gezielt vorbereitete Fragen selbst mögliche Entscheidungsausgänge der jeweiligen Instanzen und ihre Begründungen auch aus der Verfassungsperspektive überdenken konnten. Im Folgenden wird der Weg durch die einzelnen Instanzen mit den entsprechenden Entscheidungen und ihren Begründungen dargestellt, wie sie von der Autorin aus dem Bundesverwaltungsgerichtsurteil rekonstruiert und vor den Schülern unter Zugrundelegung des Schaubildes offengelegt wurden. 1. Der Vater der muslimischen Schülerin legt bei der Schule/Schulbehörde Widerspruch ein. Der Widerspruch wird zurückgewiesen. Begründung: es sei der Schülerin zumutbar, in weit geschnittener Kleidung am koedukativen Sportunterricht teilzunehmen (Ausnahme: Schwimmunterricht). 2. Die Schülerin erhebt Klage vor dem Verwaltungsgericht unter Berufung auf Art. 4 GG und das an öffentlichen Schulen geltende Toleranzgebot. Das Verwaltungsgericht weist unter Bestätigung der Argumentation der Schule / Schulbehörde die Klage ab. 3. Die Klägerin legt Berufung beim Oberverwaltungsgericht ein. Begründungen: Es gäbe keine Bekleidungsmöglichkeit, die ihr genügend Bewegungsfreiheit lasse und ihre Körperkonturen nicht abzeichne; eine weite Kleidung und ein mit Klammern befestigtes Kopftuch diskriminierten sie gegenüber den Mitschülern; bei Hilfestellungen und Ballspielen seien Berührungen durch Dritte unvermeidbar. Das Oberverwaltungsgericht weist die Berufung zurück (Ausnahme: Schwimmunterricht). Begründung: der Sportunterricht bilde wegen seiner positiven Auswirkungen auf die Gesundheit der Schüler, die Entwicklung ihrer sportlichen Fertigkeiten und Fähigkeiten und die Einübung sozialen Verhaltens einen wichtigen Bestandteil des staatlichen Bildungsauftrages. Eine weite Bekleidung mit befestigtem Kopftuch wird empfohlen, eine dadurch mögliche Außenseiterrolle sei als Folge der konsequenten Religionsausübung hinnehmbar. Körperliche Berührungen durch Dritte seien auch außerhalb des Sportunterrichts nicht zu vermeiden. Von einzelnen Übungselementen könne sie wegen Verletzungsgefahr befreit werden. Ein Wechsel auf eine Schule mit nach Geschlechtern getrenntem Sportunterricht oder ein Ortswechsel seien ebenfalls noch zumutbar.
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4. Die Klägerin legt Revision beim Bundesverwaltungsgericht ein. Ergänzende Begründung: bei Teilnahmezwang am koedukativen Sportunterricht wäre sie letztlich zur Beendigung ihrer schulischen Ausbildung gezwungen, um ihre Gewissenskonflikte zu vermeiden. Das aber könne nicht die Konsequenz des staatlichen Bildungsauftrags sein. Der Revision wird stattgegeben. Das Gericht führt aus: Der Schutz der aus dem Koran gewonnenen Überzeugung hängt nicht davon ab, ob sie im islamischen Raum allgemein oder nur von Strenggläubigen geteilt wird. Zur geschützten Religionsausübung gehört auch die Beachtung religiös begründeter Bekleidungsvorschriften. Die Ernsthaftigkeit des Gewissenskonflikts der Klägerin wurde ausreichend nachgewiesen7: Sie beachte im täglichen Leben konsequent die Bekleidungsvorschriften. Der Klägerin ist grundsätzlich nicht zumutbar, zwecks Vermeidung ihres Glaubenskonfliktes auf eine andere Schule ihres Wohnortes auszuweichen, an der ein nach Geschlechtern getrennter Sportunterricht erteilt wird, oder gar den Wohnort zu wechseln. Ein Ausweichen vor Situationen, in denen die Klägerin mit ihrer Glaubensüberzeugung in Konflikt gerät, ist im täglichen Leben, aber nicht im koedukativen Sportunterricht möglich. Eine weitgeschnittene Kleidung schützt die Klägerin nicht hinreichend vor dem Konflikt mit ihren Glaubensüberzeugungen. Eine weite Kleidung und die Befreiung von Übungen im koedukativen Sportunterricht wirken sich für die Klägerin leistungsmindernd und erheblich nachteilig auf die Benotung aus. Die mit dem Zwang zur individuellen Darlegung ihres Glaubenskonfliktes zu erbittende Befreiung von bestimmten Übungen drängt die Klägerin in eine Außenseiterrolle. Ein koedukativer Sportunterricht wird nicht voraussetzungslos für pädagogisch wertvoll oder gar unverzichtbar gehalten („Zweites Aktionsprogramm für den Schulsport“, Sammlung der Beschlüsse der Ständigen Konferenz der Kultusminister, 1985, Nr. 80.1: koedukativer Unterricht ist möglich, wenn er pädagogisch, sportfachlich und schulorganisatorisch vertretbar ist). Durch einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht wird die Erfüllung des Erziehungsauftrags weder insgesamt noch in Bezug auf die Erteilung von Sportunterricht ernsthaft gefährdet. 7 Konkrete, substantiierte und objektiv nachvollziehbare Darlegung eines Gewissenskonflikts als Konsequenz aus dem Zwang, der eigenen Glaubensüberzeugung zuwider zu handeln.
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Ausweitungen solcher Anträge auf andere Unterrichtsfächer und sonstige Schulveranstaltungen sind nicht zu befürchten, da die Befreiung eines Schülers von Teilen des Unterrichts aus Glaubensgründen nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen in Betracht kommt. Ein koedukativer Sportunterricht ist der Emanzipation von Schülerinnen im Alter der Klägerin nicht förderlicher als ein nach Geschlechtern getrennter Unterricht. Die Befreiung der Klägerin allein vom koedukativen Sportunterricht stellt nicht die Integration ausländischer Schülerinnen in Frage, da sie am gesamten sonstigen Unterricht teilnehmen. Das BVerwG kommt zum Ergebnis, dass die staatliche Schulverwaltung unter Abwägung des Bildungs- und Erziehungsauftrags und der Glaubens- und Gewissensfreiheit verpflichtet ist, alle ihr zu Gebote stehenden, zumutbaren organisatorischen Möglichkeiten auszuschöpfen, für Mädchen ab dem Alter der zwölfjährigen Klägerin einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht einzurichten und anzubieten, um einen schonenden Ausgleich beider Rechtspositionen herbeizuführen; dann aber, und nur dann, wenn die staatliche Schulverwaltung dieser Verpflichtung nicht nachkommt oder nicht nachkommen kann, ist der Konflikt so zu lösen, dass ein Anspruch auf Befreiung vom koedukativ erteilten Sportunterricht besteht. Letzteres sei bei der Klägerin der Fall. Nach der Bearbeitung des Urteils des BVerwG’s wurde den Schülern zunächst die Gelegenheit gegeben, ihre eigene persönliche Entscheidung sowie die für den Schulleiter ein drittes Mal zu überdenken; zwei Schüler konnten an dieser und den abschließenden Befragungen nicht teilnehmen. Die berichteten Veränderungen waren auf die nun vorhandene Kenntnis der Rechtslage zurückzuführen. Die systematische Auswertung ergab die folgenden persönlichen Entscheidungsausgänge, dargestellt für die drei Erhebungszeitpunkte (t1 - t3): Tab. 4: Persönliche Entscheidungen zu drei Erhebungszeitpunkten
Persönliche Entscheidungen
t 1 (N=30)
t 2 (N=30)
t 3 (N=28)
Befreiung
46,7%
10,0%
25,0%
Teilnahmepflicht
30,0%
13,3%
10,7%
Abmilderung der Antragsgründe
13,3%
43,3%
28,6%
–
23,3%
35,7%
10,0%
10,0%
–
Aufgabe der Koedukation mehrere Alternativen
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Zum dritten Erhebungszeitpunkt haben alle Schüler eine Entscheidung getroffen. Der Vergleich zeigt eine deutliche Verschiebung der Entscheidungen von der Befreiung, aber auch der Zurückweisung des Antrags zum Zeitpunkt t1 über die Abmilderung der Teilnahmebedingungen durch Rücksichtnahme auf die religiösen Überzeugungen zum Zeitpunkt t2 hin zur Aufgabe des Koedukationsprinzips zum Zeitpunkt t3, wofür über die Erhebungszeitpunkte immer mehr Schüler votieren. Die Begründungen verdeutlichen, dass das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts einen Einfluss auf die Zunahme an Entscheidungen für eine Geschlechtertrennung und eine Abnahme der Entscheidungen für eine Teilnahmepflicht ohne Rücksichtnahme auf die religiösen Überzeugungen bewirkt hat. Obwohl sich zum Zeitpunkt t3 deutlich weniger Schüler für die Teilnahme unter Abmilderung der Antragsgründe entscheiden als zum zweiten Befragungszeitpunkt, liegen sie mit 28,6% der Entscheidungen an zweiter Stelle nach der Geschlechtertrennung und nur wenig über der ebenfalls wieder angestiegenen Anzahl der Entscheidungen für eine Befreiung. Die Schüler lassen sich in ihrer persönlichen Entscheidung demnach nicht nur von Rechtspositionen leiten. Über die Erhebungszeitpunkte unverändert blieben die Entscheidungen nur bei sechs Schülern. Bei den Wechslern kehrten drei Schüler nach einer Änderung zu t2 zu ihrer ursprünglichen Entscheidung (t1) zurück. Zehn Schüler hielten ihre von t1 zu t2 geänderte Entscheidung aufrecht. Fünf Schüler, die zu t2 bei ihrer ersten Entscheidung geblieben waren bzw. mehrere Alternativen nannten, änderten ihre Positionen zum Zeitpunkt t3. Vier Schüler änderten ihre Positionen zu allen Zeitpunkten. Die von den Schülern getroffene Schulleiterentscheidung orientiert sich den Begründungen entsprechend zum dritten Erhebungszeitpunkt mehrheitlich am Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Klar erkennbar sind die Entscheidungsverschiebungen von einer Befreiung zu t1 über eine Rücksichtnahme auf die Bekleidungsvorschriften, aber auch zunehmend der Geschlechtertrennung zu t2 hin zur Aufgabe des Koedukationsprinzips zu t3: Tab. 5: Schulleiterentscheidungen zu drei Erhebungszeitpunkten
Schulleiterentscheidungen
t 1 (N=30)
t 2 (N=30)
t 3 (N=28)
Befreiung
46,7%
10,0%
10,7%
Teilnahmepflicht
26,7%
20,0%
3,6%
Abmilderung der Antragsgründe
6,7%
36,7%
10,7%
Aufgabe der Koedukation
3,3%
33,3%
75,0%
mehrere Alternativen
16,7%
–
–
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Über die Erhebungszeitpunkte unverändert blieb lediglich die Entscheidung eines Schülers, der für eine Befreiung votierte. Bei den Wechslern kehrten zwei Schüler nach einem Wechsel zu t2 zu ihrer ursprünglichen Entscheidung zurück. Zwölf Schüler hielten ihre von t1 zu t2 geänderte Entscheidung aufrecht. Neun Schüler, die zu t2 bei ihrer ersten Entscheidung geblieben waren, änderten diese zum Zeitpunkt t3. Vier Schüler ändern ihre Positionen zu allen Zeitpunkten. Von Interesse ist auch hier die Frage, ob sich die Schüler zum Zeitpunkt t3 bei der Frage nach der persönlichen und der Schulleiterentscheidung in gleicher Weise entschieden haben. Dies ist mehrheitlich der Fall: 57% der Schüler (N=16) haben gleichermaßen votiert, und zwar 63% von ihnen für eine Aufgabe des Koedukationsprinzips. 4
Evaluation der Lehr-Lernsequenz
Die Evaluation der Lehr-Lernsequenz erfolgte auf zweifache Weise: anhand eines Fragebogens und mittels begründet zu ergänzender Satzanfänge zur LehrLernsequenz, die bereits bei der Evaluation des Planspiels eingesetzt wurden. 4.1
Fragebogen
Der Fragebogen enthält die folgenden Kategorien mit den jeweils darauf bezogenen Items: Konzept: Die Lehr-Lernsequenz war klar strukturiert – Die theoretischen Hintergrundinformationen waren hilfreich – Das Verhältnis zwischen theoretischen Anteilen und praktischer Anwendung war angemessen – Der Wechsel der Perspektiven in den unterschiedlichen Phasen der Lehr-Lernsequenz hat den Erkenntnisgewinn gesteigert, Anforderungsniveau: Das Anspruchsniveau war zu hoch, Methode: Die Auseinandersetzung mit dem interkulturellen Modell ist auch für Alltagssituationen hilfreich – Es wurde genügend Informationsmaterial bereitgestellt, um die jeweiligen Aufgaben angemessen bearbeiten zu können, Lehrperson: Sie ist sorgfältig auf Verständnisfragen und Anmerkungen eingegangen – Sie hat die Inhalte verständlich präsentiert – Sie hat sich vergewissert, ob die Inhalte verstanden wurden – Sie hat auch schwierige Sachverhalte gut erklärt. Zur Beurteilung der Aussagen standen den Schülern die Antwortmöglichkeiten „trifft voll zu“, „trifft eher zu“, „trifft eher nicht zu“ und „trifft gar nicht zu“ zur Verfügung. Fasst man die Angaben der Schüler (N=28) zu den Antwortkatego-
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rien „trifft voll zu“ und „trifft eher zu“ einerseits sowie „trifft eher nicht zu“ und „trifft gar nicht zu“ andererseits zusammen und wertet sie als zustimmende bzw. ablehnende Urteile, dann wird das Konzept von 96%, das Anforderungsniveau (umgepolt) von 86%, die Methode von 93% sowie die die Lehr-Lernsequenz durchführende Person von 95% der Schüler positiv beurteilt. Bei der Bewertung des Konzepts dominieren die positiven Beurteilungen („trifft völlig zu“) zugunsten der klaren Strukturiertheit der Lehr-Lernsequenz (96,4%). Die theoretischen Hintergrundinformationen werden zu 100% als hilfreich bewertet („trifft völlig zu“/„trifft eher zu“). Das Verhältnis zwischen theoretischen Anteilen und praktischer Anwendung wird von 93% der Schüler als angemessen erachtet („trifft völlig zu“/„trifft eher zu“). Dass der Perspektivenwechsel den Erkenntnisgewinn gesteigert hat, bestätigen ebenfalls 93% der Schüler („trifft völlig zu“/„trifft eher zu“). Knapp 15% der Schüler halten das Anspruchsniveau zwar eher für zu hoch, kein Schüler jedoch stuft es als zu hoch ein. Dies kann als ein Hinweis darauf gewertet werden, dass die Sequenz sich mehrheitlich in einem bewältigbaren Anforderungsbereich bewegt. Wichtig ist bei der methodischen Konzeption, dass die Schüler genügend Informationsmaterial zur angemessenen Bearbeitung der jeweiligen Aufgaben erhalten. Dies wird von allen Schülern bestätigt. Dass die Auseinandersetzung mit dem interkulturellen Modell auch für Alltagssituationen hilfreich ist, bejahen 86% der Schüler („trifft völlig zu“/„trifft eher zu“). Bei der Bewertung der Lehrperson ist es vor allem die verständliche Präsentation der Inhalte (86%), die besonders positiv beurteilt wird; 14% der Schüler votieren für die Antwortmöglichkeit „trifft eher zu“. Auch das sorgfältige Eingehen auf Verständnisfragen und Anmerkungen („trifft völlig zu“/„trifft eher zu“: 97%), die nachvollziehbaren Erklärungen auch schwieriger Sachverhalte („trifft völlig zu“/„trifft eher zu“: 96%) sowie die Vergewisserung, ob die Inhalte verstanden wurden („trifft völlig zu“/„trifft eher zu“: 86%) sind erfreuliche Ergebnisse, hängt doch der Lerneffekt auch davon ab, wie die Inhalte mit den Schülern erarbeitet werden. 4.2
Satzergänzungen
Der größte Anteil der Begründungen für eine positive Befindlichkeit [Ich fühlte mich „(sehr) wohl“] bezieht sich mit 83% der Nennungen auf die dreiteilige Struktur, die Inhalte und die Durchführung der Lehr-Lernsequenz: es war sehr abwechslungsreich und spannend, über einen solchen Fall nachzudenken, ihn durchzuspielen und am Ende den realen Fall und dessen Ausgang vor Augen ge-
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führt zu bekommen; wichtig, weil Integration in Deutschland noch nicht genügend praktiziert wird; die Inhalte und Materialien waren hilfreich für gelungene Lernprozesse; die Präsentationen waren gut verständlich; man fühlte sich angesichts des eigenen Migrationshintergrundes und der Vertrautheit mit dem Fall persönlich angesprochen und verstanden; es herrschte eine entspannte Lernatmosphäre mit viel Eigenarbeit. Wenige weitere Nennungen betreffen die eigene Urteilssicherheit angesichts überzeugender Argumente für die Rollenposition und nur in einem Fall eine Entscheidungsunsicherheit angesichts der Vielfältigkeit der Argumente. Die Antworten auf die Vorgabe „Ich hätte vielleicht …“, zu der nur 25% der Schüler Stellung nahmen, beziehen sich vor allem selbstkritisch auf die eigene, als zu wenig aktiv eingeschätzte Teilnahme an den Diskursen. Die Satzvorgabe zu den Lerneffekten wurde mit 28 Nennungen am häufigsten beantwortet. Im Vordergrund stehen dabei wissensbezogene Lernzuwächse über Integration und spezifische Probleme von Mitbürgern mit Migrationshintergrund, vor allem aber der Wissenserwerb über den Verfahrensweg, der der muslimischen Schülerin, aber nicht nur ihr, für den Fall der Ablehnung ihres Anliegens durch die Schule prinzipiell offen steht sowie die Erkenntnis, dass es ein langer und schwieriger Prozess sein kann, an dessen Ende erst rechtswirksame Entscheidungen getroffen werden, und dass es sich lohnt, seinen für richtig erkannten Standpunkt nicht vorschnell aufzugeben. Zu weiteren Lerneffekten zählen die Erkenntnis, wie sich ethische Fragestellungen im Rechtssystem widerspiegeln sowie der hohe Stellenwert der Achtung des Grundrechts der Religionsausübungsfreiheit auch für die Schule. Einige Schüler heben als besonderen Lerngewinn nicht nur den gelungenen Perspektivenwechsel und damit eine Erweiterung des eigenen Blickwinkels auf eine Situation hervor, sondern auch die Erfahrung, dass sich die eigene Entscheidung kraft überzeugenderer Argumente während der Sequenz mehrfach geändert hat und man gelernt habe, Kompromisse einzugehen. Die meisten der genannten Schwierigkeiten gründen vor allem in der Komplexität, die durch die verschiedenen Sichtweisen auf den Fall der muslimischen Schülerin hervorgerufen wurde. Eine daraus resultierende genannte persönliche Entscheidungsunsicherheit ist durchaus im Sinne des Leitgedankens der LehrLernsequenz, in dem es heißt: „Diskurse korrigieren, weil sie die eigene Urteilssicherheit stören und irritieren.“ Wenige weitere erlebte Schwierigkeiten werden in den Anforderungen an die Konzentrationsfähigkeit während der Durchführung der Sequenz gesehen, ferner im Ertragen von Argumenten, die die Person der muslimischen Schülerin angriffen und verletzten sowie in der dreimaligen Beantwortung der Frage nach der persönlichen und der Schulleiterentscheidung –
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diese drei Erhebungen haben sich allerdings angesichts der belegbaren Entscheidungsänderungen als sehr bedeutsam erwiesen. Der Schwerpunkt der Verbesserungsvorschläge liegt im Bedürfnis nach (noch) längerer und intensiverer Auseinandersetzung mit dem Fall der muslimischen Schülerin. Das Konzept und die Inhalte der Sequenz sind demnach geeignet, Denkanstöße zu vermitteln, die zur weiteren Beschäftigung mit der Thematik motivieren. Bestätigt wird dies durch den Wunsch nach der Bearbeitung zusätzlicher, im interreligiös-interkulturellen Bereich angesiedelter Fragestellungen. Im Rahmen des Workshops wäre dies nur auf Kosten der Differenziertheit und Tiefe der Betrachtung des hier behandelten Einzelfalles möglich gewesen und hätte Erkenntnisverluste zur Folge gehabt. Im regulären Schulunterricht lässt sich dieser Vorschlag allerdings unschwer realisieren. Vergleicht man die Evaluationsergebnisse des Fragebogens mit den Befunden zu den vorgegebenen Satzanfängen, dann zeigt sich, dass die meisten im Fragebogen angeführten Aspekte auch in den freien Antworten aufgegriffen werden. Darüber hinaus wird deutlich, wie inhaltlich ergiebig, differenziert und konstruktiv die zusätzlich zum Fragebogen eingesetzte Evaluationsmethode der „stillen Diskussion“ ist. Eine zusätzlich vom Leitungsteam des UNESCO-Welttages der Philosophie durchgeführte Evaluation bestätigte die Befunde, verdeutlichte den Erkenntnisgewinn zum Thema „Toleranz“ als (selbst)reflexiver Prozess und Ergebnis von Argumentationen und Aushandlungen und ließ den Wunsch erkennen, dass „so ein Tag öfter stattfindet“ (Kommentar eines Schülers). 5
Zusammenfassung
Die dreiphasige Lehr-Lernsequenz „Von der Schwierigkeit der Toleranz“ wurde mit 30 Gymnasialschülern der Klassen 10-13 am UNESCO-Welttag der Philosophie zum Thema „Philosophieren über Toleranz“ durchgeführt, empirisch begleitet und evaluiert. Im Zentrum der Sequenz steht der religiös begründete Antrag einer muslimischen Schülerin auf Befreiung vom koedukativen Sportunterricht, der die Schule vor die Aufgabe stellt, zwischen zwei prinzipiell gleichgeordneten verfassungsrechtlich geschützten Grundrechten – dem Recht auf Glaubens- und Religionsausübungsfreiheit und dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule – abwägen zu müssen. Das Planspiel (Phase I), in dessen Zentrum der Diskurs und die Entscheidung von sechs Rollenträgern mit unterschiedlichen Positionen und Argumenten zum Anliegen der muslimischen Schülerin standen, wurde in vier Gruppen unter der Leitung eines Moderators durchgeführt. Eine Gruppe votierte einstimmig für die
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Zurückweisung des Anliegens, aber die Rücksichtnahme auf die Bekleidungsvorschriften, eine weitere Gruppe entschied mehrheitlich für einen nach Geschlechtern getrennten Sportunterricht. Die dritte Gruppe beendete den Diskurs mit einem Entscheidungspatt – für die Zurückweisung unter Berücksichtigung der Bekleidungsvorschriften sowie für die Geschlechtertrennung, die vierte Gruppe konnte aus Gründen zusätzlichen Diskussionsbedarfs noch keine Entscheidung treffen. Ein Vergleich der Positionen, die von den Rollenträgern gemäß ihren Rollenbeschreibungen vor den Diskursen eingenommen wurden, mit ihren Positionen danach zeigt, dass die Rollenträger ihre Positionen mehrheitlich änderten. Interessant ist dabei die deutliche Abwendung von der Befreiung der Schülerin bzw. der strikten Zurückweisung ihres Anliegens hin zu Lösungen, die ihr sowohl die sportliche Betätigung als auch die Wahrung ihrer religiösen Überzeugungen ermöglichen. Die empirischen Befunde zur Evaluation des Planspiels durch die Schüler geben differenzierte Einblicke in die subjektive Befindlichkeit und die kognitiven Widerstände, aber auch die konstruktiv erlebten Herausforderungen während der Rollenübernahme ebenso wie in die Lernerfahrungen, aber auch die erlebten Schwierigkeiten im Prozess der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen religiös-weltanschaulichen Überzeugungen und der Suche nach einer für alle Beteiligten akzeptablen Lösung. Die Ergebnisse belegen, dass die Perspektivenübernahme und die Diskurserfahrungen zu einem beachtlichen Spektrum an Selbstund Fremderkenntnissen vornehmlich im argumentativen Handeln und im Entscheidungsfindungsprozess geführt haben. In der theoriebasierten Vertiefungsphase (Phase II) wurden die Konsequenzen verschiedener Entscheidungsausgänge aus interkultureller und juristischer Perspektive sowie der Verfahrensweg erarbeitet, der der muslimischen Schülerin für die Durchsetzung ihres Anliegens offensteht, falls die Schule ihrem Antrag nicht stattgeben sollte. In der sich anschließenden realen Phase (Phase III) wurde der tatsächliche Fall einer 12-jährigen muslimischen Schülerin vorgestellt, die den Verfahrensweg bis zum Bundesverwaltungsgericht durchlaufen hat. Unter aktiver Einbeziehung der Schüler wurden der Weg durch die einzelnen Instanzen mit den entsprechenden Entscheidungen und ihren Begründungen sowie die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts schrittweise transparent gemacht. Die Ergebnisse der vor und nach dem Planspiel sowie nach Beendigung der Lehr-Lernsequenz erfragten persönlichen Entscheidungen zum Anliegen der muslimischen Schülerin belegen eine deutliche Verschiebung von der Gewährung des Anliegens über die Suche nach einem Kompromiss hin zur Aufgabe des Koedukationsprinzips gemäß dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, auch wenn sich die Schüler zum dritten Erhebungszeitpunkt nicht nur von Rechtsposi-
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tionen leiten lassen. Die zu den drei Zeitpunkten erfragten Schulleiterentscheidungen sind ebenfalls deutlichen Änderungen unterworfen und orientieren sich in der abschließenden Befragung klar am Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. Die Schüler haben bei ihren persönlichen und den Schulleiterentscheidungen zu allen drei Befragungszeitpunkten nicht in gleicher Weise entschieden. Sie übertragen ihre subjektive Überzeugung somit nicht ungeprüft auf eine Person mit einer pädagogischen Leitungsfunktion. Die Evaluation der Lehr-Lernsequenz erfolgte anhand eines Fragebogens und mittels begründet zu ergänzender Satzanfänge. Fasst man die Angaben der Schüler im Fragebogen zu den Antwortkategorien „trifft voll zu“ und „trifft eher zu“ einerseits sowie „trifft eher nicht zu“ und „trifft gar nicht zu“ andererseits zusammen und wertet sie als zustimmende bzw. ablehnende Urteile, dann wurde das Konzept mit 96%, das Anforderungsniveau mit 86%, die Methode mit 93% sowie die die Lehr-Lernsequenz durchführende Person mit 95% der Antworten positiv beurteilt. Die Ergebnisse der Satzergänzungen stützen die Evaluationsergebnisse des Fragebogens vor allem im Hinblick auf die positiven Bewertungen der Struktur, der Inhalte sowie der Durchführung der Lehr-Lernsequenz und die daraus gewonnenen wissens- und erkenntnisbezogenen Lernzuwächse. Darüber hinaus wird deutlich, wie inhaltlich ergiebig diese zusätzlich zum Fragebogen eingesetzte Evaluationsmethode ist. Wenn sich interreligiös-interkulturelle Kompetenz immer auch und gerade in spezifischen Situationen manifestiert, dann ist angesichts der empirischen Befunde begründet anzunehmen, dass die Lehr-Lernsequenz zu einem verstärkten (selbst)reflexiven Handeln in interreligiös-interkulturellen Interaktionen beitragen kann. Die in der Sequenz durchgängig angelegten Impulse zur (Selbst)Reflexion können zur Irritation und Dekonstruktion eines immer noch hartnäckig behaupteten (vgl. z.B. Bender-Szymanski 2007a, S. 176 ff.), obwohl wissenschaftlich nicht haltbaren „Traditions-Modernitäts“-Paradigmas beitragen, nach dessen Annahmen die „Problemgruppe“ der Migrantenkinder und -jugendlichen den Weg von der traditionellen Herkunftskultur in die westlich gedachte „Moderne“ über einen identitätsschädigenden „Kulturschock“ zu bewältigen versucht oder „zwischen“ den Kulturen zerrieben wird (Herwartz-Emden 1997, S. 896 ff.; siehe dazu bereits Bender-Szymanski & Hesse 1987). Die Untersuchungen von Herwartz-Emden (1995) belegen vielmehr die individuelle (Identitäts)Entwicklung von Lebensformen „nicht-westlicher Modernität“, die unsere Verfassung, wie es am Beispiel des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts dokumentiert werden konnte, explizit schützt.
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Jürgen Budde
Perspektiven für heterogenitätsorientierten Unterricht durch Projektarbeit in Lernbereichen in der Sekundarstufe I
1
Einleitung
Die Schule als Bildungsinstitution ist zunehmend damit konfrontiert, auf die wachsende Heterogenität ihrer SchülerInnenschaft zu reagieren. Häufig werden aus diesem Grund sozialpädagogische Angebote etabliert, vor allem im Zuge der Ausweitung des Ganztagsangebots. Problematisch ist, dass diese Zusatzangebote auf die soziale Dimension von Schule abzielen und das Kerngeschäft von Schule – nämlich den Unterricht – meist nicht berühren (vgl. Budde 2009). Große Hoffnung wird deswegen auf die Entwicklung neuer Unterrichtsmodelle gelegt, die eine angemessene Berücksichtigung von Vielfalt und Individualität im Unterricht ermöglichen sollen.1 Die aktuelle Debatte um Unterrichtsentwicklung diskutiert dafür verschiedene Wege. Ein weitreichendes Konzept stellen dabei die fächerübergreifenden Lernbereiche dar, die an einigen Schulen mittlerweile den traditionellen Fachunterricht ersetzen (vgl. Bastian u.a. 2000). Anhand einer explorativen Studie an der Ganztagsschule (GTS) St. Pauli (Hamburg) diskutiert der Beitrag die Effekte der Einführung von jahrgangsübergreifendem Projektunterricht in vier neu geschaffenen Lernbereichen in der Sekundarstufe I als Perspektive für den Umgang mit Heterogenität. Geplant ist, die Lernbereiche in Hamburg als ein Baustein der aktuellen umfassenden Schulreform flächendeckend einzuführen, die Unterrichtsform bleibt dabei offen. Der eingeführte Reformunterricht an der GTS St. Pauli hat aus diesem Grund Signalwirkung für den größten Umbau der Schullandschaft (nicht nur) in der Hansestadt, der in den letzten Jahrzehnten angegangen wurde.2 1 So kürt beispielsweise der Deutsche Schulpreis vor allem Schulen, die durch unterschiedlichste Differenzierungen versuchen, der individuellen Vielfalt ihrer SchülerInnen gerecht zu werden. 2 Siehe beispielsweise den Beitrag „Schulreform - Schwarz-grüner Sprengstoff von Jeanette Otte in „Der Zeit“ vom 12.03.2009 (Nr. 12).
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Insgesamt liegen wissenschaftliche Ergebnisse zu ähnlichen umfassenden Unterrichtsreformen bislang kaum vor. Die meisten empirischen Untersuchungen fokussieren entweder auf soziale Kategorien wie Gender oder Ethnizität oder auf unterrichtliche Teilaspekte wie selbstgesteuertes Lernen, altersheterogene Lerngruppe in der flexiblen Eingangsphase der Grundschule oder dem Umgang mit leistungsheterogenen Lerngruppen (vgl. Kucharz & Wagener 2007; Huf 2006; Preuss-Lausitz 2001; Rabenstein 2007; Spörer & Brunstein 2006). Aus SchülerInnenperspektive ist in Bezug auf Heterogenität vor allem der jahrgangsübergreifende Unterricht untersucht worden. So haben sich Kucharz und Wagener (2007) mit Lernaktivitäten im jahrgangsübergreifenden Unterricht in der Schuleingangsphase unter Fokussierung möglicher Differenzen zwischen Mädchen und Jungen sowie zwischen leistungsstärkeren und leistungsschwächeren Lernenden beschäftigt. Die Autorinnen stellen fest, dass in der praktizierten Form des jahrgangsübergreifenden Unterrichts der überwiegende Anteil der Kommunikation und der Interaktionen der SchülerInnen untereinander erstens unterrichtsbezogen ist und zweitens über die Altersgrenzen hinweg stattfindet. Positiv an der altersheterogenen Lerngruppe ist, dass die Klassengemeinschaft nicht mit jedem Jahr neu geformt werden muss, sondern dass die bereits etablierten SchülerInnen, welche in der Lerngruppe verbleiben, die bisherige „Klassenkultur“ weiter tragen können. Des Weiteren steigt das Leistungsniveau vor allem bei schwachen SchülerInnen, während von den starken nicht alle ihr Niveau halten können. In Bezug auf Genderdimensionen zeigt die Studie, dass sich Schülerinnen „angepasster“ zeigen, wohingegen Schüler durchschnittlich mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen, dieser Befund gilt sowohl für leistungsstarke als auch -schwache Jungen. Weiter orientieren sich leistungsstarke Jungen an älteren Mitschülern, erhalten von diesen aber nicht immer die erhoffte Unterstützung. Anders bei Mädchen: Ältere Schülerinnen helfen generell anderen, unabhängig von der eigenen Leistung. Kampshoff kritisiert an der Untersuchung jedoch „dass die Ergebnisse, in denen die unterschiedlichen Gruppen beschrieben werden, pauschalisierend wirken“ (Kampshoff 2008, S. 39). Eine andere Perspektive auf Gender und Heterogenität nimmt eine Untersuchung von Huf (2006) ein, die jahrgangsübergreifende Lerngruppen an der Laborschule Bielefeld anhand von zwei Stammgruppen beleuchtet. Sie untersucht die rote Gruppe, die mit Hilfe eines Wochenplans arbeitet, und die blaue Gruppe, die mit Hilfe eines Tagesplans arbeitet. Die Hoffnung, dass durch den Wochenplanunterricht in der roten Gruppe Möglichkeiten für gegenseitige Kooperationen geschaffen werden, lässt sich nicht bestätigen. Die Lerngruppe beurteilt gegenseitige Hilfe eher als ineffektiv für das Erreichen eigener Ziele und reduziert deshalb ihre gegenseitigen Hilfestellungen auf ein Maß, welches der eigenen Arbeit nicht abträglich ist. Die blaue Gruppe erhält seitens der Lehrerin größere
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Freiräume zugestanden als die Rote. Die Kinder setzen sich selbst Ziele, überprüfen ihren eigenen Lernfortschritt, vergleichen sich mit anderen und kooperieren miteinander. Nach Huf führen gerade die größeren Freiräume dazu, dass individualisierendes und unterstützendes Lernen stattfinden kann. Ältere und jüngere SchülerInnen, Mädchen und Jungen, leistungsstarke und -schwache SchülerInnen kooperieren nach ihrer Beobachtung in vielfacher Weise. Auch die Untersuchung von Graumann zu leistungsheterogenen Gruppen betont die Bedeutung der Freiheitsgrade, die in den gewählten didaktischen Arrangements zum Tragen kommen, da allein die Öffnung des Unterrichts per se keineswegs passende Förderung für alle SchülerInnen garantiert: Werden bei der Auswahl der Aufgaben die individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse unzureichend berücksichtigt, können insbesondere vom Leistungsdurchschnitt abweichende Kinder über- bzw. unterfordert werden (vgl. Graumann 2002). Beim Blick auf Lehrkräfte konzentrieren sich viele Studien bislang auf den integrativen Unterricht. Reh untersucht den Umgang der Lehrkräfte mit einer heterogenen SchülerInnenschaft an einer Grundschule, die integrativ und jahrgangsübergreifend arbeitet (vgl. Reh 2005). Dabei wird Heterogenität von einigen Lehrkräften als Belastung wahrgenommen, jedoch vor allem, weil die Lehrkräfte „allen Kindern gerecht“ werden wollen und daraus Überforderung resultieren kann. In anderen Studien werden neben belastenden auch deutlich positive Aspekte der Arbeit mit einer heterogenen SchülerInnenschaft beschrieben. Preuss-Lausitz ermittelt, dass der Großteil der Lehrkräfte heterogene Lerngruppen (hier von Behinderten und Nicht-Behinderten) für gut realisierbar halten. Allerdings bedarf es der Veränderung des Unterrichts und der Entwicklung spezifischer Regeln und Rituale, wie zum Beispiel dem regelmäßigen Morgenkreis. Die Lehrkräfte berichten von einer starken persönlichen Veränderung in Bezug auf Unterricht, Berufszufriedenheit sowie ihren Einstellungen zu den SchülerInnen. Preuss-Lausitz kommt zu einem positiven Fazit: Es lässt sich „größere Offenheit gegenüber kleineren Lernentwicklungen aller Kinder, eine größere Differenziertheit in den Erwartungen und die größere Entspanntheit in Bezug auf den eigenen Leistungsdruck fest[...]stellen. Mit anderen Worten, Heterogenität wird nicht als Belastung und Defizit verarbeitet“ (Preuss-Lausitz 2001, S. 33). 2
Design und Fragestellung der Studie
Bislang fehlt es an Studien, die mehrere Heterogenitätsdimensionen mit Bezug auf den schulischen Unterricht zusammenhängend untersuchen. Der folgende Beitrag liefert erste Ansatzpunkte, indem Daten aus einer explorativen Studie zur Einführung von projektorientierten Lernbereichen an der GTS St. Pauli herange-
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zogen werden. An dieser Schule ist der Unterricht seit dem Schuljahr 2007/08 in der Sekundarstufe I in drei Segmente aufgeteilt, erstens die Kernfächer, zweitens die Werkstätten und drittens die vier Lernbereiche Natur, Arbeit, Gesellschaft sowie Alltag. Auf der Schulhomepage heißt es: „In den vier Lernbereichen […] arbeiten die Schüler in altersgemischten Gruppen. Dabei werden aus den Jahrgängen 5, 6, 7 sowie den Jahrgängen 8, 9, 10 neue Lerngruppen gebildet. Hier findet das Lernen projektorientiert statt. Jede Schülerin und jeder Schüler bearbeitet in einer Kleingruppe eine spezielle Fragestellung zu einem vorgegebenen Thema aus dem Rahmenplan. Nach fünf Wochen werden die Ergebnisse präsentiert. Anschließend wechseln alle Gruppen den Lernbereich“ (Ganztagsschule St. Pauli 2009).
Nach einer inhaltlichen Einführung in das jeweilige Thema (z.B. Verkehr im Lernbereich Alltag, Europa im Lernbereich Gesellschaft) entwickeln die SchülerInnen eigene „Forscherfragen“, die der gesamten Lerngruppe präsentiert und dort auf ihren Gehalt und ihre Realisierbarkeit diskutiert werden sollen. Anschließend finden sich die SchülerInnen in kleineren Arbeitsgruppen zusammen und bearbeiten selbstständig die Forscherfragen. Oft werden Interviews geführt, im Internet recherchiert, Bücher zu Rate gezogen und eigenen Erfahrungen eingebracht. Nach ca. zwei Wochen beginnen die Kleingruppen, ihre Präsentationen vorzubereiten, die anschließend allen SchülerInnen der Lerngruppe vorgestellt werden, die Feedback zu Form und Inhalt geben. Am Ende der Epoche bespricht die Lehrkraft die Leistung, die in mehrere Teilleistungen zergliedert ist. Fünf Monate nach der Einführung beschreibt ein Schüler die Lernbereiche mit eigenen Worten: „Also als Erstes sucht man sich eine Gruppe, also mit denen man gut arbeiten kann, kann auch verschieden sein, zum Beispiel fünfte Klasse, sechste Klasse, siebte Klasse. Ja und dann macht man erst mal eine Mindmap, ne, man sucht sich als Erstes eine Forschungsfrage. Ja. Und dann findet man Sachen dazu“ (Firat/ 7. Klasse).
Insgesamt werden somit an vier Punkten Unterrichtsentwicklungen realisiert: durch fächerübergreifendes Lernen, durch jahrgangsübergreifendes Lernen, durch projektorientiertes Lernen sowie durch Unterricht in Epochenform. All diese Punkte laufen in ihrem Kern auf eine umfassende Neubestimmung des Verhältnisses von Heterogenität und Individualität im Unterricht hinaus. Damit wird ein Heterogenitätsverständnis zugrunde gelegt, welches die traditionelle Aufaddierung sozialer Merkmale (Gender, Migrationshintergrund, Behinderung) um schul- und unterrichtsbezogene Aspekte erweitert. Während Schule als Institution lange Zeit bemüht war, Vergleichbarkeit ihrer SchülerInnenschaft durch Homogenisierung und Normierung herzustellen, dreht die GTS St. Pauli hier die
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Ziele um, in dem eine starke Heterogenitätsorientierung mit großen individuellen Gestaltungsmöglichkeiten und Eigenverantwortlichkeiten einhergehen soll. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Projektmethode, die als selbstreguliertes und selbstorganisiertes Lernen die SchülerInnen befähigen soll, individuelle Lernstrategien mit zeitlicher Stabilität und Generalisierung über verschiedene Kontexte hinweg ausführen zu können (vgl. Spörer & Brunstein 2006). Mit der Projektmethode ist die Hoffnung verbunden, dass die Individualität und damit die Heterogenität der SchülerInnenschaft besser berücksichtigt werden kann als im traditionellen lehrkraftzentrierten Unterricht. Die Projektmethode ist bislang kaum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung, kritisiert wird allerdings, dass SchülerInnen mit der Aufforderung, selbst verantwortlich zu lernen, einerseits überfordert sein können und andererseits ein neuer Typus von Machttechniken (nämlich der Selbstdisziplinierung) zur Anwendung kommt (vgl. Foucault 1995). Des Weiteren wird kritisiert, dass unbestimmt ist, was unter selbstgesteuertem Lernen verstanden werden kann (vgl. Friedrich & Mandel 1995). Zu berücksichtigen ist, dass die GTS St. Pauli mit der realisierten Unterrichtsreform Neuland betritt; zum Ersten, was die Komplexität angeht, zum Zweiten aber auch, was die Einführung von Lernbereichen an einer Schule mit extrem kapitalienschwacher SchülerInnenschaft betrifft, die sich an der Ganztagsschule St. Pauli durch geringes symbolisches, ökonomisches und kulturelles Kapital auszeichnet und zumeist über innerfamiliäre Migrationserfahrung verfügt (vgl. Bourdieu 1992).3 Wenn Unterrichtsreformen in der Sekundarstufe I in den Blick geraten, dann vor allem an ausgewiesenen Reformschulen, die zum Teil von einer positiv selektierten SchülerInnenschaft aus bildungsambitionierten Elternhäusern besucht werden. In der hier vorgestellten Studie wurde gefragt, welche Auswirkungen die Unterrichtsreform auf die unterschiedlichen Heterogenitätsdimensionen Gender, Jahrgangsstufe und Leistungsstand hat. Methodisch fußt die Studie, die in der zweiten Hälfte des Schuljahres 2007/08 und somit zeitnah nach Einführung der Lernbereiche durchgeführt wurde, auf einer SchülerInnenbefragung, auf Gruppendiskussionen mit SchülerInnen und auf leitfadengestützten ExpertInneninterviews mit den Lehrkräften. An der Fragebogenerhebung haben fast alle SchülerInnen der Schule teilgenommen (N=138). Die Gruppendiskussionen wurden in Anlehnung an Bohnsack (2000) durchgeführt; sie erlauben, gemeinsame kollektive Deutungs- und Orientierungsrahmungen zu rekonstruieren. Insgesamt wurden zwei gender- und jahrgangsstufenheterogene Gruppendiskussionen in der 3
Der Einzugsbereich der Schule umfasst mit St. Pauli einen der ärmsten Stadtteile Deutschlands. So liegt das ökonomische Kapital von etwa 80 Prozent der SchülerInnen auf der Höhe des Hartz-IVSatzes.
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Stufe 5 bis 7 und zwei, zwar jahrgangsstufenheterogene, aber genderhomogene Gruppendiskussionen in der Stufe 8 bis 10 durchgeführt. Auf Seiten der Lehrenden wurden sämtliche Lehrkräfte interviewt, die in den Lernbereichen unterrichten, des Weiteren wurden die Schulleitung und eine Klassenlehrkraft befragt. Die transkribierten Interviews wurden in Anlehnung an das „Fünf-Phasen-Modell“ bearbeitet (vgl. Schmidt 2003). Zusätzlich werden die Zeugnisnoten aus dem Versetzungszeugnis des Schuljahres 2006/07 in Quartile aufgeteilt als Messvariable verwendet. Im Folgenden wird zuerst auf Einstellungen zur Schule und zu den Lernbereichen im Vergleich eingegangen und anschließend Ergebnisse zu drei Heterogenitätsdimensionen (jahrgangs- und fächerübergreifender Unterricht, Leistung, Gender) dargestellt. Am Ende zieht der Beitrag ein Fazit zu den Effekten der Unterrichtsreform und zur Bedeutung von Selbststeuerung. 3
Einstellung zur Schule und zu den Lernbereichen
Die Freude am Schulbesuch ist bei den SchülerInnen der GTS St. Pauli außerordentlich groß. 87,9% aller SchülerInnen stimmen in der Befragung der Aussage zumindest teilweise zu, dass sie „gerne zur Schule gehen“. Im Gegenzug geben nur 12,3 % aller SchülerInnen an, dass sie „manchmal Angst haben, zur Schule zu gehen“, während fast drei Viertel überhaupt keine Angst vor dem Schulbesuch haben. Auch der Aussage, dass „schon der Gedanke an Schule schlechte Laune macht“ wird von 18,4 % aller SchülerInnen ganz oder teilweise zugestimmt. Allerdings äußern sich Mädchen ebenso wie leistungsstarke SchülerInnen leicht wohlwollender über die Schule. Die Schulfreude und das Interesse nehmen mit dem Ansteigen der Jahrgangsstufen signifikant ab, bleiben aber in allen Jahrgangsstufen hoch. Die sozialen Effekte der Lernbereiche werden auf SchülerInnenseite überwiegend positiv gesehen (vgl. 4.1). Auch zu den Lerneffekten geben die meisten SchülerInnen ein differenziertes und positives Feedback, vor allem die Projektmethode scheint eine gute Methode zu sein, um Lerneffekte zu erzielen. Vergleicht man die Sicht der SchülerInnen auf die Lernbereiche mit den bestehenden Kernfächer Deutsch, Mathematik und Englisch, sowie den Werkstätten, zeigt sich, dass die SchülerInnen alle drei Segmente äußerst günstig beurteilen. Besonders positiv werden die Werkstätten und der Deutschunterricht, sowie der Lernbereich Alltag gesehen, lediglich der Lernbereich Natur fällt etwas ab. Zieht man als weitere Vergleichsebene den ehemaligen Fachunterricht heran, wird deutlich, dass die meisten SchülerInnen die Lernbereiche als interessanter einschätzen, auch können sie häufiger ihre Arbeit fertig stellen. Es fällt auf, dass die
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positive Beurteilung der Lernbereiche gegenüber dem früheren Fachunterricht umso größer ist, je jünger die SchülerInnen sind (außer im Lernbereich Alltag, den alle gleichermaßen interessant finden). Eine günstigere Sicht auf das Lernen in den Lernbereichen als im ehemaligen Fachunterricht im Klassenverband haben des Weiteren Jungen und leistungsschwache SchülerInnen. In der älteren Gruppe (8 bis 10) hingegen wird der frühere Unterricht leicht positiver gesehen, dies liegt vor allem an den SchülerInnen der 8. Klasse, die sich in den Lernbereichen als sozial schlecht eingebungen erleben. Bei Mädchen und leistungsstarken SchülerInnen sind kaum Differenzen zwischen Lernbereichen und Klassenunterricht zu messen, vermutlich, weil diese beiden Gruppen besser in der Lage sind, aus jedem Unterrichtsarrangement positive Aspekte herauszuziehen. Die Lehrkräfte äußern sich ebenfalls überwiegend positiv, vor allem in Bezug auf soziale Effekte bei den SchülerInnen und im Kollegium, so sind Motivation und Kooperation deutlich gestiegen. Beklagt werden aus Perspektive der Lehrkräfte die unklaren Lerneffekte. Dies bezieht sich einerseits auf die fehlende Leistungsmischung der SchülerInnen. Mehrere LehrerInnen berichten, dass die Kleingruppen leistungsstarke SchülerInnen benötigten, um arbeitsfähig zu sein, dies betrifft vor allem die Lernbereiche Natur und Gesellschaft, die eine stärkere Bindung an den Rahmenplan haben. Die SchülerInnen seien aufgrund der kapitalienarmen und bildungsfernen Elternhäuser wenig neugierig und kaum gewohnt, Fragen zu stellen und eigenständig zu lernen – so erklären sich dies die Lehrkräfte. Es fehlt an „Motorschülern“, wie es Frau Müller im Interview ausdrückt: Müller: „Da brauch, also jede Gruppe muss im Grunde genommen eine Art Motor haben, nu, der das Ganze voranbringt.“ JB: „Und gibt es genug Motoren hier?“ Müller: „Nein. (lacht) Gibt es nicht.“
Eklatant wird dieses Problem dadurch, dass diese Lehrkräfte der Meinung sind, dass ohne leistungsstarke SchülerInnen das Konzept der Lernbereiche nicht realisiert werden kann, da diese durch wichtige Impulse die Arbeitsgruppen voranbringen. Fehlen jedoch diese „Motorschüler“, dann kann auch das Konzept der Lernbereiche nicht vollständig aufgehen, weil das Niveau der Arbeitsgruppen notwendigerweise gering bleibt. Schaut man genauer auf den Ablauf einer Epoche, erweisen sich die anfängliche Initiierungsphase und die abschließende Präsentation als Schlüsselstellen der Wissensvermittlung. Die Initiierungsphase stellt die Lehrkräfte vor die doppelte Herausforderung, einerseits so viel Wissen zu vermitteln, dass die SchülerInnen überhaupt in der Lage sind, eigene Forscherfragen zu einem neuen Thema zu entwickeln, andererseits aber nicht zu viele Vorgaben zu machen, um der Projektarbeit nicht vorzugreifen. Vor allem im Lernbereich Natur scheint dies große
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Probleme zu bereiten. Die Lehrkräfte verwenden unterschiedliche Strategien (z.B. Stationen-Lernen, Vortrag, Rechercheaufträge), um thematisch einzuführen, die in jedem Falle mit einem hohen Arbeitsaufwand verbunden sind. Die SchülerInnen äußern sich jedoch teilweise kritisch, vor allem, was die Komplexität der Situation angeht. („Am Anfang ist das natürlich kompliziert, was soll man da machen, weil der Lehrer redet, erklärt, was wir machen sollen, man checkt erst mal nichts und so. Immer so kompliziert am Anfang.“ Dennis/ 9. Klasse). Manche sind gelangweilt, weil sie lieber mit dem selbstständigen Lernen beginnen wollen. Auch die Präsentation erweist sich als Schlüsselpassage, denn hier stellen die SchülerInnen ihr Ergebnis im Kontext ihrer Gruppenfrage dar. Dass die SchülerInnen von ihrer eigenen Arbeit Wissen mitnehmen, steht für die Lehrkräfte außer Frage, sie berichten von vielen herausragenden Präsentationen. Auch in Bezug auf die Arbeitsgruppen gehen die Lehrkräfte davon aus, dass hier Lerneffekte stattfinden, allerdings geben sie für diese Annahme weniger Beispiele. Inwieweit jedoch die SchülerInnen bei den Präsentationen anderer Gruppen Fachwissen erwerben, ist den Lehrkräften unklar, einige vermuten dies, andere bezweifeln jedoch positive Effekte. Ein Lehrer gibt an: „Ich hab festgestellt, dass viele Schüler dann kaum noch Interesse aufbringen, den anderen zuzuhören, was sie da eigentlich gemacht haben. Die geiern alle, […] weil sie auch ein bisschen nervös sind vor ihrer Präsentation und sich darauf konzentrieren, aber die kaum in der Lage sind, dann tatsächlich inhaltlich der anderen Sache richtig auch wirklich zuzuhören.“ (Herr Haber)
Der Lehrer stellt fest, dass die SchülerInnen vor ihrer Präsentation zu aufgeregt seien, um zuzuhören, und nach ihrer Präsentation kaum noch Konzentration aufbringen können. Die SchülerInnen selber sehen diesen Aspekt positiver. Einige geben an, dass sie besser lernen würden, wenn ihre MitschülerInnen einen Vortrag halten, weil die Sprache leichter verständlich sei. Die Wege, mit der unbefriedigenden Wissensvermittlung umzugehen, sind unterschiedlich, grob zeichnen sich zwei entgegengesetzte Strategien ab. Manche Lehrer plädieren dafür, dass zusätzlich zur Präsentation „Schwarz-auf-weißWissen“ – wie es ein Lehrer formuliert – in Form von Handouts oder Arbeitsblättern vermittelt wird, und führen so verstärkt traditionelle fachunterrichtliche Elemente ein. Allerdings kann bezweifelt werden, ob in der sozial, kognitiv und emotional hoch belasteten Phase des Präsentierens „Schwarz-auf-weiß-Wissen“ bei den SchülerInnen tatsächlich Lerneffekte erzielt. Andere schlagen eine Neudefinition dessen vor, was als Lernziel angesehen werden sollte: „Das Wissen, das reine Fachwissen [spielt], zwar keine untergeordnete Rolle, aber es ist …, wir geben ihnen zumindest eine Handreichung dafür, wie man sich sozusagen Wissen aneignen kann“ (Frau Nowak). Frau Nowak spricht an dieser Stelle eine
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veränderte Vorstellung von Lernzielen und damit andere Dimensionen des Lernens an. Nicht mehr Faktenwissen, sondern durch Spaß und Neugier motivierte Lernstrategien stellen in dieser Sichtweise den wichtigsten Lerneffekt dar. Unter dieser Perspektive werden Lernstrategien und Präsentationstechniken selber zu zentralen Kompetenzen. 4
Umgang mit Heterogenität
Im Folgenden sollen die drei zentralen Heterogenitätsdimensionen jahrgangsund fächerübergreifender Unterricht, leistungsstarke bzw. leistungsschwache SchülerInnen sowie Genderdimensionen aus SchülerInnen- und LehrerInnenperspektive dargestellt werden.4 4.1
Jahrgangsübergreifender und fächerübergreifender Unterricht
Als erste Heterogenitätsdimension wird ein Blick auf den jahrgangs- und fächerübergreifenden Unterricht geworfen, der zu einer Steigerung der Heterogenität im Unterricht führt. 4.1.1 Jahrgangsübergreifender Unterricht Bezüglich des jahrgangsübergreifenden Unterrichts kann festgehalten werden, dass viele SchülerInnen das günstige soziale Klima begrüßen, der „Spaßfaktor“ habe sich erhöht. („Ich finde das Beste ist mit der zehnten Klasse und der achten Klasse zusammenzuarbeiten so. Das ist für mich persönlich so... Das macht mir am meisten Spaß mit den zu arbeiten.“ Seref/ 9. Klasse). Die meisten SchülerInnen loben, dass sie viele neue Freunde gewonnen hätten und nun die anderen „besser kennen würden“, dies gilt gerade für leistungsschwache SchülerInnen. Interessant ist, dass einige SchülerInnen hier eine Verbindung zu abnehmenden Konflikten sehen. Das gegenseitige Kennen durch den gemeinsamen Unterricht scheint auch im Bereich der Gewaltprävention Wirkung zu entfalten. Das Thema „Helfen“ wird ebenfalls günstig gesehen: Sowohl die Gewährung als auch das Annehmen von Hilfe wird in den Gruppendiskussionen und der Befragung (unabhängig von Gender oder Leistung) sehr positiv geschildert. Jüngere 4 Eine Analyse nach Migrationshintergrund ist an der GTS St. Pauli wenig sinnvoll, da der Anteil von SchülerInnen mit Migrationshintergrund bei ca. 80 Prozent liegt. Eine Unterscheidung in unterschiedliche Herkunftsnationalitäten konnte im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden. Eine ähnlich homogene Zusammensetzung weist die SchülerInnenschaft in Bezug auf Milieuzugehörigkeit auf, die sich durchweg aus niedrigsten sozialen Milieus zusammensetzt.
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SchülerInnen beschreiben es als Vorteil, dass sie von den Älteren lernen könnten, bei älteren SchülerInnen wird die Vorbildfunktion gelobt. Bei den älteren SchülerInnen finden sich neben den positiven Schilderungen jedoch ebenfalls negative Einwände, gerade die 8. Klasse hat größere Schwierigkeiten. Die 10. Klasse wiederum hat eine klare Orientierung auf die anstehenden Abschlussprüfungen und erlebt die jüngeren SchülerInnen manchmal als Bremse. Zusammenfassend zeigt sich, dass der jahrgangsübergreifende Unterricht vor allem dann eine Bereicherung darstellt, wenn das soziale Klima sowohl in den Lernbereichen als auch in den Klassen günstig ist und für die SchülerInnen das fachliche Lernen gegenüber den sozialen Beziehungen im Vordergrund steht. 4.1.2 Fächerübergreifender Unterricht Der fächerübergreifende Unterricht spielt in den Interviews nur eine geringe Rolle, die meisten Lehrkräfte thematisieren diesen Aspekt nicht eigenständig. Manche Lehrkräfte überlegen, wie sie die unterschiedlichen Ursprungsfächer verbinden können: „Ähm, das Fächerübergreifende, das ist wiederum in meinem Lernbereich jetzt noch nicht so deutlich vorgekommen. Aber das, find ich, ist schon, ähm, nicht so ganz einfach, dass man sozusagen alles abdeckt. Weil im Grunde sollen sie sich ja auch schon für eine Forscherfrage jetzt, sag ich mal, entscheiden, die ihnen am Herzen liegt, und dann will man aber trotzdem gucken, dass alles abgedeckt ist, sozusagen, an, an Themenbereichen oder so. Das, find ich, ist schon problematisch, so, ne, oder schwieriger anzugehen.“ (Herr Haber)
Herr Haber, der in der älteren Lerngruppe Natur unterrichtet, gibt an, dass „es nicht so einfach ist, alles abzudecken“. Eigentlich sollen die Forscherfragen diese Funktion übernehmen, das gelingt aber nicht in jedem Falle. Auch wird die Frage, ob es Inhalte gibt, die nicht in den Lernbereichen unterrichtbar seien, von allen zurückgewiesen. Manche SchülerInnen sind explizit der Meinung, dass der fächerübergreifende Aspekt das Lernen erleichtert, so führt Juvan Lernerfolge direkt darauf zurück: „Und zum Beispiel früher hatten wir nur ein Fach, zum Beispiel Chemie, jetzt wurde das alles zusammengemischt, jetzt verstehen wir das auch mehr.“ Andere SchülerInnen berichten, dass für sie die ehemaligen Fächergrenzen verschwimmen: JB: „Weiß man da noch, worum es geht, ist das jetzt Bio, ist Chemie?“ Juvan: „Ja. Meistens erklären die Lehrer oder Lehrerinnen.“ JB: „Die helfen einem.“ Sven: „Man weiß nicht, um welche Fächer es geht, aber …“ Seref: „Aber man kann es sich denken. So, wenn wir über Europa machen, dann denke ich schon, dass das Erdkunde ist, wenn wir über Europa.“ ???: „Erdkunde oder Geschichte ...“
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Seref: „Genau. Wenn wir also die verschiedenen Geschichten, also von den Griechen oder von den anderen, dann denke ich schon so ein bisschen Erdkunde und Geschichte.“
Juvan, Seref und weitere Mitdiskutanten geben an, kaum Unterschiede zwischen den Fächern zu erkennen. Dies führt zu keinen Irritationen, weil sich die SchülerInnen darauf verlassen, dass entweder die Lehrkräfte helfen oder „man es sich denken kann“. Das Beispiel Europa, welches Seref zum Ende der Passage anführt, verdeutlicht, dass die Schüler nicht in Fächerkategorien denken, sondern das Thema im Vordergrund steht. Seref benennt später im gleichen Gespräch noch einen weiteren für ihn positiven Aspekt: „Manche haben auch vielleicht Probleme mit Erdkunde oder Bio und wenn das alles zusammen ist, ist das viel besser für denjenigen.“ Der fächerübergreifende Unterricht hilft so, Defizite in spezifischen schulischen Fächern zu überwinden. Geteilt werden die fachkulturellen Zuschreibungen, nach denen die Lernbereiche Natur und Gesellschaft schwieriger sind als Alltag und Arbeit. An den erstgenannten üben die SchülerInnen mehr Kritik und die LehrerInnen sind unsicherer, was die Lernerfolge angeht. Die Einführung der Lernbereiche führt dazu, dass aus Perspektive der SchülerInnen die ehemaligen Fächergrenzen verschwinden, nicht aber unbedingt die symbolischen Bedeutungen. 4.2
Starke und schwache SchülerInnen in den Lernbereichen
Ein wichtiger Punkt ist die Frage, ob Lernbereiche für leistungsstarke oder leistungsschwache SchülerInnen besonders geeignet seien. Hollenstein (1989) weist darauf hin, dass selbstgesteuertes Lernen (wie mit der Projektmethode realisiert) vor allem bildungsgewohnte und leistungsstarke Kinder und Jugendliche anspricht, während schwächere SchülerInnen durch diese Methode sogar weiter benachteiligt werden können. Auch an der GTS St. Pauli zeigen leistungsstarke SchülerInnen in allen Segmenten mehr Interesse als leistungsschwache SchülerInnen. Eine Ausnahme stellt lediglich der Deutschunterricht dar, der gerade von leistungsschwachen SchülerInnen als interessant (und auch als leichter als die anderen Kernfächer) angesehen wird. Auch das Lernen in den Lernbereichen wird von den leistungsstarken SchülerInnen günstiger beurteilt, ihre Mittelwerte bei Items wie „Ich arbeite gern in den Lernbereichen“ oder „ich bin immer motiviert“ liegen über denen der leistungsschwachen, die des Öfteren von Langeweile berichten, alle Differenzen sind jedoch moderat. Die leistungsschwachen SchülerInnen stehen jedoch den Lernbereichen im Vergleich zum Unterricht in den Kernfächern positiv gegenüber, 45,8% geben an, dass sie heute mehr Lernen, nur 12,5% berichten von sinkenden Lernerfolgen. Weiter geben sie häufiger
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an, „sich gut konzentrieren zu können“ als leistungsstarke SchülerInnen. Besonders die Projektmethode kommt dabei ihren Lehrstrategien näher. Auch die soziale Situation in den Lernbereichen beurteilen die leistungsschwachen SchülerInnen günstiger als im Klassenverband. Vor allem sie geben signifikant häufiger an, dass sie in den Lernbereichen neue Freunde gefunden haben, allerdings berichten sie ebenfalls von mehr Streit. Schwache SchülerInnen sehen sich tendenziell häufiger in der Position des „Clowns“, aber auch des „Präsentierers“. Ein weiterer wichtiger Punkt stellt die Zufriedenheit mit der Benotung dar, wobei hier das Schülerurteil unklar ist. Ein Fünftel der SchülerInnen empfindet die Noten als „sehr viel“ gerechter als früher. Etwa 30 Prozent der SchülerInnen empfindet die Notenvergabe als „zum Teil“ gerechter. Etwas mehr als die Hälfte ist der Meinung, dass die Notenvergabe nicht gerechter als vorher erfolgt. Weniger als ein Fünftel gibt an, dass sie „schlechtere Noten erhalten, weil andere Mitglieder ihrer Arbeitsgruppe schlecht mitarbeiten“. Allerdings finden sich einige Unterschiede: Leistungsschwache SchülerInnen halten die Benotungen für sehr viel gerechter als die Bewertungen in den Kernfächern, während leistungsstarke SchülerInnen hier zurückhaltender sind, die Differenz ist allerdings nicht signifikant. Anders herum geben leistungsstarke SchülerInnen häufiger an, dass sie schlechtere Noten erhalten, weil andere nicht gut mitgearbeitet haben. Die mit der leistungsheterogenen Lerngruppe einhergehende Hoffnung, dass sich die unterschiedlichen Kompetenzniveaus für alle Beteiligten positiv auswirken, scheint in Bezug auf die Bewertung von den leistungsstarken SchülerInnen nicht vollständig geteilt zu werden. Hier kann vermutet werden, dass sie den Eindruck haben, ihre Leistungen würden nicht genügend gewürdigt bzw. sie müssten schwächere SchülerInnen „mit durchziehen“. Geringe Unterschiede existieren zwischen Jungen und Mädchen. Während bei starken SchülerInnen eine günstige Haltung zu Klassenunterricht und Lernbereichen existiert, bewerten schwache SchülerInnen die Lernbereiche positiver als den Klassenunterricht. In den Interviews heben die Lehrkräfte vor allem leistungsstarke SchülerInnen als positive Beispiele hervor. Sortiert man sich die Nennungen der Lehrkräfte in einer 4-Felder-Tafel an, stellt man fest, dass bei den starken SchülerInnen positive Aspekte überwiegen, dieser Gruppe sind die sogenannten „Motorschüler“ zuzuordnen (vgl. Abb. 1). Bei ihnen wird vor allem das selbstständige Arbeiten gelobt. Nur eine Kollegin weist auf besonderen Egoismus gerade bei starken SchülerInnen hin. Eine andere Lehrerin sieht ungünstige Effekte bei starken SchülerInnen, da diese glauben, ihre hierarchiehöhere Position verteidigen zu müssen. Bei den schwachen SchülerInnen sehen die Lehrkräfte ebenfalls positive Effekte wie ein gestiegenes Engagement, u.a. dadurch, dass sie ihre Erfahrungen in den Lernprozess als Kompetenzen einbringen können. Allerdings überwiegen
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hier die negativen Nennungen, der Punkt „Überforderung“ taucht zwei Mal auf. Auch stellen die Präsentationen für einige schwache SchülerInnen eine besonders komplizierte Situation dar. Beispielhaft bringt das Zitat von Herrn Schrader dies zum Ausdruck: „Ich hab die Erfahrung gemacht, dass die Methode auf alle Fälle die Lernstärkeren und die Lernwilligeren nach wie vor bevorzugt. […] Und die Lernschwächeren und die auch keine Lust an der Schule haben, ähm dass in Teilen die Vorteile, die sich, diese Methode, die sie haben, eben durch diesen Freiraum, der ihnen zusteht auf einmal, dass sie ihn einfach nicht nutzen und das auch noch nicht ganz verstanden haben, denk ich.“ Abb. 1: Nennungen zu leistungsstarken und -schwachen SchülerInnen aus Sicht der Lehrkräfte.
Während aus LehrerInnensicht die lernstarken SchülerInnen von der Projektmethode profitieren, haben die Lernschwachen und die, „die keine Lust“ haben, aufgrund der höheren Freiheitsgrade und dem Charakter der Selbststeuerung größere Schwierigkeiten. Diese Sichtweise steht zumindest zum Teil im Kontrast zu der Selbsteinschätzung der SchülerInnen.
308 4.3
Jürgen Budde Genderdimensionen
Abschließend wird die Frage nach Genderdimensionen diskutiert. Generell sind die Unterschiede zwischen Jungen und Mädchen, sowohl in den Fragebögen, als auch in den Gruppendiskussionen gering. Beide Gruppen haben eine differenzierte und positive Einschätzung, sowohl bezüglich des sozialen Klimas, als auch der Lerneffekte, jeweils mehr als 80 Prozent der Jungen und Mädchen stimmen Items wie „ich weiß immer, was ich schon gelernt habe“, „ich kann meine Stärken zeigen“ oder „ich kann die Fragen immer gut lösen“ ganz oder teilweise zu. Diese Unterrichtsreform bietet somit sinnvolle Perspektiven für einen geschlechtergerechten Unterricht. Allerdings lassen sich ebenfalls einige Differenzen feststellen, so bilden sich die traditionellen Genderdomänen bezüglich des Interesses für unterschiedliche Schulfächer auch an der GTS St. Pauli ab: Während Jungen sich stärker für den Lernbereich Natur und Mathematik interessieren und diese Fächer als leichter ansehen, interessieren sich Mädchen häufiger für den Lernbereich Alltag sowie für den Deutschunterricht und finden den Unterricht hier einfacher (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2004 & 2007; Willems 2007; Budde 2008a). Die statistisch nachweisbaren Zusammenhänge sind gering, aber signifikant. Befragt nach der Rolle in den Arbeitsgruppen, sehen sich Jungen signifikant häufiger in der Rolle des „Chefs“. Möglicherweise resultiert diese Wahrnehmung weniger aus einer realen Einschätzung als vielmehr aus tradierten Genderbildern (vgl. Budde 2008a). Des Weiteren geben Jungen tendenziell häufiger an, „Faulpelz“ oder „Präsentierer“ zu sein, während Mädchen sich öfter als „Mitarbeiterin“ erleben. Allerdings geben auch Jungen mit Abstand am häufigsten an, dass sie in ihrer Arbeitsgruppe die Rolle des „Mitarbeiters“ innehaben. Mädchen sind tendenziell motivierter und haben weniger Streit in den Arbeitsgruppen. Damit zeigen Mädchen eine günstigere Einstellung zum Lernen. Allerdings haben sie mehr Angst vor der Situation des Präsentierens. Jungen wiederum erleben sowohl das Lernen als auch das soziale Klima in den Lernbereichen positiver als in der Klasse, im Gegensatz zu Mädchen, die hier weniger Unterschiede machen. Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass einige Jungen angeben, dass das Klima in der Klasse weniger angenehm sei. Die meisten Lehrkräfte nehmen vor allem die Jungen als „Problemgruppe“ wahr, wie sowohl in den Fragebögen, als auch in den Interviews deutlich wird. Acht von elf Lehrkräften stimmen der Aussage ganz oder teilweise zu, dass Jungen an der GTS St. Pauli mehr soziale Schwierigkeiten haben als Mädchen. Ergänzend sind alle Lehrkräfte aus den Lernbereichen der Meinung, dass Jungen auch das Lernen in den Lernbereichen zumindest teilweise schwerer fällt und sie im Projektunterricht schlechter mitarbeiten als Mädchen. Zusätzlich fällt auf,
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dass in den Schilderungen der Lehrkräfte ausschließlich Mädchen als positive Beispiele genannt werden, entweder, weil sie zu den sogenannten „Motorschülern“ zählen oder weil schwache Schülerinnen ihre Schüchternheit überwinden. Negatives Verhalten bei Mädchen wird durch die Pubertät erklärt, bei Jungen durch die Unterstellung von ADHS oder die Orientierung an tradierten Formen von Männlichkeit („Und ein neuer schrecklicher Schüler, also den, so’n Wanderpokal“), als negative Beispiele werden häufiger Jungen herangezogen. An einigen Stellen verknüpfen die Lehrkräfte Leistung und Gender miteinander. Aus den Nennungen der Lehrkräfte ergeben sich differenzierte Positionen im Feld (vgl. Abbildung 2). Abbildung 2: Nennungen der Lehrkräfte zu Gendererpositionen der SchülerInnen (gestrichelte Pfeile = Ähnlichkeiten der Zuordnungskriterien mit differenten Auswirkungen; gepunktete Pfeile = Entwicklungen aufgrund der größeren Freiheit nach Gender mit differenten Richtungen) Mädchen Jungen Machen viel
Außerschulisches Engagement
Freiheit ist positiv („Freischwimmen“)
„Sozial gut drauf“
Leistungsstark
Kein Leistungsbezug
Pubertär „Zickig“
Im Unterricht motiviert
Ablehnung persönlicher Themen
stören Präsentation als Bühne
Leise Jungen werden gemobbt (Streber)
Leistungsschwach
Wiederholend fleißig
Holen sich Hilfe
Keine Hilfe annehmen
Gruppen nach Arbeitsfähigkeit („Zugpferd“)
Gruppen nach Freundschaft („Kumpel“)
Freiheit ist negativ („Zeigen, dass man der Größte ist“) Unkonzentriert („abdriften“)
Auffällig ist, dass bei Mädchen positive Zuschreibungen dominieren, dies gilt vor allem bei den leistungsstarken („Wenn ich diese starken Mädels aus meiner Klasse einfach hab, die einfach sozial gut drauf sind und einfach viel machen“). Aber auch bei den leistungsschwachen werden Zuschreibungen gewählt, die (zumindest teilweise) positive Aspekte beinhalten („fleißig“). Einige Mädchen
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werden mit Verweis auf die Pubertät als „zickig“ beschrieben. Bei Jungen stehen negative Aspekte im Vordergrund, die sich vor allem auf die Verhaltensebene beziehen. Dies gilt sowohl für leistungsschwache Jungen („unkonzentriert“) als auch ohne Leistungsbezug („stören“). Interessant ist, dass die größere Freiheit, die mit den Lernbereichen einhergeht, für die Mädchen als günstig angesehen wird, weil sie sich „freischwimmen“ können, während Jungen die mit dem selbstregulierten Lernen einhergehenden größeren Freiheitsgrade tendenziell öfter nutzen, um „zu zeigen, wer der Größte ist“. Auch könnten schwache Mädchen Hilfe annehmen, während Jungen Schwierigkeiten damit haben. Ebenfalls suchen sich leistungsschwache Mädchen ihre Gruppen eher nach Arbeitsfähigkeit aus („Zugpferd“), während für Jungen Freundschaften im Vordergrund stehen („Kumpel“). Entgegen der Ansicht der Lehrkräfte, dass Jungen eine „Problemgruppe“ in den Lernbereichen seien, haben die Schüler selber durchaus einen positiven Blick. Sowohl in den Fragbögen als auch in den Gruppengesprächen äußern sie sich positiv und differenziert und stehen den Lernbereichen positiver gegenüber als dem Fachunterricht. Für die aktuelle Debatte um „Jungen als Bildungsverlierer“ ist dieser Punkt insofern spannend, als er darauf verweist, dass eine für Jungen attraktive Schule sich nicht nur durch gendererdramatisierende sozialpädagogische Sonderangebote wie beispielsweise Jungenarbeit im Nachmittagsbereich (vgl. Budde 2007) auszeichnet, sondern dass der individualisierte Unterricht lohnende Perspektiven zu bieten hat. 5
Fazit
Die SchülerInnen geben positive Rückmeldungen zu ihrem Lernen und schätzen die Eigenverantwortung, die Selbstregulierung und die Differenziertheit. Nur wenige SchülerInnen scheinen die höheren Freiheitsgrade negativ zu nutzen, das Vertrauen der Lehrkräfte in den Lernwillen der SchülerInnen erscheint angemessen. Generell scheint die Einführung von Lernbereichen eine gute Möglichkeit zu sein, mit Heterogenität und Individualität der SchülerInnen umzugehen. Zwar lassen sich an einigen Punkten Differenzen zwischen Jungen und Mädchen, starken und schwachen, bzw. jüngeren und älteren SchülerInnen finden, dominierend ist jedoch der Eindruck aus den Fragebögen und den Gruppendiskussionen, dass die an der GTS St. Pauli durchgeführte Unterrichtsreform bei vielen SchülerInnen positive soziale Auswirkungen und günstigere Einstellungen zur Folge hat. Viele SchülerInnen geben positive Rückmeldung zur Altersheterogenität. Gerade für Jungen bietet der jahrgangsübergreifende Projektunterricht in den Lern-
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bereichen eine gute Perspektive zur Steigerung der Motivation. Positiv fällt ebenfalls auf, dass Gruppenarbeit und gegenseitiges Helfen sehr positiv konnotiert sind. Jedoch mehren sich mit dem Alter zunehmend die kritischen Stimmen. Viele ältere SchülerInnen bevorzugen das soziale Klima in der Klasse und erleben in den Lernbereichen Blamagen und Streit. Dies lässt sich dahingehend deuten, dass es die SchülerInnen zwar positiv finden, mit anderen zusammenzuarbeiten, aber nicht auf den vertrauten Rahmen der Klasse verzichten wollen. Erfreulich sind die Äußerungen gerade der leistungsschwachen SchülerInnen in Bezug auf ihre Lernerfolge, auch wenn die Lehrkräfte sich an diesem Punkt unsicher sind und Sorgen dominieren. Es bestätigt sich teilweise die Befürchtung, dass starke SchülerInnen andere „mit durchschleppen“ müssen. Damit wird den leistungsstarken SchülerInnen eine hohe soziale Kompetenz abverlangt, die möglicherweise nicht genügend anerkannt wird (vgl. Kuchartz & Wagner 2007). Das Fehlen leistungsstarker „MotorschülerInnen“ könnte den Erfolg der Lernbereiche gefährden. Eine große Sorge der Lehrkräfte bezieht sich auf die Unsicherheit, ob die SchülerInnen genug „Basiswissen“ erwerben, alle erleben ein „Dilemma der Wissensvermittlung“. Im Vergleich zu dem ehemaligen Fachunterricht scheint die Menge an Fachwissen zwar angestiegen, zufriedenstellend ist dieser Punkt für viele dennoch nicht. Es gibt insgesamt größere Schwierigkeiten mit den stärker an Rahmenpläne gebundenen Lernbereichen Natur und Gesellschaft. Des Weiteren erweisen sich vor allem die Übergänge als kritische Phasen. In Bezug auf die Einstiegsphase in eine neue Lernepoche berichten die Lehrkräfte von einer hohen Belastung durch die zu leistende Themeneinführung, die mit der Bereitstellung vielfältiger Materialen einhergeht. Analog berichten die SchülerInnen davon, dass sie vom Einstieg überfordert seien und/oder sich langweilen. Auch das Ende einer Lernepoche ist nicht unproblematisch. Hier steigt die Arbeitsbelastung der Lehrkräfte immens an. Gleichzeitig ist ein Teil der Lehrkräfte unsicher, ob sich die SchülerInnen über ihr konkretes Forschungsthema hinaus fachliches Wissen von den MitschülerInnen aneignen. Für manche SchülerInnen bedeutet die Präsentation eine belastende Situation, da diese als sozial prekär erlebt wird. Andere sind gestresst davon, ein Endprodukt abliefern zu müssen, damit einher geht die Angst, „nicht fertig zu werden“. Auch empfinden viele SchülerInnen die Präsentationstage als langweilig. Deutlich ist, dass in der jüngeren Gruppe (5 bis 7) eine positive Einstellung dominiert, während das Fazit in der älteren Gruppe (8 bis 10) ambivalenter ist. Diese positivere Einstellung gegenüber den Lernbereichen bei den jüngeren SchülerInnen lässt vermuten, dass sich die Lern- und Umgehenskultur weiter fortpflanzt und die Lernbereiche in Zukunft durch die zunehmende Routine bes-
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ser angenommen werden. Die größere Skepsis bei den älteren SchülerInnen kann ebenfalls mit ihrer insgesamt etwas geringeren Schullust zusammenhängen. Die durch die Lernbereiche angestoßene Unterrichtsreform übergibt den SchülerInnen einen Teil der Verantwortung und beinhaltet so die Aufforderung zur Selbststeuerung und kann aus dieser Perspektive als eine Regierungstechnik des Selbst angesehen werden (vgl. Bröckling, Lemke & Krassmann 2000). Als problematisch kann sich erweisen, dass die im Projektunterricht notwendige Eigenverantwortlichkeit als Selbststeuerung von den SchülerInnen eine hohe (Selbst-)Disziplin verlangt. Unter dieser Perspektive erweist sich, dass alternativer Unterricht nicht unbedingt das „positive“, ermöglichende und alternativreformpädagogische Gegenteil vom traditionellen und frontalen Fachunterricht ist (vgl. Rabenstein 2007). Denn Unterrichtsreformen wie die hier beschriebene, zielen in ihrem Kern auf das Delegieren von Verantwortung an die Lernenden (vgl. Häcker 2007; Münte-Goussar 2007). Diese sind damit eingebettet in den Wandel gesellschaftlicher Machttechniken. Während Schule als Institution lange Zeit im foucault‘schen Sinne als Disziplinaranstalt gesehen werden konnte, in welchem die Individuen Ansatzpunkt und Produkt der Macht zugleich sind (vgl. Foucault 1976), werden die SchülerInnen durch die als Gouvernementalitätsstrategie zu bezeichnende Selbstverantwortung für die Lernprozesse nun auch selber zu Produzenten von Machtechniken. Gouvernementalität beschreibt den Vorrang des Machttypus Regieren gegenüber Disziplin oder Souverän (vgl. Foucault 1996); regieren in dieser Perspektive meint: „die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung“ (Foucault 2005, S. 116). Der Wandel von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft (vgl. Deleuze 1993) geht mit einer Ausweitung von Modulationsfähigkeit, Kontrolle, Prävention, Verantwortlichkeit und Flexibilisierung einher und führt zu einer verstärkten Selbstverantwortlichkeit der Individuen im Feld der Macht. Damit vollzieht Schule einen Wechsel der Machttechniken, der in anderen gesellschaftlichen Feldern bereits weiter fortgeschritten ist. Die verordnete Selbstverantwortung ist somit auch ein Spiegelbild des Wandels gesellschaftlicher Anforderungen. Nicht nur reformerische Vorstellungen eines selbstbestimmten Lernens, sondern auch das Leitbild des „Unternehmer des Selbst“ steht im Hintergrund Pate. Wenn die SchülerInnen im Zuge der Gouvernementalität zunehmend Teil der Machtdispositive sind und durch Eigenverantwortlichkeit und Individualisierung zur Selbststeuerung zur verpflichtet sind, verschieben sich auch die Widerstandpraktiken. Nicht mehr Rebellion gegen den (autoritären) Zugriff dürfte das dominante Muster sein (da die SchülerInnen dann ja gegen die eigenen Produktion von Macht rebellieren müssten), sondern andere Formen, die den Selbststeuerungscharakter unterlaufen. Neben den positiven Effekten dieser Unterrichtsre-
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formen berichten mehrere Studien aus genau diesem Grund davon, dass die SchülerInnen mit unterschiedlichen Techniken die Aufforderung zur Selbstregierung durchkreuzen, z.B. durch „Doing Student“-Prozesse (vgl. Budde 2008b). „Doing Student“ meint die strategisch-taktische Anpassung der SchülerInnen an die formalen und institutionellen Erwartungen, die an sie gerichtet werden, und somit das Unterlaufen von Lernen. Als Schlüsselstelle erweist sich dabei, inwieweit eine Abgabe von Kontrolle tatsächlich realisiert wird (vgl. Huf 2006). Zu vermuten ist, dass die in anderen Untersuchungen gefundenen negativen Aspekte selbstregulierten Lernens an der GTS St. Pauli vor allem aus zwei Gründen nicht zum Tragen kommen. Denn erstens ermöglicht der „richtig große Schluck aus der Reformpulle“ (wie eine Lehrerin die umfassende Neugestaltung unterrichtlicher Abläufe beschreibt) den SchülerInnen tatsächlich Verantwortung zu übertragen und dies nicht nur zu simulieren; die SchülerInnen erproben nicht nur Selbstständigkeit, sie haben sie. Zweitens führt dies (vor allem bei jüngeren SchülerInnen) nicht dazu, dass sie sich selber überlassen sind. Im Gegenteil, die Betonung von Methodenkompetenz durch die Lehrkräfte sowie die Stringenz des Ablaufes garantieren die notwendige Rahmung. Damit stellen die Lernbereiche in der hier realisierten Form, eine geeignete Unterrichtsentwicklung dar, um die Heterogenität der SchülerInnen angemessen und innerhalb der schulischen Kernaufgabe Unterricht zu berücksichtigen. Literatur Bastian, Johannes; Combe, Arno; Gudjons, Herbert (2000): Profile in der Oberstufe. Fächerübergreifender Projektunterricht in der Max-Brauer-Schule Hamburg. Hamburg: Bergmann + Helbig. Bohnsack, Ralf (2000): Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in die Methodologie und Praxis qualitativer Forschung. 4. Auflage. Opladen: Leske + Budrich. Bourdieu, Pierre (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA-Verlag. Bröckling, Ulrich; Lemke, Thomas; Krassmann, Susanne (Hrsg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Budde, Jürgen (2007): Von lauten und von leisen Jungen. Schriftenreihe des Essener Kollegs für Gendererforschung 7 (1). Budde, Jürgen (2008a): Bildungs(miss)erfolge von Jungen und Berufswahlverhalten bei Jungen männlichen Jugendlichen. Expertise im Auftrag des BMBF. Bonn/Berlin: BMBF. Budde, Jürgen (2008b): Genderkonstruktionen im Sozialen Lernen in der Schule – Bericht aus einem empirischen Forschungsprojekt. Zeitschrift für Frauenforschung & Geschlechterstudien 26 (1), S. 70-82. Budde, Jürgen (2009): Inszenierte Mitbestimmung?! – soziale und demokratische Kompetenzen im schulischen Alltag. Zeitschrift für Pädagogik (im Erscheinen). Deleuze, Gilles (1993): „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“. In: Gilles Deleuze: Unterhandlungen. 1972-1990. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 254-262.
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Eva Lang, Frauke Grittner, Cornelia Rehle & Andreas Hartinger
Das Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften im jahrgangsgemischten Unterricht der Grundschule
Die Einführung von jahrgangsgemischten Lerngruppen, vornehmlich in der Schuleingangsstufe in vielen Bundesländern, führt zu einer organisatorischen Erhöhung der ohnehin schon vorhandenen Heterogenität der Schulklassen. Während verschiedene Veröffentlichungen und Studien die pädagogischen Vorteile darstellen (vgl. z.B. Hanke 2007; Helbig 2008) und die Auswirkungen dieser Unterrichtsform auf die Schülerinnen und Schüler in den Blick nehmen (vgl. z.B. Landesinstitut 2002; Wagener 2009), ist die Perspektive der Lehrkräfte nur in Ansätzen bekannt (vgl. z.B. Giesecke-Kopp 2006; Götz & Neuhaus-Siemon 2007; zusammenfassend Eckerth & Hanke 2009). Dieser Beitrag geht deshalb der Frage nach, welche Einstellungen Lehrkräfte im jahrgangsgemischten Unterricht der Heterogenität entgegenbringen, auf die sie tagtäglich als neue Herausforderung treffen.
1
Zum Verständnis von Heterogenität im Schulunterricht
1.1
Überlegungen zum Begriff Heterogenität
Bei der Verwendung des Begriffes Heterogenität als Beschreibung der Verschiedenartigkeit von Gruppenmitgliedern sind folgende Gesichtspunkte stets impliziert: Relativität: Es sind keine absoluten Eigenschaften, die mit dem Begriff „heterogen“ bezeichnet werden können. Diese Eigenschaften werden erst als das Ergebnis eines Vergleichs hergestellt, der bezüglich eines Kriteriums vorgenommen wird: Mitglieder einer Gruppe sind hinsichtlich eines Kriteriums, das als Maßstab anlegt wird, ungleich oder ähnlich (vgl. Wenning 2007, S. 23). Wird also eine Schulklasse als heterogen bezeichnet, muss angegeben werden, hinsichtlich welchen Kriteriums diese Verschiedenheit zwischen den Schülerinnen und Schülern besteht. Die beschriebene Heterogenität existiert nur in Relation zum gesetzten Maßstab und zu uns selbst als Beobachterinnen und Beobachtern. Partialität: Weiterhin bezeichnet Heterogenität – ebenso wie der Parallelbegriff Homogenität – nur begrenzte Zustände: Das Ergebnis des Vergleichs
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kann nach einem Zeitraum wieder anders ausfallen; die Ungleichheit kann sich vergrößert oder verringert haben. Wenn Aussagen über einzelne Kinder oder Gruppen von Schülerinnen und Schülern getroffen werden, muss man sich bewusst sein, dass sie auch hinsichtlich der Person nur partiell gelten: Weder können damit Personen oder Gruppen als Ganze erfasst und beschrieben werden, noch ihre zukünftigen Entwicklungen. Konstruiertheit: Da jede Art von Heterogenität hergestellt, also konstruiert ist, wird deutlich, dass auch jede Gruppe als heterogen oder homogen beschrieben werden kann, wenn dies das Ziel sein soll. Es kommt auf den Maßstab und auf die Einteilung der Skala an, nach der die Unterschiede gemessen werden. Wertneutralität: Die Feststellung und Konstruktion von Heterogenität ist nicht per se gut oder schlecht. Sie erfolgt immer in bestimmten Zusammenhängen und vor dem Hintergrund bestimmter Interessen. Diese muss man sich im Zusammenhang mit Bildung, Schule und Unterricht verdeutlichen und reflektieren. Für schulisches Lernen bedeutet dies, dass die Unterschiede der Kinder, die Konsequenzen für den Lernerfolg haben (und damit normativ und wertend zu sehen sind) besonders zu beachten sind. 1.2
Zwischen Homogenisierungsdenken und produktiver Nutzung: Umgang mit Heterogenität
Wenn nun die Mitglieder einer Gruppe, beispielsweise die Kinder einer Schulklasse, als heterogen beschrieben werden (vgl. z.B. Rehle & Thoma 2003) – und dies muss man nicht erst seit den Befunden der großen Vergleichsuntersuchungen tun –, stellen sich für die Praxis in Schule und Unterricht folgende bedeutsame Fragen: Wie soll auf die festgestellte Heterogenität reagiert werden? Wie gehen Lehrkräfte mit unterschiedlichen Voraussetzungen um? Und welches sind die Ziele, die dadurch angestrebt werden? Wenn die konstatierte Differenz als negativ gesehen wird, muss sie in dieser Logik beseitigt werden. Ziel der Bemühungen ist dann eine als positiv bewertete und gesetzte Normalität bei allen Mitgliedern einer Gruppe, die dann durch folgende Verhaltensweisen angestrebt werden kann (vgl. Wenning 2007): Die Heterogenität einer Gruppe wird schlicht ignoriert. Es erfolgt trotz einer Ungleichheit eine Gleichbehandlung. Die Heterogenität einer Gruppe wird reduziert. Ein Extremfall dieser Umgangsweise ist die Unterdrückung von Unterschieden, zum Beispiel durch
Das Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften
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Verbote1. Verbote zielen darauf ab, ein Verhalten zu homogenisieren, ohne dass darauf eingegangen wird, woher die Ursachen dafür kommen. Aber auch ein aktives Abbauen von Unterschieden, beispielsweise durch Fördermaßnahmen bei sprachlichen Defiziten, zielt auf die Reduktion von Unterschieden. Wischer (2007) konstatiert bei Lehrkräften ein unhinterfragtes „Homogenisierungsdenken“(ebd., S. 32). Damit bezeichnet sie die Erwartung, dass schulische Lernprozesse dann besonders erfolgreich verlaufen, wenn Schülerinnen und Schüler einer Klasse ähnliche oder sogar weitgehend identische Eingangsvoraussetzungen mitbringen. Becker (2004) gibt für diese „Sehnsucht nach gleichen Lernvoraussetzungen“ (ebd., S. 11) eine Erklärung, bei der er – ohne dies selbst so zu nennen – auf das Konzept der subjektiven Theorien rekurriert. Subjektive Theorien sind gleichsam vorbewusste, nicht reflektierte Idealvorstellungen, in diesem Fall von ‚richtigem‘ Unterricht und Lernen. Sie bestehen aus alltagstheoretischen Annahmen und Erklärungsmustern, die im Hinblick auf pädagogische Einstellungen durch persönliche Erfahrungen während der eigenen Schulzeit oder während der eigenen Berufstätigkeit angeeignet werden (vgl. Obolenski 2001). Diese Einstellungen oder Überzeugungen legen wir unseren Wahrnehmungen und Handlungen zugrunde. Damit bilden solche subjektiven Theorien also die Orientierungsgrundlage für unser Handeln in einem bestimmten Kontext (vgl. Groeben 1988; Laue 2006), hier in Schule und Unterricht. Lehrerinnen und Lehrer messen ihre eigene Arbeit an diesen Annahmen. Becker fasst die von ihm rekonstruierte subjektive Theorie ebenfalls unter der Überschrift „Homogenisierungsdenken“ zusammen(vgl. Becker 2004, S. 11). Sie enthält die folgenden Komponenten, formuliert als Axiome: Unterricht funktioniert nach einem Drehbuch, das eingehalten werden muss. Die Lerngruppe bewegt sich in möglichst geringen individuellen Abständen. Auch nach Phasen individueller ‚Ausflüge‘ kommen am Ende alle wieder an einem gemeinsamen Punkt an. Eine gute, professionelle Lehrkraft ist diejenige, die es schafft, dass sich möglichst alle an das Drehbuch halten und zur gleichen Zeit ans gesetzte Ziel kommen. Kinder lernen dann optimal, wenn sie sich an den geplanten und vorgezeichneten Weg halten. 1 Um nicht missverstanden zu werden – auch wenn wir nicht der Meinung sind, dass Unterschiede durch Verbote im Normalfall unterdrückt werden sollten, so kann z.B. aber ein Verbot das die Unterschiede in der Gewaltbereitschaft unterdrückt, nicht per se als falscher Umgang mit Heterogenität bezeichnet werden.
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Wird das Drehbuch nicht eingehalten, liegt das an der störenden Heterogenität, die das verhindert. Homogenität gilt bei einer solchen Idealvorstellung von Unterricht als Voraussetzung, Heterogenität (in Tempo, Interesse oder Arbeitsweise) ist der Störfall für erfolgreiches Lernen (vgl. auch Bräu & Schwerdt 2005). Giesecke-Kopp (2006) verwendet die Bezeichnung „normbezogener Heterogenitätsbegriff“ – im Unterschied zu einem „differenzbezogenen Heterogenitätsbegriff“ (ebd., S. 83) – um Vorstellungen und Annahmen bei Lehrerinnen und Lehrern zu beschreiben. Hier zeigen sich Gemeinsamkeiten mit dem oben skizzierten ‚Homogenisierungsdenken’. Lehrpersonen, deren Wahrnehmung und Handeln ein solcher ‚normbezogener Heterogenitätsbegriff‘ zugrunde liegt, haben das Ziel, durch entsprechende Methoden im Unterricht diese Unterschiede auszugleichen und im Idealfall eine festgelegte Bezugsnorm zu erreichen. Während also in der eben dargestellten Sichtweise Heterogenität als geradezu hinderlich für erfolgreichen Unterricht wahrgenommen wird, ist als Gegenteil zum oben skizzierten ‚Homogenisierungsdenken’ auch eine Verkürzung auf eine undifferenzierte Idealisierung von Heterogenität denkbar. Die Elemente einer solchen subjektiven Theorie lassen sich folgendermaßen skizzieren: Es ist normal, dass Kinder verschieden sind. Das soll auch so bleiben, denn das ist bunt und schön. Als Lehrkraft kann ich durch meinen Unterricht daran nichts verändern, denn die Kinder bleiben verschieden. Während sich hier also eine positive Einstellung gegenüber der Heterogenität innerhalb einer Klasse findet, bedeutet diese Akzeptanz noch keineswegs, dass mit der Verschiedenheit auch konstruktiv gearbeitet wird. Eine solche Einstellung übersieht dann mögliche Probleme für die einzelnen Schülerinnen und Schüler. Manche Klassifikationssysteme, Normen, Richtlinien und Abschlüsse sind in diesem schulischen Kontext nicht zu umgehen, wenn sie uns als Orientierungsund Verständigungsmittel dienen. Dazu gehören etwa auch festgelegte Bildungsstandards (zumindest die Minimalstandards), deren Erreichen für die Zukunft der Schülerinnen und Schüler als notwendig erachtet wird. Wer dies mit dem Hinweis auf die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler ignoriert, kann sich leicht den Vorwurf einhandeln, er/sie sei an Chancengleichheit und kompensatorischer Erziehung nicht interessiert (vgl. Prengel 2005, S. 21) und nähme ungleiche Bildungschancen als gegeben hin. Angesichts der verschiedenen Voraussetzungen, die Kinder bei Schulbeginn mitbringen, kann es daher in Schule und Unterricht keineswegs darum gehen, diese unterschiedlichen Voraussetzungen und Begabungen bei Schülerinnen und Schülern einfach nur zu begrüßen und als interessant zu bewerten, aber keinerlei
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Handlungsanweisungen davon abzuleiten. Dies entspräche de facto einem Ignorieren der Unterschiede und somit einer Homogenisierung. Zu leicht kann der Verdacht entstehen, dass bestehende Unterschiede gar nicht bearbeitet werden, die eben auch Nachteile bedeuten können: Mit klischeehaften Entschuldigungen in der Art von „Jungen können das nicht so gut!“ oder „Türkische Kinder tun sich da schwer!“ wird Verantwortung für einen verantwortungsvollen Umgang mit Heterogenität abgeschoben. Was von den Lehrerinnen und Lehrern gefordert wird, ist daher ein reflexiver Umgang mit Heterogenität: Die Spannung zwischen der Orientierung an einer (schulischen) Norm und dem Respekt vor den individuellen Unterschieden darf nicht einseitig zugunsten eines der Pole aufgelöst werden. Von der Unterschiedlichkeit der Schülerinnen und Schüler wird ausgegangen, sie wird weder ignoriert noch idealisiert. Die bestehenden Unterschiede müssen immer wieder von neuem analysiert und bewertet werden: In welchen Bereichen ist Kompensation und viel Unterstützung nötig? Wo liegen Fähigkeiten und Interessen, die zwar nicht im Lehrplan stehen, die aber gefördert werden müssen, um im Kind Selbstvertrauen und Motivation wachsen zu lassen, sowie das Gefühl, auch ohne direkte Anleitung arbeiten zu können? Dies verlangt, in der jeweiligen Situation angemessene Maßnahmen zu ergreifen (vgl. Wenning 2007, S. 27). Wie wir sehen, werden an Lehrerinnen und Lehrer hohe Ansprüche gestellt, die mit dem häufig noch gängigen ‚Homogenisierungsdenken’ nicht erfüllt werden können. Daher sieht Wischer (2007) dieses Denken als eines der zentralen Probleme schulischer Praxis in der Bundesrepublik, auch wenn eine solche Homogenisierung zunächst aus Gerechtigkeitsgründen sinnvoll erscheint. Für diese These gibt es auch erste empirische Hinweise. So weist Giesecke-Kopp (2006) aufgrund von Interviewdaten darauf hin, dass eine normbezogene Sichtweise auf Heterogenität tendenziell zu einer Unterrichtsgestaltung mit einer Differenzierung ‚von oben’ (vgl. Brügelmann 2002) führt, bei der den Schülerinnen und Schülern passende Aufgaben von der Lehrkraft zugewiesen werden. Dagegen führt eine differenzbezogene Sichtweise tendenziell zu einer Differenzierung ‚von unten’ (vgl. ebd.), d.h. dass die Schülerinnen und Schüler selbst aus einem Angebot verschiedener Lernarrangements wählen können. Unabhängig von der Art der Differenzierung benötigen Lehrpersonen aufgrund der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler eine hohe diagnostische Kompetenz zur Einschätzung der individuellen Fähigkeitsprofile, eine elaborierte didaktisch-methodische Kompetenz mit Blick auf individuelle Förderung, sowie die Fähigkeit zum Management sehr komplexer Unterrichtsarrangements (vgl. Wischer 2007, S. 192f.). Spiegel und Walter (2005) bezeichnen die Fähigkeit zum verantwortlichen, bewussten Umgang mit diesen Anforderungen als „Hete-
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rogenitätskompetenz“(Spiegel & Walter 2005, S. 219). Eine so definierte Heterogenitätskompetenz kann sicherlich nicht erreicht werden, wenn dem beruflichen Denken und Handeln solche subjektiven Theorien zugrunde liegen, wie das oben skizzierte Homogenisierungsdenken. Bevor sich also das berufliche Handeln ändern kann, müssen sich diejenigen Glaubenssätze, Grundannahmen und Axiome verändern, aus denen sich die jeweiligen subjektiven Theorien der Lehrkräfte zusammensetzen. Mit Blick auf diese Forderung sind die Ergebnisse einer Studie von Kopp (2007) Mut machend, denn hier konnte gezeigt werden, dass auf Heterogenität bezogene subjektive Theorien und Selbstwirksamkeitseinschätzungen von Studierenden des Grundschullehramts durch didaktische Maßnahmen beeinflusst werden können. Seminarstrukturen und -inhalte, die die Studierenden zur Reflexion anregen, indem sie subjektive Theorien bewusst werden lassen und sie mit wissenschaftlichen Theorien konfrontieren, führen zu einer Zunahme des inklusiven Denkens und der Selbstwirksamkeitserwartungen bezüglich des kompetenten Umgangs mit einer heterogenen Schülerschaft. Dies wurde darin deutlich, dass die Studierenden nach Durchlaufen des Seminarangebotes eine signifikant erhöhte Bereitschaft zeigten, „alle SchülerInnen, ungeachtet ihrer Schwierigkeiten und Unterschiede, in der Klasse zu akzeptieren, unterschiedliche Bedürfnisse anzuerkennen und den Unterrichtsstil an Lernstil und Lerntempo aller Kinder anzupassen“ (Kopp 2007, S. 127). Entsprechend den theoretischen Überlegungen zu subjektiven Theorien ist anzunehmen, dass nicht nur didaktisch intendierte Lernarrangements Einfluss auf die Annahmen und Einstellungen von Lehrkräften bezüglich der Heterogenität haben, sondern auch die Berufserfahrung (vgl. Obolenski 2001). Da das Unterrichten in einer jahrgangsgemischten Klasse einen speziellen Fokus auf Heterogenität mit sich bringt, ist es interessant zu sehen, ob hier solche Zusammenhänge zu finden sind. 1.3
Jahrgangsgemischte Klassen und der Umgang mit Heterogenität
In einer jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe wird die ohnehin immer vorfindbare Heterogenität der Schülerinnen und Schüler noch zusätzlich organisatorisch verstärkt, indem der Gruppe der schulerfahrenen, älteren Kinder eine Gruppe von Schulanfängerinnen und Schulanfängern hinzugefügt wird. Diese jahrgangsgemischte Schuleingangsstufe tritt mit dem Anspruch an, die Heterogenität in den Lernausgangslagen der Kinder eben nicht reduzieren, sondern produktiv nutzen zu wollen. „Im Gegensatz zur alten Schuleingangsstufe verzichtet die neue darauf, über die Minimierung von Unterschieden zwischen den Schulanfängern eine Entwicklungs- und Leistungshomogenität in der Lerngruppe her-
Das Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften
321
zustellen. Stattdessen beansprucht sie, optimale individuelle Förderung bei gleichzeitiger Akzeptanz, Pflege und Wertschätzung von Heterogenität zu betreiben“ (Götz 2004, S. 269; vgl. zur Konzeption und Begründung jahrgangsgemischten Unterrichtens auch Helbig 2008; Hanke 2007). Erste empirische Befunde zeigen dann auch, dass die Lehrerinnen und Lehrer die erhöhte Heterogenität der Schülerinnen und Schüler nicht nur registrieren, sondern auch als Anlass für unterrichtliche Veränderungen nehmen. Im Zuge begleitender Untersuchungen zur jahrgangsgemischten Schuleingangsstufe in verschiedenen Bundesländern (vgl. Landesinstitut 2002; Hessisches Kultusministerium 2006; LISUM 2006; Liebers 2004; Bieber, Liebers & Prengel 2006) wurden unter anderem auch diejenigen Lehrerinnen und Lehrer interviewt, die jahrgangsgemischte Klassen unterrichteten. Die Befragten gaben sinngemäß an, dass die Heterogenität in den jahrgangsgemischten Klassen ihnen sukzessive zum Anlass wurde, ihre bisherige Berufspraxis zu verändern und zu erweitern, um den sehr unterschiedlichen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler gerecht zu werden. Die Veränderung und Erweiterung bezog sich auf Unterrichtsmethoden sowie auf Diagnose- und Förderkompetenzen. So wurden beispielsweise in der Studie des Landes Brandenburg (‚FLEX‘2) Lehrerinnen und Lehrer zu ihrer Arbeit in der flexiblen, jahrgangsgemischten Eingangsstufe mit Hilfe von qualitativen Interviews befragt. Untersucht wurde auch, inwiefern sie im Umgang mit der größeren Heterogenität in ihren Klassen ihre professionelle Routine veränderten (vgl. Bieber u.a. 2006). Dabei zeigte sich, dass für die Lehrerinnen und Lehrer der Umgang mit Verschiedenheit zu einer akzeptierten Normalität wurde, für die sie zunehmend mehr Routine ausbildeten. Auch eine quantitativ empirisch ausgerichtete Studie mit über 600 Beteiligten des FLEX-Programms ergab einen vergleichbaren Befund: „Je länger die Grundschulpädagoginnen in FLEX tätig sind, desto mehr richtet sich ihr Augenmerk auf das Wahren einer ganzheitlichen Sicht auf alle ihnen anvertrauten Kinder, und auch die Verantwortung für die Prävention von Lernschwierigkeiten nimmt mit einem längeren Erfahrungszeitraum in der flexiblen Schuleingangsphase zu“ (Geiling, Geiling, Schnitzer, Skale & Thiel 2008, S. 209). Im Sinne der Studie von Kopp (2007) nimmt also auch hier – vermutlich aufgrund von Berufserfahrung – das inklusive Denken im Laufe der Konfrontation mit dem Phänomen der Heterogenität zu. Dabei korreliert die Befürwortung von heterogenen Lerngruppen mit einer positiven Einstellung gegenüber jahrgangsübergreifendem Unterricht und einer Zufriedenheit mit den Lern- und Arbeitsbedingungen (vgl. Geiling u.a. 2008, S. 236). 2 Sowohl die Modellversuche als auch die Studien dazu firmieren unter dem Kürzel FLEX für „Flexible Schuleingangsphase“.
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Obwohl die Akzeptanz der Heterogenität in den Lerngruppen mit Zunahme der Berufserfahrung steigt, stimmten nahezu zwei Drittel der Befragten den Aussagen zu, dass Beeinträchtigungen im Verhalten und in der Lernleistung stabile Besonderheiten des Kindes seien und daher eine „besondere Form des Unterrichts“ (ebd., S. 229) erfordern. Knapp die Hälfte der Klassenlehrkräfte und sie unterstützende, so genannte Teilungslehrkräfte stimmte zudem einer separierenden Förderung zu, die jedoch dem inklusiven Ansinnen des FLEX-Projektes entgegenläuft. Grundschullehrkräfte erhofften sich – stärker als Sonderpädagog(inn)en und Personen aus den Schulleitungen – Entlastungen durch Separierung der Schülerinnen und Schüler, um einer Überforderung durch die Heterogenität der Kinder entgegenzutreten. Zusammenfassend zeigt die Untersuchung von Geiling u.a. (2008), dass die Lehrkräfte mit zunehmender Konfrontation mit der Heterogenität in jahrgangsübergreifenden Lerngruppen sich stärker für alle Kinder des Leistungs- bzw. Verhaltenspektrums zuständig fühlten. Die Aussagen der Grundschullehrkräfte zeigen, dass die Heterogenität, wenngleich als professionelle Aufgabe zunehmend mehr akzeptiert, dennoch als Belastung empfunden wird. Eine Studie in Baden-Württemberg untersuchte ebenfalls die Einstellungen der Lehrpersonen mit einem hierfür eigens entwickelten Erhebungsinstrumentarium (vgl. Landesinstitut 2002, S. 59ff.). Die bisher vorliegenden Ergebnisse weisen in dieselbe Richtung wie die der FLEX-Studie: Als größten Vorteil sahen es die Lehrerinnen und Lehrer nach eigener Auskunft an, dass sie ihre eigene Handlungsdominanz zugunsten der Eigenaktivität der Schülerinnen und Schüler zurücknahmen sowie Maßnahmen zur Individualisierung und Differenzierung intensivierten. Weiterhin sahen es die Beteiligten als Vorteile ihrer Teilnahme am Modellversuch an, ihre eigenen didaktisch-methodischen Kompetenzen weiter entwickelt, sowie die eigene Wahrnehmung für Lernschwächen und -stärken geschärft zu haben (vgl. Landesinstitut 2002, S. 73ff.). 2
Empirische Studie zum Heterogenitätsverständnis von Grundschullehrkräften
Im Folgenden wird eine Fragebogenstudie zum Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften in der Schulanfangsphase vorgestellt. Es handelt sich dabei um eine maßgebliche Teilstudie aus einer größer angelegten, bayernweit durchgeführten Untersuchung zur Jahrgangsmischung des Autor(inn)enteams, in deren Verlauf auch Lernfortschritte von Schülerinnen und Schülern in jahrgangsgemischten Klassen mit bestimmten Lehrer(innen)merkmalen (u.a. ihrem Heterogenitätsver-
Das Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften
323
ständnis) korreliert werden. Diese Berechnungen befinden sich aktuell in der Auswertungsphase. 2.1
Fragestellung der vorliegenden Studie
In dieser Studie soll untersucht werden, inwieweit sich ein Zusammenhang zwischen dem Unterrichten in einer jahrgangsgemischten Klasse und der Einstellung zu Heterogenität abbilden lässt. Der Fokus wird dabei auf die Unterscheidung von norm- und differenzbezogenen Sichtweisen von Heterogenität gelegt (vgl. Giesecke-Kopp 2006). Da diese Unterteilung von Giesecke-Kopp von wenigen Interviewdaten ausgehend formuliert wurde, ist es interessant zu sehen, ob sie sich auch empirisch-quantitativ abbilden lässt. Die erste zentrale Fragestellung ist damit: Unterscheiden sich Lehrerinnen und Lehrer mit unterschiedlichen Erfahrungen in jahrgangsgemischten Klassen bzgl. der Vorstellungen von Heterogenität? Wir haben oben zudem dargelegt, dass die Berufspraxis die subjektiven Theorien von Lehrerinnen und Lehrern beeinflusst. Bezogen auf die Sichtweise von Heterogenität in einer jahrgangsgemischten Klasse ist daher von Interesse, ob bestimmte individuelle Erfahrungen beim jahrgangsgemischten Unterrichten zu unterschiedlichen Einstellungen führen. Aus diesem Grund interessiert hier auch der Vergleich innerhalb der Gruppe der jahrgangsgemischt unterrichtenden Lehrkräfte. Die zweite Fragestellung ist daher: Lassen sich innerhalb dieser Gruppe systematische Unterschiede bzgl. der Sichtweise auf Heterogenität finden, die sich auf Erfahrungen zurückführen lassen? 2.2
Untersuchungsaufbau und Stichprobe
Die Studie wurde als querschnittliche Fragebogenuntersuchung durchgeführt. Angeschrieben wurden alle 352 Kolleginnen und Kollegen in Bayern, die im Schuljahr 2008/09 die Klassenleitung in einer jahrgangsgemischten Eingangsstufe hatten. Als Vergleichsgruppe wurde eine vergleichbare Anzahl von Lehrerinnen und Lehrern angeschrieben, die in diesem Schuljahr eine jahrgangshomogene 1. Klasse unterrichteten. Der Fragebogen wurde in der Mitte des Schuljahres versendet. Die Rücklaufquote betrug bei den aktuell jahrgangsgemischt unterrichtenden Lehrkräften 59,9%. Insgesamt liegen die Daten von 447 Lehrerinnen und Lehrern vor. In etwa die Hälfte der Kolleginnen und Kollegen unterrichteten zu diesem Zeitpunkt in einer jahrgangsgemischten Eingangsstufe (n = 211; 47,2%).
324
Eva Lang, Frauke Grittner, Cornelia Rehle, Andreas Hartinger
Frühere Erfahrungen mit dem Unterrichten in jahrgangsgemischten Klassen gaben 41,7% der Kolleginnen und Kollegen an, 19,8% davon haben zwei Jahre oder mehr Unterrichtserfahrung mit Jahrgangsmischung. Dieser Wert (mindestens zwei Jahre Erfahrung im jahrgangsgemischten Unterrichten) ist von Bedeutung, da z.B. die FLEX-Studien zeigen, dass nach dieser Zeitspanne die Präferenz für Heterogenisierung deutlich zunimmt (vgl. Geiling u.a. 2008). 2.3
Erhebungsverfahren
2.3.1 Einstellung zu Heterogenität Die Lehrerinnen und Lehrer wurden im Fragebogen mit Aussagen zur Verschiedenheit der Schülerinnen und Schüler konfrontiert, die sie mit Hilfe einer vierstufigen Likertskala einschätzten (Werte zwischen 0 und 3). Eine Faktorenanalyse ergab drei Faktoren. Diese lassen sich folgendermaßen interpretieren: 1. normbezogene (negative) Sichtweise auf Heterogenität – Ziel ist Homogenisierung (5 Items: Cronbach‘s Į = .64; Beispielitems: „Verschiedenheit heißt für mich, dass Kinder von dem abweichen, was für die Klassenstufe normal ist.“ „Es ist mein Ziel, dass alle Kinder zum gleichen Zeitpunkt dieselbe Leistung erbringen können.“) 2. differenzbezogene (positive) Sichtweise auf Heterogenität – Grund: mögliche Bereicherung des Unterrichts (5 Items; Cronbach‘s Į = .84; Beispielitems: „Durch die Verschiedenheit der Kinder in meiner Klasse ergibt sich die Möglichkeit, dass Kinder voneinander lernen.“ „Die Verschiedenheit der Kinder in meiner Klasse bringt mich dazu, in meinem Unterricht Neues auszuprobieren.“) 3. negative Sicht auf Heterogenität – Grund: hohe Arbeitsbelastung (4 Items; Cronbach‘s Į = .77; Beispielitem: „Die Verschiedenheit der Kinder in meiner Klasse führt zu unangemessen hohem Arbeitsaufwand bei der Unterrichtsplanung.“) 2.3.2 Einstellung zur Jahrgangsmischung Als Indikator für die Erfahrungen im jahrgangsgemischten Unterrichten nehmen wir den Grad der Zustimmung der Lehrkräfte zu pädagogischen Möglichkeiten der Jahrgangsmischung. Wir gehen davon aus, dass dieser Grad der Zustimmung in der Gruppe der Lehrkräfte mit mehr als zwei Jahren Unterrichtspraxis in der Jahrgangsmischung durch ihre individuellen Erfahrungen mit diesen Möglichkeiten moderiert ist. Dazu gaben die Lehrerinnen und Lehrer auf einer vierstufigen Likertskala ihre Zustimmung bzw. Ablehnung zu verschiedenen Aussagen über den Sinn jahrgangsgemischten Unterrichtens an. Es konnte eine Subskala identi-
Das Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften
325
fiziert werden, die eine klare Zustimmung zur Jahrgangsmischung aus pädagogischen – und nicht aus organisatorischen, wie z.B. die Möglichkeit, auf diese Weise kleine Klassen bilden zu können – Gründen widerspiegelt (3 Items; Cronbach‘s Į = .85; Beispielitem: „Jahrgangsgemischtes Unterrichten ist ein sinnvoller Schritt zur inneren Schulentwicklung.“) 2.4
Auswertungsverfahren
Um Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen zu berechnen, wurden in einem einfachen linearen Modell Varianzanalysen berechnet. Dabei erfolgte eine Gruppenbildung. Zunächst wurde unterschieden, ob die Kolleginnen und Kollegen aktuell in einer jahrgangsgemischten Eingangsstufe unterrichten oder nicht. In einem zweiten Schritt wurden diese beiden Gruppen nach den bisherigen Erfahrungen im jahrgangsgemischten Unterrichten unterteilt. Da es zudem denkbar ist, dass neben der Erfahrung mit Jahrgangsmischung die allgemeine Unterrichtserfahrung hier einen Einfluss hat, wurde die Anzahl der Dienstjahre als Kovariate kontrolliert. Zudem ging auch das Geschlecht (an der Untersuchung nahmen 422 Lehrerinnen und 20 Lehrer – bei fünf Fragebögen fehlte die Angabe) ein. Bei den Berechnungen, inwieweit es Zusammenhänge zwischen der Einstellung zur Jahrgangsmischung und der Sichtweise auf Heterogenität innerhalb der Gruppe der jahrgangsgemischt unterrichtenden Kolleginnen und Kollegen gibt, wurden einfache Korrelationen gerechnet.
326 2.5
Eva Lang, Frauke Grittner, Cornelia Rehle, Andreas Hartinger Ergebnisse
2.5.1 Unterschiede zwischen den untersuchten Gruppen Die Befunde zeigen in zwei der drei Subskalen deutliche Unterschiede zwischen den Lehrkräften mit und ohne aktuelle Erfahrung im Unterrichten in jahrgangsgemischten Klassen (vgl. Tab. 1). Tab. 1: Sicht auf Heterogenität nach aktueller Unterrichtserfahrung ***p < .001, JGE: jahrgangsgemischte Eingangsstufe; MW: Mittelwert; SD: Standardabweichung Sicht auf Heterogenität aktuell kein Unteraktuell richt Unterricht in JGE (n = 233) in JGE (n = 211) positiv: Bereicherung*** negativ: Arbeitsaufwand negativ: Ziel Homogenisierung***
MW 1,80
SD .58
MW 2,24
SD .63
1,64
.50
1,75
.49
1,50
.58
1,17
.62
Deutlich zeigt sich, dass die Lehrerinnen und Lehrer, die aktuell in einer jahrgangsgemischten Eingangsstufe unterrichten, die Verschiedenheit der Lernenden stärker als mögliche Bereicherung des Unterrichts sehen (F3; 400 = 19.659; p < .001; Eta2 = .12) sowie seltener die Homogenisierung (der Leistungen) ihrer Schülerinnen und Schüler als Ziel angeben (F3; 385 = 17.947; p < .001; Eta2 = .07). In einem zweiten Schritt wird nun unterschieden, inwieweit hier die Erfahrungen im jahrgangsgemischten Unterrichten von Bedeutung sind (vgl. Tab. 2).
Das Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften
327
Tab. 2: Sicht auf Heterogenität nach Berufserfahrung mit Jahrgangsmischung insgesamt ***p < .001; JGE: jahrgangsgemischte Eingangsstufe; MW: Mittelwert; SD: Standardabweichung aktuell Unterricht in JGE nein
ja JGE-Erfahrung in Jahren
Sicht auf Heterogenität
<2
2
<2
2
MW SD
MW SD
MW SD
MW SD
positiv: Bereicherung***
1.80 .58
1.75 .52
2.13 .67
2.43 .53
negativ: Arbeitsaufwand
1.65 .70
1.61 .88
1.83 .66
1.60 .73
negativ: Ziel Homogenisierg.***
1.50 .57
1.49 .78
1.20 .60
1.13 .67
(n = 201)
(n = 12)
(n = 125)
(n = 71)
Hier zeigen sich über alle Gruppen hinweg ebenfalls die Unterschiede in den zwei Variablen „Bereicherung“ und „Homogenisierung“. In den Post-hoc Berechnungen ergibt sich allerdings innerhalb der Gruppe der aktuell jahrgangshomogen unterrichtenden Lehrkräfte kein signifikanter Unterschied. In der Gruppe der aktuell jahrgangsgemischt unterrichtenden Lehrerinnen und Lehrer gibt es einen signifikanten Unterschied bzgl. der Sicht auf Heterogenität als Bereicherung. Dies schätzen die Lehrpersonen mit mindestens zweijähriger Erfahrung signifikant höher ein. 2.5.2 Zusammenhänge zwischen der Einstellung zur Jahrgangsmischung und der Sichtweise auf Heterogenität Die meiste und aktuell direkteste berufliche Erfahrung mit dem jahrgangsgemischten Unterrichten hat die Gruppe der Kolleginnen und Kollegen, die mindestens zwei Jahre Erfahrung im jahrgangsgemischten Unterrichten haben und die auch aktuell in einer jahrgangsgemischten Klasse tätig sind. Aus diesem Grund wurde nun ausschließlich innerhalb dieser Gruppe gerechnet, um die Zusammenhänge zwischen der Einstellung zur Jahrgangsmischung und der Sichtweise auf Heterogenität zu überprüfen. Dabei zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang (R = .715, p < .001) zwischen diesen beiden Skalen. Hohe Werte in der Zustimmung zu den pädagogischen Möglichkeiten der Jahrgangsmischung korrelieren hoch mit der differenzbezogenen Sicht auf Heterogenität.
328 3
Eva Lang, Frauke Grittner, Cornelia Rehle, Andreas Hartinger Diskussion der Befunde
Die Ergebnisse unserer quantitativen Studie zeigen zunächst, dass sich die normbzw. eher differenzbezogenen Sichtweisen von Lehrkräften auf Heterogenität empirisch quantitativ abbilden und dann auch in der Befragung einer größeren Personengruppe wiederfinden lassen. Mit Blick auf die verschiedenen Auffassungsmöglichkeiten von Heterogenität, die unter Kapitel 1.2 dargestellt wurden, ist jedoch einschränkend zu sagen, dass eine idealisierende Einstellung gegenüber Heterogenität nicht erfasst wurde. Hierfür wäre eine differenziertere Ausführung des Fragebogens erforderlich gewesen. Die Befunde der Untersuchung weisen weiterhin darauf hin, dass die Lehrkräfte je nach dem zeitlichen Umfang ihrer Berufserfahrung im jahrganggemischten Unterricht unterschiedliche Sichtweisen auf Heterogenität haben. Es stellt sich die Frage, ob sich die Einstellungen im Laufe der Berufsjahre verändert haben oder ob Lehrkräfte mit einer von vornherein entsprechend positiven Einstellung längere Zeit in dieser Unterrichtsform verweilen. Wir können aufgrund der Datenlage keine Aussagen über die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge machen. Unabhängig davon scheinen uns beide Wirkungsrichtungen plausibel. Eine differenzbezogene Sicht auf die Heterogenität der Schülerinnen und Schüler hilft vermutlich, jahrgangsgemischtes Lernen angemessen und damit erfolgreich (auch mit Blick auf die eigene Wahrnehmung) zu organisieren. Umgekehrt helfen positive Erfahrungen mit dem jahrgangsgemischten Unterrichten sicherlich, die Unterschiedlichkeit der Kinder nicht als störend und hinderlich zu empfinden. Doch auch ohne diesen Nachweis von Kausalität bestätigt der gefundene Zusammenhang, dass solche subjektiven Theorien und die damit verknüpften Handlungsroutinen nicht (nur) als Persönlichkeitsvariablen der einzelnen Lehrkraft betrachtet werden können. Wie gezeigt wurde, verweisen subjektive Theorien immer auf einen bestimmten Kontext, innerhalb dessen sie entstehen und modifiziert werden – in diesem Fall auf Schule und Unterricht. Somit sind sie auch Ausdruck der professionsbezogenen Anforderungen und sie spiegeln wider, was in der Wahrnehmung von Lehrkräften während der Ausbildung und im Laufe der Berufsausübung verlangt und für richtig gehalten wird, wie Boller, Rosowski und Stroot (2007) betonen: „Die Frage, wie mit Heterogenität im Unterricht umgegangen wird, wird bislang meist auf den Unterricht der einzelnen Lehrkraft fokussiert, ohne zu hinterfragen, ob die Rahmenbedingungen für den Umgang mit Heterogenität in der Schule oder Schulklasse eigentlich angemessen und förderlich sind“ (ebd., S. 14). Und das heißt auch: Die subjektiven Theorien sind keineswegs immer optimal im Sinne der geforderten „Heterogenitätskompe-
Das Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften
329
tenz“, aber im Hinblick auf die institutionellen Bedingungen und Anforderungen eben doch zunächst offenbar einmal funktional. Dies hat Konsequenzen für die Lehrer(innen)bildung (in allen drei Phasen). Es ist somit unangebracht, mittels eingebrachter Appelle an die ‚richtige‘ Einstellung der Lehrkräfte zur angemessenen Bewältigung von Heterogenität das Problem als eine Frage des Wollens darzustellen. Damit wird eine individualisierende, weil psychologisierende Problembeschreibung, befördert, die eine Verpflichtung auf die Schultern der Lehrerinnen und Lehrer lädt, ohne dies organisatorisch und institutionell zu unterstützen (vgl. Wischer 2007, S. 32f.). So ist es auch ernst zu nehmen, wenn Wenning (2007) warnt, es sei illusorisch zu glauben, Schulen könnten pädagogische Inseln sein. Jedes gut gemeinte individuelle Bemühen, Diskriminierung abzubauen, um mit Heterogenität positiv umzugehen, ist immer eingebettet in einen institutionellen Rahmen, und dieser ist wiederum Teil des gesellschaftlichen Umgangs mit bestimmten Mustern. Die Frage muss vielmehr lauten: Welche schulorganisatorischen Veränderungen bewirken bei Lehrerinnen und Lehrern, dass sie ihre bisherigen Einstellungen und vorbewussten Glaubenssätze darüber ändern, wie Unterricht und Lernen sein müssen? Welche beruflichen Erfahrungen sind geeignet, die subjektiven Theorien von Lehrerinnen und Lehrern zu verändern und damit ihre Heterogenitätskompetenz zu erweitern? Unsere Befunde geben Hinweise auf Antworten. Offenbar kann z.B. die bewusste Erhöhung von Heterogenität in einer Klasse durch organisatorische Maßnahmen wie der Einführung der Jahrgangsmischung dazu führen, dass Lehrerinnen und Lehrer obsolet gewordene Vorstellungen von Unterricht aufgeben und aktiv eine andere Haltung einnehmen. Ein bloßer Appell an den Willen dieser Lehrkräfte hätte diese Veränderung vermutlich nicht bewirkt; es müssen eben auch veränderte Arbeitsbedingungen geschaffen werden, innerhalb derer die bisherigen subjektiven Theorien nicht mehr funktional sind und hinterfragt werden müssen. Die Ergebnisse unserer Studie deuten darauf hin, dass die positiven Erfahrungen der Lehrkräfte mit der Unterrichtsform, in diesem Fall Jahrgangsmischung, von besonderer Bedeutung sind. Es wird weiter zu untersuchen sein, inwieweit z.B. Fortbildungen und professionelle Unterstützung einen Beitrag dazu leisten, damit die Erfahrungen mit Jahrgangsmischung auch positiv werden. Somit unterstützen die dargestellten Ergebnisse die These, dass die Einführung jahrgangsgemischter Klassen in mehrerlei Hinsicht zum Motor für Schulund Unterrichtsentwicklung werden kann. Zum einen kann die organisatorisch verstärkte Heterogenität der Lerngruppe eine Abwendung vom ‚Homogenisierungsdenken‘ der Lehrpersonen in Gang setzen, die eine Voraussetzung für den geforderten reflexiven, kompetenten Umgang mit Heterogenität ist. Zum anderen lässt die Reform der Jahrgangsklassen ein bildungspolitisches Signal vermuten,
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Eva Lang, Frauke Grittner, Cornelia Rehle, Andreas Hartinger
dass auch auf dieser Ebene zunehmend vom Homogenisierungsdenken abgerückt wird. Dazu wird es allerdings zentral sein, bildungspolitisch vorrangig die pädagogischen und allenfalls nachrangig die organisatorischen Argumente für die Jahrgangsmischung zu betonen. Literatur Becker, Gerold (2004): Regisseur, Meisterdirigent, Dompteur? Die Sehnsucht nach „gleichen Lernvoraussetzungen“ hat Gründe. In: Friedrich Jahresheft. XXII. Heterogenität: Unterschiede nutzen – Gemeinsamkeiten stärken. Seelze: Friedrich Verlag, S. 10-12. Bieber, Götz; Liebers, Kathrin; Prengel, Annedore (2006): Kurzfassung der wichtigsten Ergebnisse der FLEX-Evaluation. In: LISUM (Hrsg.): Evaluation der flexiblen Schuleingangsphase FLEX im Land Brandenburg in den Jahren 2004-2006. Ludwigsfelde-Struveshof: LISUM, S. 13-30. Boller, Sebastian; Rosowski, Elke; Stroot, Thea (Hrsg.) (2007): Heterogenität in Schule und Unterricht. Handlungsansätze zum pädagogischen Umgang mit Vielfalt. Weinheim: Beltz. Bräu, Karin; Schwerdt, Ulrich (Hrsg.) (2005): Heterogenität als Chance. Vom produktiven Umgang mit Gleichheit und Differenz in der Schule. Münster: LIT Verlag. Brügelmann, Hans (2002): Heterogenität, Integration, Differenzierung: empirische Befunde – pädagogische Perspektiven. In: Friederike Heinzel; Annedore Prengel (Hrsg.) (2002): Heterogenität, Integration, Differenzierung in der Primarstufe. Opladen: Leske + Budrich, S. 31-43. Eckerth, Melanie; Hanke, Petra (2009): Jahrgangsübergreifender Unterricht: Ein Überblick. Zeitschrift für Grundschulforschung 2 (1), S. 7-19. Geiling, Ute; Geiling, Tina; Schnitzer, Anna; Skale, Nadja; Thiel, Maren (2008): Evaluation der Wirkungen der förderdiagnostischen Begleitung und der systemischen Auswirkungen auf Grundund Förderschulen. In: Katrin Liebers; Annedore Prengel; Gotz Bieber (Hrsg.): Die flexible Schuleingangsphase. Weinheim: Beltz, S. 163-247. Giesecke-Kopp, Thorsten (2006): Subjektive Theorien zu Heterogenität – Einstellungen und Strategien von Lehrerinnen und Lehrern. In: Nicole Kastirke; Sven Jennessen (Hrsg.): Die Neue Schuleingangsphase als Thema der Schulentwicklung. Baltmannsweiler: Schneider, S. 79-100. Götz, Margarete (2004): Die neue Schuleingangsstufe in Deutschland: Alter Wein in neuen Schläuchen? In: Gabriele Faust; Margareta Götz; Hartmut Hacker; Hans-Günther Rossbach (Hrsg.): Anschlussfähige Bildungsprozesse im Elementar- und Primarbereich. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 254-272. Götz, Margarete; Neuhaus-Siemon, Elisabeth (2007): Jahrgangsmischung in der Schuleingangsstufe aus Lehrerinnensicht. Untersuchungsergebnisse aus einem Modellversuch. Grundschulunterricht 54 (11), S. 13-15. Groeben, Norbert (1988): Das Forschungsprogramm subjektive Theorien. Eine Einführung in die Psychologie des reflexiven Subjekts. Tübingen: Francke. Hanke, Petra (2007): Jahrgangsübergreifender Unterricht in der Grundschule. Konzepte, Befunde und Forschungsperspektiven. In: Heike de Boer; Karlheinz Burk; Friederike Heinzel (Hrsg.): Lehren und Lernen in jahrgangsgemischten Klassen. Frankfurt a. M.: Arbeitskreis Grundschule, S. 309324. Helbig, Paul (2008): Pädagogik der Vielfalt in der jahrgangsgemischten Eingangsstufe. In: Andreas Hartinger; Rudolf Bauer; Rudolf Hitzler (Hrsg.): Veränderte Kindheit: Konsequenzen für die Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, S. 159-170. Hessisches Kultusministerium (Hrsg.) (2006): Abschlussbericht: Schulversuch „Neukonzeption der Schuleingangsphase“. Wiesbaden.
Das Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften
331
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Markus Dresel, Gabriele Steuer & Valérie-D. Berner
Zum Zusammenhang von Geschlecht, kultureller Herkunft und sozialer Herkunft mit Lernen und Leistung im Kontext von Schule und Unterricht
1
Einleitung
Ungleich verteilte Chancen auf Bildungserfolg und Beteiligung an Bildungsangeboten sind in unserem Bildungssystem weit verbreitet und existieren – in unterschiedlichen Konstellationen – seit jeher (vgl. die anderen Beiträge im vorliegenden Band). Prominente, d.h. im öffentlichen Diskurs präsente Disparitäten betreffen u.a. (1) die gegenüber Jungen bzw. Männern durchschnittlich schlechteren Schulleistungen und geringeren Beteiligungen an Bildungsangeboten von Mädchen bzw. Frauen im MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik; Überblick bei Ziegler, Heller, Schober & Dresel 2006), (2) durchschnittlich schlechtere Schulleistungen und Unterrepräsentanzen in höheren Bildungsgängen von Schüler(inne)n mit nicht-deutscher kultureller Herkunft (vgl. z.B. Heinze, Herwartz-Emden & Reiss 2007; Herwartz-Emden 2000; Herwartz-Emden & Küffner 2006; Herwartz-Emden, Reiss & Mehringer 2008), (3) die in Deutschland vergleichsweise enge Koppelung des Bildungserfolgs (Schulleistung, höchster Bildungsabschluss) an die soziale Herkunft (vgl. z.B. Arnold, Bos, Richert & Stubbe 2007), sowie (4) Additionen, Interaktionen und Potenzierungen dieser drei Disparitätslinien, wie etwa unterschiedlich geschlechterdifferenzielle Leistungsentwicklungen bei Schüler(inne)n mit und ohne Migrationshintergrund (vgl. Herwartz-Emden, Braun, Heinze, Rudolph-Albert & Reiss 2008). Diese Disparitäten bestehen, obwohl die entsprechenden Personengruppen über vergleichbare kognitive Fähigkeiten verfügen (z.B. besitzen Schülerinnen vergleichbare kognitive Fähigkeiten im MINT-Bereich wie Schüler; vgl. Beerman, Heller & Menacher 1992) oder sich allenfalls zu einem eher geringen Teil durch unterschiedliche kognitive Lernvoraussetzungen erklären lassen (z.B. sind die Schichtabhängigkeiten in der Wahl bzw. Zuweisung der weiterführenden Schulform nach der Grundschule auch nach Kontrolle der kognitiven Fähigkeiten substanziell; vgl. z.B. Arnold u.a. 2007).
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Markus Dresel, Gabriele Steuer, Valérie-D. Berner
Von Chancenungleichheit im Bildungsbereich kann demzufolge gesprochen werden, wenn unterschiedliche Personen oder Personengruppen auch nach Berücksichtigung ihrer zum jeweiligen Zeitpunkt gegebenen kognitiven Lernvoraussetzungen und Bildungspotenziale (z.B. Intelligenz, kognitive Fähigkeiten, Begabungen, Anlagen) unterschiedliche Chancen auf den Zugang zu Bildungsangeboten (z.B. höhere Schulformen, Studiengänge) haben und/oder unterschiedliche Chancen haben, in bestimmten Bildungsangeboten erfolgreich zu sein (z.B. gute Schulleistungen, Schulabschlüsse und Studienerfolge zu erzielen). Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Entstehung und Aufrechterhaltung von Chancenungleichheiten mit Blick auf die dafür verantwortlichen Prozesse aus pädagogisch-psychologischer Perspektive. Zunächst wird dabei vertiefend auf die bereits angerissenen geschlechts- und herkunftsbezogenen Disparitäten im Bildungssystem eingegangen. Im Anschluss daran werden einige theoretische Annahmen zur Erklärung von bildungsbezogenen Ungleichheiten vorgestellt. Es folgt in einem weiteren Abschnitt die Vorstellung einiger ausgewählter Arbeiten, die sich psychischen Prozessen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung disparater Bildungsbeteiligungen, -prozesse und -erfolge widmen (v.a. motivationale Prozesse, soziale Prozesse im Zusammenhang von Einstellungen und Stereotypen relevanter Bezugspersonen). Hierbei werden insbesondere die Rolle von Eltern, sowie die Rolle des Unterrichts bzw. des Klassenkontexts beleuchtet. 2
Geschlechts- und herkunftsbezogene Disparitäten im Bildungsbereich
2.1
Geschlechtsbezogene Disparitäten
Gemäß des Zusammenhangs von Geschlecht und Schulleistung weist die empirische Befundlage klar darauf hin, dass in etlichen Fächern nach wie vor substanzielle Unterschiede existieren (Überblicke bei Herwartz-Emden 2007; Ziegler u.a. 2006). In den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern erzielen Mädchen durchschnittlich schlechtere Leistungen als Jungen. Diese Unterschiede zeigen sich ab der Sekundarstufe, unabhängig davon, ob Leistungsbewertungen durch Lehrkräfte (Zensuren) oder kriteriale Schulleistungstests Verwendung finden und sind im Fach Physik besonders stark ausgeprägt. Im Bereich mutter- und fremdsprachlicher Leistungen verweisen verschiedenen Studien dagegen auf Nachteile der Jungen – etwa im Bereich der Lesekompetenz, bei der sich vergleichsweise große Kompetenzunterschiede zugunsten der Mädchen finden (vgl. Dresel, Stöger & Ziegler 2006; Zimmer, Burba & Rost 2004). Aufschlussreich ist, dass die Stärke der genannten Geschlechtsunterschiede zwischen Staaten
Zusammenhang von Geschlecht, kultureller und sozialer Herkunft
335
bzw. Kulturen stark variiert und sie sich teilweise umkehren (vgl. z.B. Zimmer, Burba & Rost 2004), was als Hinweis auf deutliche Abhängigkeiten von gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen bei der Entstehung geschlechtsbezogener Disparitäten gewertet werden kann. Neben den Leistungsunterschieden zwischen Schülerinnen und Schülern finden sich vielfach auch Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Lern- und Leistungsmotivation, denen – wie unten ausführlicher dargestellt – eine wichtige vermittelnde Rolle zukommt. So verfügen Mädchen im MINT-Bereich beispielsweise über ein deutlich geringeres Fachinteresse, ein geringeres fachbezogenes Fähigkeitsselbstkonzept (Annahmen über die Hohe der eigenen Fähigkeiten), eine geringere Erfolgserwartung und erleben mehr Hilflosigkeit als Jungen (vgl. z.B. Dresel, Heller, Schober & Ziegler 2001). Geschlechtsbezogene Ungleichheiten bestehen nicht nur innerhalb von Bildungsgängen, sondern auch im Hinblick auf die Selektion von und Partizipation an Bildungsangeboten. Vielfach dokumentiert und Gegenstand öffentlicher Diskurse ist beispielsweise die Unterrepräsentanz von Frauen in Studiengängen des MINT-Bereichs. So lag beispielsweise im Wintersemester 2007/08 der Frauenanteil der Studienanfänger(innen) im Studienfach Maschinenbau/-wesen bei 10%, im Studienfach Informatik bei 14% und im Studienfach Physik bei 22% (Statistisches Bundesamt o. D.). Derart starke Diskrepanzen sind allerdings nicht mehr in allen Bildungsangeboten des MINT-Bereichs zu verzeichnen – so ist die Beteiligung an den Studienfächern Mathematik (58%) und Chemie (47%) inzwischen weitgehend ausgeglichen (vgl. ebd.). 2.2
Herkunftsbezogene Disparitäten
Die großen internationalen Vergleichsstudien zeigten nochmals nachdrücklich, dass deutliche Zusammenhänge zwischen sozialer und kultureller Herkunft einerseits und Schulleistung, erworbenen Kompetenzen und Beteiligung an höheren Bildungsgängen andererseits bestehen. So erbrachte beispielsweise IGLU 2006 einen deutlichen Vorsprung im Leseverständnis von Kindern aus Familien des oberen Quartils der sozialen Herkunft vor jenen aus dem unteren Quartil (vgl. Bos, Hornberg, Arnold, Faust, Fried, Lankes, Schwippert & Valtin 2007). In ähnlicher Weise zeigten sich in PISA 2003 substanzielle Kompetenzunterschiede zwischen Schüler(innen)gruppen unterschiedlicher kultureller Herkunft – beispielsweise schnitten in Bezug auf mathematische Kompetenzen Jugendliche türkischer Herkunft im deutschen Schulsystem relativ schlecht ab (vgl. Prenzel, Baumert, Blum, Lehmann, Leutner, Neubrand, Pekrun, Rolff, Rost & Schiefele 2004).
336
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Daneben sind Kinder und Jugendliche aus zugewanderten Familien und/oder mit geringerem sozioökonomischem Status im Durchschnitt häufiger in den unteren Bildungsgängen anzutreffen (vgl. Konsortium Bildungsberichterstattung 2006). Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist der Übertritt von der Grundschule an eine weiterführende Schule, der im traditionell dreigliedrigen Sekundarstufensystem Deutschlands eine bedeutsame Gelenkstelle im Bildungslebenslauf darstellt. Hierzu erbrachte beispielsweise IGLU 2006 erhebliche Koppelungen der sozialen Herkunft an die Schullaufbahnempfehlungen und -präferenzen von Lehrkräften und Eltern (vgl. Arnold u.a. 2007): So war die Wahrscheinlichkeit, eine Gymnasialempfehlung bzw. -präferenz der Lehrkraft zu erhalten, für Schüler(innen) aus Familien der „Oberen Dienstklasse“ etwa 4-mal so hoch wie für Schüler(innen) aus Familien, die der Referenzgruppe der Facharbeiter und Arbeiter mit Leitungsfunktionen zugeordnet wurden. Die Unterschiede hinsichtlich der Elternpräferenz waren sogar noch größer. Diese herkunftsabhängigen Unterschiede im Hinblick auf die Chancen auf Gymnasialempfehlungen und -präferenzen von Lehrkräften und Eltern reduzierten sich etwas nach Kontrolle von kognitiven Fähigkeiten und Schulleistungen (Lesekompetenz), waren aber immer noch beträchtlich. Weiterführende Analysen dieser Schullaufbahnempfehlungen und -präferenzen von Arnold u.a. (2007) erbrachten Evidenz für eine dreifache Benachteiligung, wonach Kindern aus bildungsfernen Schichten geringere schulische Leistungen erzielen (primäre Disparitäten), bei gleichen Leistungen schlechtere Lehrkraftbeurteilungen erhalten und bei gleichen Lehrkraftbeurteilungen von ihren Eltern eher niedrigeren Schulformen zugewiesen werden (sekundäre Disparitäten). 3
Grundlinien theoretischer Erklärungen
Aus psychologischer Perspektive interessieren jene Prozesse, die zwischen Statusmerkmalen wie dem sozioökonomischen Status oder dem Migrationsstatus der Familie oder dem Geschlecht des/der Schüler(in) und den Kriterien des Bildungserfolgs und der Bildungsbeteiligung vermitteln. Hierbei ist das Zusammenspiel unterschiedlicher psychischer Prozesse, die auf verschiedenen Systemebenen angesiedelt sind, in den Blick zu nehmen und theoretisch zu modellieren. Zur Erklärung der dargestellten Disparitäten im Bildungsbereich existiert dementsprechend eine Vielzahl an theoretischen Modellen, Annahmen und Hypothesen (Überblicke z.B. bei Baumert, Stanat & Watermann 2006; Becker & Lauterbach 2007; Herwartz-Emden 2000; Ziegler u.a. 2006). Im Folgenden skizzieren wir einige grundlegenden Annahmen zur Erklärung von geschlechts- und herkunftsbezogenen Disparitäten, wobei wir Wirkmechanismen akzentuieren, in
Zusammenhang von Geschlecht, kultureller und sozialer Herkunft
337
denen im weiteren Sinne motivationalen Prozessen seitens der Sozialisator(inn)en und seitens der Schüler/innen eine bedeutende Rolle zukommt. Die Ursachen disparater Bildungschancen sind schon gemäß dem eingangs gegebenen Verständnis von Chancenungleichheit nicht in unterschiedlichen kognitiven Lernvoraussetzungen zu suchen – wird doch Chancenungleichheit dort gerade definiert als disparate Chancen nach Kontrolle von Intelligenz, kognitiven Fähigkeiten, Begabungen, Anlagen etc. Aber auch wenn auf eine solche relative Definition verzichtet wird (Diskrepanzen im Bildungserfolg relativ zu den kognitiven Voraussetzungen des Bildungserfolgs), weist die existierende Befundlage wie oben dargestellt darauf hin, dass sich verschiedene Bildungserfolge und Bildungsbeteiligungen in unterschiedlichen Gruppen nicht oder nur vergleichsweise schlecht mit Gruppenunterschieden in kognitiven Kompetenzen erklären lassen. Darüber darf aber nicht übersehen werden, dass auf individueller Ebene kognitive Kompetenzen (insbesondere die Intelligenz) zu den stärksten Bedingungsfaktoren effektiver und erfolgreicher Lernprozesse zählen (vgl. Helmke & Schrader 2006). Es kann angenommen werden, dass Chancenungleichheiten im Bildungsbereich im Zusammenspiel von Bedingungen auf verschiedenen Systemebenen entstehen (vgl. Bronfenbrenner & Morris 2000). Dazu zählen zumindest (1) die Makroebene der Gesellschaft, auf der gesellschaftlich geteilte, gruppenspezifische Kognitionen und Bedingungen (z.B. Stereotype, Normen, strukturelle Zugangsbeschränkungen) angesiedelt sind, (2) die Mikro- und die Mesoebene, auf denen das jeweilige Individuum den Sozialisationseinflüssen verschiedener Instanzen ausgesetzt ist und auf diese zurückwirkt (z.B. Erwartungen, Überzeugungen, Bereitstellung von Lerngelegenheiten, instruktionales Handeln) sowie (3) die Individualebene, auf der motivationale und kognitive Lernvoraussetzungen sowie Lernprozesse und deren Ergebnisse verortet sind (für eine feinere Differenzierung der Systemebenen siehe z.B. Stanat 2006). Als bedeutsame Sozialisationsinstanzen und als Quellen von Disparitäten im Bildungsbereich lassen sich die Familie und die Eltern, die Schule, die Schulklasse und die Lehrkräfte, die Gleichaltrigen und Mitschüler/innen sowie die Medien identifizieren (vgl. Helmke & Schrader 2006). Neben der in verschiedenen sozialen Kontexten realisierten Quantität und Qualität von Lernsituationen (z.B. familiäre Lernumwelt, Unterricht) sowie den direkten Einflüssen von Sozialisator(inn)en auf den Bildungserfolg (von Eltern vorgenommene Wahlentscheidungen im Bildungslebenslauf), kommt der individuellen Lern- und Leistungsmotivation der Lernenden eine wichtige vermittelnde Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von Disparitäten aufgrund von Sozialisationseinflüssen zu. Hierbei sind mehrere Mechanismen anzunehmen, die an unterschiedlichen Motivationskomponenten angreifen. Differenzierte
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Aussagen zu den über verschiedene Motivationskomponenten vermittelten Einflüssen von Sozialisator(inn)en auf das Lern- und Leistungshandeln von Schüler(inne)n macht das erweiterte Erwartungs-Wert-Modell der Leistungsmotivation von Eccles, Adler, Futterman, Goff, Kaczala, Meece & Midgley (1983). Prototypisch seien hier zwei Mechanismen genannt: (1) Schüler/innen unterschiedlichen Geschlechts oder unterschiedlicher Herkunft verfügen über unterschiedliche Rollenmodelle. Es wird angenommen, dass Mädchen über weniger effektive Vorbilder im MINT-Bereich verfügen als Jungen (Rollendefizithypothese; vgl. z.B. Leferink 1988). Ähnlich kann etwa angenommen werden, dass Kinder aus bildungsfernen Familien weniger effektive Vorbilder für die Wertschätzung von Lernen und Bildung vorfinden. Diese in unterschiedlichem Ausmaß verfügbaren Modelle sollten in differenziellen Wertschätzungen und Interessen in Bezug auf spezifische Lerngegenständen (z.B. Interesse an naturwissenschaftlichen oder technischen Sachverhalten) oder Unterschieden in der allgemeinen Wertschätzung des Lernens (gegenstandsunabhängige Lernzielorientierung) resultieren. (2) Differenzielle Annahmen hinsichtlich der Fähigkeiten und des Leistungsvermögens von Schüler(inne)n unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlicher Herkunft, die aus Stereotypen erwachsen (z.B. geschlechterdifferenzielle Leistungserwartungen von Eltern, herkunftsabhängige Leistungserwartungen von Lehrkräften), resultieren in differenziellen häufig impliziten Fähigkeitsrückmeldungen wie affektiven Reaktionen oder Ursachenerklärungen nach Erfolg und Misserfolg sowie einer differenziellen Gestaltung von Lerngelegenheiten etwa im Hinblick auf Art und Schwierigkeit der zugewiesenen Lernaufgaben oder Hilfestellungen (vgl. Dresel, Schober & Ziegler 2007). Daraus resultieren disparate Fähigkeitsselbstkonzepte dahingehend, dass Schüler(innen), denen niedrige Erwartungen entgegengebracht werden, ihre Fähigkeiten auch als geringer einschätzen als andere Schüler/innen). Diese differenziellen Fähigkeitsselbstkonzepte werden nachfolgend lern- und leistungswirksam und haben zusätzlich Auswirkung auf den Bildungserfolg, aber auch die Wahl von Bildungsangeboten (vgl. Moschner & Dickhäuser 2006). Differentielle Lernerfolge und Leistungen wirken wiederum in Form differentieller Selbstbewertungen auf die individuelle Motivation der Lernenden, aber auch in Form von (sich bestätigenden) Leistungs- und Fähigkeitserwartungen auf die Bezugspersonen zurück. Derartige psychische Rückkopplungsmechanismen, bei denen motivationalen Prozessen eine vermittelnde Rolle zukommt, können als der entscheidende Mechanismus angenommen werden, der für die Aufrechterhaltung und die Zunahme von Disparitäten im Laufe z.B. der Sekundarstufe verantwortlich ist. Daran wird auch deutlich, dass die Entstehung und Aufrechterhaltung von Disparitäten nicht ausschließlich monokausal, sondern vielmehr dynamisch-interaktionistisch zu modellieren ist.
Zusammenhang von Geschlecht, kultureller und sozialer Herkunft 4
339
Auswählte empirische Evidenz
Im Folgenden werden ausgewählte eigene Befunde präsentiert, um diverse wichtige der dargestellten theoretischen Annahmen exemplarisch mit empirischer Evidenz zu untermauern. Der Fokus wird hierbei auf das Zusammenspiel von Sozialisationsinstanzen (Kognitionen/Überzeugungen von Eltern, Charakteristik von Schule und Unterricht) und der Lern- und Leistungsmotivation der individuellen Schüler/innen als vermittelnde Prozessmerkmale, also auf das Zusammenspiel von Meso-, Mikro- und Individualebene, gelegt. Dargestellt werden empirische Arbeiten, die sich mit der Erklärung geschlechterdisparater Schulleistungen im MINT-Bereich befassen, aber auch eine Arbeit, mit der schulklassenspezifische Koppelungen der Schulleistung an die soziale und kulturelle Herkunft untersucht wurden. 4.1
Zur Bedeutung der Eltern für geschlechtsdisparate Schulleistungen
Die Rolle der Eltern, sowie deren Überzeugungen bei der Entstehung und Aufrechterhaltung geschlechterdisparater Schulleistungen haben wir mit einer Reihe empirischer Studien untersucht (vgl. Dresel u.a. 2001; Dresel, Schober & Ziegler 2007; Schober, Dresel & Ziegler 2007). Die Studien waren in verschiedenen Domänen des MINT-Bereichs (Mathematik, Physik, Chemie) in verschiedenen Jahrgangsstufen des Sekundarbereichs (5. bis 9. Jahrgangsstufe) angesiedelt und nutzten Stichproben, die zwischen 311 und 981 Schüler/innen umfassten. Ansetzend an bisherigen Forschungsdefiziten wurden mit diesen Arbeiten drei Fragestellungen verfolgt: (1) In welchem Ausmaß sind fähigkeits- und eignungsbezogene Geschlechtsrollenstereotype im Denken von Eltern vorhanden? (2) Welche Zusammenhänge bestehen zwischen Geschlechtsrollenstereotypen im Denken von Eltern sowie der Motivation und dem Leistungshandeln von Schüler(inne)n? (3) Welche psychischen Prozesse sind für die Übertragung geschlechtsbezogener Erwartungen und Überzeugungen von Eltern auf ihre Kinder verantwortlich? Im Hinblick auf die erste Fragestellung indizierten die mit mehreren, direkten und indirekten Erfassungsmethoden gewonnenen Ergebnisse, dass der Anteil an Eltern, die dem traditionellen gesellschaftlichen Geschlechtsstereotyp anhängen, wonach Mädchen und Frauen im MINT-Bereich über weniger Begabungen verfügen und weniger dafür geeignet sind als Jungen und Männer, zwischen 31% und 61% beträgt (abhängig von der Erfassungsmethode) und somit beträchtlich ist (vgl. Dresel u.a. 2007). Die Verbreitung dieser Stereotype, die angesichts der nicht oder nur in sehr geringem Maße bestehenden kognitiven Fähigkeitsunterschiede als alltagspsychologische Fehleinschätzung zu betrachten sind, spiegeln
340
Markus Dresel, Gabriele Steuer, Valérie-D. Berner
sich auch in elterlichen Einschätzungen der Fähigkeiten ihres Kindes wider. So schätzen Eltern von Mädchen die Fähigkeiten ihres Kindes im MINT-Bereich durchschnittlich als niedriger ein als Eltern von Jungen (vgl. z.B. Dresel u.a. 2001). Dazu äquivalente Unterschiede lassen sich bezüglich der Erklärungen für vergangene Leistungen ihrer Töchter bzw. Söhne nachweisen (vgl. z.B. ebd.). Interessanter als die Frage nach der Verbreitung geschlechtsbezogener Überzeugungen bei Eltern ist aus psychologischer Perspektive die Frage danach, wie sich diese auf Motivation und Leistungshandeln der Kinder auswirken und welches die vermittelnden Wirkmechanismen sind. Hinsichtlich der Frage nach den Zusammenhängen zwischen Geschlechtsrollenstereotypen im Denken von Eltern, sowie Motivation und Leistungshandeln von Schüler(inne)n, konnten wir für die Domänen Physik und Mathematik eine kontrastive Wirkung auf Jungen und Mädchen nachweisen, mit deren Hilfe bestehende Geschlechterdifferenzen im schulischen MINT-Bereich zumindest teilweise erklärt werden können (vgl. z.B. Dresel u.a. 2001; Ziegler, Heller & Broome 1999): Während Mädchen eine umso ungünstigere Lern- und Leistungsmotivation zeigten und umso schlechtere Leistungen erzielten, je mehr ihre Eltern traditionellen Geschlechtsstereotypen verbunden waren, waren bei Jungen Motivation und Leistung umso günstiger, je stärker das stereotypgebundene Denken ihrer Eltern war. Traditionelle und auf den MINT-Bereich bezogene Geschlechtsstereotypen von Eltern wirken sich somit auf Jungen und Mädchen entgegengesetzt aus. Im Sinne von sich selbst erfüllenden Prophezeiungen profitieren Jungen davon (positiver Erwartungseffekts = Pygmalioneffekt), während Mädchen dadurch beeinträchtigt werden (negativer Erwartungseffekt = Golemeffekt). Entsprechend der in der Literatur belegten größeren Relevanz negativer Erwartungen (vgl. z.B. Brophy 1983) fiel in unseren Forschungen der Golemeffekt stärker aus als der Pygmalioneffekt. Um den vermittelnden Mechanismus der Übertragung von – gemäß des Geschlechtsstereotyps verzerrten – Elternüberzeugungen auf Motivation und Leistungshandeln ihrer Kinder zu identifizieren, analysierten wir längsschnittliche Eltern- und Schüler(innen)daten mit Hilfe von Methoden zur Prüfung von Mediatorhypothesen. Dabei zeigte sich übereinstimmend für mehrere Domänen (Mathematik, Physik) und für mehrere relevante Aspekte des Leistungshandelns und der Lern- und Leistungsmotivation (Ursachenerklärungen für Erfolg und Misserfolg, Hilflosigkeit, Anstrengung, Wahlverhalten, Leistung) eine Übertragung, die über das Fähigkeitsselbstkonzept der Schüler(innen) vermittelt ist (vgl. Dresel u.a. 2001; Ziegler u.a. 1999). Demnach wirken sich elterliche Erwartungen hinsichtlich der Fähigkeiten und Leistungen ihrer Kinder zunächst auf die fachbezogenen Fähigkeitsselbsteinschätzungen der Schüler/innen aus – die entsprechenden Modifikationen des domänspezifischen Selbstkonzepts ziehen nachfolgend entsprechende Veränderungen in anderen Motivationskomponenten und
Zusammenhang von Geschlecht, kultureller und sozialer Herkunft
341
im Leistungshandeln nach sich (vgl. Moschner & Dickhäuser 2006). Aufgrund der in der Kommunikation zwischen Bezugspersonen und Schüler(inne)n häufig enthaltenen indirekten Hinweise auf die Fähigkeiten der Schüler/innen ist die zentrale Rolle des Fähigkeitsselbstkonzepts theoretisch sehr plausibel (vgl. Graham 1991). Unsere Forschungen zu geschlechtsbezogenen Überzeugungen und Erwartungen von Eltern sowie deren Wirkungen auf Motivation und Leistungshandeln von Kindern zeigen zusammenfassend, dass Eltern häufig traditionelle Geschlechtsrollenstereotype aufweisen und dass sich – aufgrund deren negativen Wirkung auf Mädchen und positiven Wirkung auf Jungen – geschlechterdisparate Schulleistungen zumindest zum Teil darauf zurückführen lassen. Allerdings zeigte sich in unseren Studien – wie erwartet – auch, dass Geschlechtsunterschiede im MINT-Bereich bei Schüler(inne)n auch dann bestehen, wenn ihre Eltern nicht oder nur sehr schwach traditionellen Geschlechtsrollenstereotype verbunden sind, dass also die Sozialisationsinstanz ‚Familie/Eltern‘ keineswegs alleinig für die nach wie vor bestehenden Schulleistungsunterschiede verantwortlich gemacht werden können. 4.2
Zur Bedeutung der Schule, der Schulklasse und des Unterrichts für geschlechtsdisparate Schulleistungen
Die Rolle, die die Sozialisationsinstanzen ‚Schulklasse’ und ‚Schule’ im Zusammenhang von Geschlechterdiskrepanzen bei der Schulleistung spielen, möchten wir anhand einer Studie illustrieren, in der eine Stichprobe von 9118 Schüler(inne)n aus 498 Klassen der 5. bis 10. Jahrgangsstufe an 54 koedukativen Schulen mit Hilfe von mehrebenenanalytischen Methoden analysiert wurde (vgl. Dresel u.a. 2006). Einbezogen wurden die Schulleistungen (Noten) und – als makroskopischer Indikator der Leistungsmotivation – die Leistungsaspirationen (im Sinne der Diskrepanz zwischen vorangehendem Leistungsergebnis und Leistungsansprüchen an nachfolgende Leistungen) der Schüler/innen in Mathematik, Deutsch und der ersten Fremdsprache (meist Englisch), also in jenen drei Hauptfächern aus dem mathematisch-naturwissenschaftlichen und dem sprachlichen Bereich, die ab der 5. Jahrgangsstufe unterrichtet werden. Die zentrale Fragstellung richtete sich darauf, ob sich Schulklassen und Schulen im Ausmaß von Geschlechtsunterschieden bei Schulleistung und Motivation überzufällig unterscheiden. Ist dies der Fall, kann dies als starkes Indiz für die Bedeutsamkeit der beiden Subsysteme für die vielfach dokumentierten Geschlechterdisparitäten im schulischen Bereich gewertet werden. Darüber hinaus wurde untersucht, inwiefern das klassen- bzw. schulspezifische Ausmaß von Geschlechtsunterschieden
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mit strukturellen Merkmalen von Schulklassen und Schulen im Zusammenhang steht (Jahrgangsstufe, Mädchenanteil, Klassengröße, Schulform). Aufbauend auf den erwarteten durchschnittlichen Geschlechtseffekten bei der Schulleistung (kleine Vorteile von Jungen im Fach Mathematik, kleine und mittlere Vorteile der Mädchen in der ersten Fremdsprache und im Fach Deutsch) zeigten sich statistisch signifikante Unterschiede zwischen Schulklassen – nicht aber zwischen Schulen – in der Bedeutsamkeit der Geschlechtsvariable für die Schulleistung: In allen drei untersuchten Fächern existieren demnach Klassen, in denen die Benachteiligung einer Geschlechtergruppe nicht oder nur schwach zum Tragen kommt und Jungen und Mädchen über vergleichbare Chancen verfügen, aber auch Klassen, in denen die Schulleistungsunterschiede überdurchschnittlich stark ausgeprägt sind und in denen die Chancen von Mädchen und Jungen sehr deutlich gemäß gängiger Stereotype verteilt und damit besonders ungleich sind. Beispielsweise variierten die Geschlechtsunterschiede zugunsten von Mädchen bei den Schulleistungen im Fach Deutsch zwischen 0.8 Notenstufen (entspricht d=0.68 Standardabweichungen) und 0.2 Notenstufen (d=0.15) zwischen Schulklassen (Effekte in Schulklassen, in denen die Geschlechtsunterschiede schwächer bzw. stärker als in 95% der übrigen Schulklassen ausgeprägt waren). Dass sich diese Effekte nur auf Ebene der Klasse, nicht aber auf Ebene der Schule nachweisen ließen, weist darauf hin, dass die Schulklasse als vorrangige Sozialisationsinstanz fungiert, mithin als Interaktionsrahmen, in dem geschlechtsspezifische Überzeugungen und Erwartungen sichtbar und wirksam werden. Im Hinblick auf die Leistungsaspirationen der Schüler(innen) zeigten sich vergleichbare Ergebnisse mit dem Unterschied, dass die durchschnittlichen Geschlechtseffekte hierbei generell zu ungunsten der Mädchen verschoben waren, diese also im Fach Mathematik stärker und in Deutsch und der ersten Fremdsprache schwächer waren als bei den Schulleistungen. Übereinstimmend mit der Befundlage zu motivationalen Geschlechtsunterschieden, wonach Mädchen fächerübergreifend ihre Fähigkeiten niedriger einschätzen als Jungen, verfolgten Mädchen generell geringere Leistungsaspirationen als Jungen (vgl. Ziegler u.a. 2006). Durch die genannten strukturellen Merkmale konnten die Klassenunterschiede im Ausmaß von Geschlechterdiskrepanzen nur teilweise aufgeklärt werden. Es zeigten sich weder Abhängigkeiten vom Mädchenanteil in der Klasse noch von der Klassengröße. Die Jahrgangsstufe erwies sich dagegen als prädiktiv in den beiden sprachlichen Fächern: Die Geschlechtsunterschiede bei der Schulleistung (und bei den Leistungsaspirationen im Fach Deutsch) zugunsten von Mädchen waren mit zunehmender Jahrgangsstufe stärker ausgeprägt – dies kann als temporaler Schereneffekt interpretiert werden, der als Resultat kumulierender Sozialisationserfahrungen, aber auch kumulierender Wissens- bzw. Kompetenz-
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defizite auftritt. Für das Fach Mathematik zeigte sich ein temporaler Schereneffekt bei den Leistungsaspirationen. In den beiden sprachlichen Fächern waren zudem Indizien für einen vertikalen Schereneffekt evident, nach dem die Unterschiede zu ungunsten von Jungen in der Haupt- bzw. Realschule größer sind als am Gymnasium (vgl. Zimmer u.a. 2004). Zentral ist, dass die Varianz zwischen Klassen im Ausmaß von Geschlechtsunterschieden durch die beiden dargestellten Schereneffekte nur in geringem Maße aufgeklärt werden konnte und dass auch nach Kontrolle der genannten strukturellen Merkmale substanzielle Klassenunterschiede in der Stärke von Geschlechtsunterschieden bestanden. Dies kann dahingehend interpretiert werden, dass vor allem Prozessmerkmale des Unterrichts und des Interaktionsgeschehens in der Schulklasse bedeutsam für die Entwicklung geschlechterdisparater Schulleistungen sind. Dazu zählen die Lehrkraft mit ihren Erwartungen, Überzeugungen und instruktionalen Handlungsweisen sowie die Geschlechtsrollenkonformität von Einstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen von Mitschüler(inne)n. In einer ebenfalls mehrebenenanalytischen Nachfolgestudie (Dresel, Ziegler & Praetorius 2009), die im Mathematikunterricht der 7. Jahrgangsstufe des Gymnasiums angesiedelt war, wurden die Prozessmerkmale des Unterrichts, sowie die Lern- und Leistungsmotivation der Schüler/innen differenzierter betrachtet. Einbezogen wurden 820 Schüler/innen aus 43 koedukativen Schulklassen. Auch hier zeigten sich bei beiden einbezogenen Indikatoren der Schulleistung im Fach Mathematik (Zeugnisnote und kriterialer Schulleistungstest) überzufällige Unterschiede zwischen Schulklassen im Hinblick auf das Ausmaß von dabei bestehenden Geschlechtsunterschieden. Wiederum existierten einerseits besonders ‚geschlechtsdiskriminative’ Schulklassen, in denen Jungen deutlich bessere Leistungen erzielten als Mädchen, und andererseits ‚geschlechtsegalitäre’ Schulklassen, in denen keine Unterschiede bestanden oder Mädchen sogar bessere Mathematikleistungen erzielten als Jungen. Analoge Klassenunterschiede zeigten sich in der Stärke der Geschlechtsunterschiede bei einer Reihe von Komponenten der Lern- und Leistungsmotivation im Schulfach Mathematik (Erfolgserwartung, Hilflosigkeit, Annahmen über die Veränderbarkeit der eigenen mathematischen Fähigkeiten). Als Prozessmerkmale des Unterrichts wurde die Salienz zweier Zielstrukturen im Unterricht einbezogen, hinsichtlich derer sich Schulklassen substanziell unterscheiden und denen in der pädagogischen Motivationspsychologie in jüngerer Zeit große Bedeutung beigemessen wird (z.B. Finsterwald, Dresel & Ziegler 2009): (1) eine wahrgenommene Lernzielstruktur, bei der das instruktionale Handeln und das Interaktionsgeschehen in der Klasse derart gestaltet ist, dass für Schüler/innen das Ziel salient ist, Verständnis zu erlangen und Wissen und
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Kompetenzen zu erweiten, sowie (2) eine wahrgenommene Performanzzielstruktur, bei der aus dem instruktionalen Handeln und dem Interaktionsgeschehen für die Schüler/innen das Ziel resultiert, gute Leistungen zu erbringen und schlechte Leistungen zu vermeiden. Es wird angenommen, dass vor allem eine Fokussierung auf individuelle Verbesserung und das Verständnis des Lerninhaltes, ein positives Fehlerklima sowie die Anwendung einer individuellen Bezugsnorm bei der Leistungsbeurteilung, eine wahrgenommene Lernzielstruktur und das Ausrichten der Aufmerksamkeit auf Wettbewerb und Leistungsbewertungen sowie die Anwendung einer sozialen Bezugsnorm eine wahrgenommene Performanzzielstruktur konstituiert (vgl. Finsterwald u.a. 2009). Die Ergebnisse erbrachten, dass die Geschlechtsunterschiede bei der Lern- und Leistungsmotivation im Schulfach Mathematik zu ungunsten von Mädchen umso stärker waren, je stärker in den einbezogenen Schulklassen eine wahrgenommene Performanzzielstruktur ausgeprägt war. Je stärker also (z.B. in Folge von sozialen Vergleichen und konkurrenzorientierten Unterrichtsmethoden) das Ziel, gute Leistungen zu erzielen und schlechte Leistungen zu vermeiden, als das übergeordnete Ziel im Mathematikunterricht wahrgenommen wurde, desto stärker wurden die Mädchen in Relation zu den Jungen demotiviert. War in den Schulklassen eine Performanzzielstruktur – unabhängig von der Lernzielstruktur – nur wenig salient, war auch das Ausmaß der Geschlechterdisparitäten gering. Konkurrenzorientierung, soziale Vergleiche und daraus resultierende Performanzzielstruktur benachteiligen im Mathematikunterricht offensichtlich die Mädchen (vgl. die bei Beerman, Heller & Menacher 1992 zusammengefassten frühen Befunde zu den Auswirkungen von Konkurrenz- und Kooperationsorientierung). Diese Befunde verweisen nicht nur auf die Bedeutsamkeit der Sozialisationsinstanz der Schulklasse, sondern auch auf spezifische instruktionale Merkmale des Unterrichts, die zur Entwicklung von Geschlechterunterschieden bei der Lern- und Leistungsmotivation und sowie der Schulleistung beitragen und deren Veränderung eine Nivellierung der Geschlechterdiskrepanzen im schulischen Bereich in Aussicht stellen. 4.3
Zur Rolle der Schule, der Schulklasse und des Unterrichts für herkunftsdisparate Schulleistungen
Im Vergleich zur relativ breiten Befundlage zum Sachverhalt der Koppelung von sozialer und kultureller Herkunft an die Schulleistung, bestehen noch relativ große Forschungsdefizite hinsichtlich der dafür verantwortlichen Prozesse (vgl. Stanat 2006). Noch vergleichsweise gut beforscht sind familiale Prozesse, die in Abhängigkeit von sozioökonomischem Status und Migrationshintergrund variieren (vgl. Ditton, Krüsken & Schauenberg 2005; Watermann & Baumert 2006).
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Hierbei wird auf die Quantität und (seltener) auch die Qualität der kulturellen und kommunikativen Bildungspraxis in Familien rekurriert – motivationale Prozesse (z.B. im Zusammenhang von elterlichen Leistungserwartungen oder Wertschätzungen von Lernen und Bildung), denen aus den oben angeführten theoretischen Gründen eine bedeutsame Rolle zukommen dürfte, wurden bislang nicht in die Forschungen einbezogen (vgl. Berner 2009). Im Hinblick auf die Rolle der Schule, der Schulklasse und des Unterrichts für die Entstehung und Aufrechterhaltung von herkunftsbezogenen Disparitäten weist die empirische Literatur bislang recht große Lücken auf. Abgesehen von partikulären Befunden auf Ebene gesamter Schulen, die etwa darauf verweisen, dass in Schulen mit höherem Anteil an Jugendlichen aus Familien mit nichtdeutscher Familiensprache geringere Leistungen erzielt werden (vgl. den Überblick bei Stanat 2006), existieren wenig Erkenntnisse zu den strukturellen und prozessualen Bedingungen in Schule und Unterricht und damit auch Ansatzpunkte zur Abdämpfung der gut belegten herkunftsbezogenen Disparitäten. Dies gilt insbesondere für die Sozialisations- und Interaktionsinstanz der Schulklasse, die in vielerlei Hinsicht den wesentlichen Interaktionsrahmen für schulische Bildungsprozesse stellt (vgl. die oben referierten Befunde zur relativen Bedeutung der beiden Ebenen Schule und Schulklasse für die geschlechtsbezogenen Disparitäten in der Schulleistung). An diesem Forschungsdefizit setzt eine aktuelle eigene Studie mit 735 Schüler(inne)n aus 39 teilweise sehr herkunftsheterogenen Grundschulklassen der dritten und vierten Jahrgangsstufe an (vgl. Dresel u.a. 2009). Angenommen wurde, dass sich Schulklassen im Hinblick auf die Koppelung von sozialer und kultureller Herkunft an die Schulleistung unterscheiden müssten, wenn der Schulklasse, dem Unterricht und dem instruktionalen Handeln von Lehrkräften eine bedeutsame Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von herkunftsbezogenen Disparitäten bei der Schulleistung zu kommt. Diese Annahme konnte mit mehrebenenanalytischen Methoden bestätigt werden: Es fanden sich einerseits Schulklassen, in denen sich recht starke Disparitäten in der Schulleistung fanden, in denen Schüler/innen aus Familien mit geringen sozioökonomischem Status und/oder Migrationshintergrund (operationalisiert über die Geburtsländer der Eltern und die primäre Familiensprache) gravierend schlechtere Schulleistungen erzielten als Schüler/innen mit hohem sozioökonomischem Status und/oder ohne Migrationshintergrund und eine überdurchschnittlich starke Koppelung der Schulleistung an die Herkunft vorzufinden war. Andererseits fanden sich aber auch Klassen, in denen keine oder sehr geringe Leistungsunterschiede zwischen Schüler(inne)n unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft bestanden. Generell waren diese Unterschiede zwischen Schulklassen hinsichtlich der Leistungsbewertung durch Lehrkräfte (Zeugniszensuren im Fach Deutsch) stärker als
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hinsichtlich der Leistungen in einem kriterialen Schulleistungstest (Rechtschreibtest), was auf mögliche erwartungsabhängige Ungleichheiten bei der Bewertung von Schüler(innen)leistungen verweist (sekundäre Disparitäten). Darüber hinaus wurde untersucht, ob – und wenn ja, in welcher Weise – die Bezugsnormorientierung der Lehrkräfte im Zusammenhang mit dem schulklassenspezifischen Ausmaß der genannten Disparitäten steht. Die Bezugsnormorientierung von Lehrkräften, also das Ausmaß, in dem sich diese bei der Bewertung von Schüler(inne)n an individuellen Verbesserungen (individuelle Bezugsnorm) und/oder am Vergleich mit den anderen Schüler(inne)n der Klasse (soziale Bezugsnorm) orientieren, gilt als wichtiges Merkmal des instruktionalen Handelns und hat einen nachgewiesenen Einfluss auf die (De-)Motivierung insbesondere leistungsschwacher Schüler/innen (vgl. Rheinberg 2008). Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass eine starke Orientierung an der individuellen Bezugsnorm mit geringeren herkunftsbezogenen Disparitäten in Schulklassen einhergeht. So war der Einfluss des sozioökonomischen Status als auch der Sprache der Familie der Schüler/innen auf deren Schulleistung umso geringer, je stärker bei den Lehrkräften eine individuelle Bezugsnormorientierung ausgeprägt war. Mit diesen Befunden konnten wir ein erstes, empirisch belastbares Indiz dafür liefern, welche Merkmale des instruktionalen Handelns von Lehrkräften geeignet sein könnten, herkunftsbezogenen Disparitäten in Schulklassen entgegenzuwirken. Gleichwohl sind auch diese Befunde noch zu qualifizieren – etwa im Hinblick auf eine umfassendere und multimethodale Berücksichtigung des instruktionalen Handelns, insbesondere im Hinblick auf motivationsrelevante Dimensionen des Unterrichts (vgl. Steuer 2009). Darüber hinaus erfordert aus unserer Perspektive eine umfassende Modellierung disparitätsgenerierender und -stabilisierender Prozesse im Unterricht auch eine umfassende Berücksichtigung motivationaler und kognitiver Prozesse seitens der Schüler/innen. 5
Schluss
Im vorliegenden Kapitel wurde der Versuch untergenommen, eine über verschiedene Disparitäten integrative Perspektive einzunehmen. Es wurde argumentiert, dass für die Heterogenitätsmerkmale Geschlecht, soziale Herkunft und kulturelle Herkunft in ähnlicher Weise angenommen werden kann, dass die Bedingungen disparater Bildungserfolge und Bildungspartizipationen weniger in kognitiven Lernvoraussetzungen und Bildungspotenzialen zu suchen sind, sondern vielmehr in differentiellen Interaktionsdynamiken mit verschiedenen Sozialisationsinstanzen. Es wurde eine Reihe an Befunden präsentiert, die Hinweise darauf geben, welche Relevanz den Überzeugungen und Erwartungen von Eltern, sowie
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der Schulklasse und dem darin realisieren Unterricht zukommt und welche Prozesse (z.B. Vermittlungsmechanismen) hierbei relevant sind. Dabei wurde motivationalen Prozessen eine wichtige vermittelnde Rolle bei der Auswirkung der Sozialisationseinflüsse auf Lern- und Bildungsprozesse zugesprochen. Während in der Forschung zu geschlechtsbezogenen Disparitäten motivationalen Prozessen in der Interaktion zwischen Lernenden und Sozialisator(inn)en bereits seit Längerem großer Stellenwert eingeräumt wird, ist dies in der Forschung zu herkunftsbezogenen Disparitäten bislang nicht in diesem Maße der Fall. Vor dem Hintergrund der vorgestellten Befunde erscheint eine motivationale Perspektive auf herkunftsbezogene Disparitäten jedoch als fruchtbare Forschungsperspektive – auch weil die Lern- und Leistungsmotivation sowie der motivationale Diskurs zwischen Lernenden und Bezugspersonen vergleichsweise gute Ansatzpunkte für Intervention und Reduktion von Disparitäten bieten (vgl. Ziegler & Dresel 2009). Literatur Arnold, Karl-Heinz; Bos, Wilfried; Richert, Peggy; Stubbe, Tobias C. (2007): Schullaufbahnpräferenzen am Ende der vierten Klassenstufe. In: Wilfried Bos; Sabine Hornberg; Karl-Heinz Arnold; Gabriele Faust; Lilian Fried; Eva-Maria Lankes; Knut Schwippert; Renate Valtin (Hrsg.): IGLU 2006. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann, S. 271-29. Baumert, Jürgen; Stanat, Petra; Watermann, Rainer (Hrsg.) (2006): Herkunftsbedingte Disparitäten im Bildungswesen: Differenzielle Bildungsprozesse und Probleme der Verteilungsgerechtigkeit. Wiesbaden: VS Verlag. Becker, Rolf; Lauterbach, Wolfgang (Hrsg.) (2007): Bildung als Privileg. Theoretische Erklärungen und empirische Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheiten. Wiesbaden: VS Verlag. Beerman, Lilly; Heller, Kurt A.; Menacher, Pauline (1992): Mathe: nichts für Mädchen? Begabung und Geschlecht am Beispiel von Mathematik, Naturwissenschaft und Technik. Bern: Huber. Berner, Valérie-D. (2009): Analyse und Förderung familialer Prozessbedingungen des Bildungserfolgs von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und/oder niedrigem sozioökonomischen Status. Unveröffentlichtes Exposé für ein Promotionsvorhaben im Rahmen des Promotionskollegs „Heterogenität und Bildungserfolg“, Universität Augsburg. Bos, Wilfried; Hornberg, Sabine; Arnold, Karl-Heinz; Faust, Gabriele; Fried, Lilian; Lankes, EvaMaria; Schwippert, Knut; Valtin, Renate (Hrsg.) (2007): IGLU 2006. Lesekompetenzen von Grundschulkindern in Deutschland im internationalen Vergleich. Münster: Waxmann. Bronfenbrenner, Urie; Morris, Pamela A. (2000): Die Ökologie des Entwicklungsprozesses. In: Andreas Lange; Wolfgang Lauterbach (Hrsg.): Kinder in Familie und Gesellschaft zu Beginn des 21sten Jahrhunderts. Stuttgart: Lucius und Lucius, S. 29-58. Brophy, Jere E. (1983): Research on the self-fulfilling prophecy and teacher expectations. Journal of Educational Psychology 75 (5), pp. 631-661. Ditton, Hartmut; Krüsken, Jan; Schauenberg, Magdalena (2005): Bildungsungleichheit - der Beitrag von Familie und Schule. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 8 (2), S. 285-304. Dresel, Markus; Heller, Kurt A.; Schober, Barbara; Ziegler, Albert (2001): Geschlechtsunterschiede im mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich: Motivations- und selbstwertschädliche Ein-
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Maria Hirschauer & Harry Kullmann
Lehrerprofessionalität im Zeichen von Heterogenität – Stereotype bei Lehrkräften als kollegial zu bearbeitende Herausforderung
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Einleitung
Die erfolgreiche Bewältigung heterogenitätsbezogener Herausforderungen ist eines der zentralen und kontinuierlichen Ziele des Schulsystems. Schulstrukturelle Fragen sind in diesem Zusammenhang genauso von Belang wie jene Entscheidungen und Prozesse, welche im Einflussbereich der einzelnen Lehrkraft liegen und somit auf der Ebene des Unterrichts sowie der Schule zu verorten sind (vgl. Ditton, Krüsken & Schauenberg 2005; VBW 2007). Die Schülerschaft setzt sich nach Alter und Geschlecht, vor allem aber nach kultureller und sozialer Herkunft insgesamt sehr heterogen zusammen. Darüber hinaus verdichten sich im Laufe einer Bildungsbiografie erworbene Kompetenzen in kognitiver, motivationaler und sozialer Hinsicht zu relevanten und interindividuell unterschiedlichen Lernausgangsvoraussetzungen, auf welche Schule und Unterricht jeweils zu reagieren haben. Gerade im Hinblick auf das deutsche Schulsystem haben sich familiale Faktoren wie die soziale Herkunft sowie das Vorhandensein eines Migrationshintergrunds, welcher häufig mit einer nicht-deutschen Familiensprache einhergeht, als Faktoren erwiesen, welche mit dem Bildungserfolg wesentlich gekoppelt sind (vgl. Baumert & Schümer 2001; Limbird & Stanat 2006; Ramm, Prenzel, Heidemeier & Walter 2004; Walter & Taskinen 2007). So bleibt etwa die Herausforderung einer zweisprachigen Schülerschaft in weiten Teilen des Schulsystems über die gesamte Bildungszeit erhalten (vgl. Gogolin, Neumann & Roth 2003) und muss nicht zuletzt von den einzelnen Lehrkräften für ihre konkrete Lerngruppe adäquat beantwortet werden (vgl. Herwartz-Emden 1999; HerwartzEmden, Schurt, Waburg & Ruhland 2008). Insgesamt erfordert das Eingehen auf die Bedürfnisse einer heterogenen Schülerschaft auf Seiten der Lehrkräfte einen die Differenz akzeptierenden Habitus, welcher sich in den konkreten Interaktionsmustern und Unterrichtskonzep-
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Maria Hirschauer, Harry Kullmann
tionen zu manifestieren hat. Dies setzt bei den Lehrkräften unter anderem interkulturelle Kompetenz voraus, die Helmke (2009) beschreibt als einen bewussten und kritischen „Umgang mit Stereotypen, die Überwindung einer ethnozentrischen Sichtweise und das Entwickeln von Verständnis für andere Kulturen, Religionen, Sprachen und Sitten“ (ebd., S. 250). Der vorliegende Beitrag ist mit den Stereotypen von Lehrkräften über Schülerinnen und Schüler einer konkreten wie komplexen Herausforderung im Umgang mit Heterogenität gewidmet. Er verbleibt jedoch nicht auf der Ebene der Problembeschreibung, sondern stellt anhand der Lehrerkooperation in theoretischer wie in praxisbezogener Hinsicht einen Modus vor, welcher von Schulen zur Lösung von Problemen sowie dem Bearbeiten gemeinsamer Herausforderungen beschritten werden kann. 2
Umgang mit Stereotypen als Element der Lehrerprofessionalität
In der Schule treffen Lehrende und Lernende in ihren sozialen Rollen aufeinander. Zur Rolle der Lehrperson gehört, die Schülerinnen und Schüler hinsichtlich ihres Kompetenzerwerbs zu fördern, aber auch zu beurteilen. In ihrem professionellen Handeln kann die Lehrkraft jedoch auch von Faktoren wie persönlichen Einstellungen, Überzeugungen, Erfahrungen sowie von kulturellen Stereotypen beeinflusst werden. 2.1
Kulturelle Stereotype
Stereotype geben Verallgemeinerungen oder Eindrücke von bestimmten Gruppen wieder, deren Angehörigen eine bestimmte Eigenschaft oder gleich mehrere spezifische persönliche Merkmale zugeschrieben werden (vgl. Ashmore & DelBoca 1981). Sie sind im täglichen Leben allgegenwärtig. Lippmann (1922), der den Begriff des Stereotyps in die Sozialwissenschaften einführte, bezeichnete Stereotype als Bilder in unseren Köpfen. Stereotype erleichtern die Wahrnehmung und Kognition, indem sie es ermöglichen, Menschen bestimmten Kategorien zuzuordnen und damit abzuschätzen, was von ihnen zu erwarten ist. Eigenschaften oder (äußere) Merkmale der Person rufen bestimmte Erwartungen und Bilder hervor, aktivieren also bestimmte Stereotype, und beeinflussen so die Wahrnehmung. Dies führt mitunter dazu, dass die Person nur noch als Mitglied ihrer Gruppe und nicht als Individuum gesehen wird. Menschen oder Dinge immer vollkommen neu, detailliert und unbeeinflusst zu erfassen – anstatt in Typen und Verallgemeinerungen –, ist jedoch kaum möglich (vgl. ebd.).
Lehrerprofessionalität im Zeichen von Heterogenität
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Der Großteil der Menschen einer Gesellschaft ist sich der bestehenden Stereotype über verschiedene Gruppen bewusst. Einige Stereotype, beispielsweise über Minderheiten, ähneln sich sogar über Ländergrenzen hinweg (vgl. Akrami, Ekehammar & Araya 2006). Minderheiten sowie Migrantinnen und Migranten werden oft herabsetzend als faul, ungebildet, kriminell oder aggressiv stereotypisiert, wobei die Stereotype bereits durch äußere Merkmale der Person aktiviert werden können (Schweden: Akrami u.a. 2006; England: Lepore & Brown 1997; USA: Devine 1989b; Devine & Elliot 1995; Australien: Augoustinos, Innes & Ahrens 1994; Deutschland: Kahraman & Knoblich 2000; Mummendey, Bolten & Isermann-Gerke 1982). Die Kenntnis von Stereotypen ist jedoch nicht mit der Akzeptanz und Befürwortung dieser Stereotype gleichzusetzen. Die Tatsache, dass jemand Stereotype kennt, bedeutet noch nicht, dass er oder sie Vorurteile hat; von Vorurteilen kann erst gesprochen werden, wenn die Person glaubt, dass diese Stereotype der Wahrheit entsprechen (vgl. Devine 1989a). Tatsächlich gibt es keine empirischen Belege dafür, dass die Kenntnis von Stereotypen mit Vorurteilen gleichzusetzen ist. In verschiedenen Studien konnte nachgewiesen werden, dass sowohl Menschen mit als auch Menschen ohne Vorurteile die kulturellen Stereotype kennen (vgl. Akrami u.a. 2006; Devine 1989b; Lepore & Brown 1997). Allein das Wissen um Stereotype kann jedoch die Wahrnehmung und Handlungen beeinflussen (vgl. Devine 1989a). Stereotype wirken sich also auf unsere Wahrnehmung aus und formen so soziale Interaktionen. Es ist davon auszugehen, dass Stereotype auch in schulischen Interaktionen und damit in Bildungsprozessen eine wichtige Rolle spielen. 2.2
Stereotype von Lehrkräften über ihre Schülerinnen und Schüler
Da der Großteil einer Gesellschaft die vorherrschenden kulturellen Stereotype kennt, liegt es nahe, dass auch Lehrkräfte über dieses Wissen verfügen. Wenngleich Einstellungen und Stereotype bei Lehrpersonen noch kaum systematisch untersucht wurden, finden sich in verschiedenen Studien Hinweise auf stereotype Sichtweisen bei Lehrpersonen (vgl. zusammenfassend Lüddecke 2005; Stahl 2007). Während viele Lehrkräfte einen differenzierten Blick auf die Lernenden haben, finden sich bei anderen stereotype Annahmen über ihre Schülerinnen und Schüler. Lüddecke (2005) beispielsweise stellt fest, dass sich in der Mehrzahl der Untersuchungen über die Wahrnehmung bzw. Nicht-Wahrnehmung von ethnischen Unterschieden in der Klasse stereotypisierende und vorurteilsbehaftete Sichtweisen von Lehrpersonen auf Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund
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nachweisen lassen. In einer Untersuchung von Marburger, Helbig und Kienast (1997), in der 40 Berliner Grundschullehrerinnen und -lehrer zur Multiethnizität ihrer Schülerschaft und den Konsequenzen für Schule und Unterricht befragt wurden, wiesen die Äußerungen der Lehrkräfte „in Richtung eines kulturellen Ethnozentrismus, […] auf Ausgrenzung und Marginalisierung von Minderheitensprachen und -kulturen, auf Abwertung nichtdeutscher SchülerInnen und deren Eltern sowie hohen Anpassungs- und Assimilierungsdruck“ (ebd., S. 56) hin. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Allemann-Ghionda, Auernheimer, Grabbe und Krämer (2006) in einer qualitativen Studie mit neun Lehrkräften. Sie konstatieren, dass die befragten Lehrkräfte „nur stereotype, kaum reflektierte, nur negative Vorstellungen über Migrantenkinder und Mehrsprachigkeit“ äußerten (ebd., S. 262). So wurden die Kinder und Jugendlichen mit Migrationshintergrund beispielsweise als häufiger verhaltensgestört als Kinder ohne Migrationshintergrund beschrieben und die Lehrkräfte waren der Meinung, dass die Schülerinnen und Schüler aus Migrantenfamilien auch häufig unabhängig vom Sprachvermögen generelle Verständnisprobleme hätten (vgl. ebd.). Auch in Studien, die sich mit dem Umgang mit interkulturellen Situationen und mit Mehrsprachigkeit beschäftigten, zeigt sich der Einfluss von ethnischen Stereotypen auf die Sichtweisen der Lehrkräfte (vgl. z.B. Auernheimer, Dick, Petzel & Wagner 2001; Weber, 2003). Ebenso scheinen sich Stereotype über Angehörige unterer sozialer Schichten auf die Wahrnehmung von Lehrkräften auszuwirken. In der Untersuchung von Stahl (2007) wurden Lehrkräfte am Ende der dritten und am Ende der vierten Klasse dazu aufgefordert, die Lesefähigkeit und die sprachliche Ausdrucksfähigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler einzuschätzen; darüber hinaus wurden die Kinder getestet. Es zeigte sich, dass ein niedriger Bildungs- und Sozialstatus der Eltern mit schlechteren Lehrerbeurteilungen im Bereich Lesen einhergeht – und zwar auch unter statistischer Kontrolle der anhand des standardisierten Tests erhobenen tatsächlichen Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler. Jungbluth (1994) konnte in einer Untersuchung in den Niederlanden zeigen, dass Lehrkräfte die Fähigkeiten von Schülerinnen und Schüler mit geringem sozioökonomischem Status unterschätzen. Auch bezüglich geschlechtsspezifischer Unterschiede lassen sich stereotype Sichtweisen von Lehrkräften feststellen. Der mathematisch-naturwissenschaftliche Bereich wird von Lehrkräften oft als maskuline Domäne stereotypisiert und dies ist auch dann der Fall, wenn in ihren Lerngruppen keine Leistungsoder Notenunterschiede zwischen Mädchen und Jungen bestehen (vgl. Ludwig 2007; vgl. auch Heller, Finsterwald & Ziegler 2001; Keller 2001; Rustemeyer 1999; Ziegler, Kuhn & Heller 1998). In sprachlichen Fächern dagegen gelten Mädchen als interessierter und begabter.
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Das Wissen um Stereotype kann sich auf Wahrnehmung und Handlungen auswirken und bei Lehrkräften Einfluss auf ihre Leistungserwartungen, auf unterrichtliche Interaktionen zwischen Lehrenden und Lernenden sowie, auf ihre Beurteilungspraxis ausüben. 2.3
Wirkung von Stereotypen auf Leistungserwartungen und Unterrichtshandeln
Stereotype können die Leistungserwartungen von Lehrkräften gegenüber Angehörigen bestimmter Gruppen beeinflussen (vgl. zusammenfassend HerwartzEmden u.a. 2008; Ludwig 2007; Rustemeyer & Fischer 2007), was sich wiederum auf die Leistung der Gruppenmitglieder auswirken kann. Es ist inzwischen hinreichend belegt, dass Erwartungen von Lehrpersonen einen Prädiktor für die Leistungen von Schülerinnen und Schülern darstellen und wohl auch als Einflussfaktor für diese angesehen werden können (vgl. Ludwig & Ludwig 2007). Dieses als Pygmalion-Effekt bezeichnete Phänomen lässt sich durch den Einfluss der Erwartungen der Lehrkräfte auf ihr eigenes Verhalten, sowie dessen Einfluss auf die Erwartungshaltungen der Schülerinnen und Schüler gegenüber ihrer eigenen Leistungsfähigkeit erklären. Das Verhalten der Lehrkräfte wird davon beeinflusst, welche Präferenzen und Abneigungen, welche Fähigkeiten, Interessen und Begabungen sie bei den Lernenden vermuten und dies kann einen Einfluss auf deren Motivation, Interesse, Schulleistungen und Fachwahlen haben (vgl. Herwartz-Emden u.a. 2008; Ludwig & Ludwig 2007). In ihrem Überblick zur Forschung über Erwartungseffekte fassen Jussim und Harber (2005) zusammen, dass Erwartungseffekte im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung ohne Zweifel bestehen. Ihre Wirkung ist statistisch signifikant, jedoch im Normalfall eher gering. In den meisten Fällen stimmen Lehrererwartungen deshalb mit den zukünftigen Leistungen der Lernenden überein, weil die Lehrperson die jeweilige Schülerin oder den jeweiligen Schüler richtig eingeschätzt hat (vgl. ebd.). Wenngleich also Erwartungseffekte im Allgemeinen eher klein ausfallen, zeigen sich in bestimmten Kontexten und bei bestimmten Gruppen jedoch sehr große und tiefgreifende Effekte von Lehrererwartungen (vgl. ebd.). Beispielsweise gibt es Hinweise darauf, dass die Mitglieder stigmatisierter Gruppen besonders anfällig für Erwartungseffekte sind (vgl. ebd.). In Studien von Madon, Jussim und Eccles (1997) sowie Jussim, Eccles und Madon (1996) schienen eine geringe vorhergehende Leistung, ein geringer sozioökonomischer und/oder ein ethnischer Minderheitenstatus die Wirkung zu verstärken, wohingegen das Geschlecht keine Rolle zu spielen schien. Rustemeyer und Fischer
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(2007) dagegen stellen die Vermutung auf, dass Mädchen möglicherweise ebenfalls besonders anfällig für Erwartungseffekte in Fächern sind, die in der Gesellschaft als männlich charakterisiert werden. Verschiedene Untersuchungen, vornehmlich im US-amerikanischen Raum, konnten belegen, dass Lehrkräfte geringere Erwartungen gegenüber Schülerinnen und Schülern haben, die Gruppen angehören, zu welchen Stereotype über geringere akademische Leistungen existieren (vgl. Schofield 2006). Dementsprechend bringen sie beispielsweise Schülerinnen und Schülern aus Minderheiten oder mit niedrigem sozioökonomischen Status (vgl. Alexander & Schofield 2006), sowie allem Anschein nach auch Mädchen im Fach Mathematik geringere Leistungserwartungen entgegen (vgl. Ludwig 2007; Rustemeyer 1999). 2.4
Wirkung von Stereotypen auf die Beurteilungspraxis von Lehrkräften
Lehrerinnen und Lehrer, die stereotype Annahmen über bestimmte Gruppen äußern, könnten auch in ihrem Urteil und in ihren Bildungsprognosen beeinflusst sein. Welche Rolle beispielsweise der Migrationshintergrund bei Beurteilungen von Lehrkräften und bei Übertrittsempfehlungen spielt, ist jedoch umstritten. Kristen (2006) stellt in einem Überblick zu Studien, die Daten des Mikrozensus, des Sozioökonomischen Panels (SOEP) sowie aus PISA 2000 analysierten, fest, dass auch bei Kontrolle wichtiger Hintergrundmerkmale (wie beispielsweise der sozioökonomischen Herkunft) Nachteile für bestimmte ethnische Gruppen – insbesondere türkischer und italienischer Herkunft – bei der Positionierung im Bildungssystem bestehen bleiben. Eine mögliche Erklärung für die verbleibenden Unterschiede wäre der Einfluss von Stereotypen auf die Beurteilungspraxis von Lehrkräften. Ausschlaggebend für Schulnoten und Übertrittsempfehlungen scheint der Migrationshintergrund jedoch nicht zu sein (vgl. Kristen 2006; Stahl 2007; Tiedemann & Billmann-Mahecha 2007). Dennoch kann nicht ausgeschlossen werden, dass Stereotype eine Wirkung auf Beurteilungen der Lehrkräfte ausüben. Lehrpersonen scheinen mitunter Schwierigkeiten zu haben, Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund adäquat zu beurteilen. In der oben bereits erwähnten Studie von Allemann-Ghionda u.a. (2006) gaben die Lehrkräfte an, dass ihnen eine Beurteilung schwerfalle, wenn die Kinder nicht gut genug Deutsch könnten und wenn sie aus problembelasteten Familien stammten. Auch Daten des Sozioökonomischen Panels sprechen für Schwierigkeiten bei Bildungsprognosen für Kinder mit Migrationshintergrund. Diefenbach (2002) stellte bei einer Analyse der Panel-Daten fest, dass Schülerinnen und Schüler aus Migrantenfamilien in der Sekundarstufe etwas häufiger den Schultyp wechseln als Kinder
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deutscher Eltern (21,9% im Gegensatz zu 18,1%). Darüber hinaus wechseln sie häufiger auf einen Schultyp mit höherem Bildungsabschluss: 71,6% der Wechsel von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund erfolgen in diesem Sinne nach ‚oben‘ im Vergleich zu 62% bei Kindern ohne Migrationshintergrund (vgl. Diefenbach 2002). Dies könnte darauf hinweisen, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund „beim Übergang in die Sekundarstufe häufiger als Kinder aus deutschen Familien nicht entsprechend ihrer Möglichkeiten positioniert werden“ (Diefenbach 2007, S. 109). Terkessidis (2004) befragte Studierende mit Migrationshintergrund an deutschen Universitäten unter anderem über ihre Erfahrungen beim Übertritt in die Sekundarstufe. Verschiedene der Befragten berichteten von stereotypisierenden Einschätzungen durch ihre damaligen Lehrkräfte. Auch Stubbe und Bos (2008) konnten anhand von Daten der IGLU-Studie (Internationale Grundschul-LeseUntersuchung) zeigen, dass zwar die Testleistungen die größte Erklärungskraft für die Deutsch- und Mathematiknote der Schülerinnen und Schülern haben. Darüber hinaus besteht aber ein geringer signifikanter Zusammenhang zwischen der Benotung und mehreren sozialen Merkmalen, z.B. dem Migrationshintergrund. Die Schulnoten der beiden genannten Fächer sind für die Übertrittsempfehlungen von zentraler Bedeutung. Einen direkten Zusammenhang zwischen Migrationshintergrund und der Übertrittsempfehlung konnten die Autoren jedoch nicht feststellen. Es gibt indes deutliche Hinweise darauf, dass sich Lehrkräfte bei Empfehlungen für eine weiterführende Schule u.a. am angenommenen Unterstützungspotenzial der Eltern orientieren (vgl. Allemann-Ghionda u.a. 2006; Gomolla & Radtke 2002; Stahl 2007). Auch hier können Stereotype zum Tragen kommen. Bei Kindern mit Migrationshintergrund wird häufig davon ausgegangen, dass sie keine elterliche Unterstützung in jener Form erhalten, wie sie für den Besuch höherer Schultypen als unabdingbar angesehen wird (vgl. Allemann-Ghionda u.a. 2006; Gomolla & Radtke 2002; Weber 2003). Wenngleich dies auf die direkte schulische Unterstützung in großen Teilen zutreffen mag, resultieren die hohen Bildungsaspirationen der Migranteneltern (vgl. z.B. Diefenbach 2007) jedoch oftmals in einer indirekten Förderung, etwa in Form finanzieller Unterstützung – beispielsweise bezahlten Nachhilfestunden – oder moralischem Zuspruch (vgl. Boos-Nünning & Karakaúo÷lu 2005). Darüber hinaus scheinen Stereotype über Schülerinnen und Schüler aus Familien mit einem niedrigen sozioökonomischen Status für die Beurteilungspraxis von Lehrkräften eine Rolle zu spielen. So legen die oben bereits angesprochenen Studien von Stahl (2007) sowie Stubbe und Bos (2008) nahe, dass die Leistungsbewertung durch die Kenntnis des sozialen Hintergrundes der Schülerin oder des Schülers beeinflusst wird.
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Insgesamt ist davon auszugehen, dass Lehrkräfte die Stereotype über verschiedene Gruppen kennen und sich dieses Wissen auf ihre Erwartungen und ihr Verhalten auswirken kann. Ziegler, Kuhn und Heller (1998) sprechen davon, dass „Lehrkräfte genauso in gesellschaftliche Überzeugungssysteme eingebunden [sind] wie die übrigen Mitglieder der Gesellschaft“ (ebd., S. 284). Da Lehrpersonen die Bildungsprozesse ihrer Schülerinnen und Schüler in zentraler Weise bestimmen und sie somit eine große gesellschaftliche Verantwortung tragen, ist es gerade bei ihnen von erheblicher Bedeutung, dass sich kulturelle Stereotype nicht im professionellen Handeln manifestieren. 2.5
Reflexion über Stereotype als Desiderat der Lehreraus- und fortbildung
Um den Einfluss von Stereotypen sowie von Erwartungseffekten in der Schule zu verringern und die Professionalität der Lehrkräfte in geeigneter Weise zu stärken, sind verschiedene Maßnahmen denkbar. Zum einen müssen angehende Lehrkräfte bereits in der Ausbildung mit bestehenden Stereotypen über bestimmte Gruppen und den damit verbundenen Zuschreibungen konfrontiert werden (vgl. z.B. Hesse 2001; Ludwig 2007). Es ist jedoch anzunehmen, dass in dieser Hinsicht nach wie vor die Bilanz von Krüger-Potratz (2004) zutreffend ist, wonach „ein Großteil der Lehramtsstudierenden immer noch das Studium (erfolgreich) absolviert, ohne sich je mit Fragen sprachlich-kultureller, ethnischer und nationaler Heterogenität oder – generell gesprochen – mit Fragen von Pluralität, Differenz und Gleichheit auseinandergesetzt zu haben“ (ebd., S. 12). Für die berufsbezogene Fortbildung von Lehrkräften als Teil ihrer Professionalisierung ergibt sich ein ähnliches Bild. Auch hier lassen sich im Hinblick auf zentrale heterogenitätsbezogene Bereiche sowohl Defizite im Angebot als auch in deren Nutzung ausmachen. So fordert etwa Bender-Szymanski „erheblich vermehrte Anstrengungen“ (Bender-Szymanski 2007, S. 180) im Fortbildungsbereich als mögliche Antwort des Bildungssystems auf die zunehmende sprachlich-kulturelle Heterogenität in unseren Schulen. Als kaum erfüllt ist somit anscheinend die Forderung der Beauftragten der Bundesregierung „für Ausländerfragen“ aus dem Jahr 2000 anzusehen, wonach „interkulturelle Bildung […] als Bestandteil der Lehreraus- und weiterbildung aufgenommen werden bzw. einen deutlich höheren Stellenwert erhalten [sollte]“ (Die Beauftragte der Bundesregierung für Ausländerfragen 2000, S. 129). Leonie Herwartz-Emden, welcher der vorliegende Sammelband gewidmet ist, hat in ihrem Arbeitsbereich entsprechende Impulse gesetzt und gibt bzw. veranlasst seit mehreren Jahren im Raum Südbayern Lehrerfortbildungen zum Zusammenhang von „Heterogenität und Bildungserfolg“ (vgl. Ahlring 2007; Bade 2008; Hartinger 2008; Herwartz-Emden
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& Kullmann 2007; Risse 2007; Schultebraucks-Burgkart 2008; Weigert 2007; Westphal 2009). Vertieft eingegangen werden soll im Folgenden auf einen weiteren und zwar schul- bzw. kollegiumsinternen Weg der Professionsentwicklung, welchem zur Erreichung des Ziels eines verbesserten Umgangs mit Heterogenität ebenfalls eine zentrale Bedeutung zugeschrieben werden kann. 3
Verbesserung des Umgangs mit Heterogenität durch Lehrerkooperation
Durch die Kooperation von Lehrkräften kann der Umgang mit Heterogenität, z.B. im Hinblick auf die Vermeidung möglicher Effekte von Stereotypen, verbessert werden. Bevor auf diesen Zusammenhang näher eingegangen wird, erläutert der nachfolgende Abschnitt zunächst die grundsätzliche Wirkungsweise der Lehrerkooperation. 3.1
Lehrerkooperation als Modus kollegialer Professionsentwicklung in Schulen
Unter Lehrerkooperation ist die konstruktive Zusammenarbeit mindestens zweier Lehrkräfte zur Erreichung gemeinsamer Ziele zu verstehen (vgl. Deutsch 1949). Die beiden Interaktionsformen der Koordination sowie der Kommunikation werden mitunter als Synonyme für Kooperation verwendet, sie sind aber treffender als konstitutive Elemente zu identifizieren, ohne welche eine Kooperation unmöglich ist (vgl. Kullmann 2009; Steinheider & Legrady 2001). Der antizipierte Modus der kooperativen Professionalitätsentwicklung – wie er sich anhand der Ausführungen mehrerer Autorinnen und Autoren zusammenfassen lässt – beginnt mit einer gemeinsamen Zielstellung bzw. einem zu lösenden Problem. Da die Lehrkräfte „Motor der eigenen Entwicklung“ (Wenzel 2004, S. 404) und damit aufgefordert sind, ihre Kompetenzen fortlaufend zu evaluieren und bedarfsgerecht zu ergänzen (vgl. Terhart 2001a), kann die Entwicklung einzelner oder mehrerer Facetten ihrer je individuellen Professionalität, z.B. im Hinblick auf den Umgang mit Heterogenität, dieses Ziel darstellen. Unter einer professionellen Lehrkraft wird hier eine Person verstanden, welche über ein „in Erfahrung eingelassene[s] sowie an Fällen und Episoden gebundenes Expertenwissen“ (Baumert & Kunter 2006, S. 477; siehe auch Helsper 2007, S. 571) verfügt, mit welchem es ihr in situationsangemessener, stabil-flexibler Weise gelingt, das elaborierte Repertoire an Unterrichtszielen auf Seiten der Schülerinnen
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und Schüler (vgl. Bromme 1997, S. 188), etwa in personaler und sozialer sowie pädagogischer und fachbezogener Hinsicht, in größtmöglicher Weise zu erreichen. Auf der Handlungsebene wird bei kooperierenden Lehrkräften zunächst von einem offenen Austausch mit den Kolleginnen und Kollegen über die eigene Unterrichtspraxis bzw. berufseigenen Problemlagen ausgegangen (vgl. Huber 1998; Terhart 2001b; Wellendorf 1969). Um die zugehörige „kollegiale Kommunikation“ (Terhart 1987, S. 443) zu ermöglichen, müssen sich die Lehrkräfte gegenseitig Einblicke in ihre Tätigkeit gewähren, z.B. in Form von Unterrichtshospitationen, und somit eine De-Privatisierung des Unterrichts herbeiführen (vgl. Bonsen 2007; Kempfert & Ludwig 2008). Im Kommunikationsprozess wird das innerhalb der Kollegien insgesamt verfügbare professionelle Wissen für jede Lehrkraft zugänglich (vgl. Carle 1997; Hiebert, Gallimore & Stigler 2002). Erwartet wird zudem „ein angemessenes theoretisches Niveau durch die Expertendiskussion auf der Basis von – auch theoretischem – Spezialwissen“ (Wellendorf 1969, S. 103). Daraus resultiert – so die Annahme weiter – bei den Lehrkräften eine Intensität der Reflexion, welche ohne den kollegialen Austausch nicht zu erreichen ist (vgl. Huber 1998). Es bilden sich Diskursgemeinschaften gemäß des Prinzips des situierten Lernens heraus (vgl. Gräsel, Fußangel & Parchmann 2006). Terhart, Czerwenka, Ehrich, Jordan und Schmidt (1994) verweisen auf Befunde, wonach die „kollegiale Erfahrung im Gespräch und eventuell auch in der Übung“ (ebd., S. 230) nach Aussage der Lehrkräfte selbst eine geeignete Methode ist, um pädagogische Kompetenz zu übermitteln. Einer der ersten zentralen Erträge der unterrichtsbezogenen Lehrerkooperation besteht darin, dass subjektive Theorien über Unterricht bewusst gemacht und im Lauf der Diskussion verändert werden (vgl. Borko, Peressini, Romagnano, Knuth, Willis-Yorker, Wooley, Hovermill & Masarik 2000; Hiebert u.a. 2002; Huber 1998). In diesem Prozess wird das „System handlungsleitender Vorstellungen“ (Patry 1988, S. 9) modifiziert. Alle bislang genannten Prozesse zielen ausschließlich auf das Planungshandeln der Lehrkräfte ab und helfen, die Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern vorzubereiten. Der konkrete Unterricht ändert sich jedoch erst durch ein verändertes Interaktionshandeln (vgl. Bauer, Kopka & Brindt 1996; Wahl 1991). Damit angesprochen ist z.B. eine Veränderung „eingeschliffener Routinen“ (Huber 1998, S. 12ff.). Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es intermittierender Übungs- und Reflexionsphasen auf der Basis des eigenen Unterrichts, damit latent vorhandene Wissensstrukturen verdichtet werden können (vgl. ebd.; dazu auch: Wahl 1991). Im Anschluss an diesen Prozess ist professionelles Handeln in den Unterrichtssituationen schneller und mit weniger Prozesskapazität
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möglich. Routinen sind in diesem Zusammenhang somit neutral bis positiv konnotiert: Als „sehr spezifische Verhaltensmuster für immer wiederkehrende Situationen“ (Helmke 2009, S. 182) sind sie z.B. für eine effiziente Klassenführung „unerlässlich“ (ebd.). Auf der Basis von Routinen erst werden die notwendigen Freiräume eröffnet, um „kontinuierlich Neues zu lernen und auszuprobieren“ (Heymann 2007, S. 17). Nach Mattes (2006) schließlich entsteht Professionalität nicht zuletzt durch Routinebildung und Effizienz. Damit Lehrerkooperation einen messbaren Effekt auf die Schülerleistungen – als einem zentralen Indikator für Schulqualität – bewirkt, muss ihr Inhalt auf die unterrichtliche Schüler-Lehrer-Interaktion als operationalem Kern schulischer Arbeit ausgerichtet sein (vgl. Luyten & Snijders 1996; Scheerens & Bosker 1997; Wang, Haertel & Walberg 1993). Vor dem Hintergrund der allerdings „häufig nicht hohe[n] Konsistenz und Stabilität schulischer Effekte“ stellt Ditton (2000) heraus, dass „konsistente und stabile Effekte […] dann zu erwarten [wären], wenn alle Lehrer einer Schule einheitlich und über die Zeit einen guten Unterricht gewährleisten. Dazu müsste vermutlich durch die Zusammenarbeit der Lehrer ein koordinierter und abgestimmter Unterricht sichergestellt werden“ (ebd., S. 87). Dieses Postulat von Ditton zielt ab auf eine synergetische, d.h. auf gezielte Breitenwirkung ausgerichtete Kooperation: Sie stellt in den betreffenden Fällen eine kollektive Leistung zugunsten aller Beteiligten dar und kann selbst mit erhöhtem Ressourceneinsatz von einer Person alleine nicht erreicht werden. Das unterscheidet sie von der additiven Kooperation, bei welcher lediglich einzelne Lehrkräfte und in der Folge auch nur ein Teil der Schülerschaft von den erzielten Kooperationsgewinnen profitieren (vgl. Kullmann 2009). Absprachen, Standardisierungen und gegenseitige Adaptionen (mutual adapations) vielfältiger Art – etwa zu didaktischen Strategien, Hausaufgaben und Bewertungsmaßstäben (vgl. Berman & McLaughlin 1977; Gräsel u.a. 2006; Mortimore, Sammons, Stoll, Lewis & Ecob 1988; Steinert & Klieme 2003) lassen sich als synergetische Kooperation einstufen. Die gegenseitigen Adaptionen – im Sinne einer kollektiven Balancierung des Bewahrens und Veränderns bzw. einer reflektierten Übernahme zusätzlicher Elemente in das je eigene, professionelle Handlungsrepertoire – gelten zugleich als ein Kriterium zur Identifikation erfolgreichen Lernens in Teams sowie von professionellen Lerngemeinschaften (vgl. Leithwood 1998; Steinert & Klieme 2003). Sofern die Lehrerkooperation zu einer gleichmäßig hohen Unterrichtsqualität beiträgt, erhöht sie zugleich die Bildungsgerechtigkeit auf einzelschulischer Ebene (vgl. VBW 2007, S. 14ff.). So lässt sich annehmen, dass der Kompetenztransfer zwischen den Lehrkräften einen Beitrag dazu leistet zu verhindern, dass die Schülerinnen und Schüler einzelner Klassen gegenüber anderen Lerngruppen
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der gleichen Schule aufgrund der Lehrerzuteilung benachteiligt oder übervorteilt werden. Dieser Aspekt ist insbesondere vor dem Hintergrund bedeutsam, dass der Faktor ‚Klassenzugehörigkeit’ einen deutlich größeren Anteil der Schülerleistungsvarianz aufklärt als der Faktor ‚Schulzugehörigkeit’ (vgl. Hosenfeld, Helmke, Ridder & Schrader 2001; VBW 2007). Einen zusammenfassenden Überblick zu den Verlaufs- und Wirkungsschritten der Lehrerkooperation im Hinblick auf die Unterrichtsentwicklung und damit auch den Umgang mit Heterogenität liefert das Modell in Abbildung 1. Wie gerade dargestellt, erhöht eine synergetische Kooperation die Kohärenz der Unterrichtsarbeit innerhalb eines Kollegiums. Zugleich jedoch schränkt sie die Autonomie der Lehrkräfte ein. Vor allem im Rahmen der Implementierung von Innovationen gilt es für die Gemeinschaft der Lehrkräfte auszuhandeln, inwieweit die intendierten Neuerungen an die aktuellen Vorstellungen und Kontextbedingungen anzupassen sind (vgl. Gräsel u.a. 2007). Die Schulentwicklungsforschung wie auch die Bildungsadministration besitzen ein als traditionell zu charakterisierendes Interesse an der Analyse sowie der Verbesserung der unterrichtsbezogenen Zusammenarbeit unter den Lehrkräften. Es verwundert daher nicht, wenn etwa Horster und Rolff (2001) in den anderen Lehrerinnen und Lehrer „die größte und meist ungenutzte Ressource der Lehrkräfte“ (ebd., S. 206) sehen und entsprechend mehr Gelegenheiten fordern, in welcher die Lehrkräfte miteinander arbeiten, reden und „sich gegenseitig als Ressource in Anspruch […] nehmen“ können (ebd.). Bauer und Kopka (1996) stellen heraus, dass „ohne Kooperation […] eine Professionalisierung der Lehrerarbeit nicht möglich [ist]“ (ebd., S. 144) und in einem ähnlichen Duktus bezeichnet Terhart (2001c) die Lehrerkooperation als „Königsweg zu Qualitätssteigerung und Professionalität“ (ebd., S. 156). Für Katzenmeyer und Moller (2001) schließlich kommt die Förderung der Lehrerkooperation – wie sie bereits im Titel ihrer Schrift herausstellen – der „Erweckung eines schlafenden Riesen“ gleich. Auch der erste KMK-Bildungsbericht für Deutschland unterstreicht die Notwendigkeit einer hinreichend intensiven Kooperation, wenn es heißt: „Ob und wie erfolgreich Maßnahmen der Schulentwicklung auf der Ebene der einzelnen Schule in Angriff genommen werden, hängt nicht zuletzt auch von der Kooperation im Kollegium ab“ (KMK 2003, S. 130). Schließlich sind es auch die Lehrpersonen selbst, welche die hohen Erwartungen an Lehrerkooperation teilen. Sie schreiben ihr mitunter das Potenzial zu, jene fachlichen und didaktischen Mängel abzumildern, die durch die Ausbildung „bedingt“ sind (Bielefeldt & Scholz 1979, S. 12).
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Abb, 1: Allgemeines Modell zu Verlauf und Wirkungen von Lehrerkooperation (aus Kullmann 2009, vgl. Verweise und Erläuterungen im Text)
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Ein besonderer Vorteil der Lehrerkooperation als Methode zur individuellen Professionalitätsentwicklung ist in ihrem Potenzial zur Dauerhaftigkeit begründet. Sofern in den Kollegien eine hohe personelle Kontinuität herrscht – was nicht zuletzt aufgrund des Berufsbeamtentums in vielen Bundesländern der Fall sein dürfte –, bieten etablierte Formen der Lehrerkooperation eine Gelegenheit solche Aspekte der pädagogischen Professionalität zu fördern, deren Verbesserung erfahrungsgemäß nur langfristig möglich ist. Hierzu gehören insbesondere die oben bereits angesprochenen und als stabil geltenden Überzeugungen bzw. subjektiven Theorien zum Unterricht (vgl. Groeben 1988; Wahl 1991), worunter wiederum der Umgang mit Heterogenität im Allgemeinen sowie die Vermeidung von Stereotypen im Besonderen subsumiert werden können. 3.2
Mögliche Beiträge der Lehrerkooperation zu einem besseren Umgang mit Heterogenität
Wie gerade verdeutlicht wurde, kann die Bedeutung der Kooperation für die pädagogische Professionalität jeder einzelnen Lehrkraft und damit auch für ihren Umgang mit Heterogenität im Anschluss an einen Großteil der betreffenden Forschungsliteratur gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Buhren und Kempfert (2006) etwa halten fest: „In dem Maße, in dem die Schülerschaft sozial, ethnisch und kulturell heterogener wird und sich der gesellschaftliche Trend zum Individualismus durchsetzt, müssen die Lehrpersonen stärker zusammenarbeiten. Nur wenn sie ihre Kompetenzen zusammenbringen und ihre Erfahrungen austauschen, sind sie in der Lage, die vielfältigen neuen Herausforderungen durch die Schülerschaft pädagogisch fruchtbar zu machen“ (ebd., S. 52).
Diese Schlussfolgerung wird von Edelmann (2007 & 2008) unterstützt, welche anhand eigener empirischer Daten aus der Stadt Zürich einerseits erhebliche interindividuelle Unterschiede zwischen den Lehrkräften im Hinblick auf den Umgang mit migrationsbedingter Heterogenität konstatiert. Andererseits erweist sich die Qualität der Kooperation im Lehrerkollegium als „bedeutsamer Einflussfaktor bezüglich des Umgangs mit der kulturellen Heterogenität“ (Edelmann 2008, S. 133). Als konkrete Maßnahme regt sie unter Verweis auf das Schweizer Projekt ‚QUIMS – Qualität in multikulturellen Schulen‘ an, dass zur besseren Sprachförderung die Lehrkräfte für den Bereich Deutsch als Zweitsprache und für den Unterricht in der Erstsprache der Schülerinnen und Schüler in Form eines Teamteachings mit den jeweiligen Klassenlehrpersonen kooperieren. Ein weiteres anschauliches Beispiel für die hier diskutierte Abhängigkeit liefert Bender-Szymanski (2002) im Hinblick auf die Entwicklung zu einer inter-
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kulturell kompetenten Lehrperson. Diese zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich „der möglichen negativen Konsequenzen eines Ignorierens bzw. Nichtthematisierens von kulturbezogenen Differenzen“ bewusst ist und „gute Gründe an[führt], wenn [sie] kulturelle Differenzen ignoriert oder nicht thematisiert“ (ebd., S. 176). Die Autorin stellt heraus, dass auf diesem Weg „die monologische Selbstprüfung […] wahrscheinlich nicht ausreicht und tendenziell überfordert“ und daher „sich der problembewusste Lehrer um Kooperation mit Kollegen bemühen und kritische Situationen mit ihrer Hilfe, nämlich mit Hilfe der Außenperspektive dritter, reflexiv aufarbeiten [wird]“ (ebd.). Unter einer allgemeinen Perspektive ist somit das Vermeiden der unerwünschten Effekte von Stereotypen nur auf der Basis einer kontinuierlichen Selbstreflexion der Lehrperson möglich – und diese Selbstreflexion wiederum ist stets zu kombinieren mit einem kontinuierlichen, zielgerichteten Austausch. Nach Helmke (2009) sind „Selbstreflexion und Kooperation […] wohl die wichtigsten Bedingungen der Lehrerprofessionalisierung, die sich wechselseitig ergänzen müssen“ (ebd., S. 383). Das Einbinden von kollegialem Feedback in Lehrerfortbildungen fordern Alexander und Schofield (2006) in Bezug auf die Frage, wie sich die Auswirkungen von Lehrererwartungseffekten in Klassen und Schulen vermindern lassen. Die Teilnehmenden sollen sich „bei der Interaktion mit SchülerInnen, für die hohe bzw. niedrige Leistungserwartungen bestehen“ (ebd., S. 66), beobachten und auf Unterschiede im Verhalten aufmerksam machen. Im Anschluss daran werden Veränderungsstrategien gemeinsam erarbeitet und getestet. Kritisch zu diskutieren ist indes die Frage, inwiefern die in den Kollegien bislang vorhandene Expertise tatsächlich hinreichend ist (vgl. Siskin 1994), um den Professionalisierungsbedarf der einzelnen Lehrkräfte auf der Basis einer innerkollegialen Kooperation umfassend zu decken. Dass dies kaum vorauszusetzen ist, ergibt sich z.B. aus einer Empfehlung von Weinert (1996), welcher für kollegiale und lokale Weiterbildungsgruppen eine „wissenschaftliche Beratung“ fordert, um die Lehrkräfte dabei zu unterstützen, sich in ihrem regulären Unterricht gegenseitig zu besuchen und „angstfrei“ zu korrigieren (ebd., S. 150). Notwendig ist zudem, in Studium und Fortbildung Methoden der mentalen Reflexion und Kontrolle der eigenen interpersonalen Erwartungen zu vermitteln (Ludwig 2007; Herwartz-Emden u.a. 2008). Durch solche Methoden könnten Lehrkräfte die Kompetenz für eine kontinuierliche, reflexive Auseinandersetzung mit eignen Stereotypen und eigenen Erwartungshaltungen erwerben und so einer Verfestigung von Stereotypen in der Schulpraxis gemeinsam entgegenwirken (vgl. Bender-Szymanski 2001; Hesse 2001).
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Der Umgang mit Heterogenität ist eine zentrale Entwicklungsaufgabe der Lehrerprofession, welche sowohl im Klassenraum als auch ‚außerhalb des Klassenraums‘ bzw. im Lehrerkollegium gelingen muss. Eine reflektierte Fremdwahrnehmung ist daher in der Interaktion mit den Schülerinnen und Schülern sowie im Rahmen kollegialer Beratungsgespräche unabdingbar. Beide Bereiche sind etwa von der Kultusministerkonferenz als Ziel der Professionsentwicklung von Lehrkräften erkannt und explizit herausgestellt worden (vgl. KMK 1996; 2004; 2006). Inwiefern sie sich jedoch bedingen oder voneinander profitieren, muss aktuell insbesondere vor dem Hintergrund als fraglich eingeschätzt werden, dass die Lehrerkooperation im Allgemeinen eine eher geringe Ausprägung aufweist (vgl. Fussangel 2008; Kullmann 2009; Soltau & Mienert 2009). Welche Bedeutung verschiedenen Formen der Lehrerkooperation, innerschulischer wie außerschulischer Art, im Hinblick auf den Umgang mit Heterogenität im Unterricht zukommt, wird daher in einem aktuellen Projekt am Beispiel der Binnendifferenzierung, der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit großen Leistungsschwächen sowie der Sprachförderung am Zentralinstitut für didaktische Forschung und Lehre der Universität Augsburg untersucht. Aufgegriffen wird somit an dem genannten, von Leonie Herwartz-Emden geleiteten Institut die von Fürstenau (2009) für die künftige Schulforschung identifizierte Frage, unter welchen Umständen es aktuell bereits gelingt, pädagogische und institutionelle Prozesse in Schule und Unterricht unter Berücksichtigung ethnischer und speziell sprachlicher Heterogenität grundlegend zu verändern. Als unabdingbar erscheint es darüber hinaus in allen Phasen der Lehrerbildung solche Veranstaltungen zu berücksichtigen, in welchen Lehrkräfte unter Nutzung der Methoden des problemorientierten oder forschenden Lernens dazu befähigt werden, sich dem Umgang mit Heterogenität als kollegial zu bearbeitender Herausforderung erfolgreich anzunehmen. Literatur Ahlring, Ingrid (2007): Vom Recht auf freie Entfaltung der (Lern)Persönlichkeit – und wie man es in der Schule umsetzen kann. Vortrag im Rahmen der Lehrerfortbildungsreihe „Wie Schule gelingt – Beispiele für den erfolgreichen Umgang mit Heterogenität“ am 29.11.2007. Augsburg: ZdFL. Akrami, Nazar; Ekehammar, Bo; Araya, Tadesse (2006): Category and stereotype activation revisited. Scandinavian Journal of Psychology 47, pp. 513-522. Alexander, Kira; Schofield, Janet W. (2006): Erwartungseffekte: Wie Lehrerverhalten schulische Leistungen beeinflusst. In: Janet W. Schofield (Hrsg.): Migrationshintergrund, Minderheitenzugehörigkeit und Bildungserfolg. Forschungsergebnisse der pädagogischen, Entwicklungs- und
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Wassilios Baros
Innovative methodische Zugänge für qualitative Forschung im interkulturellen Kontext
„Forschungen, die im interkulturellen Kontext angesiedelt sind und somit die sprachlichen, kulturellen und sozialen Grenzen überschreiten, stehen vor großen Herausforderungen, die […] vor allem in den Bedingungen der Forschungsfelder und der Eigenart der verschiedenen, beteiligten Kontexte begründet sind. Der Einsatz qualitativer Methoden schützt nicht davor, ungleiche Konzepte ins eins zu setzen, Vorurteilsstrukturen zu reproduzieren und die Sinnhorizonte der erforschten Gruppen zu verfehlen.“ (Herwartz-Emden 2000, S. 76) 1
Die interkulturelle Forschungskonstellation im Fokus der Methodendiskussion
Methodenkritik an der deutschsprachigen Migrationsforschung wird bereits seit den 80er Jahren geäußert. So wurden zum Beispiel – um nur einige Kritikpunkte noch mal in Erinnerung zu rufen – die Tragweite der Kategorie Kultur thematisiert und ihr Analysepotenzial für Migrationsstudien angezweifelt (vgl. Czock 1988), die Selbsterzeugung der untersuchten Realität durch eine am bipolaren Schema ‚Tradition-Moderne’ orientierte methodische Vorgehensweise moniert (vgl. Bommes 1996; Apitzsch 1990), die den Migrant(inne)n zugewiesene Opferrolle bemängelt (vgl. Bender-Szymanski/Hesse 1987), die Produktion des gläsernen und entmündigten Fremden (vgl. Griese u.a. 1984) in Forschungsprogrammen der Ausländerpädagogik attestiert und nicht zuletzt die Einseitigkeit im Prozess der Hypothesenbildung und -überprüfung in der administrativen Zwecken dienenden Migrantenforschung offengelegt und scharf kritisiert (vgl. z.B. Tsiakalos 1982). Aktuell scheint der Fokus der Kritik sich eher auf die Frage nach der Subjektorientierung und der Kontextualität von interkultureller Forschung zu verlagern: Interkulturelle Forschungen zielten häufig auf eine Art objektivierendes „Sprechen-Über“ Migrant(inne)n ab, anstatt darauf ausgerichtet zu sein, die Be-
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Wassilios Baros
troffenen als Subjekte zur Geltung zu bringen. Ferner, fehle es weitgehend an Ansätzen, welche die soziale Eingebundenheit der jeweiligen Forschung kritisch reflektieren, geschweige denn systematisch in den Untersuchungsprozess einbeziehen (vgl. Mecheril 1999). Schließlich fänden kaum kritische (Selbst-) Reflexionen über den Begründungs- und Verwertungszusammenhang sowie über die eventuellen Verwertungsfolgen von empirischen Untersuchungen statt. Mecheril plädiert in diesem Zusammenhang ausdrücklich für eine Interkulturalitätsforschung als Prozess subjektiver (Re-)Konstruktion im Sinne einer reflexiven Sozialwissenschaft, die die Konstitutionsbedingungen ihrer Erkenntnisprozesse befragt und ihren Ausgangspunkt in den Kategorien und Selbstverständnissen der Betroffenen selbst nimmt. (Nicht nur) Für empirische Forschungen im Kontext von Migration und Interkulturalität ist die Klärung des Zusammenhangs zwischen Gegenstandsverständnis, Wissensideal und Aufgabenverständnis (vgl. Kempf 2003) der jeweiligen Forschungsbemühung von entscheidender Bedeutung. Erforderlich für die Fundierung einer subjektbezogenen Migrationsforschung ist dabei eine Fokussierung ihres Gegenstandverständnisses auf Fragen nach den subjektiven Handlungsbegründungen und Lebensinteressen der Migrant(inn)en. Dieses Gegenstandsverständnis geht mit einem Erkenntnisinteresse einher, welches die Aufgaben der Wissensbildung nicht mit Fokus auf die technische Verwertbarkeit des Wissens definiert, sondern auf die Gewinnung emanzipatorischen Reflexionswissens abzielt. Orientiert sich die Aufgabe der Wissensbildung an der Gewinnung emanzipatorischen Reflexionswissens und richtet man entsprechend das Wissensideal an dieser Aufgabe, dann ändert sich entsprechend radikal auch das Gegenstandsverständnis und entsprechend auch das jeweilige Untersuchungsdesign von Migrationsstudien. Die Untersuchung der gesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Subjektivität steht dabei im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses im Forschungsprozess (vgl. Baros 2008). Aber von welchem Forschungsprozess ist hier eigentlich die Rede? Wer befragt wen und in welchem Kontext? Bekanntlich kommt empirische Sozialforschung ohne Kommunikation nicht aus, und ‚Kommunikation’ kann Forscher(inne)n in keiner anderen Form vorliegen, als in Form von Text. Um Texte analysieren und interpretieren zu können, muss man wiederum – neben den erforderlichen Methodenkenntnissen – über spezielles Wissen bezüglich der jeweiligen Kommunikationsbedingungen und -kontexte verfügen. Damit sind wir an dem Punkt der Thematisierung von kommunikationsrelevanten Aspekten in interkulturellen Forschungskonstellationen angelangt. Herwartz-Emden kommt der Verdienst zu, die interkulturelle Forschungskonstellation als Kommunikationssituation – in der Macht und spezielle Formen der Asymmetrie zwischen Minderheiten und Mehrheiten immer eine bedeutende Rolle spielen – herausgearbeitet zu haben. In ihren einschlägigen Publikationen
Innovative methodische Zugänge für qualitative Forschung
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(Herwartz-Emden 2000a; 2000b; 2000c; Herwartz-Emden/Westphal 2000) werden die Beziehung der im Forschungsprozess Beteiligten dezidiert zum Gegenstand method(olog)ischer Reflexionen gemacht, und die Forschung konstituierenden Bedingungen (ethnische Zugehörigkeit der interviewten und der befragenden Personen und sozialer Kontext, in welchem die Untersuchung stattfindet) als Kernelemente der Äquivalenzsicherung herausgestellt und ausführlich erörtert. Davon ausgehend, dass die Sicherung von Äquivalenz eng mit der methodischen Forderung nach Kontextualisierung verbunden ist, und dass die Vielfalt und Komplexität der Interaktion zwischen den im Prozess der Datengewinnung und -interpretation involvierten Personen immerwährend Gegenstand der Analyse bleiben sollen, untersucht Herwartz-Emden auf der Basis eigener Forschungserfahrung Besonderheiten der interkulturellen Interviewkonstellation. Ihre methodischen Impulse inspirierten mich vielfach in meinen eigenen Schwerpunkten in Forschung und Lehre. Ausgehend von der aktuellen Methodendiskussion über Effekte in interkulturellen Interviews, wie sie von Leonie Herwartz-Emden vorangetriebenen wurde, geht der vorliegende Diskussionsbeitrag zunächst auf die Frage nach Besonderheiten in der Kommunikation zwischen den Interaktionspartnern ein, die in ‚gleichethnischen’ Interviewkonstellationen auftreten können. Dabei wird der Fraternisierungseffekt als eine spezifische Form kultureller Selbstzuordnung der interviewten Personen in der Gesprächssituation herausgearbeitet. Anhand einer eigenen qualitativen Untersuchung werden Forschungserfahrungen vorgestellt, die aus besonderen Interviewkonstellationen (interviewte Person mit Migrationshintergrund und befragende Person ohne/mit Migrationshintergrund) gewonnen wurden. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen werden weitere Fragen aufgestellt und methodische Anforderungen diskutiert, die sich daraus für den Prozess der Dateninterpretation ergeben. 2
Selbstzuordnungsprozesse von Migrant(inn)en und Effekte in qualitativen Interviews
Insbesondere in Begegnungen zwischen interviewten und befragenden Personen unterschiedlicher Ethnizität sind nach Herwartz-Emden Besonderheiten zu beobachten, die infolge asymmetrischer Argumentationsverläufe und adressatenspezifischer Kommunikation entstehen (können). Asymmetrische Argumentationsverläufe resultierten wiederum aufgrund kommunikativer Macht, wobei Differenzen im Denken, Handeln und Fühlen (kulturelle Differenz) einerseits und das Verhältnis von Mehrheit und Minderheit andererseits die gesellschaftliche Lage und Position von Gruppen und Individuen in der Gesellschaft festlegten.
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Zu adressatenspezifischen Argumentationen in den Selbstauslegungen der interviewten Personen könne es deshalb kommen, weil interkulturelle Forschungen meist im Dienste bestimmter Auftraggeber durchgeführt und von den Migrant(inne)n als solche auch wahrgenommen würden. Auch frühere Erfahrungen der Interviewten aus Minoritätengruppen in Begegnungen mit Institutionen der Einwanderungsgesellschaft seien für deren Einstellung zur Interviewsituation (mit-) bestimmend. Mangel an Vertrauen gegenüber Institutionen der Einwanderungsgesellschaft kann – konflikttheoretisch gesprochen – die interviewte Person dazu veranlassen, eine Interessendivergenz zu der anderen Seite (der befragenden Person) wahrzunehmen (vgl. Baros 2004). Aufgrund dieses Konflikterlebens kann für die interviewte Person ein weiterer innerer Konflikt entstehen: „Wenn ich mich auf Kooperation mit meinem Gegenüber einlasse und offen meine eigenen Ziele, Absichten etc. preisgebe, verschaffe ich ihm einen ‚Vorteil’.“ Rückzugshaltung und fehlende Bereitschaft zur Preisgabe eigener Absichten etc. kann hier eine Form der Bewältigung eben dieses inneren Konfliktes darstellen. Allerspätestens beim Durchlesen der eingehenden Nachfrage der deutschen Interviewerin im folgenden Gesprächsausschnitt1, ob die 18jährige Selma „bald verheiratet“ werde, wird der sog. „Ethnisierungs- und Kultureffekt“ (HerwartzEmden 2000a, 2000b) offensichtlich: Interviewerin: „Wie alt sind Sie im Moment?“ Selma: „18 geworden.“ I: „Ja; da ist man eigentlich schon in Deutschland erwachsen, nee?“ S: „Ja“ I: „Aber in der Türkei noch nicht?“ S: „Nein; bis man aus dem Haus weg geht.“ I: „Sonst ist man immer noch Kind?“ S: „Ja; so bis man verheiratet ist, dann?“ I: „Ja; und werden Sie bald verheiratet?“ S: „Ja; meine Eltern wollen das, aber ich will nicht.“ I: „Können Sie sich denn da widersetzen?“ S: „Nein“ I: „Oh Gott; die Sache ist nicht so einfach, nee?“ S: „hm“
Ethnizität und Kultur werden in diesem Interview hergestellt und zirkulär bestätigt. Im Gesprächsverlauf kann man in der impliziten Thematisierung von Geschlechtersollen den sog. „Gender-Effekt“ erkennen, welcher – so HerwartzEmden – eine zentrale Variable in dem komplexen Geflecht der Machtverhält1 Der Gesprächsausschnitt stammt aus unveröffentlichtem Interviewmaterial der Kölner Längschnittstudie „Jugendwerkstätten“ (2003).
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nisse darstelle, denn Positionen und Status seien nach Ethnizität und Geschlecht verteilt. Beim sog. „Paternalismuseffekt“, welcher sich beim obigen Gesprächsausschnitt vermutlich in der Frage nach Selmas Widerstandspotenzial andeutet, könne das Potential an gesellschaftlichen Bildern (z.B. andere Kulturen seien weniger entwickelt, weniger gebildet und/oder emanzipiert etc.) gepaart mit Empathie und Allmachtvorstellungen, leicht in eine selbstüberschätzende HelferHaltung überführt werden. Beim sog. „Tabuisierungseffekt“ werde die psychodramatische Ebene der Kommunikation offenkundig. Dabei würden in der Beziehung zwischen den Beteiligten unbewusste Reaktionen aktiviert. Die Folge seinen starke Abwehrmechanismen und das Ausgrenzen von Themen, Informationen aus der Kommunikation. Nach Herwartz-Emden lässt sich diese spezifische Asymmetrie im interkulturellen Interview mit sensiblerer Interviewführung nicht aufheben. Gelingende Interviewführung sei jedoch immer an bestimmten Mindestvoraussetzungen gebunden, die von einer Sensibilisierung gegenüber diesen möglichen Effekten, über Offenheit, Toleranz und Empathie gegenüber der interviewten Person bis hin zur systematischen Berücksichtigung des konkreten Kommunikationskontextes ausgehen sollte, um kulturalistische Deutungen bei der Interpretation von Interviews zu vermeiden. Methodisch relevante Besonderheiten in Migrationsstudien zeigen sich – wie ich anhand eigener Forschungsarbeiten in der Migrationsforschung herausstellen konnte – auch in Forschungskonstellationen, in denen Interviewte und Befragende der gleichen Ethnizität angehören: Die Interviewten identifizieren das ‚ethnisch Gleiche’, gehen von einem mit der interviewten Person gemeinsam geteilten Interpretationshorizont aus und setzen beide Seiten verbindende Kulturstandards („scripts“) voraus (vgl. Auernheimer 2004, S. 624). Allein aufgrund der manifesten Gemeinsamkeiten (Sprache, Migrationsgeschichte im selben Land, Wissen über Kulturmuster im Herkunftsland) zwischen den Akteuren wird eine Rahmung der Situation (vgl. Bateson 1972; Goffman 1974) hergestellt und es werden bestimmte Normalitätserwartungen an die Gesprächssituation markiert. Ich möchte diesen Effekt den „Fraternisierungseffekt“ nennen. Der Fraternisierungseffekt ist interessengeleitet und geht häufig mit der Affirmationserwartung seitens der interviewten Person einher, dass die befragende Person deren eigene Sorgen teilt und ihnen mit Verständnis begegnet. Es entsteht ein ‚Wir-Gefühl’, in Folge dessen kulturelle Selbstverortungen und Stereotypen leichter begründet bzw. rechtfertigt werden können. Fühle ich mich z.B. als interviewte Person in einem interkulturellen Interview herausgefordert, mein Gegenüber über eigenkulturelle Spefizika aufzuklären, so mag ich es in einer ‚eigenethnischen’ Interviewkonstellation für überflüssig halten, ein differenziertes Gespräch über ‚Bekanntes’ und ‚gemeinsam Verbindendes’ zu führen. Man verfüge ja schließlich
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über dasselbe kulturelle Wissen und das Gegenüber erwarte von mir keine spezielle Aufklärung. Hierzu ein Beispiel von Gesprächspassagen aus narrativen Interviews mit griechischen Migranteneltern (vgl. Baros 2001, S. 225f.): Frau D: "Die Deutschen sind Individualisten. Die griechische Familie ist anders, ist warmherzig und die Kinder bekommen eine Kultur mit Respekt vermittelt. Die Deutschen haben keine Kultur." Herr D: "Hier besteht die Gesellschaft aus einer kleinbürgerlichen Klasse. Alle sind Individualisten. Ich weiß nicht, wie es bei anderen Familien ist. Ich kenne die Deutschen von meiner Arbeit hier im Lokal […] Einerseits behaupten die Deutschen, dass sie keine Individualisten sind, aber sie sind es in der Praxis, verstehst Du?" Frau D: "Wir sind Griechen, wir haben die griechische Mentalität. Und für unsere Kinder ist es besser, wenn sie keine Individualisten sind. Du musst dich auch um deine Mitmenschen kümmern, du musst auch deine Mitmenschen schätzen."
Würden die interviewten Migranteneltern auch in einem interkulturellen Interview unaufgefordert dieselben Themen und mit ähnlichem Nachdruck ansprechen? Man könnte zwar an dieser Stelle einräumen, die Tatsache, dass die befragende Person von den Interviewten als Mitglied der eigenen kulturellen Gruppe wahrgenommen wird, wirke vertrauenstiftend und trage zur Herstellung einer offenen und vertrauensvollen Gesprächsatmosphäre bei, was in der Methodenliteratur ja als Grundvoraussetzung für eine gelingende, die Preisgabe privater Realität seitens der interviewten Personen ermöglichende Interviewführung beschrieben wird (vgl. Kempf 2008). Diese Behauptung möge manchen sogar dazu verleiten, das Argument stark zu machen, in qualitativen Migrationsstudien zunehmend Befragende gleicher Ethnizität mit den jeweils zu interviewenden Personen einzusetzen, um auf diese Weise bereits in der Phase der Datengewinnung die oben skizzierten methodischen Besonderheiten besser in den Griff zu bekommen. Und würde man Bezug nehmen auf das Argument der „fehlenden Primärerfahrung“ (Tsiakalos 1982, S. 39) der Wissenschaftlerin/des Wissenschaftlers über die untersuchten Gruppen in Migrationsstudien, könnte man sogar Ähnliches auch für die Phase der Datenanalyse und -interpretation einfordern. Dennoch sind Minderheitenperspektiven nicht befreit von der Notwendigkeit einer gezielten reflexiven Auseinandersetzung mit ihren Wissensbedürfnissen, Interessen, Fragestellungen und Forschungsmethoden (vgl. Mecheril 1999). Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen stellt sich die Frage, wie diesen methodischen Besonderheiten im Forschungsprozess adäquat begegnet werden kann. Herwartz-Emden fordert methodische Weiterentwicklungen, die sich sowohl auf der Ebene der Datengewinnung als auch auf der Ebene der Interpretation des qualitativen Datenmaterials beziehen (vgl. Herwartz-Emden 2000b).
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Plädoyer für eine Pluralisierung der Perspektiven im Prozess der Datengewinnung
Um den spezifischen Interaktionsbedingungen in einem interkulturellen Forschungskontext gerecht zu werden, wäre ein methodischer Zugang durch zwei separate Interviewpartnerkonstellationen denkbar: Mit einer Person könnten z.B. jeweils zwei Interviews zu unterschiedlichen Zeitpunkten und von zwei verschiedenen befragenden Personen durchgeführt werden: sowohl von einer Person gleicher Ethnizität als auch von einer weiteren, die der dominanten Kultur respektive Ethnizität angehört. Diese Idee wurde im Laufe meiner Seminarveranstaltung „Qualitative Methoden Interkultureller Forschung“ (WS 2002-2003 und SoSe 2003; Universität Köln) entwickelt und in einer im selben Rahmen durchgeführten qualitativen Untersuchung zur Bedeutung sozialer Netzwerke für Migranten türkischer Herkunft umgesetzt. Grundannahme war, dass intraethnische soziale Netzwerke als spezifisches Moment der kulturellen Produktion innerhalb einer Minderheitensubkultur eine instrumentelle sowie emotionale Unterstützungsfunktion für die Migranten erfüllen. Insgesamt wurden mit zehn türkischen Migranten im Alter von 55 bis 70 Jahren partnerzentrierte Gespräche2 geführt. Das partnerzentrierte Gespräch (siehe dazu: Kempf 1987) verbindet Prinzipien des narrativen Interviews, der klientenzentrierten Gesprächsführung und der themenzentrierten Interaktion, berücksichtigt das Erzählprinzip und die damit verbundene Bedeutungsstrukturierung durch den Erzählenden und bietet damit einen methodischen Zugang zur Erfassung sozialer Wirklichkeiten des Individuums.3
2 Den Interviews lag ein offener Leitfaden zugrunde, welcher folgende Themenkomplexe umfasste: Bisheriger Verlauf des Migrationsprojekts, aktuelle Lebenssituation, Soziale Kontakte, subjektive Bedeutung sozialer Netzwerke und Zukunftspläne. Die Interviews fanden in den Räumlichkeiten der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Köln-Kalk statt. Bereits im Vorfeld besuchten wir als Teilnehmer(innen) der Forschungsgruppe die potenziellen Interviewpartner bei der AWO, um sie kennenzulernen, unser Forschungsanliegen vorzutragen und dadurch eine positive Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Die interviewten Personen hatten sich bereit erklärt, jeweils mindestens an zwei Interviews teilzunehmen, die von Lehramt- und Diplom-Studierenden der Erziehungswissenschaft durchgeführt wurden. Die Studierenden wurden im theoretischen Teil der Seminarveranstaltung zunächst mit methodischen Besonderheiten und Herausforderungen qualitativer Interviews im interkulturellen Forschungskontext konfrontiert und in einem weiteren Schritt ihre Methodenkenntnisse über qualitative Datenerhebungsverfahren vertieft und anhand von Rollenspielen Interviewsituationen praktisch geübt. 3 Durch die Erhebung von Erzähldaten konnte die Relevanz verschiedener Lebensbereiche, Erfahrungen, Ereignisse etc. für die Migranten erhellt und der für die interpretative Erfassung von subjektiver Realität erforderliche externe Kontext geschaffen werden. Aus diesen Erzählungen können Rückschlüsse auf die Zentralität von Gesprächsthemen gezogen und erste Annahmen über subjektive Wirklichkeitskonstrukte der Migranten abgeleitet werden.
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Die Durchführung von zwei Interviews mit einer Person durch unterschiedliche befragende Personen sollte nicht dazu dienen, den Wahrheitsgehalt der Aussagen dieser interviewten Person etwa durch einen anschließenden Interviewtextvergleich zu überprüfen, um letztlich zu einer ‚wahren’ Interviewtextversion (vgl. Geiger 1982) zu gelangen. Die Ermöglichung zweier verschiedener Gesprächskontexte dient vielmehr der Kontexterweiterung. Sie bildet – so meine These – eine Pluralisierung der Perspektiven bereits in der Phase der Datengewinnung und kann sich positiv auf die daran anschließenden Prozesse der Textinterpretation und Hypothesengenerierung auswirken. Durch die Herstellung zweier Interviewkonstellationen konnten unterschiedliche Argumentationsmuster von Seiten der Interviewten herausgearbeitet werden. Bereits beim ersten Durchlesen des aus den partnerzentrierten Interviews transkribierten Textmaterials stellten sich markante Verschiebungen der thematischen Relevanzen in den Selbstäußerungen der Migranten heraus. Hierzu einige Beispiele: Zu den ausgeübten Tätigkeiten nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben betont Herr A im interkulturellen Interview, dass es wichtig sei, der Frau im Haushalt zu helfen. Auf seine aktuelle finanzielle Situation geht er jedoch unaufgefordert nur gegenüber der befragenden Person gleicher Ethnizität ein. Als wichtigste Priorität im Leben thematisiert er im interkulturellen Interview Gesundheit, saubere Kleidung, Freizeitaktivitäten und das gesellige Zusammentreffen mit Kollegen, gegenüber der Interviewerin türkischer Herkunft sei für ihn der materielle Erfolg das Allerwichtigste. Seine aktuelle Lage bezeichnet Herr B. im interkulturellen Interview als sehr zufriedenstellend; seit der Zeit, in der er arbeitslos gewesen sei, empfinde er das Leben als „gemütlich“, da ihm niemand etwas zu sagen habe. Große Unzufriedenheit aufgrund massiver finanzieller Probleme wird hingegen im Gespräch mit dem Interviewer türkischer Herkunft geäußert. Interethnische Kontakte stellt Herr C im interkulturellen Interview als besonders ausgeprägt dar. Der Interviewerin türkischer Herkunft gegenüber räumt er ein, „die Deutschen“ empfinde er als kühl und es dauere lange, bis man einen warmherzigen Menschen treffe. Diese Beobachtungen von Abweichungen zwischen den Texten beruhen auf direktem Zugriff auf Textbedeutungen und sind Ergebnis einer Analyse des propositionalen Aspektes der Kommunikation. In dieser Form stellen sie mehr oder minder entkontextualisierte Einzeläußerungen, die zwar auf die Problematik der Adressatenspezifizität von Artworten in interkulturellen Forschungen einiges auszusagen vermögen, doch keine fundierten Aussagen über den spezifischen Sinn dieser Äußerungen innerhalb des spezifischen Kontextes erlauben. Interviewtexte sind nicht (nur) als Informationsquelle über forschungsrelevante Themenbereiche zu betrachten, sondern (auch) als Materialisierung eines Aushandlungsprozesses über Identitäten zwischen den in der Gesprächssituation
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involvierten Interaktionspartnern aufzufassen. Dabei beschreibt der Terminus ‚Identität’ „die Art und Weise, wie sich die Subjekte in der Welt orientieren, d.h. wie sie ihre (soziale) Wirklichkeit konstruieren4, von welcher sie selbst ein Teil sind“ (Kempf/Baumgärtner 1996, S. 3). Interviewtexte sind im Grunde Interaktionsprodukte, die in konkreten Interaktionen produziert werden. Jede Äußerung im Text enthält gleichzeitig sowohl Interpretationen des Sprechers gegenüber seinen Handlungsintentionen und Handlungen als auch Deutungen der Äußerungen des Gegenübers in der Gesprächssituation (vgl. Soeffner 1982, S. 11 ff.). 4
Methodische Anforderungen an die Textinterpretation
Um die spezifischen methodischen Anforderungen zu bewältigen, die sich aus der Präsenz zweier in unterschiedlichen kommunikativen Kontexten entstandener Interviewtexte zu einer Person ergeben, wurde auf das analytische Potenzial der sozialpsychologischen Rekonstruktion zurückgegriffen, weil sie durch ihre kommunikations- und handlungstheoretische Konzeption die interaktive Dynamik und den Kontext der Kommunikation auf unterschiedlichen Ebenen berücksichtigt, und daher in besonderem Maße den spezifischen interkulturellen Anforderungen gerecht wird.5 Am konkreten Datenmaterial vollzieht sich die Textinterpretation auf der Basis folgender, aufeinander aufbauender methodischer Zugänge, die jeweils einzelne Analyseschritte beinhalten. 4.1
Sequenzorientierte Textanalyse
Beide Texte werden zunächst separat analysiert. Bei den vorgenommenen Interpretationen wird in diesem Analyseschritt weder auf darauffolgende Informationen des weiteren Textverlaufs, noch auf Elemente des zweiten Interviewtextes zurückgegriffen. Die Interpretation zielt auf die Rekonstruktion der subjektiven Interpretationsleistungen der Sprechpartner und der diesen Interpretationsleistungen zugrundeliegenden leitenden Darstellungsregeln. Jeder Text für sich präsentiert 4 Dabei ist stets zu berücksichtigen, dass sich die Regeln zur Konstruktion der subjektiven Wirklichkeit seitens der Individuen keineswegs beliebig konstituieren, sondern immer in den sozialen Gegebenheiten selbst verankert sind. 5 Textanalyse erfolgt ihm Rahmen dieses Ansatzes stets auf drei verschiedenen, systematisch aufeinander aufbauenden Ebenen der Verständnisbildung (logisches Verstehen, psychologisches Verstehen und soziologisches Verstehen), die ich in Anlehnung an Kempf/Baumgärtner (1996) an anderer Stelle ausführlich dargestellt habe (siehe: Baros 2001; Baros/Reetz 2002).
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Interpretations- und Interaktionssequenzen, die den je konkreten Handlungszusammenhang offenlegen, in dessen Rahmen die Einzeläußerungen des Sprechers „über sich selbst hinausweisen und immer den Handlungsrahmen als Ganzen, als Horizont mit in Rechnung stellen“ (Soeffner 1982, S. 13). Im Analyseverlauf werden stets Kommunikationselemente (wie Sprechstil, Wortwahl, Stimmfärbung, Lautstärke etc.) zur Erfassung des sog. ,CommandAspektes´des internen Kontextes der Kommunikation berücksichtigt. Gleichzeitig werden Informationen über nonverbale Aspekte der Kommunikation und über die Interaktionsdynamik zwischen den Interaktionspartnern (Command Aspekt des externen Kontextes der Kommunikation) systematisch in den Interpretationsprozess eingebaut. Im Vordergrund steht die Analyse der Interaktion zwischen Sprecher und Angesprochenem innerhalb eines jeden Interviewtextes. Fasst man verbale Formulierungen des Sprechers in Anlehnung an Ungeheuer (1987) nicht nur als sprachlichen Ausdruck auf, sondern als sprachliche Anweisungen an den Hörer zur Steuerung seiner Verstehensleistung, und betrachtet man Kommunikationen als „Veranstaltungen von Sprechern“, die darauf abzielen, Hörern bestimmte innere Erfahrungen des Verstehens vollziehen zu lassen, so richtet sich der Analysefokus auf die Interaktion zwischen den Gesprächspartnern im Gesprächsverlauf (vgl. ebd., S. 317). Dadurch können Themenverschiebungen, thematische Brüche und Themenmodifikationen herausgearbeitet werden (vgl. Kempf 2008). Im Anschluss daran werden die einzelnen Texte unter Report-, Commandund Parade-Aspekt Satz für Satz genau analysiert. Dabei stellten sich Fragen nach dem Inhalt der konkreten Aussagen, nach der Art und Weise, wie eine Aussage mitgeteilt wird, sowie danach, wie die Kommunikationspartner miteinander umgehen. Das Ergebnis dieser Satz-für-Satz-Analyse dient der Fokussierung auf die in jedem Text herausgefundenen Themenkomplexe. Bei der Sequenzanalyse werden in allen Textpassagen themenbezogene Querverbindungen im Text untersucht und Vergleiche zwischen ähnlichen bzw. voneinander abweichenden Aussagen angestellt. Die Untersuchung des latenten Gehaltes der durch die Satzfür-Satz-Analyse und die Sequenzanalyse gewonnen Aussagen wird im nächsten Schritt vor dem Hintergrund der komparativen Betrachtung der Texte vorgenommen. Ergebnis dieses Analyseschritts ist die Präsentation zweier separater Textprofile, welche zwei verschiedene (subjektive) Wirklichkeiten repräsentieren. Diese beiden Textprofile stehen analytisch zunächst unabhängig voneinander da und beziehen sich weder sequenziell noch thematisch aufeinander. Ihr Zusammenfügen zu einem ‚Ganzen’ vollzieht sich erst bei der komparativen Interaktionanalyse und bereitet zugleich die weiteren Analyseschritte vor.
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Komparative Interaktionsanalyse zwischen Texten
Die komparative Interaktionsanalyse liegt auf dem Report-, Command- und Parade-Aspekt der Kommunikation und zielt auf eine vergleichende Analyse von Texten in ihrem interaktivem (Längsschnitts-) Charakter ab. Es handelt sich um die wechselseitige, ,interaktive´ Betrachtung des Textmaterials (Interaktion zwischen Texten). Es wird gezielt untersucht, ob Themenverschiebungen in den Einzeläußerungen des Interviewten von Text zu Text variierten. Die systematische Berücksichtigung der Themenentwicklung über den einzelnen Text hinaus fokussiert auf den latenten Gehalt der Kommunikation und liefert Anhaltspunkte Themen und Sachverhalte, welche die Subjekte nicht oder nur verzerrt thematisieren. Die Thematisierungsabwehr wird hier weder auf individuelle Eigenschaften der Subjekte noch auf Verdrängung oder Abwehr im psychoanalytischen Sinne zurückgeführt, sondern im Zusammenhang mit dem sozialen Charakter der Kommunikation betrachtet und problematisiert. Ergebnis dieser komparativen Interaktionsanalyse ist die fallbezogene Herausarbeitung der (impliziten) Regeln (psychodramatische Form des Textes), nach welchen die durch den Text repräsentierte Konstruktion subjektiver Wirklichkeit folgt. 4.3
Handlungsanalyse
Ziel der Handlungsanalyse ist es, die subjektiven Handlungsprämissen des Sprechers unter Berücksichtigung der gegenstandsbezogenen Perspektive des Textes zu rekonstruieren.6 Erkenntnisgegenstand der Handlungsanalyse ist nicht die Beschreibung isolierter Tätigkeiten, sondern die Analyse der Handlungszusammenhänge und Kontexte, in denen diese Tätigkeiten stehen, und aus welchen die Personen ihre jeweiligen Handlungsvorsätze subjektiv als ‚logische’ bzw. ‚vernünftige’ Konsequenz ableiten (vgl. Baros/Reetz 2002, S. 2). Es geht mit anderen Worten darum, zu analysieren, wie individuelle Subjektivität gesellschaftlich hervorgebracht wird. Die Rekonstruktion gesellschaftlich hervorgebrachter Subjektivität fokussiert auf tiefenpsychologische Aspekte und problematisiert subjektive Formen der Realitätsbewältigung (wie Rationalisierungen, Abwehrmechanismen, Verdrängungen etc.) mit Blick auf die subjektive Funktion, die sie für den einzelnen besitzen. Der Schwerpunkt der sozialpsychologischen Rekonstruktion im Rahmen der Handlungsanalyse liegt nicht nur auf der Herausarbeitung der Regeln, nach de6 Hypothesen über Handlungsprämissen können an der Empirie falsifiziert werden, wobei menschliches Handeln grundsätzlich rekonstruierbar, jedoch nicht eindeutig vorhersagbar ist.
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nen die Interviewten ihre Wirklichkeit konstruieren. Hier interessiert darüber hinaus die Frage nach der Art und Weise, wie die Subjekte mithilfe dieser Konstrukte ihre Migrationsrealität individuell ausgestalten und bewältigen. Im Rahmen der Handlungsanalyse werden Hypothesen über mögliche Gründe für die Thematisierungsabwehr formuliert. Diese können empirisch überprüft werden, wenn es im Laufe des Interpretationsprozesses gelingt, den sekundären Gewinn herauszuarbeiten, welchen die Betroffenen aus der Thematisierungsabwehr beziehen. Die Beantwortung der Frage nach dem sekundären Gewinn aus der Thematisierungsabwehr kann nur im Zusammenhang mit der aktuellen Situationsbewältigung der Interviewten erfolgen, und erfordert eine über die Interpretation des konkreten Interviewmaterials hinausgehende radikale Kontexterweiterung in Richtung auf eine umfassende Analyse der aktuellen Lebenspraxis der Subjekte. Ergebnis der Handlungsanalyse für diesen Interpretationsschritt ist die Rekonstruktion jener Bedeutungsaspekte der Kommunikation, die vom Interviewten systematisch abgewehrt werden. Dies wird und kann methodisch vor dem Hintergrund externen Kontextwissens erreicht werden. 5
Anwendungsbeispiel
Folgendes Beispiel, das die im vorherigen Abschnitt beschriebenen Analyseebenen verdeutlichen soll, stammt aus der weiter oben beschrieben qualitativen Studie7 mit türkischen Migranten. Bei den Texten, die der folgenden Analyse zugrunde liegen, handelt es sich um Transkripte aus zwei partnerzentrierten Interviews, die mit Herrn V. in einem zeitlichen Abstand von zwei Monaten stattfanden. Als erstes wurde das Interview mit Stefan (Interview I) (Interviewer ohne Migrationshintergrund), das zweite mit Suna (Interview II) (Interviewerin mit türkischem Migrationshintergrund) durchgeführt.8 Bei Herr V. (55) handelt es sich um einen türkischen Migranten mit unbefristeter Aufenthaltserlaubnis. Er kam 1972 im Rahmen eines Anwerbeabkommens nach Deutschland und war vor seiner Auswanderung sechs Jahre lang als Beam7 Insgesamt drei Fallbeispiele aus diesem empirischen Material, mitunter auch das hier dargestellte, wurden im Rahmen der Diplomarbeit von Birgit Kleipaß (2003) bearbeitet und dargestellt. Ihre Analyse bezog sich hauptsächlich darauf, methodische Effekte in interkulturellen Interviews herauszufinden und zu analysieren. 8 Das zweite Interview baut aus methodischen Gründen nicht auf Interpretationen des ersten Interviews auf, sondern hat den Charakter eines zweiten Interviews im Sinne einer Panel-Untersuchung. Die wortgetreue Transkription des mit Hilfe eines digitalen Tonbandgeräts aufgenommenen Datenmaterials ergab insgesamt etwa 60 einzeilig geschriebene Seiten. Die Namen und Ortsangaben wurden dabei anonymisiert. Dieses Material beinhaltet auch die Gedächtnisprotokolle, die die beiden befragenden Personen im Anschluss an die Interviews angefertigt hatten.
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ter in der Türkei beschäftigt. Als er nach Deutschland einreiste, war er bereits verheiratet und Vater eines Sohnes. Die Familie ist im Nachzugsverfahren 1973 nach Deutschland gekommen. In Deutschland wurde noch eine Tochter geboren. Sie hat Informatik studiert, ist verheiratet und lebt heute in Hamburg. Der Sohn lebt noch im Haushalt der Eltern in Köln und studiert Medizin in Düsseldorf. Seine Ehefrau arbeitet seit 12 Jahren als Teilzeitkraft. Herr V. arbeitete in drei verschiedenen Betrieben und ist seit drei Jahren arbeitslos. Aus den Erzählpassagen des Interviews (I) wurden für die folgenden Ausführungen jene ausgewählt, in denen sich Herr V. über seine aktuelle durch Arbeitslosigkeit geprägte Lebenssituation und seine Zukunftspläne äußert. 5.1
Sequenzorientierte Textanalyse
Aus den Erzählungen von Herrn V. im Interview I, der Analyse des CommandAspekts des internen Kontextes der Kommunikation, der kontextuellen Analyse zur Erfassung von Interessen und Intentionen der Interaktionspartner im Gesprächsverlauf, lässt sich folgender Tatbestand festhalten: Die Thematisierung der Arbeitslosigkeitssituation und der damit verbundenen Belastungen dominiert den Erzählfluss des Interviewten. In den letzen 36 Jahren sei er noch nie arbeitslos gewesen und habe niemals „frei“ gehabt. Er wisse nicht, wie er seine Freizeit „kaputt machen“ könne. Er geht im Gespräch auf seine individuellen Anstrengungen bei der Suche nach einer Arbeitsstelle ein: „Und zwei Jahre, in zwei Jahre 20, 30 Stellebewerbung geschrieben. Alles Nein-Antwort bekommen, weil bin ich so alt“. Wiederholt kommt Herr V. auf seinen monotonen aktuellen Tagesablauf zu sprechen: Außer seiner Beschäftigung in einem türkischen Verein und seinen häufigen Besuchen bei der AWO sieht er keine weitere Möglichkeit, seine Freizeit mit anderen Aktivitäten zu füllen, zumal er sich ungern in „türkische Cafés“ aufhalte und „keine Kartenspiele“ möge. In einer längeren Sequenz von 32 Zeilen beschreibt er seine damalige durch Kündigungen und Sprachschwierigkeiten geprägte Arbeitssituation. Seine Erzählung ist detailliert und lebhaft: Herr V. gibt an, in seiner ersten Stelle bei einer Möbelfabrik nur „vier Tage und zwei Stunden gearbeitet“ zu haben. Sein Problem war die Sprachbarriere, sie sich auch auf seine Beziehung zu den Vorarbeitern negativ ausgewirkt habe: „Da kommt de Vorarbeiter oder Meister und Anfang ich kaum deutsch“. Seine Sprachschwierigkeiten gibt er als den Hauptgrund an, weshalb er seinerzeit bereits in den ersten Wochen seines Aufenthaltes an eine Rückkehr in die Türkei dachte. Die Möglichkeit einer beruflichen Reintegration in seine alte Arbeitsstelle hätte er auf jeden Fall noch gehabt. Seine damals
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schon im Kölner Raum lebende Schwester und sein Schwager hätten ihm geholfen, nach Auflösung seines bestehenden Arbeitsvertrags mit der Möbelfabrik, in Köln eine neue Arbeitstelle zu finden, die er aber nach sechs Monaten gekündigt habe. Herr V. geht oft auf seine damaligen Versuche ein, die deutsche Sprache in Sprachkursen der Volkshochschule zu lernen. Kritisch räumt er ein, die deutschen Medien hätten zum negativen öffentlichen Bild „der Türken in Deutschland“ beigetragen. Aus sich heraus gibt er an, dass er in derselben Wohnung seit 25 Jahren lebe und dennoch keine richtigen Kontakte zu den Nachbarn habe, eine Tatsache, die er auf die zurückhaltende Art der anderen zurückführt: „Ich weiß net, die Leute is Angst oder was? Nur guten Tag, auf Wiedersehen, mehr nicht.“ Seine Wohngegend hätte sich aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und des Drogenkonsums in den letzen Jahren verschlechtert. In diesem Zusammenhang hebt Herr V. den positiven Beitrag von Stadt und Polizei zur Lösung von Problemen in der Region: „Aber ich glaube langsam wieder sauber. Da macht die Polizei oder eben Stadt, machen die das etwas sauber.“ Der enge Familienzusammenhalt, die Bildungserfolge seiner Kinder, und dass sie sich zu „guten Menschen“ entwickelt hätten, sei ihm sehr wichtig. Sein Arbeitslosengeld in Höhe von 700 Euro reiche nicht aus, um ein „besseres Leben“ zu führen. Er erwähnt in diesem Zusammenhang, dass seine Tochter ihn finanziell unterstütze, wenn er es brauche. In mehreren Stellen des Interviews geht er auf seinen früheren Beamtenstatus in der Türkei ein, den er seinerzeit aufgegeben habe, um in Deutschland zu studieren. Das Erreichen dieses Ziels, sei ihm wegen fehlender Deutschkenntnisse und seiner damaligen ungünstigen Situation nicht gelungen, obwohl er die formalen Voraussetzungen (Abitur) gehabt hätte. Eine Rückkehr in die Türkei komme für Herrn V. nicht in Frage: Zum einen hätte er bisher länger in Deutschland gelebt, als in der Türkei, und zum anderen kenne er sich mit „alle System hier“ gut aus. Auf die direkte Frage des Interviewers hin, ob er mit seiner aktuellen Lebenssituation zufrieden sei, vergleicht sich Herr V. mit anderen türkischen Migranten. Er selber sei zufrieden, während viele seiner Landsleuten eigentlich wegen ihrer Sprachschwierigkeiten unzufrieden sein müssten: „40 Jahre is in Deutschland und kaum deutsch verstehen die immer noch. Wie kann de Leute zufrieden sein, ne. Aber ich bin persönlich, meine Familien hier, bin ich zufrieden.“ Aus der Analyse der Interaktion zwischen den Gesprächspartnern zur Herausarbeitung von eventuellen Themenverschiebungen oder thematischen Brüchen im Gesprächsverlauf kann festgehalten werden: Aus den Gesprächsnotizen und zusätzlichen Protokollbögen des Interviewers geht hervor, dass Herr V. bereits zu einem früheren Zeitpunkt Erfahrungen mit Interviews gemacht hatte: Ein deutsches Kamerateam habe ihn zwei Tage lang begleitet, um eine Migrantenge-
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schichte nachzuzeichnen. Da bei diesem Bericht gegen seinen Willen sein Name genannt wurde und er darauf hin Briefe und Anrufe mit rechtsradikalen Drohungen erhalten hatte, war er zunächst skeptisch, dass das Interview auf Tonband aufgezeichnet werden sollte. Erst im weiteren Verlauf des Gespräches als der Interviewer Herrn V. aufforderte, „ruhig ein bisschen mehr zu sagen“, lockerte sich die angespannte Atmosphäre auf. Herr V. ging ausführlicher auf die angesprochenen Themen ein und wurde zunehmend selbstsicherer. Herr V. konnte vermutlich erst dann Vertrauen9 zu der Interviewsituation aufbauen, als der Interviewer deutliches Interesse an der Person seines Gesprächspartners geäußert hatte. Die Satz für Satz Analyse unter Report- Command- und Parade Aspekt und die Sequenzanalyse ergab folgendes Bild: Herr V. sieht keine Möglichkeit, seine belastende aktuelle Situation positiv zu verändern. Guten Deutschkenntnissen räumt er eine Schlüsselfunktion für die Ermöglichung sozialen Aufstiegs ein. Seine Äußerungen zur Bedeutung der Sprachkenntnisse und den falschen vergangenen (Migrations-)Entscheidungen sind den Schilderungen zu den anderen Themenbereichen proportional überlegen. Der Erzählung negativer, zeitlich weit zurückliegender Erfahrungen im Zusammenhang mit Arbeit misst Herr V. besonderen Stellenwert zu. Aus der sequenzorientierten Textanalyse für den Interviewtext II entsteht folgendes Bild: Sehr umfangreich und detailliert fallen seine Äußerungen über die Arbeitsbedingungen und über die Gründe aus, die ihn damals dazu veranlasst hätten, seinen Arbeitsvertrag bei seiner ersten Arbeitsstelle aufzulösen: Herr V. sei dagegen gewesen, in der Firma „irgendeinen“ anderen Beruf ausüben, als den in dem bereits unterzeichneten Vertrag ursprünglich vereinbarten Schreinerberuf: „Arbeitgeber hat mich in eine Spanplattenfabrik geschickt. Und habe isch ihm gegen Ärger gehabt. Habe gesagt isch bin Schreiner, isch kann nicht Spanplatten mache. Hab gesagt, entweder ich als Schreiner arbeite, oder ich gehe hier weg.“ Herr V. malt im Gespräch konkrete Kommunikationsepisoden aus seinen Verhandlungen mit dem Arbeitgeber nach und legt dabei die Erpressungsmechanismen dar, die der Arbeitgeber auch bei seinen ebenfalls angeworbenen Arbeitskameraden angewendet hätte. Sein mutiges Verhandlungsgeschick stellte für den Arbeitgeber eine Gefahr dar: „Und die hat mir gesagt, irgendwie du musst hier weg. Und du machst de andere Leute Augen auf.“ In diversen Stellen im Interview distanziert sich Herr V. eindeutig von seinen Landsleuten. In seinen Aussagen werden die Kriterien erkennbar, an denen er die Unterschiede festmacht: Er selbst sei erfahrener, gebildeter und in einer Groß9
Kleipaß (2003) geht in ihrer Interpretation davon aus, dass das im Gesprächsverlauf entwickelte Vertrauen die strukturelle Rahmenbedingung, der Interviewer werde als Vertreter der Aufnahmegesellschaft betrachtet, nicht völlig außer Kraft setzen könne.
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stadt aufgewachsen. Zudem ließe er sich auf keinen Fall von anderen erpressen, oder unter Druck setzen. Seine „Arbeitskraft verkaufen“ würde er nicht um jeden Preis. Seine Arbeitslosigkeit belaste ihn sehr, da er seit seinem 12. Lebensjahr immer gearbeitet hätte. An die neue, durch das Fehlen geregelten Tagesablaufes gekennzeichnete Situation, könne er sich nicht gewöhnen. Er wisse nicht, wie er seine „Freizeit kaputt machen“ könne. Seine Zeit verbringe er in der Moschee durch „Beten“ und in Begegnungen mit anderen Menschen dort. Die „plötzliche“ Arbeitslosigkeitssituation mache ihn krank. „(…) und war isch war schon 2 ½ Jahre krank. Immer noch! (…) Wegen das is im Kopf. Kann man abschalten wo? Wo kann man abschalten? Ne. Des is schlecht (…) is, is eine morotone Leben“. Würde es ihm gelingen, durch eine neue Arbeitsstelle seine aktuellen existenziellen Probleme zu lösen, würde er es auch schaffen, ein „besseres Leben“ zu führen. Sein fernes Ziel sei es, bald Rente zu beziehen, denn so könnte er sich dann besser bewegen. Durch die örtliche Gebundenheit „wegen dem Arbeitsamt“ fühle er sich eingeengt. Mit dem, was er bisher erreicht habe, sei er persönlich nicht zufrieden. Das Verlassen einer Arbeitsstelle als Beamter in der Türkei und das versäumte Ziel, in Deutschland Innenarchitektur zu studieren, vermittelten ihm das Gefühl, er habe bisher „viel verloren“. Positiv stellt er nur die Bildungserfolge seiner Kinder heraus. Eingehend schildert er die Schulzeit seiner Kinder und führt dabei an, dass er mit ihnen immer zusammen an deren Schulaufgaben (mit-)gelernt habe. Er brauche deshalb keinen anderen Kurs machen in Deutschland: „Isch hab überhaupt nich keine Kurs gegangen in Deutschland. Gar nich! In alles, alle selber gelernt. Mit Kinder zusammen unterhalten und gucke isch immer gerne de deutsche Fernsehen. Gerne! (betont) Und heute immer noch“. Bei der Thematisierung seiner eigenen Unzufriedenheit mit seinem Leben in Deutschland vergleicht sich Herr V mit seinen Landsleuten, die sich selbst als zufrieden bezeichneten. Dabei scheint seine Alltagstheorie von der Überzeugung geleitet zu sein: In Deutschland könne man als Migrant eigentlich nicht zufrieden sein. Zufrieden sei ein Minderheitenangehöriger nur, wenn er keine sonstigen Alternativen habe, wenn er keine anderen Optionen kenne. Er selbst sei jedoch aufgeweckt, habe in seinem Leben viel erlebt und könne daher mit dem Leben unter Migrationsbedingungen nicht zufrieden sein. Er ist nicht wie die Anderen und seine Unzufriedenheit ist der Preis für seine Überlegenheit: „Ne, is nur meine Meinung. Aber wenn isch meinem Kreis hören, alle zufrieden. Weil die alle Leute wie eben gesagt habe von kommen von Anatolien. Und garnix mal gesehen und weiß ma auch gar nich, was is Leben. Und hat keine Arbeit gehabt in Türkei. Und gar nix gehabt. Und dann alles in Deutschland gesehen. Und komische Sache. Isch sage wenn einmal...und habe isch bestimmt halbe
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Stunde gelacht. Und hatte eine Leute gesagt, in Türkei gibt keiner dreisitzeler Couch (fassungslos). Habe isch gesagt, wo kommst du her
Aus sich heraus schildert Herr V. seine Bemühungen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erhalten. Seinen Einbürgerungsantrag habe er jedoch zurückgezogen, als er erfahren habe, dass sich für eingebürgerte Türken erhebliche Probleme ergeben, wenn sie ihre erarbeitete türkische Rente beantragen. Eine Rückkehr schließt Herr V. im Gespräch aus diversen Gründen aus. Er werde – auch wenn „ungewollt“ – in Deutschland bleiben. Ungewollt deshalb, weil er arbeitslos sei. Die Unwahrscheinlichkeit einer Rückkehr begründet er mit Verweis auf seine Kinder, die sich auf ein Leben in Deutschland ausrichten. Herr V. artikuliert im Gespräch seine Befürchtung, dass türkische Jugendliche allmählich ihre kulturelle Identität, Muttersprache und Mentalität „verlieren“ werden. Sein Verständnis von „Mentalität“, welches er auf Nachfrage der Interviewerin hin expliziert, bezieht sich auf die besondere Bedeutung von Familienbildungen in der Türkei. Negativ äußert er sich dabei über die „die Deutschen“: Sie hätten keinen ausgeprägten Familiensinn, zeichneten sich nicht durch Gastfreundschaft aus, seien „egoistisch“. Gegen Ende des Gesprächs stellt die Interviewerin Herrn V. die hypothetische Frage, was er in der Türkei anders machen würde, wenn seine Familie und er selbst remigrieren würden. Auf diese hypothetische Frage antwortet Herr V. mit Bezug auf seine eigene reale Remigrationserfahrung: „Ja, isch wollte...isch hab versucht, 1985 zürückgehen. Und da habe isch um die...die 85 Zeit war für misch letzte Zeit für misch Türkei zürückgehen, meine Stelle wieder Arbeit anfangen kann.“. Seine Remigrationserfahrung schildert er jedoch nicht weiter. Auf die Frage der Interviewerin nach den Gründen für das Scheitern seiner Remigration geht er nicht weiter ein: „Irgendwas bisschen Probleme waren da und finanzielle Probleme und...und so und so.“ Herr V. präsentiert sich im Interview mit Suna als Mensch, der mit seiner persönlichen, aktuellen Lebenssituation und mit dem bisherigen Verlauf seines Migrationsprojektes insgesamt sehr unzufrieden ist. Verstärkend wirkt, dass ihm die Rückkehr in die Türkei bisher verwehrt blieb. Seine geäußerte Zufriedenheit mit Blick auf die Erreichung der familiären Ziele (gute Ausbildung der Kinder) verblasst in Anbetracht der Schilderungen seiner Gesamtsituation und seiner gescheiterten Migrationsabsichten. Neben seiner latenten Unzufriedenheit vermittelt Herr V. auch den Eindruck, dass er sehr familien- und wertebewusst sei. Die Bewahrung der türkischen Kultur in der Migrationssituation ist ihm ein großes Anliegen. Durch die Betonung der kulturellen Differenz zwischen Deutschen und Türken und seiner Bewertung, dass die türkische Kultur die bessere von Beiden sei, stellt er sich indirekt auch als einen besseren Menschen dar.
392 5.2
Wassilios Baros Komparative Interaktionsanalyse zwischen den Texten
Für diesen Analyseschritt wurde ein zweites hermeneutisches Feld eingerichtet, welches es ermöglicht, durch die systematische Analyse des latenten Gehaltes der Kommunikation unter Berücksichtigung der Themenentwicklung in beiden Texten, Anhaltspunkte über Tatbestände herauszuarbeiten, die von Herrn V. thematisch abgewehrt (ausgeblendet oder verzerrt thematisiert) wurden. Die Suche nach exterritorialisierten Aspekten der Kommunikation ergab folgendes Bild. Herr V. äußert sich in beiden Interviews detailreich über seine belastende aktuelle Lebenssituation. Unter den Details in seinen Erzählungen fallen einige auf, denen Herr V. in den beiden Interviews unterschiedliches Gewicht beimisst. Gleich intensiv und in beiden Interviews gleich verteilt geht Herr V. auf eine Arbeitserfahrungen in der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Deutschland ein. Thematisiert wird in beiden Gesprächen die Detailinformation, dass er bei seiner ersten Stelle nur vier Tage und einige Stunden geblieben ist. Die Kündigung bei seiner ersten Stelle, seine Rückkehrgedanken unmittelbar danach, die ihm angebotene Unterstützung durch seine Schwester und seinen Schwager während dieser Zeit, werden in beiden Interviews thematisch übereinstimmend geschildert. Herr V. hat zwar von sich heraus ein starkes Bedürfnis, über diese Erfahrungen zu sprechen, die Bedingungen für seine Kündigung jedoch in den beiden Interviews völlig unterschiedlich thematisiert. Im Interview I richtet er sich unbekümmert in die Position des Neuankömmlings ein, der sich wegen seinen Sprachschwierigkeiten nicht behaupten kann. Im Interview II stellt er sich als aktiv Handelnder dar, der sich durchsetzt und seine Interessen ohne Scheu offen artikulieren kann. In beiden Interviews thematisiert Herr V. seine Handlungs- und Entscheidungsorientierung hinsichtlich seiner Zukunftspläne. Er geht auf die verschiedensten Gründe ein, aus denen er sich auf ein künftiges Leben in Deutschland einstellt. In dem Umstand, dass er in seinen Darlegungen nicht auf die Tatsache eingeht, dass er im Jahre 1985 tatsächlich remigriert war, wurde ein Moment der Thematisierungsabwehr gesehen. Nur beiläufig im Interview II lässt er die Interviewerin von seiner missglückten Rückkehr wissen. Zu der Frage, warum sich Herr V. in der Schilderung der Kündigungsgründe von Interview zu Interview anders präsentiert, wurden folgende Interpretations-
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möglichkeiten10 formuliert: Herr V. vergegenwärtigte sich während des Interviews I die damalige Situation und konnte deshalb die Geschehnisse genauer rekonstruieren; er hat bei der Interviewerin den Eindruck vermitteln wollen, dass er auch gegenüber auch gegenüber Mitgliedern der Majoritätsgesellschaft durchsetzungsfähig ist. Von Seiten von Mitinterpret(inn)en11 wurde darauf hingewiesen, die unterschiedliche Akzentuierung dieses Themas im Interview II könne eventuell darauf zurückgeführt werden, dass sich Herr V. im Interview II, welches zeitlich dem ersten Gespräch folgte, einfach nicht wiederholen wollte. Dabei wurde auch die Vermutung geäußert, dass Herr V. aufgrund des Fraternisierungseffektes12 durch seine Erzählungen die affirmative Haltung seitens seines Gegenübers heraufzubeschwören versuche. Dennoch würde diese Interpretation ein frühzeitiges Unterbrechen des hermeneutischen Zirkels bedeuten. Im Interview I erscheint die Geschichte der ersten und der weiteren zwei Kündigungen als Schicksal eines mit Sprachschwierigkeiten kämpfenden Migranten. Dabei greift Herr V. auf das soziale Deutungsmuster „Ausländer gleich Sprachproblem“ zurück. Dadurch entlastet er sich insofern vom wahrgenommenen Handlungsdruck in der Gesprächsituation, als er nicht mehr ausführlich auf Details einzugehen braucht. Herr V. sehnt sich nach der Normalität eines sich in Deutschland wohlfühlenden und um Integration bemühenden Migranten. Zu der Frage, warum Herr V. sich mit seiner faktischen Rückkehr sowenig auseinandersetzt, können folgende vorläufige Interpretationen formuliert werden: Herr V. wehrt die Tatsache seiner Rückkehr durchgängig ab, weil er sich sonst mit einem weiteren für ihn belastenden Lebensabschnitt auseinandersetzen müsste. Er wehrt die Tatsache seiner zwischenzeitigen Remigration deshalb ab, weil von seinem Standpunkt aus gesehen die Tatsache einer gescheiterten Rückkehr mit dem Bild eines sich stets um Integration bemühenden Migranten – welches er im Interview I vermittelt – nicht in Einklang zu bringen wäre. Seine der subjektiven Bewältigung von Arbeitslosigkeit dienenden Strategien zeichnen sich im Interview II zum einen durch permanente Vergleiche beider Lebenskontexte (Deutschland-Türkei) zugunsten der Herkunftsgesellschaft und zum anderen durch die Infragestellung seiner damaligen Migrationsentscheidung aus. Herr V. 10 Bei der Formulierung von Interpretationsmöglichkeiten ist es wichtig darauf zu achten, dass sie den weiteren Analyseprozess weiter eröffnen und nicht einengen. Zum vorzeitigen Unterbrechen des hermeneutischen Zirkels kann es nämlich dann kommen, wenn der Interpret die Suche nach möglichen Prämissen menschlichen Handelns aufgibt und stattdessen nach irgendwelchen Bedingungen fragt, die eben zum beobachteten Verhalten geführt haben sollen. 11 An dieser Stelle bedanke ich mich bei Herrn Dr. Klaus-Dieter Reetz und Frau Dipl. päd. Shewanesh Sium für wertvolle Anregungen bei der Interpretation des Datenmaterials. 12 Hierfür könnte man auf entsprechende Interviewpassagen zurückgreifen, welche die systematische Tendenz des Interviewers belegen, Eigenkulturelles positiv herauszustellen und entsprechend Fremdkulturelles mit negativen Attributen zu besetzen.
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blendet seine eigenen Erfahrungen während der missglückten Remigrationszeit deshalb aus, weil er im Gespräch seine mit der Vorstellung eines „besseren Lebens“ in der Türkei im Einlang stehende, individuelle Form der Realitätsbewältigung aufrechterhalten möchte. Da Herr V. in beiden Interviews die Thematik der Rückkehr systematisch aus seinem Bewußtseinshorizont ausblendet, wird schließlich angenommen, dass hier tiefer liegende Gründe vorliegen, die mit der jeweils spezifischen Interviewkonstellation nicht zusammenhängen. Diese formulierten Hypothesen über die möglichen Gründe der Thematisierungsabwehr können hier nur vorläufigen Charakter haben. Sie können näher untersucht werden, wenn man im weiteren Analyseverlauf versucht, den sekundären Gewinn herauszufinden, welchen Herr V. aus der Thematisierungsabwehr zieht. Für die Rekonstruktion des sekundären Gewinns ist eine über die beiden Texte hinausgehende Erweiterung des Kontextwissens notwendig. In Berücksichtigung der psychodramatischen Form beider Texte werden für den weiteren Analyseverlauf folgende Arbeitshypothesen formuliert: Die Entfremdungsproblematik13 für Herrn V. besteht darin, dass er durch seine aktuelle Situationsbewältigung in Wirklichkeit eine Lebenspraxis unterstützt, die langfristig zur Einschränkung seiner tatsächlichen Möglichkeiten führt: Der Glaube, durch individuelles Durchsetzungsvermögen und (Ver-)Handlungsgeschick die absolute Kontrolle über seine Lebensbedingungen zu haben, führt zur Selbstüberschätzung und mithin zum Erleben von Ausweglosigkeit und neuen Misserfolgen; das Sich-Einrichten in die Opferrolle wiederum zur Resignation. Herr V. reflektiert das Scheitern der individuellen Versuche zur Erreichung seiner Migrationsziele nicht im gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Seinen eigenen Misserfolg personalisiert er, wobei seine individuellen Ausgestaltungsversuche von einer Infragestellung der ursprünglichen Auswanderungsentscheidung und Selbstethnisierung, über Kritik an seinen eigenen Entscheidungen und Handlungen im Migrationskontext bis hin zur Verleugnung der eigenen Unzufriedenheit durch Herstellung von Vergleichen zu seinen Landsleuten, reichen.
13 Die systematische Berücksichtigung von Theorien als universell anwendbaren methodischen Prinzipien ist in diesem Zusammenhang für die argumentative Überprüfung der formulierten Interpretationen unerlässlich. Dabei wurde Bezug genommen auf den theoretischen Diskus über Identitätsmanagement und Lebensführung in der fortgeschrittenen Moderne (vgl. Keupp et. al. 1999), sowie auf die Entfremdungstheorie von Sève (1972). Der Begriff 'Entfremdung' beschreibt hier den dialektischen Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft, der dazu führt, dass die subjektive Logik des Handelns mit ihrer objektiven (gesellschaftlichen) Logik nicht deckungsgleich ist.
Innovative methodische Zugänge für qualitative Forschung 5.3
395
Handlungsanalyse
Die Erweiterung des hierfür erforderlichen Kontextes wurde durch die Fortsetzung des hermeneutischen Zirkels mit Hilfe eines argumentativen Rückkoppelungsgespräches (vgl. Baros & Reetz 2002) erreicht. Dieses Gespräch habe ich mit Herrn V. zwei Monate nach dem Interview II. durchgeführt. Zentrale Zielsetzung des argumentativen Rückkoppelungsgespräches ist es, die im Verlaufe des gesamten Forschungsprozesses geleisteten Interpretationen im Sinne einer argumentativen Geltungsprüfung von Interpretationen (vgl. Terhart 1981) zum Gegenstand eines Diskurses mit den Betroffenen zu machen. Dabei wird die Trennung zwischen Interpretation und Intervention insofern aufgehoben, als die Möglichkeit geschaffen wird, bereits im Forschungsverlauf eine Prämissenerweiterung für die Beteiligten (Forscher und Betroffene) zu erreichen. Der Argumentationsprozess geht dabei weder als Bevormundung der Betroffenen vonstatten noch verfolgt er das Ziel einer reibungslosen kommunikativen Einigung. Er stellt vielmehr einen nach begründbaren Regeln ablaufenden Argumentationsprozess dar. Die aus diesem Prozess gewonnen neuen Erkenntnisse ermöglichen die Weiterführung des hermeneutischen Zirkels. Wichtig im argumentativen Rückkoppelungsgespräch mit Herrn V. war es, deutlich zu machen, dass es nicht darum geht, Wahrheiten zu finden, sondern sich über Erlebnisse, Erfahrungen und Sichtweisen auszutauschen. Entscheidend ist dabei, dem Interviewten das Gefühl zu vermitteln, dass jede seiner Äußerungen in den vorausgegangenen Interviews ihre Berechtigung hatte, dass sie etwas Konkretes vermitteln wollte. Wichtig für den Interviewten ist ebenfalls, das Gefühl zu bekommen, dass die Aufgabe des Interpreten darin besteht, den je konkreten subjektiven Sinn des Gesagten in der Gesprächssituation zu verstehen. Schließlich ist es für den Interviewten entscheidend zu wissen, dass sich auch der Interpret über sein eigenes Verstehen der Dinge dem Interviewten gegenüber mitteilen kann, und dass er sich in seinem Verstehen auch irren mag. Alle Beteiligten (Interviewter und Interpret) haben die Möglichkeit, argumentativ zu den Interpretationen des je anderen Stellung zu nehmen. Dieser Prozess zielt weder darauf ab, eine Konsensbildung zu erreichen, noch soll es darum gehen, dass der eine Gesprächspartner den anderen von der Richtigkeit seiner Meinung zu überzeugen versucht. Vielmehr geht es darum, die Voraussetzungen für eine argumentative Überprüfung (auch) unterschiedlicher Sichtweisen zu ermöglichen. Folgende Erkenntnisse standen im Fokus des Gespräches mir Herrn V: a) Die Beobachtung, dass er in den vorausgegangenen Gesprächen seine Erfahrungen während der Zeit seiner Remigration in der Türkei gar nicht bzw. nur am Rande anspricht; b) Die Vermutung, dass er seine Erfahrungen in seinen Arbeitsbeschäftigungskontexten von Gespräch zu Gespräch anders thematisiert.
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Am Anfang des Gesprächs wurde Herr V. darum gebeten, über seine Remigrationszeit zu sprechen. Die erzählte Geschichte seiner Remigration bildet die empirische Grundlage für die Rekonstruktion seiner Handlungen. Seine Schilderungen erhalten einen hohen Grad an kontextabhängigen Situationsbeschreibungen und Erzählungen, aus denen der Gesamtzusammenhang seines Handelns und Erlebens deutlich zum Vorschein kommen konnte. Herr V. geht auf die Zeit seines neunmonatigen Aufenthaltes in der Türkei (August 1985 bis Mai 1986) ein. Den Schritt der Remigration sei er gegangen, weil er von seiner – zu dem damaligen Zeitpunkt bereits dritten – Arbeitsstelle entlassen wurde. In Istanbul konnte er wieder in seiner alten Beamtenstelle bei den türkischen Staatsbahnen arbeiten. Aus seinen eindringlichen Erzählungen kann man seine Gefühlslage plastisch rekonstruieren: In der Türkei habe er sich als Versager gefühlt. Seine Heimkehr hätten seine Verwandte, Bekannte und Freunde dort als Eingeständnis von Niederlage gedeutet. Seine Aussagen verraten die starke soziale Kontrolle, die er während der Remigrationszeit in der Türkei erlebt hatte. Dort musste er die Erfahrung machen, dass die Anderen an ihm nur den ‚Rückkehrer’ gesehen hätten. Seine Migrationsbiographie wurde nicht ernst genommen: „(…) die fragte immer … warstu lange weg. Jetz wieder da? Hmm“. Das Gefühl, in einem fremden Land etwas Besonderes und Einzigartiges zu sein, habe ihm die Kraft gegeben, positiv in die Zukunft zu blicken. Der Bestandteil seiner Migrantenidentität fehlte ihm. An die Stelle seiner Migrantenidentität drohte ein ‚neuer’ Identitätsbestandteil anzutreten: der des ‚Gleich-Seins’ wie alle Anderen. Sein ambivalentes Verhältnis zu seinen beiden Lebenskontexten kann zusammenfassend wie folgt wiedergegeben werden: Seine entgegenkommende Haltung gegenüber seinen Verwandten und Freunden in der Türkei hat er mit Herabwürdigung seiner Identität bezahlt. Ausgrenzung und gesellschaftliche Abwertung war der Preis für sein bewusstes Auftreten gegenüber Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft. Die Konfrontation von Herrn V. mit der Tatsache, dass er sich in den beiden Interviews im Zusammenhang mit der Schilderung der Kündigungsgründe bei seiner ersten Arbeitsstelle unterschiedlich darstellte14, ergibt folgendes Bild: Ihm sei wichtig, immer das Gefühl zu haben, seine Lebensbedingungen undentscheidungen zu kontrollieren. Diese Kontrollmöglichkeit habe er auch 1985 aufgrund seiner Arbeitslosigkeitssituation nicht mehr gehabt. Dass er etwas Besonders gewesen sei, musste er auch gegenüber Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft besonders zu „schlechten Zeiten arbeitslose sein“ immer wieder neu unter 14 Die Frage, wie Herr V. in der damaligen Situation tatsächlich umgegangen ist, konnte nicht rekonstruiert werden. Selbstauslegungen und Erzählungen enthalten Interpretationen der Vergangenheit und daher macht es keinen Sinn, nach Wahrheit zu suchen, sondern nach Formen der Selbstpräsentation in unterschiedlichsten Konstellationen und deren Begründung.
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Beweis stellen. Er ärgere sich darüber, wenn er sehe, dass im Leben eigentlich jene Leute weiter kommen, die sich anpassen. Im Rahmen der Handlungsanalyse konnte die zunächst angenommene Widersprüchlichkeit in den Aussagen von Herrn V. in den vorausgegangenen zwei Interviews weiter zurückverfolgt werden: Seine aktuelle subjektive Bewältigungsstrategie bestimmt die individuelle Form der Ausgestaltung seiner Entfremdungsproblematik, welche darin besteht, dass er in seinen bisherigen Versuchen nach Aufrechterhaltung und Erweiterung seiner Handlungsmöglichkeiten in beiden Kontexten (Migration und Remigration) gescheitert ist. Sein Rückzug auf den familiären Binnenraum stellt für ihn die einzige Möglichkeit dar, sich von Belastungen des Alltags abzuschirmen. Das Vermeiden von Konfrontationen jeglicher Art malt das neue Motto seiner Lebensbewältigung aus. Das, was in dem einen Interview (I) als passive Haltung gedeutet werden konnte, scheint im Einklang zu seiner übergeordneten (Über-)Lebensstrategie zu stehen. Das Bild eines aktiv Handelnden und durchsetzungsfähigen Menschen, welches er in dem anderen Interview vermittelt, ist ebenfalls als Bestandteil des Gesamtpuzzles seiner Lebensorientierung15 zu verstehen. Obwohl sich beide Bewältigungsstrategien voneinander erheblich unterscheiden, besteht zwischen ihnen eine wesentliche Gemeinsamkeit: Es handelt sich um individuelle Verarbeitungsformen, mit denen Herr V versucht, in beiden Kontexten, den Situationsanforderungen, so wie er sie wahrnimmt, gerecht zu werden und dadurch Belastungen zu mildern und erträglicher zu machen. Seine individuelle Form der Verarbeitung seiner Problemlage wird von seiner Migrantenidentität geleitet, die sich im Spannungsverhältnis zwischen Selbstüberschätzung einerseits und passivem Erleben von Misserfolgen andererseits manifestiert. Die Aufrechterhaltung dieser Migrantenidentität gilt es um jeden Preis subjektiv zu verteidigen. Eine gesellschaftliche Verarbeitung seiner Problemlage bleibt aus, weil sie eventuell diese Identität als subjektive Grundlage in Frage stellen würde, auf welcher sich Herr V. trotz seiner erschwerten Lebensbedingungen weiterhin handlungsfähig fühlt.
15
Lebensorientierungen sind als interpretative Kategorien zu verstehen. Sie stellen individuelles Handeln und Erleben in einen Sinnzusammenhang, indem sie jene Bedeutungen konstituieren, welche sich letztlich nur aus kontextabhängigen Handlungs- und Situationsbeschreibungen erschließen lassen (vgl. Kempf 1987: 193).
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Wassilios Baros Diskussion als Ausblick
Versucht man an dieser Stelle anhand der bisherigen Darlegungen ein Resümee zu ziehen, so lassen sich folgende Aspekte thesenartig festhalten und zur Diskussion stellen: Datengewinnung als Kontexterweiterung: Die hier vorgeschlagene Pluralisierung der Perspektiven im Datengewinnungsprozess kann insofern eine Kontexterweiterung bedeuten, als durch die Herstellung unterschiedlicher Interviewkonstellationen jeweils zwei Interaktionsräume als Orte des Kommunikationsgeschehens geschaffen werden, in denen sich verschiedene Erzählungen über tatsächlich abgespielte Geschichten der Individuen konstituieren. Dies ermöglicht einen differenzierteren Umgang mit der Problematik der Adressatenspezifizität und den damit einhergehenden methodischen Effekten in interkulturellen Studien bereits im Rahmen des Datengewinnungsprozesses. Umgang mit Thematisierungsabwehr: Vorauszuschicken gilt, dass abgewehrte Themen forschungsmethodisch nur dann erfasst werden können, wenn das dafür erforderliche Kontextwissen vorliegt. Um über abgewehrte Themen zu sprechen, ist es Voraussetzung, dass ich diese Themen kenne. Die komparative Interaktionsanalyse zwischen Texten bildet einen empirischen Zugang zur systematischen Herausarbeitung von Thematisierungsabwehr in der Kommunikation. Durch die komparative Interaktionsanalyse konnten zwei unterschiedliche Arten von Thematisierungsabwehr identifiziert werden. Bei der einen handelt es sich um eine durchgängige Thematisierungsabwehr, die sich wie ein roter Faden durch beide Interviewtexte zieht. Bei der anderen geht es um eine partielle Thematisierungsabwehr, die sich dadurch auszeichnet, dass das Ausblenden bzw. verzerrte Thematisieren eines Sachverhaltes nur in der einen Interviewkonstellation vorkommt und in ihrer Komplexität erst durch den Vergleich der Interviewtexte untereinander zum Vorschein tritt. Anders ausgedrückt: Es gibt Themen, Informationen, Sachverhalte etc., die vom Subjekt konstant und ‚unabhängig’ von der jeweiligen Interaktionssituation abgewehrt werden, und es gibt wiederum andere, die – aus welchen, noch zu erschließenden Gründen auch immer – nur im spezifischen Interaktionsgefüge einer bestimmten Gesprächssituation abgewehrt werden. Stellt das Interpret(inn)enteam bei vergleichender Durchsicht der Interviewtexte fest, dass zwischen ihnen Abweichungen oder gar Diskrepanzen (widersprüchliche Argumentationsmuster, thematische Brüche, verzerrte Darstellungen gleicher Sachverhalte etc.) vorliegen, so besteht dessen Aufgabe nicht darin, die Texte ‚gegeneinander auszuspielen’, um den Wahrheitsgehalt der Aussagen zu überprüfen. Die Art des Umgangs mit beiden Texten soll von der einfachen Prämisse geleitet sein, dass zwei Texte mehr sind als nur einer, und dass es deshalb darum geht, die verschiedenen Formen der Selbstdarstellung der
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interviewten Personen in den zwei Interaktionsräumen als komplementär zueinander aufzufassen und für den Interpretationsprozess fruchtbar zu machen. Über das Textmaterial hinausweisende Fragen wären in diesem Zusammenhang z.B. folgende: (Warum) Ist es für die interviewte Person subjektiv funktional, so zu argumentieren? Welchen sekundären Gewinn zieht sie aus der unterschiedlichen Thematisierung bestimmter Sachverhalte? Verraten die beobachteten Muster der Thematisierungsabwehr etwas über die Art und Weise, wie die Person ihre Wirklichkeit konstruiert? Und umgekehrt vor dem Hintergrund der Interpretationen aus der Handlungsanalyse zurück zum Detail: Lassen sich die Lebensorientierungen an dem ursprünglichen Interviewmaterial wiedererkennen? Lassen sich die in den Interviews beobachteten Muster der Thematisierungsabwehr vor dem Hintergrund der herausgearbeiteten Regeln der subjektiven Wirklichkeitskonstruktion besser erklären? Zum argumentativen Rückkoppelungsgespräch: Eine besonders sensible Angelegenheit stellt das Thematisieren von Erkenntnissen dar, die aus zwei unterschiedlichen Interviewtexten und deren vergleichender Analyse abgeleitet wurden. Diskontinuitäten, thematische und argumentative Abweichungen und Diskrepanzen innerhalb eines Textes, oder sogar zwischen Texten aus Interviews, welche durch eine befragende Person (so z.B. bei Gesprächen, die zu unterschiedlichen Zeitpunkten stattgefunden haben) durchgeführt wurden, können in Nachgesprächen leichter angesprochen werden, als Beobachtungen und Interpretationen, die aus der Analyse von Interviewtranskripten zweier unterschiedlicher Gesprächspartner-Konstellationen hervorgegangen sind. Umso wichtiger ist es dann, die interviewte Person über die genaue Zielsetzung und Vorgehensweise des Nachgesprächs aufzuklären, um ein gemeinsames Interesse (vgl. Kempf 2008) an diesem Gespräch herauszubilden. Es erscheint ferner zweckmäßig, das argumentative Rückkoppelungsgespräch zunächst mit einer offenen Frage (z.B. mit der Bitte, die Geschichte zum Thema X noch einmal zu erzählen) zu beginnen. Voraussetzungen und Grenzen der Durchführbarkeit: Die Tatsache des hohen Zeitaufwandes für die Realisierung dieses methodischen Zugangs stellt ein erstes nicht unbedeutendes Problem dar. Eine weitere Schwierigkeit ist grundsätzlicherer Art und betrifft den Begründungszusammenhang des gewählten methodischen Zugangs und Untersuchungsdesigns gegenüber den Betroffenen. Zwar konnte in der von uns durchgeführten Untersuchung die Bereitschaft der interviewten Personen gewonnen werden, an mehreren Interviews mit unterschiedlichen befragenden Personen – die von den Migranten als besonders interessierte, aufgeschlossene und lernbereite Student(inn)en wahrgenommen wurden – aktiv mitzuwirken, doch kann die Bekundung der Absicht, dass bei einer Be-
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fragung sogar zwei befragende Personen unterschiedlicher Ethnizität eingesetzt werden, Misstrauen und Abwehrmechanismen auslösen. Aufhebung der Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem im Interview: Bewegt man sich bei dem Interpretationsprozess des qualitativ gewonnen Datenmaterials in einem Begründungsdiskurs (vgl. Holzkamp 1993), d.h. ist man bestrebt, Hypothesen über subjektiven Handlungsprämissen der Subjekte aufzustellen und empirisch zu überprüfen, so zielt man notwendigerweise auf kontextbezogene Handlungsbeschreibungen ab, um die Lebensorientierungen der Subjekte erfassen zu können. Interpretationen, die den Gesamtzusammenhang menschlichen Handelns nicht in Rechung stellen, laufen Gefahr, einseitig zu bleiben und lediglich Annahmen der interpretierenden Person wiederzugeben und zirkulär zu bestätigen. Für die Datengewinnung in interkulturellen Studien ist die Aufhebung der Trennung zwischen Öffentlichem und Privaten (vgl. Kempf 1987) von entscheidender Bedeutung, denn die Preisgabe von privater und subjektiver Realität ist für die Erfassung von Lebensorientierungen in ihrer gesellschaftlichen Vermitteltheit von entscheidender Bedeutung. Literatur Auernheimer, Georg (2004): Interkulturelles Lernen und Handeln. In: Sommer/Fuchs (2004): 620632. Baros, Wassilios (2001): Familien in der Migration. Frankfurt/M.: Lang Baros, Wassilios (2004): Konfliktbegriff, Konfliktkomponenten, Konfliktstrategien. In: Sommer/Fuchs (2004): 208-221. Baros, Wassilios (2008): Bildung und Überprüfung von Hypothesen in der Migrationsforschung. Zum Verwertungszusammenhang von wissenschaftlichen Erkenntnissen am Beispiel des NeoAssimilationsansatzes in der Bilingualismusdebatte. In: conflict & communication online 2008. 2, 7. Baros, Wassilios/Reetz, Klaus-Dieter: Sozialpsychologische Rekonstruktion und empirische Migrationsforschung. In: conflict & communication online 2002. 1, 2. Bateson, Gregory. (1972): Steps to an Ecology of Mind. London: Intertext Bender-Szymanski, Dorothea/Hesse, Herrmann-Günther (1987): Migrantenforschung. Eine kritische Analyse deutschsprachiger empirischer Untersuchungen aus psychologischer Sicht. Köln: Böhlau. Bommes, Michael (1996): Die Beobachtung von Kultur. Die Festschreibung von Ethnizität in der bundesdeutschen Migrationsforschung mit qualitativen Methoden. In: Klingemann et. al. (1996): 205-226. Brandtstädter, Jochen (Hrsg.) (1987): Struktur und Erfahrung in der psychologischen Forschung. Berlin: de Gruyter. Brednich, Rolf Wilhelm / Lixfeld, Hannjost / Moser, Dietz-Rüdiger/ Röhrich, Lutz (Hrsg.) (1982): Lebenslauf und Lebenszusammenhang. Autobiographische Materialien in der volkskundlichen Forschung. Freiburg i. Br.: Abt. Volkskunde des Dt. Seminars der Universität Freiburg. Bukow, Wolf-Dietrich/Ottersbach, Markus (Hrsg.) (1999): Die Fundamentalismusdebatte: Opladen: Leske & Budrich.
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Jörg Hagedorn
Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung – Über die Schwierigkeit, die Einheit in der Differenz zu denken
„Es genügt eben nicht zu rufen: Hoch lebe das Viele! So schwer es auch sein mag, diesen Schrei auszustoßen“ (Deleuze& Guattari 1977) In den Beiträgen, die in diesem Band versammelt sind, wurde Heterogenität entlang der Dimensionen Geschlecht, kulturelle und soziale Herkunft sowie Familie und Schule diskutiert. Die Autorinnen und Autoren setzen sich auf je spezifische Weise mit der Fragestellung auseinander, wie gesellschaftliche, familiale und schulische Wandlungsprozesse einerseits, sowie die hierdurch entstehenden Diversifikationen andererseits im Kontext von Familie und Schule als auch im Bezug auf das Geschlecht und die Herkunft bildungstheoretisch einzudenken, zu verstehen und zu handhaben wären. Diese Suchbewegungen sind durch die Grund gebende Erkenntnis motiviert, dass Bildungs- und Aufwachsprozesse von Heranwachsenden in diesem Lande keiner homogenen Geltungsgrundlage unterliegen, sondern auf je unterschiedliche, vielfältige eben heterogene Weise prozesslogisch eingespannt, ja teilweise sogar festgelegt und also vorgezeichnet sind. Ganz zu Recht ist diese Diskussion eingewoben in die Fragestellung um soziale Gerechtigkeit und Ungleichheit, sowie um gleich und ungleich verteilte Bildungschancen. Gleichzeitig zeigen diese Diskussionen aber auch, dass Heterogenität nicht vorschnell als Verhinderer von Einheit pathologisiert werden darf, sondern hierin auch Potenziale ruhen, die darin liegen, dass Dichotomisierungen, starre Codierungen und Homogenisierungen im Verstehen und in der Gestaltung von Bildungs- und Aufwachsprozessen aufgebrochen werden können.
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Die Auseinandersetzung mit Heterogenität sollte auch dazu einladen, ein metaphysisches Einheits- und Ursprungsdenken zumindest zu irritieren (vgl. Welsch 1996, S. 357). Und dies ganz im Sinne der je individuellen (Bildungs-) Biographie, indem nunmehr das Subjekt mit seiner ganz spezifischen kulturellen, sozialen, familialen und schulischen Eingebundenheit und Ausstattung ins Blickfeld gerät und konsequenter danach geschaut werden kann und sollte, über welche konkreten (!) Bildungspotenziale ein junger Mensch oder eine Gruppe verfügt und wie je unterschiedliche und vielfältige Ausstattungen und Ausprägungen zu begründen und gegebenenfalls auszugleichen wären. Ich werde im Folgenden und im Durchgang durch einzelne Beiträge dieses Bandes – ohne den Anspruch auf Vollständigkeit – versuchen generalisierend zu bündeln, welche Diagnosen und Implikationen im Begriff Heterogenität auszumachen sind. Gleichzeitig werde ich einige erkenntnistheoretische Interpretationen anbieten, die eher als ein Reflexionswissen fungieren, als dass sie konkrete Handlungsanweisungen geben könnten. In einem zweiten Schritt – der sich im Folgenden nicht immer chronologisch vom ersten Schritt trennen lassen wird – werde ich in Anlehnung an Deleuze & Guattari (2005) und Welsch (1996) den Begriff der Heterogenität in eine ‚Theorie der Vielheiten’ zu stellen versuchen und für eine rhizomatische Denkform im (begriffstheoretischen) Verstehen und der Handhabung von Heterogenität plädieren. 1
Heterogenität als Problemfeld der Dichotomie von Einheit und Differenz
Im ganz allgemeinen Modus bedeutet die Diskussion um den Begriff Heterogenität die Auseinandersetzung mit der Dichotomie von Einheit und Differenz. Man könnte sagen, Heterogenität verweist auf jene Kriterien, die einerseits das Eine von dem Anderen differenzierbar machen und die andererseits aber auch nach Gemeinsamkeiten und Berührungspunkten, etwa in Bezug auf eine gemeinsame Wesenseigenschaft, Identität o.ä. zwischen dem Einen gegenüber dem Anderen fragen. D.h. wenn wir uns mit dem Begriff Heterogenität auseinandersetzen, fragen wir gleichzeitig nach den Unterschieden, die eine Person oder Gruppe im Vergleich zu einer jeweils anderen besitzt, in Bezug auf eine Kategorie oder ein Kriterium, das jeweils im Fokus der Betrachtung steht. Dies wiederum bedeutet, dass wir immer einen Vergleich anstellen – auch wenn wir nach Gemeinsamkeiten suchen. Etwa den Vergleich zwischen Frauen und Männern, Armen und Reichen, ausländischen und inländischen Jugendlichen usw. D.h. den Vergleich aber auch die Suche nach Schnittstellen zwischen solchen Gegensätz-
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lichkeit stellen wir vor dem Hintergrund einer spezifischen Kategorie oder eines spezifischen Kriteriums an. Dies kann also das Geschlecht, die soziale/ökonomische Situiertheit oder etwa die soziale oder kulturelle Herkunft eines Menschen sein. Lang, Grittner, Rehle & Hartinger (2009; in diesem Band) verweisen darauf, dass Heterogenität selbst, aber auch die Eigenschaften auf die dieser Begriff verweist, nie absolut ist/sind, sondern relativ: Alles was mit und durch Heterogenität bezeichnet und bedeutet wird und was auf Einheit oder Differenz, Gemeinsamkeiten oder Unterschiede, Gleiches und Anderes verweist, ist nur interessant und überhaupt existent vor dem Hintergrund der Kategorie, vor deren Hintergrund wir es konstruieren, betrachten und diskutieren (vgl. ebd., S. 377). Wir würden uns bspw. nicht für die Bildungsprozesse von Jungen und Mädchen interessieren und uns diesen Bildungsprozessen empirisch nähern, wenn die erziehungswissenschaftliche Sozialisationsforschung nicht erkannt hätte, dass jene Bildungs- und Aufwachsprozesse nicht zuletzt vor dem Hintergrund wirkmächtiger Konstruktionen und Stereotypisierungen geschlechtsspezifisch jeweils differenziert sich ausgestalten (vgl. Macha 2009; Breitenbach 2009; HagemannWhite 2009; Hirschauer & Kullmann 2009; alle in diesem Band). Heterogenität bezeichnet so ein Problemfeld, das sich mit askriptiven Merkmalen (Geschlecht, kulturelle oder soziale Herkunft etc.) auseinandersetzt, die für die Bildungsprozesse von Heranwachsenden von Bedeutung sind. Macha (2009) gibt zu bedenken, dass es eben diese askriptiven Merkmale sind, die Bildungs- und Aufwachsprozesse von Kindern und Jugendlichen insofern beeinflussen, als über solche Merkmale Selektion im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt stattfindet und also systematisch Ungleichheiten in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe (re-)produziert werden (vgl. ebd., S. 217f.; dazu auch: Schurt & Waburg 2009; in diesem Band). Die zentrale Konsequenz, auf die die Diskussion um Heterogenität und Bildungserfolg dabei problemfokussiert, ist folgende: „Wichtige Bildungsreserven bleiben […] ungenutzt, wenn nicht die Potenziale der Lernenden berücksichtigt werden, sondern nach Geschlecht und sozialer/ethnischer Herkunft selektiert wird“ (Macha 2009, S. 218 in diesem Band). Folgerichtig muss also in den heterogenen Feldern, Kontexten und Handlungspraxen die Frage nach den einzelfall- oder gruppenspezifischen Bildungspotenzialen gestellt werden; diese müssen von den konkreten Personen und Gruppen abgeholt werden, es müssen komplexe adressatenbezogene Fragen gestellt und Antworten gefunden werden, die der sozialen Wirklichkeit in den spezifischen lebensweltlichen Kontexten mit samt ihren individuellen Ausstattungspotenzialen gerecht werden. Gelegentlich sind unsere Sichtweisen und Deutungen aber vernebelt von Konstruktionen und Bestand erhaltenden Stereotypisierungen, die eine Ordnung der Dinge unterstellen. D.h. Merkmalsausprägungen, Wesenseigenschaft und
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daraus abgeleitete (Bildungs-)Potenziale einer Person oder Gruppe werden nicht aus dem Fall heraus verstanden. Gerade solche Stereotypisierungen, die etwa eine Vorstellung oder ein Bild von Geschlecht, Ethnizität u.a. konstruieren und aufrechterhalten, funktionieren als ‚Bilder in unseren Köpfen’ (Hirschauer & Kullmann 2009, S. 352 in diesem Band). Sie unterstellen eine homogene Ordnung dort, wo sie „die Wahrnehmung und Kognition [erleichtern], indem sie es ermöglichen, Menschen bestimmten Kategorien zuzuordnen und damit abzuschätzen, was von ihnen zu erwarten ist“ (ebd., S. 352). Mit solchen Stereotypisierungen sind selbstverständlich Homogenisierungen verbunden, denn „Eigenschaften oder (äußere) Merkmale der Person rufen bestimmte Erwartungen und Bilder hervor, aktivieren also bestimmte Stereotype, und beeinflussen so die Wahrnehmung. Dies führt mitunter dazu, dass die Person nur noch als Mitglied ihrer Gruppe und nicht als Individuum gesehen wird“ (ebd., S. 352). Das Individuum wird also als Mitglied einer natürlichen oder konstruierten Gruppe als Träger gemeinhin ‚typischer’ Merkmale und Weseneigenschaften übercodiert, seine Individualität, seine individuellen Voraussetzungen, Möglichkeiten und Potenziale treten hinter diesen Code zurück, der als Stereotyp funktioniert. Diese oder jene Voraussetzungen, Möglichkeiten und Potenziale werden unterstellt oder gar abgesprochen und können gegebenenfalls mit der sozialen Realität des Einzelfalls gar nichts gemein haben. So entstehen „Erwartungseffekte im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung“ (ebd., S. 355), die als sogenannte Übercodierung deutungs-, entscheidungs- und gegebenenfalls identitäts- und handlungswirksam werden. D.h. solche Stereotypisierungen können dazu führen, dass eine Person oder Gruppe selbst nicht mehr nach den je eigenen individuellen Fähigkeiten handelt und/oder das eigene Selbst sich gar nicht mehr nach den je individuellen Fähigkeiten und Potenzialen befragt, sondern den zugewiesenen Code performativ und/oder identifikatorisch handlungswirksam werden lässt (dazu ausführlich: Hoffarth & Diehm 2009, S. 89ff. in diesem Band). Hier entfaltet Benachteiligung und Ungleichheit eine dramatische Wirkung, denn das Subjekt ist nicht mehr Subjekt, sondern wird zur Übercodierungsmaschine seiner selbst! Heterogenität verweist diesbezüglich auf einen Problemaufriss, der auf Individualität einerseits und auf Pluralität als Summe der versammelten Individualität andererseits rekurriert, dem Lehrende – folgt man Hirschauer und Kullmann weiter – in schulischen Handlungspraxen professionell gerecht werden müssen, wollen sie selbst nicht zu solchen Übercodierungsmaschinen werden und somit jeden Professionalitätsanspruch im Lehrerhandeln aufgeben, der sich am Bildungsauftrag auch als Förderung individueller Bildungspotenziale zu orientieren hat. Heterogenitätsorientiertes professionelles Lehrerhandeln hieße in diesem Zusammenhang, sich als Lehrende und Lehrender mit Fragen sprachlich-kultu-
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reller, ethnischer und nationaler, mit Fragen von Pluralität, Differenz und Gleichheit auseinanderzusetzen (vgl. ebd., S. 352) und in einen kooperativen reflexiven Verständigungs- und Vergewisserungsprozess einzutreten, der heterogenitätsorientierten Angemessenheitsurteilen zu folgen hat (vgl. ebd., S. 353ff.). Diesen Selbstaktivierungspotenzialen im Umgang mit Heterogenität, die Hirschauer und Kullmann im Zusammenhang von Lehrerkooperation als ‚DePrivatisierung des Unterrichts’ ausmachen (vgl. ebd., S. 360), folgt BenderSzymanski (2009; in diesem Band) im schulischen Kontext auf der Ebene der Schülerinnen und Schüler und in der Frage nach dem Umgang mit weltanschaulicher Heterogenität (vgl. ebd.). Der Kern dieser Ausführungen liegt in der Betrachtung der Handlungsebene, auf der Heterogenität nicht nur einen Problemaufriss bezeichnet, sondern handlungspraktische ‚Lösungsentwürfe’ im Sinne einer konstruktiven Wende anbietet. Ähnlich wie Hirschauer und Kullmann die Potenziale heterogenitätsorientierten professionellen Lehrerhandelns zu einer performativ zu handhabenden Angelegenheit machen, indem die Vermeidung der (Re-)Produktion von Stereotypen in einen kooperativen handlungspraktischen Vergewisserungshaushalt zu stellen ist (Multiplikation von Erfahrungen und Wissensbeständen, gegenseitige Beobachtung und Beratung als Motor für reflexive Reproduktion und begründete Innovation), wird auch in den Ausführungen von Bender-Szymanski deutlich, dass eine Veränderung einerseits oder eine begründete Sicherung der eigenen Einstellungen und Meinungen zu kultureller bzw. ethnischer Heterogenität andererseits sich am ehesten und am besten performativ herleiten lässt, ganz so wie es Deleuze und Guattari (1977) meinen, wenn sie sagen „Das Viele muß man machen“ (ebd., S. 11; zitiert nach Welsch 1996, S. 358; Hervorhebung im Original). Dies meint hier die performativ-interaktive Generierung interkultureller Kompetenz, was bedeutet, dass Schülerinnen und Schüler – hier mittels konkreter LehrLernsequenz – dazu angehalten und befähigt werden, eine Rollenübernahme und einen Perspektivenwechsel vorzunehmen, die/der zu einer Erweiterung des eigenen Blickwinkels in Bezug auf eine ganz konkrete (!) Situation führt. Lerneffekte wären folglich darin auszumachen, „die eigene Entscheidung kraft überzeugenderer Argumente während einer Sequenz mehrfach geändert [zu haben] und [darin, dass] man gelernt habe, Kompromisse einzugehen“ (Bender-Szymanski 2009; S. 277). Ganz im Chomsky’schen Sinne wird hier also eine Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz aufgemacht. Es zeigt sich, dass die Kompetenz, Geltungsansprüche in Bezug auf die Herleitung und Begründung je eigener Deutungen, Sichtweisen und Meinungen im Umgang mit Vielheit in kulturell verankerten Weltanschauungen zu erheben, sich nicht im luftleeren Raum starrer Behaup-
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tungen, Stereotypisierungen oder Codierungen generiert, sondern eine diesbezügliche Kompetenz am ehesten performativ zur Anwendung kommt und erst so einen Wissenszuwachs bedingen kann: „Wenn sich interreligiös –interkulturelle Kompetenz immer auch und gerade in spezifischen in spezifischen Situationen [performativ] manifestiert, dann ist angesichts der empirischen Befunde begründet anzunehmen, dass die Lehr-Lernsequenz zu einem verstärkten (selbst)reflexiven Handeln in interreligiös-interkulturellen Interaktionen beitragen kann“ (ebd., S. 292). Der Frage danach, welche Potenziale heterogenitätsorientierter Unterricht in Schulen bereithalten kann, stellen sich die Beiträge von Budde (2009; in diesem Band) auf der Ebene der Schülerschaft und von Lang u.a. (2009) auf der Ebene der Lehrerschaft. Lang u.a. warnen diesbezüglich ganz entschieden vor einer Idealisierung von Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht, die in der Gefahr stünde, unkritisch auf den guten Willen der Lehrer/innen zu verpflichten (vgl. ebd., S. 318). Vielmehr müssen schulorganisatorische Rahmenbedingungen so gestaltet werden, dass sie der Heterogenität in Schule und Unterricht gerecht werden und zu einer kritischen Reflexion subjektiver Theorien von Lehrenden führen. Der jahrgangsübergreifende Unterricht könnte so schließlich eine Möglichkeit schulorganisatorischer Gestaltung von Heterogenität in Schule und Unterricht sein. Aus ihren Untersuchungen geht jedoch hervor, dass die Einstellungen und der Umgang von Lehrenden zu Heterogenität stark mit der jeweiligen Berufserfahrung korrelieren und dass die Erfahrungen im jahrgangsgemischten Unterricht eher eine differenzbezogene Sicht des Lehrpersonals in Bezug auf Heterogenität hervorrufen. Dem stünde eine normbezogene und Homogenisierung favorisierende Sichtweise gegenüber, die wiederum von denjenigen Lehrerinnen und Lehrern vertreten wird, die über weniger Erfahrungen im jahrgangsgemischten Unterricht verfügen. Heterogenität wird im Schul- und Unterrichtsalltag ebenso als Belastung empfunden, wie sie Potenziale für schulorganisatorische Neugestaltungen bereithalten kann. Je größer nun diese Verunsicherungen und Irritationen werden, desto größer wird die Gefahr, dass (irgendwie auch unumgängliche) Homogenisierungen favorisiert werden, die den Blick für das Individuelle in Bildungsprozessen verlieren. Budde (2009) markiert vor dem Hintergrund einer empirischen Untersuchung der Ganztagsschule St. Pauli drei zentrale Heterogenitätsdimensionen, die zumindest an dieser Schule wirksam werden: erstens den jahrgangs- und fächerübergreifenden Unterricht, zweitens die Dimension „Leistung“ sowie drittens die Dimension „Geschlecht“. Bemerkenswert sei an der GTS St. Pauli, dass im Gegensatz zu Schule im Allgemeinen, die lange Zeit darum bemüht war „Vergleichbarkeit ihrer Schülerschaft durch Homogenisierung und Normierung herzustellen“, die GTS St. Pauli hier die Ziele umdreht, „indem eine starke Hetero-
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genitätsorientierung mit großen individuellen Gestaltungsmöglichkeiten und Eigenverantwortlichkeiten einhergehen soll“ (ebd., S. 299). Entlang der genannten Dimensionen macht Budde verschiedene positive und negative Effekte von Heterogenität aus (vgl. ebd., S. 307) und verweist in Bezug auf die Dimension Geschlecht auf zentrale Differenzen zwischen Jungen und Mädchen (vgl. ebd., S. 308). Auffallend sei hier insgesamt die positive Rückmeldung zur Altersheterogenität. So biete der jahrgangsübergreifende Projektunterricht in den Lernbereichen vor allem für Jungen und für die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler erkennbare Potenziale für die Steigerung der Motivation (vgl. ebd., S. 310). Insgesamt ließen sich positive Rückmeldungen zur hinzugewonnenen Eigenverantwortung, Selbstregulierung und Differenziertheit ausmachen (vgl. ebd. S. 310). Auszublenden sei diesbezüglich aber nicht, dass auf Seiten der Schülerinnen und Schüler „sich mit dem Alter zunehmend die kritischen Stimmen [mehren] (ebd. S. 311). So ist bedeutsam, „dass es die SchülerInnen zwar positiv finden, mit anderen zusammenzuarbeiten, aber nicht auf den vertrauten Rahmen der Klasse verzichten wollen“ (ebd. S. 311). Zu übersehen ist diesbezüglich also nicht, dass auch auf Seiten der Schülerschaft im Kontext von Schule Homogenisierungswünsche bestehen bleiben, bei gleichzeitiger positiver Rückmeldung zu Heterogenitätsorientierungen, die ihrerseits auch immer die Gefahr der Überforderungen und Belastungen bereithalten. Es wird deutlich, dass sowohl auf der Seite der Lehrerinnen und Lehrer wie auch auf der Seite der Schülerinnen und Schüler zwar eine Heterogenitätsorientierung auszumachen ist, die jedoch nicht ohne den ‚Rückfall’ in Homogenisierungsabsichten und -wünsche auskommt. So entsteht ein eigentümliches Schweben zwischen performativ gemachter Heterogenität einerseits und schulstruktureller bzw. -organisatorischer Homogenisierung andererseits. Es sollte bis hierher deutlich geworden sein, dass Heterogenität beides gleichzeitig ist: Problemfeld und Gestaltungsdimension, die beidseitig in die Dichotomie von Einheit und Differenz gestellt ist. Eingespannt ist dies in Pluralisierungsund Individualisierungsprozesse, die in den Bildungsprozessen Heranwachwachsender zum Ausdruck kommen und mit berücksichtigt werden müssen. Hieraus entsteht eine Figur, die ihre Wesenseigenschaft in den Dichotomien von Homogenisierung vs. Heterogenität, Einheit vs. Differenz, Monismus vs. Pluralismus etc. findet. Auffällig ist, dass gerade dort, wo Potenziale von Heterogenitätsorientierungen auszumachen sind, zumindest tendenziell gleichzeitig ein ‚Rückfall’ in die Insignien von Homogenisierung stattfindet. Dort, wo Heterogenität ein Einheits- und Ursprungsdenken irritiert, wächst die Angst vor Vielheit und Differenz – die offensichtlich als Un-Ordnung wahrgenommen wird – und damit
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verbunden der Wunsch nach der Sicherheit von Homogenisierung und Separierung. Im Kontext von Schule verwundert dies nicht weiter, denn Schule ist strukturlogisch auf Universalisierung, Homogenisierung und Separierung codiert. Heterogenitätsorientierungen können diese Strukturmomente von Schule irritieren und einen an homogenisierenden Standards orientierten Bildungsauftrag aufstören und die beteiligten Akteure vielleicht nicht gleich überfordern, zumindest aber verunsichern. Trotzdem: Wir kommen an den individuellen Dispositionen, die sich zu einer heterogenen Gemengelage verdichten, nicht vorbei. Dies kann einstweilen zu ganz bizarren Verwandlungen der Begriffe Heterogenität und Homogenität selbst führen. Der Beitrag von 267 (2009; in diesem Band) insistiert ganz entschieden darauf, dass eine ausbleibende Durchdringung dessen, was Vielheit bzw. Heterogenität hier im Kontext von Familie als soziale Realität bedeutet, gerade zum Gegenteil führen kann, nämlich zu einer bizarren Homogenisierung von Heterogenität vor dem Hintergrund eines unterstellten (!) homogenen Ursprungs (von Familie als einstmalige Großfamilie). Matthes zeigt auf, dass gerade die modern gewordene und eher populärwissenschaftlich motivierte Hysterie und Angst vor dem Verfall der vermeintlich dagewesenen Großfamilie in ihrer Entwicklung hin zu höchst heterogenen Formen familialer Lebensformen nicht nur die historischen und empirischen Tatsachen verkehrt. Darüber hinaus wird gerade jene wissenschaftlich auszumachende Heterogenität von Familienformen in einem Katastrophendenken, das sich von der Wirklichkeit wegbewegt und im unterstellten Konstrukt des Zerfalls der Groß- bzw. Kernfamilie Heterogenität streng genommen homogenisiert, das eigentliche dessen, was Heterogenität von Familienformen in der modernen Welt kennzeichnet, konterkariert. Man kann den Impetus, der in den von Matthes untersuchten Schulbüchern zur Vermittlung eines ‚modernen’ Bildes von Familie eigentlich so zusammenfassen: Allen (in den Schulbüchern mühsam aufgezeigten) modernen heterogenen Familienformen ist gemein, dass sie den Verlust der (homogenen) Großfamilie bedeuten (das ist eine (re-)territorialisierende Homogenisierung von Heterogenität!). Matthes verweist nachdrücklich darauf, dass hierbei die Heterogenität dessen, was mit Familie gar nichts zu tun hat, nämlich die Heterogenität so genannter nicht-familialer Lebensformen aus der Diskussion einstweilen nicht mehr herausgehalten wird. Hierdurch würde ein völlig konturloses Bild von Familie transportiert und ein (eigentlich nie wirklich dagewesenes) Bild der Familie als Großfamilie unkritisch und wirklichkeitsfremd idealisiert. Es wird auf sehr interessante Weise deutlich, wie die Bilder in unseren Köpfen ihren Fortbestand im Sinne von Ursprungsbildern als vermeintliche Ordnungen sichern, wenn wir soziale Phänomene als starre soziale Gebilde annehmen. Einstweilen wird so getan, als ob die Dinge, Prozesse, Strukturen und Phänomene immer einen (homo-
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genen) Ursprung besitzen würden, so, als ob die Dinge „auf eine Herkunft von allem aus einem einheitlichen Ursprung, einer arche, einem ersten Grund“ (Welsch 1996, S. 357) verweisen. Hier trifft niemanden die Schuld, sondern dies ist – will man Welsch folgen – unserem metaphysischen Ursprungsdenken geschuldet, das immer auf der Suche nach einem homogenen Geltungsgrund (Geschlecht als arche von männlich/weiblich; Familie als arche von familial/nicht-familial, Herkunft als arche von ‚bildungsnah’/’bildungsfern’; Bildung als arche von formeller und informeller Bildung usw.) auf der Suche ist. Verlängert man diese These, würde dies in aller Konsequenz bedeuten, dass wir die Prozesse und Problemfelder, die wir mit dem Begriff Heterogenität bezeichnen wollen, nie wirklich in einer solchen Denkform verstehen können, da wir sie, diesem ersten Grund entsprechend, stets wieder homogenisieren. Diese Form der Auseinandersetzung mit Differenz folge schließlich aus und führe letztendlich immer wieder zu Einheit und erkläre folgerichtig Differenz und Heterogenität gar nicht, perpetuiere und verheddere sich also in reinen Pluralisierungsbekundungen selbst. Vielheit würde zwar ausgemacht, in der letzten ‚reinen’ Konsequenz jedoch nicht wirklich verstanden. 1.1
Heterogenität I. Ordnung
Ich möchte meine bisherigen Ausführungen zusammenfassen und in diesem Teil schließlich in einen Entwurf von Heterogenität I. Ordnung überführen. Im Durchgang durch ausgewählte Beiträge dieses Bandes sollte deutlich geworden sein, dass Heterogenität in verschiedenen gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten (hier Schule und Familie) entlang verschiedener Dimensionen (Alter, Geschlecht, kulturelle und soziale Herkunft) sich der Frage nach Vielheit in Bildungs- und Aufwachsprozessen hinwendet und dabei dafür plädiert, die individuellen Dispositionen der heterogenen Situiertheit der EducandInnen zu berücksichtigen, um der gerechten Verteilung von Bildungschancen in diesem Lande gerecht zu werden. Diesbezüglich ist vonnöten, die jeweils bestehenden Diversitäten in Aufwachs- und Bildungsprozessen von jungen Heranwachsenden zu kennen, um solche Prozesse nach ihnen ausrichten zu können. Es muss also dieser Logik I. Ordnung von Heterogenität darum gehen, Homogenitäten zu hinterfragen bzw. kritisch aufzustören, wo sie die Entfaltung und Förderung individueller Potenzialitäten in Bildungsprozessen behindern. Insbesondere Organisationsstrukturen und institutionelle Rahmenbedingungen (vor allem in Schule) sind so zu gestalten, dass Heterogenität nicht länger nur als Störfaktor oder Hemmungsphänomen in solchen auf Homogenität eingestellten Unterrichtspra-
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xen bestehen bleibt und zu Verunsicherungen und Belastungen führt, sondern Heterogenität konstruktiv zu wenden ist. Und zwar so, dass sie ihr Potenzial für Lehr-Lernprozesse im Sinne neuer Erfahrungs- und Wissensbestände performativ und handlungswirksam entfalten kann und gegebenenfalls zu selbstbewusster Heterogenitätsorientierung bzw. zu Heterogenitätskompetenz führt. Heterogenität I. Ordnung trägt also einen Justierungscharakter in sich, der die Differenzen des jeweils Einen gegenüber dem Anderen kompensieren und ausgleichen soll. Es muss aber klar sein, dass man hier Dichotomien, die sich zu Hegemonialgewalten verdichten können, nie aus der Debatte bekommen wird, da das eine jeweils Stärkere dem jeweils anderen vermeintlich Schwächeren immer Vorbild/Standard stehen wird. Mit anderen Worten: Heterogenität I. Ordnung wendet sich der Individualität und Pluralität hin, um Homogenität in seinen mehr oder weniger starren Codierungen, Kategorisierungen und Stereotypisierungen aufzustören ohne aber – und das ist entscheidend – selbst von eben dieser Homogenisierung frei zu sein. Heterogenität I. Ordnung ist erstens einem strukturalistischen metaphysischen Denken treu, das in der Vielheit der Dinge und in letzter Konsequenz dennoch den homogenen Geltungsgrund (etwa das Geschlecht in Bezug auf die Kategorisierung/Codierung von Männlich und Weiblich) als Ursprung der Vielheit aufrechterhält bzw. weiterhin annimmt. Heterogenität I. Ordnung koaliert zweitens aber auch mit einer modernistischen Deutung von Vielheit, die Vielheit als Buntheit und als einen weit tragenden Pluralismus fehl interpretiert. Um nicht falsch verstanden zu werden: Dies ist keine Frage nach irgendwelcher Schuld, sondern die nach der Logik der Ordnung der Dinge zueinander, der wir folgen, weil wir sie so oder so codiert annehmen. Das Männliche wie das Weibliche bleibt jeweils für sich ein homogenisierender und Differenz betonender Monismus selbst im hervorgeholten Dunstkreis eines heterogenitätsmeinenden Pluralismus, weil der Ursprung des Weiblichen wie des Männlichen als das Geschlecht (als arche des Männlichen und Weiblichen) angenommen und aufrechterhalten wird. Solange wir also in diesem metaphysischen Denken erkenntnistheoretisch (und begriffstheoretisch) bewegen, wird das Männliche mit dem Weiblichen nie zusammengedacht werden können, sondern immer auf Differenzen des Männlichen gegenüber dem Weiblichen (und andersrum) verweisen, was streng genommen nie wirklich frei von Homogenisierungen und damit verbunden von jenen Ungleichheiten sein wird, auf die wir gerade in der Diskussion um Heterogenität doch eigentlich kritisch verweisen wollen. Ein Monismus wäre das Männliche oder das Weibliche erst dann nicht mehr, wenn das, was das Männliche und das Weibliche eigentlich seinem Wesen nach ist, ohne sein zu müssen, was es sein soll in Bezug auf und in Differenz zu dem, was das jeweils (ausgelagerte) Andere (also das Weibliche gegenüber dem
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Männlichen und andersrum) ihm zuweist und gestattet. Heterogenität und also Vielheit würde diese I. Ordnung erst dort überschreiten, wo sie einer Denklogik folgt, in der Einheit und Differenz, Heterogenität und Homogenität, das Eine und das Andere nicht mehr als Paradoxien, Dichotomien und Dualismen definiert und wahrnimmt, sondern in Eins zusammen gedacht wird: das Rhizom!1 2
Heterogenität als Ausweg aus der Dichotomie von Einheit und Differenz – rhizomatisches Denken vorausgesetzt
Ich möchte nun in der Bezeichnung und Analyse dessen, was Heterogenität meint ist, die Ebene metaphysischen Einheits- und Ursprungsdenkens verlassen und in Anlehnung an Deleuze und Guattari (2005) und im Schulterschluss mit Welsch (1996) in eine rhizomatische Denklogik überführen. Heterogenität wird hier zu einer Angelegenheit, die die Dichotomie von Einheit und Differenz aufhebt. Ich gehe hier nicht mehr von der Setzung eines Verständnisses von Heterogenität aus, das sich an Individualität und an Pluralismus orientiert und unterstellt, die Dinge würden sich im Verlaufe der Zeit, in dem was sie ontologisch (geworden/gewesen) sind, geändert haben, sich also von dem Einen weg bewegt und zu dem Anderen hin entwickelt haben. Folgerichtig wird diesem Denken folgend Heterogenität nicht verstanden als Verlust oder Unterschied des Einen gegenüber dem Anderen, sondern Heterogenität meint hier eine Vielheit, die einen vermeintlichen Zerfall von Ortsbeständigkeiten (etwa in Bezug auf Familie als Verlust der Großfamilie) verneint, sondern ein Denken zugrunde legt, das immer einen in sich verschlungenen Prozess der Territorialisierung/Codierung etwa von Familie bei ihrer gleichzeitigen Deterritorialisierung/Decodierung bezeichnet. Deleuze und Guattari (2005) gehen davon aus, dass unsere Vorstellungen und Interpretationen über die Dinge in der Welt nichts anderes sind, als codierte und territorialisierte Ordnungsparadigma, die wir den Dingen gegeben haben und die sich zu Ordnungen, Strukturen und Gesetzen verdichtet haben. Diese (molare) Ordnung der Dinge versuchen wir in unseren Deutungen und Analysen aufrechtzuerhalten. Dies gelingt uns in den jeweiligen Segmenten von Gesellschaft mal besser und mal schlechter. In einem anderen Zusammenhang habe ich darauf 1 „Als »Rhizom« bezeichnet man in der Botanik einen eigentümlichen Wurzeltyp. Es handelt sich um ein Stengelorgan, das die Form einer Kriechwurzel von oft beträchtlicher Länge annimmt, wobei auch die oberirdischen Zweige des Komplexes wieder abwärts wachsen und im Erdreich neue Wurzeln bilden können. Die älteren Teile sterben im gleichen Maße ab, wie sich neue bilden, so daß das Rhizom nach einigen Jahren völlig anders geworden ist. Es hat – reich verzweigt und mit vielen Nebenwurzeln versehen – im Ganzen den Charakter eines Netzwerkes oder Gesprinstes“ (Welsch 1996, S. 359).
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hingewiesen, dass uns dies in kulturellen ästhetischen Feldern von Gesellschaft bisher kaum bis gar nicht gelungen ist und uns die Vielheit der Dinge (etwa im Kontext von Jugendkulturen) eher irritiert und überfordert und wir schnell dazu neigen, diese Überkomplexität als das Verschwinden von Ordnung etwa in der Diagnose des Verschwindens von Formen jugendkulturellen Protests oder Widerstandes oder in der Diagnose des Verschwindens politischer Orientierungen Jugendlicher zu übercodieren und damit ihrem Wesen nach völlig miss zu verstehen (vgl. Hagedorn 2008). Schwer fällt uns die (Re-)Territorialisierung und (Re-)Codierung von Alltagspraxen und ihren Fabrikationen also in den molekularen Segementaritäten von Gesellschaft, also überall dort, wo Alltagshandlungen und Alltagserfahrungen von Handlungspraktikern (vgl. de Certeau 1988), den ‚alten Codes’ ihre Legitimation entziehen und neue Quanten und Strömungen (sogenannte Fluchtlinien) aufmachen (vgl. Hagedorn 2008), die sich von gewesenen Ordnungen wegbewegen, man könnte auch sagen fluchtlinienartig deterritorialisieren (vgl. Deleuze & Guattari 2005), indem sie ‚tausend kleine Geschlechter’ hervorbringen. Für Deleuze und Guattari sind solche Recodierer und Reterritorialisierer (gemeint sind hier also diejenigen, die dem, was die Sache oder das Ding seinem Wesen, seiner arche nach zu sein scheint, immer wieder einen homogenen Geltungsgrund, also einen vermeintlich überdauernden Code bzw. Territorium zuschreiben wollen) abstrakte Maschinen der Übercodierung (gesellschaftliche Machtzentren und Zensoren), die gar nicht anders können, als das, was sie zu analysieren und zu verstehen glauben und was molekular in den Alltagspraktiken performativ passiert, immer wieder molar segmentieren und damit in der Übercodierung homogenisieren zu müssen. Streng genommen gehört zu solchen Übercodierungsmaschinen die Wissenschaft selbst, wenn sie ihren (heterogenen) Untersuchungsgegenstand in einer letztendlich homogenisierenden Denklogik weiter verfolgt, weil sie schlussendlich nichts anderes macht, als bestehende Codes zu (re-)produzieren, indem sie die Dinge nicht ihrem eigentlichen Wesen nach untersucht, sondern auf einen homogenen Geltungsgrund bzw. Ursprung bezieht und also reterritorialisiert. Schneider (2009; in diesem Band) hat das gut in Bezug auf „Familie“ auf den Punkt gebracht: „Aktuelle Diskursivierungen von Familie oszillieren (wieder einmal) zwischen Dramatisierungen ihres Zerfalls und fortgesetzten Beschwichtigungen zur Stabilität und Kontinuität familialer Beziehungen“ (ebd., S. 238). Symptomatisch scheint also die Analyse von und der definitorische Umgang mit Heterogenität in der Logik I. Ordnung zwischen der Diagnose des Verlustes von Ortsbeständigkeiten einerseits und dem Herstellen von Ortsbeständigkeit (das ist eine Homogenisierung von Heterogenität) in der Reterritorialisierung und Reco-
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dierung von Familie andererseits zu oszillieren. Dies führe in der Konsequenz aber nicht dazu, die Pluralität von Familie und Familienformen wirklich zu verstehen, sondern bloß zu behaupten, denn damit wird die konstatierte, „mehr oder weniger umfängliche Vielheit zur letztendlich beliebigen Buntheit, zum tendenziellen ‚anything goes’, in dem alles gleichermaßen seine Geltung besitzt“ (ebd., S. 240) bzw. – dem impliziten normativen Begriffsverständnis zufolge – besitzen soll. Damit erscheint die Frage „nach dem, was sich ändert – gestellt in einer Gesellschaft, die den permanenten Wandel zu ihrem Dogma macht – […] wenig ertragreich, wenn sie nicht auf die dahinter liegenden Prinzipien, Logiken, Muster des sozialen Wandels gerichtet ist“ (ebd., S. 4). Hilfreich kann hier m.E. nur ein Denkmodell in der Analyse von und im definitorischen Umgang mit Heterogenität sein, das einem Gesellschaftsmodell folgt, welches Heterogenität und also Vielheit bereits zum eigentlichen ‚Strukturprinzip’ macht. Geeignet scheint mir diesbezüglich jenes Gesellschaftsmodell von Deleuze und Guattari (2005) zu sein, das nicht das Eine dem Anderen gegenüberstellt und nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen diesen beiden Seiten sucht und unbefragt auf einen Ursprung der jeweiligen Dualismen aufrechterhält, sondern das Eine im Anderen in einer in sich verschlungenen, eben rhizomatisch-dissipativen Prozess- und Strukturlogik zusammen denkt (vgl. Hagedorn 2008, S. 158 und 162). Ganz grundlegend gehen Deleuze und Guattari von einem Gesellschaftsmodell aus, das von einem Zusammenspiel unterschiedlicher miteinander in Korrespondenz stehenden Segmentaritäten ausgeht - den molaren (harten) einerseits und den molekularen (weichen) andererseits (vgl. Deleuze & Guattari 2005, S. 290; vgl. Hagedorn 2008, S. 141). In diesem Zusammenspiel, das, wie bereits erwähnt, nicht das Eine gegenüber dem Anderen betont, sondern rhizomatisch zusammen denkt, „verschwinden die binären Logiken und Dualismen und mit ihnen die Unterscheidungen übergeordneter und untergeordneter Modalitäten, die das Handeln und Denken von Subjekten entweder durch das Eine oder durch das Andere organisieren oder steuern“ (Hagedorn 2008, S. 141). So existiert immer eine Mikropolitik des Familialen oder des Geschlechtlichen in Bezug zur molaren Verfasstheit von Familie und Geschlecht, die wir der Logik von Heterogenität I. Ordnung folgend und also als reinen Pluralismus fehl- oder zumindest zu kurz interpretieren, was wiederum zu einer begriffstheoretischen Vielheit und Buntheit führt, die wir selbst kaum noch überblicken und voneinander unterscheiden können. Die Mikropolitiken von Geschlecht, Familie, Herkunft aber auch von Bildung „verweisen jedoch immer auf das, wovor sie flüchten: Linien und Segmen-
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te der molaren Organisation bzw. Ordnung“ (Hagedorn 2008, S. 141) und „molekulare Fluchtbewegungen wären nichts, wenn sie nicht über molare Organisationen zurückkehren würden und ihre Segmente, ihre binären Aufteilungen in Geschlechter, Klassen und Parteien nicht wieder herstellen würden“ (Deleuze & Guattari 2005, S. 295). Dennoch: „Ob gut oder schlecht, die Politik und ihre Beurteilungen sind immer molar, aber es ist das Molekulare mit seinen Einschätzungen, das sie ‚macht‘“ (ebd., S. 303). Ich will es so sagen: Das ganze logische Kleingeld von Geschlecht, Herkunft, Familie und auch von Bildung liegt im rhizomatisch-dissipativen Zusammenspiel von molarer und molekularer Verfasstheit dessen, was wir als Geschlecht, Herkunft, Familie und Bildung codieren und territorialisieren – und also annehmen! Man kann dies im Einzelnen durchspielen: Rhizomatisch gedacht wäre der Dualismus von ‚familial’ und ‚nicht-familial’ als Ausdruck des unterstellten Codes „Familie“ territorialisiert insofern, als wir unterstellen, dass wir eine Unterscheidung zwischen ‚familial’ und ‚nichtfamilial’ anstreben müssen, weil wir annehmen, so eine Ordnung, einen Ursprung als homogenen Geltungsgrund in die Welt der Dinge – hier dessen, was wir eigentlich (!) mit „Familie“ meinen, bezeichnen oder denken wollen – hinein zu legen. In dieser (bewährten?) metaphysischen Denklogik, die Familie und den Wandel derselben linear (!) interpretiert, nämlich weg von der idealisiert codierten Großfamilie (als arche von Familie), hin zum hysterisch herausposaunten Zerfall der Familie im Ganzen, erhalten wir den Code „Familie“ (das ist eine Reterritorialisierung und Übercodierung dessen, was als „Familie“ performativ (und also molekular) gemacht wird!), indem wir das Eine dem Anderen gegenüberstellen. Rhizomatisch gedacht bedeutet „Familie“ das Zusammenspiel, das strukturelle Oszillieren zwischen der molaren Segmentierung von „Familie“ als ‚familial’ (codierte und territorialisierte Gesetze, Strukturen und Ordnungen des Familialen) einerseits und der molekularen Segmentierung von „Familie“ als ‚nichtfamilial’ (Decodierung/Umwandlung der Gesetze, Strukturen und Ordnungen des ‚Familialen’) andererseits. Das so bezeichnete ‚nicht-familiale’ ist aber nichts anderes als das molekulare ‚familiale’ auf der decodierten Linie des molar codierten und organisierten ‚Familialen’. „Familie“ ist das Zusammenspiel – also weder das Eine noch das Andere für sich allein! – zwischen molaren und molekularen Segmentaritäten des bezeichneten ‚Familialen’; das Eine hat immer etwas mit dem Anderen zu tun – ein Ursprungs- und Zerfallsdenken verkürzt die ganze Sache! Nur einer linearen metaphysisch inspirierten Denklogik folgend bedeutet das ‚nicht-familale’ den Zerfall der Ortbeständigkeit des ‚Familialen’. All dies hat streng genommen nichts mit Wandlungsprozessen zu tun, sondern
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war immer schon so da und bedeutet eines: das „Prinzip der Heterogenität und Konnexion zugleich“ (Welsch 1996, S. 361). Rhizomatisches Denken im Verstehen von Einheit und Differenz bedeutet also, Differenzen und Übergänge zu verbinden (vgl. ebd., S. 360). Im Unterschied zum traditionellen metaphysischen Denksystem „bleiben die Differenzen dabei aber in ihrer Eigenständigkeit erhalten; weder werden sie durch einen ersten Ursprung überboten noch in seiner homogenen Gesamtform ›aufgehoben‹, sondern das Unterschiedliche bleibt inmitten der Verbindungen und Ansteckungsprozesse weiterhin bestehen“ (ebd., S. 360), was eben nicht bedeutet, „daß alles verschmolzen würde, sondern daß aparallele Entwicklungen zwischen Interaktionspartnern erfolgen, die dabei selbst hochgradig verschieden bleiben“ (ebd., S. 360). Oder um es in den Worten von Deleuze und Guattari zu sagen und in Bezug auf Heterogenität in Bildungsprozessen vor dem Hintergrund von Geschlecht, Familie und Herkunft zu meinen: Die Dinge, die wir uns als unauflösbare Dualismen und Dichotomien anschauen und denen wir gleichzeitig einen ihnen zugrundeliegenden Ursprung unterstellen, „überstürzen sich und folgen dicht aufeinander (oder schwächen sich lange Zeit ab, erstarren), aber sie springen von einer Klasse zur nächsten, machen Mutationen durch, befreien und entfesseln neue Quanten, die die Klassenverhältnisse verändern, die ihre Übercodierung und Reterritorialisierung erneut in Frage stellen und woanders neue Fluchtlinien entstehen lassen. Unterhalb der Reproduktion von Klassen gibt es immer eine variable Karte von Massen“ (Deleuze & Guattari 2005, S. 302; vgl. Hagedorn 2008, S. 147). 2.1
Heterogenität II. Ordnung
Ich möchte Vorangegangenes kurz zusammenfassen in eine Logik von Heterogenität II. Ordnung überführen: Heterogenität II. Ordnung plädiert dafür – und dies möchte ich gleichzeitig als eine zentrale These formulieren –, dass nicht nur die Stereotype, die wir in Bezug auf das Geschlecht oder die Herkunft von Menschen haben, aus unseren Köpfen bekommen müssen, sondern die Dichotomien und Dualismen, die solche Stereotype immer wieder gebären werden. Ohne kritisches Aufstören unseres metaphysischen Einheits- und Ursprungsdenkens wird uns dies aber nicht gelingen und so werden wir Heterogenität in der letzten Konsequenz nicht verstehen können. Insofern möchte ich, auch auf die Gefahr hin, dass dies etwas pathetisch klingt, Heterogenität II. Ordnung als das ‚Gewissen’ der Heterogenität I. Ordnung verstanden wissen. Heterogenität II. Ordnung vermag es als Reflexionswis-
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sen (!) die Verführungsspuren der Homogenisierung von Heterogenität im erkenntnistheoretischen Schlussmodus in der „»magischen Formel« »Pluralismus=Monismus«“ (Welsch 1996, S. 362) zu überwinden, was keine simple Gleichsetzung meint, „sondern als Indiz dafür zu nehmen [ist], „daß Differenz wie Einheit nur dann befriedigend gedacht werden können, wenn sie ihren Gegenpol je einschließen, ohne in aufzuheben. Die Denkform des »Rhizoms« befreit uns von den Aporien der absoluten Differenz“ (ebd., S. 362). Heterogenität II. Ordnung überwindet eine modernistische Deutung von Vielheit als Buntheit, in der Heterogenität zu einem schlichten Pluralismus verkommt. Gleichzeitig überwindet sie die Produktion von Ungleichheit, da nunmehr das Eine gegenüber dem Anderen nicht mehr Standard/Vorbild steht, sondern das Eine mit dem Anderen immer zu tun hat, indem es aus ihm wechselseitig hervorgeht. Ein Beispiel: Heterogenität I. Ordnung verweist in der Auseinandersetzung mit Bildungsprozessen Heranwachsender auf die Dichotomie zwischen ‚bildungsnahen’ und ‚bildungsfernen’ Schichten oder Milieus und damit verbunden auf ungleich verteilte Bildungschancen im deutschen Bildungssystem. Die arche dieser Unterscheidung findet sich in einem sich manifestierenden und gleichzeitig homogenisierenden Verständnis von Bildung als Aneignung von Wissen, Kompetenzen und Qualifikation; es wird unterstellt, dass diese operationalisierbar wären und sich folglich zu so genannten Bildungsstandards verdichten (könnten). Diese Standards verdichten sich in Orientierung an und der Auseinandersetzung mit internationalen Schulleistungsstandards, die jeweils hin zu einem Minimum dieser Standards justiert werden. Man meint, auf diesem Wege ungleich verteilte Bildungschancen im Rahmen daraus hervor geholter Förderprogramme ausgleichen zu können. Der homogene Geltungsgrund, der Ursprung dessen, was zur Dichotomie bzw. zum Dualismus von ‚bildungsnah’ und ‚bildungsfern’ führt, wird dabei aber nicht in den Blick genommen, er wird unterstellt und sein Code entweder (etwa im ständigen Verweis auf das neuhumanistische Bildungsideal) reproduziert oder in einem eigentümlichen in jedem Falle zu wenig hinterfragten Mix aus Altem und Neuem transcodiert. Dies und nur dies bringt überhaupt erst die Unterscheidung zwischen ‚bildungsnah’ und ‚bildungsfern’ hervor und bedeutet nichts anderes als die Produktion von Ungleichheit und Benachteiligung, hier bedarf es tiefgreifender Korrekturen am Bildungsbegriff! Heterogenität II. Ordnung im Bildungsbegriff und im Bildungssystem zu verfolgen hieße, nach der molaren und molekularen Segmentierung von „Bildung“ (als codierte Ordnung) zu fragen, ohne immer wieder neue Dualismen hervorzubringen: ‚bildungsnah’/‚bildungsfern’ oder ‚formelle’/‚informelle’ Bildung. Eine Denklogik, die sich von einem Einheits- und Ursprungsdenken nicht kritisch abzuwenden vermag und die Produktion solcher Dichotomien nicht lassen kann, muss sich stets den Vorwurf gefallen lassen, sich entweder in hohlen Plu-
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ralitätsbekundungen zu verheddern oder Separierungen und Homogenisierungen zu befördern, die den individuellen Potenzialitäten einzelner Personen oder Gruppen nicht gerecht wird, weil sie diese entweder nicht sieht oder gar entwertet. Rhizomatisch gewendet würde dies bedeuten, dass die Auseinandersetzung mit der Frage danach, was die Kategorie, die wir einer Sache, einem Ding oder einem Menschen zuschreiben, eigentlich ihrem Wesen nach bedeutet, gleichzeitig mit der Inspiration Freund stehen muss, den unterstellten Ursprung, der dieser Kategorie zugrunde liegt, kritisch zu hinterfragen. Heterogenität I. Ordnung verweist (deskriptiv) auf Differenzen und Gemeinsamkeiten zwischen Personen oder Gruppen in Bezug auf eine Kategorie, die als Code, als unterstellter Ursprung funktioniert. Sie kann so den Finger auf Verschiedenartigkeiten und Vielfalt in Bildungsprozessen legen. Heterogenität II. Ordnung muss diese Verschiedenartigkeiten und diese Vielfalt in einem diese Dualismen und Dichotomien auflösenden Denkmodus analysieren und zu folgendem Ergebnis kommen: Das ganze logische Kleingeld von Geschlecht, Familie, Herkunft und Bildung liegt in den Mitten ihrer molaren und molekularen Segmentierung! Oder anders und abschließend gesagt: Heterogenität II. Ordnung bedeutet nicht die Vielheit in den Dualismen und Dichotomien, die in männlich/weiblich, familial/nicht-familial, ‚bildungsnah’/‚bildungsfern’ usw. aufgeht, sondern Heterogenität bedeutet dieser Logik folgend die Vielheit der (fallspezifischen) Formen des Zusammenspiels der molaren und molekularen Verfasstheit bzw. Segmentierung dessen, was wir als Code (Ordnungen, Begriffe, Gesetze und Strukturen) der Sache zugrunde legen. Erst in der Frage nach und der mikroskopischen Analyse des Zusammenspiels dieser Verfasstheiten zeigt sich der ‚wahre’ und tiefe Grund der bezeichneten Sache. 3
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Was bedeutet dies nun für die Erziehungswissenschaft und warum bedeutet Heterogenität eine (lohnenswerte) Herausforderung? Herausforderungen werden als solche bezeichnet, weil sie zweierlei in einem sind: Problemfeld und lohnenswerte Gestaltungsoption. Heterogenität ist in erziehungswissenschaftlich relevanten Kontexten und Feldern Hemmungsphänomen und Potenzial zugleich. Auf der einen Seite stört Heterogenität die Prinzipien der Gleichheit und verweist aber andererseits auf die negativen Konnotationen und Homogenisierungen, die diesen Prinzipien immanent sind, weil sie selbst eben nicht frei sind von der ungewollten (Re-)Produktion von Ungleichheit und Benachteiligung. Einer erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung darf es nicht genügen, Heterogenität in Bildungsprozessen von Mädchen und Jungen bloß zu
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behaupten und zu diversifizieren, sondern Heterogenität in Bildungsprozessen und deren empirische Analyse muss darüber hinaus gehen zu behaupten, dass Bildungsprozesse von Mädchen und Jungen sich heterogen ausgestalten. Vielmehr muss auf empirischem Wege mikroanalytisch in den konkreten Alltagspraktiken von männlichen wie weiblichen, ‚bildungsnahen’ wie ‚bildungsfernen’, migrierten wie nicht-migrierten Handlungspraktiker(inne)n danach geschaut werden, wie konkret (!) fallspezifisch solche molar organisierten Codes (Geschlecht, soziale und kulturelle Herkunft etc.) sich molekular reproduzieren oder aber diese in den Handlungen performativ umgewandelt werden. Eine solche Forschungslogik muss sich in die Mitten der Dinge und Sachen begeben und sich den konkreten performativ hervorgebrachten Fabrikationen (von Geschlecht, Herkunft etc.) der jeweiligen Akteure hinwenden. Tut sie dies nicht, steht sie in der Gefahr, selbst Übercodierungsmaschine zu werden und die Sache, die sie untersucht, selbst zu überformen. Das, was wir als Geschlecht, Herkunft, Bildung bezeichnen, wird von Handlungspraktikern gemacht, männliche wie weibliche Heranwachsende bringen ihre je eigenen Fabrikationen, Quanten und Strömungen von Geschlecht u.a. hervor, die sich fluchtlinienartig von festgelegten Codes mal mehr mal weniger wegbewegen (können). Es gilt in der erziehungswissenschaftlichen Geschlechterforschung danach zu schauen, welche Übercodierungsmaschinen, welche gesellschaftlichen Zensoren Heranwachsende darin wie beeinflussen oder gar hindern, ihre je eigenen ‚tausend kleinen Geschlechter’ hervorzubringen, weg vom Geltungsgrund oder vom Ursprung, den die Recodierer und Reterritorialisierer dem geben, was sie als Geschlecht meinen und homogenisieren. Eine erziehungswissenschaftliche Bildungsforschung, die sich gegenwärtig darauf eingeschossen zu haben scheint, Bildung als Erwerb von Leistungen, Kompetenzen, Wissen und Qualifikationen (vgl. Nationaler Bildungspanel) codieren und territorialisieren zu wollen und all das, was Bildung in seiner molekularen Verfasstheit ist, aus dem ‚großen Diskurs’ auszulagern und als irgendwie ‚informelle Bildung’ zu verniedlichen und in Selbsterfahrungszirkel zu überführen (vgl. Mollenhauer 1987, S. 15), muss sich den Vorwurf gefallen lassen, das Interesse für individuelle Bildungspotenziale, die jeweils spezifisch lebensweltlich, kulturell usw. eingelagert sind, aus dem Auge zu verlieren, Bildung folgerichtig zu universalisieren, zu standardisieren und zu egalisieren. ‚Wahre’ Bildung findet aber gerade in der Mitte ihrer molaren Segmentierung (und Verdichtung/Verhärtung in sogenannten Bildungsstandards) einerseits und der molekularen Segmentierung (Umwandlung der feststehenden Codes auf der decodierten Linie von molarer Bildung) von Bildung in ihren kulturellen nichtinstitutionalisierten Feldern andererseits statt.
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Die ohnmächtig-lustvolle Umwandlung oder gar Verweigerung von Bildung auf der decodierten Linie von molarer Bildung (sogenannter ‚Verlierer’ im deutschen Bildungssystem) sagt uns einstweilen mehr über das, was wir als „Bildung“ und/oder „Bildungserfolg“ bezeichnen, als nur die lustlose und plagiatorische Einlösung molar codierter und territorialisierter Bildungsstandards (sogenannter ‚Gewinner’ im deutschen Bildungssystem). Eine erziehungswissenschaftliche Bildungsforschung muss sich davor hüten, solche unhinterfragten Codierungen unkritisch zu reproduzieren oder hervorzubringen. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich unterstelle nicht, dass sie dafür Partei steht, sondern ich empfehle nur, dass sie dies besser nicht tun sollte, wenn sie sich wahrhaftig der Beseitigung von Benachteiligung und Ungerechtigkeit im deutschen Schulsystem verpflichtet fühlt und ein wahrhaftiges Interesse an der Förderung individueller Bildungspotenziale hegt. Eine erziehungswissenschaftliche Sozialisationsforschung muss ebenso behutsam und kritisch mit dem umgehen, was sie als soziale Herkunft und/oder Situiertheit bezeichnet und muss ihren Umgang mit den Dualismen von ‚bildungsnahen’ und ‚bildungsfernen’ bzw. ‚strebenden’ und ‚nicht-strebenden’ Milieus kritisch selbst befragen. Rhizomatisch gewendet bedeutet das nichts anderes, als dass eine Pflanze in einem Gewächshaus immer in Richtung der künstlichen Lichtquelle wächst, die man ihr aufstellt und dass die jeweilige Positionierung der Lichtquelle einen entscheidenden Einfluss darauf ausübt, welche Form die Pflanze am Ende ihres Wachstumsprozesses aufweist. Eine in sich verwundene, gar mutierte und dem Normalmodell nicht entsprechende Pflanze sagt vor dem Hintergrund ihres Erscheinens aber noch nichts über die Schmackhaftigkeit ihrer Früchte, nach der die Qualität der Pflanze letztendlich zu beurteilen wäre. Folgerichtig muss nach den jeweiligen Potenzialitäten, die ein(e) Heranwachsende(r) aufgrund seiner/ihrer lebensweltlichen und milieuspezifischen Eingebundenheit überhaupt mitbringen kann, gefragt werden. Dies darf nicht dazu führen, sich mit der Frage danach zu begnügen, in welcher Weise diese Bildungsbiographie in der Lage ist/war, die ihr gestellten Anforderungen einzulösen und also zu reproduzieren, sondern wie die konkret aus dieser Bildungsbiographie generierten und nachgezeichneten Bildungspotenziale selbst zu einer kritischen Sichtung unserer Normalmodelle ‚erfolgreichen’ Aufwachsens führen können. So gesehen ist die dichotomisierende und erschreckend geläufige Bezeichnung Heranwachsender als ‚bildungsfern’/‚bildungsnah’, ‚strebend’/‚nicht-strebend’ an sich schon skandalös. Es muss vielmehr gelingen, soziale oder kulturelle Herkunft nicht als anrüchiges biographisches Schicksal zu interpretieren und zu pathologisieren, sondern es muss alles dafür getan werden, eine Normalisierung je unterschiedlicher, vielseitiger und eben heterogener Dispositionen in unseren Köpfen erreicht wer-
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den, indem wir selbst und anderen lernen, die Differenz in der Einheit (und umgekehrt) ‚in einem Atemzug’ zu denken. Literatur Bender-Szymanski, Dorothea (2009): Vom gerechten Umgang der Schule mit religiösweltanschaulicher Heterogenität. Ergebnisse der Durchführung einer Lehr-Lernsequenz mit Schülerinnen und Schülern. In: Jörg Hagedorn; Verena Schurt; Corinna Steber; Wiebke Waburg (Hrsg.): Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag, S.269-293. Breitenbach, Eva (2009): Zur Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit für die Arbeit im Elementarbereich. In: Jörg Hagedorn; Verena Schurt; Corinna Steber; Wiebke Waburg (Hrsg.): Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag, S.141-157. Budde, Jürgen (2009): Perspektiven für heterogenitätsorientierten Unterricht durch Projektarbeit in Lernbereichen in der Sekundarstufe I. In: Jörg Hagedorn; Verena Schurt; Corinna Steber; Wiebke Waburg (Hrsg.): Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag, S.295-314. de Certeau, Michel (1988): Kunst des Handelns. Berlin: Merve-Verlag. Deleuze, Gilles; Guattari, Felix (2005): Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie. Berlin: Merve-Verlag. Hagedorn, Jörg (2008): Jugendkulturen als Fluchtlinien. Zwischen Gestaltung von Welt und der Sorge um das gegenwärtige Selbst. Wiesbaden: VS Verlag. Hagemann-White, Barbara (2009): Geschlecht und Gewaltprävention: Frauen und Männer, Mädchen und Jungen, Individuen und Gesellschaft. In: Jörg Hagedorn; Verena Schurt; Corinna Steber; Wiebke Waburg (Hrsg.): Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS, S.127-140. Hirschauer, Maria; Kullmann, Harry (2009): Lehrerprofessionalität im Zeichen von Heterogenität. Stereotype bei Lehrkräften als kollegial zu bearbeitende Herausforderung. In: Jörg Hagedorn; Verena Schurt; Corinna Steber; Wiebke Waburg (Hrsg.): Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag, S.351-373. Hoffarth, Britta; Diehm, Isabell (2009: Migrationskindheit erzählt – Das Sprechen über sich selbst als Aneignung von Erinnerung. In: Jörg Hagedorn; Verena Schurt; Corinna Steber; Wiebke Waburg (Hrsg.): Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag, S.81-95. Lang, Eva; Grittner, Frauke; Rehle, Cornelia; Hartinger, Andreas (2009): Das Heterogenitätsverständnis von Lehrkräften im jahrgangsgemischten Unterricht der Grundschule. In: Jörg Hagedorn; Verena Schurt; Corinna Steber; Wiebke Waburg (Hrsg.): Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag, S.315-331. Macha, Hildegard (2009): Geschlecht und Erziehung in Familien und die doppelte Entgrenzung. In: Jörg Hagedorn; Verena Schurt; Corinna Steber; Wiebke Waburg (Hrsg.): Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag, S.217-236. Matthes, Eva (2009): Zentrale wissenschaftliche Positionen zur aktuellen Situation der Familie und ihre Widerspiegelung in Sozialkundebüchern in Deutschland. Ein Werkstattbericht. In: Jörg Hagedorn; Verena Schurt; Corinna Steber; Wiebke Waburg (Hrsg.): Ethnizität, Geschlecht, Familie
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und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag, S.257-267. Mollenhauer, Klaus (1987): Korrekturen am Bildungsbegriff? Zeitschrift für Pädagogik 1/1987; 33. Beiheft; Weinheim: Belz; S. 1-20 Schneider, Werner (2009): Pluralität-Heterogenität-Heterotropie? Begrifflich-theoretische Anmerkungen zu den Metamorphosen von Familie. In: Jörg Hagedorn; Verena Schurt; Corinna Steber; Wiebke Waburg (Hrsg.): Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag, S.237-256. Waburg, Wiebke; Schurt, Verena (2009): Interdependente Geschlechtskonstruktionen in der Mädchenschule. Ein empirisch-intersektioneller Blick auf geschlechtersegregierte Lernkontexte. In: Jörg Hagedorn; Verena Schurt; Corinna Steber; Wiebke Waburg (Hrsg.): Ethnizität, Geschlecht, Familie und Schule. Heterogenität als erziehungswissenschaftliche Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag, S.159-187. Welsch, Wolfgang (1996): Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Autorinnen und Autoren
Wassilios Baros, Dr., HD (Lectura) für Interkulturelle Erziehung Dimokritos University in Alexandroupoli (GR); Arbeitsschwerpunkte: Migration und Familie, interkulturelle Forschung, Qualitative Methoden der Sozialforschung (insbs. rekonstruktive Verfahren). Dorothea Bender- Szymanski, Priv. Doz. Dr. phil. habil, Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung (DIPF) in Frankfurt a.M.; Arbeitsschwerpunkte: Demokratie-Lernen und Lernen in mehrkulturellen/mehrsprachigen Kontexten, Interkulturelle Kompetenz. Valérie-D. Berner, Dipl. Päd., Universität Augsburg, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Psychologie. Arbeitsschwerpunkte: Lern- und Leistungsmotivation von Schülerinnen und Schülern; Förderung von Motivation und Selbstwert in der Schule; Heterogenität und Schulleistung. Cornelia Braun, Dipl. Päd., Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Empirische Bildungs- und Sozialisationsforschung, Schulforschung, Migrationsforschung. Eva Breitenbach, Prof. Dr., Universität Osnabrück, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS); Arbeitsschwerpunkte: Kindheits- und Jugendforschung, Geschlechterforschung, Rekonstruktive Sozialforschung. Jürgen Budde, Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB); Arbeitsschwerpunkte: Gender und Schule, Männlichkeitsforschung und Jungenarbeit, Ethnographische Forschung, Soziale Kompetenzen, Berufsorientierungs-prozesse im Jugendalter. Isabell Diehm, Prof. Dr., Universität Bielefeld, Arbeitsgruppe „Migrationspädagogik und Kulturarbeit“; Arbeitsschwerpunkte: Erziehung und Migration, Kindheitsforschung mit Schwerpunkt: Frühe Kindheit, Geschlechterforschung.
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Autorinnen und Autoren
Markus Dresel, Prof. Dr., Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Motivation und selbstreguliertes Lernen in Bildungskontexten; Unterrichtsforschung; Heterogenität und Bildungserfolg; Evaluation und Qualitätsentwicklung universitärer Lehre. Frauke Grittner, Dr., Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Leistungsbewerteilung in der Grundschule, Sachunterrichtsdidaktik, Jahrgangsgemischtes Lernen. Jörg Hagedorn, Dr., Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Pädagogik der Kindheit und Jugend, Jugend- und Jugendkulturforschung, Medientheorie und Medienforschung, Schulforschung, Ästhetische Theorien, Gesellschafts- und Bildungstheorie, qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung (insbes. Objektive Hermeneutik); www.hagedorn-erziehungswissenschaft.de Carol Hagemann-White, Prof. Dr., Professorin i.R. für Allgemeine Pädagogik/ Frauenforschung, Universität Osnabrück, Wissenschaftliche Leiterin des „Forschungsinstituts Frau und Gesellschaft“ Hannover (1992-1997), DeutschSchwedischer Humboldtpreis für Forschung (1998); Arbeitsschwerpunkte: Intervention und Prävention bei Gewalt im Geschlechterverhältnis, geschlechtsspezifische Sozialisation, Frauengesundheitsförderung, Gleichberechtigungspolitik; auf europäischer Ebene in der Forschungsvernetzung und mit analytischen Berichten über politische Maßnahmen gegen Gewalt aktiv. Andreas Hartinger, Prof. Dr., Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Motivation und Interesse, Öffnung von Unterricht, situiertes Lernen, frühes naturwissenschaftliches Lernen, Jahrgangsgemischtes Lernen. Maria Hirschauer, Dipl. Päd., Universität Augsburg, Zentralinstitut für didaktische Forschung und Lehre (ZdFL); Arbeitsschwerpunkte: Migrationsforschung, Stereotype, Lehrerprofessionalität, qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung. Britta Hoffarth, Dr., Universität Bielefeld; Arbeitsschwerpunkte: Kulturarbeit und kulturelle Bildung, Pop- und Alltagskulturen, Gender, Diskurstheorie, Dekonstruktion, Cultural Studies.
Autorinnen und Autoren
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Gabriele Khan-Svik, Univ.-Doz. Mag. Dr., Universität Wien, Viezerektorin für Forschung und Entwicklung an der Pädagogischen Hochschule Kärnten. Lektorin an der Universität Wien und an der Donau-Universität Krems; Arbeitsschwerpunkte: Interkulturelle Pädagogik und Schulpädagogik (Schulversuchsund Modellevaluationen). Harry Kullmann, Dr., Universität Augsburg, Zentralinstitut für didaktische Forschung und Lehre (ZdFL); Arbeitsschwerpunkte: Empirische Schul- und Unterrichtsforschung, Fragen der Lehrerbildung sowie der Steuerung im Bildungswesen. Eva Lang, Dr., Konrektorin Volksschule Hochzoll (Süd) in Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Jahrgangsgemischtes Lernen, Berufliche Weiterentwicklung von Lehrerinnen und Lehrern. Hildegard Macha, Prof. Dr., Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Außerschulische Jugendbildung, Familien- und Biographieforschung, Kollegiale Beratung – LehrerInnenfortbildung durch Netzwerke, Geschlechterforschung – Gender Mainstreaming. Eva Matthes, Prof. Dr., Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der deutschen Erziehungswissenschaft, Erziehungs- und Bildungsgeschichte, Erziehungs- und Bildungstheorie, Internationale Schulbuchforschung. Volker Mehringer, Dipl. Päd. (B.A.), Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Empirische Bildungs- und Sozialisationsforschung, Schulforschung, Migrationsforschung. Hans Merkens, Prof. Dr., Freie Universität Berlin, Arbeitsbereich „Empirische Erziehungswissenschaft“; Arbeitsschwerpunkte: Evaluationsforschung, Schulund Unterrichtsforschung, Organisationsforschung, Kindheits- und Jugendforschung. Cornelia Rehle, Dr., Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Jahrgangsgemischtes Lernen, Inklusion.
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Autorinnen und Autoren
Werner Schneider, Prof. Dr., Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Familiensoziologie, Soziologie des Lebensalters (insbes. Kindheit und Jugend), Kultursoziologie und Medizin-/Gesundheitssoziologie (insbes. Sterben und Tod), Soziologische Theorie (v.a. Diskurstheorie und –analyse) und qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung. Verena Schurt, Dr., Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Empirische Frauen,- Männer- und Geschlechterforschung; empirische Schulforschung, interkulturelle Pädagogik. Corinna Steber, Dr., Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; Arbeitsschwerpunkte: Soziale Ungleichheit/Macht- und Herrschaftsanalyse in erziehungswissenschaftlichen Zusammenhängen, Pädagogische Professionalisierung, Forschung zu Passungsverhältnissen im schulischen Feld, Rekonstruktiv-hermeneutische Sozialisationsforschung/Habitusrekonstruktion, Methodische Schwerpunkte: Dokumentarische Methode/Objektive Hermeneutik. Gabriele Steuer, Dipl. Psych., Universität Augsburg, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Psychologie. Arbeitsschwerpunkte: Lern- und Leistungsmotivation von Schülerinnen und Schülern; Umgang mit Fehlern und Fehlerklima im Unterricht; Heterogenität und Schulleistung. Josef Strasser, Dr., Universität Augsburg, Zentralinstitut für didaktische Forschung und Lehre (ZdFL); Arbeitsschwerpunkte: Empirische Bildungsforschung zu den Themenstellungen: Wissenserwerb und Wissensentwicklung, Beratungskompetenz, Beratung und Schule, Forschung im Bereich Heterogenität und Bildungserfolg. Wiebke Waburg, Dr., Universität Augsburg; Arbeitsschwerpunkte: Empirische Frauen,- Männer- und Geschlechterforschung; empirische Schulforschung, interkulturelle Pädagogik. Manuela Westphal, Prof. Dr., Juniorprofessorin an der Universität Osnabrück, Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS); Arbeitsschwerpunkte: Migrationsforschung, Geschlechter- und Familienforschung, Integration, Bildung und Sprache.